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German Pages 698 [699] Year 2021
CARL SCHMITT
Staat, Großraum, Nomos Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969
Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke
Duncker & Humblot · Berlin
CARL SCHMITT
Staat, Großraum, Nomos
CARL SCHMITT
Staat, Großraum, Nomos Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969 Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke Zweite, unveränderte Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 1995 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH Satz: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Books on Demand Printed in Germany ISBN 978-3-428-18471-2 (Print) ISBN 978-3-428-58471-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
I n dankbarer Erinnerung an Günther Krauss 2.1.1911-7.
9.1989
Eberhard Freiherr 29.12.1913 -
von Medem
19.1.1993
und Julien Freund 9 . 1 . 1 9 2 1 - 10. 9 . 1 9 9 3
Inhalt
Vorwort
XIII
Zur vorliegenden Ausgabe
XXVIII
I. Verfassung und Diktatur 1. Diktatur und Belagerungszustand. Eine staatsrechtliche Studie (1916)
3
2. Reichspräsident und Weimarer Verfassung (1925)
24
3. Diktatur (1926)
33
4. Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 (sog. Diktaturgesetz) (1926)
38
5. Der bürgerliche Rechtsstaat (1928)
44
6. Konstruktive Verfassungsprobleme (1932)
55
7. Starker Staat und gesunde Wirtschaft (1932)
71
II. Politik und Idee 8. Absolutismus (1926) 9. Macchiavelli. Zum 22. Juni 1927 (1927)
95 102
10. Der Rechtsstaat (1935)
108
11. Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat" ? (1935)
121
12. Politik (1936)
133
13. Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes (1937)
139
VIII
Inhalt
14. Dreihundert Jahre Leviathan (1951)
152
15. Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahrhunderts (1940)
156
16. Das „Allgemeine Deutsche Staatsrecht" als Beispiel rechtswissenschaftlicher Systembildung (1940)
166
17. Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten (1942)
184
18. Amnestie oder die Kraft des Vergessens (1949)
218
I I I . Großraum und Volkerrecht 19. Führung und Hegemonie (1939)
225
20. Raum und Großraum im Völkerrecht (1940)
234
21. Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventions verbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (Text der 4. Aufl., 1941)
269
Vorbemerkung 269; Allgemeines 270; I. Beispiele unechter oder überholter Raumprinzipien 272; II. Die Monroedoktrin als der Präzedenzfall eines völkerrechtlichen Großraumprinzips 277; III. Der Grundsatz der Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreiches 285; IV. Minderheiten- und Volksgruppenrecht im mittel- und osteuropäischen Großraum 291; V. Der Reichsbegriff im Völkerrecht 295; VI. Reich und Raum 307; VII. Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft 314; Hinweise und Materialien 321 22. Die Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law" (18901939) (1940)
372
23. Die Raumrevolution. Durch den totalen Krieg zu einem totalen Frieden (1940)
388
24. Das Meer gegen das Land (1941)
395
25. Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit (1941) 26. Beschleuniger wider Willen oder: Problematik der westlichen Hemisphäre
401
(1942)
431
27. Die letzte globale Linie (1943)
441
28. Antwort an Kempner (1947)
453
29. Maritime Weltpolitik (1949)
478
Inhalt
IX
IV. Um den Nomos der Erde 30. Illyrien - Notizen von einer dalmatinischen Reise (1925)
483
31. Raum und Rom - Z u r Phonetik des Wortes Raum (1951)
491
32. Die Einheit der Welt (1952)
496
33. Der neue Nomos der Erde (1955)
513
34. Welt großartigster Spannung (1954)
518
35. Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift: „Der Gordische Knoten" (1955)
523
36. Gespräch über den Neuen Raum (1955 / 58)
552
37. Nomos - Nahme - Name (1959)
573
38. Die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg (1962)
592
39. Gespräch über den Partisanen-Carl Schmitt und Joachim Schickel (1969) ..
619
Namenverzeichnis I
643
Namenverzeichnis I I
653
Sachregister
659
Abkürzungsverzeichnis ADGB
Allgemeiner Deutscher Gewerkschafts-Bund
AJIL
American Journal of International Law
AKG
Archiv für Kulturgeschichte
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
ARWP
Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
ASWSP
Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik
AVR
Archiv des Völkerrechts
BGBl.
Bundesgesetzblatt
B YIL
British Yearbook of International Law
DJZ
Deutsche Juristen-Zeitung
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
DR
Deutsches Recht
EPD
Evangelischer Presse-Dienst
FAD
Freiwilliger Arbeits-Dienst
FBPG
Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte
FN
Fußnote
FS
Festschrift
FZ
Frankfurter Zeitung
GWU
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
GZ
Geographische Zeitschrift
HLKO
Haager Landkriegs-Ordnung
HPB
Das historisch-politische Buch
HSTAD-RW
Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (das „RW" bezieht sich auf den Nachlaß Schmitts. „RW-265, 33" z. B. bedeutet: Nachlaß Schmitt, Karton 265, Stück Nr. 33).
HZ
Historische Zeitschrift
JIR
Jahrbuch für internationales Recht
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart
JW
Juristische Wochenschrift
JZ
Juristen-Zeitung
KZfSS
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
Abkürzungsverzeichnis MAP
Monatshefte für Auswärtige Politik
MNN
Münchner Neueste Nachrichten
Ndr.
Nachdruck
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NPL
Neue Politische Literatur
OKH
Oberkommando des Heeres
OKW
Oberkommando der Wehrmacht
PL
Patrologia Latina (hrsg. v. J. P. Migne, Paris 1878 ff.)
PM
Petermanns Mitteilungen
RAO
Reichsabgabenordnung
RdC
Recueil des Cours de 1' Acadämie de Droit Internacional
RDILC
Revue de Droit International et de Legislation compare
REDI
Revista Espanola de Derecho Internacional
REP
Revista de Estudios Politicos
RGBL
Reichsgesetzblatt
RPr
Reichspräsident
RV
Reichsverfassung
RVBl.
Reichsverwaltungsblatt
Schm.Jb.
Schmollers Jahrbuch
SD
Sicherheits-Dienst
VB
Volkerbund
VBS
Völkerbund-Satzung
VBuVR
Völkerbund und Völkerrecht
Verw.A.
Verwaltungsarchiv
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer
VZG
Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte
WRV
Weimarer Reichs Verfassung v. 11. 8. 1919
ZAkDR
Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZfG
Zeitschrift für Geopolitik
ZfP
Zeitschrift für Politik
ZgStW
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
ZöR
Zeitschrift für öffentliches Recht
ZRG
Zeitschrift der Savingy-Stiftung für Rechtsgeschichte
ZVR
Zeitschrift für Völkerrecht
XI
Vorwort „II est surprenant, qu'au fond de notre politique nous trouvions toujours la theologie", bemerkte Proudhon einmal1. Ähnlich hätte Carl Schmitt von seiner politischen Theorie sprechen können, deren Hintergrund der Kat-echon bildet; die Kraft, welche die Parusie des Antichrist aufhält und dem Menschen die Zeit verschafft, innerhalb derer die Politik ihrem befristeten Spiele nachgehen darf. Dieser Hintergrund erlaubt es jedoch nicht, Schmitts politische und juristische Theorie in Theologie aufzulösen oder in ihr nur die Maske der letzteren zu sehen. Der Staat, der das Meer des zügellosen und bornierten Egoismus und der rohesten Instinkte äußerlich eindämmt und selbst den einflußreichen Bösewicht wenigstens zur Heuchelei zwingt 2 , ist deshalb noch kein Kat-echon; dem Leviathan, der den Behemoth niederhält, eignet keine theologische Würde, und die starke Exekutive, die sich gegen das regierungsunfähige Parlament durchsetzt, bedarf nicht der Aufdröhnung mittels Eschatologie. Zwar liebte Schmitt es, seine Diagnosen bis an die Schwelle der Eschatologie zu führen, hielt dann aber gewöhnlich aus Furcht vor dem Silete jurisconsulti in munere alieno! inne3. Mochte die Emphase, mit der er von Staat und Souveränität oder von Ausnahmezustand und Bürgerkrieg sprach, sich gelegentlich diesem Hintergrund verdanken, so kam Schmitt doch nie über eine bloß metaphorische Politische Theologie hinaus4, auch wenn diese seinen auf das historisch Konkrete gerichteten Betrachtungen zuweilen eine enigmatische Atmosphäre verlieh. 1
Proudhon, Les Confessions d'un r^volutionnaire, pour servir ä l'histoire de la revolution de tevrier, Paris 1849, p. 61. 2 Vgl. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 84. 3 So schrieb Schmitt an seinen Freund Alvaro d'Ors am 13. 9. 1951, sich dabei auch auf einen Vortrag über die „Einheit der Welt" in Barcelona beziehend u. a.: „Der Sinn meines Vortrages ist nun grade der, mit einer kalten und sachlichen Diagnose das Bild der heutigen Lage zu entwickeln und bis an die Schwelle der Eschatologie zu führen, aber keinen Schritt weiter. jHasta el umbral, pero ningün paso tras! Das gehört zu meinem Stil als Jurist, und darauf, daß ich mich streng an diesen Stil halte, beruht mein Erfolg als Jurist, allerdings auch der Haß und die Feindschaft meiner Gegner." (Ich danke Herrn Prof. d'Ors, Pamplona, für die Überlassung einer Kopie dieses Briefes). - Vgl. auch: Schmitt, Donoso Cort£s in gesamteuropäischer Interpretation, Köln 1950, S. 76. 4 Daß Schmitt, wie sein Kritiker Barion, nur eine „metaphorische politische Theologie" vertritt, daß es aber darauf ankomme, eine nicht-metaphorische zu begründen und durchzusetzen, wie sie Pius XI. in seiner Enzyklika Quas primas (1925) skizziert habe, wird dargelegt von Alvaro d'Ors in seinem Aufsatz „Teologia politica: una revisiön del problema", Revista de Estudios Poh'ticos, 1976, S. 41-79.
XIV
Vorwort
Das gilt auch für die drei hier vorgestellten Themen Staat, Großraum und Nomos, die im Werk Schmitts nicht gleichzeitig erörtert werden, sondern einander ablösen, wenn auch im Großraum der Staat aufgehoben ist und der neue Nomos der Erde auf Großräumen beruhen soll. Staat, Großraum und Nomos besitzen jedoch eine gemeinsame Aufgabe: sie sollen - in einer hier nicht zu klärenden Analogie zum Kat-echon und wohl auch als dessen Diener und Instrumente - aufhalten. Der Staat hat der bedrohlichen Invasion der menschlichen Individualität zu widerstehen, die im Bürgerkrieg ihre politisch deutlichste Ausprägung findet; der Großraum soll den Weg in einen universalistischen, den Zusammenhang von Ordnung und Ortung zerstörenden Nihilismus versperren, wobei dem Deutschen Reich, „zwischen dem Universalismus ... des liberaldemokratischen, völkerassimilierenden Westens und dem Universalismus des bolschewistisch-weltrevolutionären Ostens"5, eine besondere Rolle zukommt; gegenüber einem Nomos, der sich aus dem Pluralismus voneinander abgegrenzter Großräume ergibt, soll das Projekt der Einheit der Welt scheitern, das, unter dem menschenfreundlichen Motto Pax et securitas, nur ein antichristliches Projekt sein kann. (Nach Schmitts Überzeugung ist dem Christen nicht zuzumuten, die Heraufkunft dieser anti-christlichen Einheit zu befördern, weil ihr die Parusie Christi folgen wird 6 .). Unmittelbar auffallend ist die nachlassende Genauigkeit, die stets geringere juristische Erfaßbarkeit dieser Begriffe, die bereits so die sich steigernde Unordnung und Verwirrung des Saeculums anzeigen, dem Schmitt sich zunächst mit noch gefestigter Gewißheit, dann mit einer vagen Zuversicht und endlich mit nichts als einer Hoffnung konfrontierte. *
*
*
Der Staat Wilhelms II. in dem Schmitt heranwuchs und seine ersten Schriften veröffentlichte, war zwar verfassungsrechtlich etwas seltsam konstruiert, schien jedoch fest und gut gegründet zu sein und strahlte jene für uns Nachgeborene unfaßbare Sekurität aus, die in dem „Es ist erreicht!" ihre so saloppe wie plausible Formel fand. Das „Es ist erreicht!" galt auch für das damalige, von Paul Laband dominierte Staatsrecht, das glaubte, auf politische, soziologische, historische oder teleologische Erwägungen verzichten zu können und sich mit der „gewissenhaften und vollständigen Feststellung des positiven Rechtsstoffes" und dessen „logischer Beherrschung durch Begriffe" begnügen zu dürfen; diese rein juristische Methode war aber nur die Reversseite des grenzenlosen Staatsvertrauens und einer von keinem Zweifel angekränkelten Staatsgewißheit7. 5 Vgl. vorl. Bd., S. 297. - Zu dieser Aufgabe Deutschlands vgl. auch: Paul Schütz, Der Anti-Christus - Eine Studie über die widergöttliche Macht und die deutsche Sendung (zuerst 1933), in: ders., Der Anti-Christus - Gesammelte Aufsätze, Kassel 1949, S. 47-50. 6 Ganz anderer Auffassung ist hier Alvaro d'Ors; der Christ muß das Ende der Welt herbeisehnen und deshalb das Wirken des Kat-echon verwerfen: „ . . . aquel Fin, no sölo no debe ser repugnado, sino que debe ser deseado"; in: d'Ors, De la guerra y de la paz, Madrid 1954, S. 194. 7 Vgl. zu diesem Vertrauen und dieser Gewißheit: Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, I, Frankfurt a. M. 1970, S. 12: „ . . . in den repräsentativen Werken von Paul Laband und
Vorwort
XV
Man darf vermuten, daß Schmitt bereits als junger Student diese in seinem Fache gängigen Illusionen durchschaute; die Distanz des katholischen Außenseiters, dessen Eltern und Verwandte den Kulturkampf erlebt hatten, trug dazu ebenso bei wie Schmitts Affekt gegen den bombastisch-leeren Bildungsbetrieb Berlins 8. Daß sich in Schmitts ersten Monographien „Über Schuld und Schuldarten" (1910) und „Gesetz und Urteil" (1912) dafür kaum Belege finden, liegt an deren Thematik. Doch Schmitts gerne nur als Kulturkritik gewerteter Überdruß gegenüber dem Wilhelminismus und der Moderne, wie er in den „Schattenrissen" (1913) und dem Däubler-Buch (1916) zutagetritt, ist in hohem Maße der Überdruß an einer Lage, in der der Staat gegenüber der Gesellschaft in die Defensive geraten ist, während die bereits 1913 abgeschlossene Schrift „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen" Schmitts Zweifel an der Überlebensfähigkeit nicht nur des wilhelminischen, sondern des modernen Staates überhaupt, kaum verhehlt. Ob der junge Habilitand, schon damals mit den imponierendsten Lauschzangen ausgerüstet, bereits die 1907 erfolgten Todeserklärungen von Edouard Berth und Maxime Leroy, „L'Etat est mort" und „L'Etat cesse d'etre un imperatif categorique" kannte, ist freilich ungewiß; gänzlich akzeptieren konnte er diese Feststellungen auch 1932 noch nicht und wagte erst 1938, nach dem Scheitern des „totalen Staates", in seinem Leviathan-Buch einen ähnlich lautenden Totenschein wie die beiden Franzosen auszustellen9. Doch zunächst schien der im August 1914 ausbrechende Erste Weltkrieg dem moribund geglaubten Staate ein neues, kraftvolles Leben einzuhauchen. Die Verhängung des Reichsbelagerungszustandes am 31. 7. und die hieraus resultierenden Notverordnungsrechte der Militärbefehlshaber einerseits, die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 4. 8., durch das die Gesetzgebungsmacht an die Exekutive delegiert wurde andererseits, führten den Staat im Kriege aber nicht zu einer Einheit, sondern spalteten ihn auf in zwei nebeneinander agierende kommissarische Diktaturen, eine militärische und eine zivile, die entweder mühsam koordiniert werden mußten oder miteinander in Konflikt gerieten 10. Die „in sich zwiespältige staatliche Gesamtstruktur" Deutschlands wurde in der Zerreißprobe des Großen Krieges offenbar und der „pathognomische Moment" ließ den bis dahin verdeckten wahren Zustand erkennen 11. Obgleich sich Schmitt zu dieser Erfahrung
Georg Jellinek ist nichts so sicher wie der Staat." - Schmitt hat sich eher selten zu Laband geäußert, bes. aggressiv in: Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte (1936), Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 232 f. s Vgl. Schmitts Aufsatz v. 1946/47: 1907 Berlin, in: Piet Tommissen, Hrsg., Schmittiana I, 2. A., Brüssel 1988, S. 11-21. 9 Siehe dazu die Hinweise u. den Kommentar von Quaritsch, wie FN 7, S. 11 ff. 10 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, V, Stuttgart 1978, S. 66. - Ausführlicher zu diesem Problem, dessen Wurzeln für Schmitt im preußischen Verfassungskonflikt liegen: ders., Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, Hamburg 1934, S. 36-41. h Schmitt, wie FN 10, S. 9, 10.
XVI
Vorwort
wohl nur einmal, in „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches" (1934) ausführlicher äußerte, muß ihre Bedeutung für sein Werk sehr hoch eingeschätzt werden. Eine andere Erfahrung war, daß sich der Gesamtkomplex „Ausnahmezustand" im Verlaufe des Krieges immer stärker wandelte. Die Ausweitung der verschiedenen Ausnahme-Maßnahmen, sei es aufgrund der militärischen Verordnungsgewalt, sei es aufgrund der zivilen Kriegsnotgesetzgebung, sprengte den herkömmlichen, militärisch-polizeilichen Ausnahmezustand mit seinen eher punktuellen Eingriffen und schuf durch die tiefgreifende Änderung des Währungs- und Finanzrechtes, des Arbeits- und Sozialrechtes, der ernährungs- und kriegswirtschaftlichen Planung usw., die neue soziale und politische Ordnung des Kriegssozialismus 12. In gewisser Weise wurde hier die Wandlung des Art. 48 der Weimarer Verfassung gegen Ende der Republik vorweggenommen, der zunächst auch auf relativ herkömmliche Weise eingesetzt wurde und in einem System wirtschaftlich-finanzieller Notverordnungen mündete13. Ab 1931, mit einer neuen Terminologie ausgestattet, hätte Schmitt, auf den Krieg zurückblickend, sagen können, daß sich damals ein merkwürdiges Ineinander von totalem Staat aus Stärke und totalem Staat aus Schwäche entwikkelt hätte ... Doch darf man sich die Entwicklung des jungen Schmitt nicht allzu „theoretisch" vorstellen. Der Dozent der Universität Straßburg, an der Paul Laband seit 1872 ununterbrochen wirkte, lebte damit - und das im Kriege - in einer Provinz, in der seit dem 30. 12. 1871 der Oberpräsident über den „Diktaturparagraphen" verfügte, der dem französischen Loi sur l'etat de siege v. 9. 8. 1849 nachempfunden war und schließlich Hugo Preuß zum Abs. 2 des Art. 48 der Weimarer Verfassung inspirierte 133 ; es ist erstaunlich, daß Schmitt in seinem Aufsatz „Diktatur und Belagerungszustand" von 1916, der in Straßburg entstand und mit dem wir unsere Sammlung eröffnen, zu dieser Vorgeschichte nichts sagt. Zugleich war aber Schmitt, zwischen Straßburg und München pendelnd, ab dem 1. 3. 1917 in der Münchner Maxburg, beim Bayrischen Kriegsministerium, zuständig für die Überwachung der Friedensbewegung und der USPD. Schmitt verfügte also über höchst anschauliche Erfahrungen mit dem Ausnahmezustand und war sogar, an einer keineswegs unbedeutenden Stelle, dessen Praktiker. D. h. auch: Schmitt wußte aus Erfahrungen heraus, über die seine Kritiker nicht verfügten, daß die Ausnahme wichtiger sei als die Regel, weil nur sie imstande ist, die Regel entweder zu retten oder eine neue zu erschaffen. Das ist zwar von simp12 Dazu Huber, wie FN 10, S. 69-115. 13 Schmitt, Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung (1931), Ndr. in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 235-262. Die Strukturwandlung des Ausnahmezustandes schildert: Hans Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Berlin 1967, bes. S. 195 ff., 223 ff. 13a Vgl.: W. Rosenberg, Der Diktatur-Paragraph in Elsass-Lothringen, AöR, 12, 1897, S. 539-89; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV, 2. A., 1982, S. 440 f., 450 f.
Vorwort
XVII
ler Evidenz, doch der Anti-Schmitt-Affekt nährt sich überwiegend aus dem Haß auf die Evidenz seiner Schlüsselsätze, erklärt sich aus Apperzeptionsverweigerung. Schmitt war auch kein Romantiker der Ausnahme, wie es Leute behaupten, die „weder die Wahrheit noch die Wirklichkeit, sondern nur das Gefühl ihrer Sicherheit" 14 suchen; er war zunächst und vor allem ein loyaler Jurist, der durch Ausschöpfung aller vorhandenen Mittel zu retten versuchte, was zu retten war. Würde Schmitt dem Bilde entsprechen, das heute so gerne von ihm gezeichnet wird, so hätte er die Republik schon kurz nach ihrer Geburt bekämpfen müssen: die Illegalität der Entstehung ihrer Verfassung und die Unterschrift unter das Versailler Diktat hätten ihm dabei ein gutes Gewissen verschaffen können15. Doch der revolutionäre Umbruch von der Monarchie zur Republik war für Schmitt wenig mehr als eine bloße - sicherlich brüske - Evolution: „ . . . im „Konstitutionellen" liegt eine wesentliche Kontinuität, die das heutige Reich mit dem alten Reich von 1871 verbindet ... Eine konstitutionelle Demokratie hat eine konstitutionelle Monarchie abgelöst" 16 . Es galt also, den bedrohten Staat als den einzigen Fixpunkt in der Erscheinungen Flucht zu festigen und dazu mußte, nach Rhein- und Ruhrbesetzung, Separatismus, Hitler-Putsch, mitteldeutschem Aufstand, usw., erst einmal der Selbstbehauptungswille und die Ab Wehrkraft Weimars gestärkt werden: vorrangig der pouvoir neutre des Reichspräsidenten und damit die Möglichkeiten des Art. 48. Nur von einem starken Weimar aus konnte der Kampf gegen Versailles und Genf (und gegen die eigene Krankheit zum Tode) geführt werden. Daß es Schmitt um die Stärkung der Republik ging, nicht um deren Demontage, beweisen seine Vorträge vom 4.11. und vom 23. 11. 193217 ebenso, wie sein Engagement für Schleicher. Wollte die Republik überleben, mußte sie sich freilich ändern, weniger in ihrer Verfassung, als in ihrer Verfassungspolitik. Daß aber auch hier im äußersten Falle Friedrich Eberts Motto galt: „Wenn wir vor der Frage stehen: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrundegehen lassen!" - gehört eben zu den heftig verleugneten Evidenzen. Schmitts Zustimmung zum „Preußenschlag" vom 20. 7. 1932 endlich liegt in dessen unmittelbarer, vielleicht sogar wichtigster Intention begründet: eine sich abzeichnende Koalitionsregierung von NSDAP und Zentrum in Preußen zu verhindern, bei der der NSDAP als stärkster Partei das Innenministerium und damit die Polizei in die Hände gefallen wäre 18 . 14 Schmitt, Donoso Cort6s in gesamteuropäischer Interpretation, Köln 1950, S. 84. (Von mir kursiviert - G. M.). 15 Zur Illegalität der Weimarer Reichsverfassung vgl.: Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, München 1924, bes. S. 14-21. Diese Haltung wurde zwar gern als „Legitimismus" bezeichnet, war aber letztlich legalistisch-rechtspositivistisch; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, Stuttgart 1981, S. 14 f. - Im allgemeinen ging man unter den Staatsrechtlern davon aus, daß „Legitimität... kein Wesensmoment der Staatsgewalt" (Heinrich Pohl) sei. 16 Schmitt, der bürgerliche Rechtsstaat (1928), vorl. Bd., S. 44. 17 Vgl. vorl. Bd., S. 55-70, 71-91. is So E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VII, Stuttgart 1984, S. 1017.
XVIII
Vorwort
Schmitts 1933 manche Beobachter verblüffende „Übergang" zum Nationalsozialismus kann hier nicht erörtert werden; dies würde ein eigenes Buch beanspruchen. Man darf freilich behaupten, daß eine 1933 unter zahlreichen Vorbehalten gegebene Zustimmung zum Nationalsozialismus weniger erklärungsbedürftig ist, als eine sofortige, massive Ablehnung. Nachdem Schmitt 1932 noch betont hatte, daß „man etwas voreilig den Tod und das Ende des Staates proklamiert" 19 habe, hegte er 1933, trotz großer Niedergeschlagenheit über den Sieg der „legalen Revolution" 20 , die Hoffnung, den Formeln des Nationalsozialismus einen Sinn geben zu können, - einen etatistischen Sinn. Daß der den Bürgerkrieg beendende, starke „totale Staat" jetzt möglich sei, war 1933/34 eine recht plausible Vorstellung, auch wenn sie im Gegensatz zu früheren Einschätzungen des Nationalsozialismus stand21. Staat und Staatlichkeit zu verteidigen und zu festigen war das eindeutige Ziel Schmitts in den Jahren 1933-36 und seine Programmschrift von 1933 war weder mit „Volk, Bewegung, Staat" noch mit „Bewegung, Staat, Volk" betitelt. Die Kampagne des „Schwarzen Korps" von 1936 richtete sich denn auch nicht nur gegen den Katholiken, sondern auch gegen den Etatisten Schmitt, der mit einer ziemlichen Folgerichtigkeit der „Kronjurist" der Präsidialregierungen gewesen war, die den Nationalsozialisten noch 1937 mehr feindseligen Respekt einflößten als die vorhergehenden demokratischen Regimes22. *
*
*
Das „L'Etat est mort" hat Schmitt erst 1937/38 ausgesprochen, als er seinen „Leviathan" schrieb, während der unheimlichen Windstille in Europa; der zwei Jahre danach losbrechende Krieg bestätigte die These vom Ende des Staates als eines „konkreten, an eine geschichtliche Epoche gebundenen Begriffs". 1937, wohl im Sommer oder Frühherbst, entstand auch Schmitts völkerrechtlicher Bericht „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff 4, der am 29. 10. 1937, kurze Zeit nach Roosevelts „Quarantäne"-Rede vom 5. 10. 1937 in Chicago, der Akademie für Deutsches Recht in München vorlag 23 . 19 Schmitt, Der Begriff des Politischen, München u. Leipzig 1932, S. 27. (Ausg. 1933, S. 23; Ausg. 1963, S. 40). 20 Dies beweist ein 10-seitiges Tagebuchtyposkript Schmitts v. 31. 3. - 13. 4. 1933; vgl. die Zitate daraus bei H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1995, 3. A., S. 98. 21 Vgl. Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933; dort bes. S. 31 (fehlt bezeichnenderweise in der 2. Aufl., 1934, wenn auch mit Copyright 1933); dazu auch G. Maschke, Nachwort zu Schmitt, der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 2. A., Köln-Lövenich 1982, S. 227-242. 22 Vgl. dazu die vom Amt Rosenberg hrsg. „Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage" v. 8.1.1937 ü. Carl Schmitt; jetzt in: Zweite Etappe, Bonn, Okt. 1988, S. 96-111, mit Anmerkungen u. Hinweisen von G. Maschke. 23 Der Originaltext der „Quarantäne"-Rede Roosevelts in: Detlef Junker, Kampf um die Weltmacht - Die USA und das Dritte Reich 1933-1945, Düsseldorf 1988, S. 79-82: dt. Übersetzung in: Helmut Gordon, Hrsg., Kriegsreden 1936-1941 - Das große Kesseltreiben gegen Deutschland, Leoni am Starnberger See 1992, S. 39-48 (mit Kommentar).
Vorwort
XIX
Daß auf der Seite der Feindmächte eine Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff stattgefunden hatte, wurde damals von zahlreichen deutschen Völkerrechtlern und Politikwissenschaftlern, z.T. lange vor Schmitt, erkannt. Auch die Implikationen des völkerrechtlichen Universalismus wurden durchschaut und Schmitts waches Bewußtsein vom Vörsprung der Feindseite im geistigen und wissenschaftlichen Präpariertsein auf den totalen Krieg war keineswegs singulär; Schmitt war hier nur der berühmteste in einer langen Reihe von Betrachtern. Das eigentlich Neue an Schmitts kleiner Schrift war, daß hier mit dem „L'Etat est mort" im Völkerrecht Ernst gemacht wurde. Bis dahin mußten selbst Autoren wie Norbert Gürke, die, anstelle des Staates, das Volk zum Hauptadressaten des Völkerrechts erklären wollten, resignierend eingestehen, daß das Völkerrecht mit dem Staatsbegriff stehe und falle 24 . Auch Gustav Adolf Walz, zwar von einer „durchgreifenden völkischen Bereinigung der politischen Wirklichkeit" sprechend und ein „nicht bloß in Staaten denkendes Völkerrecht" wünschend, konnte zum Schluß nur fordern, daß man „an die bescheidenen aber klaren Formen des Völkerrechts von 1914" anknüpfe, das „trotz seiner Mängel in besserem Maße zu einer vernünftigen Regulierung der internationalen Beziehungen geeignet (sei), als das starre universalistische System der Nachkriegszeit" 25. Letztlich sollte, wie auch immer modifiziert, der nicht-diskriminierende Staaten- und Duellkrieg wiederauferstehen 26. Schmitt ließ sich auf derartige sympathische Reverien nicht ein. Er betonte zwar, gegen ein Völkerbundsrecht das auf eine Art juristische Einkreisung Deutschlands hinauslief, „daß ... eine wirkliche Gemeinschaft der europäischen Völker die Voraussetzung eines wirklichen und wirksamen Völkerrechts" 27 sei, bezog sich damit aber nur vage auf seine bereits 1936 erhobene, nicht minder vage Forderung, daß dem Völkerbund als „einer Kombination heterogenster Gebilde ... ein anderes politisches Gebilde" 28 entgegengesetzt werden müsse. Auf die Frage jedoch, was er denn „eigentlich Neues an die Stelle der alten Staatenordnung zu setzen hätte, da (er) weder einfach beim alten bleiben, noch (sich) den Begriffen 24 Norbert Gürke, Volk und Volkerrecht, Tübingen 1935, S. 100. - Weitaus radikaler in seinen Bemühungen, das zwischenstaatliche Volkerrecht durch ein „Recht der Völker" zu ersetzen, war Hans K. E. L. Keller, vgl. von ihm bes.: Das Recht der Völker, I, Abschied vom „Völkerrecht" Berlin 1938; Bd. II, Das Reich der Volker, Berlin-Schöneberg 1940. Keller warf praktisch der gesamten völkerrechtlichen Zunft des Dritten Reiches ein Verharren im Etatismus vor. - Als Gesamtüberblick bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. a.: F. Giese/ E. Menzel, Vom deutschen Völkerrechtsdenken der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1938. - Eine Untersuchung der Debatte zwischen dem „völkischen" und dem „etatistischen" Völkerrecht im Dritten Reich fehlt bisher ebenso, wie eine sachliche Gesamtdarstellung der Lage des Völkerrechts zwischen 1933 und 1945, die auch die z.T. großen Leistungen dieser Wissenschaft während dieses Zeitraums zu würdigen weiß. 25 G. A. Walz, Inflation im Völkerrecht der Nachkriegszeit, Berlin 1939, S. 76 f. 26 Dies gilt wohl keineswegs nur für viele Schriften Walz', v. Freytagh-Loringhovens oder Heinrich Rogges. 27
Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, München 1938, S. 52. 28 Lt. Protokoll der Sitzung d. Völkerrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht v. 19.6.1936; Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Akademie f. Dt. Recht, 28, 192.
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der westlichen Demokratien unterwerfen" 29 wolle, vermochte Schmitt im Oktober 1937 nichts zu antworten. Erst im April 1939, auf der Tagung des Kieler Instituts für Politik und Internationales Recht (vgl. vorl. Bd., S. 343), glaubte er die Antwort zu wissen: „Der neue Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser Begriff des Reiches, der von einer von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht. In ihm haben wir den Kern einer neuen völkerrechtlichen Denkweise, die vom Völksbegriff ausgeht und die im Staatsbegriff enthaltenen Ordnungselemente durchaus bestehen läßt, die aber zugleich den heutigen Raumvorstellungen und den wirklichen politischen Lebenskräften gerecht zu werden vermag; die „planetarisch", d. h. erdraumhaft sein kann, ohne die Völker und die Staaten zu vernichten und ohne, wie das imperialistische Völkerrecht der westlichen Demokratie, aus der unvermeidlichen Überwindung des alten Staatsbegriffs in ein universalistisch-imperialistisches Weltrecht zu steuern" 30.
Der Passus ist hier so ausführlich zitiert, weil er zum einen die Quintessenz von Schmitts Großraumdenken auf glückliche Weise trifft, zum anderen die unbestreitbaren Schwächen des Konzepts ahnen läßt. Reich, Großraum, Volk und Staat, das sind vier Begriffe, die imstande sind, historisch sehr unterschiedliche Assoziationen und Empfindungen zu wecken und deren politische und juristische Implikationen eher auseinanderstreben, als in einer geschlossenen, harmonischen Einheit münden. Auch wenn wir Schmitts Spiel mit dem vieldeutigen Begriff „Reich" hier beiseitelassen31, so wird seine Unsicherheit ebenso deutlich wie seine Ambition, das „gesamte Feld" zu besetzen und dabei, mittels eines intellektuellen Spagats, es allen recht zu machen. Man ist versucht, an zwei Äußerungen Schmitts über Friedrich Schlegel und über Francisco de Vitoria zu denken: „Was will er (Schlegel G. M.) also eigentlich? Er will der Entwicklung „in teilnehmendem Mitdenken folgen" bzw.: „ . . . was will er (de Vitoria - G. M.) eigentlich? Er will offenbar nichts an dem politischen und ökonomischen Ergebnis der Conquista ändern. Was will er also? Er will die Argumentation in die Hand bekommen, um die geistige Führung zu behalten."32 Schmitt behielt zwar die geistige Führung in der Großraumdebatte, die Argumentation jedoch bekam er nicht in die Hand. Im Zentrum seiner Thesen stand das „Interventionsverbot für raumfremde Mächte" und wenn dieses Prinzip durchge29 Vorl. Bd., S. 306. 30 Ebd. 31 Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt - Sein Auftrag zum „Kronjuristen des Dritten Reiches", Darmstadt 1995, glaubt, daß Schmitt vor allem „Reichstheologe" war und daß die „Großraumordnung" nur sein letzter Versuch war, seine „Reichstheologie" durchzusetzen. Ich halte diese These, die von einem angeblichen Nicht-Etatismus Schmitts ausgeht und mit der ich mich bald ausführlich auseinandersetzen werde, für irrig; möchte aber auf den Reichtum an Hinweisen und Anregungen in diesem Buche aufmerksam machen. 32 Das erste Zitat aus: Schmitt, Politische Romantik, München u. Leipzig 1919, S. 94 (in der 2. A., 1925, S. 165); das zweite aus: Schmitt, Glossarium - Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, Eintragung v. 26. 2. 1948, S. 106. - Ich verdanke diesen Hinweis Herrn Andreas Raithel, Hürth b. Köln.
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setzt werden sollte, dann hatten nicht nur die infrage kommenden Mächte auf Interventionen gegenüber dem Deutschen Reich und dessen Großraum zu verzichten, sondern auch das Reich hatte sich aller Interventionen zu entschlagen. Letztlich hieß es, daß es sich für saturiert erklären mußte. Nach der Gründung des Protektorates Böhmen und Mähren während des März 1939, nur zwei Wochen vor der Kieler Tagung33, hielt Schmitt diese Situation für gegeben; der Großraum des Reiches schien vollendet. Doch gerade der Einmarsch in Böhmen und Mähren wurde auf der Feindseite, auch wenn diese keine Großraumtheorie bemühte, als Analogon zu einer raumfremden Intervention begriffen. Die internationale Politik konnte sich nicht über die Grenzen des Großraums einigen, also mußte der „Kampf um Großräume" einsetzen34, was mit der Verheißung, daß „der Großraum ... ein Bereich völkischer Freiheit und weitgehender Selbständigkeit und Dezentralisierung" 35 sein müsse, wohl selbst dann in grellem Kontrast stand, wenn die Erfüllung dieser Verheißung nicht nur der Wunsch des ohnmächtigen Intellektuellen Schmitt, sondern auch das Ziel der mächtigen Täter gewesen wäre, - was bekanntlich nicht der Fall war. Die ihren Großraum fordernde Macht glaubte, nur mittels Expansion den ihr „gemäßen" Lebensraum 36 erlangen zu können und da angesichts der modernen industriellen Bedingungen ihre Vorstellung von Autarkie weder „selbstgenügsam" war noch es sein konnte, unterlag sie rasch einem verschärften Gesetz wachsender Räume37. Mit dem Großraum stand es kaum anders als früher mit den natürlichen Grenzen; die in beiden Fällen gern proklamierte Selbstbescheidung und -begrenzung schlug um in eine keine Grenze kennende Expansion, es mußte ja auch das immer weiter nach vorn rückende Glacis kontrolliert werden, es mußte das Terrain der „Selbstverteidigung" immer weiter nach außen verlagert werden; wäre, endlich, der Großraum etabliert gewesen, hätte man einen Kontinentalblock gewünscht oder einen Ergänzungsraum benötigt... 33
Pikanterweise war 1939 sogar die Gründung des Protektorates Böhmen und Mähren den kurze Zeit darauf Schmitt ob seiner Zurückhaltung scharf kritisierenden Werner Best ein „Zuviel" an Expansion; er erklärte seinem Freunde Höhn im März 1939: „Kamerad Höhn, das ist das Ende. Bisher haben uns die Leute geglaubt, daß der Nationalsozialismus die völkische Idee verkörpert und daß diese völkische Idee Grenzen kennt. Mit dem Einmarsch in Prag aber wird der Nationalsozialismus zum Imperialismus." (Nach: Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf - Die Geschichte der SS, Essen o. J. (Lizenzausgabe des MagnumVerlages), S. 454. 34
Vgl. das diesen Titel tragende Buch von Rolf Kapp, München 1942. 5 Vorl. Bd., S. 390.
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36 Es ist auffällig, daß Schmitt das Wort „Lebensraum" meist meidet, wohl weil es expansionistisch und biologistisch gedeutet werden konnte und so auch von Hitler gedeutet wurde. Vgl. vorl. Bd., S. 465-468; auch: Adolf Hitler, Mein Kampf, 464. - 468. Aufl., München 1939, bes. S. 739-742, sowie Hitlers Zweites Buch, ein Dokument aus d. Jahre 1928, Stuttgart 1961, passim. 37 Zur »expansionistischen* Deutung der Autarkie vgl.: Francois Perroux, Autarcie et expansion - Empire ou Empires?, Paris 1940, der die „autarcie d'expansion" von der „autarcie de repliement" unterscheidet. Die Kritik an dem deutschen Streben nach Autarkie (der Höhepunkt der Diskussion um 1932, vgl. auch in d. Jahr das Buch „Autarkie" von F. Fried) ist etwas zu wohlfeil, da z.T. schon seit 1900, spätestens aber mit der Weltwirtschaftskrise, das
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Der Großraum wurde nicht zum Widerpart des Universalismus, sondern ähnelte sich ihm an und sei es schon deshalb, daß er dessen Kriegsformen übernehmen mußte; auch er kam nicht umhin, seine „Selbstverteidigung" im Atlantik und Pazifik zu organisieren. Hier bestanden gerne übersehene, inhärente Zwangsläufigkeiten. Offenkundig aber war auch, daß Schmitts Gegner in der Großraumdebatte wie Reinhard Höhn und Werner Best ebensowenig wie die politische Führung Deutschlands an Saturiertheit oder Selbstbescheidung dachten, wie sie Schmitt, der die Propaganda vom Nationalsozialismus als Nicht-Export-Artikel und als Respekt vor jedwedem Volkstum auszunutzen versuchte, recht deutlich empfahl. „Als politischem Kampfbeginn verfocht man mit dem Großraumbegriff den Anspruch auf einen erweiterten Lebensraum, der den Daseinsnotwendigkeiten der europäischen Völker Rechnung tragen sollte" 38 , wandte Höhn gegen Schmitt ein und forderte, „das Wesen der Großräume einmal nicht vom Boden der Abgrenzung, sondern vom Boden der Substanz aus zu erfassen ... Dabei wird das Nichtinterventionsprinzip nicht einfach beiseitegelegt werden dürfen. Es i s t . . . besonders im Augenblick der Entstehung von Großräumen und im Konfliktfall wichtig. Es verkörpert aber nicht das Rechtsprinzip für ein auf Großräumen beruhendes Volkerrecht" 39. Weil die Großraumordnung Schmitts sich der raumfremden Expansion widersetzte, weil ihre Kritik der üblichen angelsächsischen Verfahrensweise auch als Kritik des Nationalsozialismus gelesen werden mußte und gelesen wurde - zeichnete sich doch ab, daß die von Schmitt geschilderte Pervertierung der Monroe-Doktrin sich im Falle eines von Deutschland beherrschten Großraums auf eine andere Art und Weise „wiederholen" würde - , mußte Schmitt ins Fadenkreuz des SS-Ideologen Höhn geraten, der obendrein mit vollem Recht fragen konnte, worin sich denn das Prinzip der Nichtintervention betreffs des Großraums vom staatlichen Verbot der Intervention unterscheiden würde 40 . Der Staat und damit auch die Relation von Schutz und Gehorsam hatte für den Anti-Etatisten Höhn im Großraum Schmitts seine getarnte Bunkerstellung gefunden und Höhn, dessen Thesen im Gegensatz zu denen Schmitts eindeutig aggressiv und offensiv waren, zögerte nicht, den bei dieser Aggressivität üblichen Brei des Herzens zusammenfließen zu lassen und monierte, daß das Nichtinterventionsprinzip Schmitts „ . . . gerade immer das Trennende (unterstreicht). Es sieht den Partner überwiegend unter dem Blickwinkel des möglichen Gegners und verlangt stets die Möglichkeit einer Bedrohung." 41 Das Staatliche, d. h. nicht zuletzt Recht und Rechtssicherheit, witterte auch Werner Best in Schmitts Schrift und er kritisierte, daß durch den zu überwindenden Weltaußenhandelsvolumen sank. Interessanterweise äußert sich Schmitt im Zusammenhang mit der Großraumfrage überhaupt nicht zur Autarkie; vgl. nur später, auf recht indirekte Weise, in: Der Nomos der Erde, Köln 1950, S. 207, Fn. 38 R. Höhn, Großraumordnung und völkisches Rechtsdenken, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum, 1941, S. 256-288, hier S. 260. Die zweite Kursivierung von mir - G. M. 3 9 Ebd., S. 283 f. 40 Ebd., bes. S. 278. Ebd., S. 274 f.
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völkerrechtlichen Charakter der Schmittschen Theorie die in den deutschen Großraum eingegliederten kleineren Staaten auf die Idee kommen könnten, „daß sie mit dem Führungsvolk der Großraumordnung als gleiche, 'souveräne' Partner 'völkerrechtliche' Verträge abzuschließen hätten und daß sie gegebenenfalls ihre 'völkerrechtliche' Bindung gegenüber dem Führungsvolk auch wieder kündigen könnten!" 4 2 Doch trotz solcher Kritik kam Schmitt mit seiner Formel „Großraum" nicht in die Bredouille wie noch wenige Jahre zuvor mit seiner Formel „totaler Staat". Unklarheit und Beliebigkeit der Interpretation bestanden hier wie dort, aber im Falle des „totalen Staates" waren sie doch geringer und die innerpolitische Neutralität auch des totalen Staates war doch zu deutlich mit-gesetzt; auch wenn dieser Staat aus der politischen Stärke heraus neutralisieren und entpolitisieren sollte. Diese Neutralität und Entpolitisierung sollte ja gerade nicht statthaben, da sie die totalitäre Erfassung der Volksgemeinschaft be- oder verhindert hätte. Beim Großraum jedoch handelte es sich um die Wirklichkeit en marche; „jeder" wollte ihn, , jeder" konnte ihn nach seinem Gusto modeln, doch selbst die schärfsten Gegner Schmitts mußten ihm die Palme des geistigen Pioniers zugestehen. Angesichts dieser unbestreitbaren Wirklichkeit en marche und nicht zuletzt wegen der polemischen Diskussion gerieten einige Schwächen der Skizze Schmitts43 aus dem Blick. Schmitts Großraum war rein kontiental geprägt und beinhaltete letztlich nichts Geringeres, als daß die Seemächte, weil sie über keinen geschlossenen Großraum verfügten und nur ein Netz von Verkehrs- und Verbindungslinien kontrollierten, gefälligst abzudanken hätten; geradezu aus einer geographischen Schuld heraus. Das Problem des Gleichgewichts zwischen Land und Meer und das des Gleichgewichts zur See, das noch Napoleon und die französischen Juristen seiner Zeit beschäftigt hatte 44 , wurde in der „Großraumordnung" Schmitts schlicht escamotiert, im „Nomos der Erde" allenfalls gestreift. Die Seemacht England (und nicht die geradezu „verdrängten" Vereinigten Staaten) war hier der Feind, und das in einer Situation, in der Hitler glaubte oder mindestens hoffte, sich noch irgendwie mit dem von ihm bewunderten Empire arrangieren zu können, ja, an einem nicht allzu fernen Tage, noch zu einem Bündnis zu kommen. Der Kontrast zwischen der 42 Werner Best, Nochmals: Völkische Großraumordnung statt: 'Völkerrechtliche Großraumordnung!', Deutsches Recht, 1941, S. 1533 f., hier S. 1534. 43 Vgl. die schöne, erhellende Bemerkung von Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm, Stuttgart 1957, S. 21: „ . . . es ist bekannt, daß andeutende Skizzen oft stärker wirken als vollendete Gemälde. Man kann ihnen die mangelnde Vollendung nicht vorwerfen; denn sie wollen nicht mehr sein, als sie sind: Vollendungen im Medium des Unvollendeten. Während das Gemälde im Betrachter das Gefühl für die Begrenztheit der abgeschlossenen Verwirklichung auslösen kann,... wirkt in der Andeutung die Frische der Möglichkeiten". 44
Vgl. dazu etwa die vielen Hinweise bei Roman Schnur, Land und Meer - Napoleon gegen England. Ein Kapitel der Geschichte internationaler Politik (zuerst 1963), in: ders., Revolution und Weltbürgerkrieg, Berlin 1983, S. 33-58. Ein wichtiger Stichwortgeber war hier wohl Gabriel de Mably, Le droit public de 1'Europe fondä sur les traitös, 1748; auch ders., Diplomatische Verhandlungen, aus dem Französ., Berlin o. J. (Borngräber), bes. S. 90 f.
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zur Gänze englandfeindlichen völkerrechtlichen, geopolitischen und auslandswissenschaftlichen Literatur Deutschlands in den Jahren 1936-1940 und der hartnäkkigen Anglophilie Hitlers wäre einiger Beachtung wert... Diese Literatur wiederholte imgrunde - was hier nur mit dem ganzen Aplomb der Simplifikation gesagt werden kann - , die anti-englische Polemik der wilhelminischen Zeit vor dem Ersten Weltkriege, sei es auf die nuanciertere Art eines Otto Hintze 45 , sei es auf die gröbere eines Graf Ernst zu Reventlow, dessen Buch „Der Vampir des Festlandes" 1915 erstmals erschien und 1939, nur etwas erweitert und aktualisiert, in der 12. Auflage herauskam. Carl Schmitt hat an diese Tradition des von ihm sonst so geschmähten Wilhelminismus angeknüpft und man darf sich fragen, ob seine Großraumordnung wirklich so verschieden war von Konzepten der wilhelminischen und noch der Weimarer Zeit, also der Mitteleuropa-Idee, der „Weltpolitik und kein Krieg", der Südosteuropa-Politik. Zwar war diesen Konzepten gegenüber der „hegemoniale Föderalismus" 46 Schmitts um eine juristische Fundierung bemüht, aber in welcher Weise sollte diese vonstatten gehen? Und legte Schmitt 1939 nicht den Gedanken nahe, den viele Betrachter schon vor 1914 hegten, nämlich daß Deutschland Aufstieg zur Weltmacht letztlich nur eine Art Übertragung (quasi per Storchenschnabel) des überholten europäischen Gleichgewichts auf die gesamte Erde sei und deshalb von den drei wirklichen Weltmächten (die 1939, trotz veränderter Machtpotentiale und Ideologien noch die gleichen waren wie um 1900: USA, England und Rußland!) hingenommen werden müsse?47 Worin lag denn die wirklich entscheidende Differenz zwischen dem Großraum und den Ordnungsideen vor 1914? Diese Frage drängt sich gerade deshalb auf, weil Schmitt wie nur wenige, und sicher schon vor der Niederschrift des „Nomos der Erde" vor 1945, wußten, daß das europäische Gleichgewicht auf den nicht-okkupierten, noch freien Räumen außerhalb Europas beruhte, diese Räume aber spätestens ab 1890 geschlossen waren. Der Großraum jedoch implizierte ein Weltgleichgewicht.. 4 8 45 Vgl. v. Hintze: Die Seeherrschaft Englands, ihre Begründung und Bedeutung, Dresden 1907 (Gehe-Stiftung); Die englischen Weltherrschaftspläne und der gegenwärtige Krieg, Berlin 1914; Imperialismus und Weltpolitik, in: Die deutsche Freiheit (Vorträge von Harnack u. a.), Gotha 1917, S. 114-169. 46 So ein Ausdruck Ernst Rudolf Hubers. Vgl. zu seiner Kritik an Schmitts Großraumordnung unsere Hinweise, vorl. Bd., S. 360 f. 47 Gustav Schmoller lancierte ab 1900 die Theorie von den drei sich ausdehnenden, den Handel mit anderen Ländern reduzierenden und um Autarkie bemühten Weltreichen England, USA und Rußland; vgl.: Schmoller, Die Wandlungen in der europäischen Handelspolitik des 19. Jahrhunderts, Schmollers Jahrbuch, 1 /1900, S. 373-382. Mitteleuropa müsse aufgrund dieser Aus- und Abschließungstendenzen zu einer „handelspolitischen Vereinigung" gelangen. Schmollers Aufsatz steht im Zusammenhang mit der sogen. Industriestaatsdebatte in Deutschland; er wird in der Literatur fast stets mit dem falschen Titel „Die Theorie von den drei Weltreichen" versehen; so auch bei Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 207. Zum Zusammenhang und zur Kritik vgl. Heinrich Dietzel, Weltwirtschaft und Volkswirtschaft, Dresden 1900.
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Wir brechen hier diese tastenden Bewegungen ab und halten es dennoch für unnötig, die außerordentliche Bedeutung der Großraumtheorie Schmitts besonders zu unterstreichen. Abgesehen davon, daß hier, wie so oft, Schmitts Talent zur 'Former und seine skizzierende Vorgehensweise ein höchst auf- und anregendes ewiges Gespräch entbinden, kann die samenkapselartige Fruchtbarkeit der kleinen Schrift von 1939 nur bewundert werden. Die Ergebnisse des 1945 triumphierenden Universalismus schrecken und im Kampf gegen diesen Universalismus, der sich im katastrophischen Zerfall der Welteinheit, in deren endloser Fragmentierung, im „Scheitern der Vernunft an den Formeln der Globalisierung" 49 vollendet, wird man Schmitts Vortrag von 1939 wiederentdecken müssen: als ein „Leinen los!" zu der langen, ununterbrochenen Fahrt, auf der wir uns immer noch befinden ... *
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Auffällig ist, daß Schmitt, der seine „Großraumordnung" in der Öffentlichkeit ziemlich eifrig propagierte (vgl. vorl. Bd., S. 358), bereits am 25. 1. 1941 den letzten Vortrag zum Thema hielt und daß schon im August die vierte und letzte Auflage seiner Schrift erschien, obgleich die Großraumdebatte noch keineswegs ihren Zenit erreicht hatte. Wir können nur vermuten, daß Schmitt an dieser Debatte nicht teilnahm, weil die Rede von einem deutschen Großraum längst nicht nur imperialistische, sondern auch „ortlose" Züge angenommen hatte, ja, „Hitlers Kombination von rassenbiologischen Gesichtspunkten und Großraumvorstellungen ... mehr (bedeutete) als nur eine Intensivierung dessen, was der klassische Imperialismus in dieser Hinsicht bereits hervorgebracht hatte .. ." 5 0 . Zudem war spätestens mit dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. 6. 1941 die bedeutsamste Geschäftsgrundlage einer Großraumordnung im Sinne Schmitts entfallen: die Abgrenzbarkeit der „beiderseitigen Reichsinteressen" (vgl. vorl. Bd., S. 295). Mit dem Unternehmen Barbarossa war der Großraum vorerst „widerlegt", selbst dann, wenn es sich hier um einen Präventivkrieg handelte.
48 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948, sieht den Hauptfehler der deutschen Politik sowohl 1914 als auch 1939 in dem Glauben, Deutschland könne „aus dem europäischen System in ein neues Weltsystem (emporwachsen)", S. 202. Er sieht in den beiden Weltkriegen eine Bestimmung zur Einheit der Welt, ebd., S. 204. - Vgl. Rudolf Kj61len, Die Großmächte der Gegenwart, 1914, 6. Aufl., Leipzig u. Berlin 1915, S. 124: „Aber im selben Maße wie die Weltgeschichte sich von einer europäischen zu einer planetarischen (Bühne) erweitert hat, muß der Gleichgewichtsgedanke die größere Bühne aufsuchen; die Balance in Europa muß von der Balance auf den Meeren und in der ganzen politischen Welt ergänzt oder abgelöst werden. Aber in einem solchen planetarischen Gleichgewichtssystem gibt es keinen Platz für ein englisches Weltreich vom jetzigen Meere beherrschenden Typus". 49
Emanuel Richter, Der Zerfall der Welteinheit - Vernunft und Globalisierung in der Moderne, Frankfurt a. M. 1992, S. 242-252; der Autor beschwört gegen diese Tendenz eine („vernünftige") „universale Gemeinschaftlichkeit", ebd., S. 252 ff., was nach all den von ihm aufgedeckten Krisenerscheinungen eher rührend wirkt. so Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. II, Göttingen 1982, S. 543.
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Schmitt erkannte wohl auch die Mängel seines Konzepts und seine ab 1941 entstehenden Texte zum Verhältnis von Land und Meer sind Versuche, diese Mängel, soweit dies Corollarien und Addenda vermögen, zu beheben. Zugleich drückt sich in diesen Addenda und Corollarien das Bewußtsein aus, daß der „letzte europäische Krieg" (John Lukacs) sehr rasch in einen Weltkrieg umschlagen und sich so der diskriminierende Kriegsbegriff vollenden würde. Als Anfang Dezember 1941 der deutsche Vormarsch vor Moskau zum Erliegen kam, der Kulminationspunkt des Angriffs nicht mit dem Kulminationspunkt des Krieges ineinsfiel, war die deutsche Niederlage, betrachtete man auch nur oberflächlich die katastrophale Unterrüstung der Wehrmacht 51, besiegelt. Wohin man auch schaute: der Universalismus hatte, zunächst einmal, über den Großraum gesiegt. Kämpfte Schmitt in der juristischen und innerpolitischen Diskussion zunächst offensiv für den Staat, so kämpfte er danach auf der völkerrechtlichen und außenpolitischen Ebene - unter neuen, über-staatlichen Bedingungen - defensiv für die noch zu rettenden Elemente der Staatlichkeit. Jetzt aber sah er sich gezwungen, den Nomos der Erde sowohl zu beschwören als zu suchen, um den endgültigen Triumph des nihilistischen Universalismus einen vielleicht noch möglichen Widerstand zu leisten. Diese Versuche reichten von der Evozierung, ja, Sakralierung ihm bedeutsamer Orte bis hin zu geschichtsphilosophischen Erwägungen und zu konkreten Analysen der Weltpolitik, etwa der internationalen Lage nach der BandungKonferenz, seit dem Aufstieg Chinas oder während der Bemühungen de Gaulies. Manche solcher Hoffnungen sind heute, angesichts des Niederganges der u. s.amerikanischen Hegemonie5 l a oder angesichts des offenkundigen Zerfalls der gerade als in Entstehung begriffenen begrüßten Welteinheit kaum von der Hand zu weisen, wenn auch alle Anzeichen dafür sprechen, daß dem Menschen die „Bändigung der entfesselten Technik" (vgl. vorl. Bd., S. 568) nicht gelingen wird, daß neue Hegungen des Krieges nicht vorstellbar sind, geschweige denn, daß der Wunsch, es mögen doch „die Friedfertigen sein ..., die das Erdreich besitzen52 erfüllbar scheint. Dem aufmerksamen Leser Schmitts dürfte der nicht-aktivistische, resignative Ton, der sich bereits im Früh werk anmeldet, nicht entgehen; die Posaune, die einen deutlichen Ton gibt, erschallt, denkt man an das 1910 beginnende, 1981 abgeschlossene Gesamtwerk, eher selten. Jeder der Carl Schmitt näher kannte, wird dessen Selbstcharakterisierung zustimmen: „Mein Wesen mag undurchsichtig sein, jedenfalls ist es defensiv. Ich bin ein kontemplativer Mensch und neige wohl zu scharfen Formulierungen, aber nicht zur Offensive, auch nicht zur Gegenoffensive. 51 Vgl.: Hartmut Schustereit, Vabanque - Hitlers Angriff auf die Sowjetunion 1941 als Versuch, durch den Sieg im Osten den Westen zu bezwingen, Herford u. Bonn 1988, bes. S. 30-68. 51a Vgl. bes.: David Calleo, Beyond American Hegemony, dt. u. d. T. Die Zukunft der westlichen Allianz, Bonn 1989. 52 Schmitt, Der Nomos der Erde, Köln 1950, S. 20.
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Mein Wesen ist langsam, geräuschlos und nachgiebig wie ein stiller Fluß, wie die Mosel, tacito rumore Mosella." 53 Die Größe Schmitts liegt nicht in seinen Antworten, die oft der Überzeugungskraft entbehren, - sie liegt in seinen Fragen und Fragestellungen, hinter denen auch dann nicht zurückgegangen werden kann, wenn wir die Antwort nicht finden. Die Größe dieses vielgeschmähten Mannes liegt aber auch darin, daß er, der Stille und Kontemplative, nicht die ihm vorgezeichneten (Flucht-)Wege ging, etwa den Weg Jacob Burckhardts in die Kultur oder den Weg Franz Bleis in den Ästhetizismus. Sondern Schmitt stellte sich stattdessen den Res dura des Politischen: „Sohn dieser Weihe, du sollst nicht erbeben - horche und leide!" Frankfurt am Main Juli 1995
Günter Maschke
53 Ex captivitate salus - Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, S. 10. - Das Zitat nach Ausonius, Moseila: „Et virides Baccho colles, et amonea fluenta/Supterlabentis tacito rumore Mosellae" („... die grünlichen Hügel, dem Bacchus geweiht, und der Mosel/Lieblich rieselnde Fluth, die mit stillem Gemurmel dahinfließt"), nach dem Ndr. der Buchhandlung Behrens, Trier 1979, der Koblenzer Ausgabe von 1802 folgend.
Zur vorliegenden Ausgabe Die Texte dieser Ausgabe beruhen auf den jeweiligen im Anhang genannten Erstdrucken. Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert, altertümliche Schreibweisen (etwa „ueber" statt „über") in der Regel den heutigen Gepflogenheiten angepaßt. Die von Carl Schmitt erstellten Fußnoten wurden weitgehends überprüft; die dabei nicht seltenen Irrtümer, falschen Datierungen, fehlerhaften Zitate, usw., wurden - meist stillschweigend - verbessert. Meine eigenen Anmerkungen und Hinweise beruhen, falls nicht ausdrücklich angegeben, auf Autopsie. Mit Vorrang habe ich dabei Schriften berücksichtigt, die Schmitt vermutlich oder mit Sicherheit kannte, danach die Literatur zu seinen Lebzeiten und zum Schluß erst die spätere Literatur. Natürlich wurden auch die jeweiligen Standardwerke berücksichtigt. Es versteht sich, daß der bewußt sehr ausführlich gehaltene Anmerkungsteil trotz aller Bemühungen immer noch „Lücken" aufweist. Dazu nur zwei besonders prägnante Beispiele. Auf S. 425 f. weise ich auf die berühmte „Bücherschlacht", den Streit um die Freiheit der Meere, hin und kapriziere mich dabei auf die Polemik zwischen Grotius, Seiden u. Freitas. Doch schon vor dieser Polemik forderten die Franzosen gegenüber den Spaniern energisch die „Meeresfreiheit", wie u. a. Adolf Rein in seinem bedeutenden Werk „Der Kampf Westeuropas und Nordamerikas im 15. und 16. Jahrhundert", Stuttgart-Gotha 1925, S. 99 ff. detailliert nachweist. Oder: Auf S. 454 erwähnt Schmitt eine „Konferenz" v. Ribbentrops mit Intellektuellen kurz vor dem Ausbruch des II. Weltkrieges, von der ich auf S. 464, FN 4, erkläre, dazu nichts gefunden zu haben. Erst nach dem Vorliegen des Umbruches wurde ich aufmerksam gemacht auf einen mir bekannten, aber entfallenden Aufsatz Armin Möhlers, „Der Fall Giselher Wirsing", in: Möhler, Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978, S. 146155, der von einer „Art Lagebesprechung (v. Ribbentrops - G. M.) für Schriftsteller auf Schloß Leopoldskron bei Salzburg" berichtete (S. 149), bei der u. a. Wirsing und Ernst Jünger anwesend waren. Alle die mir noch bewußt gewordenen, geschweige die mangels Kenntnissen noch nicht bewußten Lücken auszufüllen, hätte eine weitere, nicht mehr zu verantwortende Verzögerung des Bandes bedeutet, der mindestens seit 1993 erwartet wird. Die Hinweis- und Zitiertechnik ist, durch die jahrelange, des öfteren unterbrochene Arbeit, leider nicht ganz einheitlich gehalten worden. Manche Anmerkungen und Kommentare wiederholen sich, wenn auch nur in der Sache und nicht im Text. Hier alles zu bereinigen und zu vereinheitlichen wäre nicht immer von Nutzen gewesen, sondern hätte den Band nur zu oft in ein einziges Querverweis-Werk verwandelt, in dem der Leser zum Schluß mehr hin und her blättern als lesen wür-
Zur vorliegenden Ausgabe
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de. Auf den ursprünglichen Plan, eine sehr umfangreiche, „systematische" Einleitung zu schreiben, wurde verzichtet. Bei einem nur halbwegs seriösen Vorgehen wäre daraus ein eigenes Buch geworden. Bei der Arbeit an dieser Ausgabe, die öfters unterbrochen wurde, vor allem durch zwei längere Aufenthalte in Peru in den Jahren 1990 und 1992, wurde mir von vielen Seiten Hilfe zuteil. Zunächst darf ich meine liebe Frau Sigrid nennen, die mich abschirmte und ermutigte. Herr Prof. Dr. Joseph H. Kaiser, Staufen i. Br., der Testamentsvollstrecker Carl Schmitts, erteilte mir freundlicherweise die notwendigen Abdruckgenehmigungen und half mit zahlreichen Hinweisen. Geradezu unermüdlich griffen mir Herr Prof. Dr. Helmut Quaritsch (Speyer), Herr Andreas Raithel (Hürth b. Köln) und Herr Prof. Dr. Piet Tommissen (Grimbergen/Belgien) unter die Arme; Herr Raithel erstellte überdies dankenswerterweise die beiden Namensverzeichnisse. Schließlich darf ich noch einigen Freunden und Bekannten danken, die mich in Einzelfällen berieten, mit Material zusandten, usw. Erwähnen möchte ich hier: Alain de Benoist (Paris), Alessandro Campi (Perugia), Prof. Dr. Antonio Caracciolo (Rom), Vizeadmiral Luis Giampietri Rojas (La Punta/Peru), Dr. Manfred Lauermann (Gütersloh), Prof. Dr. Manuel Migone Pena (Chaclacayo/ Peru), Dr. Armin Möhler (München), Martin Mosebach (Frankfurt a. M.), Prof. Dr. Alvaro d'Ors (Pamplona), Henning Ritter (Frankfurt a. M.), Dr. Guillermo Gueydan de Roussel (Lago Puelo/Argent.), Prof. Dr. Roman Schnur (Rottenburg), Robert Steuckers (Brüssel), Christian Tilitzki (Berlin) u. Dr. Peter Weiß (Wien). Dr. Ingeborg Villinger und Dr. Dirk van Laak unterstützen meine Nachforschungen im Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv, das den Nachlaß Carl Schmitts beherbergt. Dank gebührt auch dem Verlag Duncker & Humblot und seinem Leiter, Prof. Dr. Norbert Simon, für die beträchtliche Geduld. Die Ausgabe ist drei väterlichen Freunden gewidmet, die ich durch Carl Schmitt kennenlernte. Amicus certus in re incerta cernitur - auf diesen Wahlspruch hätten sich Günther Krauss, Eberhard Freiherr von Medem und Julien Freund sicher gerne geeinigt. G. M.
Erster Teil
Verfassung und Diktatur
1 Staat, Großraum, Nomos
Diktatur und Belagerungszustand Eine staatsrechtliche Studie1 Die als Belagerungszustand, Kriegszustand oder Diktatur bezeichneten Ausnahmezustände enthalten in der gesetzlichen Regelung, die sie heute in den verschiedenen europäischen Ländern gefunden haben, verschiedenartige Gesichtspunkte vermengt. Eine Erkenntnis der juristischen und politischen Natur jener Ausnahmezustände ist nur durch eine Auflösung der heterogenen Elemente möglich. Da die heute im deutschen Reich geltenden Gesetze über die Materie im wesentlichen unter dem Einfluß der Gesetzgebung Frankreichs entstanden sind, wird das historische Material der Untersuchung hauptsächlich der französischen Geschichte entnommen werden müssen. Zwar ist die Einwirkung französischer Ideen auf die Reform der inneren Verwaltung und auf das Heerwesen Preußens nicht so groß, wie vielfach angenommen wird. 2 Aber die Verfassungen der deutschen Staaten haben jedenfalls ihre Terminologie, die sich doch nicht dauernd von den Begriffen loslösen läßt, übernommen, und die Geschichte des preußischen Belagerungszustandes ist von der Geschichte der preußischen Verfassung nicht zu trennen. Die Materialien aller, den Belagerungszustand wie die Verfassung betreffenden Gesetze verweisen auf belgische und französische Vorbilder. 3 Seit der Revolution des Jahres 1848 wurde es üblich, dem sog. politischen, d. h. zur Bekämpfung innerer Unruhen verhängten Belagerungszustand den Namen Militärdiktatur zu geben und den Belagerungszustand als Rechtsinstitution mit der Diktatur zu identifizieren. Eine solche Gleichstellung der beiden Begriffe ist historisch ganz unberechtigt.4 Sie wäre 1793 nicht möglich gewesen. Damals wurden 1
Veranlaßt ist diese Arbeit durch die Ausführungen von Reichsgerichtsrat W. Rosenberg, „Die rechtlichen Schranken der Militärdiktatur", Bd. 37, S. 808 - 825 dieser Zeitschrift. Es erschien mir notwendig, die Frage prinzipieller und unter weiteren historischen Aspekten zu behandeln und dadurch den begrifflichen Gegensatz von Belagerungszustand und Diktatur zu bestimmen. 2 Namentlich sind die Steinschen und Hardenbergschen Organisationen nicht Nachahmungen französischer Muster. - Godefroy Cavaignac, La formation de la Prusse contemporaine, 1.1, Paris 1891, S. 487: ... „on peut dire que la Prusse ne se distinguait de la France et Stein de la Revolution fran9aise qu'en reculant devant la tache, que l'une et l'autre avaient accomplie." Ernst von Meier, Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preußens im 19. Jahrhundert, II. Band, Leipzig 1908, S. 395 (über Stein) und S. 402 (über Hardenberg). 3 R. Smend, Die preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der belgischen, Göttingen 1904, S. 24 ff. Haldy, Der Belagerungszustand in Preußen, Tübingen 1906, S. 5.
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Diktatur und loi martiale als grundverschiedene Dinge behandelt. Der Nationalkonvent, dessen Herrschaft auf jeden Fall den Namen Diktatur verdient, hätte es weit von sich gewiesen, die loi martiale oder den Belagerungszustand mit den Ausnahmezuständen in Zusammenhang zu bringen, die er im Interesse der Landesverteidigung und des öffentlichen Wohles für notwendig hielt. Vom Belagerungsoder Kriegszustand, der doch in dem Gesetz vom 8. - 10. Juli 1791 eine ausführliche Regelung gefunden hatte, war 1793 überhaupt nicht die Rede. Im Gegenteil, die loi martiale wurde als eines freien Volkes unwürdig entrüstet abgelehnt.5 Die Deputierten der Nationalversammlung von 1848 dagegen, die sich der „Diktatur" widersetzten, verstanden darunter die loi martiale, d. h. den mit der Suspension von Verfassungsbestimmungen verbundenen Übergang der vollziehenden Gewalt auf den Militärbefehlshaber. In der revolutionären Terminologie ganz Europas wurde dann die Gleichsetzung beider Begriffe übernommen. Die Verwechslung dauert bis auf den heutigen Tag fort. Der Unterschied zwischen den Ausnahmezuständen von 1793 und 1848 ist aber augenscheinlich. Im Jahre 1793 handelte es sich für die Republik darum, der Koalition fast aller europäischen Mächte standzuhalten; die feindlichen Invasionen waren in Nordfrankreich, im Elsaß, in Toulon vorgedrungen. Aus der Notwendigkeit, das Land nach außen zu verteidigen, entstand die Diktatur. Das Comite de salut public regierte. Es war nicht einem plötzlichen, überlegten Entschluß entsprungen, sondern das allmähliche Ergebnis der „nacheinander eintretenden Notlagen, bei einem Volk, das gegen ganz Europa im Kriege lag, das ganz bewaffnet war, um seine Existenz zu verteidigen, in einem Lande, das zu einem großen Kriegslager geworden war". 6 Im Gegensatz dazu wurde während der Revolution von 1848, wie auch 1830, nur ein Aufruhr im Innern bekämpft. Die Julirevolution von 1830 betraf, wie der ganze Kampf gegen das Königtum der Restauration, Verfassungsstreitigkeiten; sie erhob sich unter dem Losungswort „Vive la Charte!", und als Karl X. am 28. Juli 1830 Paris in Belagerungszustand erklärte, war er mit seinen Ministern davon überzeugt, daß er es mit einem bloßen Tumult, einer „simple echauffouree" zu tun habe.7 Ebenso war die Revolution von 1848 eine interne Angele4 Die psychologischen Gründe der Ungenauigkeit interessieren hier nicht; sie mögen an die Tatsache anknüpfen, daß ein Soldat von so markantem militärischem Typ wie der General Cavaignac die Revolution von 1848 niederschlug, wobei das Pathos seiner Gegner, Grevy und Lagrange, sich an dem Wort von der Säbeldiktatur entflammte. 5 Am 24. Juni 1793 schrieb ein Repräsentant des Nationalkonvents, Albitte, in einem Bericht: Der perfide Mirabeau schuf die loi martiale im Schöße eines freien Volkes; es ist jetzt an uns, das unheilvolle, schändliche Gesetz zu vernichten, das unser Recht beschmutzt, die loi martiale soll dem allgemeinen Fluch anheimfallen usw. Von der Diktatur durfte Albitte nicht so sprechen, denn sie lag in den Händen des Nationalkonvents, dessen Repräsentant er war. (Recueil des actes du Comite de salut public, publik par. F. A. Aulard, Paris MDCCCLXXXIX, t. V. S. 73, 74). 6
A. Aulard, Histoire politique de la Revolution fransaise, 4. 6d., Paris 1909, S. 357/358. i du Viel-Castel, Histoire de la Restauration, t. XX. Paris 1878, S. 581; Theodore Juste, La Revolution de juillet 1830, Brüssel 1883, S. 21.
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genheit Frankreichs, obwohl ihr Eindruck auf die andern Länder außerordentlich groß und vielleicht auch die internationale Lage nicht so glänzend war, wie sie Lamartine bei Eröffnung der Nationalversammlung in festlicher Rhetorik darlegte.8 Die außerordentlichen Maßnahmen, mit denen im Juli 1848 der Aufstand niedergeschlagen wurde, waren ausschließlich durch den Zweck bestimmt, eine im Inneren drohende Gefahr zu beseitigen. Dem verschiedenen Zweck entsprach die verschiedene staats- und verwaltungsrechtliche Form, in der die Ausnahmezustände des Jahres 1793 und die der Revolutionen von 1830 und 1848 erledigt wurden. Die Entwicklung der Diktatur von 1793 bedeutet in ihrer staatsrechtlichen Gestalt nur die allmähliche Aufhebung der Teilung der Gewalten. Die Deklaration der Menschenrechte von 1789 hatte in ihrem Artikel 16 den Satz proklamiert, daß jede Gemeinschaft, in der die Teilung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion nicht durchgeführt sei, der Verfassung und der Freiheit entbehre.[l] Die Teilung war für ihre theoretischen Begründer, Locke und Montesquieu, ein rein praktisch-technisches Mittel gewesen, die Macht des Staates auszubalanzieren, damit sie den Einzelnen nicht erdrücke. Aus diesem, ganz in der Sphäre nüchternster Relativität liegenden Gedanken hatte die Revolution ein absolutes Axiom gemacht, an das sie mit doktrinärem Pathos glaubte und das sie, wenigstens formell, noch aufrecht zu halten suchte, während in der Sache längst die schrankenlose Diktatur des Comite de salut public eingetreten war. Als der Konvent am 6. April 1793 beschloß, ein Comite de salut public zu bilden, war in Wirklichkeit die Trennung von Legislative und Exekutive aufgegeben. Denn das neue Comite sollte die Tätigkeit der Minister „überwachen und beschleunigen", es konnte in dringenden Fällen außerordentliche Maßnahmen zur Verteidigung des Landes nach innen und nach außen ergreifen und sie sofort vollziehen lassen. Trotzdem vermied man es, die Minister und den Conseil executif zu beseitigen.9 Doch war bereits mit der Bildung eines Comite de defense generale am 1. Januar 1793 die Entwicklung deutlich geworden; sie ließ sich nicht mehr aufhalten. Unter dem Druck der äußeren Ereignisse wurden schließlich alle Bedenken beseite geschoben, die noch während der Beratung jenes Beschlusses vom 6. April 1793 und in dessen Bestimmungen selbst zutage getreten waren 10 : ein aus dem Parlament, 8 Die Rede (vom 7. Mai 1848) ist mitgeteilt in Lamartines Histoire de la Revolution de 1848, t. II. Paris 1849, S. 375 ff. 9 Noch am 24. April 1793 rief Saint-Just im Konvent, man müsse die Gewalten teilen, damit die Freiheit herrsche, wie die Tyrannen das Volk teilten, um selbst zu herrschen. Moniteur vom 25. April 1793, S. 510. 10 Vgl. Recueil des actes du Comite de salut public, t. III, p. 112. Der Beschluß lautet: La Convention nationale decr&te: Article 1er. II sera forme, par appel nominal, un Comite de salut public compose de neuf membres de la Convention nationale. Art. 2. Ce Comite deiiberera en secret. II sera charge de surveiller et d'acceierer Taction de I'administration confiee au Conseil executif provisoire, dont il pourra meme suspendre les arretes, lorsqu'il les croira contraires ä l'interet national, ä la charge d'en informer sans deiai la Convention.
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also der legislativen Körperschaft, gebildeter Ausschuß leitete den Vollzug der Gesetze, gab Militär- und Zivilbehörden Anweisungen, organisierte den Nachrichtendienst, schickte Kommissäre in die Provinzen und zu den Armen und hatte vor allem die auswärtige Politik in seiner Hand. Durch diese Vereinigung der gesetzgebenden Gewalt mit der vollziehenden wurde, wie Aulard meint, Frankreich gerettet. 11 Weder 1830 noch 1848 wurde die Trennung von Legislative und Exekutive aufgehoben. Der General Marmont, Herzog von Ragusa, der Militärbefehlshaber von 1830, sollte eine Aufgabe erledigen, die sich nur durch ihren Umfang von einer, sonst durch verstärktes Polizeiaufgebot zu erledigenden unterschied. Cavaignac, der Militärbefehlshaber des Jahres 1848, erhielt ebenfalls keine legislativen Befugnisse. A m 23. Juni 1848 hatte ihm die konstituierende Versammlung alle militärischen Vollmachten gegeben; am folgenden Tage wurden ihm, unter dem Widerspruch der Commission du pouvoir executif, auch die Befugnisse der Zivilbehörden übertragen. Der Gesetzesvorschlag vom 24. Juni 1848 lautete: „Paris est mis en etat de siege. Tous les pouvoirs sont concentres entre les mains du general Cavaignac." Die Versammlung erklärte den Belagerungszustand am gleichen Tage mit den Worten: Tous les pouvoirs executifs sont del£gues au g£n6ral Cavaignac. 12 Art. 3. II est autoris6 ä prendre, dans les circonstances urgentes, des mesures de defense generale exterieure et interieure, et les arretes signes de la majorite de ses membres deiiberant, qui ne pourront etre au-dessous des deux-tiers, seront executes sans deiai par le Conseil executif provisoire. II ne pourra, en aucun cas, donner des mandats d'amener ou d'arret, si n'est contre des agents d'execution et ä charge d'en rendre compte sans deiai ä la Convention. Art. 4. La tresorerie nationale tiendra ä la disposition du Comite de salut public jusqu'ä concurrence de 100 000 livres pour depenses secretes qui seront delivrees par le Comite et payees sur les ordonnances, qui seront signees comme les arretes. Art. 5. II fera chaque semaine un rapport general et par ecrit de ses operations et de la situation de la Republique. Art. 6. II sera tenu registre de toutes ses deliberations. Art. 7. Le Comite n'est etabli que pour un mois. Art. 8. La tresorerie nationale demeurera independante du Comite d'execution et soumise ä la surveillance immediate de la convention, suivant le mode fixe par les decrets. Interessant sind die Sophismen, mit denen Thuriot in der Beratung zu beweisen suchte, daß es sich nicht um eine Aufhebung der Teilung der Gewalten handle, sondern um die Übertragung des Überwachungsrechts, das dem Parlament zustehe, an einige Mitglieder dieses Parlaments. Im Gegensatz dazu standen freilich die offenen Erklärungen Marats, man müsse den Despotismus der Freiheit gegen den Despotismus der Könige organisieren. Über den auch jetzt noch fortdauernden Respekt des Nationalkonvents vor dem Prinzip der Trennung der Gewalten vgl. Joseph Barthelemy, Le Röle du pouvoir executif dans les republiques modernes, Paris 1907, S. 471 ff. 11 Aulard, a. a. O., S. 318: C'est par ce cumul (sc. du pouvoir legislatif et executif) qu'elle (la Convention) reussit ä accomplir sa tache essentielle, qui etait de sauver la France envahie. S. 366: II y eut reellement, jusqu'au jour oü les victoires militaires supprimärent la raison d'etre de la dictature, une compression generale des volontes et des courages. 12 Albert Maurin, Documents pour servir ä 1'histoire de la Revolution de 1848, journees revolutionnaires des 22, 23, 24 et 26 juin 1848, Paris 1848, S. 85. Lamartine,; a. a. O., t. II, S. 488.
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Für Cavaignac war der Belagerungszustand ausgesprochenermaßen ein Mittel, „das republikanische Prinzip zu schützen". Er machte von seinen Befugnissen den weitesten Gebrauch und unterdrückte in seiner Abneigung gegen die Presse zahlreiche Blätter; er hatte sogar den Plan, nach dem Vorbild des Konvents, Kommissäre in die Provinzen zu schicken, die dort der Republik Sympathien gewinnen sollten.13 In allem aber betrachtete er sich als bloßes Exekutivorgan, das zwar nicht mehr an die Schranken der Verfassung, wohl aber an den von der konstituierenden Versammlung gegebenen Auftrag gebunden war, die Revolution mit allen Mitteln niederzuwerfen; wie er denn auch, als korrekter Soldat, nach Erledigung der Aufgabe sofort alle Befugnisse an den Auftraggeber zurückgab. [2] Der Unterschied dieser Vorgänge von der Diktatur des Jahres 1793 liegt nicht in der Zeitdauer, also darin, daß eine Diktatur wie die von 1793 auf einen längeren Zeitraum berechnet sein muß, während die Aufstände von 1830 und 1848 eine in wenigen Tagen zu erledigende Angelegenheit waren, die sich zudem räumlich auf einen engeren Bezirk, die Stadt Paris, nicht auf das ganze Land erstreckte. Wesentlich, im rechtlichen Sinne, ist vielmehr, daß der Militärbefehlshaber, in dessen Händen durch königliche Ordonnanz oder durch Gesetz die vollziehende Gewalt konzentriert wird, eine konkrete Aufgabe erledigt. Er vollzieht nicht ein bestimmtes Gesetz der Stelle, die ihm den Auftrag gibt, sondern er stellt sich schützend vor diese Stelle selbst. In der Position Cavaignacs zeigt sich das klar: er sollte die konstituierende Versammlung und die bestehende Rechtsordnung als solche in ihrer Gesamtheit verteidigen, nicht aber von der Versammlung jeweils zu erlassende einzelne Gesetze vollziehen. Um die rein tatsächliche Frage handelte es sich, wer die Macht im Staate haben sollte. Das Comite de salut public dagegen vollzog nicht nur die von ihm erlassenen provisorischen Anordnungen selbst, sondern hatte auch den Vollzug der vom Konvent erlassenen Gesetze in der Hand, d. h. in Wirklichkeit seiner eigenen Gesetze, denn sie waren vom Comite selbst vorgeschlagen und wurden regelmäßig vom Konvent einstimmig und ohne Debatte angenommen.14 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Fällen werden leicht übersehen, weil jedesmal eine dem Staat drohende Gefahr beseitigt werden soll, und zwar jedesmal, sowohl während eines Aufruhrs im Innern wie während eines Krieges, mit militärischen Mitteln. Daß es sich um eine militärische Aktion handelt, hat zunächst eine Verwechslung staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Fragen veranlaßt. Man hat die Verhältnisse eines in Belagerungszustand erklärten Gebiets mit denen im okkupierten Gebiete, staatsrechtliche Befugnisse des Militärbefehlshabers mit 13 Eugene Spuller, Histoire parlementaire de la seconde r£publique, 2i£me 6d. Paris 1893, S. 195. Unterdrückt wurden namentlich die Blätter Gazette de France, Repräsentant du peuple (herausgegeben von Proudhon), P&re Duchene, Le Lampion. Den Plan, Kommissäre in die Provinzen zu schicken, nahm die konstituierende Versammlung nicht ernst. 14 Von besonderem Interesse sind hierfür die Gesetze, die eine Unterdrückung der Preßfreiheit und der persönlichen Freiheit enthielten, namentlich das Gesetz vom 17. September 1793. Der Zustand dauerte bis zum thermidor an II. Das Comite de salut public subventionierte und inspirierte übrigens alle Hauptzeitungen. Vgl. darüber Aulard a. a. O. s. 360ff.
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völkerrechtlichen vermengt. Wenn z. B. englische Autoren vom Martial Law sagen, es sei seinem Wesen nach die Vereinigung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion in der Hand des Militärbefehlshabers, so sprechen sie von den Zuständen im okkupierten Gebiet.15 Die Hereinziehung dieser Angelegenheit scheint immer noch eine gewisse verwirrende Rolle zu spielen. Es ist also zu beachten, daß nur das inländische, in Belagerungszustand erklärte Gebiet in Frage steht. - Die größte Schwierigkeit entsteht aber dadurch, daß in allen Fällen die drohende Gefahr, also eine Art Notstand, mit Rücksicht auf rein tatsächliche Besonderheiten eine besondere rechtliche Behandlung verlangt. So lag es nahe, im Zustand drohender Gefahr den gemeinsamen Oberbegriff, in Krieg und Aufruhr, als den beiden verschiedenen Ursachen der Gefahr, die Unterarten zu erblicken, im übrigen aber den Gegensatz zur Diktatur zu ignorieren. Die drohende Gefahr ist z. B. in dem französischen Gesetz vom 3. April 1878 als die gemeinsame Voraussetzung genannt, die durch die beiden Fälle eines Krieges von außen und einer Insurrektion mit bewaffneter Hand von innen näher spezialisiert wird. 16 Der Belagerungs- oder Kriegszustand im eigentlichen Sinne, der sog. „effektive" Belagerungszustand, wird von dem durch eine Unruhe im Inneren veranlaßten „politischen" oder „fiktiven" Belagerungszustand unterschieden 17, obwohl die durch einen Aufruhr wenn auch entfernt drohende Gefahr so „effektiv" sein kann, wie die vom Feinde drohende. Doch ist folgende Unterscheidung berechtigt: Der Belagerungs-(Kriegs-) zustand kann ein Mittel zur Durchführung militärischer Zwecke oder aber eine sicherheitspolizeiliche Einrichtung sein. Darin liegt eine in der Natur der Sache begründete Trennung von zwei verschiedenen Elementen der rechtlichen Institution „Belagerungszustand". Der Unterschied macht sich in einzelnen Gesetzgebungen in einem Gegensatz von Kriegs- oder Belagerungszustand und Standrecht geltend. 18 Gewöhnlich aber wird der militärische und der sicherheitspolizeiliche Ge-
15 Bei Charles M. Clode, The administration of justice under Military and Martial Law, London 1872, S. 162, ist der Ausspruch des Generals Napier zitiert: „The union of Legislative, Judicial and Executive Power in one Person ist the essence of Martial Law", und die Ansicht Wellingtons: „it is neither more nor less than the will of the General of the Army. He punishes, either with or without trial, for Crimes either declared to be such or not so declared by any existing Law or by his own orders". Besonders klar Art. 3 der von der amerikanischen Regierung im April 1863 für den Krieg ausgegebenen Instruktion: Martial Law in a hostile country consists in the suspension by the occupying Military Authority of the Criminal and Civil Law and the domestic Administration and Government in the occupied place or territory, and in the substitution of Military rule and force for the same, as well as in the dictation of general laws, as far as Military necessity requires this suspension, substitution or dictation. 16 Art. 2 des Gesetzes vom 3. April 1878 (veröffentlicht im Journal officiel am 4. April 1878): L'6tat de si&ge ne peut etre d6clar£ qu'en cas de p&il imminent resultant d'une guerre 6trangfcre ou d'une insurrection ä main armöe. 17 Auf dieser Unterscheidung beruhen die Ausführungen von Theodore Reinach, De l'6tat de si&ge. Paris 1885. 18 Nach dem bayerischen Kriegszustandsgesetz vom 5. November 1912 wird der Kriegszustand nach Ausbruch eines Krieges oder bei unmittelbar drohender Kriegsgefahr verhängt, während für innere Unruhen die bisherigen Bestimmungen über das Standrecht gelten (im
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sichtspunkt nicht deutlich auseinander gehalten. So behandelt das preußische Gesetz vom 4. Juni 1851, das durch Art. 68 der Reichsverfassung zum Reichsgesetz geworden ist, die zwei Fälle, den eines Krieges nach außen, wie den eines Aufruhrs im Inneren, (abgesehen von der Zuständigkeit) ohne weiteres gleich.[3] Dagegen weist das bayerische Kriegszustandsgesetz vom 5. November 1912[4] in dieser Hinsicht eine zu wenig beachtete Besonderheit auf. Während nämlich das preußische Gesetz, entsprechend den historischen Verhältnissen seiner Entstehungszeit, mehr an eine Revolution als einen Krieg denkt, ist in der Begründung zum bayerischen Gesetz als ratio legis eine rein militärische Erwägung genannt: das Gesetz soll einen glatten Verlauf der Mobilmachung gewährleisten. Die Besorgnis innerer Unruhen wird ausdrücklich zurückgewiesen. 19 Die notwendige Folge der rein militärischen Auffassung ist, daß nur der König, nicht eine lokale militärische oder zivile Stelle den Kriegszustand erklären kann. Da die Regelung des preußischen Gesetzes von 1851 mit ihrer Gleichsetzung militärischer und sicherheitspolizeilicher Zwecke infolge des Art. 68 RV den Verhältnissen im ganzen Reich gerecht werden mußte, entstanden schwierige, mit den Mitteln juristischer Interpretation nicht zu lösende Kontroversen: der Kriegszustand wird bald als sicherheitspolizeiliche Maßnahme und Ausfluß eines Regierungsrechts 20, bald als eine dem Kaiser in seiner Eigenschaft als Bundesfeldherrn zugewiesene militärische Angelegenheit21 behandelt. Die herrschende Ansicht hat sich nach den glänrechtsrheinischen Bayern Art. 441 - 456 des StGB, von 1813, im linksrheinischen zahlreiche ältere Dekrete, vgl. die Aufzählung in der amtl. Begründung, Verhandlungen der Kammer des Abgeordneten-Hauses, 1912 Beil., Bd. 2, S. 824). Das badische Gesetz, den Kriegszustand betreffend, vom 29. Januar 1851 sieht die Verkündung des Kriegszustandes ganz allgemein für den Fall vor, daß „die Sicherheit des Staates dergestalt gefährdet ist, daß zu ihrer Aufrechterhaltung die ordentlichen Gesetze nicht mehr ausreichen". Das daneben bestehende Gesetz, das Standrecht betreffend, vom gleichen Tage, gilt nur für einen Aufruhr, gegen welchen militärische Gewalt aufgeboten wird. 19 Vgl. die amtliche Begründung zum bayerischen KZG. a. a. O. sowie die Äußerungen des Justizministers Thelemann und des Kriegsministers Freiherrn v. Kreß in der Sitzung vom 28. Oktober 1912 (Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages, XXXVI. 1912, Stenographische Berichte Nr. 153). 20 Vgl. Georg Mayer, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., bearbeitet von Dochow, Leipzig 1910, S. 177; Fischer, Das Recht des deutschen Kaisers, Berlin 1895, S. 112; Brockhaus, Das deutsche Heer und die Kontingente der Einzelstaaten, Leipzig 1888, S. 71. Eine ausführliche Darlegung der von Laband und Zorn vorgetragenen Argumente vom militärischen Gesichtspunkt aus gab Haldy, Der Belagerungszustand in Preußen, Tübingen 1906, S. 21 f. Dort auch weitere Literatur. Gegen Haldy besonders F. v. Nicolai, Der reichs- und landesgesetzliche Kriegszustand, Tübingen 1913. Wenn Haldy als entscheidendes Argument anführt, es komme in dieser Frage nicht auf den Zweck, sondern die Mittel an, die militärische seien und über die nur vom obersten Militärbefehlshaber verfügt werden könne, so darf, von logischen Bedenken zu schweigen, nicht übersehen werden, daß ein solches Argument zu dem Resultat führt, dem obersten Militärbefehlshaber das ausschließliche Recht der Kriegserklärung zu geben, da ja auch der Krieg mit militärischen Mitteln geführt wird.
Laband, Staatsrecht, Bd. IV, 5. Aufl., S. 40 ff.; Zorn, Staatsrecht, 1. Bd., S. 198 ff.; Seydel in Stengels Wörterbuch 1, S. 159; Kommentar zur Reichsverfassung, 2. Aufl., S. 379 f. Vgl. die vorige Anmerkung.
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zenden Darlegungen Labands auf den Standpunkt gestellt, daß der Kaiser den Kriegszustand als Militärbefehlshaber erklärt. Darin liegt eine einseitige Betonung des militärischen Moments. Aus der militärischen Natur des Instituts wurde dann der Schluß gezogen, daß nur der Kaiser als oberster Militärbefehlshaber für die Erklärung des Kriegszustandes im Reich kompetent sei, während nach der anderen Auffassung der landesrechtliche Belagerungszustand aufrecht erhalten ist usw. Die Kontroversen sind hier nicht auszutragen, weil es nur darauf ankommt, die beiden Unterarten, den militärischen und den sicherheitspolizeilichen Belagerungszustand, deutlich zu scheiden, um sie beide der Diktatur gegenüberzustellen. Die rechtliche Besonderheit des Belagerungszustandes liegt in der Behandlung des Zustandes konkreter, tatsächlicher Gefahr. In der einfachsten Gestaltung der Dinge, von der die Bezeichnung „Belagerungszustand" herrührt, beim sog. effektiven Belagerungszustand, tritt das bloß Tatsächliche deutlich hervor. Wenn es sich darum handelt, eine belagerte Festung zu verteidigen und der Kommandant zu diesem Zweck außergewöhnliche Anordnungen trifft, so stehen diese rechtlich zunächst auf keiner andern Stufe wie etwa die Maßregeln, die der Kapitän eines Schiffes zur Aufrechterhaltung der Ordnung ergreift. 22 Das rein Tatsächliche zeigt sich noch in der ersten französisch-rechtlichen Regelung unverkennbar: das Gesetz vom 8. / 10. Juli 1791, das übrigens nur für Festungen und befestigte Plätze galt, unterschied zwischen dem etat de siege, der als Folge bestimmter tatsächlicher Verhältnisse - Umschließung durch den Feind, Absperrung aller Verbindungen einfach da war, und dem etat de guerre , der durch ein Dekret des corps legislatif erklärt wurde. 23 In den Materialien des französischen Gesetzes von 1878 ist mit Recht betont, daß hier nicht eigentlich eine gesetzliche Regelung vorliege, sondern ,un pur fait, resultant de l'attaque de Tennemi". 24 Auch als nach dem Gesetz vom 10. Fructidor an V (22. August 1797) der Belagerungs- und Kriegszustand auf den Kampf mit „Rebellen" angewandt wurde, blieb der Gegensatz bestehen: der Kriegszustand wurde vom Direktorium erklärt, der Belagerungszustand trat bei einer bestimmten Sachlage ipso facto ein. 25 22 Deutsche Seemannsordnung vom 2. Juni 1902, § 91. 23 Art. 11 und 12 des Gesetzes von 1791: der 6tat de sifcge tritt bei Festungen usw. ein, wenn „par l'effet de leur investissement par des troupes ennemies, les communications du dehors au dedans et du dedans au dehors seront interceptdes ä la distance de 1800 toises des cretes des chemins couverts". 24 Bericht der Gesetzeskommission zur Prüfung des Entwurfs eines Gesetzes über den Belagerungzustand, veröffentlicht in der Revue generale d' administration, Bd. 1, Paris 1878, S. 605. Es ist von Bedeutung, daß diese Art. 11, 12 durch das Gesetz vom 9. August 1849, Art. 5, aufrecht erhalten wurden und der Festungskommandant das Recht erhielt, in diesen Fällen den Belagerungszustand zu erklären. Dazu wird in dem Ergänzungsbericht vom 1. August 1878 bemerkt: L'ätat de sifege, dont il est question ici est un pur fait que la loi constate et ne cr6e pas, qui rdsulte de 1'investissement de la place par l'ennemi; et les consequences qu'il entraine ne sont que les n6cessit6s de la defense. (Revue d'administration a. a. O., S. 622).
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Nun äußert sich allerdings schon früh das Bedürfnis nach einer juristischen Konstruktion. Selbst in England, wo die Vorstellung nicht verschwunden ist, daß die ganze Angelegenheit des martial law dem Recht überhaupt nicht zugänglich ist, hat man z. B. Eingriffe in die persönliche Freiheit und das Leben von Bürgern, wie sie während der Unruhen von 1780 in London vorgenommen wurde, als Anwendung des Standrechts ausgegeben. Das Standrecht war zunächst auf Militärpersonen beschränkt; es wurde jetzt ausgedehnt auf alle Zivilisten, die während des Aufstandes mit den Waffen in der Hand ergriffen wurden. 26 Die Unterdrückung der Unruhen erfolgte demnach mit jurisdiktioneilen Mitteln. Soweit infolge der tatsächlichen Verhältnisse ein noch so summarisches Verfahren nicht möglich war, erschien das Eingreifen des Militärs als dessen Ersatz; man konnte von jedem, der während des Aufstandes getötet, verwundet oder festgenommen wurde, sagen, er sei auf Grund eines sofort ausgesprochenen und sofort vollzogenen Urteils exekutiert worden. So hat man es ja auch vielfach als sofortige Erkenntnis und Vollzug der Todesstrafe konstruiert, wenn der Soldat im Felde wegen Feigheit vor dem Feind vom Vorgesetzten auf der Stelle getötet wird. Derartige unhaltbare Fiktionen brauchen hier nicht mehr erörtert zu werden. 27 Sie zeigen aber, daß man die erste juristische Formulierung des Mittels, mit dem der Zustand tatsächlicher Gefahr beseitigt werden sollte, im Gebiet der Rechtspflege suchte: die Gefahr sollte durch einen extrem summarischen Prozeß beseitigt werden; die Militärbehörde erhielt durch das Standrecht außergewöhnliche jurisdiktioneile Befugnisse. Das neue Moment, das durch die französische Gesetzgebung in die Entwicklung der Frage eintritt, liegt darin, daß die Angelegenheit auf das Gebiet der Verwaltung übergeht: der Militärbefehlshaber bekommt den ganzen behördlichen Apparat in seine Hand; er wird der Vorgesetzte aller Behörden des im Belagerungszustand befindlichen Bezirks und vereinigt ihre Befugnisse in sich. Wenn nun (wie im vollkommnen Rechtsstaat) jede Tätigkeit einer Behörde dem Gesetz entspräche, so würde die Zusammenfassung aller behördlichen Befugnisse in der Hand des Militärbefehlshabers zwar eine Konzentration bedeuten, aber keine Aufhebung des rechtsstaatlichen Prinzips. Es träte ja nur eine Kompetenzveränderung, nicht aber eine Ausdehnung der Befugnisse ein. Solange sich jedoch die Verwaltung nicht in den Grenzen der Gesetze vollzieht, bedeutet der Übergang der vollziehenden Ge25
Art. 1. Das Gesetz vom Jahre V: Le Directoire executif ne pourra declarer en £tat de guerre les communes de l'int&ieur de la R£publique apr&s etc. Art. 2: Les communes de l'intdrieur seront en 6tat de siöge aussitöt que par l'effet de leur investissement par des troupes ennemies ou des rebelles la communication du dedans au dehors et du dehors au dedans seront intercepts etc. - Das Napoleonische Dekret vom 24. Dezember 1811 betraf die rein militärische Frage der Verteidigung von Festungen und befestigten Plätzen; vgl. darüber weiter unten im Text. 26 Clode, a. a. O., S. 165, besonders S. 166: „When it is impossible, said the late Sir James Mackintosh, for Courts of Law to sit or to enforce the execution of their Judgments, then it becomes necessary to find some rude substitute for them, and to employ for that purpose the Military, which is the only remaining Force in the Community." 27 Wilfling, Der administrative Waffengebrauch, Wien 1909, § 2, S. 7 ff.
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wait, d. h. aller Verwaltungsbefiignisse eine grundsätzlich unbeschränkte Machtbefugnis. Das gilt besonders klar für die Zeiten des ersten Kaiserreichs und der Restauration. Für den Absolutismus Napoleons I. hatte der sog. politische Belagerungszustand keinen besonderen praktischen Wert; für ihn waren j a selbst der Senat, der Staatsrat, das sog. corps legislatif nicht selbständige Repräsentanten des Volkes, sondern nur die untergeordneten Behörden des Kaisers, die sich, wie irgendeine Präfektur oder ein Landgericht, in die allgemeine Hierarchie einfügten. 2 8 Eine rechtliche oder tatsächliche Garantie der persönlichen Freiheit bestand nicht; weder die commission de liberte individuelle (begründet durch Senatsbeschluß vom Jahre X I I ) , noch die Einführung der Strafprozeßordnung mit ihrer Regelung der Festnahme und Verhaftung Verdächtiger hinderten seine Praxis willkürlicher Festnahmen und Schutzhaften. Ebensowenig gab es eine Preßfreiheit. 29 Die Regierung der Restauration fand allerdings mit ihren Eingriffen in die persönliche Freiheit und namentlich in die Preßfreiheit ernsten Widerstand in den Kammern wie beim Volke. Aber nach dem Gesetz vom 29. Oktober 1815 hatten untergeordnete und lokale Behörden das Recht, eine Schutzhaft zu verhängen, auch die späteren Gesetze über die persönliche Freiheit und die Preßfreiheit gaben den Verwaltungsbehörden weitgehende, diskretionäre Befugnisse. 30 Diese wären sämtlich auf den
28 In einem offiziellen Artikel des Moniteur vom Jahre 1808 ist diese Auffassung so ausgesprochen: Dans l'ordre de nos constitutions, apräs l'Empereur est le Senat, apr&s le S6nat est le Conseil d'Etat, aprfcs le conseil d'Etat est le Corps legislatif, apr&s le Corps legislatif viennent chaque tribunal et chaque fonctionnaire public dans l'ordre leurs attributions. Duvergierde Hauranne, Histoire du gouvernement parlementaire en France, 1.1. 1857, S. 568. 29
Duvergier de Hauranne, a. a. O., S. 573 ff.; über die Praxis des Dekrets von 1810 betr. die Staatsgefängnisse; S. 575 ff. über die Preßfreiheit unter Napoleon I. 30 de Viel- Caste l, Histoire de la Restauration, t. V. Paris 1862, S. 386 ff., 399. Die Zahl der in Schutzhaft Genommenen gab der Minister Decazes in einem Expose auf 319 an, die der außerhalb ihres Heimatbezirks Überwachten auf 249, der in ihrem Bezirk Überwachten auf 235. In der Begründung des am 7. Dezember 1816 präsentierten Entwurfs einer neuen Regelung wies die Regierung darauf hin, daß die Verhältnisse noch zu unsicher seien, um zur normalen Regelung zurückzukehren und daß ja auch in England, unter weit weniger gefährlichen Verhältnissen die Habeas-Corpus-Akte neunmal aufgehoben worden sei. Nach dem neuen Entwurf behielt die Regierung das Recht, Personen in Haft zu nehmen, ohne sie der Justiz zu übergeben, wenn dies für die Sicherheit der Person des Königs, eines Mitgliedes der königlichen Familie oder des Staates notwendig war, nur sollte, zum Unterschied von dem Gesetz vom 29. Oktober 1815, ein vom Präsidenten des Ministerrats oder vom Polizeiminister gezeichneter Befehl hierzu erforderlich sein, auch mußte der Staatsanwalt sofort benachrichtigt, von diesem Bericht erstattet werden usw. In der Kammer, die das Gesetz vom 29. Oktober 1815 angenommen hatte, wurde gegen den neuen Vorschlag der bemerkenswerte Einwand erhoben, solche Regierungsmaßnahmen seien zwecklos, da im Notfalle ein Aufruhr nur durch das energische Eingreifen des Militärs unterdrückt werden könne. Die folgenden Kammerverhandlungen vom 9. Januar 1817 sind deshalb interessant, weil in ihnen das typische Argument auftaucht: die Verfassung verbiete nur solche Beschränkungen der persönlichen Freiheit, die auf einem Gesetz beruhen, hier aber handelte es sich ja gerade darum, ein Gesetz für diese Beschränkungen zu schaffen, Decazes erklärte in der gleichen Verhandlung, wenn das Gesetz nicht angenommen werde, so würde der König unter Berufung auf Art. 14 der Verfassung die in Frage stehenden Befugnisse eben ohne Gesetz ausüben; er verlangte
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Militärbefehlshaber übergegangen. Doch wird in der Praxis der Belagerungszustand sich so abgespielt haben, daß der Militärbefehlshaber, ohne i m einzelnen die rechtliche Grundlage seines Vorgehens zu prüfen, einfach alle Maßnahmen ergriff, die er für erforderlich hielt. Bezeichnend ist dafür die Formel, mit der i m M a i 1816 der Belagerungszustand in Grenoble vom Ministerrat (durch telegraphische Anweisung an die Militärbefehlshaber) angeordnet wurde: Le departement de l'Isere doit etre regarde comme en etat de siege. Les autarkes civiles et militaires ont un pouvoir discretionnaire. 31 Erst jetzt wurde der Belagerungszustand ein innerpolitisches Instrument i m Kampf der Regierung gegen die Opposition. Das nur für Festungen und befestigte Plätze geltende napoleonische Dekret vom 24. Dezember 1811 hatte den grundsätzlich militärischen Charakter noch gewahrt. Jetzt trat der Belagerungszustand in Zusammenhang mit dem Kampf um die verfassungsmäßigen Befugnisse der Krone. In der Julirevolution von 1830 siegte dann die Opposition mit dem laut proklamierten Ziel, die verfassungsmäßigen Rechte vor den Übergriffen der Verwaltung sicherzustellen. Doch zeigte sich bald, am meisten 1848 3 2 , daß eine Regierung i m Notfalle auf den Belagerungszustand nicht also, eigentlich sich selbst widersprechend, wenigstens die Anerkennung seines Bedürfnisses nach Legitimität. Auch die Verhandlungen der Pairskammer über das Gesetz sind von Interesse für die spezielle Angelegenheit, wie die allgemeine Frage der Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Lajuinais und der Herzog von Broglie machten geltend, die vom König prätendierte Ausdehnung des Art. 14 und seine Wendung von der „Sicherheit des Staates" hebe die ganze Verfassung zugunsten dieses einen Artikels auf; die Aufhebung der Habeas-Corpus-Akte in England sei daraus zu erklären, daß England nicht wie Frankreich eine Strafprozeßordnung habe (de Viel-Castel, a. a. O., S. 401). Das Gesetz wurde von beiden Kammern, wenn auch gegen eine starke Minderheit, angenommen. Die Beratungen über das Gesetz betreffend die Verlängerung der Zensur (um ein weiteres Jahr), wie sie nach dem Gesetz von 1814 noch bestand, waren ähnlich wie die des Gesetzes über die Suspension der persönlichen Freiheit. Besonders wichtig ist, daß Decazes in der Sitzung vom 7. Dezember 1816 darauf hinwies, eine Zensur sei nötig, solange die Okkupationsarmee in Frankreich stehe und Chateaubriand (in den Verhandlungen der Pairskammer vom 22. - 25. Februar 1817), trotz seiner Opposition gegen jede Beschränkung der Preßfreiheit in einem parlamentarischen Staate, doch zugab, mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten der äußeren Politik müßten dem Minister des Äußern in allen Fragen, die sein Ressort beträfen, Zensurbefugnisse gegeben werden. 31 Diese Gleichstellung von Zivil- und Militärbehörden legt die Vermutung nahe, als sei ein Übergang der vollziehenden Gewalt auf die Militärbefehlshaber nicht erfolgt. Daß aber trotzdem der Militärbefehlshaber, der General Donadieu, der Vorgesetzte des ihm sonst im Range vorgehenden Präfekten de Montlivault wurde, beweist, daß die im Text erwähnte Formel an dem Übergang der vollziehenden Gewalt nichts ändern wollte. Vgl. die Darstellung der tragikomischen Geschichte dieses Belagerungszustandes von Grenoble durch de Viel-Castel, Histoire de la Restauration, t. V. Paris 1862, S. 91 - 125. 32 Während des am 1. und 6. Juni 1832 durch das Ministerium im Wege einer königlichen Ordonnanz verhängten Belagerungszustandes trat überhaupt keine Änderung ein, die Zivilbehörden blieben in allen ihren Funktionen, sollten freilich immer zur Verfügung des Militärbefehlshabers stehen. Die Kritik beschäftigte sich damals ausschließlich mit der Frage, wie weit die Anordnung von Militärgerichten zulässig sei.
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verzichten und daß ferner der Militärbefehlshaber ohne Eingriffe in verfassungsmäßige Freiheiten seine Aufgabe nicht erfüllen konnte. Die alte Frage der Suspension von Verfassungsbestimmmungen war also offenbar immer noch das punctum saliens der Angelegenheit. Es ergab sich die Lösung, den Respekt vor der Verfassung durch eine genaue gesetzliche Umschreibung der Voraussetzungen und Wirkungen einer Suspension zu wahren. Zuweilen ging man noch weiter und verlangte außerdem, daß der Eintritt dieser gesetzlich festgelegten Voraussetzungen im konkreten Falle grundsätzlich durch Gesetz festgestellt, d. h. daß der Belagerungszustand auch durch Gesetz erklärt werde. 33 Läßt sich die bisherige Entwicklung unter die Stichworte Standrecht - Übergang der vollziehenden Gewalt bringen, so bedeutet sie eine Ausdehnung der Wirkungen des Belagerungszustandes vom Gebiet der Jurisdiktion auf das der Exekutive. 34 Während des gegenwärtigen Krieges hat nun die einmütige und konstante Praxis der deutschen Gerichte dem Militärbefehlshaber auch legislative Befugnisse zugesprochen. In § 9 b des preußischen Gesetzes von 1851 [5] und Art. 4 Ziffer 2 des bayerischen Kriegszustandsgesetzes von 1912,[6] die eine Blankettstrafdrohung für Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen des Militärbefehlshabers enthalten, wurde die hierzu erforderliche Delegation gesetzgeberischer Macht erblickt. [7] Wie weit diese Auffassung berechtigt ist, wird hier nicht geprüft 35 ; die Praxis selbst wird sich kaum ändern, und es ist mit ihr wie mit einem tatsächlich geltenden Rechtssatz zu rechnen. Daher liegt es nahe, die Entwicklung in einem Schlagwort unter der Reihenfolge Jurisdiktion - Verwaltung - Gesetzgebung zusammenzufassen. Doch steht diesem Schema der entscheidende Einfluß entgegen, den das Prinzip der Trennung der Gewalten auf das Problem des Belagerungszustandes ausgeübt hat und solange ausüben wird, wie die Verfassungen der Staaten westeuropäischer Kultur in ihm die Grundlage ihres Staatslebens sehen. Mit dem französischen Gesetz vom 9. August 1849 hat die Entwicklung ihren Abschluß erreicht. [8] So verschieden die einzelnen von dem französischen Vorbild beinflußten Gesetzgebungen den Belagerungszustand regeln, so sind doch die Wirkungen im wesentlichen gleich: Übergang der vollziehenden Gewalt mit oder ohne Suspendierung von Verfassungsbestimmungen; Möglichkeit der Anordnung von Kriegsgerichten; Verschärfung der Strafandrohungen für gewisse Delikte, Blankettstrafbestimmungen für Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen des Militärbefehlshabers. Alle diese Wirkungen schließen die Annahme legislativer Befugnisse aus, denn ihre gesetzliche Normierung wäre überflüssig gewesen, wenn der Militärbefehlshaber selbst Gesetze erlassen könnte. Jedes Belagerungszustandsgesetz 33
Art. 1 des französischen Gesetzes vom 3. April 1878: Une loi peut seule declarer l'£tat de si£ge. 34 Es handelt sich hier nur um ein Schema für die juristische Konstruktion. Die bereits erwähnte Kontroverse, ob die Militärgerichte auch für Zivilpersonen angeordnet werden konnten, ist kein Einwand dagegen, sondern beweist nur, daß für die französische Auffassung der Schwerpunkt der Frage in der Wirkung auf die Verwaltung lag. 35 Vgl. die Schlußanmerkung.
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will einmal die Befugnisse des Militärbefehlshabers umgrenzen, dann aber auch bestimmen, daß innerhalb dieser Grenzen der Militärbefehlshaber freien Spielraum hat. In der Suspension von Verfassungsbestimmungen liegt demnach der Kern der Regelung; die Suspension enthält die Aufhebung der gesetzlichen Schranken, auf die es ankommt. Auch wenn nur die Möglichkeit der Suspension gegeben ist, oder wenn die zulässigen Eingriffe in verfassungsmäßige Freiheiten näher aufgeführt werden 36, bleibt das Wesen des Belagerungszustandes in der Aufhebung gesetzlicher Schranken beruhen. 37 Damit ist gesagt, daß die wesentliche Wirkung des Belagerungszustandes im Gebiet der Verwaltung zu suchen ist; nur diese vollzieht sich in den Schranken des Gesetzes, nicht die Gesetzgebung. Das auf gesetzlicher Delegation beruhende Verordnungsrecht der Verwaltungsbehörden geht mit dem Übergang der vollziehenden Gewalt ebenfalls auf den Militärbefehlshaber über, doch kommt es natürlich nicht als Einwand in Betracht; es besteht auch ohne den Belagerungszustand, dessen Wirkung nicht darin liegt, dieses Recht zu konstituieren, sondern seinen Übergang auf den Militärbefehlshaber zu bewirken. 38 Wenn von der eben erwähnten Besonderheit der im gegenwärtigen Krieg entstandenen Praxis des § 9 b BZGB oder Art. 4 Nr. 2 bayer. KZG abgesehen wird, lautet also das Ergebnis: die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Belagerungs- oder Kriegszustandsgesetze beabsichtigen nicht eine Vereinigung von Legislative und Exekutive. Der Militärbefehlshaber bekommt intensive Exekutivbefugnisse, die vollziehende Gewalt konzentriert sich ganz in seiner Hand, gesetzliche Schranken fallen fort. Aber seine Tätigkeit und Kompetenz bleibt innerhalb der Exekutive. Die französische Auffassung hat die Natur des Militärs als eines bloß exekutiven Organs immer hervorgehoben; sie hat das Militär als das Exekutivorgan par excellence betrachtet, als einen staatlichen Machtkomplex, der so sehr in der Exekutive aufgeht, daß er ohne einen Anstoß von außen grundsätzlich überhaupt nicht in Funktion tritt. 39 Aus dieser bereits von Montes36 So in dem gemäß dem französischen Gesetz vom 3. April 1878 noch geltenden Art. 9 des Gesetzes vom 9. August 1849 (die Militärbehörde kann 1. Haussuchungen zur Tag- und Nachtzeit vornehmen, 2. bestimmte Personen ausweisen, 3. die allgemeine Ablieferung von Waffen und Munition vorschreiben und diese Anordnung vollziehen, 4. alle Veröffentlichungen und Versammlungen verbieten, die ihrer Auffassung nach geeignet sind, die öffentliche Ordnung zu gefährden oder die bestehende Gefährdung zu fördern). 37 F. Giese (Art. Belagerungszustand im Handwörterbuch des Militärrechts, herausgegeben von Diez, Rastatt 1912, S. 110 ff.) geht mit Recht davon aus, übernimmt aber die Identifikation von Belagerungszustand und Diktatur. 38 Auch das sog. selbständige Notverordnungsrecht (darüber Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach preußischem Staatsrecht, Tübingen 1901, und dagegen wieder Arndt, Das selbständige Verordnungsrecht, Berlin 1902) gehört nicht zur Materie des Belagerungszustandes und scheidet hier aus. 39 Luden Rochoux, De l'autorite militaire, sa nature, ses rapports avec l'autorite civile, Bordeaux 1896, S. 135: „L'arm£e n'a pas la faculty de prendre une decision par elle-meme ... Son moteur est en dehors d'elle; eile n'agit que sur les ordres de pouvoir civile . . . L'arm6e est 1'instrument qui permet ä l'Etat de vaincre les resistances qu'il peut rencontrer
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quieu 40 formulierten „Natur der Dinge" wird dann das Prinzip abgeleitet, daß das Militär nur auf eine Requisition von Zivilbehörden hin tätig werden darf. Wenn nun, von Fällen der Notwehr und des Notstandes abgesehen, in Gesetzen über den Belagerungszustand bestimmt ist, daß der Militärbefehlshaber bei dringender Gefahr selbst den Belagerungszustand erklären und selbständig vorgehen darf, so bedeutet diese Ausnahme eher die Anerkennung des Prinzips als seine Aufhebung. Der staatsrechtliche Charakter einer Behörde wird nicht dadurch aufgehoben, daß ihr in Ausnahmefällen besondere Befugnisse zugesprochen werden, so wenig wie das Prinzip staatlicher Strafverfolgung durch das in § 127 der Strafprozeßordnung vorgesehene Festnahmerecht: der Privatmann, der einen auf frischer Tat Ertappten festnimmt, wird dadurch nicht zum Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft, und seine Handlung ist kein behördlicher Akt. In gleicher Weise wird der Charakter militärischer Organe als reiner Exekutivorgane durch die Befugnis, den Belagerungszustand zu erklären, nicht berührt. Infolgedessen bleiben auch die Anordnungen, die sie vornehmen, Akte der vollziehenden Gewalt, mögen sie inhaltlich noch so sehr Rechtssätzen gleichen. Die Rechtslage ist hier die gleiche, wie bei den Befehlen, die der Militärbefehlshaber im Kriege gibt: sie sind keine Gesetze, auch wenn sie in das Leben, die persönliche Freiheit, das Eigentum eingreifen und vielleicht in der Form allgemeiner Anordnungen ergehen. Der Belagerungszustand soll keine Ausnahme von der Teilung der Gewalten bedeuten, weil der Militärbefehlshaber zwar gesteigerte Exekutivbefugnisse, aber keine legislativen Vollmachten erhält. Er vollzieht nicht von ihm selbst erlassene Gesetze. Wenigstens formell ist das nicht eingetreten, was Locke als Begründung der Teilung vorgebracht hatte, daß es nämlich eine zu große Versuchung für die menschliche Schwäche ist, wenn dieselben Personen, die die Gesetze machen, auch deren Vollzug in Händen haben. Hier ist der maßgebende rechtliche Unterschied zwischen dem Belagerungs- (oder Kriegszustand und der Diktatur zu suchen: beim Belagerungszustand tritt unter Aufrechterhaltung der Trennung von Gesetzgebung und Vollzug eine Konzentration innerhalb der Exekutive ein; bei der Diktatur bleibt der Unterschied von Gesetzgebung und Vollzug zwar bestehen, aber die Trennung wird beseitigt, indem die gleiche Stelle den Erlaß wie den Vollzug der Gesetze in der Hand hat - sei es, daß die Exekutive auch die Legislative oder daß die Legislative auch die Exekutive übernimmt. Diese Unterscheidung ist wegen ihrer Wichtigkeit näher zu erörtern. Die Staatslehre Rousseaus hatte die gesamte Tätigkeit des Staates in Legislative und Exekutive, Erlaß und Vollzug von Gesetzen aufgeteilt. Die Dreiteilung der Gewalten, deren praktisch-vernünftiger Relativismus dem rationalistischen System Rousseaus eigentlich immer unzugänglich war, verlor damit theoretisch ihren Boden. 41 Die dans 1'execution des divers fonctions qui lui incombent... Eine Übersicht über die Anschauungen französischer Autoren von der Militärgewalt gibt Rochoux S. 95 f. 40 Esprit des lois, liv. XI, cap. 6. 41 Contrat social III, cap. 1. Dazu die vortreffliche Kritik von Barthelemy, a.a.O, S. 6 ff.
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Jurisdiktion, der auch von Montesquieu kein rechter Platz angewiesen werden konnte, und die man im Grunde immer zur Exekutive rechnete, fiel eigentlich aus.42 Aber auch die Exekutive war nicht mehr gleichberechtigt. Weil alles auf den Gegensatz von einem befehlenden Gesetzgeber und einer gehorchenden Exekutive reduziert wird, erscheint diese als etwas Subalternes; die wahre Äußerung der Souveränität liegt in der Legislative; sie ist das Gehirn, die Exekutive ist nur der Arm - Vergleiche, aus denen der Konvent praktische Schlüsse gezogen h a t 4 3 Aber mit solchen Antithesen wird man der Bedeutung der Verwaltung offenbar nicht gerecht. Die Verwaltung ist mehr als der bloße Vollzug positiver Gesetzesbestimmungen, das Gesetz ist nur der Rahmen, innerhalb dessen die schöpferische Tätigkeit der Verwaltung vor sich geht. Auch ist die historische Entwicklung nicht in der Weise vor sich gegangen, daß erst das Gesetz als der zu vollziehende Wille ausgesprochen und dann sein Vollzug vorgenommen worden wäre. 44 Der Anfang aller staatlichen Tätigkeit ist Verwaltung; von ihr haben sich Gesetzgebung und Jurisdiktion erst später gesondert. Jede Angelegenheit wird zunächst konkret von Fall zu Fall erledigt, der einzelne Verwaltungsakt erscheint deshalb als eine Art jurisdiktioneller Vorgang 45, da ja auch der Prozeß ohne Bezugnahme auf eine abstrakt formulierte Rechtsnorm entschieden wird und das Recht, das als Norm für alle Staatstätigkeit maßgebend ist, sich derartig von selbst versteht, daß der Richter es überhaupt nur für den konkreten Fall „findet". Erst als die mehrere Fälle voraussehende generelle Verwaltungsmaßnahme in immer weiterer Abstraktion zum Gesetz geworden war, konnte ein eigener Organismus als „Legislative" auftreten. Der Urzustand, wenn es erlaubt ist, dies Wort zu gebrauchen, bleibt die Verwaltung; sie darf infolgedessen auch mit der heute in der deutschen Rechtslehre herrschenden Definition negativ bestimmt werden, als die staatliche Tätigkeit, die weder Gesetzgebung noch Rechtspflege ist; für sie erscheint das Gesetz als Schranke; sie spielt sich „im Rahmen" der Gesetze ab - der freilich kein geschlossener Rahmen ist. Was schon für die richterliche Entscheidung gilt, daß nicht jeder Fall im Gesetz vorgesehen sein kann, gilt in noch viel weiterem Umfange für die Verwaltung, der nicht jeder zu erreichende Zweck durch ein Gesetz vorgeschrieben und formuliert werden kann. Für die Theorie der französischen Revolution freilich war der Verwaltungsbeamte nicht anders wie die Richter eine automatische Funktion des Gesetzes, seine Tätigkeit bestand darin, in Syllogismen unter das Gesetz zu subsummieren 4 6 Die Terminologie dieser mechanischen Gegenüberstellung von Gesetz 42 Duguit, La separation des pouvoirs, Paris 1893, S. 10 ff., A. Saint-Girons, La separation des pouvoirs, Paris 1881, S. 135 ff.; F. v. Meier, a.a.O, S. 66, 67. Gegen diese Deutung der Lehre Montesquieus R. Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789, Leipzig 1912, S. 287, 288. 43 Barthelemy, a. a. O., S. 484 f.; Saint-Girons, a.a.O, S. 139. 44 Das hat Rousseau auch gewußt; er hat weder die hier in Frage stehende noch seine andern zahlreichen Konstruktionen als Geschichte aufgefaßt. Merkwürdigerweise ist eine ganze Literatur umständlicher Belehrungen darüber entstanden, daß man Rousseau in dieser Hinsicht nicht Unrecht tun dürfe. 4 5 v. Meier, a. a. O., Bd. I, S. 64.
2 Staat, Großraum, Nomos
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und Vollzug ist dann in die europäischen Verfassungen gedrungen und wirkt in ihrer Anwendung auf ganz heterogene Verhältnisse verwirrend. Das ist besonders beim Belagerungszustand der Fall. Denn was bedeutet der im preußischen Gesetz von 1851 angeordnete „Übergang der vollziehenden Gewalt"? Den Übergang der Befugnisse der Verwaltungsbehörden. 47 Die nächste Frage muß sein, was der Militärbefehlshaber verwalten soll, wie auch, wenn von vollziehender Gewalt gesprochen wird, die nächste Frage die ist, was denn vollzogen werden soll. Nach der plausiblen Anschauung können nur Gesetze vollzogen werden, d. h. es kann nur eine solche Tätigkeit entfaltet werden, die auf die Erreichung gesetzlich umschriebener Zwecke gerichtet ist. Das ist offenbar zu eng. Aber die Frage bleibt bestehen. Wenn eine Konzentration der Verwaltung oder der Exekutive vorgenommen wird, so kommt es ausschließlich auf die Erreichung eines Zweckes an. Der Zweck ist aber beim Belagerungszustand rein faktisch bestimmt: ein Aufruhr soll niedergeschlagen, ein bestimmter militärischer Erfolg soll gesichert werden. Die Mittel zur Erreichung des Zweckes sind natürlich ebenso tatsächlich und die rechtliche Regelung des Belagerungszustandes bedeutet nur, daß dem Militärbefehlshaber bestimmte rechtliche Möglichkeiten gegeben werden, das heißt nicht, daß er ein subjektives Recht erhält, sondern: rechtliche Schranken, die sonst die Erreichung des Zweckes hindern könnten, fallen weg. Hier zeigt sich wieder, daß nicht in der Anordnung von Militärgerichten und in verschärften Strafdrohungen, sondern in der nur negativ wirkenden Suspension von Verfassungsbestimmungen das Wesen der Institution liegt. Es werden ja nicht Gesetze aufgehoben - die an die Stelle der Art. 5 und 6 der preußischen Verfassung getretenen Bestimmungen der Reichsstrafprozeßordnung z. B. bleiben in Geltung, aber der Militärbefehlshaber darf sich im konkreten Fall über sie hinwegsetzen, sie bedeuten keine Schranke mehr für seine Tätigkeit. 48 Die rechtliche Behandlung des rein tatsächlichen Zustandes einer konkreten Gefahr erfolgt also in der Weise, daß vom Recht ein rechtsfreier Raum abgesteckt wird, innerhalb dessen der Militärbefehlshaber jedes ihm geeignet erscheinende Mittel anwenden darf. 46 Condorcet hat die Lehre von Syllogismus ausdrücklich auf die Verwaltung anwenden wollen; darüber Barthölemy, a. a. O., S. 489, Anm. 3. In der Rechtspraxis hat diese Auffassung eine viel größere Rolle gespielt und ist lange als offizielle Methode gelehrt worden. Der bekannte Ausspruch Montesquieus, daß der Richter nichts sei als la bouche qui prononce les paroles de la loi, wurde dabei mit Vorliebe zitiert, obwohl niemand so sehr wie Montesquieu davor gewarnt hat, „de choquer la nature des chosesVgl. dazu meine Abhandlung, Gesetz und Urteil, Berlin 1912, S. 22 f., und ihre Besprechung von W. Jellinek, Arch, des öffentlichen Rechts, Bd. XXXII, S. 296 ff., der mit Recht auf den Zusammenhang mit dem Problem der Verwaltung hinweist. 47 J. Lukas, Justizverwaltung und Belagerungszustand, in der Festgabe für Otto Mayer, Tübingen 1916, S. 225 ff. 48 Die Suspension verfassungsmäßiger Schranken ergibt sich auch da mit Notwendigkeit, wo eine gesetzliche Regelung des Belagerungszustandes nicht besteht (wie in Italien) und alles den Verordnungen der Regierungs- oder Militärbehörden überlassen ist. Vgl. darüber Hans Gmelin, Über den Umfang des königlichen Verordnungsrechts und das Recht zur Verhängung des Belagerungszustandes in Italien, Karlsruhe 1907, S. 145 f.
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Der Raum wird zunächst durch die positive Regelung begrenzt, also z. B. dadurch, daß zwar die Aufhebung des Art. 7 der Preußischen Verfassung vorgesehen ist, der Umfang der Aufhebung aber durch die Regelung der Anordnung von Militärgerichten genau umschrieben ist. Im übrigen ist der Raum nur durch den bloß tatsächlichen Zweck, also begrifflich überhaupt nicht abgegrenzt.49 Innerhalb des Raumes tritt sozusagen eine Rückkehr zum Urzustand ein, der Militärbefehlshaber betätigt sich darin wie der verwaltende Staat vor der Trennung der Gewalten: er trifft konkrete Maßnahmen als Mittel zu einem konkreten Zweck, ohne durch gesetzliche Schranken behindert zu sein. Hier liegt die Schwierigkeit für die rechtliche Betrachtung: der Militärbefehlshaber vollzieht nicht ein Gesetz, soll aber doch Exekutivorgan bleiben und nicht etwa legislative Zuständigkeit erhalten. Die Schwierigkeit löst sich dadurch, daß Verwaltung etwas anderes ist als Vollzug bestimmter Gesetze und daß das Gesetz mit Rücksicht auf die Erreichung eines bestimmten Zweckes zurücktritt, um dem Militär die Wahl der Mittel zu überlassen. Soweit ihm in der Wahl der Mittel Freiheit gegeben ist, nimmt der Militärbefehlshaber eine rein tatsächliche Verwaltungstätigkeit vor, die von dem Gegensatz: Gesetzgebung - Vollzug überhaupt nicht berührt wird. Insoweit besteht die Teilung der Gewalten nicht mehr; innerhalb des dem Militärbefehlshaber überlassenen Spielraums ist die Rechtslage so, als hätte es eine Teilung nie gegeben. Bei der Diktatur aber bleibt die Teilung bestehen, die beiden Funktionen Gesetzgebung und Verwaltung 50 werden jedoch von derselben Zentralstelle ausgeübt; hier tritt kein rechtsfreier Raum ein, weil alles durch gesetzliche Anordnungen sofort ausgefüllt werden kann. Wenn hegelianische Formulierungen noch erlaubt sind, so wäre der Unterschied so zu fassen: die frühere ununterschiedene Einheitlichkeit staatlichen Funktionierens war die Position; die Teilung der Gewalten ist deren Negation; der Belagerungszustand bedeutet (für einen gewissen Raum) eine Rückkehr zur Position, während die Diktatur die Negation der Negation ist, d. h. die Teilung der Gewalten zwar aufhebt, aber doch übernimmt und voraussetzt. Der Unterschied ist trotz dieser formalistischen Antithesen so unmittelbar praktisch, daß man ihn als elementar bezeichnen darf. Der Belagerungszustand ist heute entweder das Mittel, eine Unruhe im Innern niederzuhalten, also eine sicherheitspolizeiliche Maßnahme, oder er soll einen militärischen Zweck, wie die Sicherung des glatten Verlaufs der Mobilmachung, erreichen. In beiden Fällen liegt eine Konzentration nach Innen vor. Die Konzentration dagegen, die erforderlich ist, um die von Außen drohende Gefahr für die Existenz des Staates abzuwehren, muß selbstverständlich eine andere sein, als jene sicherheitspolizeiliche oder mili49
Daß eine bloße Zweckangabe keine Begrenzung enthält, hat Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, dargelegt [S. 84 f]. Preuß in Schmollers Jahrb. f. Gesetzgebung und Verwaltung, 1900, S. 369: jede Hineinziehung des Zweckmomentes „löst den Begriff in flüssiges Wachs auf. 50 Äußerstenfalls auch die Rechtsprechung, falls dann überhaupt noch von Rechtsprechung die Rede sein kann. 2*
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tärische. Denn sie tritt erst ein, wenn die gesetzlich vorgesehenen Mittel, zu denen auch der Belagerungszustand gehört, nicht mehr ausreichen, sie betrifft nicht eine konkrete im Innern zu erledigende Sachlage, sondern die rechtlichen wie tatsächlichen gesamten Beziehungen des Staates, also vor allem auch den völkerrechtlichen Verkehr mit andern Staaten; sie ist daher von der Leitung der auswärtigen Politik nicht zu trennen. Daher tritt sie mit Sicherheit jedesmal ein, sobald die internationale Lage eines Landes kritisch wird, wie die Lage Frankreichs während der Invasionen von 1793. Der Vorgang hat sich noch auffälliger 1871 wiederholt, als die Nationalversammlung, die legislative Körperschaft, die Exekutive übernahm und eines ihrer Mitglieder, der doch sicher nicht als Gewaltmensch auftretende Thiers, Diktator wurde - eine für die Vorstellungen des französischen Staatsrechts unerhörte Verletzung des Grundsatzes von der Trennung der Gewalten. Sie war aber notwendig, weil der auswärtige Gegner sich gegenüber den unklaren und widersprechenden Strömungen im Innern auf den Standpunkt stellte, nur mit einer Stelle zu verhandeln, von der er sicher war, daß sie die Macht wirklich in der Hand hatte; Deutschland hätte sich, wie Barthelemy 51 richtig sagt, „wohl niemals darauf eingelassen, mit einer in sich zerspaltenen Versammlung zu verhandeln". Die Vereinigung von Legislative und Exekutive in einer Hand ist nur die staatsrechtliche Umschreibung dieser Konzentration, die den ganzen Staat in allen seinen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Elementen ergreift und je nach dem äußeren Verlauf des Krieges in ihrem Umfang und ihrer Intensität verschieden gestaltet sein kann. Sie kann sich, wie die Diktatur von Thiers, des Belagerungszustandes als eines ihrer Mittel bedienen, ihn aber auch prinzipiell ablehnen, wie die Diktatur des Jahres 1793. Sie muß jedenfalls in der Lage sein, Gesetze, nicht bloß tatsächliche Maßnahmen, mit Rücksicht auf die täglich sich ändernde Lage zu erlassen und sofort zu vollziehen und jeden Widerstand im Innern, jede Gefährdung der absoluten Einheitlichkeit sofort zu beseitigen. Dabei ist es, wenn auch nicht politisch, so doch für den rechtlichen Begriff gleichgültig, ob die Exekutive die Legislative oder die Legislative die Exekutive übernimmt. 52 51 Le Pouvoir ex^cutif, Paris 1907, S. 482, 610. Über die Diktatur Thiers' vgl. die dort zitierte Literatur: J. Simon, Le gouvernement de M. Thiers, t. II, p. 240; Sorel, Histoire diplomatique de la Guerre franco-allemande, t. II, p. 335. 52 Um diese ausschließlich juristischer Erkenntnis dienende Untersuchung nicht in die Mißverständnisse einer politischen Diskussion zu ziehen, ist jede Erörterung der während des gegenwärtigen Krieges eingetretenen Ausnahmezustände, Notgesetze, Ermächtigungen usw. unterblieben. Es darf nur noch erwähnt werden, daß die heutige Praxis der Gerichte, jedem einzelnen Militärbefehlshaber legislative Befugnisse zuzusprechen, das Gegenteil einer Konzentration herbeiführt, namentlich, wenn die Anordnungen jedes Militärbefehlshabers selbst mit den von einer Zentralinstanz wie dem Bundesrat erlassenen gesetzlichen Anordnungen völlig gleichstehen, ihr also gegebenenfalls sogar vorgehen sollen. (RG. Entsch. vom 8. 6. 15, mitgeteilt im Preuß. Verw. Blatt, Bd. 37, S. 133, und Bayer. Oberstes Landesgericht, Entsch. vom 20. 10. 15, mitgeteilt in der Leipz. Zeitschr. 1915, Sp. 1533. Aber wenn auch dieser letzte Schluß in seiner mechanischen Gleichstellung von „Gesetz" und „Gesetz" unrichtig ist, so sind doch die scharfsinnigen Argumentationen von Rosenberg (Z. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft, Bd. 37, S. 808 f.) nicht geeignet, die gegenwärtige
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Anmerkungen des Herausgebers [1] „Toute soci6t6 dans laquelle la garantie des droits n'est pas assume, ni la separation des pouvoirs d£termin6e, n'a pas de constitution." (Nach Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris 1979, S. 35.) In der französischen Verfassung v. 4. 11. 1848 lautete der Art. 19: „La s6paration des pouvoirs est la premidre condition d'un gouvernement libre." (Godechot, ebd., S. 266.) Vgl. a.: Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 39, 127 u. vorl. Bd., S. 169, 181 [5]. [2] Vgl. P. Romain, L'Etat de sifcge politique, Albi 1918, th£se, S. 124 ff. o. C. Schmitt, Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 197 ff. [3] Texte in: H. Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 1967, S. 258 - 262. [4] Text bei Boldt, a. a. O., S. 271 - 274. [5] Der Art. 9 b lautete: „Wer in einem in Belagerungszustand erklärten Orte oder Distrikte ein bei Erklärung des Belagerungszustandes oder während desselben vom Militärbefehlshaber im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenes Verbot übertritt, oder zu solcher Übertretung auffordert oder anreizt, soll, wenn die bestehenden Gesetze keine höhere Freiheitsstrafe bestimmen, mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft werden." (Boldt, a. a. O., S. 259 f.) - Spez. zum Art. 9 b vgl.: E. Conrad, Zu § 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand, DJZ, 1916, Sp. 427 ff. u. C. Schmitt, Die Erklärung des Belagerungszustandes und die Form der Anordnungen aus § 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand, PrVerwBl, 11.9. 1915, S. 807 f. (anonym). [6] Der Art. 4, Ziff. 2 lautete: „Wer in einem in Kriegszustand erklärten Orte oder Bezirke eine bei der Verhängung des Kriegszustandes oder während desselben von dem zuständigen obersten Militärbefehlshaber zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit erlassene Vorschrift übertritt oder zur Übertretung auffordert oder anreizt, wird, wenn nicht die Gesetze eine schwerere Strafe androhen, mit Gefängnis bis zu 1 Jahr bestraft." (Nach Boldt, a. a. O., S. 272.) [7] Vgl. dazu: H. Tingsten, Les pleins pouvoirs. L'expansion des pouvoirs gouvernementaux pendant et apr£s la grande guerre; traduit du SuSdois, Paris 1934 u. C. Schmitt, Vergleichender Überblick über die neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Ermächtigung (Legislative Delegationen), in: ZaöRV, 1936, S. 252 ff.; Ndr. in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 1923 - 1939, Hamburg 1940, S. 214 ff. Vgl. auch die Gesamtdarstellung des Problems bei: E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 62 ff. (§ 5. Das Kriegsermächtigungsgesetz.) [8] Text bei Boldt, a. a. O., S. 254 ff.
Praxis zu widerlegen, denn ihre historisch-philologische Methode wird dem praktischen Bedürfnis, das die Gerichte geleitet hat, nicht gerecht und setzt ein falsches Kriterium der juristischen Richtigkeit einer Entscheidung voraus (S. 94 ff. meiner Abhandlung Gesetz und Urteil, Berlin 1912). Jedenfalls aber wird die Praxis des Reichsgerichts in ihrer juristischen Begründung doch von dem Einwand getroffen, daß sie, ohne Berücksichtigung der Zusammenhänge mit den staatsrechtlichen Grundsätzen der Teilung der Gewalten, nur an den nächsten praktischen Zwecken orientiert ist.
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Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in d. Zeitschrift f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft, 38. Jg., 1916, S. 138 - 162 (nicht, wie sehr häufig in d. Schmitt-Literatur angegeben, 1917). Im engen Zusammenhang mit ihm stehen Schmitts Artikel „Die Erklärung des Belagerungszustandes und die Form der Anordnungen aus § 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand", Preußisches Verwaltungs-Blatt, Jg. XXXVI, Nr. 50, 11. 9. 1915, S. 807 - 808, u. „Das Gesetz über den Belagerungszustand in der Rechtsprechung", ebd., Jg. XXXVII, Nr. 20, 12. 2. 1916, S. 310 - 312 (Zwölfte Folge). Obgleich beide Artikel anonym erschienen, steht hier Schmitts Autorschaft fest. Inwieweit Schmitt an den zahlreichen Folgen zum „Gesetz über den Belagerungszustand in der Rechtsprechung", die bes. 1916 und 1917 im Preußischen Verwaltungs-Blatt erschienen, mitarbeitete, konnte bisher nicht geklärt werden. Unter einem anderen Blickwinkel behandelte Schmitt das Thema in s. Probevorlesung vor der Juristischen Fakultät in Straßburg v. 16. 2. 1916, „Die Einwirkungen des Kriegszustandes auf das ordentliche strafprozessuale Verfahren", Zeitschrift f. d. ges. Strafrechtswissenschaft, 38. Bd., 1916, S. 783 - 797. - Als die beiden klassischen deutschen Werke zur hier erörterten Problematik dürfen gelten: K. Strupp, Deutsches Kriegszustandsrecht, 1916, u. H. Pürschel, Das Gesetz über den Belagerungszustand, 1916. Materialien finden sich bei: W. Deist, Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 - 1918, 2 Bde., 1970; auch b. Huber, Dokumente z. dt. Verfassungsgeschichte, III, 3. Aufl., 1990, S. 138 ff. Einen Überblick gibt: E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, V, 1978, S. 39 - 73 (mit Literaturhinweisen). Vgl. u. a. auch: Th. Reinach, De l'Etat de sifcge, Paris 1885; F. Mandry, Der Ausnahmezustand in Frankreich, in: Das Recht des Ausnahmezustandes im Auslande, 1928, S. 9 - 47; J. Rai'ciu, Lögalitö et n6cessit6, Paris 1933; H. Ballreich, Der Staatsnotstand in Frankreich, in: Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, H. 31, 1955, S. 29 - 57; G. Ziebura, Der Staatsnotstand in Frankreich, in: E. Fraenkel (Hrsg.), Der Staatsnotstand, 1965, S. 165 - 189, S. 291 294. H. Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 1967, untersucht detailliert die deutsche und französische Entwicklung; zum Strukturwandel des Ausnahmezustandes während des I. Weltkrieges vgl. ebd., S. 195 - 209. Schmitt behandelt einige der hier erörterten Punkte auch in: Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 171 - 205. Vgl. a.: M. Messerschmidt, Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, in: Militärgeschichtl. Forschungsamt (Hrsg.), Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648 - 1939, Sonderausgb. 1983, 2. Bd., Abschnitt IV, 1. Teil, S. 9 - 380, hier S. 337 - 346, „Der Einsatz von Militär im Innern". Schmitt, der am 16. 2. 1915 in München seinen Wehrdienst als Freiwilliger antrat, war am 1. 3. 1916 zum Unteroffizier ernannt worden. Er habilitierte am 16. 2. 1916 in Straßburg u. erhielt am 1. 3. 1917 die Stelle eines Assessors beim Stellvertretenden Generalkommando des I. Armeekorps in München. Dort leitete er i. d. Maxburg, beim Bayerischen Kriegsministerium, das Subreferat P 6 (vgl. u. Anhang zu „Konstruktive Verfassungsprobleme", vorl. Bd., S. 70). Schmitt, der am 1. 4. 1919 aus dem Heeresdienst entlassen wurde, muß also öfters die Erlaubnis erhalten haben, in Straßburg seinen Pflichten als Privatdozent nachzukommen. Im Vorlesungsverzeichnis der Universität für das Sommersemester 1916 wird Schmitt als Privatdozent für Strafprozeßrecht aufgeführt, allerdings mit dem Vermerk „zum Kriegsdienste eingezogen" (so P. Tommissen, Schmittiana II, Brüssel 1990, S. 149 f.); im Sommersemester 1918 als zuständig für Strafrecht, mit Vorlesungen „im Prinzip: Montag bis Freitag von
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5 - 6 Uhr" (freundl. Mitteilung von Herrn Prof. Tommissen). Zu Schmitts Biographie während dieser Zeit vgl.: P. Tommissen, Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie (Periode 1888 - 1933), in: H. Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988, S. 71 - 101, hier: S. 76 f.
Reichspräsident und Weimarer Verfassung
Wenn die Weimarer Verfassung bestimmt, daß der Reichspräsident vom ganzen deutschen Volk gewählt werden soll, so liegt darin eine gewisse Korrektur des Verhältniswahl- und des Parteilistensystems. Das ganze deutsche Volk soll sich hier auf eine einzige Persönlichkeit, einen Mann seines Vertrauens einigen und nicht für eine Liste oder ein Partei- und Interessenprogramm stimmen.[l] Wahrscheinlich aber wird es bei der Wahl des kommenden Reichspräsidenten nicht anders sein wie bei einer Reichstagswahl. Nun lassen sich allerdings parteimäßige Bedingungen bei keiner Wahl vermeiden. Bei der jetzigen Präsidentenwahl müßte sich aber jeder Wähler wenigstens bewußt sein, daß er für sieben Jahre einen Mann bezeichnet, dessen rechtliche und politische Macht nach der Weimarer Verfassung ungewöhnlich groß ist und der in Zeiten der Krise und des Ausnahmezustandes entweder selbst zum Diktator werden oder einem Diktator den Weg ebnen oder ihm auch den Weg verstellen kann. [2] Es ist zu befürchten, daß in der Stimmung der Wahlvorbereitung und des parteipolitischen Wahlkampfes der Reichspräsident zu einer symbolischen Figur wird, um welche Parteien und Wähler kämpfen wie um eine Flagge, ohne sich um die sachlichen Konsequenzen zu kümmern. Die rein parteitaktische Einstellung hat sich mit größter Offenheit in einem klassischen Dokument geäußert, als der Vorwärts vor mehreren Tagen schrieb, „der berechtigte Stolz der Parteigenossen hätte sich dagegen aufgebäumt", einen anderen als einen sozialdemokratischen Kandidaten anzunehmen. Eine solche Partei-Prestige-Politik ist hier um so gefährlicher als die Weimarer Verfassung noch keineswegs abgeschlossen ist, vielmehr durch den kommenden Reichspräsidenten zum wichtigsten Teil einen neuen Inhalt bekommen kann, selbst wenn sie in aller Form und Legalität weiter bestehen bleibt. Der Reichspräsident hat nach der gegenwärtigen Verfassung eine Stellung, die je nach seiner Persönlichkeit alles und nichts bedeutet und sich mit jedem neuen Präzedenzfall wesentlich ändert. *
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Die Konstruktion dieser Stellung in dem System der Verfassung ist außerordentlich kunstvoll, um nicht zu sagen künstlich. Deshalb sind die ungeheuren rechtlichen und politischen Möglichkeiten des Reichspräsidenten aus dem Wortlaut der Weimarer Verfassung nicht ohne weiteres zu erkennen. Auf der einen Seite ist der Reichspräsident mit einer großen Machtfülle ausgestattet, die ihm gegenüber dem Reichstag und der vom Vertrauen des Reichstages getragenen oder wenigstens gebilligten Reichsregierung eine selbständige Bedeutung gibt, so daß er ein Gegen-
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gewicht bieten kann gegen Reichstag, Parlamentarismus und Parteipolitik. Er hat nicht nur weitgehende Zuständigkeiten erhalten (völkerrechtliche Vertretung des Reiches nach außen, Oberbefehl über die Reichswehr, Ernennung der Offiziere und Reichsbeamten, Begnadigungsrecht in Reichssachen, Reichsexekutive, eine Art Diktatur nach Artikel 48, Verkündung der Reichsgesetze usw.), sondern auch Befugnisse, die ihm eine funktionelle Selbständigkeit gegenüber dem Reichstag verleihen sollen, insbesondere das Recht der Auflösung des Reichstags und das Recht, einen Volksentscheid herbeizuführen. Danach scheint er mächtiger zu sein als mancher Kaiser oder Diktator. Auf der andern Seite aber ist er in allen seinen Anordnungen und Verfügungen, auch bei der Auflösung des Reichstages und bei der Herbeiführung eines Volksentscheids, an die Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder des zuständigen Ressortministers gebunden und dadurch wieder von der Reichsregierung abhängig, so daß man mehr den Eindruck hat, die Urheber der Weimarer Verfassung seien vor den Konsequenzen ihres eigenen Planes, einen mächtigen Präsidenten zu schaffen, erschrocken und hätten mit der einen Hand wieder genommen, was sie mit der anderen so freigebig gewährt hatten. [3] Doch die Abhängigkeit von der Gegenzeichnung macht den Reichpräsidenten nicht notwendig zur bloßen Unterschriftenmaschine. Es ist möglich, daß die Gegenzeichnung seine Stellung noch verstärkt, sobald er nämlich mit der Reichsregierung einig ist. Trotzdem bleibt eine merkwürdige Verquickung von Überlegenheit und Abhängigkeit, und jedesmal von neuem entsteht bei jedem Reichspräsidenten und bei jeder Reichsregierung das schwierige Problem ihres Zusammenarbeitens.[4] Stimmen beide überein - sei es auf Grund gleicher politischer Überzeugung, sei es weil die Parteizerrissenheit des Reichstags diesem die Aktionsfähigkeit nimmt und die Reichsregierung gezwungen ist, um überhaupt die Regierungsarbeit zu leisten, mit dem Reichspräsidenten zusammenzuarbeiten so entsteht eine politische Machtkonzentration, wie sie in einer konstitutionellen Monarchie kaum möglich ist, eine verfassungsmäßige Diktatur.[5] Man kann sagen, daß keine Verfassung der Erde einen Staatsstreich so leicht legalisiert, wie die Weimarer Verfassung. Wenn umgekehrt Reichspräsident und Reichsregierung nicht übereinstimmen, so liegt ein Konflikt allzu nahe und muß zu einem rechtlichen und politischen Chaos führen. Denn der Reichspräsident brauchte sich nur zu weigern, die Unterschriften zu geben, die ihm die Reichsregierung in den vielen wichtigen Angelegenheiten seiner Zuständigkeit vorlegen muß, und die Staatsmaschine geriete ins Stocken. Zwar hat die Verfassung hier ein kleines Ventil vorgesehen, indem der Reichstag eine Volksabstimmung beantragen kann, durch welche der Reichspräsident abgesetzt werden soll. [6] Aber dieser Beschluß des Reichstags bedarf einer Zweidrittelmehrheit, die bei der heutigen Parteizersplitterung nicht leicht zustandekommt. Ein offener Konflikt zwischen Reichspräsident und Reichsregierung wäre für Deutschland eine Katastrophe. Nach demokratischen Prinzipien müßte man sagen, daß ein vom ganzen Volk gewählter Präsident mehr Autorität haben wird als ein von dem gleichen Volk gewähltes Parlament. Bei dem vom Volk gewählten Präsidenten vereinigt sich das
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Vertrauen des Volkes auf eine einzige Person, während es sich beim Parlament auf mehrere hundert Abgeordnete verteilt und infolge des Verhältniswahl- und Listensystems überhaupt bei den meisten Abgeordneten von einem persönlichen Vertrauensverhältnis kaum noch gesprochen werden kann. Käme es wirklich dazu, daß das deutsche Volk sich mit überwältigender Mehrheit auf einen Mann einigen und ihn über alle Parteiabmachungen und Parteikandidaturen hinweg spontan zu seinem Führer wählte, so wäre seine Macht gerade in einer Demokratie unwiderstehlich. Die Urheber der Weimarer Verfassung haben sich eines berühmten Präzedenzfalles wohl erinnert, des Staatsstreiches von 1851, der Napoleon III., den vom französischen Volk gewählten Präsidenten der Republik, auf den Kaiserthron führte. In der zweiten Beratung der Nationalversammlung hatte man beschlossen, Mitglieder ehemals regierender landesherrlicher Familien von der Präsidentschaft auszuschließen. Dieses ausdrückliche Verbot wurde in der dritten Beratung wieder beseitigt und steht nicht mehr in der Weimarer Verfassung.[7] Die allgemeine politische Besorgnis, die einem solchen Verbot zugrunde lag, betrifft nicht so sehr die Kandidatur von Prinzen und Kronprätendenten, als das allgemeine Dilemma, in welchem die Demokratie des europäischen Kontinents sich heute befindet und vor dem sie die Augen nicht verschließen dürfte. Das ist die in verschiedensten Formen und Situationen auftauchende Frage: Was wird aus einer Demokratie, wenn keine sicheren demokratischen Mehrheiten vorhanden sind? Was wird aus dem Parlament, wenn antiparlamentarische Parteien die Tätigkeit des Parlaments lähmen können und Mißtrauensbeschlüsse maßgebend beeinflussen? Was wird aus einer demokratischen Verfassung, wenn die verfassungsmäßigen Befugnisse, die unter der Voraussetzung demokratisch gesinnter Mehrheiten verliehen sind, in nichtdemokratische oder gar antidemokratische Hände gelangen? Bei keiner Staatsform ist zwischen verfassungsmäßiger Form und politischer Wirklichkeit eine solche Diskrepanz möglich wie bei einer rein demokratischen Verfassung. *
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Die Weimarer Verfassung setzt voraus, daß ein Konflikt zwischen Reichspräsident und Reichstag nicht entsteht, und doch macht ihre Konstruktion einen solchen Konflikt allzu leicht möglich. Es ist dem verstorbenen Reichspräsidenten Ebert gelungen, den Konflikt zu vermeiden, um dadurch der Stellung des Reichspräsidenten einen konkreten Inhalt zu geben, den sie nach dem Text der Verfassung nicht ohne weiteres zu haben braucht. So ist vorläufig ein besonderer, neuer Typus eines republikanischen Staatspräsidenten entstanden, der sowohl vom französischen wie vom amerikanischen Präsidenten verschieden ist: der Reichspräsident als Träger einer Art neutraler Gewalt zwischen den zahlreichen Organen und Faktoren, welche die Weimarer Verfassung kennt: Reichsregierung, Reichstag, Reichsrat, Landesregierungen. In der Staatslehre des 19. Jahrhunderts taucht gelegentlich ein wenig beachteter und wenig verstandener Begriff auf, als dessen Urheber Benjamin Constant bezeichnet wird, der Begriff eines pouvoir neutre, d. h. einer zwischen den verschiedenen Gesetzgebungs- und Regierungsgewalten vermittelnden, selb-
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ständigen Gewalt, die, ohne die Führung an sich zu reißen, die Gegensätze ausgleicht und auf diese Weise der komplizierten Maschine eines modernen Staates ein reibungsloses Funktionieren ermöglicht. [8] Die Praxis Eberts bietet hierfür sehr viele Beispiele, die sich der Natur der Sache nach wenig auffällig geäußert haben, die aber darum nicht weniger bedeutungsvoll sind. Es genügt, daran zu erinnern, wie der Reichspräsident im Sommer 1922 während des Konfliktes zwischen dem Deutschen Reich und Bayern nicht etwa seine verfassungsmäßigen Befugnisse ins Feld geführt hat, sondern in einer wahrhaft neutralen Weise einen Ausgleich vermittelte, um den Konflikt beizulegen, statt ihn autoritär zu entscheiden. [9] Aber man darf nicht vergessen, daß diese konkrete Gestalt des Reichspräsidenten keineswegs notwendig aus dem Text der Weimarer Verfassung entstanden ist. Es ist nicht selbstverständlich, daß es immer so weitergeht, wie es die letzten sechs Jahre gegangen ist. Mit einem neuen Präsidenten kann die Weimarer Verfassung ein völlig neues Gesicht erhalten, ohne daß auch nur ein Wort ihres Textes geändert zu werden braucht. Dem neuen Präsidenten kommen staatsrechtlich eine Reihe von Präzedenzfällen zugute, die Ebert geschaffen hat, und die sich hauptsächlich auf die Praxis des Ausnahmezustandes und des Art. 48 beziehen. Der neue Präsident kann sich auf diese Präzedenzfälle berufen und die politische Macht, die er dadurch erhält, einem ganz anderen politischen System zur Verfügung stellen als jener Politik der „neutralen Gewalt", die Ebert mit großer Klugheit befolgte. Es ist gewiß notwendig, bei der Wahl des neuen Reichspräsidenten auf seine Persönlichkeit zu achten. Aber man darf diese Persönlichkeit nicht isolieren, sondern muß sie im Rahmen der politischen Situation und des höchst eigenartigen, vieldeutigen Systems der Weimarer Verfassung sehen. Es kommt also nicht darauf an, von irgendwoher eine geniale Persönlichkeit zu holen, sondern wenn man die bisherige Reichspräsidentenpolitik, die gerade wegen ihrer unauffälligen Art von Neutralität den meisten wenig bewußt geworden ist, für gut hält, so müßte vor allem ein kluger Mann Reichspräsident werden. Bei einer Wahl des Präsidenten der französischen Republik hat Clemenceau einmal mit der ihm eigenen zynischen Offenheit erklärt, er wähle immer nur den Dümmsten.[10] Die deutschen Wähler müssen sich darüber klar sein, daß sie gut daran tun, den Klügsten zu wählen.
Anmerkungen des Herausgebers
[1] Der Art. 41, Abs. 1 der WRV v. 11.8. 1919 lautete: „Der Reichspräsident wird vom ganzen deutschen Volk gewählt." Dieser Passus verdankte sich vor allem Max Weber, der an den von Hugo Preuß geführten Beratungen zur Verfassung (9. - 12. 12. 1918) teilnahm. Preuß neigte eher dazu, die Wahl des Präsidenten wie in Frankreich dem Parlament zu überlassen. Vgl. W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946, S. 57 u. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1080 ff. - Friedrich Ebert wurde noch vor Verkündung der Verfassung, am 11.2. 1919, durch die Nationalversammlung gewählt. Weber
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bekräftigte seine Forderung nach Volkswahl des Präsidenten am 25. 2. 1919 mit einem Artikel in der Berliner Börsenzeitung, „Der Reichspräsident" (Ndr. in: Gesammelte politische Schriften, 3. Aufl. 1958, S. 498 ff.). Eberts Stellung war zunächst interimistisch und beruhte auf dem ursprünglichen Text des Art. 180, Abs. 2 der WRV: „Bis zum Amtsantritt des ersten Reichspräsidenten wird sein Amt von dem auf Grund des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt gewählten Reichspräsidenten geführt." Deshalb wurde Eberts Legitimation des öfteren bezweifelt, und mit einigem Recht folgerte man aus dem zit. Absatz, „daß der von der Nationalversammlung gewählte Präsident nicht als ordentlicher Präsident anzusehen ist, sondern als vorläufiger oder einstweiliger." (A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, S. 125.) Die nachzuholende Volks wähl des Präsidenten wurde, auch aus parteipolitischen Gründen, sowohl von der Nationalversammlung als auch vom Reichstag ständig hinausgeschoben, obgleich Ebert öfters energisch auf eine solche Wahl drängte. (Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 311 ff.) Durch ein verfassungsänderndes Gesetz v. 27. 10. 1922 (RGBl. I, 801) wurde Eberts Amtszeit bis zum 30. 6. 1925 festgelegt und der Art. 180, Abs. 2 lautete fortan: „Der von der Nationalversammlung gewählte Reichspräsident führt sein Amt bis zum 30. Juni 1925." Ebert starb jedoch bereits am 28. 2. 1925. Webers Auffassungen zum RPr wie zur WRV sowie seinen Einfluß auf Schmitt erörtert: W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 - 1920, 2. Aufl., 1974, bes. S. 362 - 72, 375 - 80, 398 - 403, 407 - 13, 438 ff., 478 ff. Vgl. auch Karl Loewensteins hysterischen Protest gg. Mommsens These einer Kontinuität Weber-Schmitt: Max Weber als „Ahnherr" des plebiszitären Führerstaats, KZfSS, 11/1961, S. 75 - 89, Ndr. in: Loewenstein, Beiträge z. Staatssoziologie, 1961, S. 311 - 328. J. P. Mayer, Max Weber and the german politics, London 1944, Faber & Faber, S. 78, schrieb: „Weber's glorification of the plebiscitarian principle here (and in his political sociology generally) exerted a considerable influence on other German constitutional lawyers, e.g. Koellreutter and Carl Schmitt. The latter brought the plebiscitarian principle into a system by virtue of which the president of the Reich became the ,guardian of the Constitution4. Thus the wolf was made to look after the sheep." Zur Beziehung Weber-Schmitt vgl. jetzt: G. L. Ulmen, Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, 1991. - Zur Stellung d. Reichspräsidenten während der Zeit Eberts vgl. u. a.: O. Meißner, Der Reichspräsident, Handbuch d. Politik, 1921, III, S. 41 ff.; ders., D. neue Staatsrecht des Reichs u. s. Länder, 1921, S. 77 - 85; W. Troitzsch, Die staatsrechtliche Stellung des Reichspräsidenten, Pr. Verwaltungsblatt, 47 / 1925 - 26, S. 26 f.; Noll v. d. Nahmer, Reichspräsident, Reichskanzler und Reichsminister in ihrem gegenseitigen verfassungsrechtlichen Verhältnis, ebd., 48 / 1926 - 27, S. 170 ff.; vgl. a.: G. Arns, Friedrich Ebert als Reichspräsident, HZ 1971, Beiheft, S. 1 - 30. Grundsätzl. zum Problem des RPr: Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 307 ff. (dort weitere Literatur). Hinweise auf die (west-)deutsche Diskussion seit 1949 bei: G. Jasper, Die verfassungsund machtpolitische Problematik des Reichspräsidentenamtes i. d. Weimarer Republik. Die Praxis der Reichspräsidenten Ebert u. Hindenburg im Vergleich, in: R. König u. a., Friedrich Ebert und seine Zeit. 1990, S. 147 - 159. [2] Dazu bes.: C. Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, VVDStRL, 1, 1924, S. 63 ff., leicht verändert nachgedruckt in: ders., Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 213 ff. Diese an sich schon „extensive" Auslegung der Rechte und Handlungsmöglichkeiten des Reichspräsidenten wurde von Schmitt noch weitergetrieben in: Der
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Hüter der Verfassung, 1931. Zur Geschichte der Auslegung des Art. 48 vgl. die mit umfangreichen Hinweisen versehenen Darstellungen von G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, vierte Bearbeitung, 14. Aufl. 1933, S. 267 - 300; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 687 - 743; Vgl. G. Schulz, Artikel 48 in politisch-historischer Sicht, in: E. Fraenkel (Hrsg.), Der Staatsnotstand, 1965, S. 39 - 71; U. Scheuner, Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsidentschaften von Ebert und Hindenburg, FS H. Brüning, 1967, S. 249 - 264; R. Haugg, Die Anwendung d. Art. 48 WRV, Diss. Würzburg 1975; H. Boldt, Der Artikel 48 der Weimarer Reichs Verfassung - Sein historischer Hintergrund und seine politische Funktion, in: M. Stürmer (Hrsg.), Die Weimarer Republik - Belagerte Civitas, 1980, S. 288 - 309. - Die Geschichte d. Art. 48 während Eberts Amtszeit behandelt: A. Kurz, Demokratische Diktatur?, 1992; Dokumente bei: E. R. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, II, 1951, S. 126 153; vgl. a. d. Überblick bei: R. Wohlfeil, Heer und Republik, in: Militärgeschichtl. Forschungsamt (Hrsg.), Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648 - 1939, Sonderausg. 1983, 3. Bd., Abschnitt VI, Reichswehr und Republik (1918 - 1933), S. 11 - 303, hier S. 262 - 279 („Ausnahmezustand und Vollziehende Gewalt"). [3] Die Widersprüche in der Konzeption des Reichspräsidenten erörterte polemisch L. Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, S. 355 - 372. Sein vorwegnehmendes Resümee: „Wir gewahren das seltsamste politische Lebewesen, das je die deutsche Erde betreten hat und seinesgleichen auch im Auslande sucht, wo seine meisten Ahnherren leben, von denen er das meiste angezogen und die widersprechendsten Bekleidungsstücke - ohne Rücksicht darauf, ob sie sich untereinander vertragen - kunterbunt angenommen hat. Vom Präsidenten der amerikanischen Union hat er bekanntlich die Statur, insoferne die Wahl auf plebiszitärem Wege zu erfolgen hat (Art. 41), aus Frankreich, wie Sie längst wissen, die Funktionsdauer (Art. 43) und die Gebundenheit an das parlamentarische Regierungssystem, das alle seine Anordnungen und Verfügungen, zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister unterwirft, aus Deutschland die juristische Verantwortlichkeit, die ihn mit einem Reichsminister in eine Linie stellt (Art. 59), ferner die Verfügung über das fein abgetönte und doch so leere Glockenspiel des Volksentscheides, der sogar ihn selbst aus dem Weg räumen kann und so manche verwirrende Einzelheit, die ihre Stelle finden wird. Wer will von einem so wunderlichen Menschenkind Stil, Farbe und Farbebekennung erwarten und Ordnung in dieses Gewirr bringen, das sich nur aus der Kreuzung der widerstrebendsten Absichten und Erwartungen sowie aus der daraus folgenden grenzenlosen Unsicherheit erklären kann?" Ähnliche Argumente bei Bühler, Die Reichsverfassung, 1927, ö. - Die dem Reichspräsidenten eignende Mittelstellung zwischen dem französischen u. dem US-amerikanischen Vorbild kritisierte auch Nawiasky, Die Grundgedanken der Reichsverfassung, 1920, S. 78, als „schlechtes Kompromiß", vgl. ebd., S. 76 - 92. Bes. scharf die Kritik v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung i. Lehre und Wirklichkeit, 1924, S. 122 ff., 392 u. ö.; mit einer neutralen Konstatierung der widersprüchlichen Konzeption begnügen sich Poetzsch, Handausgabe d. Reichsverfassung, 2. Aufl., 1921, S. 91; Bredt, Der Geist d. Reichs Verfassung, 1924, S. 141; Giese, Grundriß d. Reichsstaatsrechts, 1930, S. 78; ders., Deutsches Staatsrecht, 1930, S. 137. Vgl. a. A. Brecht, Vorspiel zum Schweigen, 1948, S. 78, der der Volkswahl aufgrund der in Deutschland auseinanderstrebenden Parteien skeptisch gegenübersteht und eher das französische Vorbild empfiehlt, da so Hindenburg kaum hätte kandidieren können. - Zum Vergleich des deutschen Reichspräsidenten mit seinen Pendants im Auslande s.: Wandersieb, Der Reichspräsident in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und im deutschen Reiche, 1922, u. v. Ribbeck, Kaiser, Reichspräsident
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und U.S.A. Präsident, 1930. Auf Konflikte zwischen dem US-Präsidenten u. dem Kongreß hinweisend, erörtert H. Lufft mögliche „Souveränitätskonflikte zwischen Reichspräsident und Reichstag" in: Hochland, März 1927, S. 682 - 94. [4] Vgl. dazu etwa: Bell, Das verfassungsrechtliche Verhältnis des Reichspräsidenten zu Reichskanzler, Reichsregierung und Reichstag, DJZ, 1. 6. 1925, u. F. J. Wuermeling, Die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung, AöR, H. 3, 1926, S. 341 ff.; Bund z. Erneuerung d. Reiches, Die Rechte d. Dt. Reichspräsidenten nach d. Reichs Verfassung, 1929; zurückblickend: W. Apelt, Geschichte d. Weimarer Verfassung, 1946, S. 198 ff.; vgl. a. O. Geßler, Die Träger d. Reichsgewalt, 1931, S. 61 - 79. [5] Vermutlich eine Anspielung Schmitts auf Hugo Preuß' Artikel „Reichsverfassungsmäßige Diktatur", ZfP, 1924, S. 97 ff. Preuß stimmt darin (S. 101) Schmitts Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur zu. [6] Der Art. 43 lautete: „Das Amt des Reichspräsidenten dauert sieben Jahre. Vor Ablauf der Frist kann der Reichspräsident auf Antrag des Reichstags durch Volksabstimmung abgesetzt werden. Der Beschluß des Reichstags erfordert Zweidrittelmehrheit. Durch den Beschluß ist der Reichspräsident an der ferneren Ausübung des Amtes verhindert. Die Ablehnung der Absetzung durch die Volksabstimmung gilt als neue Wahl und hat die Auflösung des Reichstags zur Folge. Der Reichspräsident kann ohne Zustimmung des Reichstags nicht strafrechtlich verfolgt werden." Vgl. dazu: Wittmayer, a. a. O., S. 320, 369 f., 425; v. Freytagh-Loringhoven, a. a. O., S. 68, 131, 132 f., 136; Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, 2 Bde., 1922 / 23, Bd. I, S. 539 ff.; Stier-Somlo, Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht, I, 1924, S. 603, 608; Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 192, 197, 268, 346, 352; vgl. a. Giese, Grundriß d. Reichsstaatsrechts, 1930, S. 78 - 90. - Schmitts Wendung „kleines Ventil" ist eine Anspielung auf: M. Weber, Deutschlands künftige Staatsform, Artikelreihe Nov. 1918, abgedruckt in: ders., Gesammelte politische Schriften, a. a. O., S. 448 - 483, hier S. 470: „Wenn man auch den Volkswahlpräsidenten in der Wahl seiner Minister an das Vertrauen des Parlaments bände, so würde er als Vertrauensmann der Volksmillionen doch oft dem Vertrauensmann der jeweiligen Parteimehrheit im Parlament überlegen sein, um so überlegener, je länger man seine Amtsperiode machen muß. Und auf längere Zeit (sieben Jahre etwa) muß man sie bei jeder weitergehenden Sozialisierung im Interesse der Stetigkeit unbedingt bemessen. Durch die Zulassung eines Abberufungsreferendums auf Antrag einer qualifizierten Mehrheit des Reichstags könnte man ein Ventil schaffen." [7] Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, V, 1978, S. 1193. [8] Vgl. B. Constant, Cours de politique constitutionnelle (1815), dt. in: Werke, hrsg. v. L. Gall, IV, 1972, S. 9 - 244, bes. S. 31 ff.; dazu bes. L. Gall, Benjamin Constant, 1963, S. 166 205. - Ausführlich erörtert Schmitt Constants Konzept, bei diesem auf den König einer konstitutionellen Monarchie bezogen, in: Der Hüter der Verfassung, 1932, S. 132 ff.; z. Kritik vgl. G. Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, 1932, S. 67 f. - Schmitt sprach am 28. 6. 1929 in der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, im Rahmen der , Aussprachabende" zum Thema „Probleme der Koalitionspolitik", über „Der Mangel eines pouvoir neutre im neuen Deutschland"; vermutlich in Anknüpfung an die erste Fassung von „Der Hüter der Verfassung", AöR, März 1929, S. 161 237. (Nach: Berichte der Deutschen Hochschule für Politik, Bd. VII, Juni 1929, H. 3, S. 17.) [9] Die nach der Ermordung Außenminister Rathenaus am 24. 6. 1922 von Reichspräsident Ebert erlassenen Republikschutzverordnungen (26. u. 29. 6. 1922) sowie das Gesetz
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zum Schutze der Republik v. 21. 6. 1922 stießen bei der Regierung Bayerns unter Graf Lerchenfeld auf erbitterten Widerstand. Bayern sistierte das Republikschutzgesetz unter Hinweis auf Art. 48, Abs. 4, und ergriff eigene Maßnahmen. Ein Motiv war dabei die Härte der Strafandrohungen des Gesetzes; ausschlaggebend war aber wohl die Furcht, „die Weimarer Verfassung könnte so ausgelegt werden, als ermögliche sie schrittweise Beseitigung der Hoheitsrechte, ja der Staatlichkeit der Länder", so ein Schreiben Graf Lerchenfelds an Ebert v. 2. 8. 1922. Ebert verzichtete auf seine verfassungsmäßigen Möglichkeiten, die bis zur Reichsexekution gingen, und es gelang ihm, bei wechselseitigen Zugeständnissen, den Streit im August 1922 zu beenden. - Vgl. dazu Piloty, Der Streit zwischen Bayern und dem Reich über die Republikschutzgesetze und seine Lösung, AöR, 1922, S. 308 ff.; H. Preuß, Um d. Reichsverfassung von Weimar, 1924, S. 37 - 50; E. Forsthoff, Deutsche Geschichte seit 1918 in Dokumenten, 1935, S. 86 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, 1981, S. 661 f., S. 667 ff. - In einem Schreiben an Graf Lerchenfeld v. 27. 7. 1922 bezeichnete sich Ebert übrigens als „Hüter der Reichsverfassung und des Reichsgedankens." (Forsthoff, a. a. O., S. 88.) [10] Clemenceau ermöglichte 1887, während der Boulanger-Krise, die Wahl v. Marie Francois Sadi Carnot (1837 - 1894, ermordet durch den ital. Anarchisten S. I. Caserio) zum Präsidenten der französ. Republik und „empfahl" ihn mit den Worten: Choisissons le plus bete; vgl. dazu: E. R. Curtius, Maurice Bants und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, 1921, S. 106.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Kölnische Volkszeitung, 15. 3. 1925, S. 1. Unmittelbarer Anlaß war wohl das am 13. 3. 1925 verabschiedete Zweite Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten; vgl.: RGBl. I, 19; G. Kaisenberg, Die Wahl des Reichspräsidenten, 2. Aufl. 1925. Nach dem Tode Eberts am 28. 2. 1925 kam es zu den Reichspräsidentenwahlen am 29. 3. (1. Wahlgang) und am 26. 4. 1925 (2. Wahlgang). Im ersten Wahlgang erreichte der Kandidat der DNVP u. der DVP, Karl Jarres, 28,8 % der Stimmen, Otto Braun (SPD) 29 %, Wilhelm Marx (Zentrum) 14,5 %, Ernst Thälmann (KPD) 7 %, Willy Hellpach (DDP) 5,8 %, Heinrich Held (BVP) 3,7 % und Erich Ludendorff (NSDAP) 1,1 % (nach: E. Kolb, Die Weimarer Republik, 3. Aufl. 1993, S. 285). Für den zweiten Wahlgang einigten sich die DNVP, die DVP, die BVP, der Bayerische Bauernbund, die Deutschhannoversche Partei und die Wirtschaftspartei als sog. „Reichsblock" auf die Kandidatur Paul v. Hindenburgs. Dieser erreichte 48,3 %, Marx als Kandidat der sogen. „Weimarer Koalition" aus SPD, Zentrum und DDP 45,3 %, Thälmann 6,4 %. Schmitts Aufsatz erschien zwei Wochen vor dem 1. Wahlgang, als eine Kandidatur v. Hindenburgs noch nicht vorlag und auch noch nicht diskutiert wurde. Vermutlich war es Alfred v. Tirpitz, der v. Hindenburg erst zur Kandidatur überredete; dieser nahm am 7. 4. 1925 die Wahlbewerbung an. In seiner „Osterbotschaft an das deutsche Volk" v. 11.4. 1925 erklärte v. Hindenburg u. a.: „Vaterländisch gesinnte Deutsche aus allen Gauen und Stämmen haben mir das höchste Amt im Reiche angetragen. Ich folge diesem Ruf nach ernster Überlegung in Treue zum Vaterland . . . Als Soldat habe ich immer die ganze Nation im Auge gehabt, nicht die Parteien. Sie sind in einem parlamentarisch regierten Staat notwendig, aber das Staatsoberhaupt muß über ihnen stehen und unabhängig von ihnen für jeden Deutschen walten . . .
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Wie der erste Präsident auch als Hüter der Verfassung (von mir kursiviert - G. M.) seine Herkunft aus der sozialdemokratischen Arbeiterschaft nie verleugnet hat, so wird auch mir niemand zumuten können, daß ich meine politische Überzeugung aufgebe"; zit. nach: W. Maser, Hindenburg - Eine politische Biographie, Tb.-Ausg. 1992, S. 204. Zur Wahl v. Hindenburgs vgl.: A. Brecht, Aus nächster Nähe, Lebenserinnerungen I, 1966, S. 452 ff. Hugo Preuß, dem Schmitt den vorl. Aufsatz zusandte, bedankte sich dafür am 19. 3. 1925 mit einem Brief, in dem die Zustimmung überwog. Preuß erklärte jedoch darin, daß „es . . . doch nicht richtig (sei), daß die Urheber der Verfassung vor den Konsequenzen ihrer eigentlichen Absicht zurückgeschreckt seien"; der Brief ist abgedruckt bei: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 131.
Diktatur Diktatur ist die Ausübung einer von rechtl. Schranken befreiten staatl. Gewalt zum Zweck der Überwindung eines abnormen Zustands, insbes. Krieg u. Aufruhr. Maßgebend für den Begriff der D. ist also einmal die Vorstellung eines normalen Zustands, der durch die D. wiederhergestellt od. herbeigeführt werden soll, ferner die Vorstellung bestimmter rechtl. Schranken, die im Interesse der Beseitigung des abnormen Zustands aufgehoben (suspendiert) werden. Dieser Begriff von D. hat sich neben einem unklaren u. allg. Sprachgebrauch, der überall, wo Befehl od. Herrschaft ausgeübt wird, ungenau von D. spricht, als ein Begriff der allg. Staatslehre u. der Politik im Lauf der letzten Jahrhunderte entwickelt. Die Entwicklung geht aus von dem als D. bezeichneten Institut des röm. Staatsrechts.
I. Die Diktatur im römischen Recht Als erster Diktator erscheint nach Livius 2, 18 entw. M. Valerius (505 v. Chr.) od. T. Lartius (501); diesen erwähnt Cicero, De re publica 2, 56. Nach der überlieferten Darstellung, insbes. des Livius, scheint die D. in erster Linie ein Mittel im innerpolit. Kampf gegen die Plebejer gewesen zu sein. Es ist aber zweifelhaft, ob die älteren Fälle der D. zur Niederschlagung eines Aufruhrs (seditionis sedandae causa) echt sind. Nach W. Soltau gab es vor der D. des Hortensius, 272 v. Chr., keinen dictator seditionis sedandae causa, u. war der Diktator der alten Republik der Bundesfeldherr, der an der Spitze des latein. Bundesheers (des nomen latinum) ins Feld rückte, wenn dieses im Notfall aufgeboten wurde. Jedenfalls ist die ältere D. im Lauf der Zeit unpraktisch geworden; von 202 bis 82 v. Chr. (Sulla) kommt kein Fall von D. mehr vor. Als Mittel im Kampf gegen den innerpolit. Gegner erscheint von 133 bis 40 v. Chr. das Senatus Consultum ultimum, welches darauf beruht, daß der Senat durch einen Beschluß mit der Formel: Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat, den Konsuln die Aufgabe überläßt, für die Sicherheit des Staats einzutreten (rem publicam commendare, rem publicam defendere). Die Konsuln hielten sich dann für befugt, ohne Rücksicht auf rechtl. Schranken gegen röm. Bürger, die als Gegner der bestehenden Ordnung betrachtet wurden, vorzugehen. Im J. 82 v. Chr. wurde Sulla auf Grund eines besondern Gesetzes für unbestimmte Zeit zum dictator rei publicae constituendae ernannt; im J. 46 wurde Cäsar zunächst für ein Jahr Diktator, die Amtsdauer wurde schließlich auf Lebenszeit ausgedehnt. Diese D.en begründen eine rechtlich schrankenlose Gewalt u. haben von der alten D. nur den Namen übernommen. 3 Staat, Großraum, Nomos
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Erster Teil: Verfassung und Diktatur
II. Die Diktatur seit der Renaissance Die polit. Schriftsteller der Renaissance verwenden den Begriff der D. zunächst so, wie sie ihn bei ihren klass. Autoren finden; insbes. behandelt Macchiavelli in den Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio (1531) im Anschluß an die Geschichtsdarstellung des Livius zahlreiche Fälle der D. Sie erscheint ihm, wie den meisten Schriftstellern des 16. bis 18. Jahrh., als eine der freien röm. Republik wesentliche Einrichtung. Die ganze polit. Literatur der Staatsräson u. der sog. Arcana (Staatsgeheimnisse) zeigt ein bes. Interesse für dieses Institut, dehnt aber den Begriff der D. noch nicht im modernen Sinn aus, sondern betrachtet sie als eine der aristokrat. Republik spezif. Einrichtung, d. h. als ein innerpolit. Kampfmittel der Patrizier gegen die Plebejer.
I I I . Die Diktatur des Ausnahmezustands Als allg. Begriff wird die D. erst durch die französ. Revolution, u. zwar mit der sog. D. der Jakobiner in die polit. u. staatsrechtl. Literatur eingeführt. Dadurch bekommt das Wort die Bedeutung einer ausnahmsweisen Aufhebung rechtl. Schranken, wobei wiederum sowohl das Maß u. der Grad der Aufhebung wie die rechtl. Eigenart des aufzuhebenden Rechts verschieden sein können. Insbes. wird seit dieser Zeit die D. als eine Aufhebung der Teilung der Gewalten (Legislative, Exekutive, Justiz) bezeichnet, weil man diese „Teilung der Gewalten" als ein jeder verfassungsmäßigen Ordnung wesentl. Erfordernis betrachtete. Die neue rechtsstaatl. Entwicklung geht nun dahin, auch die für den Ausnahmefall gewährten Befugnisse genau zu umgrenzen. Dadurch entsteht im Lauf des 19. Jahrh. eine besondere Art von Gesetzen über Kriegs-, Belagerungs- od. Ausnahmezustand. Typisch für diese Entwicklung sind das französ. Gesetz vom 9. Aug. 1849 u. das preuß. Gesetz über den Belagerungszustand v. 4. Juni 1851. Die außerordentl. Mittel, mit denen man des Ausnahmezustands Herr zu werden suchte, bestehen im Übergang der vollziehenden Gewalt auf einen Militärbefehlshaber od. einen Zivilkommissar, ferner in der Möglichkeit, gewisse Verfassungsbestimmungen, welche dem Schutz der persönl. Freiheit, des Hausrechts, der Preß-, Vereinigungs- u. Verwaltungsfreiheit dienen, aufzuheben; sodann in einem Verordnungsrecht des Militärbefehlshabers bzw. des Kommissars; endlich in Strafverschärfungen für gewisse Delikte wie Mord, Aufruhr usw. u. in der Zulässigkeit außerordentl. Gerichte (Stand- u. Kriegsgerichte). So bildete sich im Lauf des 19. Jahrh. eine typische Gestaltung des Ausnahmezustands als einer rechtlich organisierten Einrichtung. Diese wurde häufig als D. bezeichnet. Daneben wurde das Wort für die Fälle einer Ausübung staatl. Gewalt gebraucht, die sich überhaupt jeder rechtl. Regelung, selbst der den Ausnahmefall berücksichtigenden Institution des Kriegs- od. Belagerungszustands, entzogen.
Diktatur
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IV. Kommissarische und souveräne Diktatur Aus der geschichtl. Entwicklung der Regelung des Ausnahmezustands ergibt sich, daß es im wesentlichen zwei Arten von D. gibt, nämlich eine solche, die sich trotz aller Ausnahmebefugnisse doch wesentlich im Rahmen einer bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung hält u. bei welcher der Diktator in verfassungsmäßiger Weise beauftragt ist (kommissarische D.), u. eine andere, bei der die gesamte Rechtsordnung aufgehoben ist u. die D. dem Zweck dient, eine völlig neue Ordnung herbeizuführen (souveräne D.). Diese souveräne D. wird insbes. ausgeübt von einer Nationalversammlung, die nach einer Revolution, wenn die bisherige verfassungsmäßige Ordnung beseitigt u. solange eine neue Verfassung noch nicht in Kraft getreten ist, die staatl. Gewalt ohne rechtl. Schranken ausüben kann. Das ist im modernen demokrat. Staat der häufigste Fall einer souveränen D. (Beispiele: die französ. Nationalvers, von 1848, die Weimarer Nationalvers, von 1919 bis zum Erlaß der Weimarer Verf.). Souveräne D. kann aber auch darin liegen, daß eine revolutionäre Partei unter Berufung auf den wahren Willen des Volks die staatl. Macht an sich reißt u. ausübt, u. zwar provisorisch, d. h. bis zur Herstellung des Zustands, in welchem das Volk seinen Willen frei ausüben kann, wobei sie allerdings selber darüber entscheidet, wann dieser Zustand eingetreten ist. Solange eine Verf. in Kraft steht, ist daher nur eine kommissar. D. denkbar, mögen auch die Befugnisse des Diktators außerordentlich weitgehend sein.
V. Die Diktatur des Reichspräsidenten Die Weimarer RVerf. trifft in Art. 48, Abs. 2/5 eine Regelung des Ausnahmezustands in der Weise, daß der Reichspräsident nach Art. 48, Abs. 2 befugt ist, wenn im Dtsch. Reich die öff. Sicherheit u. Ordnung erheblich gestört od. gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öff. Sicherheit u. Ordnung nötigen Maßnahmen zu treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschreiten. Zu diesem Zweck darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 u. 153 festgelegten Grundrechte ganz od. z. T. außer Kraft setzen. Dem Reichstag ist unverzüglich von allen getroffenen Maßnahmen Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. Bei Gefahr im Verzug kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen gleicher Art treffen. Diese Maßnahmen der Landesregierung sind auf Verlangen des Reichspräsidenten od. des Reichstags außer Kraft zu setzen. Nach Art. 48, Abs. 5 soll ein Reichsgesetz das Nähere bestimmen. Bisher (Juni 1926) ist dieses Reichsgesetz nicht ergangen; infolgedessen hat der Reichspräsident bis zum Erlaß dieses Gesetzes außerordentlich weitgehende Befugnisse, weil er nämlich zu allen nach Lage der Sache nötigen Maßnahmen berechtigt ist, ohne daß die dem oben genannten typischen System der rechtsstaat. Ausnahmezustandsgesetze entsprechende Umschreibung seiner Befugnisse vorgenommen wäre. Auf Grund des 3*
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Art. 48 konnte daher Sept. u. Okt. 1923 ein militär. Ausnahmezustand gegen Thüringen u. Sachsen eintreten, in dessen Verlauf der Militärbefehlshaber in Ausübung der vollziehenden Gewalt sogar das Zusammentreten des sächs. Landtags verbot u. ein Reichskommissar die sächs. Minister ihrer Ämter enthob. Auf Grund des Art. 48, Abs. 2 übt insbes. die Reichsregierung durch den Reichspräsidenten ein Verordnungsrecht aus, das sich zeitweilig nach seiner prakt. Auswirkung als ein neben dem ordentl. Gesetzgebungsrecht des Reichtags herlaufendes außerordentl. Gesetzgebungsrecht darstellt. VI. Die Diktatur des Proletariats Diese bedeutet in der Theorie des marxist. Sozialismus nur die Eroberung u. Ausübung der staatl. Macht durch eine bestimmte Klasse, das Proletariat, im Ggstz zur Bourgeoisie. Der Ausdruck „D. des Proletariats", der mehrfach von Marx u. Engels gebraucht wurde u. hauptsächlich auf eine Analogie mit der revolutionären D. der Jakobiner von 1793 zurückzuführen ist, wurde von den russ. Bolschewisten aufgegriffen, um die gewaltsame Eroberung der staatl. Macht, die Zertrümmerung der alten „Staatsmaschinerie" u. die Verletzung der demokrat. u. rechtsstaatl. Prinzipien zu rechtfertigen. Nach marxistisch-sozialist. Auffassung ist jeder Staat in Wahrheit D., d. h. ein Machtapparat, eine „Maschine" zur Unterdrückung einer Klasse durch die andere, u. die rechtl. Formen und Schranken der Ausübung der Staatsgewalt sind nur Schein, so daß Staat u. D. identisch werden. D. des Proletariats heißt also zunächst einfach proletar. Staat, ebenso wie der moderne Rechtsstaat mit seinen liberalen u. demokrat. Einrichtungen als eine D. der Bourgeoisie bezeichnet wird. Weil in der revolutionären Zeit des Übergangs vom bürgerlichkapitalist. Staat zum kommunist. Idealzustand ein proletar. Staat nötig ist, um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, so ist eben auch eine D. des Proletariats notwendig. Doch bekommt auch hier das Wort D. von Fall zu Fall einen versch. Sinn, je nachdem, was als normaler Zustand vorgestellt wird, d. h. D. kann den Gegensatz zu einer demokrat., d. h. durch eine auf allg. Wahlrecht beruhende Nationalversammlung begründeten Ordnung bedeuten, sie kann schließlich den Sinn von Gewaltanwendung im Ggstz zu friedl. Verständigung u. parlamentar. Diskussion erhalten. Nach dieser Übersicht ergibt sich die Bedeutung des Wortes Diktatur immer erst durch einen bestimmten Gegensatz, nämlich: a) zu den verfassungsmäßigen Schranken u. Garantien staatsbürgerl. Freiheit, welche der moderne Verfassungsstaat durch die sog. Teilung der Gewalten, d. h. die Trennung von Gesetzgebung, Verwaltung u. Rechtspflege, u. durch die Aufstellung von Grundrechten (persönl. Freiheit, Hausrecht, Preßfreiheit, Vereins- u. Versammlungsfreiheit) aufgestellt hat, b) zur parlamentar. Diskussion, d. h. zum friedl. Ausgleich der Gegensätze u. Meinungsverschiedenheiten im Wege gegenseitigen Verhandeins, Parlamentierens,
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c) zur bürgerl. Demokratie, d. h. zur Beteiligung aller Bürger an der Ausübung polit. Rechte ohne Unterschied der Klasse.
Schrifttum Zu 1.: Für die histor. u. philolog. Einzelheiten vgl. Fr. Bändel, Die röm. D. (Breslauer Diss., 1910). W. Soltau, Ursprung der D., in Hermes, Zeitschrift für klass. Philologie II, 352 ff., Plaumann, Klio 1913, 321 ff., Mommsen, Röm. Staatsrecht III 1242. Schiller-Vogt, Röm. Altertümer, im Handbuch der klass. Altertumswissenschaft IV, 2, S. 58 u. in PaulyWissowa, Real-Lexikon. - Zu 2.: C. Schmitt, Die D. von den Anfängen des modernen Staatsgedankens bis zum proletar. Klassenkampf (1921). - Zu 5.: Die D. des Reichspräsidenten; Referate von C. Schmitt u. Jacobi, in Heft 1 der Veröffentlichungen der Vereinigung dtsch. Staatsrechtslehrer (1924). - Zu 6.: Von den zahlr. Schriften u. Broschüren über diesen Kampf von Demokratie u. d. innerhalb des marxist. Sozialismus bleibt auf bolschewist. Seite die kurze Abhandlung von Lenin „Staat u. Revolution" (dtsch. 1918) die wichtigste Äußerung. Der Sozialdemokrat. Standpunkt ist von Karl Kautsky in „Terrorismus u. Kommunismus" (1919) vertreten.
Anhang des Herausgebers Der Artikel erschien im von Hermann Sacher herausgegebenen „Staatslexikon" der Görres-Gesellschaft, Bd. I, 5. Aufl., Freiburg i. Br. 1926, Herder-Verlag, Sp. 1448 - 1453. Die Anfangspassagen des Artikels wurden übernommen aus: Schmitt-Dorotic, Die Diktatur, 1921, S. 2 - 3 (Fußnoten); alle späteren Aufl. (ab 1928) mit gl. Paginierung. Johannes Heckel, Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand mit besonderer Rücksicht auf das Budgetrecht, AöR, 3 / 1932, S. 257 - 338, beklagte, daß eine Definition der Diktatur im deutschen Staatsrecht immer noch fehle, die hier vorgestellte Definition Schmitts aber „nicht auf Art. 48 Abs. 2 RV zugeschnitten sei" (S. 261). - Zur Diskussion z. Zt. des hier wiederabgedruckten Artikels vgl. u. a.: Fr. Wieser, Die modernen Diktaturen, ARWP, 1924/25, S. 607 - 623; Hermann Martin, Demokratie oder Diktatur?, Berlin 1926; Heinz Brauweiler, Schule der Politik. Unterrichtsbriefe, 1928, S. 202 ff. Vgl. auch die kurzen, begriffsgeschichtlichen Übersichten: E. Nolte, Diktatur, in: Geschichtliche Grundbegriffe, I, 1972, S. 900 - 924; J. Irmscher, Die Diktatur - Versuch einer Begriffsgeschichte, Klio, 2 / 1976, S. 273 - 287.
Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 der Reichsverfassung (sog. Diktaturgesetz)
Der oft wiederholte Satz, daß eine außerordentliche Sachlage außerordentliche Mittel zu ihrer Beseitigung verlangt, wird sehr verschieden ausgelegt, je nachdem man gefährliche Unruhen befürchtet oder im großen und ganzen ruhige Zeiten gekommen glaubt. Es entspricht aber jedenfalls den rechtsstaatlichen Gedankengängen des letzten Jahrhunderts, die außerordentlichen Befugnisse so genau wie möglich zu umgrenzen und unter Namen wie Kriegszustand, Belagerungszustand, Ausnahmezustand eine Reihe typischer Einrichtungen zu treffen, die einerseits besondere Befugnisse begründen, anderseits eine schrankenlose Diktatur verhindern.[l] Die Weimarer Verfassung konnte an der schwierigen Frage nicht vorbeigehen; die Praxis des „Kriegszustandes" (nach dem preußischen Belagerungszustandsgesetz von 1851 und dem bayerischen Kriegszustandsgesetz von 1912) [2] war 1919 noch in frischer Erinnerung; gleichzeitig war die Lage Deutschlands damals so gefährdet, daß man vernünftigerweise weitgehende Ausnahmebefugnisse erteilen mußte, um dieser Lage Herr zu werden. In dem berühmten Art. 48 wurden dem Reichspräsidenten diktatorische Befugnisse verliehen, im übrigen aber traf man keine endgültige abgeschlossene Regelung, sondern schuf einen eigenartigen Zwischenzustand, ein Provisorium, und sah im letzten Abschnitt dieses Artikels ein Reichsgesetz vor, durch welches „das Nähere" bestimmt werden sollte. Sieben Jahre hat dieses Provisorium gedauert und sich namentlich in den schweren Jahren 1920 1923 als unentbehrlich erwiesen. Wenn jetzt diese „nähere" Regelung, das sogen. Ausführungsgesetz zu Art. 48, ergehen soll, so entstehen für die Regelung des Ausnahmezustandes im Deutschen Reich zwei verschiedene Rechtsfragen: einmal die allgemeine Frage der rechtsstaatlichen Regelung des Ausnahmezustandes, außerdem aber die besondere Frage nach dem Verhältnis des sogenannten Ausführungsgesetzes zu den bereits geltenden Bestimmungen des Art. 48. Das Eigenartige der heutigen staatsrechtlichen Lage liegt nämlich darin, daß ein Teil des Ausnahmezustandsrechts durch die Verfassung bereits festgelegt ist. Es läßt sich aber nicht vermeiden, daß eine „nähere" Regelung Einschränkungen und Änderungen mit sich bringt, sobald derartig allgemeine Befugnisse, wie sie dem Reichspräsidenten nach Art. 48 zustehen, „näher" geregelt werden sollen. Was als geltendes Recht von der Verfassung bereits festgelegt ist, kann nicht durch ein einfaches Reichsgesetz oder ein Ausführungsgesetz geändert werden; es bedürfte vielmehr eines verfassungsändernden Gesetzes, für welches bei den heutigen Parteiverhältnissen die erforderliche Zweidrittelmehrheit kaum aufzubringen wäre. Die schwierige Frage ist also,
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wie weit die durch einfaches Reichsgesetz zu bewirkende nähere Regelung geht und wo die Verfassungsänderung beginnt.
I.
Das typische Bild einer rechtsstaatlichen Regelung des Ausnahmezustandes ergibt sich daraus, daß sowohl die Voraussetzungen der außerordentlichen Befugnisse wie auch der Inhalt dieser Befugnisse umschrieben und umgrenzt und außerdem eine besondere Kontrolle eingerichtet wird. Dabei muß allerdings ein gewisser Spielraum bleiben, weil sonst der Zweck der Einrichtung, ein energisches Eingreifen zu ermöglichen, entfiele und Staat und Verfassung in „Legalität" zugrunde gehen könnten. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Befugnisse können in der Weise umgrenzt werden, daß nähere Tatbestände wie Krieg und Aufruhr angegeben werden; während nach Art. 48 schon bei jeder erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die diktatorischen Befugnisse eintreten, würde doch eine Beschränkung auf Krieg und Aufruhr oder wenigstens die Gefahr eines solchen die Voraussetzungen wesentlich einengen. Ein großer Teil der seit 1919 auf Grund des Art. 48 angeordneten Maßnahmen wäre rechtlich nicht möglich gewesen, wenn eine ähnliche Einengung bereits bisher bestanden hätte. Neben dieser Einschränkung der sachlichen Voraussetzungen kommen noch weitere formelle Schranken vor: z. B. ausdrückliche, an bestimmte Formen gebundene „Erklärung" des Ausnahmezustandes (die in Art. 48 bisher nicht vorgesehen ist). In einigen Ländern ist sogar die Entscheidung über die Voraussetzungen und die Erklärung des Ausnahmezustandes dem Diktator selbst grundsätzlich entzogen und durch die Form des Gesetzes dem Parlament in die Hand gegeben. Zu der Einschränkung der Voraussetzungen kommt als weitere rechtsstaatliche Begrenzung eine genaue Angabe des Inhalts der außerordentlichen Befugnisse. Dem Diktator wird so genau wie möglich angegeben, welches die außerordentlichen Mittel sind, die er anwenden kann, sei es, daß ihm Verhaftungen, Haussuchungen, Beschlagnahme von Zeitungen usw. ausdrücklich erlaubt werden, sei es, daß er bestimmte Grundrechte wie Preß- und Versammlungsfreiheit außer Kraft setzen darf. Er kann ferner die Befugnis erhalten, Verordnungen zu erlassen, außerordentliche Gerichte einzusetzen, die in einem abgekürzten Verfahren entscheiden; es können an die Erklärung des Ausnahmezustandes Strafschärfungen für bestimmte Straftaten geknüpft werden usw. Mit allen diesen Aufzählungen ist gesagt, daß der Diktator über die aufgezählten Befugnisse hinaus keine Handlungsfreiheit hat, also keineswegs, wie heute der Reichspräsident nach Art. 48, von Fall zu Fall alle ihm nötig erscheinenden Maßnahmen treffen darf. Die dritte Art der rechtsstaatlichen Garantien liegt in der Kontrolle des Diktators und seiner Anordnungen. Es kann die Dauer des Ausnahmezustandes und der getroffenen Maßnahmen an einen bestimmten Zeitraum gebunden werden, nach des-
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sen Ablauf sie von selbst außer Kraft treten. Es ist ferner möglich, daß das Parlament als Kontrollinstanz tätig wird, wie schon nach Art. 48 Abs. 3 dem Reichstag von allen Maßnahmen Kenntnis zu geben ist und die Maßnahmen auf sein Verlangen außer Kraft gesetzt werden. Endlich kann auch gegen einzelne Anordnungen des Diktators oder der von ihm beauftragten Behörden, z. B. gegen ein einzelnes Zeitungsverbot oder gegen eine Schutzhaft ein Rechtsmittel, etwa eine Beschwerde bei einer verwaltungsgerichtlichen Instanz oder bei einem Staatsgerichtshof eröffnet werden.
II. Die Frage nach dem Verhältnis der vorgesehenen „näheren" Regelung zu dem bereits bestehenden Recht des Art. 48 wird für das Zustandekommen des beabsichtigten Ausführungsgesetzes vielleicht entscheidend sein. Bei den großen Meinungsverschiedenheiten, zu welchen die Auslegung des Art. 48 bisher schon geführt hat, kann es sehr zweifelhaft sein, wie weit eine Verfassungsänderung erforderlich ist oder ein einfaches Reichsgesetz genügt. Man wird davon ausgehen können, daß eine verfassungsmäßige Festlegung jedenfalls insoweit vorliegt, als die in Betracht kommenden zuständigen Organe durch Art. 48 bestimmt sind. Daraus folgt, daß nur der Reichspräsident (unter Gegenzeichnung der Minister) für die außerordentlichen Befugnisse des Ausnahmezustandes in Betracht kommt. Man kann ihm ausdrücklich die Befugnis erteilen, seine Befugnis durch Beauftragte ausüben zu lassen, es wäre aber eine Verfassungsänderung, wenn irgendeine andere Instanz, etwa die Reichsregierung, unter irgendeinem Vorwand eine selbständige Befugnis erhielte, oder wenn die den Landesregierungen nach Art. 48 Abs. 4 zustehende Befugnis an eine Zustimmung des Reichsrates geknüpft würde, oder die in Abs. 3 vorgesehene Kontrolle des Reichstages und (gegenüber den Landesregierungen) des Reichspräsidenten beschränkt werden sollte. Die Organisation des Ausnahmezustandes, wie sie hinsichtlich der zuständigen Organe im Art. 48 vorliegt, kann nur durch ein verfassungsänderndes Gesetz, nicht durch ein einfaches Ausführungsgesetz geändert werden. Weit schwieriger ist die Frage, wie weit Voraussetzungen und Inhalt der außerordentlichen Befugnisse gegenüber der weitgehenden Ermächtigung des Art. 48 in dem Ausführungsgesetz eingeschränkt werden können. Es ist also z. B. die Frage, ob durch einfaches Gesetz an die Stelle der ganz allgemeinen „erheblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" bestimmtere Tatbestände wie Kriegsgefahr oder Aufruhr gesetzt werden; ob der Reichspräsident verpflichtet werden kann, den Ausnahmezustand formell zu erklären, bevor er Maßnahmen auf Grund des Art. 48 trifft; ob die allgemeine Befugnis des Reichspräsidenten, alle zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen zu treffen, durch einen Katalog genau bestimmter Befugnisse beschränkt werden kann.
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Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie man die bereits geltenden Bestimmungen des Art. 48 über den Ausnahmezustand auffaßt. Eine verbreitete Auslegung sucht aus einem mißverstandenen rechtsstaatlichen Bedürfnis den Art. 48 dahin auszulegen, daß der Reichspräsident keineswegs alle Maßnahmen treffen darf, sondern jede einzelne Verfassungsbestimmung für ihn eine unüberwindliche Schranke ist, sofern es sich nicht um eines der sieben in Art. 48 Abs. 2 aufgezählten Grundrechte handelt, die außer Kraft gesetzt werden könnte. Der Reichspräsident dürfte also, wenn man diese Ansicht konsequent zu Ende denkt, keine Verordnung mit Gesetzeskraft erlassen, denn dadurch werden die Bestimmungen der Verfassung über die Gesetzgebung angetastet; er dürfte keinen Kommissar mit Befehlsbefugnissen in ein Land schicken, denn dadurch würde die verfassungsmäßig garantierte selbständige Landesverwaltung angetastet usw. Die Unrichtigkeit dieser Auffassung habe ich in meinem Bericht auf dem Staatsrechtslehrertag in Jena (April 1924) dargelegt.[3] Das Mißverständnis beruht letzten Endes darauf, daß man den provisorischen Charakter des Art. 48 Abs. 2 verkennt und glaubt, die rechtsstaatlichen Forderungen, die zweifellos zu erheben sind, bereits an den Art. 48 selbst stellen zu müssen, während es in Wahrheit im Jahre 1919 der Nationalversammlung darauf ankam, angesichts der unerhört schwierigen Lage zunächst einmal möglichst weitgehende Befugnisse zu geben und die Erfüllung der rechtsstaatlichen Forderungen der späteren „näheren" Regelung zu überlassen. Wer mit aller Gewalt diese typisch rechtsstaatlichen Forderungen bereits in die Verfassung selber hineinbringen will, nimmt dieser näheren Regelung jeden nennenswerten Inhalt und verbaut den Weg zu einer endgültigen Regelung. Richtiger Auffassung nach soll das in Abs. 5 vorgesehene Reichsgesetz das bisher offen gehaltene Provisorium des Art. 48 beenden und eine den rechtsstaatlichen Begriffen entsprechende Gestaltung des Ausnahmezustandes herbeiführen. Der Gesetzgeber ist dabei nicht an das Schema der bisherigen Belagerungszustandsgesetze gebunden, wohl aber hat er deren grundsätzliche Tendenz zu einer näher formulierten Umschreibung der Voraussetzungen und des Inhaltes aller diktatorischen Befugnisse zu übernehmen und aus der allgemeinen Ermächtigung des Art. 48 Abs. 2 ein Ausnahmezustandsgesetz im Sinne jenes Typus von Gesetzen zu schaffen. Hierfür bedarf es keines verfassungsändernden Gesetzes, auch wenn dadurch Voraussetzungen und Befugnisse des Reichspräsidenten erheblich eingeschränkt und neue Kontrollen geschaffen werden. Im Sommer 1919, als Art. 48 zustande kam, war man sich darüber klar, daß Deutschland sich in einer ganz abnormen Lage befand und deshalb zunächst einmal Befugnisse notwendig waren, die ein entschiedenes Handeln ermöglichten[4]. Wer glaubt, die Lage Deutschlands sei heute so weit normal, daß eine, wenn ich so sagen darf, normale (d. h. der typischen rechtsstaatlichen Entwicklung entsprechende) Regelung der Ausnahmebefugnisse an der Zeit ist, darf sich also nicht mit Einzelheiten begnügen, sondern muß für das Ausführungsgesetz eine detaillierte Aufzählung der Voraussetzungen wie des Inhaltes aller diktatorischen Befugnisse verlangen. Dazu bedarf es keiner Verfassungsänderung.
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. bes. H. Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 1967. [2] Vgl. C. Schmitt, Diktatur und Belagerungszustand, vorl. Ausg., S. 3 ff. [3] C. Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichs Verfassung, VVDStRL, 1924, S. 63 ff.; verändert nachgedruckt in: ders., Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 213 ff. (Anhang.) [4] Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, 1981, S. 691; dort auch S. 694 f. über das Fehlen d. Ausführungsgesetzes.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien am 30. 10. 1926 in der Kölnischen Volkszeitung. - Die Forderung nach einer Konkretisierung des Art. 48, Abs. 5 („Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz") wurde ab 1924 erhoben. So wurde auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer am 14. u. 15. 4. 1924 der „baldige Erlaß des durch Abs. 5 des Art. 48 verheißenen Ausführungsgesetzes . . . als eine dringende Notwendigkeit" bezeichnet (VVDStRL, 1924, S. 139). Die Forderung, auf eine Einschränkung der Diktaturbefugnisse des RPr zielend, wurde häufig mit der nach einem Reichs-Notverordnungsrecht verbunden. Vgl.: R. Piloty / R. Grau, Wie ist das im Art. 48 Abs. 5 RV vorgesehene Reichsgesetz über das Ausnahmerecht zu gestalten?, Verhandlungen des 33. Dt. Juristentages, 1924, S. 68 ff., S. 81 ff.; H. Nawiasky, Das Durchführungsgesetz zu Art. 48 RV, Das Recht, 1924, S. 454 ff. Kritisch dazu R. Thoma, Die Regelung der Diktaturgewalt, DJZ, 1924, Sp. 654 ff., der einwandte, „daß der Versuch, das Ausf.Ges. zu erlassen, sofort die Probleme einer Verfassungsrevision in Fluß bringen würde, was m. E. in der gegenwärtigen Lage trotz allem sorgfältig vermieden werden müßte" (ebd., Sp. 660); hingegen forderte Lobe, Der Untergang des Rechtsstaates, DJZ, 1/1925, Sp. 15 ff., energisch ein solches Gesetz. So auch Hugo Preuß, Die Bedeutung des Art. 48 d. Reichsverfassung, Die Hilfe, 15. 5. 1925, S. 225 f.: „Das nächste Erfordernis aber ist die Ausführung des letzten Absatzes des Artikels, der die nähere Regelung des Gegenstandes durch ein Reichsgesetz vorsieht. Die Erfahrungen, die bisher mit dem Gebrauch der außerordentlichen Vollmachten durch eine höchst bedenkliche Praxis gemacht worden sind, beweisen die dringliche Notwendigkeit eines solchen beschränkenden Gesetzes und weisen zugleich auf die Punkte hin, wo dieses Gesetz den bisherigen Mißbräuchen einen Riegel vorschieben muß." Ähnlich v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre u. Wirklichkeit, 1924, S. 146: „Dieses Reichsgesetz ist bis zum heutigen Tage nicht ergangen. Infolgedessen wird dieser ganze, so überaus wichtige Gegenstand ausschließlich durch die Bestimmungen des Art. 48 geregelt. Das Ergebnis ist, daß dem Präsidenten eine Gewalt zusteht, wie sie der Kaiser nie besessen hat und daß die ärgsten Mißbräuche möglich sind." (Hier wohl aus der grundsätzl. Feindschaft d. Autors ggü. d. WRV heraus zu verstehen sowie aus der Angst, der Art. 48 könne eine linke Machtergreifung von oben erleichtern.) - Das Projekt eines Ausführungsgesetzes kam durch den Einspruch des Reichswehrministeriums (Denkschrift v. 12. 11. 1926) und die ablehnende Haltung v. Hindenburgs (Schreiben an Reichskanzler Marx, 22. 11. 1926) zu Fall. Das Reichswehrministerium hielt ein Ausführungsgesetz für einen „Widerspruch in sich: . . . Je enger die Formen sind, in welche ein Ausführungsgesetz die
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Staatsnotwehr des Artikels 48 pressen will, je größer wird die Gefahr, daß eine schwache Exekutivgewalt - im Banne dieser Form - das Reich zerbrechen läßt, wie auf der anderen Seite die Gefahr, daß eine starke Hand gezwungen wird, zum Zwecke der Erhaltung des Staates die untaugliche gesetzliche Form zu zerbrechen." (Zit. nach: G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, 2. Aufl. 1987, S. 475 f.) v. Hindenburg beschloß seine Ablehnung mit den Worten: „Ich . . . halte es für richtig,bereits jetzt zu bemerken, daß, wenn ich mich überhaupt zur Vollziehung eines solches Gesetzes entschließen könnte, ich verlangen müßte, daß das Gesetz mit der verfassungsändernden Mehrheit angenommen ist." (Ebd., S. 476; der Brief faksimiliert S. 647 - 658.) Vgl. auch: E. Falck, Voss. Ztg., 17. 11. 1926; E. Feder, Berliner Tageblatt, 19. 11. 1926; C. Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, VVDStRL, 1924, S. 63 - 103, hier S. 89 f.; Ndr. in ders., Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 241 f.; K. Loewenstein, Erscheinungsformen d. Verf.änderung, 1931, S. 139 ff.; Schmitt, Die staatsrechtl. Bedeutung d. Notverordnung, 1931, in: ders., Verfass.rechtl. Aufsätze, 1958, S. 235 ff. (bes. S. 237 f., 257, 262); Anschütz, D. Verf. d. Dt. Reichs, 14. Aufl. 1933, S. 282 f. - Besonders nachdrücklich forderte die Sozialdemokratie ein Ausführungsgesetz, vgl.: E. Kempf, Der Ausnahmezustand des Artikel 48 der Reichsverfassung, Die Gesellschaft, 1929,1, S. 318 - 25 u. W. Luthardt, Sozialdemokratische Verfassungstheorie in der Weimarer Republik, 1986, S. 130 ff. Interessanterweise schrieb Schmitt noch am 28. 7. 1930, wenn auch auf frühere Stellungnahmen seinerseits zum Art. 48 zurückblickend, von der „Notwendigkeit, durch das in Abs. 5 vorgesehene Ausführungsgesetz eine endgültige Regelung des Ausnahmezustandes und darin auch ein Verordnungsrecht in kürzester Zeit herbeizuführen" (Schmitt, Verfassungsrechtliches Gutachten über die Frage, ob der Reichspräsident befugt ist, auf Grund des Art. 48 Abs. 2 RV finanzgesetzvertretende Verordnungen zu erlassen, maschinenschriftl., 24 S., hier S. 6). - Ein bedeutsamer Punkt in den Debatten um den Abs. 5 war dabei oft die verschiedene Auslegung des Art. 48 durch das Reich und die Länder, spez. durch Bayern, wo die Meinung vertreten wurde, daß die Länder nicht nur eine vom Reichspräsidenten abgeleitete, sondern selbständige Befugnis zur Verhängung des Ausnahmezustands besäßen - gewöhnlich wurde diese These mit der Behauptung einer „Eigenstaatlichkeit" verbunden. Vgl. dazu etwa: E. Forsthoff, Der Ausnahmezustand der Länder, Annalen des Deutschen Reichs, 1926, S. 138 - 194, bes. S. 161 ff.; E. R. Huber, Militärgewalt, Notstandsgewalt, Verfassungsschutzgewalt in den Konflikten zwischen Bayern und dem Reich, in: ders., Bewahrung und Wandlung, 1975, S. 171 - 192; ders., Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 210 ff., 249 ff., 347 ff.; A. Kurz, Demokratische Diktatur?, 1992, S. 94 ff.
Der bürgerliche Rechtsstaat
I.
Das neue Deutsche Reich ist eine konstitutionelle Demokratie. Es hat eine Verfassung, wie es unter der Monarchie eine Verfassung hatte; hier im „Konstitutionellen" liegt eine wesentliche Kontinuität, die das heutige Reich mit dem alten Reich von 1871 verbindet. Das bedeutet: beide Staatsformen, in denen das Deutsche Reich gelebt hat, die Monarchie und die Demokratie, wurden durch den Gesichtspunkt des bürgerlichen Rechtsstaates modifiziert und relativiert. Es liegt kein Bruch, keine Revolution im strengen juristischen Sinne zwischen der alten und der neuen Staatsform vor. Eine konstitutionelle Demokratie hat eine konstitutionelle Monarchie abgelöst. Das deutsche Reich ist keine Demokratie schlechthin, sondern eine konstitutionelle Demokratie. Die Konstitution des Deutschen Reiches, das bürgerlich-rechtsstaatliche Element in der neuen Demokratie, ist die Weimarer Verfassung. Es hat sich gezeigt, daß die Weimarer Verfassung, anders, als es ihre Urheber erwartet haben und ihre Verteidiger in Anspruch nehmen, nicht sehr im Bewußtsein des deutschen Staatsbürgers lebendig ist. Wie kommt es, daß sie für die allgemeine Auffassung etwas Leeres und Unbefriedigendes hat? Das erklärt sich aus verschiedenen Gründen. Einmal gilt, daß dem Deutschen Reich überhaupt ein großer Teil seiner politischen Substanz zurzeit genommen ist, und zwar deshalb, weil entscheidende politische Fragen von außen her erledigt sind. Durch den Vertrag von Versailles und seine Ausführung, durch den Dawesplan, durch mehr oder weniger freiwillig eingegangene Verträge ist die auswärtige, aber auch zum Teil die innere Politik des Deutschen Reiches auf Jahrzehnte hinaus festgelegt. Das Reich ist noch nicht wieder im Besitz seiner vollen Souveränität, und der dadurch verursachte Mangel an politischer Substanz würde jede Verfassung in ihrer Bedeutung relativieren^ 1] Dazu kommt ein weiteres geschichtliches Moment: die Weimarer Verfassung ist in gewissem Sinne etwas Posthumes. Sie verwirklicht Forderungen, Ideale und Programme, die schon 1848 aktuell waren. Die liberal-rechtsstaatlichen Ideen dieser Zeit sind 1870 nur zum kleinen Teil bei der Neugründung des Reiches in die Verfassung Bismarcks eingegangen. Im übrigen wurden sie zwei Generationen zurückgedrängt. Sie gelangten erst zur Verwirklichung, als im Jahre 1918 bei dem Zusammenbruch die Monarchie, der Gegner von 1848, verschwunden war, nicht, weil er innenpolitisch besiegt war, sondern weil eine außenpolitische, militärische
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Niederlage ihn von selbst beseitigte. Nach zwei Generationen siegten die Ideen von 1848 ohne Kampf. Es ist so, wie wenn ein junger Mann von 20 Jahren, der sich um ein gleichaltriges Mädchen bemüht hat, aber zugunsten eines Nebenbuhlers abgewiesen wurde, Jahrzehnte später die Witwe erringt. So mußte die Verwirklichung des liberalen Programmes, die 1848, wenn sie erkämpft worden wäre, ein glänzender Sieg gewesen wäre, 1919, als sie den Erben des Zusammenbruches kampflos in den Schoß fiel, zu spät kommen. Das ist ein weiterer Grund für jenes Gefühl der Leere, jene Begeisterungslosigkeit, die man heute der Verfassung gegenüber empfindet, [la] Die eigentliche Erklärung aber für jenen Eindruck trägt die Weimarer Verfassung in sich selbst. Wir müssen versuchen, in zwei Sätzen auf ihre Struktur einzugehen. Diese Verfassung ist typisch nach dem 1789 inaugurierten Verfassungsschema gestaltet. Das ideologische Bewußtsein, daß die Zeit heute völlig anders geworden ist, mag wohl in einzelnen Trägern der sogenannten Revolution von 1918 in etwa vorhanden gewesen sein, es sind aber nicht einmal Ansätze davon tatsächlich in der Verfassung zum Ausdruck gekommen. Denn was war die Entscheidung, vor die sich das Deutschland des Kriegsendes gestellt sah? Es wurde mit einem Mal deutlich, wie es zwischen Westen und Osten stand. Es zeigte sich damals, daß Rußland im Grunde nur vorübergehend in der Front des liberalen Kreuzzuges gegen Deutschland gestanden hatte. Es hatte sich in der bolschewistischen Revolution erwiesen, wie wenig Rußland je Rechtsstaat im westeuropäischen Sinne sein kann. Eine deutsche Verfassung hätte die Entscheidung zwischen Osten und Westen oder aber eine aus der vollen Kraft deutscher Besonderheit stammende Entscheidung enthalten müssen. Aus dem Gefühl dieser Notwendigkeit erklärt sich das sozialpolitische Programm des zweiten Teiles der Weimarer Verfassung. Die politische Entscheidung, die Substanz der Verfassung, ist für den Westen gefallen, für die bürgerlich-rechtsstaatliche Tradition von 1789. Dieser bürgerliche Rechtsstaat ist allgemein dadurch gekennzeichnet, daß er auf den Grundrechten der einzelnen und dem Prinzip der Gewaltenunterscheidung aufbaut. Dabei wird die Freiheit des einzelnen als prinzipiell unbegrenzt, der Staat und seine Gewalt als begrenzt gesetzt. Was der Staat darf, wird ihm genau zugemessen. Überall werden Kontrollorgane eingefügt und juristisch gesichert. Unbegrenzt ist dagegen die persönliche Freiheit des einzelnen. Sie ist nicht nach Gesetzen geregelt, und die unumgänglichen Ausnahmen von ihr bedürfen der Maßgabe vorher bestimmter Normen. Ausgangspunkt ist die Sphäre unbegrenzter Möglichkeiten für den einzelnen; die allseitige Kontrollierbarkeit des Staates. Dieses liberale Verteilungsprinzip durchzieht die gesamte Organisation des Staates. Aufs genaueste werden die staatlichen Befugnisse eingeteilt und die Möglichkeiten der Herrschaft gegeneinander ausbalanciert. Hier interessiert die eigentlich politische Frage nach dem Verhältnis vom bürgerlichen Rechtsstaat und Staatsform. Diese Frage wird durch die „Gewaltentei-
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Erster Teil: Verfassung und Diktatur
lung" eskamotiert. Es ist überhaupt nicht mehr von Staatsform die Rede, sondern von der Organisation der Gesetzgebung, der Exekutive usw. Auch Demokratie ist nun nicht mehr Staatsform, sondern etwa Organisationsform der Gesetzgebung. Dadurch werden natürlich alle Konsequenzen des Demokratischen im politischen Sinne verhindert. Im Widerspiel dazu wird die Exekution monarchisch organisiert, weil man die „Gewalten nicht teilen" kann, ohne sie nach verschiedenen, entgegengesetzen Formprinzipien zu organisieren. Der bürgerliche Rechtsstaat ist infolge dessen ein status mixtus, der absichtlich entgegengesetzte Prinzipien gegeneinander ausbalanciert, aber nicht im Interesse der politischen Einheit, sondern der individuellen Freiheit. Eine absolute Demokratie vernichtet nicht weniger die Freiheit als eine absolute Monarchie. Immer ergibt sich diese Konsequenz, wenn das monarchische oder das aristokratische oder das demokratische Formelement rein durchgeführt wird. Wenn der bürgerliche Rechtsstaat alle drei Elemente gegeneinander ausbalanciert, ohne daß eines allein konsequent durchgeführt würde, so bleibt sein Grundprinzip, die Unkontrollierbarkeit des einzelnen, intakt, die Substanz des Politischen aber wird zerstört. Die beiden Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates, Freiheit des einzelnen und Gewaltenteilung, sind beide unpolitisch. Sie enthalten keine Formen des Staates, sondern Methoden der Organisation von Hemmungen des Staates. Hier zeigt sich der unmittelbare Einfluß liberalen Denkens, das allen Formelementen feindlich ist. „Die Freiheit konstituiert nichts." (Mazzini).[2] Es muß vor allem betont werden, daß der bürgerliche Rechtsstaat keine Form des Staates und für sich keine Verfassung, sondern nur ein System von Kontrollen des Staates ist. Die typische Erscheinungsform des rechtsstaatlichen Liberalismus ist das parlamentarische System. Es enthält aristokratische und monarchische Elemente und ist in allem eine aus dem liberalen Interesse entstandene Formenmischung, um das eigentlich Politische zu hemmen, wo es sich zeigt. Es ist die Form, die sich das Bürgertum zum Schutz vor dem Staat geschaffen hat, also eine antipolitische Form, wie das liberale Bürgertum selbst etwas Unpolitisches ist. Es ist immer aufgefallen, wie widerspruchsvoll die Haltung des liberalen Bürgertums zu politischen Dingen stets gewesen ist. Es hat gegen die Demokratie die Monarchie ausgespielt und umgekehrt, ohne sich je für eine bestimmte Staatsform zu entscheiden. Das Schema des bürgerlichen Rechtsstaates, dessen Sinn gerade darin besteht, eine politische Form zu vermeiden, hat das Bürgertum endgültig in der heute geltenden französischen Verfassung von 1875 gefunden.[3] Es kulminiert im parlamentarischen System. Das vom Volk unabhängige Parlament macht den Höhepunkt des bürgerlichen Rechtsstaates aus. Der Parlamentarismus stellt sich als ein kompliziertes System einer Mischung politischer Formen dar. An dem demokratischen Prinzip der Abhängigkeit des Parlamentes vom Volk wird festgehalten, aber es sind doch genug Gegenmomente wirksam. Die Regierung ist gleichzeitig abhängig und unabhängig vom Parlament, am wichtigsten ist ihre verklausulierte Auflösungsbefugnis. Die Stellung des Reichspräsidenten ist ganz wie
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die eines Monarchen auf Zeit konstruiert, aber auch hier trifft die politische Form der Monarchie mit der aristokratischen und demokratischen zusammen. Nirgends werden die Konsequenzen einer politischen Form gezogen. Was ist aber der Sinn der ganzen Sache? Die Aufgabe des Parlamentes besteht darin, die politische Einheit zu integrieren, d. h. die politische Einheit einer klassenmäßig, interessenmäßig, kulturell, konfessionell heterogenen Masse eines Volkes zu einer politischen Einheit immer von neuem zu bilden. Damit das Volk im Staat zur politischen Existenz kommt, ist eine bestimmte Gleichartigkeit, eine Homogenität erforderlich. Die Einrichtungen eines Staates haben die Funktion, diese Gleichartigkeit möglich zu machen und täglich aufs neue wiederherzustellen. Im bürgerlichen Rechtsstaat mit seinem Parlamentarismus handelt es sich um eine bestimmte Aufgabe: das Bürgertum, d. h. eine durch die beiden Merkmale Besitz und Bildung charakterisierte Bevölkerungsgruppe, in den damals vorhandenen monarchischen Staat zu integrieren. Es ist nun notwendig, die Relativität des Versuches zu erkennen, auf dem Wege über das Parlament zur politischen Einheit des Volkes zu kommen. Als der Versuch zuerst unternommen wurde, stand die neue Klasse des Bürgertums dem monarchischen Staat gegenüber. Es ging um ihre Einordnung in diesen. Inzwischen aber ist der Gegenspieler, die Monarchie, entfallen, der seine Kräfte aus einer anderen Zeit zog. Schon deshalb muß das ganze System leerlaufen. Das System hatte den Sinn der Integration des Bürgertums in den monarchischen Staat. Diesen Sinn hat es erfüllt. Heute aber ist die Situation völlig anders geworden. Heute geht es darum, das Proletariat, eine nicht besitzende und nicht gebildete Masse, in eine politische Einheit zu integrieren. Für diese Aufgabe, die noch kaum ins Auge gefaßt worden ist, sind heute immer noch nur die Apparate und Maschinen zur Verfügung, die jener alten Aufgabe der Integrierung des gebildeten Bürgertums dienen. Die Verfassung ist ein solcher Apparat. Daher kommt uns alles so künstlich gemacht vor, daher entsteht dieses Gefühl der Leere, das man so leicht der Weimarer Verfassung gegenüber hat. Nach einem bekannten Worte Spenglers ist die Weimarer Verfassung der englische Konfektionsanzug, den das Deutsche Reich 1919 übernommen hat. [4] Man hat eben 1919 keine andere angemessenere Form finden können. Die Weimarer Verfassung ist ein Notbau [4a] und hat als solcher ihren Wert. Das Demokratische ist in dieser Verfassung doch stark genug hervorgehoben, so daß das Volk jederzeit die Möglichkeit hat, trotz aller Hemmungen und Ventile und hinter der Mauer, die von den Ideen des bürgerlichen Rechtsstaates her gebaut werden, seine politische Form zu finden. Es handelt sich für die Verfassungsentwicklung der nächsten Zeit darum, die Demokratie aus ihrer Verhüllung durch liberale Momente zu retten. Nur so, nicht durch ein liberales Desinteressement an den Fragen der Staatsform und Verfassung, kann die durch die neue Bedeutung des Proletariates geschaffene neue Situation politisch gemeistert und die politische Einheit des deutschen Staatsvolkes neu geschaffen werden.
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II. Die Tatsache, daß auch in der heutigen deutschen Demokratie überall vermieden wird, die Konsequenzen des Demokratischen zu ziehen, läßt sich an vielen Beispielen deutlich machen. Die Demokratie ist heute Demokratie ohne Demos, ohne Volk. Das demokratische Prinzip verlangt, daß das Volk in seiner Gesamtheit verantwortlich entscheidet und regiert. Die Methoden aber, mit denen die heutige Demokratie die Souveränität des Volkes ins Werk zu setzen sucht, sind nicht demokratische, sondern liberale Methoden. Heute kommt die politische Entscheidung des Volkes durch geheime Einzelabstimmung zustande. Das bedeutet: die einzelnen sind in dem einzigen Momente, in dem sie öffentliche Verantwortung tragen, isoliert. Sowohl beim Volksbegehren und Volksentscheid^] wie bei den Wahlen zum Parlament wird der einzelne in ein Wahlkabinett gesperrt und gibt so seine Stimme ab. Volk aber ist nur versammeltes Volk. Öffentliche Meinung ist nicht die Summe der privaten Meinung jedes einzelnen. Wenn der einzelne zu Hause sitzt und Radio hört, so ist selbst seine wörtlich mit der Meinung aller übereinstimmende Meinung noch nicht öffentliche Meinung. Das Merkwürdige ist: in unserer demokratischen Verfassung erscheint nirgends das versammelte Volk, immer gibt es nur versammelte Vertreter, das aus der Masse herausgenommene Individuum. Wo steckt nach Verfassungstext und Wirklichkeit im bürgerlichen Rechtsstaat überhaupt Volk? Wo gibt es Raum für eine Akklamation, die nur geschehen kann, wenn durch das anwesende versammelte Volk Öffentlichkeit hergestellt wird?[6] Es gibt keine Öffentlichkeit ohne Volk, und es gibt kein Volk ohne Öffentlichkeit. Wo ist also heute bei den Methoden der geheimen Abstimmung Öffentlichkeit, und wo ist Volk? Ein weiteres: Demokratie ist Mehrheitsentscheidung. Sie hat den Sinn, daß die politischen Fragen im Sinne der politisch verantwortlichen Überzeugung der Mehrheit des Volkes geregelt werden. Der Liberalismus aber geht darauf aus, gerade diese politische Entscheidung zu vernichten, unmöglich zu machen. Dazu dient die geheime Einzelabstimmung. Denn das Ergebnis einer solchen Abstimmung wird immer das Überwiegen der politisch Uninteressierten gegenüber den Trägern bewußter politischer Verantwortung sein. Die Mehrheitsentscheidung durch geheime Einzelabstimmung tendiert notwendig zum Minimum an politischer Entscheidung. Alle napoleonischen Plebiszite brachten eine überwältigende Mehrheit für , Ja". Das war 1799, 1804, 1814 so, aber auch 1851 und 1852; nach jedem Putsch akklamierte das Volk der dadurch geschaffenen Macht durch sein Ja. Umgekehrt hat man in der Schweiz gefunden, daß gegenüber neuen Gesetzen meistens mit Nein gestimmt wurde. Der Grund dafür ist der gleiche wie in Frankreich: niemand wollte gegen den Status quo stimmen. Am bekanntesten ist der Fall der schweizerischen Sozialversicherung, die Jahrzehnte für ihre Durchsetzung gebraucht hat. Das Volk sagt immer Nein, wenn etwas Neues verlangt wird. Die Mehrheit der in geheimer Wahl Abstimmenden ist immer geneigt, sich der politischen Entscheidung
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zu entziehen oder sie wenigstens auf ein Minimum einzuschränken. Im Falle der napoleonischen Volksentscheide liegt darin keine verantwortliche Übernahme einer schöpferischen Entscheidung: Das Volk sah sich vor vollendete Tatsachen gestellt, die Entscheidung war längst gefallen. Das Ja besagt dann nur, daß Geschehenes approbiert wird. Das Nein der schweizerischen Bürger besagt genau dasselbe: Wir wollen nicht mit der Entscheidung behelligt werden, sondern die Sache auf sich beruhen lassen. Ähnliches läßt sich bei der Art und Weise feststellen, mit der heute das deutsche Volk sich in der Flaggenfrage „entscheidet".[7] Auffallend ist hier die Vorliebe für neutrale Farben, für die Farben des Landes, der Stadt usw. Man scheut sich, Stellung zu nehmen, man will nicht belästigt sein mit diesen politischen Fragen. Die Methode der geheimen Einzelabstimmung führt dazu, daß die politischen Fragen von all diesen politisch Uninteressierten und politisch Unverantwortlichen entschieden werden. Man kann sagen: Je mehr sich eine Bevölkerungsgruppe der politischen Entscheidung und Verantwortung zu entziehen versucht, um so größer wird bei den heutigen Methoden ihr politischer Einfluß. Es ist nicht nur ein Zufall, wenn im Parlament eine Wirtschaftspartei[8] die Rolle des Züngleins an der Waage übernimmt, und es geschieht bei den lebenswichtigsten Fragen, daß die Mehrheit derer entscheidet, die zu Hause bleiben und nicht abstimmen. Dieser Übelstand wird durch die Weimarer Verfassung eher gefördert als gehemmt. In der Frage der Fürstenenteignung z. B. wäre es möglich gewesen, eine große allgemeine Akklamation des Volkes für oder gegen die Fürsten herbeizuführen. [9] Aber Artikel 75 der Weimarer Verfassung bestimmt, daß bei einer solchen Volksabstimmung die Mehrheit der Stimmberechtigten teilnehmen muß. [10] Die Parolen, die hierbei die einzelnen Parteien ausgegeben haben, und das endliche Ergebnis der Kampagne sind noch in aller Erinnerung. Die zu Hause blieben, sich nicht entschieden, bestimmten das Resultat. Das ist heute die Wirklichkeit des Satzes: Mehrheit entscheidet. Jede Demokratie setzt volle Homogenität des Volkes voraus. Nur eine solche Einheit kann Träger der politischen Verantwortung sein. Handelt es sich, wie beim heutigen Staat, um ein heterogen zusammengesetztes Volk, so wird die Integrierung dieser Massen zur Einheit Aufgabe. Die echte demokratische Methode ist keine Methode zur Integrierung heterogener Massen. Das heutige Staatsvolk ist aber in vielen Beziehungen - kulturell, sozial, klassenmäßig, rassenmäßig, religiös - gespalten. Es muß also eine Lösung außerhalb dieser demokratisch-politischen Methoden gesucht werden, oder das Parlament wird die Tribüne, die die Gegensätze gerade hervortreten lassen soll. Heute ist diese notwendige politische Einheit in Deutschland mehr notdürftig von außen hergestellt. Das Deutsche Reich ist in erster Linie eine Reparationseinheit; als solche tritt es nach außen hin in die Erscheinung. Es ist aber politisch nichts notwendiger, als die Aufgabe der Integrierung des deutschen Volkes zur politischen Einheit von innen her ins Auge zu fassen. Dazu ist vor allem die theoretische Besinnung und die klare Erkenntnis der Gefahren und Widersprüche der augenblicklichen Situation notwendig. Gerade die zentrale Aufgabe, das Proletariat 4 Staat, Großraum, Nomos
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in den neuen Staat zu integrieren, läßt die Unzulänglichkeit der Methoden des bürgerlichen Rechtsstaates erkennen.[ll]
Anmerkungen des Herausgebers [1] Schmitt scheint hier d. These, daß d. Versailler Vertrag d. WRV „vorgehe" (so Anschütz, D. Verfassung d. Dt. Reichs, 3. / 4. Aufl. 1926, S. 433; Ausg. 1933, S. 763) näher zu stehen als in s. Verfassungslehre, 1928, S. 72, wo der Art. 178, Abs. 2 RV, Satz 3 („Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichneten Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht berührt") mit d. Kommentar bedacht wird, daß „dieser Satz der Weimarer Verfassung . . . keinen Verzicht auf d. politische Existenz u. d. Selbstbestimmungsrecht d. dt. Volkes (bedeute), sondern . . . nur (besage), daß d. Dt. Reich sich d. völkerrechtlich bindenden Verpflichtungen dieses Vertrages nicht unter Berufung auf verfassungsgesetzliche Bestimmungen entziehen will". Vgl. a. Pohl, Reichsverfassung u. Versailler Vertrag, 1927; H. Gerber, Die Beschränkung d. dt. Souveränität nach d. Versailler Vertrage, 1927; H. Dorn, Bindungen der deutschen Souveränität nach d. Versailler Vertrag u. dem Londoner Abkommen, in: B. Harms (Hrsg.), Recht und Staat im Neuen Deutschland, 1929, II, S. 334 ff.; E. R. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, V, 1978, S. 1174, schreibt: „Da alle Bestimmungen d. Friedensvertrags wie alle seinem Vollzug dienenden Maßnahmen den Vorrang vor der Reichsverfassung beanspruchten, war die Verfassungsautonomie d. deutschen Republik auf das schwerste beeinträchtigt." Nawiasky, Die Grundgedanken d. Reichsverfassung, 1920, S. 18, schrieb u. a.: „In der Einleitung heißt es voll Selbstbewußtsein: ,Das deutsche Volk,... von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit zu erneuern und zu festigen Ganz schüchtern bemerkt Artikel 178 III: ,Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles geschlossenen Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht berührt.' In Wirklichkeit gehen sie allen Bestimmungen der Verfassung vor - dies ist die Erneuerung des Reiches in Freiheit!" - v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, spricht S. 17 von einer „Unterwerfung der Verfassung unter den Versailler Vertrag"; noch schärfer S. 30: „Diese grundsätzliche Anerkennung des Satzes, daß die von einer außenstehenden, Deutschland aufgezwungenen Vorschriften den Vorrang vor der eigenen Verfassung haben, bedeutet das unumwundene Eingeständnis, daß das heutige Reich kein souveräner, kein unabhängiger Staat ist." Anders Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, bes. S. 21: „Die Friedensbestimmungen werden nicht etwa Bestandteil der Verfassung, gewinnen keinen Anteil am Verfassungsschutz oder an den Verfassungsgarantien . . . ; denn die Selbstbeschränkung der Verfassung reicht nur so weit, daß die Geltung des Friedensgesetzes durch sie nicht berührt wird, ohne einer späteren Gesetzgebung vorzugreifen. Dies führt uns eben zur Annahme einer bevorzugten Rezeption, welche eine erhöhte Geltung der Friedensbestimmungen ausschließt und damit den fundamentalen Charakter der Reichsverfassung als Rechtsquelle wahrt." - Daß der Versailler Vertrag der WRV „vorgehe", zeigte sich deutlich in der Frage des Verhältnisses zu Österreich. Der Art. 61, Abs. 2 d. WRV („Deutschösterreich erhält nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die Vertreter Deutschösterreichs beratende Stimme.") rief sofort die Alliierten auf den Plan, die energisch auf d. Art. 80 des Versailler Vertrages hinwiesen („Deutschland anerkennt die Unabhängigkeit Österreichs und wird sie streng in den durch den gegenwärtigen Vertrag festgesetzten Grenzen als unabänderlich betrachten, es sei denn mit Zustimmung des Rates des Volkerbun-
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des.")» aber auch den Art. 178, Abs. 2, 1, unterstrichen; vgl. dazu die Notenwechsel zwischen Clemenceau und der Dt. Friedensdelegation v. 2. 9., 5. 9., 11. 9. u. 18. 9. 1919 in: H. Pohl/C. Sartorius, Modernes Völkerrecht, Dok., 1922, S. 401 - 406, 435 - 440. Aufgrund des Druckes der Alliierten stellte die Reichsregierung in einem Protokoll v. 22. 9. 1919 die „Ungültigkeit" des Art. 61, Abs. 2, fest (Text in Pohl/Sartorius, S. 440 f.; auch in Triepel, Quellensammlung zum Dt. Reichsstaatsrecht, Ausg. 1931, S. 76). Dieses Protokoll wurde nicht im RGBl, verkündet, so daß ihm keine Gesetzeskraft zukam; dazu Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Ausg. 1933, S. 340 f. - Zur Neuregelung der deutschen Reparationszahlungen durch den Dawes-Plan (nach Charles G. Dawes, 1865- 1951, zw. 1925 u. 1929 Vizepräsident der USA), bei der Schmitts Freund J. Popitz eine bedeutende Rolle spielte, vgl. u. a.: M. Sering, Deutschland unter dem Dawes-Plan, 1928; E. Salin, Die deutschen Tribute, 1930, S. 104 - 42; E. Eyck, Geschichte d. Weimarer Republik, I, 1956, S. 403 - 29; Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 459 ff., 493, 504 - 16. Den Zusammenhang des Plans mit Stresemanns Stabilisierungspolitik erörtert: A. Rosenberg, Geschichte der Deutschen Republik, Karlsbad 1935, S. 181 - 84. [la] Schmitt nimmt hier ein Argument W. Rathenaus auf, vgl. Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates (1929), in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 112: „Auch die Weimarer Verfassung von 1919 entspricht im wesentlichen dem alten Typus und könnte, wie Rathenau richtig gesagt hat, von 1848 sein". Vermutlich denkt Schmitt an Rathenaus Aufsatz v. Juni 1920, „Reden wir deutsch!", in dem es u. a. heißt: „ . . . im Westen (ist) der formaldemokratische Gedanke schwer erschüttert: durch das Entsetzen des Krieges, durch die tiefere Forschung nach der Ursache, durch die Stärkung der Proletariate, durch Not und Teuerung, durch die Atmosphäre der kontinentalen Revolutionen, durch Rußland. England wird der erste Staat sein, der ohne viel Theorie, ohne viel Gerede und ohne starke Erschütterung die demokratisch-plutokratische Staatsform durch neuzeitliche Gebilde ersetzt. - In diesem Augenblick führen wir die formale Demokratie in ihrer herrlichsten Form ein; als letzte Neuheit in der Form von 1848. Kein Hauch eines neuen Gedankens hat sich in Weimar geregt, der alte Liberalismus feierte goldne Hochzeit in Vatermördern und Krinoline. - In keinem Lande ist Biedermeierdemokratie gefährlicher als bei uns, und zu keiner Zeit war sie gefährlicher als heute." (Zit. nach: W. Rathenau, Schriften, ausgew. v. A. Harttung u. a., 1965, S. 317); vgl. dazu: F. Muralt (Ps. f. E. Hurwicz), Der ,Tat'-Kreis der Dichter und Denker, Hochland, Okt. 1932, S. 50 - 64, hier S. 53. - Ähnlich, wenn auch noch schärfer, Ernst Niekisch: „Der Bürger hatte in Weimar dem Arbeiter den Absud der Frankfurter Verfassung des Jahres 1849 vorgesetzt. Daß der Bürger das nationalliberale Erbe seiner Väter aus dem Schrank hervorholte und es nicht feierlich verleugnete, ließ der Arbeiter als vollwertiges bürgerliches Zugeständnis gelten. Der Bürger brachte das Petrefakt seiner ehemaligen revolutionären Produktivität an den Mann . . . Er machte sich ein Verdienst daraus, 1919 so weit zu gehen, wie er 1849 hatte kommen wollen." (Niekisch, Die Legende von der Weimarer Republik, 1968, S. 57 f.). Walter Gerhart (= W. Gurian), Um des Reiches Zukunft, 1932, S. 67, schrieb, daß der Weimarer Staat „als Fortsetzung der alten bürgerlichen Ordnung (erschien). Im besten Falle wirkte er als eine zu spät kommende Erfüllung der Ideen von 1789 und eine unzeitgemäße Aufnahme der Bestrebungen von 1848." Forsthoff, Der totale Staat, 1933, S. 19: „Was das Verfassungswerk von Weimar an konkreten, faßbaren und anwendbaren Vorschriften brachte, entstammte der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts ...".
[2] Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 200. 4*
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[3] Zur Geschichte u. zu d. Mängeln dieser Verfassung vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 15. Detailliert: M. Hauriou, Precis de Droit constitutionnel, 1923, S. 365 - 380; Joseph-B arthelemy / P. Duez, Traite de Droit constitutionnel, 1933, S. 6 - 50; Joseph-Barthelemy, Precis de Droit constitutionnel, 1938, S. 11 - 33; G. Burdeau, Manuel de Droit constitutionnel, 1946, S. 148 - 182; M. Duverger, Manuel de Droit constitutionnel et de Science politique, 1948, S. 265 - 289. Man muß hier einrechnen, daß Schmitts Kritik am Parlamentarismus viel den Feinden dieser sprichwörtlichen Bourgeoisrepublik verdankt, etwa Barres, Bloy, Maurras, Peguy, Sorel. Zum geistigen u. psychologischen Klima dieser Republik: H. de Jouvenel, La republique des camarades, Paris 1924,; A. Thibaudet, La republique des professeurs, Paris 1927; W. Frank, Nationalismus und Demokratie im Frankreich der dritten Republik, 1933; M. de Roux, Origine et fondation de la III e Republique, Paris 1933 (maurassistisch); F. Goguel, La politique des partis sous la Troisieme Republique, Paris 1946; J. M. Mayeur, La vie politique sous la Troisieme Republique (1871 - 1947), Paris 1984. [4] Wohl eine paraphrasierende Zusammenfassung von: Spengler, Preußentum und Sozialismus (1919), in: ders., Politische Schriften, 1932, S. 26 - 71, „Engländer und Preußen", bes. S. 38 f., 57 f.; vgl. a. O. Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, 1924, S. 33 f. [4a] Das Wort „Notbau" findet sich in der verfassungsrechtlichen Literatur der Weimarer Zeit nur selten; als fa5on de parier war es jedoch nicht ungebräuchlich; es geht wohl auf Koellreutter, wie o., [4], S. 44, zurück. Papen u. v. Gayl benutzten das Wort ebenso wie W. Gerhart (= W. Gurian), Um des Reiches Zukunft, 1932, S. 39, 57. Nawiasky, Die Grundgedanken d. Reichsverfassung, 1920, spricht von „Notunterkunft" (S. 20). C. Bilfinger, Verfassungsumgehung, AöR, 2 / 1926, S. 169 ff., wies die These vom „Notbau" zurück. - Vgl. hingegen Schmitts Kritik an der Tendenz, „die Befugnis zu Verfassungsrevisionen in eine absolutistische Allmacht umzudeuten": dann wäre die Weimarer Verfassung „nicht einmal ein ,Notbau', sie wäre nur ein Änderungsverfahren" (Zehn Jahre Reichsverfassung, JW, H. 32 / 33 - 1929, S. 2313 - 15, hier 2314). Vgl. auch: Konstruktive Verfassungsprobleme, vorl. Bd., S. 55 u. S. 84. [5] Vgl. Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 36 f., zu den „Grenzen durch das heute übliche geheime Abstimmungsverfahren". [6] Schmitts Konzeption der Akklamation verdankt viel der religionsgeschichtlichen Untersuchung von E. Peterson, Heis Theos, Göttingen 1926, S. 141 - 227; vgl. auch Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 34. Zu d. Beziehungen beider Autoren jetzt: B. Nichtweiss, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, 1992, bes. S. 727 - 830. [7] Bezieht sich auf Art. 3 der WRV: „Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke". Die dadurch entstehenden Irritationen sollte die Flaggenverordnung Hindenburgs v. 5. 5. 1926 beheben, nach der diplomatische und konsularische Reichsbehörden an den von deutschen Schiffen angelaufenen Plätzen beide Flaggen zu zeigen hätten. Der Streit um diese Verordnung war einer der Anlässe zum Sturz der Regierung Luther am 12. 5. 1926; vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VII, 1984, S. 281 - 285; dazu auch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, S. 48 - 60; zuvor Tatarin-Tarnheyden, Die Rechtslage im Flaggenstreit, DJZ, 1.11. 1927, Sp. 1433 - 37. Vgl. a.: E. Wolf/O. Neubecker, Die Reichseinheitsflagge, 1926.
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[8] Zu dieser „die Stabilität des überlieferten deutschen Parteiensystems durch ihren wechselnden Kurs zeitweise gefährdenden politischen Gruppe" vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, 1981, S. 187 - 190. [9] Zu den Einzelheiten: Huber, a. a. O., VII, 1984, S. 577 - 580, 590 - 594. Schmitt, Unabhängigkeit der Richter, Gleichheit vor dem Gesetz und Gewährleistung des Privatvermögens nach der Weimarer Verfassung, 1926, lehnte die Pläne der KPD (mit dem Ziel der Enteignung) und der DDP (mit dem Ziel der Abfindung durch die Länder bei Ausschluß des Rechtsweges) als unvereinbar mit dem WRV ab; ähnlich auch die Mehrheit d. Reichstags am 28. 4. u. 8. 5. 1926. Vgl. a.: V. Bredt, Die Vermögensauseinandersetzung zw. d. Preußischen Staat u. d. Königshaus, 1925; U. Schüren, Der Volksentscheid z. Fürstenenteignung, 1926, 1978. [10] Art. 75: „Durch den Volksentscheid kann ein Beschluß des Reichstags nur dann außer Kraft gesetzt werden, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt". KPD und SPD beantragten am 15. 2. 1926 ein Volksbegehren auf entschädigungslose Enteignung der Fürsten und erhielten dafür 12 1 / 2 Millionen Eintragungen (über 30 % d. Abstimmungsberechtigten). Am Volksentscheid v. 10. 6. 1926 nahmen aber nur 39,3 % der Stimmberechtigten teil, so daß der Volksentscheid durch die Zahl der Nichtteilnehmer scheiterte. [11] Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 314, kritisiert Naumann, Weber u. Preuß, die zwar die Einbeziehung der Arbeiterschaft in den Staat gefordert hätten, dabei jedoch die „spezifisch liberal-bürgerliche Integrationsmethode, das Parlament, auf eine neue Klasse übertragen, unter Verkennung der ideellen Struktur des Parlaments, die wesentlich von Eigenschaften wie Bildung und Besitz bestimmt ist." Vgl. auch: R. Höhn, Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front, 1929, S. 87 f. u. ö. - Die Schrift, der schmitt'schen Kritik des bürgerlichen Rechtsstaates und des Parlamentarismus stark verpflichtet, geht auf den vorliegenden Aufsatz nicht ein. Das von Höhn angekündigte Buch über „die geistesgeschichtliche Lage des deutschen Arbeiters" (S. 10) ist m. W. nicht erschienen.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien erstmals in der Zeitschrift „Die Schildgenossen", dem Organ der katholischen Quickborn-Bewegung, die unter dem geistigen Einfluß von Romano Guardini stand, und zwar im Jg. 1928, S. 127 - 133. Er wurde von der Redaktion mit der Bemerkung versehen: „Die nachfolgenden Ausführungen sind eine Niederschrift Dr. Werner Beckers nach einem Vortrage von Prof. Dr. Carl Schmitt. Das Manuskript ist von Carl Schmitt durchgesehen und wird mit dessen Zustimmung in den ,Schildgenossen' veröffentlicht." Ein Nachdruck mit äußerst geringfügigen Veränderungen (Wortumstellungen) erschien im April 1928 in der Zeitschrift „Abendland", S. 201 - 203, dort gefolgt von Herman Hefeies Erörterung der ersten Version v. Schmitts „Begriff des Politischen" m. d. T. „Zum Problem des Politischen", ebd., S. 203 - 205. Gekürzte Fassungen erschienen i. d. „Germania", 12. 5. 1928, u. d. T. „Ueber die Aufgaben der Demokratie", und in „Der Ring", H. 22, 27. 5. 1928, S. 423 - 424. Eine franz. Übersetzung v. J. L. Pesteil in: C. Schmitt, Du Politique. „Legalite et legitimite" et autres essais, ed. A. de Benoist, Puiseaux / Frankreich, 1990, S. 31 - 38. - Schmitt behandelte die Thematik in extenso in gl. Jahre in s. „Verfassungslehre", vgl. dort bes. S. 125 -
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138, 200 - 220. - Eine akademische Diskussion des vorl. Aufsatzes fand so gut wie nicht statt, wohl auch wg. des Publikationsortes. Vgl. aber die Hinweise b. F. Darmstaedter, Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates - Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, 1930, S. 153, S. 200 (Fußnoten). Zur Bedeutung d. Textes: H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 2. Aufl. 1991, S. 72 ff.; H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 2. Aufl. 1992, S. XIII f. Zu den betr. Diskussionen um d. Rechtsstaat auch in d. Weimarer Republik vgl. die Materialien in: M. Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, 2 Bde., 1978. Werner Becker, 1904 - 1981, promovierte 1928 bei Schmitt über „Die politische Systematik der Staatslehre des Thomas Hobbes"; vgl. auch seinen Artikel über Hobbes im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, II, 1927, Sp. 1221 - 1227. In den 20er Jahren veröffentlichte er mehrere Aufsätze in der katholischen Zeitschrift „ A b e n d l a n d " , u. a.: Die Politik der jungen Generation in Europa, August 1926, S. 328 ff.; Ein englischer Gegner des staatlichen Souveränitätsbegriffs (Kritik an H. Laski), Februar 1927, S. 140 ff.; Gedanken zur Staatslehre Leos Xm., April 1927, S. 198 ff.; vgl. von ihm auch: Demokratie u. moderner Massenstaat, Die Schildgenossen, 5/1924 - 25, S. 459 - 478. Bes. interessant seine Verteidigung Schmitts gg. den Vorwurf, der ,3egriff des Politischen" sei ein Werk des Unglaubens, sei unethisch, usw.: Nochmals zu Carl Schmitts „Begriff des Politischen", in: Der Friedenskämpfer, Januar 1929, S. 1 - 6 (als Antwort auf Pater Franziskus Stratmanns Kritik an Schmitt, ebd., 5/1928, S. 1 7; 6/1928, S. 1 - 7). Becker trat um 1930 in den Oratorianer-Orden ein u. lebte und wirkte in Leipzig, wobei er zeitlebens Freundschaft mit Schmitt pflegte. Er übersetzte mehrere Schriften John Henry Newmans und gab einige Texte Romano Guardinis im Leipziger St. BennoVerlag heraus. Er publizierte u. a.: Die Wirklichkeit der Kirche und das Ärgernis, Leipzig 1957 (Aufsätze), sowie: Die Beschlüsse des Konzils, Leipzig 1965. Vgl. auch seine Einführung in das Dekret über den Ökumenismus, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1967, Bd. XIII, S. 11 - 39. - Über Beckers Lage in der DDR berichtete: Josef Pieper, Noch nicht aller Tage Abend. Autobiographische Aufzeichnungen 1945 - 1964, 1979, S. 79 f.
Konstruktive Verfassungsprobleme Meine sehr verehrten Herren! Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, in wenigen Minuten einen Überblick über ein großes Gebiet zu geben, wenn man es zusammenfassend in seinen wichtigen Horizonten und Dimensionen richtig sehen und zugleich der Gefahr parteipolitischer Mißdeutung entgehen will. Ich sehe meine Aufgabe und mein Ziel nicht darin, Ihnen technische Details vorzutragen. Wir könnten uns wahrscheinlich sehr lange über die Zweckmäßigkeit der Heraufsetzung des Wahlalters, vielleicht auch über die Möglichkeiten einer Altersgrenze für das Wahlalter unterhalten (Heiterkeit), wir könnten uns fragen, welche Jahrgänge man vernünftigerweise überhaupt für die politische Willensbildung heranzieht, wie man die Organisation des Oberhauses vornimmt usw.[l] Das Erste und Wichtigste scheint mir aber zu sein, daß die ungeheuerlichen Fehlkonstruktionen - man darf das ohne jede Voreingenommenheit und auch ohne jeden privaten Vorwurf heute sagen - der Weimarer Verfassung nicht wiederholt werden dürfen und daß sie nicht durch voreilige Institutionalisierungen und voreiliges Flickwerk noch weiter getrieben werden. Man tritt niemandem zu nahe, wenn man die Fehler des Werks von Weimar beim Namen nennt. Es hat seine großen Verdienste, aber es war, wie gerade die Väter dieser Verfassung betont haben, nur ein Notbau. Hugo Preuß selber hat verlangt, fünf Jahre nach dem Zustandekommen dieser Verfassung solle eine Volksabstimmung über die Verfassung stattfinden, damit alle nötigen Änderungen offen bleiben. Das Bewußtsein des Provisorischen dieser Verfassung hat keiner der verantwortlichen Urheber dieser Verfassung jemals verloren. Die Fehlkonstruktionen zeigten sich nun in der Unzahl der Verfassungsprobleme, die uns heute geradezu überwältigen. Ich denke hier an das Reichsproblem,[2] das Wahlrechtsproblem, [3] das Regierungsproblem, [4] aber auch an das Problem der Grundrechte,[5] hinter dem sehr interessante organisatorische Fragen stecken. Alle diese Probleme haben wiederum zahlreiche Unterprobleme. Es wäre ein Irrtum, etwa zu glauben, das sogenannte Reichsproblem sei gelöst, wenn man das in sich wieder überaus schwierige Problem Reich - Preußen gelöst habe. Neben diesem Problem Reich - Preußen besteht durchaus selbständig und singulär das Problem Reich - Bayern, dessen Tiefe mir gerade im Verlauf des Leipziger Prozesses in seiner geradezu besorgniserregenden Besonderheit klar geworden ist, als der Vertreter Bayerns einen bisher unbekannten Geheimvertrag aus dem Jahre 1870 produzierte, in dem Bismarck Bayern verspricht, daß gegen Bayern keine Sequestrationen, d. h. im wesentlichen keine echte Reichsexekution stattfinden dürfe.[6] Damit ist ein Reservatrecht Bayerns in Anspruch genommen, das Bayern
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eigentlich neben die bundesstaatliche Verfassung selbst des so glänzenden und nach außen hin so geschlossenen Bismarckschen Reiches setzt. Natürlich wäre es eine Frage für sich, was derartige Verträge überhaupt und vor allem, was sie heute noch bedeuten. Ich erwähne es nur, um zu zeigen, daß dieses bayerische Problem nun eine sehr wichtige organisatorische Angelegenheit für sich ist. Denn hinter Bayern nehmen nun, wie der Leipziger Prozeß zeigte, die verschiedenartigsten pluralistischen parteipolitischen und anderen Kräfte Deckung und bildeten in jenem überaus aufschlußreichen, leider noch lange nicht genügend zum politischen Bewußtsein des deutschen Volkes gekommenen Leipziger Prozeß geradezu dramatisch und anschaulich wie auf der Bühne eine gemeinsame Front gegen das Reich: neben preußischen Landtagsfraktionen und amtsenthobenen Landesministern erschien das auf seine staatliche Dignität so stolze Bayern und nahm diese Bundesgenossen, wie es sie fand. Also neben dem Problem Preußen besteht das Problem Bayern, und daneben weitere reichsorganisatorische Fragen wie z. B. die der Länder alter Ordnung und der durch Dezentralisation Preußens zu schaffenden Länder neuer Ordnung. Diese Andeutung genügt, um schnell zum Bewußtsein zu bringen, was an organisatorischen Fragen hier noch offen ist und eine wie phantastische Fehlkonstruktion das Verhältnis von Reich und Preußen heute darstellt. Durch den Preußenschlag vom 20. Juli ist eine bedeutende Korrektur eingetreten. Der Leipziger Staatsgerichtshof hat sogar in seinem Urteil diese Fehlkonstruktion an sich als eine Gefahrenquelle anerkannt und es als eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Reiche behandelt, wenn in der gefährlichen Lage Deutschland zwischen der preußischen Politik und der Reichspolitik eine offene Divergenz und Gegensätzlichkeit zutage tritt.[7] Zu den handgreiflichen Fehlkonstruktionen ist aber noch folgendes hinzugekommen: Alle fundamentalen Einrichtungen der Weimarer Verfassung, also der positiv geltenden Reichsverfassung, d. h. der Quelle alles dessen, was wir legal und Legalität nennen, sind heute völlig denaturiert. Eigentlich ist nur noch die Einrichtung des Reichspräsidenten geblieben. Der Reichstag ist kein Reichstag mehr, wie ihn die Weimarer Verfassung sich gedacht und gewollt hat. Ein Reichsrat, in dem mehr geschäftsführende als normale Landesregierungen sitzen, in dem heute sogar amtsenthobene preußische Minister statt der wirklichen Exekution des Landes Preußen auftreten,[8] ist nicht mehr ein Reichsrat im Sinne der Weimarer Verfassung. Das Parlamentsmitglied ist kein unabhängiger Abgeordneter im Sinne der Verfassung mehr, sondern etwas ganz anderes, nämlich ein in einer sehr festen Organisation und Disziplin marschierender, zum Teil, wie Sie wissen, sogar uniformierter (Heiterkeit) - , nun, wie soll man es nennen - jedenfalls etwas anderes als der ausschließlich seinem Gewissen unterworfene, von niemandem abhängige freie Mann, der im Gegensatz zum Parteiinteresse die Interessen des ganzen Volkes vertritt, wie es die Verfassung von ihm voraussetzt. Und schließlich, was mir etwas besonders Wichtiges zu sein scheint: der Volkswille selbst, der in der Völksvertretung zum Ausdruck kommen soll, ist ebenfalls problematisch geworden. Denn die Wahl ist keine Wahl mehr. [9] Heute wird nicht mehr gewählt. Es ist ein-
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fach eine Trägheit des Sprachgebrauchs, daß wir den Vorgang, der sich im letzten Jahre wiederholt abgespielt hat, immer noch als eine Wahl bezeichnen. (Heiterkeit). In Wirklichkeit ist es so, daß ungeheure Massen von Wählern, d. h. stimmberechtigten Staatsbürgern, vor 5 bis 10 Kandidatenlisten gestellt werden und nun die Möglichkeit haben, zu optieren. Das ist etwas ganz anderes als eine Wahl. Man kann sich zwischen fünf völlig heterogenen, in ihren ietzten Konsequenzen geradezu phantastisch auseinanderlaufenden Möglichkeiten, zwischen total verschiedenen Weltanschauungen, total verschiedenen Staatsformen, total verschiedenen Wirtschaftssystemen entscheiden. Also eine in kurzen Zwischenräumen wiederholte Option ungeheuersten Stiles, die in der Weise vor sich geht, daß fünf von den angeblichen Wählern völlig unabhängige, im tiefsten Geheimnis und in der unkontrolliertesten Weise zustande gekommene Listen (Heiterkeit) einer Masse von 40 Millionen Menschen vorgehalten werden und diese Masse nun in die mit den fünf Listen bezeichneten fünf Hürden hineingeht. Die statistische Aufnahme über diesen Vorgang (Heiterkeit) soll in einem gefahrvollen kritischen Moment, in einer geradezu verzweifelten Situation, das Mittel der politischen Willensbildung und Entscheidung sein. Man kann sich nicht deutlich genug zum Bewußtsein bringen, wie sehr der Vordergrund unserer „legalen" Einrichtungen und Institutionen sich vom Wesen der Sache und vom Sinn und Geist der Verfassung entfernt hat. Wenn wir heute vom konstruktiven Verfassungsproblem sprechen, so ist es das mindeste, was man von einem verantwortungsbewußten Nachdenken über diese Dinge verlangen kann, daß man wieder zu den wirklich sozialen Kräften des deutschen Volkes zurückkehrt und sich von der vordergründigen und irreführenden parteipolitisierenden Kostümierung, die notwendigerweise zu dem bekannten und horrenden, heute von allen Seiten mit größter Selbstverständlichkeit geübten Mißbrauch aller legalen Formen führen mußte, entschieden abwendet. Denn nicht nur der Reichstag ist nicht mehr Reichstag, wie sich ihn die Verfassung denkt, die Wahl nicht mehr eine Wahl, der Abgeordnete nicht mehr ein Abgeordneter, der heutige Reichsrat nicht mehr ein Reichsrat, sondern das Vertrauens- oder Mißtrauensvotum ist auch kein regierungsbildendes Votum im Sinne eines parlamentarischen Systems mehr, weil zu einem solchen Mißtrauensvotum die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Übernahme der Regierung gehört. Infolgedessen ist nicht nur der Volkswille an der Quelle, wo er entspringen soll, bei der Wahl, sofort in fünf Kanäle abgeleitet, die auseinanderfließen und niemals zu einer Einheit kommen, sondern es ist auch die parlamentarische Abstimmung über die Regierungsbildung in der gleichen Weise sofort in vier bis fünf verschiedene Richtungen auseinandergerissen, die niemals zu einer positiven Einheit kommen können. Man kann aus irgendwelchen Gründen mit irgendwelchen taktischen Manövern vielleicht noch eine 51 %ige Mehrheit ad hoc zusammenbringen, um zu beweisen, daß eben doch noch eine 51 %ige Mehrheit zusammenkommt. Aber ein positives Programm auf lange Sicht, ein planvolles Handeln, wie es in der Lage des Deutschen Reiches heute notwendig wird, kann sich bei diesen Methoden der Willensbildung unmöglich ergeben.
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Das ist die Situation, von der wir ausgehen müssen. Jetzt erhebt sich die Frage: Wo liegt die Ursache der Fehlkonstruktionen und was ist die Quelle aller dieser Entstellungen und Denaturierungen der verfassungsmäßigen Einrichtungen und Begriffe? Ich darf hier, um eine Antwort auf diese Frage zu geben, an ein bekanntes und oft mißverstandenes, auch mir oft falschlich angehängtes Schlagwort anknüpfen, an diese berühmte Redewendung vom „totalen Staat".[10] Diesen totalen Staat gibt es. Die Wendung zum totalen Staat ist heute überall zu erkennen, ebenso aber auch der Versuch, nun aus dem totalen Staat herauszukommen und wieder staatsfreie Sphären zu finden. Die Redewendung vom totalen Staat bezeichnet etwas ganz Offensichtliches und Unbestreitbares, nämlich, daß in einem Übergangsstadium wie der Gegenwart früher bestehende Unterscheidungen von Staat und Nichtstaat, staatlich und politisch, Staat und Wirtschaft, Staat und Kultur, Staat und andere staatsfreie Sphären, solche Unterscheidungen, die für unseren Geschmack und unsere politische Überzeugung die Voraussetzung jeder vernünftigen Ordnung und Freiheit sind, im weitesten Maße entfallen und zunächst eine allgemeine Vermischung eintritt. Es stellte sich namentlich heraus, daß die großen wirtschaftlichen Fragen nicht als „rein wirtschaftlich" behandelt werden konnten, sondern daß sie gleichzeitig politische Fragen sind. Versuche, den Staat so zu organisieren, daß man ein rein politisches Parlament auf die eine Seite und eine zweite Kammer, ein reines Wirtschaftsparlament,[ll] auf die andere Seite setzte, mußten mißlingen, und zwar in einer besonders ruhmlosen Weise, weil sich sofort herausstellte, daß es überhaupt kein interessantes wirtschaftliches Problem gibt, das nicht ganz von selbst ein politisches Problem im weitesten Sinne des Wortes und damit auch ein staatliches Problem ist. Das war der eine Grund dafür, daß all die alten schönen Unterscheidungen von Staat und Wirtschaft, Staat und staatsfreier Gesellschaft entfielen. Sie mußten infolge der neuen demokratischen Organisation entfallen. Die alte Trennung von Staat und Gesellschaft, von Staat und Wirtschaft war nach 1919 in Deutschland schon deshalb nicht mehr aufrechtzuerhalten, weil die staatliche Willensbildung in den Händen von politischen Parteien lag, deren Interessen und Motive wesentliche wirtschaftliche Not waren. Dazu kommt noch der Eindruck, den man überall von den wachsenden technischen Machtmitteln jedes modernen Staates bekommen muß. Heute ist auch der schwächste Staat, jede irgendwie in der Geschäftsführung sich noch behauptende Regierung eines ganz kleinen deutschen Landes infolge der Waffen, die ihr die moderne Technik liefert, so stark, daß sie die Barrikadentechnik der früheren Revolutionen und Straßenkämpfe kaum noch zu fürchten braucht. Selbst in dem entwaffneten Deutschland ist eine Regierung im Vergleich zu den Machtmitteln eines früheren noch so absoluten Fürsten ungeheuer stark und mächtig. Die moderne Technik der Bewaffnung macht jeden Gedanken an Widerstand unmöglich und führt zu ganz neuen Mitteln der staatlichen Herrschaft sowohl wie des Widerstandes. Die moderne Technik der Massenbeeinflussung, Instrumente wie der Rundfunk oder der moderne Film mit allen ihren Möglichkeiten der Mas-
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sensuggestion, muß notwendig, wenn nicht in die Hand, so doch sicher unter die Kontrolle des Staates kommen; und es gibt heute auf der ganzen Welt keinen noch so liberalen Staat, der nicht in der Sache sehr intensive Kontrolle über das früher so freie Gebiet der „Meinungsbildung" ausübt. Die Pressefreiheit wird aus traditionellen Gründen noch in spezieller Weise respektiert. (Heiterkeit).. Aber in keinem Staate der Welt, er mag sich, wie gesagt, noch so liberal gebärden, dürfte jemand im Rundfunk sich so äußern, wie man es sich in der Presse immerhin noch erlauben darf, und niemand dürfte im Film Dinge sichtbar machen, die man in der Presse, ganz gleich, ob sie rechts- oder linksradikal ist, doch noch darstellen darf. [12] Der Eindruck dieser neuen technischen Machtmittel des modernen Staates dürfte ein weiterer Grund dafür sein, daß die Wendung vom „totalen Staat" geläufig geworden ist. An dieser Stelle nun vermischen sich zwei Dinge in einer höchst irreführenden Weise. Weil es sich hier, wie ich gleich zu zeigen hoffe, um den Kern aller heutigen Verfassungskonstruktionen handelt, darf ich hier schnell eine These aufstellen: Der heutige deutsche Staat beruht auf einer sonderbaren Verbindung von totalem Staat und schwachem Staat. Wie haben eine Totalisierung in dem Sinne, daß alle Lebensgebiete politisiert worden sind. Aber wir haben nicht einen totalen Staat in einem bolschewistischen Sinne, der unserer Staatsvorstellung auch wohl kaum entspräche. Wir haben einen totalen Staat nicht einmal im faschistischen Sinne, der wieder eine andere Form dieses totalen Staates darstellt. Sondern wir haben eine durch eine Mehrheit von Parteien, wenn ich so sagen darf, mediatisierte und parzellierte totale Gesellschaft. Wir haben keinen totalen Staat, aber wir haben totale Parteien, d. h. politische Parteiorganisationen, die in sich total sind, die nicht nur ihre Mitglieder total von der Wiege bis zur Bahre erfassen und ihnen die nötige Weltanschauung (Heiterkeit), die nötige richtige Auffassung von Kultur, Wirtschaft, Innenpolitik und Außenpolitik beibringen, sie also total okkupieren, wenn ich einmal so sagen darf, und keine außerparteiliche Sphäre ihres Daseins, weder ihres öffentlichen noch ihres privaten Daseins, freilassen. Wir sind auch schon so weit, daß diese Totalisierung und damit Politisierung des gesamten menschlichen Daseins alle anderen sozialen Verbände, insbesondere die der Selbstverwaltung, auf die wir in Deutschland früher mit Recht stolz sein konnten, entstellt und denaturiert hat.[13] Die kommunale Selbstverwaltung namentlich hat infolge der Parlamentarisierung, wie man weiß, in weitestem Maße nicht mehr die Stadt, die Gemeinde als solche mit ihren lokalen Interessen, mit ihrer lokalen Eigenart, zum Inhalt, sondern sie ist ebensosehr ein Stützpunkt bestimmter politischer Parteien geworden, die das, was an Autonomie hier vorhanden ist, im Interesse einer oft sehr zentralisierten, das Gegenteil von lokaler Selbstverwaltung darstellenden Partei benutzen. Auch mit unserem „Föderalismus" verhält es sich ähnlich. [14] Von dem Sonderproblem Bayern abgesehen, ist die bundesstaatliche Selbständigkeit der einzelnen Länder in weitem Maße nur noch ein Stützpunkt gewisser politischer Parteien, die nicht auf das Land als solches angewiesen sind, die aber die staatlichen Machtmit-
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tel, die die Verfassung einem Lande gibt, im Sinne ihrer oft sehr zentralisierten Partei benutzen. Es wäre also z. B. denkbar, daß eine Landesregierung, die, sagen wir in Dessau, der Hauptstadt von Anhalt, regiert und die staatliche Selbständigkeit Anhalts, die Autonomie und Eigenwiichsigkeit der deutschen Länder mit allem föderalistischen Pathos geltend macht, sofort bei Bayern Sukkurs findet - da die ganze Angelegenheit natürlich sofort ein prinzipiell föderalistisches Problem wird - , und daß diese eigenwüchsige Anhalter Regierung ihre Direktionen in Wirklichkeit vielleicht aus Moskau, vielleicht aus München (Heiterkeit), vielleicht aus Berlin bekommt. Im Interesse einer ganz anders gearteten parteipolitischen Organisation, die sich der staatlichen Selbständigkeit eines Landes nur als Parteistützpunkt bedient, kann sich heute die Autonomie des Landes gegenüber dem Reich geltend machen und, wenn das Reich eine parteipolitisch anders geartete Regierung hat, den „Föderalismus" gegen das Reich mobilisieren. Diese Verwirrung des ganzen organisatorischen Systems beruht darauf, daß das Deutsche Reich zu einem Parteien-Bundesstaat[15] geworden ist - ein Novum in der Verfassungsgeschichte. Das ist die Wirklichkeit unseres Verfassungslebens: und von der Wirklichkeit muß man ausgehen, wenn man ernsthaft an solche Fragen wie die der Verfassung und der Verfassungsreform herangehen will. Die fest organisierten politischen Parteien haben diesen Zustand herbeigeführt. Jede Partei, die sich nicht entschließen kann, total zu werden, kommt in diesem System unter die Räder. Sie muß als politische Partei total werden, um sich behaupten zu können, ob sie will oder nicht will. Der einzelne Staatsbürger, der angeblich in unmittelbarer, direkter Wahl seinen Abgeordneten wählt, ist längst mediatisiert. Entweder ist er organisiertes Parteimitglied - dann ist er von der totalen Partei erfaßt - oder er ist das berühmte Treibholz, das ziemlich direktionslos und besinnungslos hin und her fluktuiert und dadurch nun den Ausschlag gibt, das ist ohne jede Übertreibung und ohne jede Karikatur das wahre Bild unserer verfassungsmäßigen Zustände. Die Wirklichkeit ist die totale Partei, die alles mediatisiert hat. [16] Alles, was an Selbstverwaltung, Bundesstaatlichkeit, sozialen Selbstorganisationen vorhanden ist, ist ebenfalls auf diese politischen Parteien angewiesen, solange es keinen selbständigen, starken Staat gibt. Was bleibt als Ausweg? Ich sehe keinen anderen Ausweg als den Versuch, gegenüber diesen totalen Parteien, die statt des totalen Staates in Deutschland herrschen, den Gedanken zur Geltung zu bringen, den der Herr Reichsfinanzminister soeben in einer, wie mir scheint, überaus schlagenden und glücklichen Formulierung von seinem Sachgebiete her entwickelt und dahin zusammengefaßt hat, daß er sagt: Ein starker Staat in einer freien Wirtschaft.[17] Es handelt sich nämlich darum, daß der Staat wieder Staat wird und das, was nicht Staat ist, nicht mehr gezwungen wird, politisch zu sein, um nicht totgetreten zu werden. Es handelt sich darum, daß ein von den alles mediatisierenden totalen Parteien unabhängiger Staat, eine unabhängige Regierung, ein unabhängiges Be-
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amtentum wieder imstande ist, die Geschäfte so zu führen, wie es im Interesse des Ganzen notwendig wird, und daß nun gegenüber diesem unabhängigen Staat das wiederum wachsen und sich entfalten kann, was im 19. Jahrhundert in einer großartigen Weise als deutsche Selbstverwaltung gewachsen ist. [18] In einer Produktivität, die beispiellos ist, hat das deutsche Volk nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf kulturellem und anderem Gebiet eine große Zahl von Selbstorganisationen geschaffen, die von der Selbständigkeit, von der Autonomie des Sachgebietes ausgehen, auf dem sie gewachsen sind, und die heute, wie gesagt, alle durch das System einer Mehrzahl totaler Parteien mediatisiert und entstellt werden. Diese Selbstorganisation wieder zu sich selbst zu bringen, sie von der falschen politischen Kostümierung zu befreien, um sie dann wieder Auge in Auge mit einem starken und unabhängigen Staate zu stellen, das scheint mir der Kern des Verfassungsproblems zu sein, vor dem wir heute stehen. Demgegenüber ist die Frage der formellen Verfassungsänderung eine zweite Frage. Das Ziel klar im Auge zu behalten, ist wichtiger, als mit schnellen und voreiligen Institutionen, Flickwerk und Reformornamenten den Weg zu verbauen. Es scheint mir also notwendig zu sein, zunächst einmal diesen unabhängigen, parteipolitisch unabhängigen Staat und diese unabhängige freie Selbstverwaltung, die sich auf ihrem Gebiete nach den ihr bekannten Gesetzen des Gebiets, auf dem sie sich bewegt, entwickelt und entfaltet, herbeizuführen. Das Erste ist klare und strenge Unterscheidung. Auch hier berühre ich mich, und zwar von ganz anderen Ausgangspunkten her, mit den Ausführungen des Reichsfinanzministers. Vor allem muß ein Begriff in Deutschland wieder geläufig werden, der bisher gerade im Zeitalter des totalen Parteienstaates völlig in Vergessenheit geraten ist, und zwar nicht nur in der Wirtschaft, sondern namentlich leider auch im Beamtentum, ein Begriff, für den es vorläufig nur ein schwerfälliges fremdsprachliches Wort gibt: Inkompatibilitäten oder Unvereinbarkeiten. [19] Es gibt gewisse Dinge, gewisse Tätigkeiten, gewisse Funktionen, aber auch gewisse Bezugsquellen und Einkommensmöglichkeiten, die inkompatibel sind, die ein und derselbe Mensch nicht in seiner Person vereinigen kann. Bisher hat man das oft genug mißachtet. Man konnte gleichzeitig nicht nur Reichstagsabgeordneter, Reichsratsmitglied, Landtagsabgeordneter, hoher Beamter, Aufsichtsratsvorsitzender in zahllosen verschiedenen Gremien sein und hunderte von Funktionen heterogenster Art auf seine Person vereinigen, man mußte es sogar tun, um in diesem System seinen politischen Einfluß und seine Position halten zu können. Deutschland war, ohne Übertreibung gesagt, das Land der grenzenlosen Kompatibilitäten geworden. (Heiterkeit.) Der einzige Organismus, der sich aus diesem System der unbegrenzten Inkompatibilitäten heraus rein gehalten hat, war die Reichswehr; sie war die Insel in diesem Meer unbegrenzter Kompatibilitäten, in welchem alles mit allem vereinbar schien. Jetzt zeigt sich der Ansatz zu einer neuen Entwicklung und hebt sich die konstruktive Linie einer neuen Verfassung deutlich heraus. Es handelt sich einfach darum, sie im Auge zu behalten und sie sofort zu verwirklichen, sie weder durch
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falsche Reformen zu gefährden noch in irgendeine Zukunft zurückzuschieben. Die Methode der Verwirklichung ist natürlich ein Problem für sich. Ich glaube aber nicht, daß man mit der Frage nach der Methode der Verwirklichung, wie es ja eigentlich, und in normalen Zeiten mit Recht, einem Praktiker naheliegt, anfangen müßte. Man sagt allerdings mit Recht: Was nützen mir richtige Ziele, wenn ich sie nicht erreichen kann, was nützen mir wunderbare Verfassungen, wenn sie niemals Wirklichkeit werden können? Als Empfehlung irrealer Dinge sind meine Ausführungen natürlich nicht gemeint. Ich will nicht von utopischen Dingen sprechen, sondern von dem, was ich als Wirklichkeit sehe und auch realisierbar vor Augen sehe, was aber natürlich noch zahlreichen Störungen und Residuen aus anderen Zeiten, falschen Kostümierungen, falschen Ideologien usw. unterliegt. Aber die Methode der Realisierbarkeit kann nicht der Anfang sein. Man tut gut daran, sich erst klarzumachen, was - selbstverständlich nur im Rahmen des Möglichen - nun das Richtige ist, und dann erst die Frage der Methode zu stellen, denn wenn wir mit taktischen Fragen beginnen, so wird auch von den vernünftigsten Zielen nicht mehr sehr viel übrigbleiben. Sonst müßten wir in die Rechenkunst hineinsteigen, die sich damit beschäftigt, was in dem zu erwartenden Parlament als Koalitionsmöglichkeit gegeben ist. (Heiterkeit.) Kein praktischer Politiker kann sich dieser Art Wissenschaft heute ganz entziehen. Aber ich glaube trotzdem nicht, daß es richtig ist, das Verfassungsproblem und den Inhalt der wünschens- und erstrebenswerten Reform von diesen Methoden abhängig zu machen. Was insbesondere den Gedanken eines Oberhauses [20] angeht - ich halte dieses Wort für sehr unglücklich, für ein Residuum aus anderen Zeiten, die leider nicht mehr vorhanden sind (Heiterkeit) - , also sagen wir genauer: der Gedanke einer zweiten Kammer hat seinen Sinn darin, daß diese zweite Kammer ein Schauplatz eben der vom Staate unabhängigen, dem Staate entgegentretenden, auch einer echten Opposition fähigen Selbstverwaltung sein soll. Die Unterscheidung von Staat und Wirtschaft soll keine Trennung und Isolierung, sondern intensivste Zusammenarbeit und intensivste gegenseitige Beeinflussung sein. Wenn es gelänge, eine solche zweite Kammer als den Schauplatz dieser echten, aus der Sache selbst heraus gewachsenen Selbstverwaltung zu bilden, dann wäre es gut. Ich habe aber ein Bedenken, das ich hier nicht verschweigen will. Derartige Institutionen legen einen bestimmten Zeitpunkt fest und verbauen damit leicht eine Entwicklung. Es ist heute so, daß die meiner Ansicht nach erstrebenswerte Zusammenarbeit zwischen einem starken Staate und einer freien, sei es wirtschaftlich, sei es kulturell, Selbstverwaltung faktisch ohne irgendeine Verfassungsänderung versucht werden kann. Ohne eine einzige neue Normierung ist hier ein großer Spielraum gegeben! Dessen sollte man sich erst einmal bedienen, ehe man mit vorschnellen neuen Verfassungen, Teilreformen oder neuen Institutionen kommt. Man darf bei Verfassungen mit Normierungen nicht beginnen. In diesem Sinne gehöre ich zur ältesten deutschen Schule in der Rechtswissenschaft: ich glaube nicht, daß unsere Zeit, insbesondere das deutsche Volk im heutigen Moment, den Beruf zur Verfassungsgesetzgebung hat; diesen Beruf spreche ich ihm nach den Erfahrungen von Weimar und auf
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Grund einer gewissen Sachkenntnis heute einfach ab. (Heiterkeit.) Ich weiß aber, daß es gar nicht darauf ankommt, schöne Verfassungen im französischen oder im Sowjetstil zu machen. Ich glaube, es ist richtiger und keineswegs ein Zeichen niedrigeren geistigen Niveaus, wenn wir diese konstruktive Gesamtlinie erkennen: der starke Staat gegenüber seiner freien Selbstverwaltung, beide voneinander unterschieden, aber in intensivster Zusammenarbeit. Dann müssen wir, was möglich ist, unter Ausnutzung legaler Möglichkeiten und in einer Zeit des Mißbrauchs aller legalen Formen natürlich auch unter einer gewissen Ausnutzung von Interpretationsmöglichkeiten (Heiterkeit) diese Zusammenarbeit herbeiführen. Es hat sich herausgestellt, daß die Methode der Interpretationsmöglichkeiten ihr Gutes hat. Wer sich darauf versteift hätte, etwa im Jahre 1924 oder 1926 oder 1928 ein Ausführungsgesetz zu Artikel 54[21] oder nähere Bestimmungen über die Stellung des Reichspräsidenten oder ein Ausführungsgesetz zu Artikel 48 zu machen, [22] hätte die schönsten und richtigsten Normierungen aufstellen können, er hätte es bestimmt falsch gemacht, denn alle Möglichkeiten der Anpassung der politischen Entwicklung an das Notwendige hätte er damit abgeschnitten. Es ist also, wie mir scheint, durchaus loyal, und nicht etwa der Trick raffinierter Juristen, denen es sozusagen durch einen Dreh gelungen wäre, aus dem Artikel 48 das zu machen, was aus ihm geworden ist.[23] Im Gegenteil, die heutige Praxis des Artikels 48 enthält eine durchaus vernünftige Anpassung und, von der Seite des Staates her gesehen, reine Notwehr gegenüber dem Mißbrauch aller verfassungsmäßigen Einrichtungen, insbesondere gegenüber dem Mißbrauch der Befugnisse, die die Verfassung dem Parlament gibt, und gegenüber einem Parlament mit negativen Mehrheiten, das zu keinem einzigen positiven Beschluß fähig ist, das aber gegen jedes denkbare Programm und gegen jeden denkbaren Plan automatisch eine - eigentlich müßte sie hundertprozentig sein - negative Mehrheit hat. Es ist ja sozusagen das Existenzprinzip der Partei, daß sie als Partei gegen den Staat ist. (Heiterkeit.) Gegenüber diesem Mißbrauch sämtlicher verfassungsmäßiger Befugnisse und der allgemeinen Denaturierung der verfassungsmäßigen Einrichtungen ist der vielgescholtene Mißbrauch des berüchtigten Artikels 48 nur eine loyale Gegenwehr und eine ganz unentbehrliche Anpassung an das, was von Seiten des Staates unbedingt geschehen mußte. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten und einen großen Spielraum, ohne neue Institutionen durch bloße Regierungs- und Verwaltungspraxis so viel zu erreichen, daß, wenn es gutgeht, ein Erfolg möglich wäre, und daß die Autorität, die der Erfolg schafft, nun als Basis dafür dient, diese Methode, wenn es später notwendig ist, auch formell in irgendwelche legalen Institutionen und geschriebenen Ordnungen hineinzugießen. Aber das Erste ist und bleibt die strenge Unterscheidung des Staates von dem, was nicht Staat ist, ein starker Staat gegenüber einer freien, d. h. staatsfreien Sphäre und die intensivste Zusammenarbeit. Aus der staatsfreien Sphäre heraus hat, wie ich eben schon sagte, das deutsche Volk so viel an Selbstorganisation entwickelt, an intelligentester, arbeitsfähigster Selbstorganisation, daß das parteipolitische Kostüm, in welchem diese Selbstorganisationen in den Pariamen-
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ten aufzutreten gezwungen sind, geradezu wie ein Sacklaufen der wirklichen Kräfte erscheint (Heiterkeit), die unter dem Zwang der Parteipolitisierung gar nicht mehr sehen können, was ihre aus ihrem Sachgebiet sich ergebende Richtung und was ihr Ziel ist. Die Kraft und die Fähigkeit des deutschen Volkes aber, sich in der Sphäre einer freien Selbstverwaltung zu bewegen, sich dort seine Formen, Verbände, Einrichtungen zu schaffen und mit ihnen in voller Freiheit einem Staate gegenüberzutreten, in einer echten Spannung, einer echten Opposition, aber auch in einer echten Zusammenarbeit, nicht mediatisiert durch totale Parteien, das scheint mir etwas durchaus Mögliches und, sobald es erkannt ist, wahrscheinlich auch der Zustimmung des größten Teiles des deutschen Volkes sicher. Die unmittelbare Kraft des deutschen Volkes, das in lebendiger Produktivität fortwährend solche Formen der Selbstverwaltung und Selbstgestaltung findet, ist erstaunlich groß. Sie hat es nicht nötig, sich hinter veralteten Ideologien und veralteten Organisationen zu verstecken. Diese gewaltige Arbeitskraft und Organisationsfähigkeit des deutschen Volkes wird, das hoffe ich sicher, durch alle Vielstaaterei und föderalistische Zersplitterung, aber auch durch alle parteipolitischen Zerspaltungen hindurch, seinen starken Staat und seine Einheit finden. (Lebhafter allseitiger Beifall.)
Anmerkungen des Herausgebers [1] Bez. s. auf Reden von v. Papen und seines Innenministers v. Gayl im Herbst 1932. Am 12. 9. 1932, nach der Reichstagsauflösung, forderte v. Papen im Rundfunk die Heraufsetzung d. Wahlalters, die Schaffung einer ersten, ständisch geprägten Kammer und eine „organische Verbindung der Preußischen Regierung mit der des Reiches." Die Forderung nach einer ersten Kammer mit bes. Zuständigkeiten stand auch im Mittelpunkt der „Reichsreform"-Rede v. Papens in München am 28. 10. vor dem Bayerischen Industriellen-Verband. Die Reform sollte u. a. dazu dienen, die Notverordnungsgewalt des RPr entbehrlich zu machen. Die Abhängigkeit vom Art. 48, bes. auf wirtschaftlichem Gebiet, wurde auch von v. Gayl in seiner Rede zur Verfassungsfeier am 11. 8. bedauert: die Präsidialdiktatur könne keine Lösung sein. (Dies wohl deshalb nicht, weil die Möglichkeit des Parlaments, Notverordnungen aufzuheben, zu Reichstagsauflösungen zwang.) v. Gayl forderte u. a. in seiner Rede die Heraufsetzung des Wahlalters, die Persönlichkeitswahl, Zusatzstimmen für Familienernährer, Mütter und Kriegsteilnehmer sowie eine Sicherung gg. den „überspitzten Parlamentarismus", die „im Ausbau der Rechte des Reichsrats oder im Einbau einer berufsständischen Kammer in die Konstruktion der Volksvertretung oder (aus) einer Mischung von beiden" bestehen sollte; vgl. auch v. Gayls Rede ü. die Reichs- u. Verfassungsreform v. 28. 10. 1932 vor dem Verein Berliner Presse, die sich stärker auf das Problem Reich - Länder u. auf Verwaltungsfragen bezog; Text in: Akten d. Reichskanzlei, K. H. Minuth (Bearbeiter), Das Kabinett von Papen, Bd. 2, 1989, S. 820 - 828; vgl. die Schriften des Chefideologen der Papen-Regierung, W. Schotte, Das Kabinett Papen, Schleicher, Gayl, 1932, u. ders., Der Neue Staat, 1932 (Interviews). Zur Kritik vgl.: O. Kirchheimer, Verfassungsreaktion 1932, Die Gesellschaft, 1932, S. 415 ff.; E. Fraenkel, Verfassungsreform und Sozialdemokratie, ebd., S. 486 ff.; H. A. Winkler, Der Weg in die Katastrophe, 1987, S. 734 ff. Vgl. auch: Herr-
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fahrdt, Der Aufbau des Neuen Staates, 1932; O. Kühnemann, Arbeiterkammern gegen Oberhaus, Dt. Republik, 7 / 1932, S. 233 ff.; E. Schiffer, Sturm ü. Deutschland, 1932, S. 285 ff.; ders., Oberhaus, Der Ring, Beilage, 7 / 1932, S. 75 f.; C. Düssel, Berufsständische Verfassungspolitik, 1932. Zur Orientierung: E. R. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1005- 1012, 1058 ff., 1973 ff. [2] Zur Diskussion um eine Reichsreform, gewöhnlich in Verbindung mit einer Verfassungs- und Verwaltungsreform u. d. Forderung nach einer Überwindung des „Dualismus" Preußen - Reich vgl. u. a.: Bund z. Erneuerung d. Reiches (Hrsg.), Reich u. Länder, 1928; ders., Die Reichsreform, I, 1933; O. Koellreutter, Integrationslehre u. Reichsreform, 1930; A. Medicus, Reichsreform und Länderkonferenz, 1930; C. Schmitt, Reichs- u. Verfassungsreform, DJZ, 1931, Sp. 5 ff.; zusammenfassend: Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 667 ff.; A. Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen, Bd. II, 1967, S. 59 99; ausführlich G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, 2. Aufl. 1987, S. 563 - 612; vgl. a.: L. Biewer, Reichsreformbestrebungen i. d. Weimarer Republik, 1980. Die territoriale Reichsreform scheiterte auf der „Länderkonferenz" am 5. / 6. 7. 1929 durch das bayerische Veto. Besondere Bedeutung kommt hier dem vom ehemaligen Reichskanzler Hans Luther (1879 - 1962) im Januar 1928 gegründeten „Bund zur Erneuerung des Reiches" (sogen. „Luther-Bund") zu, der mit zahlreichen Memoranden und seinen Zeitschriften „Reichsreform" und „Reich und Länder" in die Debatte eingriff, sich jedoch durch seine Forderung, Preußen zu einem vom Reiche regierten „Reichsland" zu machen und so als Bundesstaat zu beseitigen, unpopulär machte; vgl. Brecht, a. a. O., S. 72 f. - Interessant das Buch eines eng mit Schmitt bekannten Zeitzeugen: Gerhard Günther (1889 - 1976), Das werdende Reich. Reichsgeschichte und Reichsreform, 1932. - S. a. die Dokumente bei: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, IV, 1991, S. 462 - 472. - Zu der Reichsreform Papens vgl. Fn. [1]. [3] Schmitts eigene Pläne zu einer Wahlrechtsreform schildert: P. Tommissen, Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie (Periode 1888 - 1933), in: H. Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum - Über Carl Schmitt, 1988, S. 71 ff., hier: S. 88 ff. Ansonsten: H. Nawiasky, Betrachtungen zur Reform des dt. Reichstagswahlrechts, ZfP, 1927, S. 544 ff.; J. Schauff (Hrsg.), Neues Wahlrecht, 1931; F. A. Hermens, Demokratie und Wahlrecht, 1933 (wohl der bekannteste Autor auf diesem Gebiet, der die Krise Weimars z. T. im Verhältniswahlrecht begründet sah). - Zur Kritik d. Verhältniswahl vgl. u. a.: M. Weber, Politik als Beruf (1919), in: Gesammelte polit. Abhandlungen, 3. Aufl., 1958, S. 543 f.; R. Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl (1919), in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 6 0 - 6 7 ; G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, S. 114 ff. Hermens griff das Thema noch des öfteren auf, vgl. seine Beiträge aus den Jahren 1931 u. 1932 in: Zwischen Politik u. Vernunft, 1969, S. 77 - 105 u.: Demokratie oder Anarchie?, 1951. - Die verschiedenen Anläufe z. einer Wahlreform erörtert: F. Schäfer, Zur Frage d. Wahlrechts i. d. Weimarer Republik, FS Brüning, 1967, S. 119 ff.; Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 349 ff. (mit Lit.). Zur Wahlrechtsreform unter berufsständischen Gesichtspunkten: Fr. Schmidt, Vom Wesen und Wert der parlamentarischen u. d. berufsständischen Idee, 1929, S. 89 ff., 97 f. u. ö. [4] Unter „Regierungsproblem" versteht Schmitt hier wohl die Frage, ob der RPr in Krisenzeiten die Kabinettsbildung bestimmen darf und e. Regierung auch gg. eine Mehrheit des RT im Amt halten darf; dazu u. a.: H. Herrfahrdt, Die Kabinettsbildung nach d. Weimarer Verfassung unter d. Einfluß der politischen Praxis, 1927 (bejahend), u. E. Wolgast, Die 5 Staat, Großraum, Nomos
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Kampfregierung, 1929 (ablehnend). Vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 48 ff. Vgl. a. vorl. Bd., Antwort an Kempner, FN [12], S. 469. [5] Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 158 ff.; ders., Inhalt u. Bedeutung d. zweiten Hauptteils d. RV, in: Anschütz / Thoma, Handbuch d. Dt. Staatsrechts, II, 1932, S. 572 ff. (Ndr. in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 181 ff.); R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 94 ff.; Huber, Bedeutungswandel der Grundrechte, AöR, 1933, S. 1 ff.; ders., Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 94 ff. (mit Lit.). Vgl. auch Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, Ausg. 1933, S. 505 ff. [6] Einer d. Vertreter Bayerns beim Leipziger Prozeß, Staatsrat v. Jan, wies auf zwischen dem 22. u. 26. 9. 1870 stattfindende Verhandlungen über den Eintritt d. süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund hin, bei denen Bayern angeblich die Sequestration mit Erfolg abgelehnt hätte; v. Jan unterstellte die fortdauernde Wirkung dieses Vertrages, was Bilfinger, über „die Rosine aus dem bayerischen Archiv" spottend, zurückwies; vgl.: Preussen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Stenogrammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932, 1933, S. 199 ff. u. 224 f. In Wirklichkeit handelte es sich dabei aber nur um ein Protokoll der Münchener Konferenzen v. Sept. 1870, das einige bayerische Vorschläge zur kommenden Reichsverfassung enthielt, jedoch keine Vereinbarung o. Geheimvereinbarung; das betr. Protokoll war bereits 1925 veröffentlicht worden (M. Doeberl, Bayern und die Bismarcksche Reichsgründung, 1925, S. 90 ff.); vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, III, 2. Aufl. 1978, S. 737 f., „Die Legende vom bayerischen Geheimvertrag". - Zu d. Konflikten Bayern - Reich während der Weimarer Republik vgl. u. a.: Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 210 ff., S. 257 f., S. 347 ff. Allgemein zum Verhältnis Reich - Länder vgl. die gleichnamige Zeitschrift u. Huber, Bd. VI, S. 67 - 81; auch G. Schulz, Zwischen Demokratie u. Diktatur, I, 2. Aufl., 1987, S. 215-449. [7] Vgl.: Preussen contra Reich, a. a. O., S. 514 f. Zu den Konflikten Reich - Preußen vgl. u. a.: Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1005 ff., S. 1014 ff. Zu den spezif. Problemen Preußen u. z. s. Übergewicht im Reich („Dualismus") vgl. u. a. Schulz, FN [6], S. 249 ff.; Huber, VII, 744 - 779. [8] Soll wohl heißen: „Statt der wirklichen Exekutive" o. ä. [9] Vgl. ab hier die starken textlichen Überschneidungen mit: Schmitt, Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland, Europäische Revue, Februar 1933, S. 65 ff.; Ndr. in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 185 ff. u. ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 359 ff. [10] Den Begriff „totaler Staat" benutzte Schmitt wohl zum ersten Mal in einem Vortrag vor dem Reichswirtschaftsrat am 5. 12. 1930, vgl. den Bericht „Carl Schmitt über den totalen Staat", Der Ring, 21. 12. 1930, S. 912. Von da ab wurde der Begriff als Schlagwort populär, vgl. etwa: Dr. C. Ungewitter, Aktivierung der Wirtschaftspolitik - Der totale Staat - Generationen und Parteigruppierung - Durch „Sachintegration" zum Staatsvolk, Vortrag auf d. Hauptversammlung d. Vereins z. Wahrung der Interessen d. ehem. Industrie Deutschland, Baden-Baden, 9. 5. 1931, Manuskriptdruck, S. 12: „Damit wird (durch Kelsen in dessen Werk „Allgemeine Staatslehre", 1925, S. 39 ff. - G. M.) die Macht zum Selbstzweck erklärt und dehnt sich uferlos über d. ganze Leben aus, so daß heute schon Rechtslehrer wie Carl Schmitt vom »totalen Staat' sprechen, d. h. einem Staat, der alles gesellschaftliche Leben, einschließlich d. Wirtschaft, in sich einsaugt. Damit wird der Staat tatsächlich zum Levia-
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than, zum Allesverschlinger, wie schon d. englische Philosoph Hobbes den Staat nannte" ein schönes Beispiel, wie der Begriff schon früh oszillierte. Schmitt setzte d. Begriff wohl erst mit s. Buch „Der Hüter der Verfassung", 1931, S. 73-91, durch - zunächst bezogen auf den schwachen, „quantitativen" totalen Staat Weimars, dann auf den starken, „qualitativ" totalen Staat, in: Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland, Europ. Revue, Februar 1933, S. 65 - 70 (vor d. Machtergreifung entstanden und als Hoffnung auf Schleicher zu verstehen, vgl. Anhang zu „Starker Staat und gesunde Wirtschaft", vorl. Bd., S. 85 - 91). Die Entstehungsgeschichte d. Begriffs schildert Schmitt in einem Brief an J. P. Faye v. 5. 9. 1960, abgedr. in: P. Tommissen, Antitotalitair Denken in Frankrijk, Brüssel 1984, S. 52 - 54; vgl. auch Faye, Theorie der Erzählung, 1977, S. 63 ff., 72, u. ö.; ders., Totalitäre Sprachen, n, 1977, S. 867 ff. Zur allgem. Geschichte d. Begriffs in Deutschland, der Anregungen d. ital. Faschismus („stato totalitario") u. Ernst Jüngers („Totale Mobilmachung") aufnahm: M. Jänicke, Totalitäre Herrschaft, 1971, S. 36 ff. - Vgl. auch: H. O. Ziegler, Autoritärer oder totaler Staat, 1932, u. E. Forsthoff, Der totale Staat, 1933 (zwei unterschiedliche Aufl.). Zur Polemik gg. den Begriff i. Dritten Reich: G. Maschke, Nachwort zu Schmitt, Der Leviathan i. d. Staatslehre d. Thomas Hobbes, 1983, 2. Aufl., bes. S. 227 ff. [11] Z. Diskussion um eine berufsständische („erste" o. „zweite" Kammer, z. T. auch als „Oberhaus" konzipiert u. als Ausbau d. Reichswirtschaftsrates gedacht) vgl. u. a. : H. Herrfahrdt, Das Problem d. berufsständischen Vertretung von d. franz. Revolution bis z. Gegenwart, 1921; Der berufsständische Gedanke. Sonderheft d. „Tat", Okt. 1925; E. Tartarin-Tarnheyden, Die Berufsstände, ihre Stellung i. Staatsrecht u. d. Deutsche Wirtschaftsverfassung, 1922; ders., Berufsverbände u. Wirtschaftsdemokratie, ein Kommentar z. Art. 165 d. RV, 1930; E. List, Der Berufsständegedanke i. d. dt. Verfassungsdiskussion seit 1919, Diss. Lpzg. 1930; ders., Gedanken z. Einführung e. ersten Kammer, Schm. Jb., 56,1, 1932, S. 77 ff.; H. Bußhoff, Berufsständisches Gedankengut z. Beginn d. 30er Jahre i. Österreich u. Deutschland, ZfP, 1966, S. 451 ff. - Grundsätzlich: J. H. Kaiser, D. Repräsentation organisierter Interessen, 1956, bes. S. 54 ff., S. 349 ff. - Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 390 ff., leistet einen Überblick ü. die miteinander unvereinbaren konservativen („Organismus"), liberal-pragmatischen („Selbstverwaltung d. Wirtschaft"), sozialistischen („Räte") u. gewerkschaftlichen („Wirtschaftsdemokratie") Deutungen d. Art. 165 u. d. Scheitern d. Wirtschaftsrates, dem es nie gelang, die »Antinomie v. Interessenvertretung u. interessenfremden Sachurteil" zu überwinden. Die zahllosen Varianten des Ständegedankens in Deutschland, bis hin zum am ital. Faschismus sich orientierenden Korporativismus, zum Universalismus Spanns und zum katholischen Solidarismus untersucht so kritisch wie gründlich: Justus Beyer, Die Ständeideologien der Systemzeit u. ihre Überwindung, Darmstadt 1941. Zur Geschichte des Reichswirtschaftsrates, der nie definitive Form gewann, da man sich weder über s. Befugnisse noch s. Zusammensetzung einigen konnte und der am 5. 4. 1933 aufgelöst wurde (als „Umwandlung" firmiert), vgl. u. a.: G. Bernhard, Wirtschaftsparlamente, 1924; Fr. Glum, Selbstverwaltung der Wirtschaft, 1924, bes. S. 130 ff., 159 ff.; ders., Der deutsche und der französ. Reichswirtschaftsrat, 1929; F. J. Dotzenrat, Wirtschaftsräte und die Versuche zu ihrer Verwirklichung in Preußen - Deutschland, 1933; vgl. a. L. Wittmayer, Die Weimarer Reichs Verfassung, 1922, S. 405 - 25; Nawiasky, Die Grundgedanken d. Reichsverfassung, 1920, S. 156 f.; Poetzsch, Handausgabe d. Reichsverfassung, 1921, S. 210 ff.; Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 378 - 383, der nach sehr krit. Bemerkungen zu dem Schluß kommt: „Und dennoch ist der Grundgedanke richtig. Unser Wirtschaftsleben ... kann nur dann gesunden, wenn die Sachkunde die Herrschaft gewinnt über die bloße Parteipolitik!"; Finger, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1923, S. 334ff. 5*
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(begnügt sich mit Dokumenten); v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre u. Wirklichkeit, 1924, S. 191 ff., kritisiert die Unklarheit und Vieldeutigkeit d. Art. 165; vgl. auch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Ausg. 1933, S. 742 ff.; Dokumente bei Huber, Dokumente zur dt. Verfassungsgeschichte, IV, 3. Aufl., 1991, S. 188 ff. - Ob d. Art. 165 eine selbständige öffentl. Wirtschaftsverfassung beinhalte, wurde von den meisten Verfassungsjuristen eher bezweifelt, vgl. u. a.: Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 96 ff.; Huber, Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, 1931; ders., Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932, S. 32 ff.; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Ausg. 1933, S. 742 ff.; bejahend hingegen: F. Neumann, Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung, Die Arbeit, 1930, S. 569 ff.; Fr. Giese, Grundriß des Reichsstaatsrechts, 5. Aufl. 1930, S. 107, spricht immerhin davon, daß „in die politische Verfassung des Reiches . . . eine selbständige Wirtschaftsverfassung eingebaut" sei. - Zur Theorie von d. Wirtschaftsverfassung vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 1025 ff. Der Begriff geht wohl auf Hugo Sinzheimer zurück, der damit eine selbständige, neben der Staatsverfassung aufgerichtete, „besondere Gesellschaftsverfassung" meinte; vgl. s. Ausführungen in: Verhandlungen d. Nationalversammlung, 21. 7. 1919, Bd. 328, S. 1748 ff.; Sinzheimer wies dabei aber eine Rätediktatur zurück. Vgl. auch: G. Brüggemeier (Hrsg.), Entwicklung des Rechts im organisierten Kapitalismus, I, 1977, S. 314 - 19, 324 - 27, 379 - 88 (verschiedene Materialien u. Dokumente). Vgl. auch FN [20], S. 69. [12] Zum Problem der Presse und damit der gesellschaftlichen Macht sowie zur Notwendigkeit staatlicher Kontrolle über Funk und Film vgl. Schmitts Diskussionsbeitrag auf dem Dt. Soziologentag, Berlin 1930, in: Schriften der dt. Gesellschaft f. Soziologie, 1930, S. 56 ff. - Am ursprünglich privatrechtlich organisierten Rundfunk d. Weimarer Republik war ab 1926 mit der Gründung der Reichsrundfunkgesellschaft die Reichspost mit 51,2 % beteiligt. Die Regierung v. Papen leitete im Juli 1932 eine Reform ein, überführte die privaten Anteile in die öffentl. Hand u. erhöhte den Einfluß des Reichsinnenministers zu Lasten der Reichspost; vgl. dazu G. Holthausen (= E. Forsthoff), Die Rundfunkreform, Dt. Volkstum, 2. Septemberheft 1932, S. 766 f.; allgemein: ders., Presse, Rundfunk und Staat, ebd., 1. Maiheft 1932, S. 347 ff. u. St. (= W. Stapel), Rundfunkpolitik, ebd., 1. Januarheft 1933, S. 7 ff. - H. Bausch, Der Rundfunk im politischen Kräftespiel der Weimarer Republik, 1956, bewertet S. 85 ff. die Reform als günstig für die spätere NS-Gleichschaltung. [13] Zur Politisierung der Gemeinden und zu ihrer Auslieferung an die Parteien: E. Forsthoff, Die Krisis der Gemeindeverwaltung, 1931, bes. S. 58 ff.; vgl. auch A. Röttgen, Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung, 1931. - Diese „in der Nachkriegszeit eintretende Politisierung im Sinne eines bestimmenden Einflusses des Parteibetriebes auf die öffentliche Willensbildung . . . (hat) wesentlich zu den Zuständen geführt, die eine sparsame, rationelle und sachliche Verwaltung erschweren und die Finanznot steigerten", so J. Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, 1932, S. 8. [14] Vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 94 ff. u. ders., Die Weimarer Verfassung, in: Staatsbürgerkunde und höhere Schule, Breslau 1931, S. 34 ff. Rückblickend u. auch d. Problem d. Reichsreform u. d. „Preußenschlages" erörternd: Huber, Verfassung, .1937, S. 179- 183. [15] Der Ausdruck stammt von E. R. Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, 1932, S. 18 ff., der angesichts des Leipziger Prozesses zum ,Preussenschlag' die „Front des Parteienbundesstaates" untersuchte. Der Parteienbundesstaat ist „ein Staatsgemenge, das auf einer
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Mischung und Überschneidung der staatlichen Organisationen der Länder und der parteipolitischen Organisationen der Interessen- und Weltanschauungsgruppen beruht." (Ebd., S. 18.) [16] Vgl. dazu Schmitts rückblickender, auch die NS-Zeit einbeziehender Kommentar in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 366. [17] Wann v. Schwerin-Krosigk diese Formel zum ersten Mal benutzte, konnte nicht ermittelt werden. Vgl. aber s. Ausführungen vor d. Hauptausschuß d. RDI a. 14. 12. 1932, endend mit „ehrbare Wirtschaft in einem sauberen Staat, freie Wirtschaft in einem starken Staat"; Schulthess' Europ. Geschichtskalender, 1932, S. 222. [18] Vgl. d. klass. Darstellung: H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung i. 19. Jhdt., 1950. - Zur gemeindlichen Selbstverwaltung i. d. Weimarer Republik, die sich auf Art. 127 d. WRV gründete („Gemeinde u. Gemeindeverbände haben d. Recht d. Selbstverwaltung innerhalb d. Schranken d. Gesetze") vgl. u. a.: Forsthoff, D. öffentl. Körperschaft i. Bundesstaat, 1931, bes. S. 100 ff.; H. Peters, Grenzen d. kommunalen Selbstverwaltung, 1926, bes. S. 225 ff. Durch die Krise d. gemeindlichen Finanzwirtschaft kam es i. d. letzten Jahren der Weimarer Republik immer mehr z. Einsetzung von Staatskommissaren i. d. Gemeinden; vgl. dazu die „Dietramszeller Verordnung", 24. 8. 1931, RGBl. I, 453, Nr. 410, in der die Landesregierungen ermächtigt wurden, die erforderlichen Maßnahmen auch in Abweichung von bestehenden Landesgesetzen zu treffen. [19] Vgl. die bei Schmitt angefertigten Dissertationen von W. Weber, Parlamentarische Unvereinbarkeiten (Inkompatibilitäten), AöR, 1930, S. 161 - 254, u. R. Büttner, Wirtschaftliche Inkompatibilitäten, Bochum 1933. S. auch Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 183, 186, 189, 255, 272, 317 u. ders., Die Stellvertretung des Reichspräsidenten (1933), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 351 - 358. [20] Außerhalb des Kreises um v. Papen wurde die Idee eines Oberhauses vor allem von E. Tatarin-Tarnheyden propagiert; danach sollte die berufsständische Vertretung, sich bildend aus einem Kulturrat, einem Rechtsparlament für „öffentliche Berufe" und einem Wirtschaftsparlament, „eine oberste Volksvertretung aus sich . . . projizieren." Vgl. Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie, 1930, bes. S. 233 ff.; Kopfzahldemokratie, organische Demokratie und Oberhausproblem, ZfP, 1926, S. 98 ff.; Verfassungsreform und Oberhausproblem, Deutsche Allgemeine Zeitung, 22. 11. / 7. 12. / 16. 12. 1932. Als verfassungspolitisch kaum tragbar für das Weimarer System sah u. a. H. Nawiasky ein Oberhaus an: vgl. ders., Die Schaffung eines Oberhauses, Reichsverwaltungsblatt und Preuß. Verwaltungsblatt, 19. 11. 1932, S. 930 ff. - Erstaunlicherweise plädierte auch Schmitts Schüler E. R. Huber für ein Oberhaus, in dem Berufsverbände und Gewerkschaften „Präsentationsrechte" besitzen sollten; vgl. Huber, Die Berufsverbände und der Staat, Dt. Volkstum, 1. Dezemberheft 1932, S. 953 ff. Der Reichsjustizminister a. D., E. Schiffer, Sturm über Deutschland, 1932, S. 285 ff., forderte ein Oberhaus im klassisch-liberalen Sinne als eine „die formale Demokratie ergänzende Aristokratie." Vgl. auch FN [11], S. 68. [21] Art. 54 WRV lautete: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht." Die in der Spätphase Weimars immer bedeutsamere Rolle des RPr und Interpretationen der Verfassung wie Herrfahrdts „Kabinettsbildung" (s. FN [4]) waren implicit gegen diesen Art. gerichtet. Vgl. E. Wolgast, Zum deutschen Parlamentarismus. Der Kampf um Artikel 54 der Deutschen Reichsverfassung, 1929.
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Erster Teil: Verfassung und Diktatur [22] Vgl. vorl. Bd., S. 38 - 43.
[23] Trotz seiner extensiven Auslegung des Art. 48 (vgl. Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, VVDStRl, 1924, S. 63 ff.; veränderter Ndr. in: Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 213 ff.) lehnte Schmitt lange Zeit die Zulässigkeit gesetzvertretender Notverordnungen ab und plädierte statt dessen für eine Ausweitung besonderer Notbefugnisse. Ab 1931 bejahte auch Schmitt die Zulässigkeit solcher Notverordnungen, erklärte die Notverordnungsmacht jedoch nicht als in der alten Diktaturkompetenz enthaltenes, sondern als durch die Entwicklung zum wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustand hinzugetretenes Moment. Vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 118 f.; ders., Legalität und Legitimität, 1932, S. 79; E. R. Huber, Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Weimarer Staatstheorie, FS W. Weber, 1974, S. 31 ff.; Ndr. in ders., Bewahrung und Wandlung, 1974, S. 193 ff.
Anhang des Herausgebers Carl Schmitt hielt diesen Vortrag am 4. 11. 1932 auf der Hauptversammlung des „Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie, e. V.". Der Tagungsort, vielleicht Baden-Baden o. Berlin, konnte nicht ermittelt werden. Der Vortrag wurde als 15seitiges Manuskript gedruckt. - Man darf vermuten, daß Georg v. Schnitzler (1884 - 1962), Leiter d. Hoechst-Werke u. führendes Mitglied d. Vereins, die Einladung Schmitts initiierte o. förderte. Schmitt lernte v. Schnitzler während des I. Weltkrieges kennen, als beide beim Stellvertr. Generalkommando d. Bayerischen I. Armeekorps dienten - Schmitt als Leiter des Subreferates P 6, u. a. zuständig f. Überwachung d. Friedensbewegung u. der USPD, v. Schnitzler als Leiter des Subreferates P 5 (Presseprobleme u. Devisenhandel). Aus dieser Zusammenarbeit erwuchs eine lebenslange Freundschaft, die auch v. Schnitzlers Ehefrau Lilly, geb. v. Mallinkrodt (1889 - 1981) einbezog; vgl. P. Tommissen, Schmittiana II, 1990, S. 115 f.; Schmittiana III, 1991, S. 156 ff. Schmitts Vortrag fand 12 Tage nach dem Leipziger Urteil zum Prozeß ,»Preussen contra Reich" statt, durch den die mit Papens Reichsreform verbundenen Pläne zur Überwindung des Dualismus Preußen - Reich scheiterten; 2 Tage vor den Reichstagswahlen, bei der die NSDAP von bis dahin 230 auf 196 Mandate zurückfiel. Da aber die KPD statt bisher 89 Mandaten 100 gewann, blieb die negative Reichstagsmehrheit erhalten. Der Berliner Verkehrsstreik (3. - 7. 11. 1932) zeitigte eine taktische Zusammenarbeit von NDSDP u. KPD. Papen nahm zwar im Wahlkampf scharf gg. Hitler Stellung, sah sich aber, aufgrund d. Verweigerungshaltung d. eigenen Partei, d. Zentrums, gezwungen, mit Hitler in einen Briefwechsel zur Kanzlerfrage einzutreten. Da Hitler auf s. Kanzlerschaft beharrte u. die bloße Mitarbeit ausschlug, vollendete sich die „Herbstkrise" d. Kabinetts Papen, das am 17. 11. zurücktrat. Vgl. u. a. E. Eyck, Geschichte d. Weimarer Republik, II, 1956, S. 331 - 349; Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1128 - 1147. Eine Diskussion v. Schmitts Vortrag fand, zumindest unter Staats- und Verfassungsrechtlern, nicht statt; der die hier erörterten Motive weiter ausführende „Langnam-Vortrag" v. 23. 11. 1932 fand weit stärkere Beachtung. - Allgem. zu d. damaligen Überlegungen: Chr. Gusy, Selbstmord o. Tod? - Die Verfassungsreformdiskussionen d. Jahre 1930 - 1932, ZfP, 4/1993, S. 397 - 417.
Starker Staat und gesunde Wirtschaft Meine sehr verehrten Herren! Es ist natürlich, daß ich die Frage „Starker Staat und gesunde Wirtschaft" von der Seite des Staates her behandle. Sie haben aus den Bemerkungen Ihres Herrn Vorsitzenden, Dr. Springorum, eine Reihe wirtschaftlicher Vorschläge und Möglichkeiten gehört.[l] Herr Dr. Springorum hat auch Vorschläge und Pläne meines verehrten Freundes Popitz erwähnt, die sich mit der administrativen Seite der Sache befassen. [2] Es ist nun notwendig, nach diesen entweder mehr wirtschaftlichen oder mehr administrativen Gesichtspunkten die spezifisch staatlichen und damit notwendigerweise politischen Gesichtspunkte ins Auge zu fassen. Ich habe nicht vor, zu politisieren, aber ich muß von politischen Dingen sprechen, denn ein Staat ist etwas Politisches, und ein starker Staat ist in einer ganz besonders intensiven Weise ein politisches Gebilde. Ich bin der gleichen Meinung wie Herr Dr. Springorum, wenn er sagte, nur ein starker Staat sei imstande, sich von nichtstaatlichen Dingen abzusetzen. Der Vorgang der Entpolitisierung, die Schaffung staatsfreier Sphären ist nämlich ein politischer Vorgang. Davon möchte ich hier ausgehen.
I. Vor zwei Jahren habe ich hier an der gleichen Stelle in der Aussprache das Wort genommen. Damals stand Ihre Tagung unter dem Stichwort „Mut zum Handeln".[3] Ich erlaubte mir damals zu sagen, es komme weniger auf schön ausgearbeitete organisatorische Reformpläne als auf die wirklichen politischen Kräfte an, sie richtig zu erkennen und in irgendeiner Weise heranzuziehen. Vor allen Dingen sollte die Regierung alle legalen Mittel benutzen. Mir lag daran, daß diese legalen Möglichkeiten sehr stark waren; viel stärker als man sich bisher zum Bewußtsein gebracht hatte. Inzwischen hat sich diese Auffassung in weitem Maße nicht schlecht bewährt. Wir haben in diesen zwei Jahren insbesondere die praktische Brauchbarkeit und Energie des Art. 48 kennengelernt. Freilich setzte inzwischen auch eine starke Gegenbewegung zur Diskreditierung und Diffamierung des Artikels 48[4] ein. Darin dürfte ein Beweis dafür liegen, daß dieser Artikel 48 auch heute noch ein gutes, brauchbares und unentbehrliches Instrument einer starken Regierung ist. Es liegt nahe, sich die Frage zu stellen, ob nun in diesen zwei Jahren wirklich jemand den Mut zum Handeln, der damals von Ihnen allen gefordert wurde, bewie-
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sen hat. Können wir in dieser Hinsicht ein Aktivum verzeichnen? Im großen und ganzen hatten wir doch oft den Eindruck, daß der Staat schwächer und die Zustände schlimmer und chaotischer geworden seien. Ich glaube, die Frage, ob unter dem Gesichtspunkt des Mutes zum Handeln wenigstens ein einziges Aktivum vorliegt, läßt sich mit Ja beantworten. Der Preußenschlag vom 20. Juli hat die schlimmste Fehlkonstruktion der Weimarer Verfassung, den Dualismus von Reich und Preußen, im Kern gefaßt und an einer wichtigen Stelle korrigiert. Das ist als Aktivum und als ein Beweis von Mut zum Handeln anzuerkennen. Im übrigen ist dieser Vorgang sehr schnell wieder, wenn ich einmal so sagen darf, relativiert, wenn auch nicht paralysiert worden, und es zeigte sich eine andere Gefahr für den starken Staat, die während des Prozesses vor dem Leipziger Staatsgerichtshof - es waren in Wirklichkeit zwölf Prozesse - zutage trat: daß nämlich sofort, wenn einmal ein echter Mut zum Handeln bewiesen wird, und der starke Staat, nachdem alles so lange gerufen hatte, wirklich erscheint, sich plötzlich die merkwürdigsten Verbündeten und alle Interessenten des status quo zusammenfinden und zur Abwehr vereinigen. Die Front, die in diesem Prozeß gegen das Reich auftrat, war in Leipzig wie auf einer Bühne sichtbar. Fraktionen und amtsenthobene Minister erschienen gemeinsam mit den auf ihre Staatlichkeit pochenden Ländern Bayern und Baden. Der Parteienbundesstaat[5] enthüllte sich in seiner ganzen Klarheit und Deutlichkeit. Der bayerische Vertreter sprach von der staatlichen Dignität Bayerns und bezeichnete den Leipziger Staatsgerichtshof als eine zwischenstaatliche Instanz; er verglich ihn sogar mit dem von manchen so genannten „Weltgerichtshof 4 im Haag;[6] aber auf meine Frage, wie es denn komme, daß dieser Staat Bayern die erste Voraussetzung zwischenstaatlichen Verkehrs und zwischenstaatlicher Rücksichten, nämlich Nichtintervention in die Angelegenheiten eines anderen Staates, mißachte und hier Arm in Arm mit amtsenthobenen preußischen Ministern und mit preußischen Landtagsfraktionen erscheine, wurde mir erwidert: „Wir nehmen Bundesgenossen, wie wir sie finden." Das ist ein bedeutungsvolles Wort und sozusagen die Devise des Parteienbundesstaates. Sie dürfen sicher sein, meine Herren, wenn der starke Staat wirklich erscheint, so werden sich die heterogensten Bundesgenossen zusammenfinden, um dafür zu sorgen, daß er nicht so stark ist, wie es unbedingt nötig wäre. Darin liegt die große Lehre dieses Leipziger Prozesses. Ich erwähne es mit einem Worte, weil bei weitem noch nicht zum politischen Bewußtsein des deutschen Volkes gekommen ist, um was es sich bei diesem Prozeß eigentlich handelte. Das gegenwärtig in Berlin sich abspielende groteske Nebeneinander von drei Regierungen in der Reichshauptstadt des Deutschen Reiches, das den deutschen Staat zum Gespött macht, ist eine natürliche, adäquate Folge justizförmiger Politik. Wenn wir wirklich in eine neue Aera Leipziger Staatsgerichtshofprozesse hineingehen sollten, so fürchte ich allerdings, daß wir gar nicht anzufangen brauchten, von einem „starken Staat" zu sprechen. Diese Gefahr ist jedem, der die Lehren der deutschen Verfassungsgeschichte und die Entwicklung des heutigen Parteienbundesstaates beachtet, deutlich erkennbar. In drei erbärmlichen Jahrhunderten ist die politische
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Einheit des deutschen Volkes zugrunde gegangen, und zwar, wie wir nicht vergessen sollten, an den Methoden justirförmiger Politik! Das war die Zeit des Reichskammergerichts von Wetzlar und des Reichshofrates. [7] Mit einigem Entsetzen sah ich die Schatten dieser Zeit in Leipzig wieder auftauchen. Hoffen wir, daß sie bald verschwinden und nie wiederkehren. Jenes einzige Aktivum, der 20. Juli, ist durch das Leipziger Urteil verunstaltet worden. Davon abgesehen läßt sich in einem Rückblick auf dieses letzte Jahr feststellen, daß sich doch eine allgemeine Erkenntnis und Einsicht verbreitet hat, und die bisherigen Methoden der Staatsführung und der Behandlung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft allgemein als unmöglich empfunden werden. Heute dürfte die schlimmste Geistesverwirrung auf diesem Gebiete verschwunden sein. Vor etwa zehn Jahren hallte ganz Deutschland und die ganze Erde von dem Rufe wider: Weg mit der Politik! Man hielt es für die Lösung aller Probleme, die Politik zu beseitigen, den Staat zu beseitigen und durch technische und wirtschaftliche Sachverstände nach angeblich rein sachlichen, rein technischen und rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten alle Fragen zu entscheiden. Zahlreiche Aufsätze und Broschüren berühmter Autoren und Wirtschafter aus allen Ländern haben das in den Jahren 1919 bis 1924 tausendmal wiederholt. [8] Inzwischen haben wir auch die Sachverständigen- und Technikerkonferenzen kennengelernt. Ganze Berge wertvollen Materials dieser Sachverständigen lagern in Genf, in Berlin und in sämtlichen anderen Hauptstädten der Erde, und unter dieser Art von Sachlichkeit ist die Entscheidung wichtigster Fragen verschüttet. Es hat sich herausgestellt, daß eine solche Art der Entpolitisierung ein brauchbares politisches Mittel sein kann, um unangenehme Probleme und notwendige Änderungen zu vertagen und jeden entschiedenen Willen sich leerlaufen zu lassen. Nach diesen etwa fünf Jahren radikaler Forderungen einer gänzlichen Nichtpolitik ist die Erkenntnis durchgedrungen, daß alle Probleme politische Probleme sein können. Wir erlebten in Deutschland eine Politisierung aller wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und sonstigen Fragen des menschlichen Daseins, die dem 19. Jahrhundert unbegreiflich gewesen wäre. Nachdem man einige Jahre versucht hatte, den Staat zu ökonomisieren, schien jetzt umgekehrt die Wirtschaft gänzlich politisiert zu sein. Jetzt begriff man plötzlich die wirksame und einleuchtende Formel vom totalen Staat. Ich möchte sie einen Augenblick näher erörtern, weil sie zwar nicht einfach den Schlüssel für die Frage des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft liefert, aber doch die Richtung zeigt, in der die Lösung vor sich gehen kann. Es gibt einen totalen Staat. [9] Man kann die Formel vom „totalen Staat" mit irgendwelchen Empörungs- oder Entrüstungsschreien als barbarisch, sklavisch, undeutsch oder unchristlich von sich weisen, aber damit ist die Sache selbst nicht aus der Welt geschafft. Jeder Staat ist bestrebt, sich der Machtmittel, die er zu seiner politischen Herrschaft gebraucht, zu bemächtigen. Es ist sogar das sichere Kennzeichen des wirklichen Staates, daß er das tut. Nun stehen wir alle unter dem Eindruck der gewaltigen Machtsteigerung, die heute jeder Staat durch die Steigerung der Technik, namentlich der militärtechnischen Machtmittel, erfahrt. Auch einem
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kleinen Staat und seiner Regierung verleihen die modernen technischen Mittel eine solche Macht und Einwirkungsmöglichkeit, daß daneben die alten Vorstellungen sowohl von staatlicher Macht als auch vom Widerstand gegen sie verblassen. Überlieferte Bilder von Straßenaufläufen, Barrikaden u. dgl. erscheinen angesichts dieser neuzeitlichen Machtmittel als ein Kinderspiel. Jeder Staat ist gezwungen, die neuen Waffen in die Hand zu nehmen. Hat er dazu nicht die Kraft und den Mut, so wird sich eine andere Macht oder Organisation finden, die sie in die Hand nimmt, und das ist dann eben wieder der Staat. Durch die Steigerung der technischen Mittel ist aber auch die Möglichkeit einer Massenbeeinflussung gegeben, die weit stärker sein kann als das, was Presse und andere überlieferte Mittel der Meinungsbildung zu bewirken vermögen. Es gibt heute in Deutschland noch eine sehr weit respektierte Pressefreiheit. Trotz aller Notverordnungen ist dieser Spielraum der freien Meinungsäußerung noch groß und denkt noch niemand an Pressezensur. Aber auf die neuen technischen Mittel, Film und Rundfunk, muß jeder Staat selbst die Hand legen. Es gibt keinen noch so liberalen Staat, der über Film- und Lichtspielwesen und über den Rundfunk nicht mindestens eine intensive Zensur und Kontrolle für sich in Anspruch nimmt. Kein Staat kann es sich leisten, diese neuen technischen Mittel der Massenbeherrschung, der Massensuggestion und der Bildung einer öffentlichen Meinung einem Gegner zu überlassen. Hinter der Formel vom totalen Staat steckt also die richtige Erkenntnis, daß der heutige Staat ungeahnte neue Machtmittel und Möglichkeiten von ungeheurer Intensität hat, und daß wir noch kaum ahnen, in welchem Maße sie sich auswirken werden, weil unser Wortschatz und unsere Phantasie noch tief im 19. Jahrhundert stecken. Der totale Staat in diesem Sinne ist gleichzeitig ein besonders starker Staat. Er ist total im Sinne der Qualität und der Energie, so, wie sich der faschistische Staat einen „stato totalitario" nennt, [10] womit er zunächst sagen will, daß die neuen Machtmittel ausschließlich dem Staat gehören und seiner Machtsteigerung dienen. Ein solcher Staat läßt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Er kann Freund und Feind unterscheiden. In diesem Sinne ist, wie gesagt, jeder echte Staat ein totaler Staat; er ist es zu allen Zeiten gewesen, und das Neue sind nur die neuen technischen Mittel, über deren politische Bedeutung man sich klar sein muß. Nun gibt es aber noch eine andere Bedeutung des Wortes vom totalen Staat, und das ist leider Gottes diejenige, die für die Zustände des heutigen Deutschlands zutrifft. Diese Art totaler Staat ist ein Staat, der sich unterschiedslos auf alle Sachgebiete, alle Sphären des menschlichen Daseins begibt, der überhaupt keine staatsfreie Sphäre mehr kennt, weil er überhaupt nichts mehr unterscheiden kann. Er ist total in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie. Das ist allerdings der deutsche Parteienstaat. Sein Volumen ist ungeheuer ausgedehnt. Er beschäftigt sich mit allen mögli-
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chen Angelegenheiten, es gibt nichts, was nicht irgendwie mit dem Staate zusammenhängt. Kaum noch ein Kegelklub, der nicht, um weiterbestehen zu können, irgendwelche guten Beziehungen zum Staate, d. h. zu gewissen Parteien und Fonds, unterhalten müßte. Diese Totalität im Sinne des Volumens ist das Gegenteil von Kraft und Stärke. Der heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit, aus der Unfähigkeit heraus, dem Ansturm der Parteien und der organisierten Interessenten stand zu halten. Er muß jedem nachgeben, jeden zufriedenstellen und den widersprechendsten Interessen gleichzeitig zu Gefallen sein. Seine Expansion ist die Folge, wie gesagt, nicht seiner Stärke, sondern seiner Schwäche.
II. Wie sind wir in diesen Staat totaler Schwäche hineingeraten? Näher gesehen, haben wir überaupt keinen totalen Staat, sondern eine Mehrzahl totaler Parteien, die in sich die Totalität verwirklichen, in sich ihre Mitglieder total erfassen, die Menschen von der Wiege bis zur Bahre, vom Kleinkindergarten bis zum Begräbnis- und Verbrennungsverein dirigieren, sich in den verschiedenartigsten sozialen Gruppen total etablieren, und ihren Mitgliedern die richtigen Ansichten, die richtige Weltanschauung, die richtige Staatsform, das richtige Wirtschaftssystem, die richtige Geselligkeit von Partei wegen liefern. Parteien alten liberalen Stils, die einer solchen Organisation nicht fähig sind, geraten in Gefahr, zwischen den Mühlsteinen der modernen, in sich totalen Parteien zerrieben zu werden. Der Zwang zur totalen Politisierung scheint unentrinnbar. Das Nebeneinander mehrerer solcher totaler Gebilde, die auf dem Wege über das Parlament den Staat beherrschen und ihn zum Objekt ihrer Kompromisse machen, führt zu jener merkwürdigen quantitativen unterschiedslosen Ausdehnung des Staates auf alle Gebiete. Zwischen den Staat und seine Regierung auf der einen und die Masse der Staatsbürger auf der anderen Seite hat sich heute ein sehr festes durchorganisiertes Mehrparteiensystem eingeschoben und handhabt das Monopol der Politik, das erstaunlichste aller Monopole, nämlich das der politischen Vermittlung, das Monopol der Umschaltung der Interessen, die es selbstverständlich geben muß, in den Staatswillen. Der Zwang, sich diesem politischen Monopol zu unterwerfen, unter dem heute jedes Lebensgebiet und jede größere Menschengruppe in Deutschland steht, verändert und verfälscht alle Verfassungseinrichtungen. Wichtiger als jedes wirtschaftliche Monopol ist dieses politische Monopol einer Reihe von starken politischen Organisationen, die einen starken Staat nur unter der Bedingung tolerieren, daß dieser Staat ihr Ausbeutungsobjekt ist. Das Hauptmittel dieses politischen Monopols ist die Aufstellung der Kandidatenliste. Jede Wahl ist abhängig von der Kandidatenliste. Die Masse der Wähler kann keinen Kandidaten von sich aus aufstellen. Heute ist die ungeheure große
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Masse der Wähler restlos von etwa fünf Parteilisten abhängig. Die Wahl ist offensichtlich keine direkte Wahl mehr. Der Abgeordnete wird von der Partei ernannt, nicht vom Volk gewählt, die sog. Wahl ist eine durchaus mittelbare Stellungnahme der Wähler zu einer Parteiorganisation. Es handelt sich nur noch darum, wie groß die Zahl der auf die einzelnen Parteilisten entfallenden Parlamentssitze sein wird. Ich behaupte, daß dieser Vorgang, wie er sich heute abspielt, auch keine Wahl mehr ist, nicht nur keine unmittelbare Wahl, sondern überhaupt keine Wahl Denn was geht vor sich? Fünf Parteilisten erscheinen, von fünf Organisationen diktiert, die Massen begeben sich, wenn ich so sagen darf, in fünf bereitstehende Hürden, und die statistische Aufnahme dieses Vorganges nennt man „Wahl". Was ist das in der Sache? Man sollte sich diese Frage doch endlich einmal deutlich zum Bewußtsein bringen, ehe Deutschland an solchen Methoden zugrunde gegangen ist. Es ist in der Sache eine geradezu ungeheuerliche Option zwischen fünf untereinander völlig unvereinbaren, völlig entgegengesetzten, in ihrem Nebeneinander sinnlosen, aber in sich geschlossenen und in sich totalen Systemen mit entgegengesetzten Weltanschauungen, Staatsformen, Wirtschaftssystemen usw. Fünf organisierte feindliche Systeme, von denen jedes in sich total ist, stehen nebeneinander, und zwischen ihnen soll ein Volk fünfmal im Jahre optieren! Wer sich klarmacht, was das bedeutet, und erkennt, daß jedesmal eine Option des ganzen deutschen Volkes zwischen fünf entgegengesetzten Weltanschauungen, Wirtschaftssystemen und Staatsformen veranstaltet wird, erwartet nicht mehr, daß aus einer solchen Prozedur jemals eine handlungs- und aktionsfähige, auch nur lose zusammenhaltende, für eine politische Willensbildung geeignete Mehrheit hervorgehen werde. Ein solcher Vorgang kann immer nur fünf politische Systeme und Organisationen in ihrem zusammenhanglosen, ja, feindlichen Nebeneinander ergeben, die sich gegenseitig zu besiegen oder zu betrügen suchen. Darüber darf man sich keiner Täuschung mehr hingeben. Mit solchen Methoden der politischen Willensbildung sind wir in den Zustand des rein quantitativ totalen Staates hineingeraten, der nichts mehr unterscheiden kann, weder Wirtschaft und Staat, noch Staat und Kultur, noch Staat und sonstige Sphären des menschlichen und sozialen Daseins. Die Wahl ist keine Wahl mehr, der Abgeordnete ist kein Abgeordneter mehr, wie ihn sich die Verfassung denkt, er ist nicht der unabhängige, gegenüber Parteiinteressen das Wohl des Ganzen vertretende freie Mann, sondern der in Reih und Glied marschierende Parteimann, der weiß, wie er abzustimmen hat und für den die Beratung und Abstimmung in der Vollversammlung des Parlaments zur leeren Farce werden muß. Wie der Abgeordnete kein Abgeordneter mehr ist, so ist das Parlament kein Parlament mehr. Der heutige Reichstag ist kein Reichstag, am wenigsten ein Reichstag im Sinne der Weimarer Verfassung; der heutige Reichsrat, in dem sich heute mehr geschäftsführende als normale Landesregierungen treffen, in dem für das Land Preußen, also zwei Drittel des Deutschen Reiches, amtsenthobene Minister einer früher geschäftsführenden Regierung erscheinen, ist kein Reichsrat im Sinne der Weimarer Verfassung. Auch das Mißtrauensvotum ist kein Mißtrauensvotum im Sinne eines
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vernünftigen parlamentarischen Systems, denn ihm entspricht heute weder die Fähigkeit noch die Bereitschaft, eine handlungsfähige und verantwortungsbewußte Regierung zu bilden. Alle diese Verfassungseinrichtungen sind hinfällig geworden und gänzlich denaturiert. Stände nicht noch die eine letzte Säule unserer verfassungsmäßigen Ordnung, der Reichspräsident, und eine von ihm berufene und von seinem Vertrauen getragene Reichsregierung, so wäre wahrscheinlich das Chaos auch in aller Sichtbarkeit und in der äußerlichen Erscheinung bereits vorhanden und selbst der Schein der Ordnung verschwunden.
III. Wie kommen wir aus diesem Zustande heraus? Es ist gerade die aus den genannten Ursachen entstandene Schwäche des Staates, die die Verwirrung von Staat und Wirtschaft ebenso wie die Verwirrung von Staat und anderen nichtstaatlichen Sphären herbeigeführt hat. Nur ein sehr starker Staat könnte die furchtbare Verfilzung mit allen möglichen, der Sache nach nicht staatlichen Angelegenheiten und Interessen lösen. Das wäre ein schmerzhafter chirurgischer Eingriff, der nicht „organisch" im Sinne langsamen Wachstums vor sich gehen könnte. Im Sinne organischen Wachstums werden Wucherungen und Unkraut schneller wachsen und sich hemmungsloser vermehren als das Gesunde, das heute von ihnen verdeckt und verdrängt wird. Eine Entpolitisierung, eine Abhebung des Staates von den nichtstaatlichen Sphären ist, um es nochmals zu sagen, ein politischer Vorgang; die Loslösung von der Politik ist bei dem heutigen Stand der Dinge ein spezifisch politischer Akt. Sie kann nicht aus parteipolitischen Motiven, seien sie nun wirtschaftlicher, kultureller oder konfessioneller Art, sondern nur von der Seite des staatlichen Ganzen her kommen. Dazu bedarf es als des ersten einer sauberen, klaren Unterscheidung der staatlichen und der staatsfreien Sphäre. Unterscheidung, und nicht Trennung! Aber Unterscheidung ist das erste, von dem man hier ausgehen muß. Und zwar zunächst, da es sich um einen primär politischen Vorgang handelt, von der Seite des Staates her. Der Staat soll wieder Staat werden. Erste Voraussetzung dafür ist selbstverständlich ein Beamtentum, das etwas anderes ist als ein Stützpunkt und Werkzeug parteipolitischer Interessen oder Ziele. Ich halte das merkwürdige Durcheinander von Staat und Partei, in dem wir heute in Deutschland leben, mehr für eine Folge mangelnder Bewußtheit und Erkenntnis als für schlechten Willen. Namentlich das merkwürdige Nebeneinander von wohlerworbenen Rechten und dem Recht auf parteipolitische Betätigung ist in seiner innerlichen Unmöglichkeit wohl noch nicht recht allgemein erkannt. Sonst wäre es längt juristisch und moralisch erledigt. Hier steht man vor einer einfachen Alternative: entweder wohlerworbene Rechte, und dann Verzicht auf jede parteipolitische Betätigung, oder umgekehrt; ein Drittes gibt es hier nicht. Unserer bisherigen Denkweise war ein Begriff nicht geläufig genug, für den wir als technischen Ausdruck bis-
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her nur ein etwas umständliches Fremdwort haben: Inkompatibilitäten, das heißt: Unvereinbarkeiten. [11] Wer sich weigert, die Unvereinbarkeit von wohlerworbenen Beamtenrechten und Parteipolitik zu sehen, will eben nicht wahrhaben, daß sonst Staat, Gemeinden und andere öffentliche Verbände den Parteien ihre Hilfsarbeiter und Angestellten bezahlen, und daß der Beamte sich dadurch in etwas anderes verwandelt, als die Verfassung ihm vorschreibt. Hier ist die Notwendigkeit eindeutiger Unterscheidungen besonders deutlich. Bisher haben wir uns die Notwendigkeit solcher Unvereinbarkeiten überhaupt nicht klar gemacht. Im Gegenteil: man kann das bisherige Deutschland als das Land der grenzenlosen Kompatibilitäten definieren, in dem Alles mit Allem vereinbar ist, in dem man gleichzeitig Reichstagsabgeordneter, Landtagsabgeordneter, Reichsratsbevollmächtigter, höherer Beamter, Parteivorsitzender sein und zahlreiche andere Rollen in einer Person spielen kann. Das ist gerade der charakteristische Ausdruck und Ausfluß der heute in Deutschland vorliegenden Art des quantitativ totalen Staates, der weder sich selbst als Staat, noch irgendetwas anderes als Nichtstaat zu unterscheiden vermag. Wer soll denn überhaupt Sachgebiete noch unterscheiden können, wenn staatliche und nichtstaatliche Sphären und Funktionen in dieser grotesken Weise vermengt werden? Wenigstens dieses Problem der Unvereinbarkeiten müßten wir einmal unerbittlich ins Auge fassen. Wir haben wenigstens eine Insel in dem Meere der grenzenlosen Kompatibilitäten in Deutschland gerettet, und jeder Deutsche fühlt es heute, daß es die Rettung des Staates und Deutschlands selber war, daß wir sie gerettet haben: die vom Parteienstaat reingebliebene Reichswehr. Ihr ist es gelungen, der trüben Flut zu entgehen. Das kann ein ermutigendes Vorbild auch für das übrige deutsche Beamtentum werden. Denn es beweist, daß Unparteilichkeit und Staatsgesinnung trotz aller gegenteiligen parteipolitischen Ideologien doch noch möglich sind und keineswegs utopisch zu sein brauchen. Sind die spezifischen Machtmittel des Staates, Heer und Beamtentum, intakt, dann ist ein starker Staat wieder denkbar. Dann würde ich es aber auch, wie gesagt, für ein Unglück halten, ihm das einzige legale Machtinstrument des echten Notfalles, das er heute noch hat, nämlich den Artikel 48, aus der Hand zu schlagen. Denn das eben geschilderte Nebeneinander der totalen Parteien, die den Staat okkupiert haben, kann niemals zu einer staatlichen Macht und einem starken Staate führen. Seinem ursprünglichen Sinne nach soll das demokratisch-parlamentarische System einen besonders handlungsfähigen, im Notfall sogar rücksichtslosen Staat schaffen, der die einheitliche Zustimmung, den Konsens des ganzen Volkes hat. Dieses Ziel wird bei dem heutigen Zustand in Deutschland in Wirklichkeit nicht nur nicht erreicht, und kann auch nach Lage der Dinge in absehbarer Zeit nicht erreicht werden; im Gegenteil: unsere Art von Parteienstaat verhindert mit ihrer Mehrzahl totaler Parteien jede echte Macht, koaliert sich gegen jeden Ansatz eines starken Staates und endet in einer Verbindung von Machtunfähigkeit und Machtzerstörung; denn soviel Macht haben die Träger dieses Zustandes noch, daß sie verhindern können und wollen, daß ein anderer Macht habe. So, d. h. aus dem negativen Willen, keinen starken Staat aufkommen zu lassen, erkläre ich mir den
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gegenwärtigen Feldzug gegen den Artikel 48 und die Versuche, dieses letzte unentbehrlichste Werkzeug des Staates zu zerbrechen. [12] Von der Seite des Staates her sind die heutigen Zustände in der Tat besonders schwierig, und ich gebe die Schuld nicht den demokratischen Methoden der staatlichen Willensbildung an sich, sondern nur den Besonderheiten des totalen Parteienstaates, wie sie in Deutschland nun einmal vorliegen. Deutschland ist aber nicht einmal ein demokratischer Staat. Ein Staat, der nicht einmal mehr das Recht hat, seine Jugend militärisch zu erziehen und zu guten Soldaten auszubilden, ist ein Widerspruch in sich, und zwar gerade als demokratischer Staat. Es gibt kein sinnvolles allgemeines Wahlrecht ohne die notwendig korrespondierende allgemeine Wehrpflicht.[l3] Das war früher jedem Demokraten selbstverständlich. Aber darin besteht ja das wirksamste Mittel aller auf die Zerstörung der deutschen Staatlichkeit gerichteten Bestrebungen, beides, Wahlrecht und Wehrpflicht, voneinander zu trennen und ein allgemeines Wahlrecht ohne die notwendige Korrektur einer allgemeinen Wehrpflicht zu seinen absurdesten Konsequenzen zu treiben. Diese Karikatur eines demokratischen Staatswesens muß sich dahin auswirken, daß die unter andern Voraussetzungen möglicherweise guten parlamentarisch-demokratischen Methoden politischer Willensbildung hier nur eine machtzerstörende Machtunfähigkeit bewirken. Den untrennbaren Zusammenhang der Frage des starken Staates mit dem Problem der Wehrpflicht und der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes will ich wenigstens mit einem Wort erwähnen. Ich kenne die Schwierigkeiten dieser faktisch, wenn auch nicht rechtmäßig, leider auch außenpolitischen Frage, aber hier am Rhein, in der entmilitarisierten, d. h. der entehrten Zone, soll das nicht unausgesprochen bleiben.[14] Was wäre von der Seite der Wirtschaft her notwendig, um einen starken Staat und eine gesunde Wirtschaft zu ermöglichen? Auch hier müssen Unterscheidungen gemacht werden, und zwar neue Unterscheidungen. Die alte zweigliedrige Gegenüberstellung des 19. Jahrhunderts, die Gegenüberstellung unserer liberalen Großväter, von Staat und freiem Einzelindividuum, reicht nicht mehr aus. Es gibt noch eine sehr bedeutende Sphäre des freien einzelnen Individuums, und ich glaube, daß sie im Kern wirtschaftliche Betätigung bleibt. Aber man kann heute nicht mehr dem Staat unmittelbar den privaten Einzelnen und den isolierten Einzelunternehmer gegenüberstellen. Er wäre sofort zu Boden geworfen. Gegenüber einem kollektiven Gebilde von der Art des modernen Staates ist es notwendig, ein Zwischengebiet zwischen Staat und Einzelindividuum einzufügen. Ich halte hier eine Unterscheidung, die von jungen Staatsrechtslehrern in den letzten Jahren herausgearbeitet worden ist,[15] für sehr wertvoll und brauchbar, nicht um sofort neue Organisationen auf die Beine zu stellen, sondern um von einer richtigen Erkenntnis auszugehen. Wir werden auf dem Gebiete der Wirtschaft dreierlei unterscheiden müssen, und die einfache zweigliedrige Antithese von Staat und freier Individualwirtschaft, von Staat und Privatsphäre, durch eine Dreiteilung zu ersetzen haben. Einmal die Wirtschaftssphäre des Staates, die Sphäre der echten staatlichen Regale; gewisse Betätigungen wirtschaftlicher Art gehören in die Hand des Staates,
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gewisse Verkehrsregale z. B. sind durchaus notwendig, und in gewissen Formen, wie das Postregal, immer vorhanden gewesen. Das sind echte staatliche Unternehmen, die aber als solche mit ihren Monopolen klar herausgestellt und von der übrigen Wirtschaft unterschieden werden müssen. Dann gibt es auf der entgegengesetzten Seite die Sphäre des freien, individuellen Unternehmers, also die reine Privatsphäre, und dazwischen eine Sphäre, die nichtstaatlich, aber öffentlich ist. Wir haben leider jahrzehntelang unter einer begrifflichen Verwirrung gelitten, die alles Öffentliche für staatlich erklärte, und gerade das, was eine der großen Leistungen des deutschen Volkes war, nämlich eine wirkliche Selbstverwaltung, nicht mehr richtig zu konstruieren vermocht. Es ist bekannt, wie sehr die kommunale Selbstverwaltung infolge der Parteipolitisierung in einen kritischen Zustand geraten ist. Jeder weiß von diesen Krisenerscheinungen unserer Selbstverwaltung. Auf dem Gebiet der Wirtschaft aber wäre es notwendig, den Begriff der wirtschaftlichen Selbstverwaltung richtigzustellen. „Wirtschaftliche Selbstverwaltung" kann ein vieldeutiges, vielleicht ein irreführendes Schlagwort sein, und wie hinter jeder Vieldeutigkeit können sich auch hinter dieser Bezeichnung unklare und obskure Ziele von Parteipolitikern aller Art verbergen. Mit dem, was hier als wirtschaftliche Selbstverwaltung und Unterscheidung der staatlichen von der öffentlichen Sphäre angestrebt wird, verhält es sich anders, als etwa mit der "Wirtschaftsdemokratie",[16] wie sie vor einigen Jahren von bestimmter Seite propagiert worden ist. Diese Wirtschaftsdemokratie hatte den ausgesprochenen Sinn, gerade eine Vermischung von Wirtschaft und Politik herbeizuführen, mit Hilfe politischer Macht sich wirtschaftliche Macht im Staat anzueignen, und dann mit Hilfe der so gewonnenen wirtschaftlichen Macht wiederum seine politische Macht zu verstärken. Wenn ich hier von wirtschaftlicher Selbstverwaltung spreche, möchte ich demgegenüber etwas in entgegengesetzter Richtung Liegendes sagen, das auf eine Trennung und Unterscheidung abzielt. Es gibt eine Wirtschaftssphäre, die nun einmal dem öffentlichen Interesse angehört und ihm nicht wieder entzogen werden darf, die aber nicht staatlich ist, sondern, wie es zur echten Selbstverwaltung gehört, von den Trägern dieser Wirtschaft selbst organisiert und verwaltet werden kann. Wir kennen heute bereits unter dem bisher nicht genügend geklärten Wort „Wirtschaftliche Selbstverwaltung"[17] mannigfache Erscheinungen: Industrie- und Handelskammern, Zwangssyndikate der verschiedensten Art, Verbände, Monopole, usw.; wir haben gemischtwirtschaftliche Unternehmungen, wobei auch das Wort „gemischwirtschaftlich" vielfach mißbräuchlich für rein staatssozialistische oder staatskapitalistische Betriebe, die sich als Aktiengesellschaften oder G.m.b.H. privatrechtlich aufziehen, verwandt wird. Wir haben schließlich im öffentlichen Interesse verliehene, aber von den Wirtschaftssubjekten selbst verwaltete Monopole verschiedener Art. Hier herrscht noch eine ziehmlich große Verwirrung, wie sie überhaupt für die Gegenwart charakteristisch ist, und die uns immer wieder begegnet. Der Staat erscheint als Wirtschaftssubjekt in allen denkbaren Kostümierungen; öffentlich-rechtlich und privatrechtlich, als Staat, als Fiskus, als Hoheit, als G.m.b.H. und als Aktionär.
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Er ist derartig verkleidet und versteckt, daß es geradezu notwendig wird, ihn einmal wieder auf einfache, solide und eindeutige Rechtsformen und Methoden zu verweisen und von ihm zu verlangen, daß er mit dem, was „Staat" ist, nun auch offen als Staat erscheint. Braucht er ein wirtschaftliches Regal, so soll er es offen als staatliches Regal führen und nicht in unklaren Vermischungen privatrechtliche Formen mißbrauchen. Von wirtschaftlicher Selbstverwaltung und von dem Zwischengebiet einer öffentlichen, aber nicht staatlichen Wirtschaft kann man bereits heute als von einer in zahlreichen Ansätzen vorhandenen Größe sprechen. Es sind freilich oft sehr widerspruchsvolle Ansätze, und von den eben erwähnten Gebilden wird man einige gut und zukunftsreich, andere schlecht und abwegig finden. Es handelt sich hier um die Grundlinie, die gesehen und im Auge behalten werden muß. Ohne eine wirtschaftliche Selbstverwaltung im Sinne eines solchen Zwischengebietes wäre eine wirkliche Neuordnung kaum denkbar.
IV. Sind wir uns über die großen Grundlinien klar, so erhebt sich die Frage: Wie kann man das Ziel einer Unterscheidung von Staat und Wirtschaft heute verwirklichen? Immer wieder zeigt sich dasselbe: nur ein starker Staat kann entpolitisieren, nur ein starker Staat kann offen und wirksam anordnen, daß gewisse Angelegenheiten, wie Verkehr oder Rundfunk, sein Regal sind und von ihm als solche verwaltet werden, daß andere Angelegenheiten der ebengenannten wirtschaftlichen Selbstverwaltung zugehören, und alles übrige der Sphäre der freien Wirtschaft überlassen wird. Ein Staat, der eine solche Neuordnung bewirken könnte, müßte, wie gesagt, außerordentlich stark sein, und der Akt der Entpolitisierung ist eben in besonders intensiver Weise ein politischer Akt. Wie kann man nun den starken Staat gewinnen, der einer solchen Kraftleistung fähig wäre? Hier liegt es heute nahe, dem Staat, der ja heute nur noch stoß- und momentweise Staat ist, durch neue Einrichtungen und Institutionen gewisse solide Autoritätsgrundlagen zu verschaffen. In diesen Zusammenhang bringe ich die Vorschläge, die auch in den Ausführungen von Herrn Dr. Springorum hervortreten, eine Art zweiter Kammer, ein Oberhaus, wie manchmal gesagt wird, eine Verbindung von Reichsrat, Reichswirtschaftsrat und anderen Elementen oder etwas ähnliches zu bilden. [18] Aber wenn ich die Ausführungen Ihres Herrn Vorsitzenden richtig verstanden habe, so war doch eine gewisse - ich möchte nicht sagen Skepsis, aber - Zurückhaltung, und ein gewisser Mangel an unbedingtem Optimismus zu erkennen, als er auf das Problem der gegensätzlichen Interessen von Industrie und Landwirtschaft zu sprechen kam. Es kann sehr nützlich sein, organisierte Interessen zusammenzubringen, sie in einem Gremium zu vereinigen, um einen runden Tisch zu versammeln und dann die Entschlüsse dieses Gremiums abzuwarten. Ich möchte aber an folgendes erinnern: Interessen, und insbesondere auch wirtschaftliche Interessen, können verbin6 Staat, Großraum, Nomos
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den und können trennen. Das läßt sich nun einmal nicht ändern. Wer Interessen als solche organisiert, organisiert gleichzeitig immer auch Interessengegensätze und steigert durch die Organisierung vielleicht auch die Intensität der Gegensätze. Und wenn die so organisierten Interessengegensätze sich um einen Tisch zusammenfinden, so wird, wenn es einmal zu ernsthaften Interessenkonflikten kommt - und der Konfliktsfall ist doch gerade der Fall, der hier interessiert, denn daß wir uns über Nebensachen verständigen, ist selbstverständlich - , die Versammlung sich schnell in ihre Bestandteile auflösen. Die Gefahr der Sezession oder des Exodus einer Gruppe besteht fortwährend. Ich erinnere Sie an die Erfahrungen, die wir mit dem „ Wirtschaftsbeirat" vom Oktober 1931 gemacht haben. Er fiel, man möchte sagen, prompt auseinander. [19] Ich erinnere ferner an die berühmte Erfahrung, die mehr oder weniger mit jeder Zusammenfassung verschiedenartiger berufsständisch organisierter Gruppen gemacht worden ist: soll ein Einheitsbeschluß Zustandekommen, so muß die unbedingte Parität aufgehoben und die Möglichkeit einer Überstimmung oder Niederstimmung geschaffen werden. Wenn jeder Berufszweig eine feste Quote hat und sein Stimmgewicht ein für allemal feststeht, läßt sich das Ergebnis im voraus berechnen; Mehrheitsbeschlüsse sind in solchen Fällen eigentlich sinnlos. Das gäbe nämlich Mehrheitsbeschlüsse, bei denen aber eine Koalition der Schuster und Bäcker den Stand der Binnenschiffer überstimmt; oder, was es auch schon einmal gegeben hat, bei denen in einem Interessengegensatz zwischen Kohle und Eisen die Berufsmusiker den Ausschlag gaben. Nicht, um gegen sehr interessante berufsständische Gedanken zu politisieren, sondern um Illusionen zu vermeiden, darf ich darauf hinweisen, daß die große und vielleicht auch etwas idealisierte mittelalterliche Geschichte der Berufsstände und ihrer Organisationen uns vor allem folgendes lehrt: Erstens haben diese mittelalterlichen Stände nicht etwa aus sich heraus den einheitlichen Staatswillen gebildet, sondern einem König oder einem Fürsten gegenübergestanden, und nur so war etwas wie eine politische Gesamtwillensbildung möglich. Zweitens haben die Stände niemals als Ganzes aller Berufsstände Beschlüsse gefaßt und nach Ständen getrennt gestimmt; es gab keine Überstimmung eines Standes durch Mehrheitsbeschluß anderer Stände; Überstimmung des einen Standes durch einen anderen dürfte es in einem berufsständischen System überhaupt nicht geben und wäre ganz sinnwidrig. Drittens haben mittelalterliche Stände überhaupt nicht in unserem Sinne abgestimmt; auch innerhalb des Standes gab es nicht unser heutiges Problem der 51prozentigen Mehrheit; vielmehr stellte sich auf eine für uns korrumpierte Menschen unerklärliche Weise ohne Geschäftsordnungsmanöver von selber immer irgendeine Einmütigkeit heraus. Jedenfalls findet man in der Geschichte keine Anhaltspunkte dafür, wie dieses ganze System, mit unseren Methoden gehandhabt, hätte funktionieren können. Unsere arithmetischen Vorstellungen von der 51prozentigen Mehrheit, die die übrigen 49 Prozent Stimmen an die Wand drückt, hat es bestimmt nicht gegeben. Darauf läuft aber jeder moderne Abstimmungsmodus hinaus. Die Problematik dieser Dinge sollte man bei dem Ruf nach einer zweiten Kammer nicht übersehen.
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Es handelt sich bei einer solchen zweiten Kammer heute meistens darum, mit ihrer Hilfe den nicht sehr starken, autoritätsbedürftigen Staat zu stärken und ihm die Autorität, die er nicht hat, irgendwoher, aus Autoritätsresiduen früherer Zeit oder gar auf Vorschuß, zu verschaffen. Meiner Meinung nach wäre die Reihenfolge umgekehrt richtig. Erst ein starker Staat kann einer zweiten Kammer soviel Ansehen und Autorität verleihen, daß die Männer, die in diese Kammer hineinkommen, aus ihren ständischen Bindungen befreit werden und es wagen können, in einer auch nach außen hin die Respektabilität und die Vornehmheit wahrenden Weise sich einem einheitlichen Gesamtbeschluß zu unterwerfen, ohne sofort von ihren unzufriedenen Auftraggebern davongejagt zu werden. Man wird kein Oberhaus und keine zweite Kammer schaffen ohne einen starken Staat. Der starke Staat ist auch hier die erste Voraussetzung. Von ihm geht die ordnende Wirkung aus, die das Durch- und Gegeneinander der verschiedenen Interessen überwindet, wie ein Magnet die Eisenspäne ordnet. Sonst werden sie bestenfalls nur eine traurige Doublette des heutigen Reichstages organisieren. In der Geschichte moderner Verfassungen hat die zweite Kammer, d. h. die nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Kammer bisher normalerweise die Funktion gehabt, zu hemmen und zu retardieren. Sie soll gegenüber der unruhigen, revolutionär gesinnten, aus allgemeinen Wahlen der im wesentlichen besitzlosen Massen hervorgegangenen ersten Kammer die Dauer, Kontinuität und Stabilität retten. Bei uns ist die erste, d. h. die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Kammer zu jeder Aktion unfähig. Soll eine neue zweite Kammer als Hemmung und Gegengewicht einer aktionsunfähigen ersten Kammer gedacht sein, so ist sie eine in sich unklare Einrichtung; etwas in sich Aktionsunfähiges kann und braucht nicht mehr gehemmt werden. Soll aber die zweite Kammer die mangelnde Aktionsfähigkeit der ersten Kammer ergänzen oder sogar ersetzen, dann wird die erste Kammer wahrscheinlich einen neuen Impuls erhalten und sich wieder als Volksvertretung aufspielen können; die zweite Kammer wird dann das Schicksal des Reichswirtschaftsrates teilen, so daß sich die Frage erhebt, ob es wirklich gut und nützlich war, einer solchen ersten Kammer auf diese Weise wieder zu neuem Leben zu verhelfen. Solange der Gesichtspunkt des demokratischen Wahlbetriebes für Legalität und Legitimität entscheidend bleibt, wird eine gewählte Kammer unweigerlich die zweite Kammer entweder beseitigen oder zu ihrem bloßen Schatten und Abbild machen. Diese Bedenken sollen, wie gesagt, nicht den Gedanken einer zweiten Kammer widerlegen, sondern nur eine vorsichtige Hemmung gegen übereilte Institutionen einschalten. Ich weiß, wie nützlich eine zweite Kammer sein kann, und möchte sie auch als Endziel nicht ablehnen oder verwerfen. Ich darf aber, angesichts der schwer berechenbaren Zustände im heutigen Deutschland, mein Augenmerk auf die unmittelbare Gegenwart, auf die nächste Zeit, soweit sie übersehbar ist, richten. Wir brauchen zuerst einmal einen starken handlungsfähigen, seinen großen Aufgaben gewachsenen Staat. Haben wir ihn, so können wir neue Einrichtungen, neue Institutionen, neue Verfassungen schaffen.
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Ich bin der Meinung, es ist sehr hohe Zeit und wir haben nicht mehr viele Möglichkeiten, auch nicht mehr viel Spielraum für große Verfassungsexperimente. Ich gehe sogar noch weiter, wenn Sie mir erlauben, das als meine ganz persönliche Privatmeinung zu sagen: Das deutsche Volk hat keinen Beruf zur Verfassungsgesetzgebung in dem gegenwärtigen Sinn von Verfassungsgesetzgebung. Ich halte das nicht für einen Fehler und nicht für eine Minderwertigkeit des deutschen Volkes. Verfassungen im französischen Stile oder Sowjetverfassungen bringen wir höchstens als Imitation zustande. Und wenn wir nach einem Organisationsschema noch so kluger und tiefgründiger Art neue Institutionen entwerfen und verfassungsrechtlich festlegen, so verbauen wir uns wahrscheinlich einen Weg, der frei bleiben muß. Wir haben ja das Beispiel der Improvisation von Weimar vor Augen. Eine Verfassung ist schnell gemacht, sie liegt, wenn es sein muß, in wenigen Minuten fertig auf dem Tisch. Aber wenn sie einmal da ist, so wird man sie nicht leicht wieder los; sie ist dann nämlich eine Quelle der Legalität. Vielleicht ist das deutsche Volk heute nicht mehr in demselben Maße legalitätsbedürfig wie früher, und auch nicht mehr so legalitätsgläubig.[20] Vergessen Sie aber nicht, daß ein moderner Staat und seine Bürokratie nach diesen Gesichtspunkten der Legalität funktioniert. Die Behörden gehorchen nur den legalen Vorgesetzten. Die Legalität ist zum Unterschied vom Recht in einem pathetischen Sinne - ein Funktionsmodus moderner Bürokratien und modernen Beamtentums. Ich spreche hier ganz nüchtern von der politischen Bedeutung der Legalität, und in dieser Hinsicht hat der Begriff noch einen ganz besonderen Wert, und zwar gerade auch für den starken Staat. Wenn wir jetzt eine neue Legalität improvisieren und neben die bisherigen Einrichtungen der Weimarer Verfassung, die von ihren Urhebern für nicht mehr als einen Notbau gehalten wurde, neue Einrichtungen setzen, so schaffen wir neue Legalitäten, und damit neue Schutzwälle für verschiedenartige Interessen, die sofort hinter den neuen legalen Wällen Deckung nehmen werden. Ich glaube daher, daß es richtiger ist, zunächst nicht durch neue Institutionen, sozusagen auf Vorschuß, Autorität zu schaffen. Wir sind in einer durchaus ähnlichen, nur noch akuteren Lage wie vor zwei Jahren. Die Regierung soll sich aller verfassungsmäßigen Mittel, aber auch aller verfassungsmäßigen Mittel bedienen, die ihr zur Verfügung stehen und die sich in dem chaotischen Zustand als notwendig erweisen. Sie soll einen unmittelbaren Kontakt mit den wirklichen sozialen Kräften des Volkes suchen. Die Arbeitsaufgaben sind groß genug. In den einleitenden Worten des Herrn Vorsitzenden ist eben bereits eine Reihe wichtiger derartiger Angelegenheiten genannt. Arbeitsdienstpflicht, Siedlungswesen, Wehrsport und Wehrhaftmachung der Jugend und vieles andere sind so große, gewaltige Aufgaben, daß eine Regierung, die mit allen Mitteln daran arbeitet und der es gelingt, mit den Kräften der sozialen Selbstorganisation des deutschen Volks wirklich zusammenzukommen, Erfolge haben kann, die jeder anständige Deutsche anerkennt. [21] Aus der unmittelbaren Arbeit, aus der Lösung einer echten Arbeitsaufgabe ergibt sich ein Erfolg. Das ist möglich und nicht utopisch. Erst aus dem Erfolg und der Leistung ergibt sich Autorität. Nicht umgekehrt. Man darf nicht mit
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einer Proklamation der Autorität anfangen. Darüber läßt sich heute niemand mehr betrügen. Ich muß arbeiten, zeigen, was ich kann, und diese Möglichkeit der Arbeit besteht. Wenn dann neben anderen formal verfassungsmäßigen Institutionen, die vielleicht stören wollen, aber deren Störungen zu beseitigen sind, neue Methoden, Gremien oder auch einzelne Personen sich bewähren, dann entsteht eine Autorität, der gegenüber, glaube ich, die Bereitwilligkeit des deutschen Volks zu folgen und einen ehrlichen Erfolg ehrlich anzuerkennen sehr groß ist. Dann wird das Problem der verfassungsrechtlichen Legalisierung neuer Institutionen keine unüberwindliche Schwierigkeit mehr bereiten. So also denke ich mir den Weg. Er setzt voraus, daß unmittelbar an die Arbeit gegangen wird. Er setzt ferner voraus, daß die große und starke Produktivität des deutschen Volkes, die in Jahrhunderten deutscher Geschichte immer wieder in der erstaunlichsten Weise hervorgetreten ist, fruchtbar gemacht wird. Aus unserem eigenen Erlebnis der letzten Jahrzehnte ist uns noch in Erinnerung, wie sich die Fähigkeit zur Selbstorganisation immer wieder bewährt hat: im Kriege, in der Nachkriegszeit, in Mobilmachung und Demobilmachung, in guten und in bösen Zeiten. Diese Fähigkeit zur Arbeit und zur Selbstorganisation bedarf nicht der parteipolitischen Kostümierung, in der sie heute verunstaltet aufzutreten gezwungen wird. Gelingt es einer entschlußfähigen, zur Tat bereiten Regierung, diesen Zusammenhang zu finden und diese Kräfte unmittelbar zu erfassen, dann ist das, was nötig ist, auch möglich. Weitergehende organisatorische Verfassungsreformpläne braucht man nicht aufzugeben. Aber heute müssen sie zurückgestellt werden. Die Kräfte sind da. Sie warten nur auf den Anruf. Werden sie erfaßt, dann sind auch wieder vernünftige Unterscheidungen möglich, insbesondere die von staatlicher Verwaltung, echter wirtschaftlicher Selbstverwaltung und individueller Freiheitssphäre. Dann wird auf der Grundlage solcher Unterscheidungen das deutsche Volk über alle Parteizerrissenheit, über alle Vielstaaterei hinweg seine politische Einheit und seinen starken Staat finden.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Fritz Springorum (1886 - 1941), seit 1925 Generaldirektor der Hoesch AG u. seit 1930 Vorsitzender des Langnam-Vereins und der mit ihm eng verbundenen NMG (Nordwestdeutsche Gruppe d. Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller) hatte die Tagung mit einer Ansprache eröffnet, in der er „Einfachheit und Zweckmäßigkeit der staatlichen Verwaltung und Sparsamkeit der öffentlichen Hand" forderte, sich für Persönlichkeitswahlrecht und Zweikammersystem aussprach, auf die Notwendigkeit einer Harmonisierung von Agrarund Industrieinteressen hinwies, sowie auf Probleme der kommunalen Arbeitsbeschaffungspolitik und Popitz' Pläne zur Gemeinde- und Finanzreform einging. Springorum, ähnliche Ideen wie Papen verfechtend, wurde zu einem scharfen Kritiker der wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen Schleichers; vgl. Papens Zusammenkunft mit ihm u. anderen Ruhrindustriellen am 4. 1. 1933, in: Papen, Vom Scheitern einer Demokratie, 1968, S. 343 f.
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[2] Vgl. J. Popitz, Der zukünftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, 1932; ders.; Gemeindefinanzen und Wirtschaft, v. Industrieclub Düsseldorf als Manuskript gedruckt, Rede v. 11. 5. 1932. - Zur Freundschaft und engen geistigen Zusammenarbeit zw. Popitz u. Schmitt vgl. L. A. Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt. Zur wirtschaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland, 1972. Lt. Bentin kam Schmitts Vortrag auf Popitz' Initiative zustande und war mit Schmitt vorher abgesprochen, ebd., S. 113. [3] Auf der Tagung des Langnam-Vereins 1930, deren Thema „Die deutsche Wirtschaftskrise, ihre Ursachen und die Möglichkeiten zu ihrer Behebung" war, erklärte Schmitt als Diskussionsredner, daß die Forderung nach einer Verfassungs- und Reichsreform „zu summarisch" sei und die großen Schwierigkeiten verkenne. Der zu überwindende, schädliche status quo werde ermöglicht von den Kräften des Pluralismus, der Polykratie und des Föderalismus, denen ggü. die Reichsregierung „von ihren verfassungsmäßigen Mitteln" energischeren Gebrauch machen müsse. Schmitt verteidigte das Berufsbeamtentum und die Reichsbürokratie gegen die Bürokratie der pluralistischen Mächte. Vgl. Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (Langnam-Verein), Jg. 1930, Nr. 4, NF, 19. Heft, S. 458 - 64. Schmitts Beitrag wurde nachgedruckt u. d. T. „Eine Warnung vor falschen politischen Fragestellungen" in: Der Ring, 30. 11. 1930, S. 844 - 45; erweitert u. umformuliert u. d. T. „Zur politischen Situation Deutschlands" in: Der Kunstwart, Okt. 1930 - Sept. 1931, S. 253 - 256. [4] Vermutlich bezieht s. Schmitt hier auf Kritiken an s. Interpretation der Rolle des RPr und des „Preußenschlages", vgl. etwa: H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Die Justiz, VI (1930 / 31), H. 11 / 12, S. 576 - 628; C. Herz, Der Kampf um Artikel 48, ebd., VII (1932), H. 12, S. 523 - 545; H. Mayer, Verfassungsbruch oder Verfassungsschutz? Staatsrechtliche Bemerkungen zum Konflikt Reich - Preußen, ebd., S. 545 - 565. [5] Vgl. E. R. Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, 1932, S. 18 ff. [6] Vgl. Preussen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Stenogrammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932, 1933, S. 143, 173 f., 458, 466. Gemeint ist hier Hans Nawiasky, daneben noch Staatsrat v. Jan, die Vertreter Bayerns beim Leipziger Prozeß. [7] Schmitts Argumentation ist hier fast identisch mit der von Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, 1932, S. 69 ff. - Das Reichskammergericht, 1495 im Rahmen der später scheiternden Reichsreform durch Umwandlung des königl. Kammergerichtes gegründet, sollte den „Ewigen Landfrieden" durchsetzen. Angesichts der Krise d. Reiches und der Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Ständen innerhalb des Gerichts, blieb es relativ machtlos und konnte u. a. die Fehde nicht abschaffen. 1526 siedelte das Gericht nach Speyer um, 1693 - 1806 führte es in Wetzlar mehr o. minder ein Schattendasein; vgl.: R. Smend, Das Reichskammergericht. Erster Teil. Geschichte und Verfassung, 1911, Ndr. 1965; H. Spangenberg, Die Entstehung des Reichskammergerichtes, ZRG, Germ. Abt., 46 / 1926, S. 231 ff.; H. Conrad, Dt. Rechtsgeschichte, II, 1966, bes. S. 161 ff.; Schröder, Das Reichskammergericht, Jurist. Schulung, 1978, S. 368 ff.; B. Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Hl. Römischen Reiches deutscher Nation, 1985; ders., Hrsg., Die politische Funktion des Reichskammergerichts, 1933. Vgl. a.: M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, I, 1988, S. 134 ff. (mit vielen Literaturhinweisen). - Den Reichshofrat, 1498 gegründet, 1527 reorganisiert, wollte der Kaiser „zu einem Ersatz für das ihm von den Reichsständen entwundene königliche Kammergericht" ausbauen (Mitteis / Lieberich, Dt. Rechtsgeschichte, 19. Aufl. 1992, S. 356). Die Macht der Stände war hier zurückgedrängt,
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der Kaiser war oberster Gerichtsherr; vgl.: O. v. Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942, Ndr. 1970; H. Conrad, a. a. O., bes. S. 82 ff., 165 ff. Trotz des Übergewichts des Reichshofrates kam es zu „eine(r) unerfreuliche(n) Zweigleisigkeit der obersten Reichsjustiz, die durch konfessionelle Gegensätze noch verschärft wurde" (Koschaker, Europa u. das Römische Recht, 1946, S. 228). [8] Symptomatisch f. Schmitt hier wohl das Denken des liberal-pazifistischen Sozialisten Fr. Oppenheimer, bei dem die Weltgeschichte als „Kampf zwischen dem ökonomischen und dem politischen Mittel" definiert und das erstere als moralisch höherwertig und sich im Fortschritt der sozialen Evolution durchsetzend betrachtet wird. Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 73 ff. Als pro-kapitalistische, der Neuen Sachlichkeit verpflichtete Variante z. Zt. v. Schmitts Vortrag: M. Ottopal, Antipolitik - Die Welt ohne Grenzen, 1931. [9] S. vorl. Bd., S. 66 f., FN [9], [10]. [10] S. vorl. Bd, S. 66 f., FN [10]; Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates (1929), in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 109 ff. Zur Geschichte d. Begriffs im ital. Faschismus: M. Jänicke, Totalitäre Herrschaft, 1971, S. 20 ff. [11] Vgl. dazu die Dissertationen zweier Schmitt-Schüler: W. Weber, Parlamentarische Unvereinbarkeiten (Inkompatibilitäten), AöR, 1930, S. 161 - 254, u. R. Büttner, Wirtschaftliche Inkompatibilitäten, Bochum 1933. [12] Aus der umfangreichen Lit. z. Art. 48 bes. für die letzten Jahre Weimars aufschlußreich: H. Muth, Das Ausnahmerecht. Versuch einer rechtsvergleichenden Darstellung, Diss. Köln 1932, Emsdetten 1932; K. Schuhes, Die Jurisprudenz zur Diktatur des Reichspräsidenten, Bonn 1934. [13] Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 254. [14] Vgl. Schmitt, Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik, 1925; ders., Volkerrechtliche Probleme im Rheingebiet, in: Probleme des deutschen Westens, 1929, S. 76 ff.; ders., Die politische Lage der entmilitarisierten Rheinlande, in: Abendland, 1929, S. 307 ff. [15] Dazu E. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, 1931, u. E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932, S. 5 ff. [16] Mit dem Oberbegriff „Wirtschaftsdemokratie" lassen sich alle mit dem Art. 165 WRV verknüpften Hoffnungen auf eine „Wirtschaftsverfassung" bezeichnen; sowohl eine Räteverfassung als auch eine sozialistische oder eine berufsständische Ordnung (vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 1035). Schmitt bezieht s. hier aber wohl auf die Forderungen d. ADGB auf s. 13. Kongreß in Hamburg, 1928, wo es in einer Entschließung hieß: „Die Demokratisierung der Wirtschaft bedeutet die schrittweise Beseitigung der Herrschaft, die sich auf dem Kapitalbesitz aufbaut, und die Umwandlung der leitenden Organe der Wirtschaft aus Organen der kapitalistischen Interessen in solche der Allgemeinheit" (zit. n. H. H. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918 - 1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik, 1967, S. 355). Dieses reformistische Konzept beruhte vornehmlich auf Hilferdings Theorie vom sich verändernden, „organisierten Kapitalismus"; vgl. Hilferding, Die Aufgaben d. Sozialdemokratie in der Republik, Ref. v. 26. 5. 1927, jetzt in: C. Stephan (Hrsg.), Zwischen den Stühlen - Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Bonn 1982, S. 214 - 36; zum Thema auch: H. A. Winkler (Hrsg.),
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Organisierter Kapitalismus, 1974 u. G. Könke, Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat. Eine Studie zur Ideologie d. sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in d. Weimarer Republik (1914 - 1932), 1987. Nach Hilferdings Theorie war sowohl eine Machtergreifung des Sozialismus auf parlamentarisch-gesetzgeberische Weise möglich, als auch eine steigende Konzessionsbereitschaft der neuen Industrien (bes. Elektro- u. Chemieindustrie) im Ggs. zur Schwerindustrie - ggü. den Gewerkschaften feststellbar. Vgl. auch: Theodor Leipart, Auf dem Weg zur Wirtschaftsdemokratie ?, 1928; F. Naphtali (Hrsg.), Wirtschaftsdemokratie, 2. Aufl. 1928 (dazu die Rez. von Huber, AöR, 1930, S. 262 ff.); B. Rauecker, Wirtschaftsdemokratie als nationale Aufgabe, 1929; H. Heinrichsbauer, Zur Kritik an der „Wirtschaftsdemokratie", Der Arbeitgeber, 1930, S. 397 ff. Zur Reaktion d. Unternehmer auf die „Wirtschaftsdemokratie" zusammenfassend: M. Schneider, Unternehmer und Demokratie - Die freien Gewerkschaften in der unternehmerischen Ideologie der Jahre 1918 bis 1933, 1975, S. 149 ff. [17] Vgl. die Klärungsversuche v. E. R. Huber: Rechtsformen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, Verwaltungsarchiv, 1932, S. 301 - 67; Selbstverwaltung der Wirtschaft, Dt. Volkstum, 1932, S. 883 - 89; Dt. Verfassungsgeschichte, VI, 1981, S. 1057 (mit Literaturhinweisen). [18] Vgl. vorl. Bd., S. 67 f., FN [11]. [19] Zur Beratung eines neuen Wirtschaftsprogramms berief Brüning im Oktober 1931 den „Wirtschaftsbeirat", der u. a. den wirkungslosen Reichswirtschaftsrat ersetzen sollte und aus 25 Vertretern der Industrie, des Handels, der Landwirtschaftskammern, der Gewerkschaften usw. bestand. Die Anregung dazu ging wohl von dem früheren Reichskanzler Wilhelm Cuno aus, der 1931 Generaldirektor der Hapag war. Brüning betrachtete diesen Beraterkreis eher rein taktisch und wollte die Vertreter wirtschaftlicher Interessen domestizieren. Aus Protest gegen die Osthilfe-Politik des zuständigen Reichskommissars Schlange-Schöningen verließen bereits am 19. 11. 1931 die Vertreter der Landwirtschaft den Beirat, nach Verkündigung arbeitnehmerfeindlicher wirtschaftspolitischer Leitsätze am 23. 11. auch die Vertreter der Gewerkschaften. „Die Erwartung, daß im Gegensatz zu dem durch ideologischen Streit funktionsunfähig gewordenen Parteien-Parlament ein auf die Gesamtheit der Wirtschaftsbeteiligten gegründetes berufsständisches Repräsentativorgan der Regierung eine sie zur Entscheidung befähigende Vertrauensbasis bieten könne, erwies sich im Wirtschaftsbeirat von vornherein als Illusion." (E. R. Huber). - Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 885 ff.; H. Brüning, Memoiren, 1970, S. 456 ff.; K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Ausg. 1978, S. 387 ff. [20] Vgl. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 48, 446. [21] Springorum hatte lediglich vom „freiwilligen Arbeitsdienst" (FAD) gesprochen. Dieser wurde am 5. 6. 1931, während der Regierung Brüning, eingerichtet. Die Regierung Papen baute den FAD durch eine Verordnung am 16. 7. 1932 weiter aus; im November 1932 erreichte der FAD seinen Höhepunkt und beschäftigte ca. 285 000 Dienstwillige. Die Arbeitsdienstpflicht wurde erst am 26. 6. 1935 realisiert. Vgl. zu den politischen Aspekten und ökonomischen Hoffnungen bezüglich des FAD: H. Köhler, Arbeitsdienst in Deutschland, 1967; zu den pädagogischen Motiven: P. Dudek, Erziehung durch Arbeit - Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920 - 1935, 1988. - Die Regierung Brüning versuchte die Ostsiedlung zu fördern, indem sie nicht-entschuldigungsfähige Güter durch Zwangsversteigerung in die öffentl. Hand überführte, was den Protest der großen Landwirtschaftsorganisationen und der Gläubiger hervorrief und zu einem Veto Hindenburgs führte, das den Sturz Brü-
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nings mitverursachte (vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 966 - 970; dort weitere Lit.). Der Ernährungsminister Papens, v. Braun, kündigte am 7. 10. 1932 neue Anstrengungen in der Siedlungspolitik an, wies aber auf das Problem hin, genügend wirklich geeignete Siedler zu finden und neue Märkte zu erschließen. Schleicher versprach am 15. 12. 1932 eine weitere Intensivierung der Siedlung, wobei dem am gleichen Tage ernannten Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung, G. Gereke, eine Schlüsselrolle zufallen sollte, vgl. F. M. Fiederlein, Der deutsche Osten und die Regierungen Brüning, Papen, Schleicher, Diss. Würzburg 1966, S. 422 ff.; J. R. Nowak, Kurt v. Schleicher - Ein Soldat zwischen den Fronten, 1969, S. 1203 ff.; H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik der Regierungen Papen und Schleicher, 1974, S. 237 ff. Allgemein zum Siedlungsproblem: W. F. Bruck, Die deutsche Siedlung, 1932; J. Schauff, Industriearbeit und landwirtschaftliche Siedlung, 1932; L. Grünbaum, Arbeitsbeschaffung und Siedlung, 1934; L. Preller, Sozialpolitik in d. Weimarer Republik, 1949, bes. S. 493 ff.; F. W. Boyen, Die Geschichte der ländlichen Siedlung, 1959 / 60, 2 Bde. - Das „Reichskuratorium für Jugendertüchtigung" wurde am 13. 9. 1932 gegründet und sollte sowohl die Milizpläne Schleichers fördern als auch die Jugendlichen an den Staat heranführen, dementsprechend wurde es von der NSDAP bekämpft („Konkurrenzgründung gegen die SA"). Vgl. Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, 1962, S. 161 ff., 231 ff., 286 ff. u. H. Köhler, a. a. O., S. 215 - 228. Im Zusammenhang mit dem FAD und dem Reichskuratorium muß das „Notwerk der deutschen Jugend", gegründet am 24. 12. 1932, gesehen werden, das sich mit der Ausgabe von Mahlzeiten, beruflicher Schulung und „sinnvoller geistiger und körperlicher Betätigung" um arbeitslose, aus dem FAD ausgeschiedene Jugendliche kümmern sollte; bei der Planung dieser Institution war Schmitts enger Freund, Oberstleutnant Eugen Ott, führend beteiligt, vgl. Köhler, a. a. O., S. 211.
Anhang des Herausgebers Carl Schmitt hielt diesen Vortrag am 23. 11. 1932 auf der Mitgliederversammlung des „Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen" - nach einem Bonmot Bismarcks allgemein „Langnamverein" genannt - in Düsseldorf. (Zur Geschichte dieser sehr einflußreichen, trotz des Namens eher schwerindustrielle Interessen vertretenden Organisation vgl. J. Winschuh, Der Verein mit dem langen Namen Geschichte eines Wirtschaftsverbandes, 1932; die Expansionsstrategie und Machtfülle des Vereins schildert B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik - Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, 1978, bes. S. 132-214.) Schmitts Vortrag wurde abgedruckt in: Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland u. Westfalen, Jg. 1932, Nr. 1, NF, 21. Heft, S. 13 - 32. Da die Mitgliederversammung unter dem Motto „Gesunde Wirtschaft im starken Staat!" stand, wird Schmitts Text gerne dieser Titel zugewiesen, Schmitts einleitende Worte sind aber eindeutig. Der Vortrag wurde, bei inzwischen völlig geänderter politischer Lage, unter dem korrekten Titel „Starker Staat und gesunde Wirtschaft" nachgedruckt in: Volk und Reich - Politische Monatshefte, Februar 1933, S. 81 - 94. Eine gekürzte Version findet sich in: G. Brüggemeier (Hrsg.), Entwicklung des Rechts im organisierten Kapitalismus - Materialien zum Wirtschaftsrecht, Band 2: Vom Faschismus bis zur Gegenwart, 1979, S. 92 - 105. Hier wird Schmitts Text fälschlich unter „Nationalsozialistische Vorstellungen von Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik vor 1933" eingeordnet; jetzt auch vollst. Ndr. in: P. Wende, Hrsg., Deutsche Reden, III, 1994, S. 539 - 62.
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Schmitts Text berührt sich mit dem in u. Bd. zuvor abgedruckten Vortrag „Konstruktive Verfassungsprobleme" v. 4. 11. 1932, aber auch mit dem Aufsatz „Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland", Europäische Revue, Februar 1933, S. 65 - 70; Nachdrucke in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 1940, S. 185 - 190, u. in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 359 - 366 (mit Erläuterungen). Trotz der starken Überschneidungen ist es jedoch falsch, den 1933 veröffentlichten Aufsatz mit dem LangnamVortrag mehr oder minder ineinszusetzen, wie dies J. P. Faye, Totalitäre Sprachen, II, 1977, S. 880 - 889, tut, der von der „Version 32" und der „Version 33" spricht. Der 1933 in der Europ. Revue publizierte Aufsatz sollte als „Vorbereitung zu einer nochmaligen Auflösung des Reichstags, die als letzte Kraftprobe der Regierung Schleicher gedacht war" (so Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufs., op. cit., S. 365) dienen, um so Hitler den Weg zu versperren. Mit dem Scheitern Schleichers aber war „der Zweck des Aufsatzes entfallen" (Schmitt, ebd.). Der Langnamvortrag bezog sich jedoch auf eine andere Lage. Schmitt weist hier recht deutlich die unter der Regierung Papen kursierenden Pläne zu einer Verfassungs- und Reichsreform zurück, wie sie auch vom Vorsitzenden des LangnamVereins, Fritz Springorum, in s. einleitenden Worten gefordert wurde (vgl. Mitteilungen . . ., a. a. O., S. 5 - 12). Hatte Schmitt sich in s. Schrift „Legalität und Legitimität" („abgeschlossen am 10. Juli 1932") noch implicit zugunsten einer Reform geäußert, so daß die These, damals sei er „ein Mann Papens" gewesen (vgl. H. Muth, Carl Schmitt in der deutschen Innenpolitik des Sommers 1932, HZ, Beiheft 1, 1971, S. 75 - 147) eine gewisse, gern überschätzte Plausibilität für sich beanspruchen kann, so bevorzugte er jetzt, 5 Monate später, die Ausschöpfung des Art. 48. Schmitt ging also, um es schlagwortartig zu sagen, von der „Legitimität" zur „Legalität" zurück, vgl. dazu den Meinungsaustausch zw. E. R. Huber u. mir in: H. Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum - Über Carl Schmitt, 1988, S. 66 f. Man darf vermuten, daß sich Schmitt in der Zwischenzeit über die Aussichtslosigkeit und auch den illusorischen Charakter der Reformpläne Papens, Gayls, Schottes (vgl. dazu die Fußnoten d. vorhergehenden Aufsatzes „Konstruktive Verfassungsprobleme") klar geworden war. Dieser Schluß läßt sich auch aus Schmitts Äußerungen ggü. E. R. Huber v. 26. / 27. 8. 1932 ziehen (op. cit., S. 59). Die Mitgliederversammlung des Langnam-Vereins fand knapp 3 Wochen nach den Reichstagswahlen v. 6. 11. 1932 statt, bei der die NSDAP 34 Mandate verlor, so daß die von Schleicher konzipierte Strategie aussichtsreich schien. Zur gleichen Zeit befand sich Papen bereits in der Krise, u. a. aufgrund der scheiternden Verhandlungen zur Regierungsumbildung (vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1146 ff.). Letzteres wurde den anwesenden Mitgliedern auch deutlich durch ein Telegramm Papens, der persönliches Mitglied des Langnam-Vereins war; Papen entschuldigte darin sein Fehlen mit dem Hinweis auf „die ungeklärte innerpolitische Lage" (Mitteilungen . .., a. a. O., S. 69 f.). Man darf, etwas zugespitzt, behaupten, daß Schmitts Vortrag der Vortrag eines ,»Mannes von Schleicher" war, dessen Konzepte hier recht deutlich vertreten wurden - während die führenden Mitglieder des Langnam-Vereins damals durchaus noch zu Papen neigten bzw. schon bald sich einem Arrangement mit Hitler näherten (vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1214). In der Aussprache zu Schmitts Vortrag tat sich bes. Hans Luther (1879 - 1962) hervor, damals, 1930 - 33, Reichsbankpräsident, von 1925 - 26 Reichskanzler; vgl. die o. a. „Mitteilungen", S. 56 - 67; dazu zustimmend und mit scharfer Kritik an Schmitt: Der deutsche Volkswirt, 25. 11. 1932, S. 20. - Luther kritisierte Schmitts Zurückweisung d. Reichsreform u. propagierte die Idee des von ihm geleiteten „Bundes zur Erneuerung des Reiches" (auch „Lutherbund" - vgl. dessen Vorschläge in d. Bänden: Reich und Länder, 1928, u. Die Reichs-
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reform, 1933. Allgemein zu den verschiedenen Reformprojekten auch von anderer Seite: E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 667 - 679, u. G. Schulz, Zwischen Diktatur und Demokratie, I, 1987, S. 453 - 612). Luther bezweifelte, daß man „durch bloße Diktatur von oben auf die Dauer regieren" könne und schrieb Schmitt eine „etwas locker geschürzte Auffassung des Rechtes" zu, an der gerade die von einer hohen Rechtssicherheit abhängige Privatwirtschaft nicht interessiert sein dürfe, vgl. a. Luther, Vor dem Abgrund 1930 - 1933. Reichsbankpräsident in Krisenzeiten, 1964, S. 271 f. Luthers Polemik gegen Schmitt fand i. d. Presse - ebenso wie die Mitgliederversammlung überhaupt - starke Resonanz, vgl. u. a.: Vorwärts, 24. 11. 1932; Berliner Tageblatt, gl. Dat.; Dortmunder Generalanzeiger, gl. Dat.; Deutsche Bergwerkszeitung, gl. Dat.; ausführlicher u. sehr kritisch: Die Justiz, 27. 11. 1932, die Schmitts Vorschläge mit denen J. Heckeis (vgl. dessen Abhandlung Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand, AöR, 1932, S. 257 - 338) verglich und Heckeis „sittlichen Ernst" lobte, der bei Schmitt vermißt wurde. D. Grimm, Verfassungserfüllung - Verfassungsbewahrung - Verfassungsauflösung. Positionen der Staatsrechtslehre in der Staatskrise der Weimarer Republik, in: H. A. Winkler, Hrsg., Die deutsche Staatskrise 1930 - 1933, 1992, S. 183 - 199, scheint schon Schmitts „Legalität und Legitimität", 1932, für einen Versuch, „eine andere autoritäre Ordnung" zu fördern, zu halten u. grenzt die Schrift von Heckeis Aufsatz, dem es stattdessen um „die Rettung der Weimarer Verfassung" gegangen sei, ab (ebd., S. 195 f.); sich dabei auch auf E. R. Huber beziehend. Seltsamerweise geht Grimm auf den Langnam-Vortrag nicht ein. Ausführlich berichtend und zustimmend d. Geschäftsführer d. Langnam-Vereins, M. Schlenker, Gesunde Wirtschaft im starken Staat, Stahl und Eisen, 24. 11. 1932, S. 1168 - 71. Zu der auf der Langnam-Tagung erörterten Problematik vgl. a.: L. A. Bentin, Zur wirtschaftl. Theorie d. totalen Staates in Deutschland, ZfP, 2/1972, S. 118 29. Eine grundsätzliche Kritik leistete Hermann Heller, Autoritärer Liberalismus?, Die Neue Rundschau, 1933, S. 289 - 298, Ndr. in ders., Gesammelte Schriften, II, 1971, S. 643 - 653. Heller konfundierte Schmitts „qualitativen totalen Staat" mit Papens und Schottes auf einer ständischen Neuordnung gründenden „Neuen Staat" (vgl. W. Schotte, Der neue Staat, 1932; dazu u. a. H. A. Winkler, Der Weg in die Katastrophe - Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, 1987, S. 734 - 741) und behauptete, daß hier „dem Konservativismus . . . alle antikapitalistischen Hemmungen genommen und der letzte Tropfen sozialen Öles entzogen" werde und dieser sich aus Produktion und Distribution zurückziehende Staat sicher keine Abstinenz von der Subventionspolitik bedeute, „sondern autoritären Abbau der Sozialpolitik". Schmitts Vortrag umreißt aber nicht nur die Abwendung Schleichers von den Papen'schen Verfassungs- und Reichsreformplänen, sondern unterstützt auch relativ deutlich Schleichers neue Wirtschafts- und Sozialpolitik, die den Widerstand Papens hervorrief (zu diesem Konflikt u. zum Unterschied beider Konzepte vgl. u. a.: H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik der Regierungen Papen und Schleicher, 1974, passim, u. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 1214). Begriff Papen - abgesehen von seinen weit geringeren Bemühungen, soziale Härten zu vermeiden - auch die Politik in der Krise noch stets als Chance, seinem „Neuen Staat" näher zu kommen, so konzentrierte sich Schleicher auf das konkrete, situationsbezogene Handeln (vgl. Huber, a. a. O., S. 1182). Interessant ist auch ein Vergleich von Schmitts Vortrag mit Schleichers Programmrede v. 15. 12. 1932, in dem viele der von Schmitt angesprochenen Themen konkretisiert wurden; vgl. Schulthess, Europäischer Geschichtskalender, 1932, S. 223 ff. - Vgl. auch (eher kommunistische Propaganda, denn Argumentation): J. Petzold, Wegbereiter des dt. Faschismus. Die Jungkonservativen in d. Weimarer Republik, 1978, S. 250 ff.
Zweiter Teil
Politik und Idee
Absolutismus I. Der Absolutismus im Staat Das Wort Absolutismus wird meistens als Bezeichnung einer bestimmten Form des modernen Staats, der sog. absoluten Monarchie, gebraucht, weil es im Ggstz steht entweder zu der feudal, od. ständisch gebundenen Monarchie des Mittelalters od. der konstitutionellen u. der parlamentar. Monarchie des 19. u. 20. Jahrh. Der Name hat also gewöhnlich nur einen relativen histor. Sinn u. betrifft ein Entwicklungsstadium des modernen europ. Staats. Das Zeitalter des A. beginnt im 16. Jahrh. mit der Bildung souveräner Staaten in Spanien, Frankreich, England u. nach dem 30jähr. Krieg in dtsch. Territorien. Die französ. Monarchie unter Ludwig XIV. kann als die klassische Form dieses A. gelten. In ihr entsteht auch die berühmte Gleichstellung von Staat u. König: „L'Etat c'est moi". Staatsrechtlich bedeutet die absolute Monarchie einen Staat, in welchem alle staatl. Macht unbeschränkt dem König zusteht, alle Ausübung staatl. Autorität auf seinen Willen zurückgeführt wird u. in seinem Auftrag u. Namen geschieht; „ein Staat, in welchem nur der Monarch unmittelbares Staatsorgan ist" (Jellinek, Allg. Staatslehre, 677),[1] während alle übrigen staatl. Befugnisse durch den Monarchen verliehen werden. Der Monarch vereinigt die „Fülle der Staatsgewalt", die plenitudo potestatis, in seiner Person u. überträgt ihre Ausübung widerruflich seinen Beamten; er kann an jedem beliebigen Punkt der Gesetzgebung, der Verwaltung od. der Rechtspflege eingreifen; sein Wille ist höchste Norm, mag sich dieser Wille nun in allg. Anordnungen od. in Einzelbefehlen äußern. Die „Allmacht" des absoluten Fürsten ist geschichtlich der Ausdruck eines neuen Staatsgedankens, des modernen zentralisierten Einheitsstaats, der sich in Europa infolge der Auflösung der kirchl. Einheit u. des dtsch. Kaisertums bildete, indem einzelne energische u. rücksichtlose Herren mit Hilfe militär. Macht u. eines vielfach landfremden Beamtentums (der fürstl. Kommissare) die ständischen u. feudalen Beschränkungen ihrer Macht auf ihrem Territorium beseitigten u. so eine neue Ordnung schufen. Stehendes Heer u. Beamtentum sind die beiden Werkzeuge dieser Entwicklung. Die Untertanen werden vor den Bedrückungen der zahlreichen kleinen Feudalherren geschützt; privaten Fehden u. der Selbsthilfe des Einzelnen od. der Stände wird im Interesse der staatl. Ordnung ein Ende gemacht; Handel u. Gewerbe unter staatl. Aufsicht nach den Methoden des Merkantilismus gefördert. So tritt an die Stelle der bunten Menge feudaler u. ständischer Beziehungen, wie sie aus dem Mittelalter überliefert waren, der zentralisierte Einheitsstaat. Sein Ideal ist ein aufgeklärtes Beamtentum, das unter der Leitung eines aufgeklärten Monarchen in verständiger Weise das Wohl der Untertanen fördert. Der Staat als Ganzes erscheint als ein großer, kunstvoll kon-
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struierter, zweckdienlicher Mechanismus, eine unter der Leitung des absoluten Fürsten gut funktionierende Maschine. [2] Dieser A. berief sich zu seiner Rechtfertigung auf die Staatsräson, die ratio status, um die rechtl. u. moral. Widerstände zu beseitigen, welche seiner Durchführung im Weg standen. Rechtlich stand der Machtkonzentration des absoluten Fürsten vor allem die große Menge wohlerworbener Rechte der Stände im Weg, moralisch die Rücksicht auf überlieferte Verhältnisse. In der Renaissance erwacht das bloß techn. Interesse für die Eroberung, Behauptung u. Erweiterung polit. Macht u. verdrängt die bisherige mittelalterl. Art moral, u. rechtl. Bewertung. Machiavellis Buch vom Fürsten (1532, d. h. 5 Jahre nach dem Tod Machiavellis erschienen) ist das weltberühmte klassische Dokument dieser Auffassung u. ihres Ideals von polit. Virtuosität. Die Praxis des A. wird daher seit dem 16. Jahrh. vielfach als Machiavellismus bezeichnet, womit gesagt werden soll, daß sie Rechtsverletzungen u. Immoralitäten durch den polit. Zweck zu rechtfertigen sucht. Die an Machiavelli anknüpfende Lehre von der Staatsräson ist in einer großen ital., dtsch. u. französ. Literatur des 16. u. 17. Jahrh. erhalten. Staatsrechtlich wird der A. begründet durch die Lehre von der Souveränität als der höchsten, nicht abgeleiteten, keiner andern irdischen Gewalt unterworfenen staatl. Macht, die auch an die Gesetze nicht gebunden, also in einem prägnanten Sinn legibus solutus ist. Der Begründer dieser Lehre ist der französ. Jurist Joh. Bodinus (s. d.), dessen grundlegendes Werk (Sechs Bücher über den Staat) 1576 erschien. Staatsräson u. Souveränität sind die beiden typischen Begriffe des A. vom 16. bis zum 18. Jahrh. Zum Verständnis dieses A. ist es wesentlich, die spezifischen Gegner zu beachten, die er im Lauf der letzten Jahrhunderte gefunden hat. Zunächst traten ihm die Stände entgegen, deren wohlerworbene Rechte durch den absoluten Fürsten gefährdet waren. Gegenüber der polit. Rücksichtslosigkeit der Staatsräson beriefen sie sich auf Recht u. Moral u. kämpften gegen den „Tyrannen". Nach der Pariser Bartholomäusnacht (24. Aug. 1572) setzt eine große Literatur gegen den fürstl. A. ein, deren Autoren in der Geschichte der staatswissenschaftl. Literatur unter dem Namen Monarchomachen bekannt sind. Als Hauptvertreter sind zu nennen: Hotomanus, Buchanan u. Junius Brutus (Duplessis-Mornay), von Katholiken der wegen seiner Lehre vom Tyrannenmord vielgenannte Jesuit Mariana. Der Name Monarchomachen verbreitete sich durch eine Gegenschrift des Wilh. Barclay „De regno et regali potestate adversus Monarchomachos" (Paris 1600). Ein großer Teil ihrer Argumente ist in die Diskussion zw. dem absoluten Fürsten u. der modernen Völksvertretung des 19. Jahrh. sowie in die Lehre vom Rechtsstaat übergegangen, wobei allerdings zu beachten ist, daß der Begriff Rechtsstaat relativ ist u. auch der Staat des fürstl. A. keineswegs einen Zustand absoluter Rechtslosigkeit darstellt, der etwa mit asiat. Despotismus od. irgendeiner Willkürherrschaft gleichzusetzen wäre. Vielmehr ergaben sich schon aus den techn. Notwendigkeiten einer geordneten Bureaukratie, ferner aus der weitgehenden Selbständigkeit der Justiz eine rechtl. Garantie u. eine gewisse Gleichheit vor dem Gesetz, d. h. vor dem Willen des Fürsten.
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Ein ganz anderer Gegensatz zur modernen absoluten Monarchie tritt seit der engl. Revolution v. 1640 auf, u. zwar in der Lehre von der sog. Teilung od. Balancierung der Gewalten. Sie beruht auf der Vorstellung, daß die Staatsgewalt nicht an einem einzigen Punkt, weder beim Fürsten noch beim Parlament, konzentriert sein dürfe, vielmehr im Interesse der Bürger durch mehrere verhältnismäßige selbständige u. voneinander unabhängige Faktoren unter Trennung der versch. staatl. Funktionen (Gesetzgebung, Exekutive, Rechtspflege) ausgeübt werden müsse. Als theoretische Begründer dieser Lehre von der Teilung der Gewalten gelten Locke (Two Treatises of Government, 1689) u. Montesquieu (Esprit des lois, 1745). Man versteht ihre gegen die Machtkonzentration des absoluten Fürsten gerichtete Lehre am besten aus einer Vorstellung, die seit dem 16. Jahrh. auf den verschiedensten Gebieten das europ. Denken beherrscht, nämlich der „balance", d. h. eines Ausgleichs widerstrebender Kräfte, die in ein Gleichgewicht u. dadurch in eine richtige Ordnung gebracht werden. So bedeutet die „Teilung der Gewalten" einen Versuch, verschiedenartige Kräfte u. Tendenzen innerhalb des Staats gegeneinander auszubalancieren u. den Fürsten als den Chef der Exekutive von andern Gewalten, bes. von Gesetzgebung u. Rechtspflege, zu trennen. Die Lehre von der Teilung der Gewalten hat in maßgebender Weise fast alle europ. u. amerik. Verfassungen bis auf den heutigen Tag beeinflußt. Teilung der Gewalten bedeutet hier einen spezifischen Gegensatz zu der zentralist. Einheit jedes A., sei es des Fürsten, des Parlaments od. des Volks; sie gilt als ein Kriterium der Freiheit, ja einer wahren Verfassung überhaupt. Endlich entstand der absoluten Monarchie ein dritter Gegner, der sowohl die gut funktionierende Einheit des modernen, durch den fürstl. A. geschaffenen Staats wie auch die Teilung u. Balancierung der Gewalten für einen leblosen Mechanismus erklärte u. der Vorstellung vom Staat als einer kunstvoll gemachten Maschine das Bild vom Staat als einem in der Geschichte natürlich wachsenden lebensvollen Organismus entgegenhielt. Diese Auffassung tritt seit dem Ende des 18. Jahrh. auf u. setzt sich nam. in Deutschland während des 19. Jahrh. durch. [3] Ein dilettant. Sprachgebrauch bezeichnet sie häufig als romantisch. In Wahrheit beruht sie teils auf alten, naturphil. Analogien, teils auf traditionalist. Vorstellungen, teils endlich auf der geschichtl. Tatsache, daß durch das aktive Auftreten der Nation seit den 'französ. Revolutions- u. den dt. Freiheitskriegen der Staat einen neuen Inhalt bekommen hatte.
II. Der Absolutismus des Staats Während das Wort A. in dem unter 1. erörterten Sinn einen A. im Staat bedeutet, nämlich den A. des Fürsten gegenüber den Ständen od. im 19. Jahrh. gegenüber der Völksvertretung, kann das Wort A. auch auf den A. des Staats übertragen werden u. bedeutet dann die Allmacht des Staats entweder gegenüber den eigenen Staatsbürgern, od. gegenüber jeder rechtl. od. moral. Norm, od. endlich auch ge7 Staat, Großraum, Nomos
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genüber andern sozialen u. geistigen Mächten, bes. gegenüber der Kirche. Die absolute Monarchie war in Wirklichkeit niemals, wenn man so sagen darf, ein absoluter A. gewesen. Sie nahm nicht nur weitgehende Rücksicht auf das geschichtl. Herkommen, auf den Adel u. die Erfordernisse des Beamtentums, es blieben nicht nur in allen absoluten Monarchien Europas zahlreiche überlieferte rechtl. u. soziale Gestaltungen unberührt, sondern es galt auch als selbstverständlich, daß die Macht des Königs an göttlichem u. an natürlichem Recht, bes. auch am Privateigentum, eine Schranke finde. Bodinus hat das bes. hervorgehoben. Von einem A. des Staats kann man erst sprechen, wenn derartige naturrechtl. u. religiöse Hemmungen entfallen u. der Staat als solcher die absolute Instanz, der letzte Richter über Gut u. Böse wird. Theoretisch tritt das zum ersten Mal hervor in der Staatstheorie des Hobbes (De cive, 1642; Leviathan, 1651). Die klassische Ausführung findet sich im Contrat social Rousseaus (1762), nach welchem der Staat zwar durch den übereinstimmenden Willen der Staatsbürger begründet wird, nachdem er aber einmal so entstanden ist, restlos alle Gebiete des menschl. Lebens umfaßt.[4] Das erste prakt. Beispiel dieses modernen Staats-A. war die Jakobinische Diktatur von 1793. Hier wird der von der absoluten Monarchie zwar vorbereitete, aber von ihr wohl zu unterscheidende moderne Staats-A. zum ersten Mal Wirklichkeit. Der Staats-A. verbindet sich häufig mit scheinbar entgegengesetzten, liberalen Ideen u. Tendenzen, wie es überhaupt in steigendem Maß für das 19. Jahrh. charakteristisch wird, daß Zwang u. Ausbeutung im Namen der Freiheit vor sich gehen. Die liberale Bewegung bes. bekämpfte zwar die absolute Monarchie, aber gleichzeitig unterwarf sie dem Staat Lebensgebiete, die ihm bisher fremd waren, um sie der Kirche zu entreißen: Erziehung u. Schule, Ehe u. Familie. Während man das Religiöse zur Privatsache machte u. als etwas allzu Hohes, einer äußerlichen Regelung ganz Unzugängliches hinstellte, konnte sich in der prakt. Wirklichkeit der Staat aller sichtbaren Kundgebungen des Religiösen bemächtigen. So wurde im Endergebnis, infolge der Privatisierung aller geistigen u. moral. Werte, für die sichtbare äußere Wirklichkeit des sozialen Lebens der Staat zur höchsten Instanz. Obwohl der Liberalismus sonst den Staat in einen bewaffneten Diener der Gesellschaft verwandelt, der das freie Spiel der wirtsch. u. sozialen Kräfe, d. h. in Wirklichkeit die unkontrollierte Macht des Stärkeren, schützen soll, erscheinen im Kampf gegen die Kirche Liberale plötzlich als Verteidiger der Macht des Staats über Schule, Erziehung, Ehe u. Familie u. führen mit einem höchst inkonsequenten Pathos einen sog. Kulturkampf des Staats gegen die Kirche.[5] Konsequent dagegen ist der Staats-A. in andern Strömungen des 19. Jahrh., nämlich in der modernen Massendemokratie u. im kommunist. Sozialismus, weil in ihnen nicht die Freiheit des Einzelnen als der höchste Wert behandelt wird. Eine bedeutende Synthese der verschiedenartigen, zum A. des Staats führenden Tendenzen enthält Hegels Rechts- u. Staatsphilosophie. In ihr ist der Staat die über den auseinanderstrebenden egoist. Interessen der Gesellschaft stehende, einigende, sittliche Macht, die höchste sittliche Autorität, ja die objektive Wirklichkeit der
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sittlichen Idee selbst, die sich im Prozeß der Weltgeschichte in der Form von mächtigen Staaten entfaltet u. welcher sich der Einzelne einfügt, um dadurch seine wahre Freiheit zu gewinnen. Soziologisch spiegelt sich in diesem System der preuß. Beamtenstaat des 19. Jahrh., in welchem sowohl eine Monarchie in geschichtl. Größe, ein aufgeklärtes liberales Beamtentum, ein überlieferter alter Adel, ein wirtschaftlich aufstrebendes Bürgertum u. schließlich auch staatssozialist. Tendenzen eine Stätte gefunden hatten. Für die radikal sozialist. Lehre versteht sich der A. des Staats von selbst. Die bolschewist. Theorie insbes. erklärt den Staat, auch den proletar. Staat, für eine Diktatur der herrschenden Klasse. Die grenzenlose Macht u. Zwangsbefugnis der bolschewist. Diktatur wird damit gerechtfertigt, daß dieser proletar. Staat mit Gewalt die Hindernisse beseitigen müsse, welche dem Übergang vom bürgerlich-kapitalist. Gesellschaftszustand zum kommunist. Idealzustand noch im Weg stehen. Im ganzen bestätigt die Erfahrung des letzten Jahrh., daß sowohl liberale, wie demokrat., wie sozialist. Ideen zum modernen Staats-A. führen können.
I I I . Staats-Absolutismus u. katholische Kirche Nach kath. Lehre ist der Staat zwar göttlichen Ursprungs, insofern er eine aus der sozialen Natur des Menschen notwendig folgende, daher gottgewollte Einrichtung ist. Alle bestehende staatl. Gewalt ist von Gott (Rom. 13,1), auch in einer Demokratie. Die staatl. Autorität ist wirkliche Autorität, sie hat obrigkeitl. Charakter u. ist nicht etwa, wie nach der modern-demokrat. Lehre Rousseaus, bloßer Agent des Volks. Aber neben dem Staat, u. zwar unabhängig von ihm, steht die Kirche als eine freie u. selbständige societas perfecta, die auf ihren Gebieten, nämlich in den ihr anvertrauten göttlichen Dingen, keine Einmischung des Staats duldet, wie sie sich umgekehrt in die weltl. Angelegenheiten des Staats nicht einmischen soll. Die beiden Gewalten, Kirche u. Staat, sind jede in ihrer Art u. auf ihren Gebieten höchste Gewalten u. in diesem Sinn beide souverän. So deutet die kath. Kirche das Wort Christi: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, u. Gott, was Gottes ist" (Matth. 22,21). Daraus folgt, daß nach kath. Lehre ein Staats-A. im Sinn einer grenzenlosen, über ihre eigene Zuständigkeit frei entscheidenden allmächtigen Staatsgewalt ebenso unzulässig ist wie der heidnisch-antike Staat, der den Menschen ganz erfaßt u. ein Privatleben eigentlich nicht kennt. Der Syllabus von 1864, Prop. 39, hat die Lehre von der Staatsomnipotenz ausdrücklich als unchristlich verurteilt. [6] „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen". Der Staat findet seine Grenze am göttlichen u. am natürlichen Recht. Doch kann nicht jeder beliebig über diese Grenzen entscheiden, vielmehr ist eine Grenzüberschreitung nur dann anzunehmen, u. das Recht, den Gehorsam zu verweigern, erst da gegeben, wo zweifellos u. offenbar (aperte) das göttliche u. natürliche Recht verletzt wird (Rundschreiben Leos XIII., Diuturnum illud, v. 29. Juni 1881).[7] 7*
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Bei Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1922, S. 677, ist nur sinngemäß die Rede „von dem Monarchen als Inhaber der gesamten Staatsgewalt"; diese „Formel" entspräche „am reinsten den Verhältnissen des absoluten Staates." Vgl. auch in Jellineks Werk die S. 544 f., 556, 591,691. [2] Dazu, mit vielen Hinweisen zu Schmitt: B. Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, 1986. [3] Dazu Stollberg-Rilinger, a. a. O., bes. S. 202 ff. - Der Organismusbegriff spielt schon eine Rolle in Kants Staatsauffassung, also lange vor der Romantik, vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke, X, Ausg. Weischedel, 1968, §§ 63, 64. Dazu: E. Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, in: Werke, III, 1960, S. 46 ff. (zuerst 1908). [4] Rousseau begründet einen „Absolutismus des Volkes" (so. u. a. Fr. Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus 1648 - 1788, München 1948, S. 298), der dann ins Staatliche „transformiert" wird. [5] Die deutschen Liberalen in der „Liberalen Ära" (1866 - 77) der Bismarck-Zeit hegten während des Kulturkampfes die Überzeugung, „daß der Kampf gegen den Staat immer dann aufgeschoben bzw. hinter ein Bündnis mit dem Staat zurücktreten müsse, wenn es gegen die Feinde der Liberalen in der Gesellschaft zu kämpfen galt." (J. J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus, 1983, S. 163.) Vgl. dazu: G. Stoltenberg, Der deutsche Reichstag 1871 - 1873, Düsseldorf 1955, bes. S. 94 ff. Allgem. z. „Syllabus": H. Jedin, Handbuch d. Kirchengeschichte, VI/1, 1971, S. 750-56. [6] Der unter Nr. 39 aufgeführte Irrtum im „Syllabus" Pius' IX. lautete: „Der Staat besitzt als der Ursprung und die Quelle aller Rechte ein schrankenloses Recht." (Nach: Papst Pius IX., Apostolisches Rundschreiben Quanta Cura und Syllabus (1864), Wien o. J., hrsg. v. K. u. I. Haselböck, S. 16.) [7] Papst Leo XIII., Apostolisches Rundschreiben Diuturnum illud - Über die höchste Würde im Bereich des Staatswesens (1881), Wien o. J., hrsg. v. K. u. I. Haselböck, S. 9: „Nur einen Grund gibt es für die Menschen, nicht zu gehorchen: wenn nämlich etwas von ihnen gefordert werden sollte, was mit dem natürlichen oder dem göttlichen Recht offenkundig in Widerspruch steht. Denn alles, wodurch das Gesetz der Weltordnung oder der Wille Gottes verletzt wird: das zu gebieten oder zu tun ist Gottlosigkeit und Frevel. Sollte daher jemand in eine Lage kommen, daß er sich gezwungen sieht, eines von beiden zu wählen: nämlich entweder die Gebote Gottes oder die der Herrscher zu verletzen - dann hat er Jesus Christus zu gehorchen, welcher gebietet, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist, und nach dem Beispiel der Apostel unerschrocken zu antworten: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Auch ist kein Grund gegeben, diejenigen, welche so handeln, wegen Verweigerung des Gehorsams anzuklagen: denn wenn der Wille der Herrscher im Streite liegt mit Gottes Willen und Gesetzen, dann überschreiten diese ihre Machtbefugnis und vernichten die Gerechtigkeit. Und dann kann eben ihre Autorität keine Gültigkeit haben: denn wo keine Gerechtigkeit ist, da ist auch keinerlei Autorität." Vgl. auch: O. Schilling, Die Staats- und Soziallehre Leos XIII., München 1925 ; P. Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., M.- Gladbach 1925.
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Anhang des Herausgebers Der Artikel erschien im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 1926,1, Sp. 29 - 34. Vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 48 f., 202 f. Das von Schmitt S. 96 erwähnte Stichwort zu Bodin findet sich im o. a. Bd., Sp. 973 - 76 (von V. Gramich, revidiert v. H. Sacher). - Die Literatur ü. Staatsräson u. Machiavellismus ist inzwischen kaum noch übersehbar; als „klassisch" dürfen wohl immer noch gelten: Guiseppe Ferrari, Histoire de la raison d'Etat, Paris 1860, Ndr. ebd., 1992, u. Friedrich Meinekke, Die Idee der Staatsräson in d. neueren Geschichte, 1924 u. ö.; zu diesem Buch vgl. die Kritik Schmitts, ASWSP 1926, S. 226 - 34, Ndr. in ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 45 - 52. Über die neuere Literatur informiert: M. Stolleis, Staat u. Staatsräson in d. frühen Neuzeit, 1990; einen kurzen geschichtlichen Überblick leistet M. Senellart, Machiavelisme et raison d'Etat, XII e - XVIII e siecles, Paris 1989; sehr gute Bibliographie in: Archivio della Ragion di Stato, 1/1993, Neapel. Die span. Sonderentwicklung untersucht: J. A. FernändezSantamaria, Razön de Estado y poh'tica en el pensamiento espanol del Barroco (1595 - 1640), Madrid 1986. - Die Vorstellungen zur politischen „Balance" erörtert Otto Mayr, Uhrwerk und Waage - Autorität, Freiheit u. techn. Systeme in d. frühen Neuzeit, 1987, der die Uhr als typisch für autoritäre, die Waage als typisch für liberale Systeme ansieht.
Macchiavelli Zum 22. Juni 1927 Worauf gründet sich der Ruhm dieses Namens? Denn es wäre Torheit, ihn nur berüchtigt zu nennen und ihm den wahren Ruhm abzusprechen. Die vier Jahrhunderte seit dem Tode Macchiavellis sind mit heftigen, immer wieder sich erneuernden Diskussionen über den „Macchiavellismus" erfüllt. Wenn über Staatsraison, Staatsethik oder über das Verhältnis von Recht und Macht gesprochen wird, hört man seinen Namen. Eine umfangreiche Literatur schildert unter dem Stichwort „Anti-Macchiavelli" ein unmoralisches Scheusal; eine ebenso umfangreiche Literatur verteidigt ihn und begeistert sich an ihm. Jedesmal, wenn eine neue politische Idee dem staatlichen Leben neue Kräfte gab und die unzerstörbare Kraft des Politischen sich von neuem zeigte, erschien auch das Bild dieses Florentiners. Das 17. Jahrhundert hindurch begleitet er den Sieg der absoluten Fürsten. Als im 18. Jahrhundert, nach einer moralisierenden Aufklärung und Freigeisterei, die sich sehr anti-macchiavellistisch gebärdete, in Deutschland zum ersten Male politischer Sinn und nationales Bewußtsein zusammentrafen, wurde Macchiavelli von Hegel und Fichte neu entdeckt. In der folgenden Generation, deren politisches Ziel die nationale Einigung Deutschlands und Italiens war, haben ihn deutsche und italienische Historiker als den Held nationaler Einigung und starker nationaler Machtpolitik gefeiert. Auch heute noch hat dieser Name die Kraft eines Signals. Die Weltpropaganda des Weltkrieges organisierte eine moralische Empörung gegen den „Macchiavellismus" der deutschen Politik. [ 1 ] Mussolini, der bewußteste Feind eines staatsauflösenden Liberalismus, ist 1924, aus Anlaß seiner Promotion in Bologna, mit einer Dissertation für Macchiavelli eingetreten.[2] Bei uns in Deutschland hat jetzt, 1927, Herman Hefele in der Einleitung einer vortrefflichen Auswahl aus Macchiavellis Schriften das Politische gegenüber dem Oekonomischen wieder in seine menschlichen Rechte eingesetzt. [3] Von den vielen politischen Schriftstellern und Staatstheoretikern hat keiner einen ähnlichen Erfolg gehabt wie Macchiavelli. Dabei war er weder ein großer Staatsmann noch ein großer Theoretiker. Seine politische Tätigkeit im florentinischen Dienst blieb ohne besondere Wirkung. Bei den Geschäften, die er für seine Vaterstadt erledigte als Vorstand der Staatskanzlei oder als Mitglied einiger Gesandtschaften in Frankreich und Deutschland, stand er niemals an entscheidender oder maßgebender Stelle. Er hat viele interessante und gute Berichte geschrieben, aber nichts daran ändern können, daß die florentinische Außenpolitik damals etwas ziemlich Schwaches und Erbärmliches war. In seiner innenpolitischen Stel-
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lungnahme hatte er nur Unglück. Als die Demokraten, zu denen er gehörte, 1513 unterlagen, war auch sein persönliches Schicksal entschieden. Die siegreiche Partei der Medici setzte ihn gefangen, ließ ihn foltern und gab ihn schließlich frei, wahrscheinlich, weil er nicht politisch wichtig genug war. Die letzten vierzehn Jahre seines Lebens verbrachte er in der Verbannung auf dem Lande, in einem kleinen Haus an der Straße von Florenz nach Rom, mit den Beschäftigungen eines kleinbäuerlichen Rentners und im ganzen als ein armer Teufel, der sich vergebens bemühte, wieder in die politische Karriere zu kommen. Das ist die Situation, in der die beiden politischen Schriften entstanden, die ihn weltberühmt gemacht haben, die Diskurse über die erste Dekade des Titus Livius, und das Buch vom Fürsten, der Principe, die beide erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden. Nichts an diesem Leben war glänzend oder in irgendeinem großartigen Sinne heroisch. Daß man seine geschichtlichen, militärwissenschaftlichen und literarischen Werke heute noch kennt, liegt in der Hauptsache wohl daran, daß man den Autor des Principe kennt. Diese kleine Schrift aber, die eigentliche Ursache seiner Berühmtheit, hat wenig Augenfälliges. Sie hat kaum etwas von dem, was andere politische Denker berühmt gemacht hat: weder die Tiefe und den Adel platonischer Dialoge noch die systematische Gelehrsamkeit der Bücher des Aristoteles. Sie ist kein großes Dokument religiöser Umformung politischen Geistes, wie die Civitas Dei des hl. Augustinus. Sie hat auch nichts Sensationelles, nichts Enormes oder Genialisches; auch nichts Gelehrt-Gründliches, keine neue Staatslehre und keine neue Geschichtsphilosophie. Sie ist als besonders unmoralisch verschrien wegen einiger Stellen über die politische Notwendigkeit, Verträge zu brechen und eine fromme Gesinnung zu heucheln. Aber auch diese „Immoralität" spielt sich nicht auf und macht sich nicht moralisch wichtig, sie bleibt bescheiden und sachlich und hat nichts Enthusiastisches oder Prophetisches, wie der Immoralismus Nietzsches. Der Inhalt der beiden politischen Schriften, der Discorsi und des Principe, besteht aus politischen Ratschlägen und Rezepten, die an der Hand geschichtlicher Beispiele gewonnen und illustriert werden. Nach humanistischer Art ist es hauptsächlich die Antike und hier wieder am meisten die römische Geschichte, welche diese Beispiele liefert, doch wird auch die italienische Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts herangezogen. Das Interesse ist rein praktisch-politisch und ganz auf die Gegenwart gerichtet. Diese Methode der Geschichtsbehandlung ist uns heute fremd geworden, obwohl es vielleicht lehrreicher wäre, einige wenige Beispiele und Fälle stets von neuem gründlich von allen Seiten zu überdenken, als unabsehbare Quantitäten historischen Stoffes anzuhäufen, über denen dann einige soziologische Allgemeinheiten wie Wolken dahinziehen. Für Macchiavelli ist die Geschichte eine Fundgrube für politische Nutzanwendungen. Er fragt nur nach der konkreten politischen Sachlage und ihrer politisch richtigen Behandlung. Daraus erklären sich die vielbeschrienen „Immoralitäten", besonders in der Schrift über den Fürsten. Denn Macchiavelli spricht hier vor allem von dem neuen Fürsten, d. h. einem Herrscher, der seine Macht nicht im Wege friedlicher Rechtsnachfolge erworben, sondern durch eigene Kraft erobert hat und sich deshalb nur mit andern
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und härteren Mitteln halten kann als eine in sicherem Besitz stehende alte und angesehene Dynastie. Das ist selbstverständlich, wie es auch selbstverständlich ist, daß eine im Wege einer Restauration auf den Thron zurückgekehrte Dynastie nicht mit den Mitteln auskommt, mit denen sie früher regieren konnte; es bedarf größerer Gewandtheit, größerer Anpassungsfähigkeit, größerer Vorsicht und wahrscheinlich auch größerer Härte, um die neue Position zu verteidigen. Solche einfachen politischen Wahrheiten brauchen einen politischen Betrachter nicht zu empören. Man kann niemand einen Vorwurf machen, weil er feststellt, daß Napoleon gezwungen war, mit andern Methoden zu regieren wie die legitimen Fürsten seiner Zeit, und es hat wenig Sinn und Zweck, von Mussolini zu verlangen, daß er sich den Prinzregenten Luitpold zum Vorbild nehme. Ich weiß nicht, wie der Principe auf gebildete Japaner oder Chinesen wirkt. Kenner der indischen Literatur versichern einem, daß indische Bücher über Politik und Staatskunst an Immoralität den Macchiavelli weit übertreffen, worauf es nicht im geringsten ankommt. [4] Ein russischer Bolschewist wird die als unmoralisch verschrienen Stellen wahrscheinlich für harmlose Banalitäten halten und die moralische Empörung als bourgeoisen Schwindel erklären. Aber auf einen Westeuropäer wirkt diese Schrift unfehlbar in einer spezifischen Weise, und zwar wegen ihrer humanen Natürlichkeit. Nicht bloß wegen der Sprache, die von klassischer Klarheit und Bescheidenheit ist und die Merkmale humanistischer Bildung trägt - obwohl der Sprachstil auch hier zum Geheimnis des Erfolges gehört. Die sprachliche Natürlichkeit ist nur der Ausdruck unbeirrten Interesses an der Sache, mit dem dieser Mann politische Dinge politisch sieht, ohne moralistisches, aber auch ohne immoralistisches Pathos, in ehrlicher Vaterlandsliebe, mit offener Freude an der Virtü, d. h. an staatsbürgerlicher Kraft und politischer Energie, und im übrigen ohne einen anderen Affekt als den der Verachtung für politische Stümpereien und Halbheiten. Bei ihm ist die Humanität noch nicht zur Sentimentalität geworden. Ihm ist es selbstverständlich, daß jemand, der sich auf das Gebiet des Politischen begibt, wissen muß, was er tut, und daß lobenswerte Eigenschaften des Privatlebens, wie Gutmütigkeit und Treuherzigkeit, bei einem Politiker nicht nur zu Lächerlichkeiten werden können, sondern auch zu fluchwürdigen Verbrechen an dem Staat, der die Folgen solcher Treuherzigkeit zu tragen hat. Wenn Macchiavelli nun hinzufügt, daß es jedoch auf alle Fälle politisch vorteilhaft ist, gut und fromm zu scheinen, so sagt er offenbar nichts Falsches. Es wäre nur klüger, und mehr „macchiavellistisch" gewesen, hierüber zu schweigen oder noch besser, in das allgemeine Lob der Biederkeit einzustimmen. Aber darin liegt eben das menschlich Ehrliche Macchiavellis, daß er nicht daran denkt, politische Erörterungen mit idealen Forderungen zu verwirren, um dann aus der Verwirrung politischen Nutzen zu ziehen. Heute weiß jeder, mit welcher Routine und Sicherheit ein großer „psychotechnischer" Apparat die Massen propagandistisch zu bearbeiten versteht, und wie leicht es ist, ein moralisches Pathos seinen politischen Absichten dienstbar zu machen. Wir alle erinnern uns der Weltpropaganda gegen den Macchiavellismus der Deutschen. Wer nach solchen Erfahrungen heute den Principe liest, hat den Ein-
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druck, einen ruhigen und verständigen Menschen zu hören, und fühlt, daß sich das Politische, das nun einmal ein unausrottbarer Teil der menschlichen Natur ist, bei Macchiavelli von selbst versteht und noch nicht zum Diener anonymer und unsichtbarer Mächte geworden ist. Und auf wen, der nicht gerade propagandistisch interessiert wäre, wirkt es nicht unmittelbar und sogar rührend, wie alles unverfälscht Menschliche, wenn dieser Popanz der Immoralität, dieser angebliche Bösewicht nach einigen Sätzen über die grausamen Notwendigkeiten politischer Selbsterhaltung einfach erklärt: Meine Ansichten wären schlecht, wenn die Menschen gut wären; aber die Menschen sind nicht gut.
Anmerkungen des Herausgebers
[1] Vgl. H. Thimme, Weltkrieg ohne Waffen. Die Propaganda der Westmächte gegen Deutschland, Stuttgart 1932; auch Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938, S. 129. Der Vorwurf, die deutsche Politik sei „machiavellistisch", wurde in noch schärferer Form vor dem Ausbruch des II. Weltkrieges erhoben, vgl. u. a.: H. Berr, Machiavel et l'Allemagne, Paris 1939, S. 25 ü. Hitler: „Duplicite dans les paroles, volte-face dans les relations; violence dans les actes ... aucun Allemand n'a machiavelise avec une pareille impudeur, on pourrait presque dire avec une pareille nai'vete". Berr verschont aber auch Bismarck, Treitschke, Hegel, Fichte, Friedrich II. etc. nicht; Machiavelli erscheint als „le mauvais genie de l'Allemagne par 1'intermediate de la Prusse". [2] Irrtum Schmitts: Mussolini trug sich eine Zeitlang mit dem Gedanken, eine Dissertation über den Begriff des Staatsmannes bei Machiavelli zu schreiben, ließ diesen Plan aber fallen. Die Universität Bologna bot ihm 1923 die Ehrendoktorwürde an, die Mussolini jedoch ausschlug, da er nichts geschenkt haben wollte; vgl. R. Michels, Italien von heute, 1930, S. 290. Schmitt meint hier wohl den Artikel Mussolinis: Preludio al Machiavelli, Gerarchia, 3 / 1924, S. 205 - 09. Vgl. auch: G. Maschke, Der Zauberlehrling Machiavellis: Mussolini, Erste Etappe, Bonn 1988, S. 63-71. [3] Politik. Eine Auswahl aus Machiavelli. Übersetzt und eingeleitet von Herman Hefele, Stuttgart 1927, Fr. Frommanns Verlag, XXIV / 109 S. - In s. Einführung polemisiert Hefele gegen die These, die Politik habe zugunsten der Wirtschaft abgedankt, ebd., S. III - VI. S. auch die kleine Biographie von Hefele, Machiavelli, Lübeck 1933, Coleman. [4] Max Weber, Politik als Beruf (Oktober 1919), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. 1958, S. 505 - 560, schreibt: „Der wirkliche radikale ,Macchiavellismus* im populären Sinn dieses Wortes ist in der indischen Literatur im Arthashastra des Kautilya (lange vorchristlich, angeblich aus Chandraguptas Zeit) klassisch vertreten; dagegen ist Macchiavellis »Principe' harmlos" (S. 555). - Kautilya (verschiedene Schreibweisen), 4. Jhdt. v. Chr., ist vermutlich der Verfasser eines „Arthashastra" („Lehrbuch zum Gewinn weltlicher Güter"), eines groß angelegten Werkes, das man als eine Mischung aus Fürstenspiegel, Politiktheorie, Verwaltungslehre und Theorie der Bündnisse bezeichnen kann. Die deutsche Ausgabe erschien 1926 in Leipzig: Das Altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthacästra des Kautilya. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitung u. Anmerkungen versehen von Johann Jakob Meyer, inzw. Ndr. Graz 1977, LXXXVIII / 983 S. Es ist wahrschein-
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Zweiter Teil: Politik und Idee
lieh, daß Schmitt dieses Werk kannte, da dessen Autor sich unentwegt mit den verschiedenen Typen von Freund und Feind befaßt und Schmitt, wenn auch erst für 1939 nachgewiesen, Kontakt mit einem der besten deutschen Kenner K's., B. Breioer, hatte; vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 105. Von Breioer stammen die „Kautaliya-Studien", 3 Bde., 1927 - 34, jetzt Ndr. Osnabrück 1974. In Bonn, wo Schmitt damals lehrte, erschien 1926, hrsg. von W. Kirfel, die „Festgabe Hermann Jacobi"; auch Jacobi war ein Kenner von K's Werk und die Festgabe enthält mehrere Studien zu K. Bereits 1923 erschien in der berühmten Sammlung Othmar Spanns, „Die Herdflamme" A. Hillebrandts Buch ü. „Altindische Politik". Bedenkt man Schmitts Sensorium in diesen Dingen, so muß von einer Kenntnisnahme seinerseits ausgegangen werden. Auf die „Beziehung" Kautilya - Schmitt weist ö. hin: D. Conrad, Der Begriff des Politischen, die Gewalt u. Gandhis gewaltlose politische Aktion, in: J. Assmann/D. Harth (Hrsg.), Kultur und Konflikt, 1990, S. 72 -112. Zum „Machiavellismus" K's: B. Sarkar, Hindu Politics in Italian, in: Indian Historical Quarterly, I / 1925, S. 545 - 60, 743 - 49; II / 1926, 146 - 57, 353 - 72; R. P. Kangle, The KautilTya Arthasästra, III, Kommentar, Deli 1986, Motilal Banarsidass, S. 269 - 73 (die beiden ersten Bände dieser ggw. besten Edition bieten den Text in Sanskrit u. Englisch). Zur völkerrechtlichen Bedeutung K's.: C. H. Alexandrowicz, Kautilyan Principles and the Law of Nations, BYIL, 1965 / 66, S. 301 - 320. Vgl. auch: H. Hoffmann, Die Begriffe „König" und „Herrschaft" im indischen Kulturkreis, Saeculum, 1953, S. 334 - 39; F. Wilhelm, Politische Polemiken im Staatslehrbuch des Kautalya, 1960; H. Scharfe, Untersuchungen zur Staatsrechtslehre des Kautalya, 1968; J. Schüßlburner, Der ewige Machtkampf. Geopolitik und die Lehren des Kautilya, Criticön, 133 / 1992, S. 225 - 31 (mit Hinweisen auf Schmitt). Vgl. ferner: V. R. R. Dikshitar, Kautalya and Machiavelli, Indian Historical Review Quarterly, III/ 1927, S. 176 - 80; H. H. Gowen, The Indian Machiavelli or Political Theory in India two thousand years ago, Political Science Quarterly, Juni 1929, S. 173 - 92; F. Berber, Das Staatsideal im Wandel d. Weltgeschichte, 1973, S. 59 f.; H. Schwalm, Die Rolle d. Kriegswesens vor u. während d. Herrschaft Chandraguptas u. seines Ministers Kautalya, 1986.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien am 21. 6. 1927 i. d. Kölnischen Volkszeitung. Anlaß war der 400. Todestag Machiavellis. Er entstand etwa gleichzeitig und im bisher wenig gesehenen Zusammenhang mit d. ersten Fassung d. „Begriffs d. Politischen", ASWSP, August 1927, S. 1 - 33. Die damals nicht unübliche Schreibung des Namens - mit zwei „c" - wurde beibehalten. Im Düsseldorfer Nachlaß Schmitts findet sich e. Brief Hefeies v. Juli 1927 (unleserl. Datum), in dem Hefele Schmitt für die Übersendung d. Aufsatzes dankt u. resümiert: „Wie klar, kühl und sicher stellen Sie das Wesentliche heraus! Wie verkrampft nimmt sich dagegen meine Formulierung an! Verzeihen Sie diese Anwandlung meines Neides." - Herman Hefele (1885 Stuttgart - 1936 Frauenburg), Großneffe d. berühmten Rottenburger Bischofs Karl Josef v. Hefele (1809 - 1893), studierte zunächst Katholische Theologie in Tübingen. Er schied 1908 aus d. Priesterseminar aus, weil er sich weigerte, d. Antimodernisteneid zu leisten. Danach Historiker. Ab 1929 lehrte er Allgem. Dt. Geschichte an der Philosoph.-Theolog. Akademie zu Braunsberg / Ermland (Ostpreußen), an der auch drei z. T. enge Freunde Schmitts tätig waren: der Kanoniker Hans Barion (1899 - 1973), der systematische Theologe Carl Eschweiler (1886 - 1936) u. der Kirchenhistoriker u. Luther-Forscher Joseph
Macchiavelli
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Lortz (1887 - 1975); allgem. zu dieser katholischen Enklave in Ostpreußen: G. Reifferscheid, Das Bistum Ermland und das Dritte Reich, 1975. - H. trat vor allem als Übersetzer u. Essayist hervor. Er übersetzte u. a. die „Bekenntnisse" d. hl. Augustinus (1918), Schriften Albert v. Aachens u. Petrarcas, die Memoiren Cardanos u. Stefano Infessura's „Römisches Tagebuch". Seine wichtigeren Schriften: Zur Psychologie der Etappe, 1918; Dante, 1921; Das Gesetz der Form - Briefe an Tote, 1921 (darin, S. 91 101, Ausg. 1928, „An Machiavelli - Über das Politische"); Geschichte und Gestalt, hrsg. v. Cl. Bauer, 1940 (Aufsätze). Im engen Zusammenhang mit Schmitts Werk vgl. von ihm: Demokratie und Parlamentarismus, Hochland, Okt. 1924, S. 34 - 43; Zum Problem des Politischen, Abendland, April 1928, S. 203 - 205, dem Abdruck v. Schmitts „Der bürgerliche Rechtsstaat" unmittelbar folgend. - Zu Hefele vgl. u. a.: L. Hänsel, Herman Hefele, Hochland, 1929, S. 358 - 374; S. 516 - 533, S. 631 - 645; Ph. Funk, Nekrolog, Hist. Jb. d. GoerresGesellschaft 1936, S. 208 - 13; J. Bernhart, Leben und Werk in Selbstzeugnissen, hrsg. v. L. Wachinger, 1981, S. 107 - 12; G. Lautenschläger, Joseph Lortz (1887 - 1975) - Weg, Umwelt und Werk eines katholischen Kirchenhistorikers, 1987, S. 255 - 66. - Zum Thema Machiavellismus/Staatsräson vgl. u. Hinweise S. 101. - Daß Schmitt sich, wenn auch eher auf spielerische Weise, mit Machiavelli identifizierte, zeigt sich daran, daß er sein Haus in Plettenberg-Pasel „San Casciano" nannte, - nach dem Landhaus Machiavellis in dessen Verbannungsort San Andrea di Percussina bei San Casciano; vgl. a.: J. Gross, San Casciano im Sauerland, Deutsche Zeitung, 11.7. 1963. - Schmitt bezog sich mit „San Casciano" jedoch auch auf den hl. Cassian v. Imola, der unter Diokletian gemartert und von seinen Schülern mit Schreibgriffeln zerfleischt wurde (f 401), und auf den spanischen Mönch San Casiano (t 1504), der 1499 in seiner Schrift „Vocabulario de Santaelle" über die Bitternis (acidia) und den Überdruß (tedio) im Alter nachdachte.
Der Rechtsstaat
Einleitung Wort und Begriff des Rechtsstaates sind lebhaft umstritten. Es ist dem Denken und Empfinden aller gesunden Völker zu allen Zeiten selbstverständlich gewesen, daß Recht und Gerechtigkeit geübt werden und der Staat im Dienste des Rechts stehen muß. Das Problem des Rechtsstaats dagegen ist neu und entsteht erst durch die Unterscheidung von Gerechtigkeit und positiver staatlicher Legalität. Als sprachliche Bildung ist das Wort Rechtsstaat deshalb neu; in der deutschen Sprache wird es erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Gewöhnlich wird Robert Mohl als deijenige bezeichnet, der es durch sein Buch „Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats", Tübingen 1832, in die Rechtswissenschaft eingefühlt habe1. Doch finden sich auch schon vor diesem Jahre Beispiele für den Gebrauch des Wortes; so spricht der romantische Staatsphilosoph Adam Müller (in seinen „Deutschen Staats-Anzeigen" Band 2, S. 33, Leipzig 1817), von den Schwierigkeiten, mit denen ein „Geld-, Kriegs- und BeamtenStaat" zu kämpfen habe, „um sich wieder zu der Würde eines Rechts-Staates zu erheben".[l] In früheren Jahrhunderten, die den Gegensatz von Gerechtigkeit und positivem, staatlich gesetzten Recht nicht mit der Schärfe empfanden, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte, ist die Wortbildung Rechtsstaat nicht bekannt. Die ausländische Literatur des 19. Jahrhunderts hat das Wort hauptsächlich unter dem Einfluß von Georg Jellinek seit dem Ende des 19. Jahrhunderts übernommen als „Etat de droit" oder „Etat juridique" im Französischen (z. B. Hauriou und Duguit), als Stato di diritto, Stato giuridico und Stato legale im Italienischen (z. B. Orlando, Santi Romano, Del Vecchio), als Estado de derecho im Spanischen (z. B. del Valle Pascual).[2] Auch in der russischen Rechtsgeschichte hat sich der Gegensatz von liberalen „Westlern" und völkischen Slavophilen in dem Gegensatz von Rechtsstaat (Prawowoje Gosudarstwo) und Gerechtigkeitsstaat (Gosudarstwo Prawdy) geäußert2. Die Klagen über die Vieldeutigkeit und den Mißbrauch des Wortes Rechtsstaat sind allgemein. Eindringlich und erschütternd hat der große Volksdichter J. Gotthelf die Idee des Rechtsstaats als die „Quelle alles Übels" und die „legale Sanktion 1 Vgl. auch R. Thoma, Jahrbuch d. öffl. Rechts IV (1910), S. 197, Anm. 2. [Rechtsstaatsidee u. Verwaltungsrechtswissenschaft]. 2 Den Hinweis auf diese wichtige Parallele in der russischen Rechtsentwicklung verdanke ich Herrn Professor Leontowitsch, Berlin.
Der Rechtsstaat
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der Selbstsucht" gekennzeichnet^] (DJZ v. 15. Oktober 1934 Sp. 1259). Ein großer Staatsmann wie Otto von Bismarck bezeichnet das Wort Rechtsstaat als einen „von Robert von Mohl erfundenen Kunstausdruck, von dem noch keine einen politischen Kopf befriedigende Definition und keine Übersetzung in andere Sprachen gegeben sei" 3 . Die Schwierigkeit einer eindeutigen Übersetzung ergibt sich schon daraus, daß z. B. im Italienischen Stato di diritto, Stato giuridico und governo legale unterschieden werden, um den Begriff deutlich zu machen. Für den französischen Sprachgebrauch gilt Ähnliches, wie Haurious Ausführungen in seinen Principes de Droit public (2. Aufl. 1916, S. 12 ff.) zeigen. Im Grunde hat Bismarck also auch hier Recht behalten. In der fachwissenschaftlichen Literatur aller Länder haben die Klagen über die Verwirrung dieses Wortes nicht aufgehört 4. Trotzdem hat sich das Wort sowohl in der juristischen Fachsprache wie auch im populären Sprachgebrauch durchgesetzt.
Rechtsstaat als polemisch-politischer Begriff Seine Beliebtheit und Verbreitung verdankt das Wort vor allem dem Umstand, daß es sich als eine wirksame Bezeichnung für verschiedenartige und ganz entgegengesetzte Auffassungen von Recht und Staat gebrauchen läßt. Selbstverständlich gibt es keinen Staat, der sich offen als Unrechtsstaat bekennt, und insofern will jeder Staat ein Rechtsstaat sein. In dem Bereich der politischen Auseinandersetzung erhält das Wort daher seine Klarheit und Bestimmtheit erst durch einen bestimmten Gegenbegriff. Für gewöhnlich ist das, namentlich in der liberalen Polemik, der Machtstaat. In dieser Bedeutung hat es der Liberalismus ein Jahrhundert lang verstanden, jeden nicht-liberalen Staat, mag es sich um eine absolute Monarchie, einen faschistischen, nationalsozialistischen oder bolschewistischen Staat handeln, unterschiedslos als Nicht-Rechtsstaat und damit als Unrechtsstaat hinzustellen5. Als andere Gegenbegriffe gegen den Rechtsstaat kommen vor: Beamtenstaat, Geldstaat, Wohlfahrtsstaat (vgl. das obige Zitat von Adam Müller) und vor allem Polizeistaat Der Gegensatz von Rechtsstaat und Polizeistaat ist seit dem Lehrbuch des Verwaltungsrechts von Otto Mayer (1. Aufl. 1890) als ein Dogma in 3
Brief an den Kultusminister von Goßler vom 25. November 1881, mitgeteilt von Joh. Heckel, Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Kanonistische Abt., XIX 1930, S. 268 ff.; vgl. Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, Hamburg 1934, S. 21. 4 Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 4. Aufl. 1868, S. 69 ff.; H. Schutze, Deutsches Staatsrecht, 1867, S. 145; Krieken, Über die sog. organische Staatstheorie, 1873; vgl. auch O. Mayers Bemerkung zu Gierkes Begriff des Rechtstaates: „Viel mehr als eine bloße Umschreibung des Namens wird uns auf diese Weise nicht gegeben." Raggi spricht vom Rechtsstaat als einem „concetto perturbatore e superfluoper la scienza". 5 Das Buch von Darmstaedter, Rechtsstaat oder Machtstaat?, Berlin 1932, ist ein besonderes Beispiel für die Überheblichkeit, mit der ein volksfremder Liberalismus seine Begriffe von Staat und Recht als „Rechtsstaat" und alle andern Vorstellungen als „Machtstaat" hinstellt.
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Zweiter Teil: Politik und Idee
die deutsche Verwaltungsrechtslehre übergegangen und wird in allen liberalen Lehrbüchern des Verwaltungsrechts (Reiner, W. Jellinek, Hatschek) kritiklos wiederholt, obwohl bereits R. Mohl selbst (Encyklopädie, 1872, S. 88) gegen das Gerede über den Gegensatz von Rechts- und Polizeistaat protestiert hat und R. Gneist (Die nationale Rechtsidee von den Ständen, Berlin 1894, S. 95) gerade den deutschen Staat des 18. Jahrhunderts, also den angeblichen „Polizeistaat", als vorbildlichen Rechtsstaat hinstellte, worüber sich dann wieder Otto Mayer (Verwaltungsrecht I., S. 45, Anm. 15) lustig macht.[4] Ein ausgezeichneter Kenner des deutschen Verwaltungsrechts, W. Hofacker, hat die pseudowissenschaftliche Manier dieser vermeintlich unpolitischen Antithesen von Polizeistaat des 18. Jahrhunderts und liberalem Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts vortrefflich widerlegt 6. Eine andere Antithese machte aus dem Rechtsstaat den Gegensatz zum Feudalstaat (so der Rechtshistoriker Felix Dahn und der Staatsrechtslehrer Bluntschli); diese polemische Verwendung des Wortes ist aus dem Kampf des politischen Bürgertums gegen die „feudale" preußische Militär- und Beamtenmonarchie, also aus der Lage des 19. Jahrhunderts, zu verstehen. Im übrigen wird gerade der feudale mittelalterliche Staat von den Historikern als ein reiner Rechtsstaat im Sinne eines bloßen „Rechtsbewahrstaats" (Fritz Kern) hingestellt. [5] Er ist auch an dieser Eigenschaft zugrunde gegangen. Durch Beiworte wie „christlicher", „bürgerlicher", „nationaler" oder „sozialer" Rechtsstaat läßt sich sowohl ein Gegentypus gegen den bisher herrschenden liberalen Rechtsstaat wie auch eine bloße Modifikation dieses liberalen Rechtsstaats bezeichnen. So konnte unter dem Weimarer System der Weimarer Staat von der Zentrumspartei als christlicher, von der deutschen Volkspartei als nationaler, von Sozialdemokraten als sozialer Rechtsstaat gedeutet werden. Für die letzte Möglichkeit enthält die Schrift des sozialdemokratischen Professors Hermann Heller: Rechtsstaat oder Diktatur?, Tübingen 1930, ein aufschlußreiches Beispiel7.
Rechtsstaat als rechtsphilosophischer Begriff Unter einem Rechtsstaat kann ein in seiner gesamten Anlage als Ganzes gekennzeichneter Staat verstanden werden. Dann ist ein bestimmter, materieller, sachin6
Die Staatsverwaltung und die Strafrechtsreform, 1919, S. 47. Vom „nationalen Rechtsstaat" im Sinne eines Gegentypus sprechen: O. Koellreutter, Der nationale Rechtsstaat, Tübingen 1932 (S. 26: Die für den Rechtsstaatsbegriff als solchen gefährliche Einseitigkeit Freislers liegt darin, daß er in der Gewaltenteilung nur ein die Volkskraft atomisierendes Moment erblickt... In der Unterscheidung und derrichtigenAusbalanzierung von Verwaltung und Rechtspflege liegt das Wesen des modernen Rechtsstaates.), ders., Vom Sinn und Wesen der nationalen Revolution, 1933, ders., Grundriß der Allgemeinen Staatslehre, 1933, S. 108 f., H. Gerber, Staatsrechtliche Grundlinien des Neuen Reiches, 1933, B. Dennewitz, Das nationale Deutschland ein Rechtsstaat, 1933 (staatsbetonter Rechtsstaat); kritisch zu dem Wort „nationaler Rechtsstaat": Eberhard Menzel, Grundlagen des neuen Staatsgedankens, Eisenach 1934, S. 70 f. 7
Der Rechtsstaat
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haltlicher Begriff von Recht und Staat und eine bestimmte Vorstellung über das Verhältnis beider (Über- oder Unterordnung) vorausgesetzt. Der Begriff führt dann unmittelbar auf die weltanschaulichen Auffassungen von Recht und Staat zurück. In dem eingangs genannten Werk von R. von Mohl aus dem Jahre 1832 wird das sehr betont, wo es (S. 5) heißt: „Der religiösen Lebensrichtung des Volkes entspricht nämlich die Theokratie; der bloß sinnlichen die Despotie; der einfachen Familienansicht der patriarchalische Staat; dem sinnlich vernünftigen Lebenszwecke aber der sogenannte Rechtsstaat. . . Die Freiheit des Bürgers ist bei dieser Lebensansicht oberster Grundsatz." Im 19. Jahrhundert hat sich die liberalindividualistische Staats- und Gesellschaftsauffassung des Wortes Rechtsstaat bemächtigt. Kants Rechtsphilosophie, die den Staat zu einer „Rechtsanstalt" und einem „Verein von Bürgern unter Rechtsgesetzen" machte, wurde die philosophische Rechtfertigung eines wesentlich individualistischen Rechtsstaats. Trendelenburg (Naturrecht, 1860, S. 291) sagt darüber treffend, der Rechtsstaat werde, besonders nach Kant, zu einer „öffentlichen Anstalt zur Sicherung der persönlichen Freiheit und der Sicherheit des einzelnen, seines Eigentums und seiner Verträge". Alle diese Theorien „ziehen den Staat unter dem Namen des Rechts nach dem Einzelwesen, damit er lediglich ihrer Freiheit, ihrer Ausbildung, ihrer Glückseligkeit diene"; ein solcher Staat könne aber auch niemals Krieg führen, weil der Krieg beides, Leben und Eigentum, gefährden und mißachten muß. Bei Lorenz von Stein ist allerdings der Versuch gemacht, diesen Individualismus durch Hegels Auffassung vom Staat als einem Reich der Sittlichkeit (also einem ethischen Staat, nicht einem bloßen Rechtsstaat) zu überwinden; Stein hebt hervor, daß der Rechtsstaat ein spezifisch deutscher Begriff ist,[6] durch den gegenüber dem Regierungsrecht des Staates durch Gesetze, Selbstverwaltung und Recht des einzelnen eine Grenze gesetzt sei, um die Selbständigkeit dieser drei Faktoren auch gegen die Regierungsgewalt zu wahren. Ihm schließt Gneist sich im Grundsatz an (Der Rechtsstaat, 1872, S. 183, 184, Anm. 2). Aber die rein individualistische liberale Auffassung hat sich, wenigstens nach 1871, durchgesetzt und von ihrer weltanschaulichen und rechtsphilosophischen Grundlage aus nicht nur das Verfassungsrecht, sondern auch das Verwaltungs-, Straf-, Prozeß- und bürgerliche Recht, kurz alle Gebiete des Rechts, im Sinne ihrer Weltanschauung und ihres Rechtsstaatsbegriffes gestaltet.
Rechtsstaat als juristisch-technischer Begriff des 19. Jahrhunderts Unter einem Rechtsstaat kann aber auch eine bestimmte juristisch-technische Durchfuhrungsweise der verschiedenen weltanschaulichen, politischen oder philosophischen Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit verstanden werden. Der Begriff wird dadurch formalisiert und neutralisiert (sog. formale Rechtsstaatsidee). In der Form und Weise eines solchen Rechtsstaats können sich dann widersprechende Welt-, Rechts- und Staatsauffassungen verwirklichen. Der Rechtsstaat als
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Zweiter Teil: Politik und Idee
ein nicht inhaltlich, sondern nur formell, nicht substantiell, sondern nur funktionell bestimmter Modus bietet sich den verschiedenartigsten Gerechtigkeitsvorstellungen als ein Instrument ihrer Durchführung und Verwirklichung an. Dieser Auffassung hat Fr. Jul. Stahl (Jolson) in Deutschland zum Siege verholfen. Rechtsstaat, so lautet sein berühmter, vielzitierter Satz, „bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen".[7] Inhalt und Verwirklichungsweise, materieller und formeller Begriff, werden auseinandergerissen, Recht und Staat im Endergebnis auswechselbare Formen für die durch Weltanschauung, Sittlichkeit und Gerechtigkeit bezeichneten Inhalte. Diese Auffassung vom Rechtsstaat führt folgerichtig zu einem ebenfalls neutralen, auswechselbaren Gesetzespositivismus und verwandelt den Rechtsstaat in sein Gegenteil, nämlich in einen indifferenten Gesetzesstaat 8. Liberale, nationalsozialistische und kommunistische Gemeinwesen können dann Rechtsstaaten sein, sofern sie nur ihre Gerechtigkeitsideale „in einer bestimmten Weise" verwirklichen. Diese bestimmte Weise aber soll darin bestehen, daß alle Ausübung der staatlichen Macht unverbrüchlich in einer berechenbaren Weise vor sich geht. Das kann nur durch vorher aufgestellte, inhaltlich genau bestimmte Normen und Regeln bewirkt werden, welche das Maß und den Umfang aller staatlichen „Eingriffe" genau festlegen und an welche der Staat und alle Behörden gebunden sind. Hier kommt es also nicht mehr auf Gerechtigkeit, sondern nur noch auf Sicherheit und Berechenbarkeit an. Der Rechtsstaat wird ein Gegenbegriff zum Gerechtigkeitsstaat. Er dient nicht der Gerechtigkeit im materiellen Sinne, sondern einer positivistischen Voraussehbarkeit. Als Nutznießer dieser Rechtssicherheit wird im 19. Jahrhundert selbstverständlich das „freie" Individuum gedacht, für welches das Gesetz zum positiven Gesetz und das positive Gesetz zu einem Fahrplan wird, an Hand dessen jeder Interessent sich des staatlichen Justiz- und Verwaltungsapparates bedienen und mit dessen „Normen" er das gesamte öffentliche Leben berechnen und kontrollieren kann. Otto Mayer hat mit der ihm eigenen witzigen Formulierungsgabe den Rechtsstaat als einen Staat bezeichnet, in welchem jeder „weiß, wessen er sich vom Staat zu versehen hat". Dadurch wird trotz scheinbarer Neutralität und Instrumentalität, diese Art Rechtsstaat doch wieder zu einem für den liberalen Individualismus typischen Mittel. Darüber dürfen auch die konservativ-christlichen Wendungen Stahls nicht hinwegtäuschen. Wenn bedeutende italienische Rechtsgelehrte sagen, Stahl habe durch „Zweideutigkeit" und „theoretische Heuchelei" den Begriff des Rechtsstaats abgebogen und sogar gefälscht (l'equivoco e Vipocrisia teoricadi Stahl, che falsiflca il concetto), [%] so trifft das zu. Die „Fälschung" liegt darin, daß der Begriff des Rechts in „Rechtsstaat" in einen positivistischen Normativismus umgedeutet wird, dessen folgerichtiger Schluß nur dem rücksichts- und bedenkenlosen Individualismus der liberalen Epoche zugute kommt. 8 Heinrich Lange, Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, Tübingen 1934 (Recht und Staat, Heft 114). Über den Gegensatz von Führerstaat und Gesetzesstaat G. A. Walz, Deutsche Juristenzeitung 1933, S. 1338 f. und die Rede von Carl Schmitt auf der Kölner Gautagung des NS.-Juristenbundes, Jur. Wochenschr. 1934, S. 713 f.
Der Rechtsstaat
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Bestimmte Einrichtungen oder Normierungen als Kennzeichen des Rechtsstaats In grundsätzlichen oder in rechtspolitischen Erörterungen stößt, je nach der wechselnden Lage, das Interesse der miteinander kämpfenden Richtungen an bestimmten Streitpunkten aufeinander. Diese werden dadurch zu den umstrittenen Positionen der Auseinandersetzungen und von der einen oder der andern Streitseite zu Kennzeichen des Rechtsstaats erhoben. So sind z. B. im Laufe der liberalen Revolution des 19. Jahrhunderts die Unabhängigkeit der Richter, die Sicherungen der Beamtenstellung, die Vereidigung auf die Verfassung statt auf die Person des Königs, die Einführung eines Staatsgerichtshofs für Ministeranklagen, das Erfordernis der ministeriellen Gegenzeichnung, Pressefreiheit, Geschworenengerichte, freie Advokatur und zahllose andere Einzelheiten zu Kriterien des Rechtsstaats gemacht worden. Es gibt überhaupt keine Einrichtung und keine politische Forderung, für die nicht in solcher Weise der Name des Rechtsstaats beschworen werden könnte. Auch ist es ganz selbstverständlich, daß sich dieser Vorgang, solange an dem Wort Rechtsstaat festgehalten wird, in immer neuer Weise wiederholen wird, wie sich das im Jahre 1934 in den Auseinandersetzungen zwischen nationalsozialistischem Staat und evangelischer Kirche gezeigt hat. Bestimmte Forderungen werden dann mit Recht, Gerechtigkeit und Rechtsstaat gleichgesetzt und ein Kampf um eine vielleicht gute und gerechte Sache wird dadurch mit der hundertjährigen Problematik des Begriffes „ Rechtsstaat" belastet. [9] In den Lehrbüchern des Verfassungs-, Verwaltungs- und Strafrechts sowie anderer Rechtsdisziplinen hat sich allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts ein gewisser fester Katalog der besonderen Einrichtungen und Normen entwickelt, die in typischer Weise als „rechtsstaatlich" gelten, in der juristischen Tagesliteratur als sichere Kennzeichen des Rechtsstaats behandelt und jede für sich mit dem Rechtsstaat gleichgestellt werden. Die landläufigen Nummern dieses Katalogs sollen gleich behandelt werden; vorher bedarf es aber noch eines kurzen Hinweises darauf, daß jedes Staatswesen ein zusammenhängendes Ganzes ist. Aus wissenschaftlichen und praktischen Gründen kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß insbesondere der Begriff des Gesetzes in seinen sämtlichen Ausstrahlungen Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Gleichheit vor dem Gesetz, Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltungen - immer nur im staats- und verfassungsrechtlichen Gesamtzusammenhang aufgefaßt werden kann und daß „Gesetz" etwas theoretisch und praktisch völlig Verschiedenartiges bedeutet, je nachdem es sich um das Gesetz einer konstitutionellen Monarchie, eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaats oder eines modernen Führerstaats handelt. Völlig isolierte und aus jedem staatlichen Gesamtzusammenhang losgelöste Einrichtungen und Normen gibt es nicht, oder sie wären bloße Ausnahmen und als solche je nach der grundsätzlichen Auffassung entweder bedeutungslos, oder aber Ausgangspunkte für weitere Forderungen, um das grundsätzliche und „totale" Rechtsstaatsproblem von der entgegengesetzten Seite grundsätzlich aufzurollen (siehe oben § 3). Man ist sich z. B. 8 Staat, Großraum, Nomos
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Zweiter Teil: Politik und Idee
darüber einig, daß die Unabhängigkeit der Richter eine rechtsstaatliche Forderung ist. Unabhängigkeit der Richter bedeutet aber in einem Führerstaat etwas anderes als in einer konstitutionellen Monarchie. Infolgedessen würde die Anerkennung der richterlichen Unabhängigkeit für ein von der konstitutionellen Monarchie her bestimmtes rechtsstaatliches Denken notwendigerweise dahin führen müssen, daß damit auch die ganze konstitutionelle Verfassungsgrundlage der richterlichen Unabhängigkeit, Gewaltenteilung und konstitutioneller Gesetzesbegriff anerkannt sind, während die Einfügung der richterlichen Unabhängigkeit in den Rahmen eines völlig anders gearteten Staats, z. B. eines Führerstaats, nicht als „wahre" richterliche Unabhängigkeit anerkannt werden könnte. Bei der folgenden Aufzählung einzelner „rechtsstaatlicher" Einrichtungen und Regelungen darf demnach die Unabtrennbarkeit aller dieser Einrichtungen und Regelungen niemals außer acht gelassen werden. 1. Im verfassungsrechtlichen Sinne sind als rechtsstaatliche Forderungen überliefert und besonders hervorgetreten: Erfordernis einer geschriebenen Verfassung (Verfassungsurkunde), bestimmter Inhalt dieser Verfassungsurkunde, nämlich Aufbau des Staats nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung, d. h. organisatorische Trennung von Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtspflege; ein bestimmter Katalog von Freiheitsrechten (persönliche Freiheit, Privateigentum, Freiheit der Meinungsäußerung, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Religionsfreiheit usw.); Unterwerfung der Regierung unter die gesetzgebende Körperschaft (Verantwortlichkeit der Regierung durch Gegenzeichnungspflicht der Minister, Ministeranklage vor dem Staatsgerichtshof, Rücktrittspflicht bei Mißtrauensbeschlüssen der Volksvertretung). In dieser Vorstellungswelt wird der Rechtsstaat mit dem liberalen Verfassungsstaat gleichgestellt; dazu gehört untrennbar ein bestimmter Gesetzesbegriff: Gesetz im formellen Sinn ist nur eine unter Mitwirkung der freigewählten Volksvertretung in einem bestimmten Verfahren nach öffentlicher Diskussion zustandegekommener Beschluß, weil nach liberaler Ansicht nur die Mitwirkung der Volksvertretung und nur dieses Verfahren die für ein Gesetz notwendige Vernunft und Gerechtigkeit gewährleisten können, die dem Gesetz seinen „Vorrang" vor allen andern staatlichen Willensäußerungen gibt. Nur dadurch wird das Gesetz zu einer für alle geltenden Rechtsnorm und kann es die Grundlage der „Gesetzmäßigkeit des ganzen staatlichen Lebens" sein.[10] 2. Die verwaltungsrechtlichen sind hauptsächlich folgende:
Ausprägungen dieser Verfassungsvorstellungen
a) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. „Das Wesen des Rechtsstaats liegt in der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" (vgl. den interessanten Beleg aus der Praxis bei Zinser, Verw.A. Band 39, S. 45). Die Beweislast trifft immer die verfügende Behörde; es gilt der „Grundsatz des geringsten Eingriffs". „Im Rechtsstaat ist der Grundsatz wirksam, daß Eingriffe der Polizei in die Rechte der Untertanen auf das engste zu beschränken sind" (Zinser a.a.O, S. 48).
Der Rechtsstaat
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b) Ausbildung und Erweiterung der subjektiven öffentlichen Rechte als eines Anspruchs des einzelnen, der „vom Staat etwas verlangen kann", und dadurch „Macht über den Staat" erhält (vgl. die Nachweise bei R. Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 609 und Friedrichs, Subjektives Recht, Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. 5, S. 823 ff. sowie die treffende Kritik bei Th. Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, Hamburg 1934). Die systematische Ausbildung dieses liberalen Anspruchsdenkens im Staats- und Verwaltungsrecht beginnt mit dem zuerst 1892 erschienenen „System der subjektiven öffentlichen Rechte" von Georg Jellinek. c) Ausbildung und Erweiterung eines justizförmigen Rechtsschutzes zur Sicherung dieser subjektiven öffentlichen Rechte. Hierbei ist es relativ nebensächlich, ob die ordentlichen Gerichte der bürgerlichen Rechtspflege diesen Rechtsschutz übernehmen sollen (sogenannter „Justizstaat" nach Otto Bähr, Der Rechtsstaat, Kassel, 1864) oder ob besondere Verwaltungsgerichte den Rechtsschutz wahrnehmen. Solange diese Verwaltungsgerichte nur „Nachbildungen" der ordentlichen bürgerlichen Gerichtsbarkeit sind (so W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 299) sind sie nur Sondergerichte und ist die Unterscheidung von Rechtsstaat und Justizstaat in der Sache ohne Bedeutung. Die Tendenz zur Justizförmigkeit des gesamten öffentlichen Lebens und insbesondere der Verwaltung wird von Otto Mayer (Verwaltungsrecht I, S. 58, 62) als das entscheidende Kennzeichen des Rechtsstaats hingestellt. Eine Anwendung dieser Tendenz ist die Forderung einer allgemeinen Generalklausel für die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte in allen Streitigkeiten des öffentlichen Rechts nach Art der allgemeinen Zuständigkeit der bürgerlichen Gerichte für bürgerliche Streitigkeiten (W. Jellinek, a. a. O., S. 314: „Den Forderungen des Rechtsstaats wird allein die Generalklausel gerecht"). d) Ausbildung und Erweiterung des Grundsatzes allgemeiner Schadenshaftung des Staates oder der Körperschaften des öffentlichen Rechts sowohl für Amtspflichtsverletzungen ihrer Beamten (Art. 131 Weim. Verf.), wie auch bei rechtmäßigen Einzeleingriffen (Auflösung des Enteignungsbegriffes in Art. 153 Abs. 2 Weim. Verf. durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts)9 unter Zulässigkeit des Rechtsweges vor den ordentlichen Gerichten. Was insbesondere die Schadenshaftung für Amtspflichtsverletzungen angeht, so betont R. Thoma (bei Nipperdey, Grundrechte I, S. 28): dieses Prinzip (des Art. 131) ist „eine der tragenden Säulen des Gebäudes des deutschen Rechtsstaats". 3. Im Straf recht führt der Gedanke des liberalen Rechtsstaats dazu, die strafgesetzliche Normierung hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit individueller Freiheit und der Berechenbarkeit staatlicher Eingriffe zu sehen. Das Strafgesetzbuch wird dadurch nach der berühmten Formulierung von F. v. Liszt zur ,Magna Charta des Verbrechers".[ll] An die Stelle des gerechten Grundsatzes „nullum crimen sine poena" [12] tritt der positivistisch-gesetzesstaatliche Satz 9 Vgl. Hofacker, DJZ 1934, Sp. 889: „Die Konstruktion von subjektiven Rechten und Entschädigungsansprüchen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung". 8*
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Zweiter Teil: Politik und Idee
„nulla poena sine lege", der erst in dem individualistischen, aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts entstanden ist 1 0 . Das Verbrechen wird als eine mit Strafe bedrohte Handlung definiert, d. h. die Strafe erscheint nicht mehr als Folge des Verbrechens, sondern das Verbrechen wird zu einem Denkprodukt der Strafandrohung. Die Durchführung der gerechten Strafe wird im Strafvollstreckungsanspruche des Staates aufgelöst und dadurch relativiert 11 . Dadurch, daß die Liszt'sche soziologische Strafrechtschule ein „Täter-Strafrecht" verlangte und den Gedanken der Spezialprävention betonte, erschien diese sozialliberale Richtung der Denkund Redeweise der Zeit als „polizeistaatlich", während die konservative oder nationalliberale Richtung des „Tat-Strafrechts" sich als rechtsstaatlich bezeichnen konnte (vgl. Mezger, Lehrbuch des Strafrechts, S. 33, 37, 39). Diesen Gegensatz von soziologischer und klassischer Strafrechtsschule erkennen wir heute als eine intern liberale Gruppierung; er ist - wie die Arbeiten von Dahm, Henkel und Schaffstein klargestellt haben[13] - für die heutige nationalsozialistische Problemstellung überholt.
Schluß Durch die Erklärungen hervorragender nationalsozialistischer Rechtswahrer ist klargestellt, daß selbstverständlich auch im nationalsozialistischen Staat Rechtssicherheit herrscht, daß die Gesetze dieses Staates unverbrüchlich gelten, die Richter unabhängig sind und ein ausgedehnter Rechtsschutz besteht. Man kann daher, wie es häufig von autoritärer Seite - Reichsminister Dr. Frick, Reichsjuristenführer Staatsminister Dr. Frank, Staatssekretär der Reichskanzlei Dr. Lammers, Staatssekretär im Reichs- und Preußischen Justizministerium Dr. Freisler, Ministerialdirektor Dr. Nicolai - geschehen ist, den nationalsozialistischen Staat als einen Rechtsstaat bezeichnen. Dabei besteht allerdings kein Zweifel darüber, daß diese rechtsstaatlichen Einrichtungen jetzt auf dem Boden des nationalsozialistischen Staats stehen und sowohl die Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, wie die von Staat und Gemeinschaft nach Inhalt und Form nationalsozialistisch sind. Insbesondere hat die große Rede des Reichsjuristenführers Dr. Frank über Nationalsozialismus und Geistesleben vom 4. Oktober 1934 (Die Nationale Wirtschaft, 5. Nov. 1934, S. 373) dargelegt, daß sowohl die Unabhängigkeit des Richters wie auch die Freiheit der Wissenschaft auf diesem Boden des nationalsozialistischen Staates gesichert ist. Es ist zu beachten, was auch schon für den faschistischen Staat geltend gemacht worden ist 1 2 , daß ein starker Staat mit unbestrittener politischer Führung eher und wirksamer imstande ist, die Sicherheit und Zuverlässigkeit des öjfentli10
Vgl. H. Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, Hamburg 1934. Darüber den überaus inhaltsreichen Aufsatz von Schaff stein, DJZ 1934, S. 1174. 12 So für den Faschismus: C. Costamagna, Elementi di Diritto pubblico fascista, Turin 1934, S. 33 ff. 11
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chen Lebens wie der privaten Sphäre zu gewährleisten als ein liberalistisch unterwühltes Gemeinwesen. Für den liberalen Rechtsstaat gilt jedenfalls das, was H. Nicolai, einer der Vorkämpfer für den nationalsozialistischen Rechtsstaat, gesagt hat (RVB1. 1934, S. 862), daß nämlich dieser Staat i m Grunde kein Recht und kein Staat und infolgedessen kein Rechtsstaat war. „Der hohle Gesetzesstaat, der i m letzten einen rechtlosen Staat mit einem staatenlosen Gesetz bedeutet, ist durch den nationalsozialistischen Rechtsstaat überwunden 1 3 ." Soll also das problematische Wort Rechtsstaat auch für den nationalsozialistischen Staat übernommen und durch ihn überwunden werden, so scheint mir die beste und am wenigsten mißverständliche Umprägung in der Formel zu liegen, die Dr. Hans Frank i n seinem Vortrag vom 20. März 1934 (Deutsches Recht 1934, S. 120) geschaffen hat:[14] der deutsche Rechtsstaat Adolf Hitlers.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. auch die wohl ersten Verwendungen des Wortes bei A. Müller, Die Elemente der Staatskunst, zuerst 1808 / 09, Ausg. 1936 (Hendel): „Sollen nun Finanzlehre und Rechtslehre, wie ich gezeigt habe, beide einander durchdringen; soll die Rechtslehre, ob sie wirklich mit einer Idee oder nur mit Begriffen verkehre, dadurch zeigen, daß sie alle Finanzverhältnisse des Lebens als rechtliche und demnach die Totalität des Rechtsstaates aufzufassen imstande sei: so darf die alte Grenze zwischen Personen und Sachen, welche die Sprengel der Finanz- und Gerichtsbehörde absonderte, als tote Mauer nicht weiterbestehen. Der Justizminister - so nenne ich den Repräsentanten des Rechtsstaates - muß die Persönlichkeit, d. h. die Rechtsfähigkeit aller Sachen im Staate ebensowohl als die Rechtsfähigkeit der wirklichen, lebendigen Personen zu erkennen wissen, wenn er nicht für den bloßen Wortführer eines Begriffs, einer Zunft gehalten sein will." (S. 103.) - , Jeder wahre organische Rechtsstaat muß, wie ich gezeigt habe, und wie auch die Natur durch die beschriebene Einrichtung der Erdoberfläche deutlich zu verstehen gibt, beschränkt sein im Räume, damit er ein wirkliches, lebendiges und abgeschlossenes Individuum sein könne." (S. 123.) Hier meint Müller, daß die „Rechtsidee" sich nur in geographisch reich gegliederten, doch überschaubaren Staaten durchsetzt, die sich durch eine gewisse „Gegenläufigkeit aller politischen Verhältnisse" auszeichnen und durch einen „wahren Streit der Parteien". Er weist auf Frankreich, England, Italien, Spanien u. Deutschland hin: „ . . . jeder (Staat) für sich ein politisches Ganze, eine abgesonderte Versammlung aller der streitenden Extreme oder Freiheiten . . . , welche dazugehören, daß die Rechtsidee auf eine nationale Weise ausgebildet werden könne" (S. 120); „organisch" sind danach Staaten, die sowohl klimatisch und territorial als auch in ihrer wirtschaftlichen Struktur nicht „einseitig" sind, vgl. ebd., S. 119 ff. - „Rechtsstaat" ist hier ein Staat mit durch historische Kämpfe ausdifferenziertem Recht, der dadurch seine innere Pluralität organisiert; Müllers „Rechtsstaat" hat also mit dem der v. Mohl, Bähr, Welcker, usw. kaum mehr als den Namen gemein; vgl. auch R. Asanger, Beiträge zur Lehre v. Rechtsstaat im 19. Jahrhundert, Diss. Münster 1938, bes. S. 1 ff. [2] Vgl. v. Hauriou, Precis de Droit constitutionnel, 1923, S. 257 - 66, wo H. „L'etat de droit par la soumission au juge; l'ancien regime coutumier et judiciaire", vom „L'etat de 13 H. Lange, a. a. O., S. 40.
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droit par soumission ä la loi ecrite; le nouveau regime legal et administratif unterscheidet; Duguit umreißt den „etat de droit" in: Traite de Droit constitutionnel, 2. Aufl., HI, 1923, auf den S. 547 - 56. Die italienische Entwicklung untersucht: C. Caristia, Ventura e avventura di una formola: „Rechtsstaat", in: Rivista di Diritto pubblico e della pubblica amministrazione in Italia, 1934, S. 388 - 408, der, im Ggs. zu den o. a. französischen Autoren, die Schwierigkeiten mit der Übersetzung des Begriffs erörtert und auf die deutschen Anreger hinweist. G. del Vecchio, Lezioni di filosofia del diritto, 2. Aufl., Cittä di Castello 1932, behandelt den „Stato di diritto" S. 294 - 299; bei Romano, Corso di Diritto costituzionale, 2. Aufl., Padua 1928, sucht man selbst das Wort vergeblich. V. E. Orlando, Primo trattato completo di diritto amministrativa, Mailand 1900,1, Introduz., c. III, bevorzugt „Stato giuridico". Von Luis del Valle Pascual lag uns nur s. später erschienenes Werk „Manual de Derecho Politico", Saragossa 1941, vor, wo der „Estado de Derecho" nur kurz, u. a. auf den S. 252 f., 257 f., 277 f. betrachtet wird. Die nur beiläufige Erwähnung des Begriffs scheint typisch für das romanische Schrifttum der 20er - 40er Jahre zu sein; man findet das Wort nicht einmal in Handbüchern wie: Joseph-Barthelemy / P. Duez, Traite de Droit constitutionnel, Ausg. Paris 1933; G. Burdeau, Manuel de Droit constitutionnel, 5. Aufl., Paris 1947; Laferriere, Manuel de Droit constitutionnel, 2. Aufl., Paris 1947; M. Duverger, Manuel de Droit constitutionnel et de Science politique, 5. Aufl., Paris 1948. - Bei anti-liberalen Autoren wird hingegen öfters auf den „Rechtsstaat" Bezug genommen, wohl aus Gründen der Abgrenzung, vgl. u. a. C. Ruiz del Castillo y Catalan de Ocön, Manual de Derecho Politico, Madrid 1939, S. 131 - 134, der den „Estado de Derecho" mit dem überwundenen bzw. in der Krise befindlichen liberalen Staat identifiziert. Für Costamagna, Elementi di Diritto pubblico fascista, Turin 1934, § 30, S. 36 ff., ist der „Stato Fascista" ein „Stato di diritto nel senso obbiettivo della parola .. . per il rafforzamento che esso viene a dare all'ordine giuridico" (S. 37); vgl. jedoch ders., Dottrina del fascismo, 2. Aufl. 1940, S. 153, wo die Bezeichnung „Stato di diritto nel senso in cui si volle indicare lo Stato moderno" für den faschistischen Staat abgelehnt wird. [3] Gemeint ist der Artikel von Dr. Oswald, Jeremias Gotthelf über Staat, Recht und Gesellschaft - Ein Wort über seine Bedeutung für die deutsche Gegenwart, DJZ, 1934, Sp. 1258 63. O. weist bes. auf Gotthelfs Roman „Der Schuldenbauer" hin, der ursprünglich „Hans Joggli und der Rechtsstaat" heißen sollte. [4] Scharf getrennt werden Justiz- (bzw. Patrimonial-), Polizei- und Rechtsstaat bei O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924, I, S. 25 ff.; Jellinek, Verwaltungsrecht, Ndr. 1966, S. 80 ff.; Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, Ndr. d. 8. Aufl. v. 1928, 1963, S. 28 ff. Zur Kritik: E. Kaufmann, Verwaltung, Verwaltungsrecht (zuerst 1914), in: ders., Gesammelte Schriften, I, 1960, S. 75 - 142, bes. S. 138 ff.; H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), 1966, S. 27 ff.; auch G. Rohatyn, Rechtsstaat und Polizeistaat als historische typen, ZöR, 3 /1931, S. 429 - 35. Vgl. a. vorl. Bd., Das „Allgemeine Deutsche Staatsrecht" . . . , S. 182, FN [18]. [5] Vgl. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, HZ, 120. Bd., 1919, S. 1 - 79. Grundsätzl. z. mittelalterlichen „Rechtsbewahrstaat": H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 66 f. [6] Vgl. Stein, Verwaltungslehre, I, 2. Aufl. 1869, Ndr. 1975, S. 296. [7] Stahl, Die Philosophie des Rechts, II, Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, 3. Aufl. 1856, S. 138; ähnlich schon in: Der christliche Staat u. sein Verhältnis zu Deismus und Judentum, 1847, S. 61 f.
Der Rechtsstaat
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[8] Vermutlich stammt diese Wendung aus dem Aufsatz v. L. Raggi, La parabola di un concetto, Annuario dell'Universitä di Camerino, 1907 / 08, der uns leider nicht vorlag (vgl. Caristia, wie FN [2], S. 404); Schmitt bezieht s. wohl auf diesen Aufsatz in s. FN 4. [9] Bezieht sich auf den juristischen Kampf gg. die staatskirchlichen Ambitionen des Reichsbischofs Ludwig Müller (1883 - 1945) und des mit Schmitt befreundeten deutschchristlichen Bischofs Heinrich Oberheid (1895 - 1977), Chef d. Stabes beim Reichsbischof; zu letzterem u. seiner Beziehung zu Schmitt vgl.: H. Faulenbach, Ein Weg durch die Kirche Heinrich Josef Oberheid, 1992. Besondere Bedeutung kam hier, auf Seiten d. Bekennenden Kirche, dem Leipziger Reichsgerichtsrat Wilhelm Flor (1882 - 1938) zu; vgl. von ihm: Der Kirchenstreit vom Rechtsstandpunkt aus beurteilt, Junge Kirche 1 / 1933, S. 226 - 239; Sind die von der „Nationalsynode" am 9. August 1934 beschlossenen Gesetze rechtsgültig?, ebd., 2 / 1934, S. 687 - 91. Dazu auch: P. Haller, Der Rechtskampf der Bekennenden Kirche und ihre Juristen, Diss, jur., Freiburg i. Br. 1963; K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, II, Ausg. 1988, bes. S. 42 ff. [10] Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 138 - 157, „Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff 4. [11] Die „Magna Charta des Verbrechers" ist lt. v. Liszt der Satz nullum crimen, nulla poena sine lege, vgl. ders., Aufsätze und Vorträge, II, 1905, S. 60, 80. [12] Die Ersetzung von nulla poena sine lege durch nullum crimen sine poena lief auf eine Abschaffung des Analogieverbotes hinaus. Reichsjustizminister Franz Gürtner sah im Grundsatz nullum crimen sine poena den Anspruch der „Verwirklichung wahrer Gerechtigkeit", die sich durch den Begriff des „materiellen Unrechts" und in der Befugnis des Richters „Recht zu schöpfen", konkretisierte: Gürtner, Der Gedanke der Gerechtigkeit in der deutschen Strafrechtserneuerung, in: ders. / R. Freisler (Hrsg.), Das neue Strafrecht, 1936, S. 22, 23, 25. K. Schäfer, Nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht. Allgem. Teil, 1934, S. 128 ff., erklärte: „Ist die Tat nicht ausdrücklich für strafbar erklärt, aber eine ähnliche Tat in einem Gesetz mit Strafe bedroht, so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn der ihm zugrundeliegende Rechtsgedanke und die gesunde Volksanschauung Bestrafung fordern." (S. 132.) Vgl. auch die Gesetzesnovelle v. 28. 6. 1935, RGBl. I, 839. Zum Kampf gegen das Analogieverbot im III. Reich: Kl. Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, bes. S. 192 ff.; W. Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbotes 1935, in: M. Stolleis/D. Simon (Hrsg.), NS- Recht in historischer Perspektive, 1981, S. 71 ff.; M. Bock, Naturrecht u. Positivismus im Strafrecht zur Zeit des Nationalsozialismus, Zeitschrift f. Neuere Rechts-Geschichte, Nr. 3 - 4 / 1984, S. 132 ff., bes. S. 141 ff.; H. Rüping, Nullum crimen sine poena - Zur Diskussion um das Analogieverbot im Nationalsozialismus, FS D. Oehler, 1985, S. 27 ff.; H. L. Schreiber, Die Strafgesetzgebung im „Dritten Reich", in: R. Dreier / W. Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich", 1989, S. 151 ff., bes. S. 161 ff. - Vgl. auch Schmitts Kritik am Prinzip „nulla poena sine lege" in: Nationalsozialistisches Rechtsdenken, Deutsches Recht, 25. 5. 1934, Sp. 228; Der Weg des deutschen Juristen, DJZ, 1. 6. 1934, Sp. 692 f., sowie die Göttinger Diss. v. H. Hennings, Die Entstehungsgeschichte d. Satzes nulla poena sine lege, 1933. [13] Gemeint sind vor allem: Dahm / Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht ?, 1933, u. Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, 1934. Ausführt. Literaturhinweise bei Marxen, wie FN [12].
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[14] Vgl. auch W. Glungler, Theorie der Politik, 1939, S. 301, zu einem Vortrag Franks am 26. 1. 1938.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien zuerst in: Dr. Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, München 1935, Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf., S. 3 - 10; ein unveränderter Nachdruck in der 2. Aufl., ebd., 1936, gleiche Paginierung. Einige Motive wurden vorweggenommen in: Nationalsozialismus und Rechtsstaat, Juristische Wochenschrift, H. 12 / 13, 1934, S. 713 - 17. - Wegen der starken Überschneidungen mit dem hier folgend abgedruckten Aufsatz „Was bedeutet der Streit um den »Rechtsstaat'?" sind die jeweiligen Fußnoten Schmitts und des Herausgebers evtl. auch für den jeweils anderen Aufsatz von Interesse. - Zu Schmitts Rechtsstaatskritik bzw. Kritik am Begriff „Rechtsstaat" vgl. u. a.: D. Schindler, Über den Rechtsstaat, Festgabe f. Max Huber, 1934, S. 182 ff.; G. Dietze, Rechtsstaat und Staatsrecht, FS für G. Leibholz, II, 1966, S. 17 ff.; ders., Staatsrecht und Rechtsstaat, FS f. C. J. Friedrich, 1971, S. 526 ff.; V. Hartmann, Repräsentation i. der polit. Theorie u. Staatslehre in Deutschland, 1979, S. 224 ff.; C. H. Ule, Carl Schmitt, der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichtsbarkeit, Verwaltungs- Archiv, 1 / 1990, S. 1 ff.; E. Sarcevic, Missbrauch eines Begriffs - Rechtsstaat und Nationalsozialismus, Rechtstheorie, H. 1 / 2, 1993, S. 205 ff., O. Beaud, La critique de l'Etat de droit chez Carl Schmitt, Cahiers du Centre de philosophie politique et juridique de Caen, 1994, S. 111 ff. - „Der Streit um den Rechtsstaat", der z. T. schon vor 1933 einsetzte (und sich dabei auch auf Schmitts „Verfassungslehre" (1928) und „Legalität und Legitimität" (1932) bezog) wird übersichtlich dargestellt bei K. Groß-Fengels, Der Streit um den Rechtsstaat, Diss. Marburg 1936 (bei Herrfahrdt u. Zimmerl), sowie bei U. Schellenberg, Die Rechtsstaatskritik. Vom liberalen zum nationalen und nationalsozialistischen Rechtsstaat, in: E. W. Böckenförde (Hrsg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, 1985, S. 71 - 88. - Unter Schmitts Leitung wurde das Thema weiter erörtert, vgl.: Disputation über den Rechtsstaat, von Günther Krauß u. Otto von Schweinichen, mit einer Einleitung und einem Nachwort von Carl Schmitt, 1935. Dazu: J. v. Kempski, Disputation über den Rechtsstaat, Berliner Börsen- Zeitung, 29. 9. 1935; G. (= A. E. Günther), Eine Disputation über den Rechtsstaat, Deutsches Volkstum, Dez. 1935, S. 915 - 18. Diese Disputation, die anläßlich der Promotion Krauß', am 1. 2. 1935 in der Berliner Universität stattfand, schildert Krauß in: Erinnerungen an Carl Schmitt: Nachträge, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 48 ff. Maurizio Fioravanti, Kelsen, Schmitt e la tradizione deH'Ottocento, in: Crisi istituzionale e teoria dello Stato in Germania dopo la Prima guerra mondiale, Bologna 1987, S. 51 - 103, hier S. 85 - 95, geht näher auf die Beziehung Otto Mayer-Schmitt ein. Allgemein zum Thema: F. Schneider, Die polit. Komponente d. Rechtsstaatsidee in Deutschland, PVS, 3/1968, S. 330 ff.; E. W Bökkenförde, Entstehung u. Wandel d. Rechtsstaatsbegriffes, FS A. Arndt, 1969, S. 53 - 76 (mehrere Nachdrucke); U. Scheuner, Der Rechtsstaat u. die soziale Verantwortung d. Staates. Das wissenschaftliche Lebenswerk von R. v. Mohl, Der Staat, 1/1979, S. 1 - 30. Materialien in: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, u. M. Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, 2 Bde., 1978. - Eine frühe, „klassische" und doch gerne vergessene Kritik: L. Gumplowicz, Rechtsstaat und Socialismus, 1881, Ndr. 1964.
Was bedeutet der Streit um den ..Rechtsstaat44?
I.
Die rechts- und staatswissenschaftliche Streitfrage des „Rechtsstaates" hat sich im faschistischen italienischen Staat wie im nationalsozialistischen Deutschen Reich bald nach der legalen Machtergreifung erhoben. In wissenschaftlicher Gerechtigkeit müssen wir anerkennen, daß die italienische Staats- und Rechtsphilosophie des Jahres 1922 auf diesen Streit besser vorbereitet war als die an deutschen Universitäten herrschende Philosophie des Jahres 1932. So ist z. B. das Buch Lo Stato di diritto des damaligen Bologneser Privatdozenten Sergio Panunzio, dessen erster Teil 1921 erschien, ohne Zweifel tiefer und bedeutender als das 1932 erschienene Buch Rechtsstaat oder Machtstaat? des damaligen Heidelberger Privatdozenten Friedrich Darmstaedter.[\] So erklärt es sich wohl auch, daß sich ein großer Teil der 1933 und 1934 veröffentlichten deutschen Broschüren und Aufsätze über den Rechtsstaat[2] in leeren Tautologien bewegt und aus dem Banne eines elementaren Denkfehlers nicht heraustritt: Man stellt den Rechtsstaat als den Gegenbegriff zu einem Nicht-Rechtsstaat im Sinne von Unrechtsstaat (Machtstaat, Gewaltstaat, Willkürstaat, Polizeistaat) hin und hat es dann natürlich leicht, den Rechtsstaat über einen solchen Widersacher triumphieren zu lassen. Aber so billig geht es in dem großen geistigen Kampf der Völker und Zeiten nicht zu. Hier ringt nicht der Sinn mit dem Unsinn, sondern Sinn mit Gegen-Sinn und Leben mit dem Leben. Nur ein solcher Kampf ist wirklich der „Vater und König von Allem", auch von einer fruchtbaren rechts- und staatswissenschaftlichen Erkenntnis. In der Auffassung des Rechtsstaates als des bloßen Gegensatzes gegen den Unrechts- oder Machtstaat bekundet sich nichts anderes als der Sieg der bürgerlichindividualistischen Gesellschaft über Recht und Staat. Abgesehen von dieser symptomatischen Bedeutung hat diese Auffassung heute keinerlei wissenschaftlichen Belang oder Rang. In Wirklichkeit ist gerade Rechtsstaat der Gegenbegriff gegen einen unmittelbar gerechten Staat; es ist ein Staat, der „feste Normierungen" zwischen sich und die unmittelbare Gerechtigkeit des Einzelfalles einfügt. Die allein sinnvollen Gegenbegriffe gegen einen Rechtsstaat sind Staatsarten, die eine andere als diese bloß mittelbare „normative" Beziehung zur Gerechtigkeit haben, also der Religions- oder der Weltanschauungs- oder der Sittlichkeitsstaat. Es ist nicht zufällig-geschichtlich, sondern geistig notwendig gewesen, daß Wort und Begriff des Rechtsstaates erst um das Jahr 1830 und gerade in Deutschland zuerst durchdrangen. In folgenden, 1832 veröffentlichten Sätzen hat Robert Mohl, der als der Vater eines rechts- und staatswissenschaftlichen Begriffes vom Rechtsstaat
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Zweiter Teil: Politik und Idee
g i l t 1 , eine weltanschauliche Grundlage zu geben versucht, ohne mehr zu erreichen als die Forderung einer Unterwerfung des Staates unter die individualistisch-bürgerliche Gesellschaft: „Der religiösen Lebensrichtung des Volkes entspricht nämlich die Theokratie; der bloß sinnlichen die Despotie; der einfachen Familienansicht der patriarchalische Staat; dem sinnlich-vernünftigen Lebenszwecke aber der sogenannte Rechtsstaat. . . . Ein Rechtsstaat kann also keinen andern Zweck haben als den: das Zusammenleben des Volkes so zu ordnen, daß jedes Mitglied desselben in der möglichst freien und allseitigen Übung und Benützung seiner sämtlichen Kräfte unterstützt und gefördert werde. . . . Die Freiheit des Bürgers ist bei dieser Lebensansicht oberster Grundsatz . . . , die Unterstützung des Staates kann daher nur negativer Art sein und bloß in der Wegräumung solcher Hindernisse bestehen, deren Beseitigung den Kräften des einzelnen zu schwer wäre.... Der ganze Staat ist nur dazu bestimmt, diese Freiheit (des Bürgers) zu schützen und möglich zu machen"2. In der geschichtlichen Lage des deutschen 19. Jahrhunderts ist „Rechtsstaat" der Gegenbegriff gegen zwei Arten von Staat: gegen den christlichen, also einen von der Religion her bestimmten, und gegen den als ein Reich der Sittlichkeit aufgefaßten Staat, nämlich den preußischen Beamtenstaat der Staatsphilosophie Hegels. [3] I m Kampf gegen diese beiden Gegner tritt der Rechtsstaat ins Leben. Das ist seine Herkunft, sein principium, wenn ich so sagen darf: seine Rasse. Große Denker und Gelehrte wie Lorenz von Stein 3 und Rudolf Gneist 4 versuchten unter 1
Lorenz von Stein und Gneist erkennen Mohls Vaterschaft an; Bismarck spricht von dem „von Robert von Mohl erfundenen Kunstausdruck Rechtsstaat"; vgl. Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, 1934, S. 21. Doch hat Mohl das Wort Rechtsstaat vorgefunden; eine genauere Wortgeschichte fehlt noch, vgl. die Bemerkung von Richard Thoma, Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft, Jahrb. des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 4, 1910, S. 197. Ein interessantes früheres Beispiel findet sich in Adam Müllers Elementen der Staatskunst, 1809 (wahrer organischer Rechtsstaat), und in seinen Deutschen Staats-Anzeigen, Bd. 2, 1817, S. 33, wo von den Verwickelungen des „bloßen Geld-, Kriegs- und Beamten-Staates " die Rede ist, der mit Schwierigkeiten zu kämpfen habe, „um sich wieder zu der Würde eines Rechts-Staates zu erheben." 2 R. Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 1832, Bd. I, S. 5, 7, 14 usw. 3 L. von Stein, Die Verwaltungslehre I (1. Aufl. 1865, 2. Aufl. 1869), S. 297. 4 R. Gneist, Der Rechtsstaat, 1. Aufl., 1872, S. 1 f., 180 f.; vgl. besonders S. 181 f.: „Der Rechtsstaat ist kein Juristenstaat, welcher durch Arbeitsteilung sein öffentliches Recht einem einzelnen Stande auftragen könnte, während die übrige Gesellschaft ihrem Erwerb und Genuß nachgibt und in Presse und Vereinsrecht ihre Interessen organisiert. . . . Wenn die extremen Elemente der Gesellschaft dem Staat sein Recht und seine Existenz bestreiten, wenn die wesentlichsten Rechte der Staatsgewalt kurz und absprechend als Polizei, Bureaukratie und Willkür bezeichnet werden, so, denke ich, wäre es der Beruf des Juristen, daran zu erinnern, daß der deutsche Staat von Hause aus ein Rechtsstaat ist, daß nicht die ,Bureaukratie', sondern das Mißverständnis unserer Gesellschaft den Rechtsstaat zerstört hat, daß unser Staat die Ordnung des Rechts und der Finanzen nicht erst von der Volksvertretung erlernt hat, sondern daß wir die vorhandenen tüchtigsten Staatseinrichtungen der europäischen Welt unter geordneter Mitwirkung der Gesellschaft nur fortsetzen und vervollkommnen wollen." Nicht einmal diese ergreifende Mahnung eines der besten Sachkenner und eines parteipolitisch un-
Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat"?
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ungeheuren Anstrengungen, mit Hilfe eines „deutschen", auf die Harmonie von Staat und Gesellschaft hinzielenden Rechtsstaatsbegriffes die Unterordnung des Staates unter die bürgerliche Gesellschaft aufzuhalten. Aber auch sie vermochten das Gesetz einer solchen Herkunft nicht zu überwinden. Alles Folgende ist nur die folgerichtige Entwicklung dieses Anfangs: die Abtrennung des Rechts von Religion und Sittlichkeit; der „rein juristische" Begriff des Rechts, den RudolfSohm bezeichnenderweise den „Rechtsbegriff des Rechts" nennt5; die Verwandlung von Recht und Gerechtigkeit in ein positivistisches „ziviles Zwangsnormengeflecht" 6, dessen ganze Gerechtigkeit in der Rechtssicherheit, d. h. in seiner Berechenbarkeit besteht; das Ideal der Justizförmigkeit aller Staatsakte und der Grundsatz der „Gesetzmäßigkeit" der Verwaltung, ja, der normativistischen Bindung des gesamten staatlichen Lebens, die Recht und Gesetz zum bloßen Fahrplan der bürokratischen Maschine macht. Ein christlicher Staat konnte seine Totalität und Ganzheit aus dem religiösen Glauben eines damals noch durchaus christlichen Volkes gewinnen; der Staat als Reich der Sittlichkeit und der objektiven Vernunft war ebenfalls noch einer Totalität fähig und jedenfalls der bürgerlichen Gesellschaft übergeordnet; der Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts dagegen ist nichts als der zum Mittel und Werkzeug der individualistischen bürgerlichen Gesellschaft gewordene neutrale Staat.
II. Der Sieg dieses bürgerlichen Rechtsstaats über den christlichen wie über den Hegeischen Sittlichkeitsstaat war entschieden, als es einem als „konservativ" anerkannten Autor, Friedrich Julius Stahl (Jolson), gelungen war, Hegels Staatsphilosophie bei den deutschen Konservativen als „undeutsch" zu diskreditieren und den christlichen Staat durch die Kombination „christlicher Rechtsstaat" in das Begriffsnetz des Rechtsstaates hineinzuführen. Die im Streit zwischen christlichem Staat und Rechtsstaat verblüffend einfache Begriffskombinatorik eines „christlichen Rechtsstaates" arbeitete mit dem Kunstgriff eines inhaltlosen, „rein formalen" Begriffes. „Der Rechtsstaat bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt eines verdächtigen Mannes hat es verhindern können, daß das rohe politische Schlagwort Rechtsstaat gegen Polizeistaat als »juristische" und streng „wissenschaftliche" Unterscheidung eine ganze Generation hindurch deutschen Studenten der Rechtswissenschaft und heranwachsenden deutschen Beamten in zahlreichen Lehrbüchern und von den meisten deutschen Kathedern herab als „herrschende" Lehre eingehämmert worden ist. 5 Darüber die Berliner Dissertation von Günther Krauss, Das rechtswissenschaftliche Denken Rudolf Sohms, 1935. [Als Buch u. d. T. „Der Rechtsbegriff des Rechts", Hamburg 1936.-G. MJ. 6 Diese treffende Bezeichnung übernehme ich von Paul Ritterbusch, vgl. seinen Aufsatz „Recht, Rechtsetzung und Theorie der Rechtsetzung im mittelalterlichen England" in der Festgabe für Richard Schmidt, 1932, S. 212 f., bes. S. 233 f.
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Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen."[4] Dieser berühmte Satz stellt Ziel und Inhalt gegen Art und Charakter und benutzt die bekannte und beliebte Trennung von Zweck und Mittel in einer besonderen Weise. Er mußte zu dem Ergebnis führen, daß nicht, wie sonst, der Zweck das Mittel, sondern umgekehrt, das Mittel, eben der zum bloßen Mittel gewordene Rechtsstaat, den Zweck heiligen konnte. So ist es begreiflich, daß alle Liberalen mit dem Rechtsstaatsbegriff und dem eben zitierten Satz eines derartigen „Konservativen" einverstanden waren. Otto Bahr stellt ihn an die Spitze seines Buches „Der Rechtsstaat" (1864). Rudolf Gneist sagte: „Was Stahl als Rechtsstaat bezeichnet, konnte jeder seiner Gegner wörtlich unterschreiben" 7, und noch Richard Thoma bewundert „die Tiefe und Klarheit, mit der dieser seltsam inkonsequente Denker" die immer im Fluß befindlichen Staatszwecke von den rechtlich gesicherten Formen ihrer Verwirklichung unterschieden habe8. Die Verwandlung des Rechtsstaatsbegriffes in einen formalen Begriff bedeutete eine Neutralisierung und Technisierung, vor allem aber eine doppelte Indienststellung. Erstens stellte der Begriff des Rechtsstaates den Staat von Anfang an in den Dienst des Rechts - aus dieser Unterwerfung des Staates unter das Recht zog der Liberalismus die ideologische Rechtfertigung seines Kampfes gegen den Staat, und das Pathos dieser Unterwerfung des Staates unter das Recht ist von Stahl (Jolson) über Lasker und Jacoby 9 bis zu dem eingangs erwähnten Darmstaedter und ähnlichen „Idealisten des Rechtsstaates" immer dasselbe. Zweitens aber war durch den Kunstgriff Stahls nunmehr auch das Recht formalisiert und zum Instrument der Verwirklichung irgendeines beliebigen Inhaltes oder Zweckes geworden. Jetzt kann es einen christlichen und einen antichristlichen, einen liberalen, einen nationalen und einen antinationalen Rechtsstaat geben und ist Rechtsstaat nicht mehr der Gegenbegriff gegen einen Religions-, Weltanschauungs- oder Sittlichkeitsstaat, sondern ein bloßes ,»Mittel" und eine Methode. Wenn H. Oncken den NationalLiberalen Lasker als den „Idealisten des Rechtsstaates" dem ebenfalls NationalLiberalen Bennigsen als dem „Idealisten des Nationalstaates" gegenüberstellt 10, so zeigt sich darin ein Rest von inhaltlicher Weltanschauung, der es verhindert, einen „nationalen Rechtsstaat" zu kombinieren. In dem Kampf, den Constantin Frantz gegen den Nationalliberalismus führt 11 , ist Rechtsstaat noch ein typisch liberaler 7 R, Gneist, Der Rechtsstaat, 1872, S. 16. s R. Thoma, a. a. O., S. 198. 9 In der Rede Jacobys im Preußischen Abgeordnetenhaus vom 23. August 1866 (Sten. Ber. Bd. I, S. 73) tritt der Gegensatz des Rechtsstaates gegen den nationalen Staat besonders scharf zutage. Es ist dies die Rede zur Indemnitätsfrage, in der Jacoby, unter Berufung darauf, daß er für den „Rechts- und Verfassungsstaat" kämpfe, Bismarcks Entlassung verlangt und von den Siegen des preußischen Heeres sagt, sie gereichten „dem preußischen Volk weder zur Ehre, noch dem gesamten deutschen Vaterland zum Heile". 10 Vgl. R. Thoma, a. a. O., S. 200, Anm. 1. 11 Constantin Frantz, Die Religion des Nationalliberalismus, 1872, S. 258: „Wie in nichts verschwindet [gegen die christliche Vorstellung eines Bundes, den Gott mit dem Menschen geschlossen hat] der gepriesene Rechtsstaat, der für sich allein schon das Band sein will,
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Gegenbegriff gegen einen von der „christlichen Weltansicht" getragenen Staat. Aber das wird von der „Neutralität" und Positivität des formalen Rechtsstaatsbegriffs wenigstens scheinbar bald überholt. Dieser „formale" Begriff hat eben keinen Inhalt mehr, läßt aber jeden Inhalt zu. Allerdings kann er das nur unter der Bedingung, daß dieser Inhalt sich dem Normativismus der formalen Rechtsstaatlichkeit unterwirft. Das bedeutet aber, näher betrachtet, nicht weniger, als daß dieser Inhalt auf seine Inhaltlichkeit verzichtet und sich als Inhalt (als Religion, Weltanschauung, Sittlichkeit) aufgibt, um »juristisch" zu werden. Im Staats- und Verwaltungsrecht des Rechtsstaats hat sich längst herausgestellt, daß die Rechtslehre des normalen Rechtsstaates immer nur Normensetzung und Normenanwendung („Normenkonkretisierung") unterscheiden kann. Ihr Normativismus ist infolgedessen eines sachlichen Begriffs nicht mehr fähig. Was die bis heute herrschende Verfassungs- und Verwaltungsrechtslehre als Gesetzgebung oder Verwaltung oder Justiz „im materiellen Sinne" ausgibt12, läuft immer nur auf die Unterscheidung von Normenaufstellung und Normenanwendung hinaus und ist in keinem Sinne des Wortes etwas „Materielles" oder sachinhaltlich Bestimmtes. Normen aufstellen oder Normen anwenden ist doch keine Materie oder ein Sachgebiet. Von der Norm her oder dem Gesetz her ist überhaupt kein materieller Begriff zu gewinnen. Deshalb verwandelt sich alles, was dieser gesetzesstaatliche Normativismus in die Hände nimmt, in Gesetzgebung oder Gesetzesanwendung, und dadurch entfällt nicht nur die Möglichkeit einer Unterscheidung von Justiz und Verwaltung, sondern jede Möglichkeit irgendeiner vernünftigen und sachlichen Unterscheidung überhaupt. Schließlich läßt sich alles, was die Menschen tun, auf irgendwie geltende „Normen" beziehen; auch der Schuster soll und will die Schuhe richtig, also normgemäß besohlen, und der Fußballspieler soll und will richtig Fußball spielen: ihr Tun kann nicht weniger als Normenkonkretisierung gedeutet werden wie Prozeßentscheidungen oder Verwaltungsakte. Für die Rechtsnormen bleibt dann nur noch das Kennzeichen des Zwanges und der Erzwingbarkeit übrig, wodurch alle Rechtsnormen, wie Georges Renaud richtig gesehen hat 13 , zu leges mere poenales werden.Außerdem müssen gerade die dem öffentlichen Leben wesentlichen Rechtsvorgänge bei dieser Art normativistischer Rechtsstaatlichkeit entweder beiseite gelassen oder in ihrem rechtlichen Wesen verfälscht werden. Die Vermutung der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns; die unmittelbare Vollstreckbarkeit von Verwaltungsakten; die Möglichkeit unmittelbaren Zwanges auch ohne Verwaltungsakt; das, was Otto Mayer das „große Recht des Staates auf Gehorsam" nannte14, was Maurice Hauriou in einer großartiwelches den Menschen mit dem Menschen verbindet, und dazu des Bandes, welches den Menschen mit Gott verbindet, garnicht zu bedürfen vorgibt." 12 Vgl. E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932, S. 150 f., und das dort angegebene Schrifttum. 13 Melanges Maurice Hauriou, 1929, S. 623, 629.
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gen Auseinandersetzung mit dem Anarchismus der gesetzesstaatlichen Theorie Duguits als Recht auf den „vorgängigen Gehorsam", die „obeissance prealable" darlegte 15, und was ich als die „politischen Prämien auf den legalen Machtbesitz" anschaulich zu machen versucht habe16 - alles das geht in der leeren Allgemeinheit und der allgemeinen Leere dieses Normen- und Gesetzesdenkens unter. Jede kraftvolle Durchsetzung der konkreten Ordnung, selbst die Verhinderung eines Verbrechens durch die Polizei kann dann nur noch als „Notrecht" des Staates begriffen werden, wobei dann womöglich noch die Frage aufgeworfen wird, ob der Staat sich nicht auch dieses Notrechts begeben könne 17 . Damit war die Beseitigung jeder sachinhaltlichen Gerechtigkeit vollendet und der Rechtsstaat zum reinen Gesetzesstaat geworden. Während der frühe liberale Rechtsstaat noch eine Weltanschauung hatte und eines politischen Kampfes fähig war, ist die einzige Weltanschauung, der ein solcher positivistischer Gesetzesstaat spezifisch zugehört, ein hilfloser Relativismus, Agnostizismus oder Nihilismus, dem das Recht ein „ethisches Minimum" ist, der an die „normative Kraft des Faktischen" glaubt und dem die unmittelbare Gerechtigkeit des Satzes nullum crimen sine poena[5] einen panischen Schrecken einjagt.
III. Diesen Gesetzesstaat eroberte die nationalsozialistische Revolution. Daß sie nicht in ihn einmünden oder gar in ihm untergehen kann, versteht sich von selbst. Sie gab dem Deutschen eine mit den Begriffen jenes blut- und bodenfremden Gesetzesstaates unvereinbare, neue Grundordnung. Aber infolge der legalitären Durchführung dieser Revolution haben sich neue, den Rechtsstaat betreffende Fragen erhoben. Bei ihrer Beantwortung sind verschiedene Blickpunkte und Haltungen möglich, wobei unwichtige Anpassungsversuche (z. B. der hilflose, den ganzen rechtsstaatlichen Dualismus von Recht und Staat enthüllende Vorschlag, heute 14 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1924, Bd. I, S. 104 f. 15 Maurice Hauriou, Principes de droit public, 2. Aufl., 1916, S. 799 f., bes. S. 804: „II s'agit de savoir de quel cot6 est le prealable, si c'est du cöt6 de l'autorit6 qui commande ou si c'est du cöt6 du sujet qui ob6it; si le sujet, avant d'ob6ir, peut soulever la question prealable de la 16galit6 de 1'ordre ou bien si, au contraire, il est oblig£ d'ob6ir avant de soulever la question de 16galit6. Faire passer le prealable du cöt6 de la 16galit6, c'est d^truire Tobeissance prealable aux ordres du gouvernement, c'est d£truire le droit propre du gouvernement: ,L'autorit£ souveraine, disait Jurieu, est celle qui n'a pas besoin d'avoir raison pour justifier ses actes.' Entendenz, celle qui n'a pas besoin de justifier qu'elle a raison pour exiger l'obdissance prealable. Exiger cette justification, c'est d£truire la force propre de la souverainete et c'est de l'anarchie." Das Gleiche gilt, meiner Ansicht nach, für die Entstellung dieses normalen Rechts auf unmittelbaren und „vorgängigen" Gehorsam zu einem bloßen „Notrecht". Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 35 f. 17 W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1931, S. 342.
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von einem „staatsbetonten Rechtsstaat" zu sprechen) außer Betracht bleiben können. 1. Bei der Formalisierung und Technisierung eines nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit funktionierenden Verwaltungsapparates scheint es für den jeweiligen Inhaber der staatlichen Macht das einfachste zu sein, sich dieses ausgezeichneten, der „normativen Kraft des Faktischen" sich sofort unterwerfenden und jedem Ziel und Inhalt zur Verfügung stehenden Mittels zu bedienen. Was könnte bequemer sein, als einen Gesetzesstaat zu beherrschen und sich an den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Justiz und Verwaltung zu halten, wenn man selber die Gesetzgebungsmaschine handhabt und sogar, wie heute die Reichsregierung, durch bloßen Regierungsbeschluß Gesetze im formellen Sinne des Wortes, sogar verfassungsändernde Gesetze machen kann? Wer den Fahrplan macht, hat doch ein Interesse daran, daß es fahrplanmäßig zugeht. Und wenn es einen christlichen, einen nationalliberalen, einen faschistischen und einen kommunistischen Rechtsstaat gibt - das wäre ja nur eine Frage der Durchführung und nicht des Inhaltes oder der Ziele - , so stände nichts im Wege, auch einen nationalsozialistischen Rechtsstaat einzurichten. Dieser Gedankengang könnte den Sinn haben, den nationalsozialistischen Inhalt den erprobten Methoden der Relativierung und Entleerung duch einen formalen Rechtsstaatsbegriff zu unterwerfen und in das Begriffsnetz der normativistischen Rechtsstaatlichkeit hineinzuleiten. Vom Standpunkt des nationalsozialistischen Denkens aus genügt es, sich dieser Möglichkeit bewußt zu werden, um sie zu erledigen. Es könnte aber auch sein, daß mit dieser Antwort nur der praktisch-technische Vorschlag einer Gleichschaltung gemeint ist. Da das komplizierte Behördensystem des heutigen Staates nun einmal seit einem ganzen liberalen Jahrhundert nach liberal-rechtsstaatlichen Grundsätzen und Maßstäben eingerichtet ist und sich die in den Gedankengängen und Begriffen dieser Art Rechtsstaatlichkeit geschulten Beamten an sie als an einen Funktionsmodus gewöhnt haben, kann es durchaus zweckmäßig sein, die Methoden und Formen des Rechtsstaates solange beizubehalten und sich ihrer - ohne ihnen geistig und innerlich anheimzufallen - solange zu bedienen, als nicht neue Methoden, neue Begriffe und eine neue Beamtenschulung eingeführt und erprobt sind. Dann wäre das ganze Problem des Rechtsstaates heute nur noch eine praktisch-technische Übergangsfrage. 2. Die Übernahme und Weiterführung des Wortes Rechtsstaat könnte aber auch einen tieferen Sinn haben. Es ist ein typischer Vorgang der Geistesgeschichte, daß wirksame Formeln und eindrucksvolle Worte im geistigen Kampf erobert und umgedeutet werden. Alle großen Religionen haben ihren Gegnern mancherlei Götter und Heilige entrissen und ihrem eigenen Pantheon eingefügt; mancher geistige Sieg bekundet sich in der Übernahme von Riten, Hymnen und Formeln des Gegners, und im politischen Kampf, der immer total und daher im höchsten Grade auch geistig ist, hat man oft sogar den Liedern und Märschen des Gegners andere Texte unterlegt, um sie sich anzueignen18. Es war ein Zeichen seiner geistigen De-
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fensivhaltung und sogar Wehrlosigkeit, daß der deutsche Soldatenstaat des 19. Jahrhunderts die juristische Bestimmung aller wesentlichen Begriffe, wie Recht, Verfassung, Gesetz, Freiheit und Gleichheit, besonders aber den Begriff des Rechtsstaates seinem liberalen Gegner überlassen hat. [6] Dagegen hat die nationalsozialistische Bewegung schon manches starke und gute Wort seinem unrechtsmäßigen Besitzer aus der Hand genommen, und es fragt sich, ob nicht das gleiche auch für den Rechtsstaat gelten soll. Die Frage wird mit besonderer Entschiedenheit von denjenigen nationalsozialistischen Juristen bejaht, die den Gegensatz eines bloßen Gesetzesstaates gegen einen auf Recht und Gerechtigkeit gerichteten, Recht und Sittlichkeit nicht mehr trennenden Weltanschauungsstaat erkannt haben, nämlich von Helmut Nicolai 19 und von Heinrich Lange20. Nicolai hat seine Auffassung am straffsten in dem Satze zusammengefaßt, daß der liberale Rechtsstaat in Wahrheit weder Recht noch Staat war und erst der nationalsozialistische Staat den Namen eines Rechtsstaates verdiene 21. H Lange betont mit großer Klarheit den Zusammenhang des Gesetzesstaates mit dem Rechtsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft und überwindet deren Teilung von Recht, Sitte und Sittlichkeit. Indem der bürgerliche Rechtsstaat sich als bloßer Gesetzesstaat erweist, wird das Wort „Rechtsstaat" zu einer prägnanten Bezeichnung gerade des nationalsozialistischen Staates. Dadurch wird gleichzeitig der Verwechslung vorgebeugt, als handle es sich hier um den alten, auch dem liberalen Rechtsdenken bekannten Unterschied von Recht und Gesetz, der in der Nachkriegszeit dem Weimarer Gesetzgeber, soweit dieser nicht liberal war, häufig entgegengehalten worden ist 2 2 . Der Nationalsozialismus bleibt bei seiner weltanschaulich begründeten Einheit von Recht, Sitte und Sittlichkeit, auch wenn er die Gesetzgebungsmacht in der Hand hat, während der liberale Rechtsbegriff immer nur auf die individualistisch-staatsbürgerlichen Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Eigentum zurückgreift und notwendig zur Trennung von Recht, Sitte und Sittlichkeit und infolgedessen auch mangels eines inhaltlichen Rechtsbegriffs zum Gesetzstaat führt. 18 Im Weimarer Staat war der Reichswehr durch Befehle vom 2. August 1922 und 15. Mai 1924 das Singen parteipolitisch umgedichteter Marschlieder und weiterhin das Spielen von Militärmärschen, auf deren Melodie von nichtmilitärischer Seite parteipolitische Texte gesungen wurden, verboten worden, vgl. Alfons Maier, Die verfassungsrechtliche und staatspolitische Stellung der deutschen Wehrmacht, Verw.Arch., Bd. 39 (1934), S. 291, Anm. 53. 19 In Nicolais Schrift „Die rassengesetzliche Rechtslehre", Nationalsozialistische Bibliothek, H. 39, 1932, findet sich S. 50 folgender Satz, der für die schwer lösbare Verbindung des Rechtsstaatsbegriffes mit den Forderungen und Idealen der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnend ist: „Wenn man gut schlafen wolle, müsse man preußische Konsols kaufen, sagte der alte Rothschild, und bescheinigte damit letzten Endes nichts anderes, als daß Preußen ein Rechtsstaat sei und man sich auf die Ehrenhaftigkeit dieses Staates fest verlassen könne." 20 H. Lange, Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, 1934 (Recht und Staat, Heft 114).
21 Reichsverwaltungsblatt, 1934, S. 862. 22 So z. B. die Rede des Freiherrn Marschall von Bieberstein, Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, 1927, besonders interessant S. 45, Anm. 146; S. 160, Literaturangaben zum Rechtsstaat, wobei besonders auf Welcher verwiesen wird.
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Die geistige Eroberung des Wortes und Begriffes Rechtsstaat ist ein großes Verdienst. Die liberalen Gedankengänge wirken heute längst nicht mehr offen und direkt; sie sind auf die Nach- und Weiterwirkung von weit- oder landläufig gewordenen, scheinbar neutralen Begriffen angewiesen. Aber eben deshalb ist die „Atmosphäre" vieler Gebiete des geistigen Lebens, besonders der Rechts- und Staatswissenschaften, noch ganz von den Ausstrahlungen derartiger Stimmungs- und Ideenträger beherrscht. Das Wort „Rechtsstaat" war stets eines der wirksamsten Vehikel liberaler Suggestionen. Solange die starken Residuen des bürgerlichen Zeitalters anhalten, bedeutet die Entliberalisierung und Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs einen wichtigen Sieg der neuen Bewegung und eine glücklichere Weiterführung der obenerwähnten Bemühungen von Lorenz von Stein und Rudolf Gneist; den deutschen Begriff des Rechtsstaats zu gewinnen. Durch deutliche Beiworte, wie „nationalsozialistischer Rechtsstaat" oder „nationalsozialistischer deutscher Rechtsstaat"23, am klarsten durch die Formel des Reichsjuristenführers Hans Frank, „Der deutsche Rechtsstaat Adolf Hitlers" 24 , wird der tiefe Bedeutungswandel außer Zweifel gestellt. In meinem Aufsatz „Der Rechtsstaat", der in dem von Hans Frank herausgegebenen, soeben veröffentlichten „Nationalsozialistischen Handbuch für Recht und Gesetzgebung" (München 1935) erschienen ist, bin ich dieser Umprägung ebenfalls gefolgt. 3. Außer jener auf eine technische Gleichschaltung des Staatsapparats gerichteten, vorübergehenden technischen Bedeutung der Beibehaltung des Wortes und Begriffes „Rechtsstaat", und über eine geistige Wiederherstellung und Umdeutung hinaus könnte sich dann noch eine weitere, auf die kommenden Jahrhunderte blikkende Frage nach dem endgültigen geistesgeschichtlichen Schicksal dieses umstrittenen Wortes erheben. Das ist freilich eine sehr theoretische Frage und betrifft eine schwierige, auf „exakte" Weise kaum zu stellende Prognose für eine weite Zukunft. Ich möchte mich aber, um nichts zu verschweigen, der Stellungnahme auch zu dieser Bedeutung des Streits um den „Rechtsstaat" nicht entziehen. Offensichtlich hat das Wort „Rechtsstaat" heute für viele einen absoluten, überzeitlichen Sinn und geradezu „Ewigkeitswert". Ausgezeichnete Rechtshistoriker wie Walter Merk sprechen von einem uralten germanischen „Rechtsstaat" und belegen auf solche Weise mit einem für das bürgerliche 19. Jahrhundert spezifischen Wort ganz anders geartete Zeiten und Zustände25. In dem oben (Anm. 1, S. 122) zitierten Satze Adam Müllers klingt eine solche überzeitliche Bedeutung des Wortes sehr stark mit. Lorenz von Stein und Rudolf Gneist hielten Wort und Begriff für spezifisch deutsch26. Es könnte also doch vielleicht möglich gewesen sein, daß das 23 Vgl. meine Kölner Rede vom 12. Februar 1934: Nationalsozialismus und Rechtstaat, abgedruckt in der Jur. Wochenschrift, 1934, H. 12/13, S. 713 f. 24 Deutsches Recht, 1934, S. 120. 25 W. Merk, Deutsche Rechtserneuerung, H. 5 des 31. Jahrganges der Süddeutschen Monatshefte, Februar 1934, S. 263. 26 Vgl. oben Anm. 2 und 3. Im übrigen ist hinsichtlich der Wortbedeutung zu beachten, daß Lorenz von Stein das Wort „Recht" in „Rechtsstaat" nur auf das Regierungsrecht, nicht
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bürgerliche 19. Jahrhundert ein ewiges Wort erfunden hätte, und auch der schlimmste Mißbrauch würde dieses Wort dann nicht mehr zerstören und unbrauchbar machen. Worte wie Recht und Freiheit z. B. sind tausendmal mißbraucht und geschändet worden und bleiben dennoch rein und jungfräulich, wenn nur ein tapferes Volk sich ernsthaft auf sie besinnt. Gehört das Wort „Rechtsstaat" nicht auch zu solchen unzerstörbaren Worten der deutschen Rechts- und Volksgeschichte? Ich glaube es nicht. Nicht nur, weil einer der größten und echtesten Volksdichter aller Zeiten, Jeremias Gotthelf dem „Rechtsstaat" ein furchtloses Todesurteil gesprochen hat 27 , sondern auch deshalb, weil es kein einfaches Wort, sondern sprachlich und begrifflich ein Kunstprodukt ist. Das hat ein so großer deutscher Staatsmann und Sprachschöpfer wie Bismarck mit sicherem Blick erkannt, als er von dem „Kunstausdruck des Herrn von Mohr sprach 28. Die Verbindung der beiden Worte „Recht" und „Staat" zu einem Doppelwort „Rechtsstaat" ist so zeitgebunden und bleibt so stark in dem höchst problematischen Dualismus dieser beiden Wörter verhaftet, daß hier jeder Gedanke an ein ewiges oder absolutes Wort entfällt. Reinhard Hohns Untersuchungen über den Staatsbegriff, insbesondere über die Konstruktion der juristischen Staatsperson29 haben dem Begriffsgerüst des 19. Jahrhunderts einen Stoß versetzt, von dem auch Wort und Begriff des Rechtsstaates betroffen werden. In einer dreigliedrig aufgebauten, in Staat, Bewegung, Volk lebendigen politischen Einheit dürfte das Wort „Rechtsstaat" in demselben Maße überflüssig werden, in dem der Ausbau einer von Grund auf neuen Ordnung sich verwirklicht. Man kann von einem „Rechtsstaat", aber nicht in gleicher Weise von einem „Rechtsvolk" oder einer „Rechtsbewegung" und noch weniger von einem „Rechtsreich" sprechen. Besonders in dieser letzten Unmöglichkeit tritt zutage, daß die Kombination „Rechtsstaat" sowohl an den Rechts- wie an den Staatsbegriff einer bestimmten, dualistisch in Staat und Gesellschaft denkenden Zeit gebunden bleibt. Wenn ein anderer, z. B. der Weltanschauungsstaat vollendet ist und die letzten Nachwirkungen des bisherigen Rechtsstaates aufgehört haben, entfällt sowohl das Interesse, das die Gegner der nationalsozialistischen Bewegung heute auf das Recht überhaupt bezieht (Verwaltungslehre I, S. 298) und Gneist (Rechtsstaat, S. 183, Anm. 2) ihm darin zustimmt. An die ganze spätere, abstrakt normativistische Sophistik von Rechtsstaat = Staatsrecht ist hier noch nicht gedacht. 27 Für Gotthelf ist die Idee des Rechtsstaates nur die „legale Sanktion der Selbstsucht" und die Quelle allen Unheils; vgl. den Aufsatz von Oswald, Jeremias Gotthelf über Staat, Recht und Gesellschaft, Deutsche Juristen-Zeitung vom 15. Okt. 1934, S. 1259. Für den Zusammenhang des Rechtsstaatsbegriffs mit einem volkszerstörenden, das deutsche Bauerntum vernichtenden Kapitalismus ist der Titel eines großen Romanentwurfs von Gotthelf sehr aufschlußreich: „Joggli, der Schuldenbauer oder der Rechtsstaat." Der alte Rothschild freilich wird, im Gegensatz zu diesen armen, deutschen „Schuldenbauern", wohl ein „Idealist des Rechtsstaats" gewesen sein. 28 Siehe oben Anm. 1, S. 122. 29 Reinhard Höhn, Der Wandel im staatsrechtlichen Denken, 1934; Der individualistische Staatsbegriff und die juristische Staatsperson, 1935.
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noch an diesem Worte haben, als auch der auf absehbare Zeit noch sehr bedeutende Wert einer Umdeutung des Rechtsstaates zu einer polemischen Überwindung des liberalistischen Gesetzesstaates. Dann wird man das Wort hoffentlich nur noch als Trophäe eines geistesgeschichtlichen Sieges über den bürgerlichen Individualismus und seine Entstellungen des Rechtsbegriffs betrachten. Anmerkungen des Herausgebers [1] Sergio Panunzio, 1886 - 1944, vom juridischen Sozialismus Georges Sorels geprägt, schloß sich im Ersten Weltkrieg Mussolini an und beeinflußte dessen Übergang zum Interventionismus; er wurde später dem „Centro sinistra" des Faschismus zugeordnet. In seinem Buch „Lo Stato di diritto", Bologna 1921, II Solco, konfrontierte er den Rechtsstaat mit Hegels sittlichem Staat und wies daraufhin, daß mit dem Konzept des Rechtsstaates nicht die „momenti eccezionali" erfaßt werden könnten, in denen die juridische Verteidigung des Individuums dem „sacrificio dell'individuo al tutto" weichen müsse (bes. S. 163 ff.). Gleichwohl betonte R stets die Bedeutung der sozialen Institutionen, bes. der Syndikate, die für ihn, neben dem Volk, dem Territorium und der Staatsmacht „la quarta funzione dello Stato" darstellten (vgl. s. Buch „II sentimento dello Stato", Rom 1929, Littorio, bes. S. 99 ff.), so daß Verfechter der etatistischen Linie im Faschismus, u. a. Carlo Costamagna, gerne gg. ihn polemisierten. Schmitt meint mit dem von ihm implizite erwähnten zweiten „Teil" des Buches Panunzios wohl: Stato e diritto. L'unitä dello Stato e la pluralitä degli ordinamenti giuridici, Modena 1931, Tipografia Modenese, in der P. die Beziehung zwischen der „pluralitä giuridica" d. sozialen Pluralismus und der „unitä statutale" untersucht. Zu Leben u. Werk Panunzios u. a.: J. A. Gregor, Sergio Panunzio. II sindacalismo e il fondamento razionale del fascismo, Rom 1978; L. Ornaghi, Stato e corporazione. Storia di una dottrina della crisi del sistema politico contemporaneo, Mailand 1984, bes. S. 217 ff.; F. Perfetti, Einleitung zu: S. Panunzio, II fondamento giuridico del fascismo, Rom 1987, S. 7 - 133 (mit vielen Literaturhinweisen); mit diesem Buch fast identisch die vermutlich einzige deutsche Publikation P's: Allgemeine Theorie des faschistischen Staates, 1934. Friedrich Darmstaedter (1883 - 1957) wurde 1935 die Lehrbefugnis entzogen, er emigrierte nach England (vgl. H. Göppinger, Der Nationalsozialismus und die jüdischen Juristen, 1963, S. 98, 101). In s. Buch: Rechtsstaat oder Machtstaat? Eine Frage nach der Geltung der Weimarer Verfassung, Berlin-Grunewald 1932, Verlag Dr. W. Rothschild, konstatierte er einen Widerspruch in der WRV zwischen dem Rechtsstaat und den in den Art. 48, 153 (Enteignung) und 156 (Sozialisierung) sich ausdrückendem Machtstaat; vgl. von D. auch: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates. Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, Heidelberg 1930, C. Winter, wo die „Aufnahme des Wohlfahrtsprinzips in den Rechtsstaatsbegriff' (S. 53 f.) kritisiert wird; sowie: Rechtsstaatsgedanke und Weimarer Verfassung, ZgStW, 2 / 1932, S. 385 - 402. Friedrich Grüter (d. i.: Ernst Forsthoff), Der Rechtsstaat in der Krise, Deutsches Volkstum, 1. Aprilheft 1932, S. 260 - 65, kritisierte ausführlich Darmstaedters Buch v. 1930, wies auf den Zerfall des liberalen Rechtsstaates in einen „pluralistischen Koalitionsparteienstaat" hin und betonte, daß der liberale Rechtsstaat an der Legalität seiner Gegner sterbe: „Wir befinden uns zur Zeit in diesem Prozeß der Selbstaufhebung des liberal-freiheitlichen Rechtsstaates." (S. 263.) [2] Vgl. d. Literaturhinweise bei: K. Groß-Fengels, Der Streit um den Rechtsstaat, Diss, jur. Marburg (bei Herrfahrdt u. L. Zimmerl), Druck Düsseldorf 1936, S. V I - VIII. 9*
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[3] R. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, I, 1855, S. 245, zählt Hegel zu den „Ausbildnern des Rechtsstaates"; obgleich Hegel „nicht in dem subjectiven Willen, sondern in der objectiven Vernünftigkeit den Grund des Rechtes und des Staates" finde und so „die Thätigkeit des Einzelnen" wegfalle, bleibe „das andere entscheidendere Moment, die menschliche Vernunftmäßigkeit des Staates", bestehen. [4] Stahl, Die Philosophie des Rechts, II, Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, 3. Aufl. 1856, S. 137 f.: „Der Staat soll Rechtsstaat seyn, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwickelungstrieb der neueren Zeit. Er soll die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soll die sittlichen Ideen von Staatswegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d. i. nur bis zur nothwendigsten Umzäunung. Dieß ist der Begriff des Rechtsstaates, nicht etwa daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder vollends bloß die Rechte der Einzelnen schütze, er bedeutet überhaupt nicht Ziel oder Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter dieselben zu verwirklichen. Der Rechtsstaat steht daher im Gegensatz vor Allem zum patriarchalischen, zum patrimonialen, zum bloßen Policey-Staate, in welchen die Obrigkeit darauf ausgeht, die sittlichen Ideen und die Nützlichkeitszwecke in ihrem ganzen Umfang und nach einer moralischen, daher arbiträren Würdigung eines jeden Falles zu realisiren, er steht nicht minder aber auch im Gegensatze zum Volksstaate (Rousseau, Robespierre), wie ich ihn nennen möchte, in welchem das Volk die vollständige und positive politische Tugend von Staatswegen jedem Bürger zumuthet und seiner eigenen jeweiligen sittlichen Würdigung gegenüber keine rechtliche Schranke anerkannt - Zustände, von denen der erste ein naturgemäßer Anfang, welcher nur nachher überwunden werden muß, der letzte aber eine absolute Verirrung ist". - Stahl setzt aber interessanterweise hinzu: „Der Staat soll aber nichts desto weniger sittliches Gemeinwesen seyn. Die Rechtsordnung soll für alle Lebensverhältnisse und öffentliche Bestrebungen ihre sittliche Idee zum Princip haben, z. B. für Familie, Kirche, Schule, und sie soll durch die sittliche Gemeingesinnung getragen seyn, und diese auch noch über die Gränze der Rechtsordnung hinaus das Leben in geistiger Weise beherrschen". Zur - negativ bewerteten - Bedeutung Stahls für die Rechtsstaatsproblematik in Deutschland vgl. auch: Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938, S. 106 - 110 und den Schmitt stark beeindruckenden Aufsatz von Johannes Heckel, Der Einbruch des jüdischen Geistes in das deutsche Staats- und Kirchenrecht durch Friedrich Julius Stahl, Forschungen zur Judenfrage, I, 1937, S. 110-135. [5] Vgl. Schmitt, Der Rechtsstaat, vorl. Bd., S. 119, FN [12]. [6] Vgl. Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, 1934, bes. S. 9 - 14. Zur Kritik: Fr. Härtung, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, HZ, Bd. 151, 1935, S. 528 - 544; Ndr. in ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, 1961, S. 376 ff.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 95. Bd., H. 2, 1935, S. 189 - 201. Vgl. dazu auch die Hinweise im vorhergehenden Aufsatz.
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I. In einem allgemeinen Sinne wird der Begriff „Politik" bisher üblicherweise dadurch bestimmt, daß er auf den Staat und die staatliche Macht bezogen wird. In dieser Bedeutung des Wortes ist alles politisch, was vom Staat ausgeht oder auf ihn einwirkt. Alle Betätigung des Staats als solchen (Außenpolitik, Innenpolitik, Finanz-, Kultur-, Sozial-, Kommunal- usw. -Politik) ist danach politisch; politische Parteien und Bestrebungen sind dadurch gekennzeichnet, daß sie auf die staatliche Willensbildung Einfluß hatten oder sich solchen zu verschaffen suchen; Politik als Wissenschaft ist Staatswissenschaft oder Staatslehre; Politik als Kunst ist Staatskunst oder „angewandte Staatslehre". Diese Auffassung geht davon aus, daß der Staat die einzige oder doch die allein wesentliche und normale Erscheinungsform der politischen Welt war. Das trifft in dieser Einfachheit heute nicht mehr zu. Heute ist das Volk der Normalbegriff der politischen Einheit. Deshalb bestimmen sich heute alle maßgebenden politischen Begriffe vom Volke her. Politisch ist alles, was die Lebensfragen eines Volkes als eines einheitlichen Ganzen betrifft.
II. Das Wort „Politik" stammt von dem griechischen Wort „Polis" und bezeichnet zunächst alles, was auf diese Polis, d. h. auf den antiken griechischen Stadtstaat, und zwar haupsächlich auf seine innere Ordnung, Bezug hat. Durch die Verbreitung der Lehren der griechischen Philosophen, insbesondere die beiden großen staatsphilosophischen Werke, die „Politeia" des Piaton und die „Politik" des Aristoteles, ist das Wort in den Sprachgebrauch aller europäischen Volker übergegangen. Aus der gemeinsamen sprachlichen Wurzel „Polis" spalten sich aber seit der Ausbildung des modernen Staates die beiden Worte Polizei und Politik ab. Polizei bedeutete in der absoluten Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts eine innerstaatliche, auf die Wohlfahrt der Untertanen und die Aufrechterhaltung der guten Ordnung gerichtete Tätigkeit der inneren Verwaltung; bei dem Wort „Politik" dachte man mehr an Kabinettspolitik, „hohe Politik", also an Aw/tenpolitik. Während in dieser Weise für das 18. Jahrhundert Politik (zum Unterschied von Polizei) vor allem Außenpolitik war, trat mit dem Beginn der liberaldemokratischen Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts die Innenpolitik in den Vordergrund des Be-
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wußtseins. Berühmte wissenschaftliche Lehrbücher der Politik (so die 1835 erschienene „Politik" von F. C. Dahlmann, die „Grundzüge der Politik" von G. Waitz, 1862, und die 1892 erschienene „Politik" von W. Roscher) behandeln hauptsächlich innenpolitische Verfassungsfragen, besonders die überlieferte Lehre von den „Staatsformen" (Monarchie, Aristokratie und Demokratie). Nur in Heinrich von Treitschkes „Politik" (Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin; herausgegeben 1898) zeigt sich ein starker Sinn dafür, daß der Staat auch nach außen hin, nötigenfalls durch das Mittel des Krieges, seine Macht und Existenz behaupten muß. In dem Maße also, in dem der Staat von Parteikämpfen zerrissen wird, erscheint nach dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens die Innenpolitik als der eigentliche Kern und Inhalt des Politischen überhaupt (Primat der Innenpolitik). Der deutsche Staat des 19. Jahrhunderts war ein Militär- und Beamtenstaat, in dem eine starke, von den politischen Parteien unabhängige Regierung einer Volksvertretung (Parlament) gegenüberstand; dieser Staat war nach Fürst und Volk dualistisch aufgebaut; daher hielt man damals das Verhältnis von fürstlicher Regierung und parlamentarischer Volksvertretung für die eigentlich politische Angelegenheit. In einem von einer Mehrzahl festorganisierter Parteien beherrschten Staat (im sog. pluralistischen Partdienstaat) ist der einheitliche Gesamtwille das Produkt (oft sogar nur das Abfallprodukt) der wechselnden Koalitionen und Kompromisse dieser Parteien. In dieser Lage wird der auf eine Koalition oder einen Kompromiß gerichtete Parteibetrieb zum Inhalt der Innenpolitik, ja der Politik überhaupt. Der Staat des Weimarer Systems 1919 - 1933 war in typischer Weise ein solcher pluralistischer Parteienstaat. Infolgedessen wurde hier politisch und parteipolitisch im täglichen Sprachgebrauch nicht unterschieden. Politik ist dann wesentlich „Ausgleich", d. h. die auf die Herbeiführung eines erträglichen Kompromisses gerichtete Tätigkeit.[ 1 ] Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf' setzt schon mit seinem Titel dieser Denkweise einen andern Begriff des Politischen entgegen.
III. Der Inhalt des Wortes „Politik", „politisch" und „unpolitisch" ist demnach offensichtlich von der wechselnden Lage abhängig. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, daß Bismarck zu seiner Zeit die Politik als die „Kunst des Möglichen" bezeichnete, während unter dem Eindruck der Erfolge der Politik Adolf Hitlers die Politik als die „Kunst, das unmöglich Scheinende möglich zu machen" (J. Goebbels) bestimmt werden konnte. Es hat aber nicht an Versuchen gefehlt, ein bestimmtes Sachgebiet oder eine bestimmte „Materie" zu finden, die als solche politisch ist und von anderen Sachgebieten (z. B. von Wirtschaft, Technik, Recht, Kriegführung, Moral, Religion) ohne weiteres sachinhaltlich abgegrenzt ist. Im Völkerrecht hat man sich lange darum bemüht, den Bereich einer unpolitischen Schiedsgerichtsbarkeit zu umschreiben und gewisse, aufgezählte Angelegenheiten
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als „politische" Fragen von unpolitischen „Rechtsfragen" zu unterscheiden. Alle Versuche einer derartigen Aufzählung der Angelegenheiten, die auf jeden Fall unpolitisch sein sollten, sind erfolglos geblieben. Auf den beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 wurde z. B. der Vorschlag gemacht, eine Liste der „von Natur" und auf jeden Fall unpolitischen Angelegenheiten aufzustellen; diese Liste wußte schließlich nur ganz unbedeutende, fast belanglose Angelegenheiten aufzuzählen (z. B. Hilfeleistung an unbemittelte Kranke), und selbst diese standen noch unter „Vorbehalten", wie der nationalen Ehre oder der lebenswichtigen Interessen, d. h. eben unter dem unausrottbaren Vorbehalt des Politischen. [2] Die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß in den Auseinandersetzungen der Völker und Parteien oft kleine und nebensächliche Angelegenheiten zu Streitpunkten des Kampfes und damit zu hochpolitischen Fragen werden. Eine sonst vielleicht bedeutungslose Geste oder Redensart, ein harmloses Lied oder ein Abzeichen, wird politisch, sobald es in die Kampfzone der streitenden Gegensätze hineingerät. So erklärt es sich, daß z. B. durch die Befehle vom 2. August 1922 und 15. August 1924 der Reichswehr nicht nur das Tragen politischer Abzeichen im und außer Dienst, sondern auch das Spielen von Militärmärschen, auf deren Melodien von nicht-militärischer Seite parteipolitische Texte gesungen wurden, als politische Betätigung verboten wurden. In angelsächsischen Ländern, wo den Beamten des sogenannten Civil Service jede politische Betätigung verboten ist, finden sich zahlreiche ähnliche Beispiele dafür, daß auch „an sich" harmlose Handlungen des Beamten und sogar seiner Frau in einer bestimmten Lage politischen Charakter annehmen können. Auch die jahrhundertelangen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche zeigen, daß die Abgrenzung dessen, was politisch und (wegen seines religiösen Charakters) unpolitisch ist, nicht einfach durch Aufzählung gewisser Sachgebiete oder Angelegenheiten im voraus bestimmt werden kann, weil auch „rein religiöse" Handlungen in einer bestimmten Lage einen politischen Sinn und eine politische Tragweite erhalten. Die Gegensätze von politisch und religiös, politisch und juristisch, politisch und moralisch, politisch und militärisch usw. enthalten deshalb keine absolut sicheren, unterschiedslos für jede Sachlage geltenden Abgrenzungen. Sie bieten allerdings, bei ruhiger und gefestigter Lage, im allgemeinen brauchbare Anhaltspunkte, um das Politische vom Unpolitischen zu unterscheiden. Es ist aber zu beachten, daß der Möglichkeit nach Alles politisch werden kann. Infolgedessen ist die Entscheidung darüber, ob etwas unpolitisch ist, im Streitfalle ebenfalls eine politische Entscheidung. Das beweist, wie sehr heute eine einheitliche, entscheidungsfähige politische Führung für jedes Volk notwendig geworden ist, um den Vorrang der politischen Entscheidung (Primat der Politik) gegenüber der Aufspaltung in die verschiedenen Sachgebiete (Wirtschaft, Technik, Kultur, Religion) zu gewährleisten.
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IV. Wenn in dem Staat des Weimarer Systems die Reichswehr und das Beamtentum „politisch neutral" waren, so bedeutete das nur eine parteipolitische Neutralität in dem oben (II.) dargelegten Sinne. „Unpolitisch" war damals dasselbe wie parteipolitisch neutral. Die Forderung der politischen Neutralität bedeutete in einer solchen Lage zweierlei: einerseits die bloß instrumentale Neutralität eines willenlosen Werkzeuges, d. h. die Vorstellung, daß Heer und Beamtentum eine wert- und wahrheitsblinde Vollstreckungsapparatur der wechselnden Koalitionsmehrheiten und der jeweiligen Parteiregierung sein sollten, gleichgültig, ob diese national oder international, wehrhaft oder wehrfeindlich war. Das meinte der viel zitierte Ausspruch eines Reichsgerichtsrats im sog. Scheringer-Prozeß 1930: „Die Reichswehr ist das Instrument der Reichsregierung".[3] Unpolitisch sein hieß danach, auf jeden politischen Willen und jede politische Substanz verzichten. Auf der anderen Seite aber konnte man damals unter einer neutralen und unpolitischen Haltung auch eine überparteiliche Haltung verstehen, die gegenüber der parteipolitischen Zerrissenheit des deutschen Volkes den Gedanken der staatlichen Einheit wahrte und der Vielheit der parteipolitischen Willen einen einheitlichen staatspolitischen Willen entgegenstellte. Das war die Auffassung der Reichswehr selbst, insbesondere auch ihres Oberbefehlshabers, des Reichspräsidenten von Hindenburg.[4] Im nationalsozialistischen Führerstaat ist der pluralistische Parteienstaat überwunden und die unbedingte Einheit des politischen Willens hergestellt. Die in der NSDAP organisierte Bewegung ist alleiniger Träger der politischen Führung. Dadurch entfallen die Gegensätze und Auseinanderreißungen, die sowohl den Begriff des „Politischen" wie auch den des „Unpolitischen" verwirrt haben. Gegenüber der einheitlichen und klaren politischen Entscheidung gibt es infolgedessen auch keine unpolitische oder überpolitische Neutralität. Wohl aber kann man von einer Entpolitisierung in dem Sinne sprechen, daß dieser Vorrang der politischen Führung und das der Bewegung zustehende „Monopol des Politischen" unbedingt anerkannt werden und damit jeder Streit über den politischen oder unpolitischen Charakter einer Angelegenheit aufhört.
V. Jede Politik rechnet mit der Möglichkeit von Widerständen, die sie überwinden muß. Sie kann nicht auf den Kampf verzichten und sich auf die Taktik des bloßen Ausgleichens und Ausweichens beschränken. Eine echte „Entpolitisierung" und einen absolut unpolitischen Zustand hätte nur der erreicht, der grundsätzlich Freund und Feind nicht mehr unterscheiden wollte. Unter Politik wird aber auch die Gestaltung und Herbeiführung der Ordnung und Harmonie eines umfassenden völkischen Ganzen verstanden, innerhalb dessen es keine Feindschaft gibt und das
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als Ganzes von sich aus Freund und Feind zu bestimmen vermag. Der tiefste Gegensatz in den Auffassungen vom Wesen des Politischen betrifft nun nicht die Frage, ob die Politik auf jeden Kampf verzichten kann oder nicht (das könnte sie überhaupt nicht, ohne aufzuhören, Politik zu sein), sondern die andere Frage, worin Krieg und Kampf ihren Sinn finden. Hat der Krieg seinen Sinn in sich selbst oder in dem durch den Krieg zu erringenden Frieden? Nach der Auffassung eines reinen Nichts-als-Kriegertums hat der Krieg seinen Sinn, sein Recht und seinen Heroismus in sich selbst; der Mensch ist, wie Ernst Jünger sagt, „nicht auf den Frieden angelegt".[5] Das gleiche besagt der berühmte Satz des Heraklit: „Der Krieg ist der Vater und König von Allem; die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen; die einen macht er zu Freien, die andern zu Sklaven". Eine solche Auffassung steht als rein kriegerisch in einem Gegensatz zu der politischen Ansicht. Diese geht vielmehr davon aus, daß Kriege sinnvollerweise des Friedens wegen geführt werden und ein Mittel der Politik sind. Der Krieg ist, wie Clausewitz in seiner Schrift „Vom Kriege" sagt, ein „bloßes Instrument der Politik" und „nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel". Das ist auch die Auffassung vom Wesen der Politik, die der - gleichzeitig auf Wehrhaftigkeit und Ehre wie auf den Frieden gerichteten - Politik des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitlers zugrunde liegt.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Bezieht s. auf Max Schelers Rede „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs", gehalten in der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin im Oktober 1927; Erstdruck in: Ausgleich als Aufgabe und Schicksal, H. 8. der Schriftenreihe „Politische Wissenschaft" der Deutschen Hochschule für Politik und des Instituts für Auswärtige Politik in Hamburg, Berlin-Grunewald, 1929, S. 31 - 63; Ndr. in: M. Scheler, Gesammelte Werke, IX, Späte Schriften, Bern 1976, S. 145 - 170. Der Bd. enthielt auch die Vorträge v. H. Lichtenberger, Was ist Weltbürgertum?, u. von J. Shotwell, Stehen wir an einem Wendepunkt der Weltgeschichte?, bes. dieser Vortrag, vom Initiator des Kellog-Paktes, war für Schmitt von Bedeutung. Schmitt trug an gleicher Stelle im Sommersemester 1927 seine Thesen „Der Begriff des Politischen" vor, Erstdruck in: ASWSP, August 1928, S. 1 - 33, Ndr. im Heft 5 der o. a. Reihe, „Probleme der Demokratie", gl. Ort, 1928, S. 1 - 34. Er mußte Schelers Ausführungen als den seinen entgegengesetzt betrachten, vgl. Schmitt, Die europäische Kultur in Zwischenstadien der Neutralisierung, Europäische Revue, Nov. 1929, S. 517 - 530, hier S. 526; auch in: Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 90. [2] Vgl. Ph. Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, Stuttgart 1915, u. J. Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Berlin 1981. Vgl. auch: E. Gottschalk, Deutschlands Haltung auf den Haager Friedenskonferenzen, Berliner Monatshefte, 1930, S. 447 - 456. [3] Im sogen. „Ulmer Reichswehrprozeß" o. „Scheringer- Prozeß" (23. 9. - 4. 10. 1930) gegen die in Ulm stationierten Offiziere Oberleutnant Wendt, Leutnant Scheringer und Leutnant Ludin ging es um deren Zusammenarbeit mit der NSDAP und ihren Widerstand gegen
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die kommunistischen Infiltrationsversuche innerhalb der Reichswehr. Die Angeklagten wurden wegen gemeinschaftlicher Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens zu 18 Monaten Festungshaft verurteilt. Hans Friedrich Wendt (* 1903) wurde Anhänger Otto Straßers und ging nach 1933 in der Tschechoslowakei verschollen; Hanns Ludin (1905 - 1947) war 1940 - 45 Gesandter in Preßburg, wurde an die Alliierten ausgeliefert und hingerichtet; Richard Scheringer (1904 - 1986) wurde während der Haft Kommunist, vgl. s. Autobiographie: Das große Los unter Bauern, Soldaten und Rebellen, Hbg. 1959. - Vgl. Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, 1962, S. 65 ff. u. P. Bücher, Der Reichswehrprozeß. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere 1929 / 30, 1967. Dokumente z. Prozeß bei: E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente z. dt. Verfassungsgeschichte, IV, 3. Aufl., 1991, S. 479 - 86, dort S. 482 f., aus der Urteilsbegründung, ein Bericht ü. Hitlers während dieses Prozesses geleisteten „Legalitätseid": er werde seine Ziele „nur noch auf streng legalem Wege" verfolgen, „die Gewalt falle ihm mit der Zeit auf legalem Wege von selbst zu", u.s.w. Die beeidete Aussage des Zeugen Hitler trug diesem den Spitznamen „Adolphe Legalite" ein. [4] Die Haltung d. Reichswehr kam in der Parole vom „Dienst am Staat in seiner permanenten Identität" (v. Hammerstein- Equord, Chef d. Heeresleitung) zum Ausdruck. Alle Ansätze zu einem „Parteibuch-Offizierskorps" wurden zurückgewiesen; ebenso aber auch Intentionen, die Regierungsgewalt offen oder indirekt selbst auszuüben. Vgl.: H. Meier-Welcker, Zur polit. Haltung d. Reichswehr-Offizierskorps, Wehrwiss. Rundschau, 12 / 1962, S. 407 ff.; A. Hillgruber, Die Reichswehr u. d. Scheitern d. Weimarer Republik, in: K. D. Erdmann / H. Schulze, Weimar - Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 177 ff.; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VI, 1981, S. 607 f., S. 626 ff. [5] So Jünger in einem Streitgespräch mit Paul Adams im Deutschlandsender am 1. 2. 1933 (lt. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Ausg. 1933, S. 10, Fn. 1); das Gespräch ist u. W. bis heute nirgendwo abgedruckt worden. „Hier vertrat Ernst Jünger das agonale Prinzip („der Mensch ist nicht auf den Frieden angelegt"), während Paul Adams den Sinn des Krieges in der Herbeiführung von Herrschaft, Ordnung und Frieden sah." - Paul Adams (1894 - 1961), Redakteur der Bonner „Germania" (Zentrum), seit 1934 Redakteur beim Rundfunk in München; freundete sich mit Schmitt während dessen Bonner Zeit an. Vgl. zwei seiner Briefe an Schmitt in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 117 125; aufschlußreich auch Adams' öfters von Schmitt handelnde Briefe an Erik Peterson aus d. Jahren 1925 - 1947, mitgeteilt von Barbara Nichtweiß, in: B. Wacker (Hrsg.), Die eigentliche katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, 1994, S. 65 - 87.
Anhang des Herausgebers Der Text erschien als Stichwort im „Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften", herausgegeben im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften v. Hermann Franke, Generalmajor a. D., Erster Band, Wehrpolitik und Kriegführung, Berlin u. Leipzig 1936, de Gruyter, S. 547 - 549. Eine italienische Fassung, übersetzt von Antonio Caracciolo, erschien in: Behemoth, Rom, 1988, H. 4, S. 7 - 9.
Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes Mit einer humanitas, die noch im antiken Sinne philosophisch ist, hat Descartes alle bestehenden Ordnungen in Religion und Tradition, in Kirche und Staat anerkannt und auf sich beruhen lassen. Bei ihm findet man nichts von den mythischen und dämonischen Bildern, an denen Hobbes so reich ist. Der Engländer kannte den „Naturzustand" seiner Staatskonstruktion, nämlich den Bürgerkrieg, aus eigener Erfahrung; das Frankreich des Descartes dagegen war bereits ein „Staat". Für den Staat als die politische Einheit verwendet Descartes das Bild eines von einem Architekten errichteten Gebäudes. Das entspricht dem Kunstwerk der Renaissance und ist noch nicht die technisch-mechanisierte Vorstellung der rationalistisch-revolutionären Staatstheorie, für die der Staat ein Uhrwerk, eine Maschine, ein Automat oder Apparat ist, ein horologium, eine machina, ein automaton, wie Hobbes sagt1. Der tolerante Konservatismus des Descartes darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade durch diesen Philosophen alle menschlichen Dinge im Kern bereits revolutionär verändert waren, weil er den menschlichen Körper als Mechanismus begriffen hatte. Das war der Anfang der kommenden technisch-industriellen Revolution. Im Vergleich zur Mechanisierung des menschlichen Körpers ist die Mechanisierung des Staates sekundär und weniger mittelbar. An sich ist es möglich, den Staat als künstlichen Mechanismus aufzufassen, ohne den menschlichen Körper in analoger Weise zu mechanisieren. Doch kann die Mechanisierung des Staates auch ein vergrößerndes Spiegelbild der mechanistischen Auffassung des menschlichen Körpers sein, und dann wirkt sie um so deutlicher und schreckhafter, wie das bei Hobbes der Fall ist. Ausgangspunkt der Staatskonstruktion des Hobbes ist die Angst des Naturzustandes, Ziel und Endpunkt die Sicherheit des zivilen, staatlichen Zustandes. Im Naturzustand kann Jeder Jeden töten; Jeder weiß, daß Jeder Jeden töten kann; Jeder ist jedes Andern Feind und Konkurrent - das bekannte bellum omnium contra omnes. Im zivilen staatlichen Zustand sind alle Staatsbürger ihres physischen Daseins sicher; hier herrscht Ruhe, Sicherheit und Ordnung. Das ist bekanntlich eine Definition der Polizei. Moderner Staat und moderne Polizei sind zusammen entstanden, und die wesentlichste Institution dieses Sicherheitsstaates ist die Polizei. Erstaunlicherweise übernimmt Hobbes für die Kennzeichnung dieses durch die Po1 Hobbes war ein Bewunderer Harveys (vgl. F. Tönnies, Einführung zu Julius Lips, Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution, Leipzig 1927, S. 4 / 5), dessen Lehre vom Blutkreislauf die mechanistisch-physikalischen Vorstellungen vom menschlichen Körper bestimmte (das Herz als Pumpe, der Blutkreislauf als hydraulisches Problem usw.).
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lizei bewirkten Friedenszustandes die Formel des Baco von Verulam und spricht davon, daß jetzt der Mensch für den Menschen zum Gott, homo homini deus werde, nachdem im Naturzustand homo homini lupus[ 1] war. Der Schrecken des Naturzustandes treibt die angsterfüllten Individuen zusammen, ihre Angst steigert sich aufs äußerste, ein Lichtfunke der ratio blitzt auf - und plötzlich steht vor uns der neue Gott. Wer ist dieser Gott, der den angstgequälten Menschen Frieden und Sicherheit bringt, die Wölfe in Staatsbürger verwandelt und sich durch dieses Wunder als Gott erweist, allerdings nur als „sterblicher Gott", als deus mortalis, wie Hobbes ihn nennt? Wenn irgendwo, so gilt hier der Ausspruch des Newton: deus est vox relationis.[2] Das Wort vom „sterblichen Gott" hat zu großen Mißverständnissen und Mißdeutungen geführt. Vor kurzem hat J. Vialatoux, der durch zahlreiche wirtschafts- und gesellschaftsphilosophische Schriften bekannte Professor an der Institution des Chartreux in Lyon, eine Abhandlung über Hobbes veröffentlicht, in der er ihn als den Philosophen des heutigen Totalismus hinstellt und schließlich unterschiedslos zum Kirchenvater des Bolschewismus, Faschismus, Nationalsozialismus und der Deutschen Christen erhebt2. Vieles macht dem französischen Katholiken seine Sache leicht; von der Seite des Hobbes her das berühmte Bild des alles verschlingenden Leviathan, Wendungen wie deus mortalis und homo homini deus, dazu die berüchtigte staatsabsolutistische These, daß jede Religion außer der jeweils vom Staat vorgeschriebenen oder erlaubten Aberglaube sei. Von der anderen Seite kommt die summarische Vieldeutigkeit des Schlagwortes „total" hinzu, das unendlich viel Verschiedenes bedeuten kann: mancherlei Arten einer weitgehenden Inanspruchnahme oder einer weitgehenden Vernichtung der individuellen Freiheit, aber auch manche, im Grunde nur relativen Änderungen der überkommenen Abgrenzungen des Spielraumes bürgerlicher Freiheit, Zentralisierungen, Wandlungen des überlieferten verfassungsrechtlichen Begriffes der „Gewaltenteilung", Aufhebungen früherer Trennungen und Unterscheidungen, Totalität als Ziel und Totalität als Mittel usw. Gegenüber Vialatoux hat der ausgezeichnete französische Staatsrechtslehrer R. Capitant in seinem Aufsatz „Hobbes et l'Etat totalitaire" 3 auf den individualistischen Charakter der Staatskonstruktion des Hobbes hingewiesen und die starken freiheitlichen Vorbehalte herausgearbeitet, die bei einem von Individuen geschlossenen Vertrag unausrottbar sind und die auch F. Tönnies4 nachdrücklich betont hat. Von der individuellen Freiheit gilt eben auch: tarnen usque recurret.[3] R. Capitant ist als liberal-demokratischer Franzose selbstverständlich ein Gegner der „ideologic totalitaire qui fleurit de nos jours". Doch betont er mit Recht, daß die von Hobes geforderte staatliche Kontrolle aller wissenschaftlichen Ansichten nur als ein 2
La Cit6 de Hobbes; throne de l'Stat totalitaire, essai sur la conception naturaliste de la civilisation, Paris / Lyon 1935. 3 Archives de Philosophie de droit et de Sociologie juridique, VI, 1936, S. 46 - 75. 4 Thomas Hobbes, Leben und Lehre, 3. Aufl., Stuttgart 1925, S. 257.
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Teil der polizeilichen Sicherheit und Ordnung, nicht aber als wirkliche „Staatsreligion" gedacht ist. Hobbes ist in der Tat „profondement individualiste et rationaliste". Er gehört, wie Descartes, zu den einsamen Individuen, die im 17. Jahrhundert, im „Heldenzeitalter des occidentalen Rationalismus", sich auf nichts anderes als auf sich selbst zurückzogen und dabei die Art von Wissen fanden, die eine zu verändernde Welt ihnen nicht hätte geben können. Aber auch R. Capitant gibt zu, daß die Verwendung des berühmten Bildes von dem monströsen Fabelwesen „Leviathan" Hobbes als einen „mystischen Totalisten" erscheinen lassen kann. [4] Die Verwirrung ist deshalb so groß, weil Hobbes in Wirklichkeit drei verschiedene, miteinander nicht in Einklang zu bringende Vorstellungen seines „Gottes" verwendet. Im Vordergrund steht auffällig das berüchtigte mythische Bild vom Leviathan . Daneben dient eine juristische Vertragskonstruktion dazu, eine durch Repräsentation zustande kommende souveräne Person zu erklären. Außerdem überträgt Hobbes - und das scheint mir der Kern seiner Staatsphilosophie zu sein - die cartesianische Vorstellung vom Menschen als einem Mechanismus mit einer Seele auf den „großen Menschen", den Staat, den er zu einer von der souverän-repräsentativen Person beseelten Maschine macht. Das Bild des Leviathan überwältigt und überschattet durch seine suggestive Kraft alle anderen, noch so präzisen Konstruktionen und Argumentationen. Zahlreiche Prägungen des Hobbes sind geflügelte Worte geworden, wie das „bellum omnium contra omnes" oder das „homo homini lupus". Manches, wie den Gedanken des „nulla poena sine lege", hat er begrifflich-systematisch so gut durchdacht und vorbereitet, daß es einige Zeit später als einleuchtende Formel wie eine reife Frucht vom Baum fiel. Anderes wiederum wirkt durch die politische Kraft, die den konkreten Feind anschaulich macht. Das gilt insbesondere von vielen eindrucksvollen Schijderungen des Buches „Leviathan", das, wie F. Tönnies richtig hervorgehoben hat, zum Unterschied von den naturrechtlichen Werken ein überwiegend politischer Traktat ist 5 . Zu diesen politischen Bildern gehört die Schilderung der römischen Kirche als des Reiches der Finsternis, die Ausmalung der Kleriker als Lemuren, des römischen Papstes als eines mit einer Tiara gekrönten, riesigen Gespenstes, das auf dem Grabe des Imperium Romanum sitzt (Kap. 47 der lateinischen Ausgabe des Leviathan). Hier ist Hobbes, dessen Schriften bereits 1653 auf den Index librorum prohibitorum gesetzt wurden, ein aktiver Mitstreiter des weltgeschichtlichen Kampfes, den die englische Nation damals gegen die spanische Weltmacht und ihre Verbündeten, gegen Papstkirche und Jesuitenorden führte. Das Bild vom Leviathan aber bedeutet bei Hobbes etwas ganz anderes. Es malt - zum Unterschied von dem späteren „Behemoth"6 - nicht einen Feind, denn es stellt den 5
Tönnies, a. a. O., S. 248, 255; daraus erklärt sich auch die in der lateinischen Ausgabe des Leviathan von 1668 vorgenommene Anpassung an die veränderte politische Lage (nämlich die inzwischen eingetretene Restauration der Monarchie) gegenüber der englischen Ausgabe von 1651, die mit Cromwells Sieg rechnet. 6 Der „Behemoth" (ebenfalls aus dem Buch Hiob) ist nur eine historisch-politische Schilderung der englischen Revolution 1640 - 1660; das Bild vom Behemoth ist als Bild der
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frieden- und sicherheitbringenden Gott dar. Es ist auch kein politischer FreundMythus, dafür ist es wohl zu schauerlich und abschreckend. Es ist, näher betrachtet, in der staatstheoretischen Gesamtkonstruktion des Hobbes nicht mehr als ein aus gutem englischem Humor geborener, halbironischer, literarischer Einfall.[5] Nur die ungeheuerliche Schlagkraft dieses mythischen Bildes hat zu dem Irrtum geführt, in ihm die Zentralvorstellung des neuen staatstheoretischen Systems zu erblicken. Die Sätze und Worte, mit denen Hobbes den Leviathan einführt, lassen aber keinen Zweifel daran, daß er selbst dieses Bild weder begrifflich noch irgendwie mythisch oder dämonisch ernst genommen hat. Hobbes wußte etwas von Dämonen und Dämonologie. Das zeigt schon das Kap. 45 und die Bemerkung p. 242 der englischen Ausgabe des Leviathan von 1651. Der Leviathan des Buches Hiob Kap. 40 war als mythisches Bild der Literatur dieser Zeit bekannt. Es fehlt leider noch an einer näheren geschichtlichen Untersuchung seiner Verwendung, aber wir wissen doch, daß z. B. Bodinus, ein Kenner des kabbalistischen Schrifttums 7, in seiner Daemonomania (lateinische Ausgabe von 1581, Buch II, Kap. 6 und III Kap. 1) vom Leviathan als einem Dämon spricht, dessen Macht niemand widerstehen kann und über den gemeldet wird, daß er sich nicht mit dem Leib begnügt, sondern auch den Seelen nachstellt, was sich, wie Bodinus hinzufügt, alle diejenigen merken sollen, die glauben, einen Vertrag mit ihm schließen und ihn sich dienstbar machen zu können. Solche Ansichten machen es erklärlich, daß die bloße Nennung des Namens „Leviathan" die Erinnerung an furchtbare asiatische Mythen, an einen alles in Anspruch nehmenden Moloch oder einen alles zertretenden Golem wachrufen konnte. Nach kabbalistischen Meinungen soll der Leviathan ein riesiges Tier sein, mit dem der jüdische Gott täglich einige Stunden spielt; bei Beginn des tausendjährigen Reiches aber wird er geschlachtet und die seligen Bewohner dieses Reiches verteilen und verzehren sein Fleisch. Das alles ist sehr interessant und könnte das mythische Urbild mancher kommunistischen Lehren vom Staat und von dem nach der Abschaffung des Staates eintretenden Zustand einer Staat- und klassenlosen Gesellschaft sein. Bei Hobbes aber ist von solchen Dingen nicht die Rede. Er bedient sich des Bildes ohne Schauder und ohne Respekt. In der englischen Ausgabe von 1651 (p. 87) heißt es an der entscheidenden Stelle: „this is the generation of that great Leviathan or rather - to speake more reverently - of that mortal god." In der lateinischen Ausgabe von 1668 lautet dieselbe Stelle: „Atque haec est generatio magni illius LeviaGreuel einer Revolution gemeint. Trotzdem verweigerte die Zensur der königlichen Regierung die Druckerlaubnis und konnte das 1668 geschriebene Buch erst nach dem Tode Hobbes' erscheinen. 7 Bezold, Jean Bodin als Okkultist und seine DSmonomania, Historische Zeitschrift 105 (1910, S. 1 ff., der Aufsatz ist auch in den gesammelten Schriften Bezolds abgedruckt); ferner die Schrift des Rabbiners J. Guttmann, Jean Bodin in seinen Beziehungen zum Judentum, Breslau 1906, S. 16 und zur Korrektur der Angabe Guttmanns über die Abstammung des Bodinus: Emile Pasquier, Revue d'histoire de l'Eglise de France XIX 1933, p. 457 - 62, sowie die Besprechung des Buches von F. J. Conde, El Pensamiento Politico de Bodino, Deutsche Juristen-Zeitung 1936, S. 181 / 82.
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than, vel, ut dignius loquar, mortalis Dei; cui pacem et protectionem sub Deo immortali debemus omnem". Diesem Ton entspricht auch die sachliche Bedeutung des Bildes. Es wäre doch eine sonderbare Staatsphilosophie, wenn ihr ganzer Gedankengang nur darauf hinausliefe, daß die armen menschlichen Individuen sich aus der totalen Angst des Naturzustandes in die ebenso totale Angst einer Molochoder Golemherrschaft flüchteten. Locke hat diesen Einwand gegen Hobbes erhoben 8 ; aber er trifft nicht zu. Für Hobbes kommt es darauf an, durch den Staat die Anarchie des feudalen, ständischen oder kirchlichen Widerstandsrechts zu überwinden und dem mittelalterlichen Pluralismus die rationale Einheit eines berechenbar funktionierenden, zentralistischen Staates entgegenzusetzen.Wenn man hier von Totalität sprechen will, so ist zu beachten, daß der Totalität dieser Art staatlicher Macht immer auch die totale Verantwortlichkeit für Schutz und Sicherheit der Staatsbürger entspricht, und daß der Gehorsam sowie der Verzicht auf jedes Widerstandsrecht, den dieser Gott verlangen kann, nur das Korrelat des wirklichen Schutzes ist, für den er garantiert. Hört der Schutz auf, so hört auch jede Gehorsamspflicht auf und gewinnt das Individuum seine natürliche Freiheit wieder 9. Die „Relation von Schutz und Gehorsam" ist der Angelpunkt der Staatskonstruktion des Hobbes. Mit ihr sind alle einseitigen TotalitätsVorstellungen unvereinbar. Die Einführung des „Leviathan" hat bei Hobbes nicht einmal die hintersinnige Bedeutung, eine Nebentür zu dem Traumland ausschweifender Fortschrittshoffnungen zu eröffnen, das bei manchen Rationalisten die andere Seite ihres Rationalismus ausmacht. Das berühmteste Beispiel dieser Art ist das von Condorcet in seiner Esquisse d'un tableau historique des progres de 1'esprit humain (1794) entworfene Gemälde eines durch Vernunft und Erziehung herbeigeführten Paradieses der Menschheit. [6] Hier findet sich manche Ähnlichkeit mit den Grundvorstellungen des Hobbes: das Leben interessiert nur als das diesseitige, physische Dasein des einzelnen, jeweils lebenden Individuums; Sicherheit und möglichste Verlängerung dieser Art physischen Daseins ist das wichtigste und höchste Ziel. Condorcet, der große Mathematiker, hält das Problem der Unsterblichkeit für ein mathematisches Infinitesimal-Problem und glaubt, daß man in unendlichen Zeiträumen, durch eine immer weitere allmähliche Hinausschiebung des Todes an Altersschwäche, schließlich zu einer Art diesseitiger Unsterblichkeit und Ewigkeit des individuellen irdischen Daseins gelangen könne. Aber bei Condorcet zeigt sich, daß der Staat bereits über ein Jahrhundert lang sein geschichtliches Werk getan und für öffentliche Sicherheit und Ordnung gesorgt hatte. Daher sieht Condorcet den Men8
Civil government II, § 93: die Menschen würden es aus Angst vor Katzen und Füchsen für Sicherheit halten, von einem Löwen gefressen zu werden. Diese Bemerkung Lockes richtet sich unmittelbar gegen Hobbes, obwohl dessen Name nicht genannt ist. 9 Es war daher für Hobbes nicht leicht, sich während der Restaurationszeit, nach 1660, gegen die Vorwürfe der Reaktionäre zu verteidigen, die ihn als gesinnungslosen Opportunisten hinstellten, der die Unterwerfung unter Cromwell gerechtfertigt habe; vgl. darüber die von Hobbes selbst verfaßte Schrift von 1662: Considerations upon the Reputation, Loyalty, Manners and Religion of Thomas Hobbes of Malmesbury.
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sehen nicht mehr als radikal böse und wolfsartig, sondern als gut und erziehbar an. In diesem Stadium der rationalistischen Doktrin wird das Zwangs- und Erziehungswerk des Staates als eine zeitlich bedingte Angelegenheit betrachtet und kann damit gerechnet werden, daß der Staat sich selber eines Tages überflüssig macht. Mit andern Worten: man sieht bereits den Tag dämmern, an dem der große Leviathan geschlachtet werden kann. Hobbes ist von solchen Vorstellungen weit entfernt. Trotz aller Einwirkungsmöglichkeiten durch Zwang und Erziehung, die auch zu seiner Theorie gehören, macht er sich über die menschliche Natur keine großen Illusionen. Gerade diese pessimistische Haltung bestimmt seinen Rationalismus und beeinflußt aufs stärkste die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, namentlich auch das staatstheoretische Denken Friedrichs des Großen, das mehr von Hobbes als von Locke bestimmt ist 10 . Aber auch die Vertragskonstruktion, mit deren Hilfe Hobbes eine souverän-repräsentative Person juristisch erklärt, führt nicht zu einer Totalität des Staates. Seit langem ist die Unentschiedenheit bemerkt worden, die sich in dem sonst so sicheren Gedankengang des Hobbes am juristisch entscheidenden Punkt, nämlich bei der rechtlichen Erklärung des Staates aus einem von Individuen geschlossenen Vertrage, einstellt 11 . Der Vertrag wird ganz individualistisch aufgefaßt; alle Bindungen und Gemeinschaften sind aufgelöst; atomisierte Einzelne finden sich in ihrer Angst zusammen, bis das Licht des Verstandes aufleuchtet und ein Konsens zustandekommt. Sieht man diese Konstruktion von ihrem Ergebnis, vom Staate her, so zeigt sich, daß dieses Ergebnis mehr und etwas anderes ist, als ein individualistischer Vertrag bewirken könnte. Es kommt zwar zu einem Konsens Aller mit Allen; das ist aber kein eigentlicher Staats-, sondern nur ein Gesellschaftsvertrag. Was weiter entsteht, die souverän-repräsentative Person, kommt nicht durch, sondern nur anläßlich dieses Konsenses zustande. Die souverän-repräsentative Person ist unverhältnismäßig mehr als die summierte Kraft aller beteiligten Einzelwillen bewirken könnte. Die angehäufte Angst der um ihr Leben zitternden Individuen ruft allerdings eine neue Macht auf den Plan, aber sie beschwört diesen neuen Gott mehr, als daß sie ihn schafft. Insofern ist der neue Gott gegenüber allen einzelnen Vertragspartnern und auch gegenüber ihrer Summe transzendent, aber nur in einem juristischen, nicht in einem metaphysischen Sinne. Die souverän-repräsentative Person kann daher auch die völlige Mechanisierung der Staatsvorstellung nicht aufhalten. Sie ist nur ein zeitgeschichtlich gebundener Ausdruck der barocken Repräsentationsidee des 17. Jahrhunderts, des Absolutismus, nicht eines „Totalismus". Da der Staat bei Hobbes nicht als Ganzes Person, sondern die souve10 Gisbert Beyerhaus, Friedrich der Große und das 18. Jahrhundert, Bonn 1931, S. 11. Über die Einwirkung des Hobbes auf die mathematisch-naturwissenschaftliche Philosophie des 18. Jahrhunderts und den Positivismus von d'Alembert bis Comte vgl. die bei Tönnies a. a. O. 294 zitierte Äußerung Diltheys; ferner Joseph Vialatoux, Philosophie dconomique, 1933, p. 32. 11 Fred. Atger, Essai sur l'histoire des doctrines du contrat social, Nimes 1906 (Th&se de Montpellier), p. 176.
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rän-repräsentative Person nur die Seele des „großen Menschen" Staat ist, wird der Mechanisierungsprozeß durch diesen Personalismus nicht nur nicht aufgehalten, sondern sogar erst vollendet. Denn auch dieses personalistische Element wird in den Mechanisierungsprozeß hineingezogen und geht darin unter. Der Staat ist ja als Ganzes, mit Leib und Seele, ein homo artificialis und als solcher Maschine. Er ist ein von Menschen verfertigtes Werk, bei dem Stoff und Künstler, materia und artifex, Maschine und Maschinenbauer dasselbe sind, nämlich Menschen. Auch die Seele wird dadurch zum bloßen Bestandteil einer künstlich von Menschen gemachten Maschine. Das Endergebnis ist infolgedessen nicht ein „großer Mensch", sondern eine „große Maschine", ein riesenhafter Mechanismus zur Sicherung des diesseitigen physischen Daseins der von ihm beherrschten und beschützten Menschen. Weder die vordergründige Drapierung mit dem phantastischen Bild des Leviathan, noch die zeitgeschichtlich gebundene Beseelung durch eine souverän-repräsentative Person vermögen etwas daran zu ändern, daß der Staat durch Hobbes zur großen Maschine geworden ist. Darin liegt die im Sinne der technisch-industriellen Revolution bahnbrechende Wirkung seiner Staatsphilosophie, deren eigentlich revolutionären Charakter Auguste Comte mit seiner großen geschichtlichen Intuition zuerst und am klarsten erkannt hat.[7] Der Staat, der im 17. Jahrhundert entstand und sich auf dem europäischen Kontinent durchsetzte, ist in der Tat ein Menschenwerk und von allen früheren Arten der politischen Einheit unterschieden. Man kann ihn als das erste Produkt des technischen Zeitalters ansehen, als den ersten modernen Mechanismus großen Stils oder, nach der treffenden Formulierung von Hugo Fischer, als die „machina machinarum".[7a] Mit ihm ist nicht nur eine wesentliche geistesgeschichtliche oder soziologische Voraussetzung für das folgende technisch-industrielle Zeitalter geschaffen; er ist bereits selbst ein typisches, sogar prototypisches Werk dieser neuen Zeit. Durch ihn ändern sich daher Recht und Gesetz und alle Begriffe des öffentlichen Lebens. „Das Positive wird zum letzten Geltungsgrund für uns 12 ." Recht wird positives Gesetz, Gesetzlichkeit wird Legalität, Legalität der positivistische Funktionsmodus der staatlichen Maschinerie. Für diese Art Legalität sind alle mittelalterlichen Rechtsbegriffe und Einrichtungen, insbesondere das feudale oder das ständische Widerstandsrecht, nur Störungen, die beseitigt werden müssen. [8] Aber diese Vergesetzlichung führt auch, wie jede Technisierung, zugleich neue Berechenbarkeiten ein, infolgedessen auch neue Möglichkeiten der Beherrschung dieser Maschine, der Sicherheit und Freiheit, so daß sich schließlich ein neuer spezifischer Begriff des „Rechtsstaates" im Sinne des durch Gesetze berechenbar gemachten staatlichen Funktionierens durchsetzt. Das alles ist bei Hobbes schon erkennbar vorhanden. Mit der Vorstellung des Staates als eines solchen Mechanismus ist der entscheidende metaphysische Schritt getan. Alles weitere, z. B. die Entwicklung vom Uhrwerk zur Dampfmaschine, zum Elektromotor, zum chemischen oder biologischen 12
C. A. Emge, Ein Rechtsphilosoph wandert durch die alte Philosophie, Berlin 1936, S. 72.
10 Staat, Großraum, Nomos
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Prozeß, ergibt sich mit der weiteren Entwicklung der Technik und des naturwissenschaftlichen Denkens von selbst und bedarf keines neuen metaphysischen Entschlusses. Durch die Mechanisierung des „großen Menschen", des ^idxQog dv^QCOJtog, hat Hobbes aber auch für die anthropologische Deutung des Menschen über Descartes hinaus einen folgenreichen weiteren Schritt getan. Die erste metaphysische Entscheidung fiel allerdings bei Descartes in dem Augenblick, in dem der menschliche Körper als Maschine und der aus Leib und Seele bestehende Mensch im Ganzen als ein Intellekt auf einer Maschine gedacht wurde. Die Übertragung dieser Vorstellung auf den „großen Menschen" Staat lag nahe. Sie wurde durch Hobbes vollzogen; aber sie führte, wie gezeigt, dazu, daß sich nun auch die Seele des großen Menschen in einen Maschinenteil verwandelte. Nachdem auf solche Weise der große Mensch mit Leib und Seele zur Maschine geworden war, wurde eine Rückübertragung möglich und konnte auch der kleine Mensch zum homme-machine werden. Erst die Mechanisierung der Staatsvorstellung hat die Mechanisierung des anthropologischen Bildes vom Menschen vollendet. Ein Mechanismus ist keiner Totalität fähig. Ebensowenig kann die reine Diesseitigkeit des individuellen physischen Daseins zu einer sinnvollen Totalität gelangen. Wenn Wort und Begriff der Totalität prägnant bleiben und nicht zu einem irreführenden Schlagwort herabsinken sollen, muß der Totalität eine spezifische philosophische Beziehung zugrunde liegen. Man kann sie, mit C. A. Emge, in der „endlichen Unendlichkeit" der Philosophie Hegels erblicken. Das scheint mir richtiger als der Versuch von E. Voegelin, alle Totalitätsvorstellungen auf eine averroistische Substanzidentität von Glied und Ganzem zurückzuführen 13. Welche anderen philosophischen Systeme den Begriff von Totalität ermöglichen, kann hier offen bleiben; daher lasse ich auch eine von E. Peterson geäußerte Ansicht beiseite, nach der die „totalen" Begriffe der Neuzeit überhaupt nicht als Begriffe, sondern als Mythen gemeint sind, [9] Totalisierung also Mythisierung bedeutet, wodurch die Philosophie von Schelling oder Georges Sorel die solchen Totalitätsvorstellungen spezifisch zugeordnete philosophische Gedankenwelt würde. Jedenfalls ist die „irdische Göttlichkeit", die Hegel dem weltgeschichtlich führenden Volke zuschreibt, einer Totalität in dem spezifischen Sinne der „endlichen Unendlichkeit" und einer typischen Verbindung von Immanenz und Transzendenz besonders fähig 1 4 . Daher ist der „irdische Gott" der Philosophie Hegels auch präsenter Gott, 13 E. Voegelin, Der autoritäre Staat, Wien 1936, S. 23. 14 H. Welzel, Über die Grundlagen der Staatsphilosophie Hegels (in der Sammlung Volk und Hochschule im Umbruch, Oldenburg 1937, S. 100), zitiert den Satz Hegels aus der Philosophie der Weltgeschichte (S. 119 der Jubiläumsausgabe), wonach die Prinzipien der Volksgeister in einer notwendigen Stufenfolge selbst nur Momente des Einen allgemeinen Geistes sind, „der durch sie in der Geschichte sich zu einer sich erfassenden Totalität erhebt und abschließt". Welzel hebt den universalistisch-geistigen, von dem „chtonischen Mächten abgespaltenen" Charakter des Hegeischen Volksbegriffes hervor. Ich will dem nicht widersprechen, glaube aber doch nicht, daß Hegel dadurch zu einem Averroisten wird, ebensowenig wie Aristoteles durch die Vorstellung eines „göttlichen Rund in sich selbst". - Nach der Drucklegung meines Aufsatzes sind mir noch zwei weitere, neuere Äußerungen zu dem
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numen praesens, und nicht Repräsentation. Er hat mit dem „sterblichen Gott" der Staatsphilosophie des Hobbes keinerlei geistige Verwandtschaft. Dessen „deus mortalis" ist vielmehr eine Maschine, deren „Sterblichkeit" darin besteht, daß sie eines Tages durch Bürgerkrieg oder Rebellion zerbrochen wird.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Hobbes, De Cive, Wolesworth-Edition, Opera latina, II, S. 135: „Profecto utrumque vere dictum est, homo homini deus, et homo homini lupus. Illud, si concives inter se; hoc, si civitates comparemus." Zum Ursprung d. Formel: F. Tricaud, „Homo homini Deus", „Homo homini lupus": Recherche des Sources des deux Formules de Hobbes, in: R. Koselleck / R. Schnur (Hrsg.), Hobbes-Forschungen, 1969, S. 61 - 70. Die Formel scheint zu Hobbes' Zeiten europ. Allgemeingut gewesen zu sein. Baltasar Graciän konstatiert in s. Roman „El Criticön", der 1651, also im gl. Jahr wie Hobbes' „Leviathan" erschien: „... cada uno es un lobo para el otro" (El Criticön, Ausg. M. Romera Navarro, Philadelphia 1938/39,1, S. 148). [2] Vgl. Sir Isaac Newton's Mathematical Priciples of Natural Philosophy and his System of the World. Translated into English by Andrew Motte in 1729, the translation revised by Florian Cajori. 2 vols., Berkeley / Los Angeles 1934, Bd. II, S. 544: „This Being governs all things, not as the soul of the world, but as Lord over all; and on account of his dominion is wont to be called Lord God . . or Universal Ruler; for God ist a relative word, and has respect to servants . . . ". Zur Theologie Newtons vgl. bes.: Frank E. Manuel, The Religion of Isaac Newton, Oxford 1974, Clarendon, u. J. E. Force / R. H. Popkin (Hrsg.), Essay on the Context, Nature, and Influence of Isaac Newton's Theology, Dordrecht 1990. [3] Nach Horaz, Satiren, I, 10, 24: Naturam expellas furca; tamen usque recurret: Treibst Du die Natur mit der Forke aus, so kehrt sie doch stets zurück. [4] Aufschlußreich ist auch der weit unbekanntere Artikel Capitants, „Thomas Hobbes et le Troisieme Reich", in: L'Allemagne contemporaine, 6. 4. 1936, S. 55 - 57, in dem er sich politisch deutlicher äußert. Capitant (1901 - 1970) rezensierte Schmitts „Der Hüter der Verfassung" in: Politique, mars 1932, S. 216 - 29 („Le role politique du president du Reich") und bemühte sich ab 1934 darum, „das parlamentarische System Frankreichs durch vernünftige Reformen zu retten" (Schmitt, Positionen und Begriffe, 1940, S. 227 f.); vgl. den das Grundsätzliche herausarbeitenden Aufsatz v. Capitant, La crise de la reforme du PariaProblem der „Totalität" bekannt geworden: Norbert Gürke nimmt in der Zeitschrift „Völkerbund und Volkerrecht", Juli 1937, zu dem Begriff des totalen Krieges Stellung, wobei er von einem Begriff des Politischen ausgeht, der vor dem politischen Ernstfall, dem Krieg, die Augen verschließt, daher auch keinen Feind sehen will und eben dadurch zu einer Totalität gelangen möchte. William Gueydan de Roussel, der den deutschen Lesern durch seinen Aufsatz „Der demaskierte Staat", Europäische Revue, September 1936, bekannt geworden ist, hält in einem noch nicht veröffentlichten, mir freundlicherweise zugänglich gemachten Aufsatz gerade die Vorstellung des „Mechanismus" bei Hobbes für mythisch-romantisch, wie er auch die ganze Wissenschaftsvorstellung des 17. - 19. Jahrhunderts für einen Mythos und den heutigen Prozeß der Totalisierung nur als ein dialektisch notwendiges Stadium des großen Neutralisierungsprozesses erklärt, durch den „Totalität" der Gegenbegriff gegen „Universalität" wird. 10*
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mentarisme en France. Chronique constitutionnelle fran?aise (1931 - 1936), in: JöR, 1936, S. 1 -71. Besonderes Interesse entwickelte C. für die Frage der legislativen Delegationen. In den 30er Jahren kam es zu einem kurzen Briefwechsel; so beglückwünschte Capitant am 28. 7. 1938 Schmitt zum „Leviathan" und bewunderte „la richesse et la penetration" (HSTAD-RW 265, 346). Über das Verhältnis der Werke beider Autoren vgl. A. Caracciolo, Carl Schmitt, Rene Capitant e la dottrina dei limiti materiali, in: Diritto e societä, 3 / 1986, S. 504 - 22, u. X. Marchand, Carl Schmitt, Rene Capitant et les doctrines institutionnels, Paris 1992, Broschüre d. GRECE. Capitants wichtigste Schriften liegen inzw. gesammelt vor: Ecrits politiques, Paris 1971, Flammarion, u.: Ecrits constitutionnels, Paris 1982, C.N.R.S. - Nicht zuletzt dank der Anregungen Schmitts darf Capitant ein gewisser Einfluß auf die Verfassung de Gaulles v. 4. 10. 1958 eingeräumt werden, vgl. A. Möhler, Die Fünfte Republik, 1963, S. 277 f.; P. Zürn, Die Republikanische Monarchie - Zur Struktur der Verfassung der V. Republik in Frankreich, 1965, S. 20, 34, 44. - C. war ein früher, scharfer Kritiker des Nationalsozialismus, vgl. dazu L. Dupeux, Francia, 1977, S. 627 - 37. [5] Vgl. zu dieser These Schmitts die u. E. überzeugenden Einwände von Helmut Schelsky, Die Totalität des Staates bei Hobbes, ARSP, 1937 / 38, S. 176 - 193, S. 190 f., FN 11. [6] Vgl. Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humaine / Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, 1963, zweisprachige Ausgabe, hrsg. v. W. Alff, 1963, bes. S. 344 - 399, „Des progres futurs de l'esprit humain". Grundsätzlich: I. G. Frazer, Condorcet on the Progress of the Human Mind, Oxford 1933. - Th. A. Spragens, Jr., The Politics of Inerta & Gravitation - The functions of exemplar Paradigms in Social Thought, in: Polity, Nr. 5, 1972 / 73, S. 288 - 310; d. Autor vergleicht Hobbes mit Condorcet und Diderot und legt dar, wie man bei vergleichbaren theoretischen Ausgangspunkten zu unterschiedlichen politischen Schlußfolgerungen gelangen kann. [7] Für Comte ist Hobbes der „wahre Vater" der negativen Philosophie des Zeitalters der Kritik, das als Vorstufe des positiven, soziologischen Zeitalters von Bedeutung ist, vgl. Comte, Die Soziologie - Die positive Philosophie im Auszug, hrsg. v. F. Blaschke, Leipzig 1933, S. 307 f. In s. „Calendrier positiviste", dessen 11. Monat „Descartes" heißt, figuriert Hobbes als Patron des 8. Tages, vgl.: Comte, Du pouvoir spirituel, Paris 1978, S. 509. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, 9. Aufl. 1970, S. 357 f. deutet Hobbes als „Station" auf dem Wege zu Comte. Zu Hobbes-Comte vgl. a.: F. Tönnies, Thomas Hobbes. Leben u. Werk, 3. Aufl., 1925, S. 272 f. u. Schmitt, Die vollendete Reformation, Der Staat, 4/1965, S. 51 - 69, 69. [7a] Der Philosoph Hugo Fischer (1897 - 1975) lehrte in Leipzig v. 1925 b. 1938 u. gab dort v. 1927 b. 1934 die „Blätter für Deutsche Philosophie" heraus; er wanderte 1938 freiwillig nach England aus und kehrte 1956 nach Deutschland zurück. Sein Briefwechsel mit Schmitt ist außerordentlich bedeutend; eine (sehr bescheidene) Auswahl bei: P. Tommissen, Schmittiana I, 2. Aufl., Brüssel 1988, S. 88 - 107. Fischers Definition des Staates als „machina machinarum" ist wohl gesprächsweise gefallen; vgl. jedoch seine Betrachtungen zum Staat als Maschine in: Karl Marx und sein Verhältnis zu Staat und Wirtschaft, 1932, bes. S. 87 ff.; Lenin - der Machiavell des Ostens, 1933, bes. S. 141 ff. Zu Fischer: A. Möhler, Hugo Fischer (1897 - 1975), in: ders., Tendenzwende für Fortgeschrittene, 1978, S. 115 ff. [8] Vgl. dazu die Rezension Schmitts zu dem Buch von P. C. Mayer-Tasch, Thomas Hobbes und das Widerstandsrecht, Tübingen 1965, in: HPB, 1965, S. 202. Implicit scheint
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Schmitt hier auf s. These, es gäbe kein Widerstandsrecht bei Hobbes, zu verzichten. Zum Buche von Mayer-Tasch vgl. auch H. Hofmann, Bemerkungen zur Hobbes-Interpretation, AöR, 1966, S. 122 - 135, u. B. Willms, Von der Vermessung des Leviathan, Der Staat, 1967, S. 75 - 100, 220 - 236, hier S. 98 ff. [9] Petersons Stellungnahmen zur Hobbes-Deutung Schmitts werden vorgestellt von: B. Nichtweiss, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, 1992, S. 734 f., 740. Die Autorin weist auf eine Postkarte Petersons v. 13. 8. 1938 hin, in der es u. a. heißt: „ . . . die Polemik gegen die potestas indirecta hat nur dann einen Sinn, wenn man darauf verzichtet hat, ein Christ zu sein und sich für das Heidentum entschieden hat".
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den Schmitt zum 300. Jahrestag des Erscheinens von Descartes' „Discours de la methode" in Berlin hielt. Schmitt regte auch C. A. Emge an zur Herausgabe des Sonderheftes „Dem Gedächtnis an Rene Descartes", Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, XXX, 1936 / 37, in dem vorl. Aufsatz S. 622 - 32 veröffentlicht wurde; der Sonderdruck ist paginiert mit S. 158 - 68. Es existieren zwei italienische Fassungen: II Centauro, Gennaio-aprile 1984, S. 169 - 77, a cura di Angelo Bolaffi, mit einer Einführung Bolaffis ebd., S. 161 - 168, u. in: Schmitt, Scritti su Thomas Hobbes, a cura di Carlo Galli, Mailand 1986, Giuffre, S. 45 - 69. Eine französische Fassung erschien in: Les Temps Modernes, Novembre 1991, S. 1 - 14, übers, v. M. Koller u. D. Seglard. Man kann den Aufsatz als „Urtext" (so Galli) von Schmitts Buch ü. Hobbes ansehen. Vgl. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, Hanseat. Verlagsanstalt; Ndr. Köln - Lövenich 1982, Verlag Hohenheim, hrsg. v. G. Maschke, mit Beilagen u. Kommentar. Den Thesen Schmitts widersprach H. Schelsky in der gl. Ztschr. mittels s. Aufsatzes „Die Totalität des Staates bei Hobbes", ARSP, 1937 / 38, S. 176 - 193. Schelskys Ausgangspunkt war, daß „ein philosophisches Denken, das ohne Vorbehalte den Primat des Politischen anerkennt, . . . niemals im Tiefsten individualistisch, rationalistisch und mechanistisch sein (könne)". Schelsky baute seine Kritik an Schmitt in s. Habil.-Schr. v. 1941, „Thomas Hobbes - eine politische Lehre", jetzt Berlin 1981, weiter aus; nunmehr schon auf Schmitts Buch bezugnehmend. Die Erörterungen zu Schmitts Hobbes-Buch gelten mehr o. minder auch für den hier abgedruckten Text, vgl. u. a.: Schachtschabel, ZfP, 1938, S. 641; D. Cantimori, Studi germanici, 1938, S. 210 - 215; Koellreutter, Leviathan und totaler Staat, RVerBl, 17. 9. 1938, S. 803 - 807; I. Zeiger SJ, Stimmen der Zeit, 1939, S. 266; J. Gasse, AöR, 1939, S. 249 251; N. Bobbio, Rivista di filosofia, 1939, S. 283 f.; J. Evola, Lo Stato, 1939, S. 24 - 33; Verdroß, ZÖR, 1939, S. 185 ff.; Friedrich, Archiv f. evang. Kirchenrecht, 3/1939, S. 76 - 80; Welzel, Krit. Vierteljahresschrift f. Gesetzgebung u. Rechtswissenschaft, 1939, S. 337 ff.; P. Kern (= R. König), Maß u. Wert, 1939, S. 673 - 79; Forsthoff, Ztschr. für Dt. Kulturphilosophie. N. F. des Logos, 1941, S. 206 - 214; J. v. Kempski, Von Theorie und Mythos der Macht, Europ. Revue, Jan. 1942, S. 48-55; J. Caamano Martinez, Sobre el concepto Schmittiano de guerra discriminatoria, Revista Espanola de Derecho Internacional, 1946, S. 457 - 66 (bes. S. 458); v. Krockow, Soziologie des Friedens, 1962, S. 66 - 70; D. Braun, Der sterbliche Gott o. Leviathan gg. Behemoth, I, 1963 (dazu: Schmitt, Die vollendete Reformation - Zu neuen Leviathan-Interpretationen, Der Staat, 1965, S. 51 - 69; Ndr. in: Schmitt, Der Levia-
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than i. d. Staatslehre d. Thomas Hobbes, Ausg. 1983, S. 137 - 178); Jänicke, Die »abgründige Wissenschaft 4 vom Leviathan, ZfP, 1969, S. 401 - 15; M. Tronti, Hobbes e Cromwell, in: ders. (Hrsg.), Stato e rivoluzione in Inghilterra, Mailand 1977 (II Saggiatore), S. 183 - 329; A. Illuminati, Da Hobbes a Tronti, Aut-Aut, 165 - 66/1978, S. 152 - 57; R. Heger, Die Politik des Thomas Hobbes, 1981, S. 83 - 90; O. Negt/A. Kluge, Geschichte und Eigensinn, 1981, S. 1019 - 27; A. Biral, Schmitt interprete di Hobbes, in: G. Duso (Hrsg.), La politica oltre lo Stato: Carl Schmitt, Venedig 1981 (Arsenale), S. 103 - 125; Rottleuthner, Leviathan u. Behemoth, ARSP, 1983, S. 247 - 65; Münkler, Carl Schmitt u. Thomas Hobbes, NPL, 1984, S. 352 - 56; V. Neumann, Schatten u. Irrlichter, Leviathan, 1984, S. 28 - 38; G. Gömez Orfanel, Excepciön y normalidad en el pensamiento de Carl Schmitt, Madrid 1986, S. 110 - 123; Dotti, El Hobbes de Schmitt, Cuadernos de filosofia, Buenos Aires, Mayo 1989, S. 57-69; P. Gottfried, Carl Schmitt. Politics and Theory, New York 1990, S. 74 f.; W. Palaver, Politik und Religion bei Thomas Hobbes, Innsbruck 1991, ö.; P. Bookbinder, Carl Schmitt, Der Leviathan, and the Jews, International Social Science Review, 66/1991, S. 99 - 109; M. Tronti, Leviathan in interiore homine, in: ders., Con le spalle al futuro. Per un altro dizionario politico, Rom 1992, S. 87 - 102; Moltmann, Covenant oder Leviathan? - Zur Politischen Theologie der Neuzeit, Zeitschrift f. Theologie u. Kirche, 3 / 1993, S. 299 - 317, bes. S. 311 ff.; J. A. Barash, Hobbes, Carl Schmitt et les apories du decisionnisme politique, Les Temps modernes, 565 / 66, 1993, S. 157 - 173; A. Schaefer, Die Idee in Person. Hobbes' Leviathan in seiner und unserer Zeit, 1993, bes. S. 84 ff., 130 f.; von bes. Bedeutung wohl: Th. Heerich/ M. Lauermann, Der Gegensatz Hobbes - Spinoza bei Carl Schmitt (1938), Studia Spinozana, Vol. 7, 1991 (recte: 1993), S. 97 - 160 (mit Lit.). Die gesamte Literatur zum Thema Hobbes Schmitt ist inzwischen kaum noch übersehbar, hingewiesen sei auf: K. M. Kodalle, Carl Schmitt und die neueste Hobbes-Literatur, Philosoph. Rundschau, 18 / 1971, S. 116 - 30; H. Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, 1972; B. Willms, Der Weg des Leviathan, 1979, bes. S. 114 - 29; K. Schulz, Thomas Hobbes u. Carl Schmitt, Univ. Roskilde / Dänemark 1980. Ulrich Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart / Bad Cannstatt 1980, entwickelt die interessante These, Hobbes' Denken sei nicht mechanistisch gewesen, sondern kybernetisch - doch habe ihm die dazu notwendige Begrifflichkeit u. Terminologie gefehlt, vgl. dort bes. S. 117 ff. - Zum von Schmitt hier skizzierten Problem ausführlich: B. Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine - Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaates, 1986, mit zahlr. Bezugnahmen. Der von Schmitt in Fn. 14 erwähnte Aufsatz von Gueydan de Roussel ist nicht publiziert worden; das Manuskript ging leider verloren (freundl. Mitteilung von Herrn Gueydan de Roussel v. 13. 12. 1992). Vgl. statt dessen von diesem Schüler und Freund Schmitts: Le Leviathan et l'Etat moderne, in: Revue internationale de sociologie, Mai 1939, S. 185 - 89 (zu Schmitts „Leviathan") u. Leviathan et Homo - Hommage ä Carl Schmitt, Epirrhosis, FS zum 65. Geburtstag Schmitts, maschinenschriftl., Academia Moralis, Düsseldorf, 11.7. 1953, 12 / II S. De Roussel deutet hier den aus Menschen zusammengesetzten Leviathan als Sakralisierung d. Menschen durch d. Menschen u. als Beleg für den „culte de l'homme" u. kommt zu dem Schluß: „Et le culte de l'homme devint le culte secret du demon" (S. 7); hingewiesen wird auf die „cooperation occulte entre la Franc-magonnerie et le Leviathan" (S. 11) und auf das antichristliche Zusammenspiel von Wissenschaft, Maschine und der Hoffnung auf einen „Etat mondial". Beide Aufsätze, leicht umgearbeitet, jetzt in spanischer Sprache in: Guillermo Gueydan de Roussel, El Verbo y el Anticristo, Buenos Aires 1993, Ediciones Gladius, S. 11 - 18, 57 - 68. Diese Essaysammlung enthält, ebenso wie der Band „Verdad y mitos",
Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes
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ebd., 1987, zahlreiche Überlegungen zu Schmitt, Hobbes und zur Land-Meer-Problematik; vgl. im zuletzt genannten Buch vor allem d. Aufsatz „El misterio de la Francmasoneria. Valor simbölico de los elementos", S. 67 - 80. - Im Gegensatz zu Schmitt steht de Roussel Hobbes außerordentlich feindselig gegenüber u. hält ihn für einen Atheisten; dabei geht er von einem schroff traditionalistischen Katholizismus aus. Deshalb erstaunen sowohl Schmitts positive briefliche Reaktionen auf de Roussels Hobbes-Arbeiten wie dessen mit seinen Thesen kaum in Einklang zu bringendes Lob der Hobbes-Deutung Schmitts - selbst dann, wenn man Schmitts Reserven ggü. Hobbes sehr hoch ansetzt. Bei de Roussel ist der Leviathan des Hobbes der Satan bzw. dessen Symbol, kaum anders als bei einigen Kirchenvätern, die die hellenistische Meeresdämonologie aufnehmen u. weiterführen, etwa St. Hieronymus, Comm. in Isaiam (8 zu 27,1), PL 24, 306 A; Gregor d. Große, Moralia, PL 76, 682 f.; Hrabanus Maurus, Allegoriae, PL 112, 893 c; Hugo v. St. Viktor, De Bestiis, PL 177, 72; vgl. dazu auch die vielen Hinweise bei: H. Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, 1964, S. 280 - 303 („Das bittere Meer", „Das böse Meer"). - Zum Leviathan als eschatolog. Gegenspieler vgl.: J. Ernst, Die eschatologischen Gegenspieler in den Schriften d. Neuen Testaments, 1967, S. 251 - 63; zu Leviathan (u. Behemoth) im Buche Hiob vgl. u. a. d. Kommentar von A. de Wilde, 1981, S. 380 - 94. - Zum Leviathan in der vorchristl. Mythologie: O. Kaiser, Die mythische Bedeutung d. Meeres in Ägypten, Ugarit u. Israel, 2. Aufl. 1962, S. 145 - 152 (ein Buch, das Schmitt kannte u. schätzte). - De Roussel, geb. 1908 in Lausanne, wanderte 1948 nach Argentinien aus. Er lernte Schmitt 1934 in Berlin kennen, als er seine „these" („L'Evolution du pouvoir executif en Allemagne (1919 - 1934)", Paris 1935) vorbereitete. Vgl. dazu de Roussels Aufsatz „Carl Schmitt, philosophe catholique et confesseur", in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 52 - 62, mit Hinweisen d. Herausgebers zu Werk u. Person. De Roussel übersetzte auch „Der Begriff des Politischen" (Considerations politiques, Paris 1942) und „Legalität und Legitimität" (Legalite, Legitimite, Paris 1936). - Zu Descartes, in Schmitts Überlegungen stark i. d. Hintergrund gedrängt, vgl. von K. Th. Buddeberg, Descartes u. d. polit. Absolutismus, S. 541 - 560 des o. a. Sonderheftes d. ARSP, sowie von R. Specht, Ü. Descartes' polit. Ansichten, Der Staat, 3/1964, S. 281 294.
Dreihundert Jahre Leviathan
Im Jahre 1651 erschien in London das Buch des Thomas Hobbes, das den Titel „Leviathan" führt. Der Verfasser, damals 63 Jahre alt und in den Erfahrungen des Bürgerkrieges gereift, wurde am 5. April 1588 geboren. Inzwischen ist der Leviathan zu einem Symbol staatlicher Allmacht geworden, von dem sich alles mit Entsetzen abwendet.
Wir wären tatsächlich Narren, wenn wir den Moloch feierten, der uns zu verschlingen droht. Aber wir würden uns selbst betrügen, wenn wir die Augen schließen wollten vor einer Wirklichkeit, die uns täglich stärker erfaßt. Der Leviathan erscheint in vielen Gestalten, als sterblicher Gott und großer Mensch, als großes Tier und große Maschine. Jeder gute Christ weiß, wie stark die Fänge und die Wampen des Leviathan sind. In seinem Roman „Leviathan" (1929) hat Julien Green die schauerliche Lebenskraft des großen Tieres geschildert. In der Zukunftsvision von Orwell „1984" werden alle kollektivistischen Konsequenzen der großen Maschine gezogen. Diese Zukunftsvisionen erscheinen heute Vielen, wenigstens potentiell, in allen ihren technischen Voraussetzungen bereits vorhanden. Die soziale Erfassung und Vereinnahmung ist mit der modernen Technik von selbst gegeben und unentrinnbar. Überall erweist sich der Sozialstaat als der stärkere, wenn er mit dem alten Rechtsstaat in Kollision gerät. Da ist es ehrlicher, die Augen nicht zu schließen und auch in der Gefahr nicht aufzuhören, sich seines Verstandes zu bedienen. Das nämlich und nichts anderes hat Hobbes 1 in seinem berüchtigten Buch getan. Aber die Menschen brauchen nun einmal einen Sündenbock, und das Einfachste ist es, den Wehrlosesten zum Schuldigen zu erklären. Der Wehrloseste ist in diesem Fall der Intellektuelle, der Autor des Buches, das den Titel „Leviathan" führt. Ihn hat man zum Urheber und Erfinder des Monstrums selber gemacht, das er so intelligent behandelt. Nichts ist leichter, als das Publikum eines Kurortes gegen den Arzt zu hetzen, der einen Pestfall diagnostiziert. Das ist jedenfalls leichter, als das medizinische Studium der Pest und ihrer Therapie. Nichts glauben die Menschen lieber, als daß der Autor eines Buches über den Leviathan seinem Gegenstand die blutbesudelten Stiefel leckt. So wurde denn der alte Hobbes zu dem gleichen Schreckbild wie das Thema seines wissenschaftlichen Studiums. Er wäre sicher der verrufenste aller Sündenböcke geworden, wenn dieser Posten nicht bereits i John Bowle (author of Western Political Thought): Hobbes, A Study in 17th Century Constitutionalism. 10 sh. 6 d., by Jonathan Cape, London 1951. - Die Ankündigung in den Zeitungen und Zeitschriften, z. B. Spectator vom 31. 8. 1951, nimmt Bezug darauf, daß Hobbes' Leviathan vor 300 Jahren erschienen ist.
Dreihundert Jahre Leviathan
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durch Machiavelli gut besetzt gewesen wäre. Darüber hat sich der Herausgeber der letzten, vor einiger Zeit in Oxford erschienenen „Leviathan"-Ausgabe, Michael Oakeshott, mit englischem Humor geäußert.[l] Mit dem Sündenbock Machiavelli verhält es sich folgendermaßen. Wäre Machiavelli wirklich ein Machiavellist gewesen, so hätte er nicht seine berüchtigten Schriften, sondern erbauliche, von Friedensbeteuerungen strotzende, direkt antimachiavellistische Bücher geschrieben, in denen er alle seine Gegner für Schufte und Verbrecher erklärt, denen er aber gern zu verzeihen bereit ist, wenn sie sich nur belehren lassen. Das wäre echter Machiavellismus gewesen. [2] Heute weiß doch jeder, wie das gemacht wird. Und wäre Hobbes wirklich der Teufelsanbeter des Leviathan gewesen, so hätte er nicht der erste systematische Denker des modernen Individualismus werden können. Man braucht sein Buch nur einmal zu lesen, um zu sehen, daß er mehr Sinn für individuelle Freiheit hat als alle seine Kritiker. Er betont den Zusammenhang von Schutz und Gehorsam. Er kann Feind und Verbrecher unterscheiden und hat diese Grundlage allen menschlichen Rechts immer streng gewahrt. Er war der erste, der die Rückwirkung von Strafgesetzen für Unrecht erklärte und die naturrechtlichen Verwischungen dieses Grundsatzes überwand. Sein glücklicherer Rivale Locke kam eine Generation später, als der Bürgerkrieg zu Ende und die Situation wieder normal geworden war. Es gibt eben glückliche Zeiten, in denen es leicht ist, ein freiheitliches Gemeinwesen zu konstruieren. Man soll sich solcher Zeiten freuen, aber man sollte nicht diejenigen verunglimpfen, die in härteren Zeiten zu retten suchen, was zu retten ist. Wer einmal in die Rolle des Sündenbockes geraten ist, hat es schwer. Der Sündenbock hat kein Recht auf Gehör und keine Aussicht auf Gnade. Das liegt in der Natur der Sache. Er soll ja für alle bezahlen, und wenn die Menschen sich einmal auf einen tragfähigen Sündenbock geeinigt haben, werden sie nicht leicht auf ein so nützliches Tier verzichten. Trotzdem vollzieht sich mit Bezug auf Hobbes ein offensichtlicher Wandel. Ich denke dabei nicht nur an die vorzüglichen neuen Ausgaben der letzten Jahre (wie die eben erwähnte „Leviathan"-Ausgabe von Michael Oakeshott und die de-Cive-Ausgabe von Norberto Bobbio, Turin 1948),[3] sondern an zwei Aufsätze dieser letzten Monate, in denen sich die Spaltung Deutschlands, ja Europas spiegelt. Beide Aufsätze sind unabhängig voneinander und unabhängig von der Erinnerung an den dreihundertsten Jahrestag des „Leviathan" erschienen. In der ostzonalen Zeitschrift „Sinn und Form" (herausgegeben von der Deutschen Akademie der Künste, Potsdam 1950) schreibt Karl Polak einen Aufsatz „Thomas Hobbes und der Staat". Er schickt ein langes Motto von Stalin voraus und reklamiert Hobbes für die kommunistische Weltrevolution und die totale Vergesellschaftung.^] In der Westzone dagegen stellt der Münchner Rechtsphilosoph Kurt Schilling in einem Aufsatz über „Naturrecht, Staat und Christentum bei Hobbes" („Zeitschrift für philosophische Forschung", Meisenheim) die Frage, ob es heute noch einen anderen vernünftigen und gangbaren Ausweg aus den Gegensätzen unserer erstarrten Politik gäbe als die Staats- und Gesellschaftslehre des Hobbes, dessen naturrechtliche Grundlage ihn mit der katholischen Lehre verbinde, ohne in
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der mittelalterlichen Gemeinschaftsordnung zu verbleiben, und der zugleich die unkonfessionelle christliche Welt eines Leibniz, Kant, Fichte, Schelling und Hegel beeinflußt habe, ohne in den christlichen Nihilismus zu verfallen, zu dem Kurt Schilling in gewissem Sinne auch Karl Barth rechnet. [5] Was bedeuten diese merkwürdigen Thesen? Es zeigt sich, daß der Osten in Hobbes ein verwertbares Potential erblickt, ein wesentliches Stück des okzidentalen Rationalismus, den er für sich einsetzt, mag es sich nun um Atomkernforschung oder um Hegels Geschichtsdialektik handeln. I m Westen zeigt sich, daß die überkommene Diffamierung der Staatslehre des Hobbes in den Erfahrungen des heutigen Weltbürgerkrieges von selber aufhört. Deutschland ist das Feld, auf dem die Problematik dieses Rationalismus umschlägt und der Kampf um das große Erbe ausgetragen wird. Das ist ein weltgeschichtlicher Vorgang, zu dessen Erkenntnis auch der „Leviathan" des Thomas Hobbes gehört.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Hobbes, Leviathan, ed. M. Oakeshott, Oxford 1946. Auf S. LI der „Introduction" schreibt O.: „It is true that his age excused Spinoza what it condemned in Hobbes; but then Spinoza was modest and a Jew, while Hobbes was arrogant and enough of a Christian to have known better. And that the vilification of Hobbes was not greater in due only to the fact that Machiavelli had already been cast for the part of scapegoat for the European consciousness". Zur Verunglimpfung Machiavellis vgl.: Sebastian de Grazia, Machiavelli all'inferno, RomBari 1990 (Laterza). [2] Vgl. dazu später Schmitt, Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 123. Schmitt bezieht sich hier auf die Laudatio v. Manuel Fraga Iribarne v. 21. 3. 1962 anläßlich der Ernennung Schmitts z. Ehrenmitglied des Madrider Instituto de Estudios Polfticos. Schmitt revanchierte sich mit s. Vortrag „Die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg" (vorl. Bd., S. 592 - 618). Fraga sagte u. a.: „Dem Studenten, der mir sagt „Ich hoffe, daß Sie kein Machiavellist sind" würde ich mit den trefflichen Worten Schmitts antworten: „Sicherlich bin ich keiner. Außerdem: Machiavelli selbst war kein Machiavellist". Wenn er es gewesen wäre, „hätte er keine Bücher geschrieben, die ihm so schlechten Ruf einbrachten", sondern „fromme und erbauliche Bücher", eher einen „Anti-Machiavelli". „Ich schäme mich, Ihnen mitteilen zu müssen, daß ich gerade dabei bin, einen neuen „Anti-Machiavelli" zu publizieren." (M. Fraga Iribarne, Carl Schmitt: el hombre y la obra, Revista de Estudios Polfticos, März / April 1962, S. 5 - 16, hier 12). Fragas Buch: El nuevo anti-maquiavelo, Madrid 1962, Instituto de Estudios Polfticos, 128 S. Vgl. auch Schmitt, Glossarium, 1991, S. 49 (24. 11. 47) u. S. 55 (2. 12. 47). [3] Vgl. Schmitts anonym erschienene Rezension von Bobbios Edition in: Universitas, 1949, H. 3, S. 330. [4] K. Polak, Thomas Hobbes und der Staat, Sinn und Form, H. 6, 1950, S. 133 - 150. Das Motto Stalins lautete: „Der Überbau wird von der Basis hervorgebracht, aber das bedeutet keineswegs, daß er die Basis nur widerspiegelt, daß er passiv, neutral ist, daß er dem Schicksal seiner Basis, dem Schicksal der Klassen, dem Charakter des Systems gegenüber
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gleichgültig ist. Im Gegenteil, einmal in die Welt gesetzt, wird er zu einer riesigen aktiven Kraft, hilft er aktiv seiner Basis, Form anzunehmen und sich zu festigen, ergreift er alle Maßnahmen, um der neuen Ordnung zu helfen, die alte Basis und die alten Klassen zu erledigen und zu liquidieren." - Karl Polak (1905 - 63) hatte 1935, in der Zeitschrift „Sovetkoje Gosudarstwo" („Sowjetstaat"), H. 4, den Aufsatz „Carl Schmitt als Theoretiker des Staatsrechts des deutschen Faschismus" veröffentlicht (in russischer Sprache); dieser Text deutsch in: ders., Reden und Aufsätze. Zur Entwicklung der Arbeiter-und-Bauern-Macht, Berlin 1968, S. 53 - 78. Vgl. von Polak, der nach 1949 juristischer Chefberater Ulbrichts wurde, auch s. Schrift „Die Weimarer Verfassung, ihre Errungenschaften und Mängel - Ein Beitrag zur Gestaltung einer gesamtdeutschen Verfassung", Düsseldorf o. J. (wohl 1947), mit s. scharfen Kritik an Schmitt, S. 47 - 49. [5] K. Schilling, Naturrecht, Staat und Christentum bei Hobbes, Zeitschrift für philosophische Forschung, 1948, H. 2 / 3, S. 275 - 295.
Anhang des Herausgebers Der Artikel erschien zuerst am 5. 4. 1951 in „Die Tat", Zürich; er wurde nachgedruckt in „Universitas", H. 2, 1952, S. 179 - 181. Eine italienische Fassung u. d. T. „Trecenti anni di Leviatano" ist nachzulesen in: C. Schmitt, Scritti su Hobbes, a cura di Carlo Galli, Mailand 1986, Giuffre, S. 145 - 151. Zu Schmitt als Sündenbock - analog zu Machiavelli o. Hobbes vgl.: G. Dietze, Bürde Würde, in: Politische Lageanalyse, FS H. J. Arndt, Bruchsal 1993, San Casciano Verlag, S. 39 ff. Allgemein zur Bedeutung des Sündenbocks in der Politik und der polit. Theorie: Guiseppe Bonazzi, Colpa e potere - Sull'uso politico del Capro Espiatorio, Bologna 1983 (il Mulino).
Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahrhunderts Die folgenden Ausführungen gelten der Neuherausgabe des Aufsatzes „Zur Preußischen Verfassungsfrage". Stein hat diesen Aufsatz anonym (nur mit dem Buchstaben „S." gezeichnet) in Cottas „Deutscher Vierteljahrsschrift" 1852 veröffentlicht. Er legt dar, daß der Staat Preußen nach seiner Geschichte und bei seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur überhaupt „verfassungsunfähig" ist und die weitere Geschichte Preußens ein fortwährender Verfassungskonflikt sein wird. Erst wenn ganz Deutschland eine Verfassung hat, wird das preußische Verfassungsproblem gelöst werden können. Der Aufsatz, der erstaunliche Erkenntnisse und Voraussagen enthält, war so gut wie verschollen. Durch sein Buch „Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs" 1 und seine „Geschichte des französischen Strafrechts und des Processes"2 hatte sich Lorenz Stein als bedeutender und selbständiger, der politisch-sozialen Wirklichkeit zugewandter Weiterführer Hegels[ 1] erwiesen. Beide Werke sind große Leistungen nicht nur deutscher, sondern auch europäischer Wissenschaftlichkeit und beweisen zugleich die erstaunliche geistige Kraft des politisch erwachenden deutschen Bürgertums. Aus der „Kiel, am Ende des Jahres 1845" datierten Vorrede zur „Geschichte des französischen Strafrechts und des Processes" klingt der Stolz eines geschichtlichen Bewußtseins, das seiner europäischen Führerstellung sicher ist: „Die französische Jurisprudenz hat keine Rechtsgeschichte. Der Deutsche muß sich, will er ihn anders genießen, jenen Reichtum selber verarbeiten. Erst im Gegensatz zur anderen Individualität wird die eigene klar; indem wir sie am meisten zu verlassen scheinen, gewinnen wir sie am entschiedensten wieder. Und dies ist es daher, worauf es ankommt." Der junge deutsche Gelehrte konnte sich des „freien Blickes" rühmen, mit dem er „das Leben Europas als Eins, als Einen Gedanken der Gottheit zu erfassen" vermochte. Da traf den 33jährigen die Revolution des Jahres 1848.[2] Sie hat ihn nicht überrascht. Ihm war das innere Gesetz der sozialen Bewegung bekannt. Er hatte alles Wesentliche vorausgesagt und konnte 1849 erklären: „Die große Tatsache unseres Jahrhunderts hat die Richtigkeit der Vöraussagung bestätigt." Herrlich klingt der Schluß des Vorwortes zur „Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich" (1850): „Unser ist die Arbeit. Die Morgenstunde der Weltgeschichte mit ihrer kräf1 Leipzig 1842. Warnkönig, L. A., und L. Stein, Französische Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. 3, Basel 1846. 2
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tigen Belebung in den ersten Strahlen der nahenden Sonne hat unsere Zeit geweckt, hat ihr die Kraft, die Lust, das Vertrauen der Jugend gegeben. Wir wollen diese Stunde nicht verlieren."[3] Der kurze revolutionäre Ausbruch des Jahres 1848 ist trotz seines äußeren Mißerfolges das alles bestimmende Ereignis und teilt das Jahrhundert von sich aus ein. Von hierher, und zwar vom äußern Mißerfolg her, gewinnt man den Richtpunkt für eine tiefere Betrachtung der geistigen, politischen und sozialen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Die aus unermeßlichen Tiefen kommende europäische Bewegung ist sowohl in Frankreich wie in Deutschland steckengeblieben. Tief erschrocken warfen Völker und Regierungen die Schleier und die Schutzdeckel legitimistischer, legalistischer, cäsaristischer und anderer Restaurationen und Kompromisse über die für einen Augenblick sichtbar werdende Bedrohung alles dessen, was man in einer Biedermeierzeit für Sicherheit gehalten hatte. [4] So wurde die als Sozialismus, Anarchismus und Atheismus zutage tretende Problematik verschüttet. Mit seinem „unendlichen Drang zum Systematisieren, d. h. mit dem Erheben ins Allgemeine" (Hegel) hatte der deutsche Geist einen großen Siegeslauf begonnen. Er brach jetzt ab. Bald konnten Empiriker, Positivisten, Realisten, Historisten, Naturalisten und Spezialisten aller Art triumphierend verkünden, daß der natur- und geistphilosophische Traum „ausgeträumt" sei.[5] Jede bedeutende Wirkung, jeder spezifische Typus des 19. Jahrhunderts ist von diesem geschichtlichen Bruch her zu bestimmen. Die Generation, für die das Jahr 1848 das große Jugenderlebnis war, und deren Aufstieg ein oder mehrere Jahrzehnte nach 1848 einsetzte - ich nenne nur drei untereinander sehr verschiedene, aber in dieser Aufstiegslinie des äußeren Erfolges ähnlich laufende Schicksale: Otto von Bismarck, Richard Wagner und Johannes Miquel - blieben, auch als ihre Träger längst und höchst arriviert waren, von dorther geprägt, während bereits die folgende Generation, der dieses Erlebnis fehlte, weder von der unterdrückten Problematik des Jahres 1848, noch von den daraus sich ergebenden Kompromissen etwas ahnte oder begriff und sich eben dadurch selbst erledigte. Die großen Revolutionäre des Anarchismus, Nihilismus und Zentralismus, Proudhon, Bakunin und Friedrich Engels, wurden noch tiefer in Anarchismus, Nihilismus und Zentralismus hineingetrieben. Isolierte Partisanen, wie Bruno Bauer oder Max Stirner, versanken in eine ausweglose Einsamkeit. [6] Dazu kommt ein Heer von Emigranten aller Art. Das Wort „Reaktion" ist als Bezeichnung des 1850 nach dem äußern Mißerfolg einsetzenden Entwicklungsabschnittes nur eine allgemeine, mehr verschleiernde als enthüllende Kennzeichnung dessen, was infolge der Verschüttung der revolutionären Problematik in Europa eintrat. [7] Am tiefsten wirkte der Eindruck des gelungenen Staatsstreiches vom 2. Dezember 1851 und der weiteren zentralistischen und cäsaristischen Scheinerfolge Napoleons IIL Alle wurden dadurch in eine Verzweiflung hineingetrieben, mochten sie nun die Erfolge des neuen Cäsar verzweifelt bejahen oder ebenso verzweifelt verneinen. Für zahlreiche, nicht die schlechtesten Franzosen beginnt damit die „demission de la France".[8] Der Preuße Bruno Bauer, Urheber einiger verwegener „christlicher Attentate auf das Christentum",
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für den das Christentum als Rettung menschlicher Würde der politischen Machtkonzentration des Cäsarentums dialektisch notwendig zugeordnet ist, sieht in diesem Sieg von Diktatur und Zentralismus den Beweis dafür, daß die freiheitlichen, antizentralistischen germanischen Rassen in Frankreich erschöpft sind und Europa in ein Zeitalter des Cäsarismus und des Imperialismus eintritt. [9] Bis zu unsern Tagen ist die damals einsetzende Geschichtskonstruktion lebendig, die eine Parallele der demokratisch-cäsaristischen-zentralistischen Gegenwart mit dem Beginn der Zeit herstellt, die nach der christlichen Zeitrechnung der Anfang und Ursprung unseres Äons ist. Proudhon hat, zwei Generationen vor Oswald Spengler, unsere Zeit bereits 1861 als die mit der Schlacht bei Aktium einsetzende „ere actiaque" gekennzeichnet. [10] Der Widerstand gegen Cäsarismus und Zentralismus wurde in Frankreich auf der linken Seite durch Proudhon mit „anarchistischen", d. h. syndikalistisch-föderalistischen Zielen weitergeführt. In Deutschland war er ständischvölkisch-föderalistisch, wobei das Wort „föderalistisch" seine unheilvolle Verbindung mit der deutschen Staatlichkeit und Vielstaaterei nicht abzustreifen vermochte. [11] Damit geriet der an sich notwendige und lebendige antizentralistische Widerstand in die Fragestellung des alles beherrschenden Gegensatzes von preußischer Nichts-als-Staatlichkeit und österreichisch-habsburgischer Über-Staatlichkeit. Zwischen solchen Fronten mußte er bald versanden. Unser kurzer Blick auf die innere und tiefere Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt gleichzeitig die Linie des persönlichen Schicksals von Lorenz Stein erkennen. Dieser gehört mit seinem Jahrgang (1815) z. B. zu Bismarck, J. J. Bachofen oder Gottfried Kinkel. Doch hat Stein weder den großen Erfolg gehabt wie der erste, noch wurde er völlig isoliert, noch ist er, wie der dritte, emigriert. Für Stein, den Schleswig-Holsteiner, war die Revolution des Jahres 1848 zugleich eine heimatliche, eine nationale und eine europäische Angelegenheit^IIa] Der Mißerfolg aber traf ihn vor allem als den deutschen Denker von Staat und Gesellschaft. Denn sein Denken war konkret; es bildete einen wesentlichen Teil des im Denken erfaßten und begriffenen geschichtlichen Prozesses. Das Ende der europäisch-revolutionären Bewegung von Staat und Gesellschaft war für ihn zugleich das Ende des genialen philosophischen Vorstoßes, mit dem er die soziale Bewegung in Frankreich vor 1848 erkannt und begriffen hatte. Dieser große Antrieb ließ jetzt nach. Stein folgte 1855 einer Berufung nach Wien, wo er noch über dreißig Jahre als Professor der Nationalökonomie tätig war, als hochangesehener Lehrer und Autor der Verwaltungslehre und Finanzwissenschaft, viele gelehrte Werke veröffentlichend, durchaus nicht isoliert wie Bachofen oder gar wie in anderer Weise jene oben genannten Individualisten Bruno Bauer oder Max Stirner.[ 12] Den „Grundcharakter der Großartigkeit", den Carl Menger an ihm rühmt,[13] hat er immer bewahrt, aber er blieb doch ohne eigentliche Wirkung. Sein ganzes weiteres Leben lang hat er darauf gewartet, daß die positivistisch-naturwissenschaftliche Richtung ihren Höhepunkt erreichen und nach der anderen Seite umschlagen werde. [14] Inzwischen sah er seine Aufgabe darin, „womöglich schon jetzt die Vermittlung aufrecht zu erhalten", [14a] zwischen einer philosophischen Vergangenheit, der er
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selbst noch angehörte, und einer Zukunft, die er nicht mehr erlebte. Diese einsame Brückenstellung hat er, im Bewußtsein der Einsamkeit, tapfer gehalten. Es wäre töricht, die Frage zu vertiefen, wie Lorenz von Stein sich entwickelt hätte und was aus ihm geworden wäre, wenn er nach 1850 statt in Wien in Berlin hätte wirken können. Er hätte - wenn wir uns aus heuristischen Gründen und der Abkürzung halber einen Augenblick auf eine solche Fragestellung einlassen wollen - wahrscheinlich Bismarcks Kompromiß mit den Nationalliberalen von 1866 mitgemacht, und so wäre seine Gesamtlinie wohl nicht anders verlaufen wie die seiner Generation überhaupt. Ein Gelehrter und Denker der politischen Entwicklung wird auch in seinem persönlichen Schicksal von den Kräften erfaßt, an denen er denkend und betrachtend teilnimmt. Aber es wird auch umgekehrt durch die Betrachtung des persönlichen Schicksals eines solchen Denkers sichtbar, was es bedeutete, daß der Staat Preußen und nicht das Völker- und Volkergruppengebilde der Habsburgischen Monarchie die politische Einheit Deutschlands herbeiführte. Die geistige Beherrschung des Problems von Staat und Gesellschaft, und die Erkenntnis der sozialen Bewegung, die Stein, in Weiterführung des Hegelischen Ansatzes, in Paris mit überwältigendem Erfolg begonnen hatte, hätte auch für Preußen und Deutschland fruchtbar gemacht werden müssen, wenn sie auch nicht einfach vom Westen her auf Deutschland übertragen werden konnte. Der Staat, um den es sich, europäisch-konkret gesprochen, nunmehr handelte, war Preußen, das nach der „demission de la France" an der Reihe war, der Idee des Staates die letzte geschichtliche Aufgabe und Verwirklichungsform zu verschaffen; und das konkrete gesellschaftliche Problem, auf das es in Europa jetzt ankam, war die Entwicklung der deutschen bürgerlich-industriellen Gesellschaft. In Wien stand der große Beobachter des europäischen Schicksals von Staat und Gesellschaft abseits des eigentlichen Kraftfeldes. Die Welle des politischen Geschehens hat ihn dort nicht mehr unmittelbar erfaßt und weitergetragen. Die Gegenposition gegen den zentralistischen Staat und den Cäsarismus wurde vorstaatlich und verlor ihren revolutionären, erobernden Charakter. Stein hat, obwohl er über dreißig Jahre in Wien lebte und während dieser Zeit viele bedeutende Werke veröffentlichte, so viel ich sehe, nicht einmal den Versuch gemacht, die innere und äußere Gesamtlage der habsburgischen Monarchie mit seinen Kategorien von Staat und Gesellschaft zu erfassen 3. Gegenüber einem solchen noch überwiegend agrarischen Nationalitäts- und Völkerstaat wäre das wohl auch kaum möglich gewesen. Darum hat er, bewußt oder unbewußt, resigniert. Der ursprüngliche Antrieb, der ihm die Kraft gegeben hatte, mit Hilfe der Kategorien einer deutschen Philosophie die soziale Bewegung Frankreichs zu verstehen, verlief jetzt wie in einem leeren Raum, und die vielen Bücher, die er noch geschrieben hat, sind manchem als bloße Materialmassen erschienen, die den leeren Raum nur äußerlich anfüllen.[15]
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Die nähere Untersuchung dieser Frage hat einer meiner Doktoranden, Herr Gerichtsreferendar Fritz Knoll aus Wien übernommen.
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So konnte der damals kaum 28jährige Gustav Schmoller zum Erscheinen von Steins „Verwaltungslehre" (1865) einen überaus klugen und durchaus taktvollen Aufsatz schreiben, der dem damals fünfzigjährigen Lorenz Stein freilich wie ein Grabgeläute klingen mußte. Der junge Schmoller sprach von ihm als einem „Schriftsteller, den außer Gelehrten niemand liest, den man daher auch um so ungestrafter plündern und ausschreiben kann, ohne sich nebenher ein Gewissen daraus zu machen, ihn totzuschweigen oder über ihn loszuziehen". Gerade das, was an Stein großartig war, der systematische Blick und die begrifflich entwickelnde Erfassung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, war für den jungen Kollegen nur noch „die trunkene Sicherheit des spekulativen Standpunkts". Stein „war überdies Österreicher geworden, sprach sich für Schutzzölle aus; das genügte, ihn zu verdammen". [16] Er starb, wie Carl Menger in seinem Nachruf (1891) sagt4, „als einsamer und vielfach enttäuschter Mann". Trotzdem bleibt er der erste deutsche Philosoph der Arbeit. Er wußte, was er sagte, als er den Ausspruch tat, für Deutschland müsse die Rechtsphilosophie dem entsprechen, was für Frankreich der Sozialismus war. Er hat die Rechtsidee mit der sozialen Idee in Verbindung gebracht. Bis auf den heutigen Tag hat noch jeder über die Fülle der Voraussagen und Vorwegnahmen gestaunt, die sich auch in seinen Alterswerken finden. Ein Sachkenner ersten Ranges, Johannes Popitz, dessen große Autorität auf der seltenen Verbindung staatsmännischer Klugheit, verwaltungs- und finanzwissenschaftlicher Erfahrung und eines der besten deutschen Tradition entsprechenden Sinnes für echte Theorie begründet ist, schrieb im Jahre 1933: „Man muß mit Bewunderung feststellen, wie Lorenz von Stein bereits 1885 aus seinem tiefen Einblick in die Bedeutung der Verwaltung und in die staatenbildende Kraft des Steuerwesens den Weg vorausgesehen hat, der seitdem, wenn auch erheblich später als er vielleicht annahm, beschritten wurde, und zwar, wie er selbst es sagt, aus der Natur der Dinge heraus, ohne auf die Untersuchungen der Wissenschaft zu warten." 5 Und in einem programmatischen Aufsatz des Jahres 1934 spricht Ernst Rudolf Huber (Band 95 der „Zeitschrift für die gesamte Staats Wissenschaft") davon, daß Stein trotz seiner Trennung von Staat und Gesellschaft in „erstaunlicher Weise das Gesamtgebiet der Staatswissenschaft umfaßt".[17] Seine Wirkung ist also keineswegs zu Ende. Auch dieser Weiterwirkung war er sich stets bewußt. Wer die Wirklichkeit von Politik und Geschichte, Staat und Gesellschaft so gut kannte wie er, mußte sich auch über die eigene persönliche Position im klaren sein. Er hat, auch hier sich nicht täuschend, mit einiger Bitterkeit gesagt, daß „der Einzelne oft nutzlos antizipiert, was ohne ihn sich doch allgewaltig vorbereitet". „Gewiß ist nur", fährt er fort, „daß der Strom des Denkens der Menschheit oft ein anderer ist als der des Einzelnen, daß er aber den Einzelnen unwiderstehlich fortreißt".
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Siehe den Hinweis in diesem Jahrbuch 1891, S. 1336. Finanzarchiv N. F. Bd. 1, S. 418. [Aus: Das Finanzausgleichsproblem in der deutschen Finanzwirtschaft der Vorkriegszeit, ebd., S. 395 - 438]. 5
Lorenz von Stein
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Zum Verhältnis Hegel - Stein vgl. u. a.: P. Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz von Stein, Marx, Engels und Lassalle, Berlin 1925 (Erg.Bd. 50 d. Kant-Studien); H. Nitzschke, Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins - Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, München u. Berlin 1932, S. 14 ff.; 119 ff. (Diss. b. Hans Freyer); K. Günzel, Der Begriff der Freiheit bei Hegel und Lorenz von Stein, Diss. Leipzig 1934 (bei H. Frey er); M. Hahn, Lorenz von Stein und Hegel - Von der „Erzeugung des Pöbels" zur „sozialen Revolution", Diss. Münster 1965; Ch. Rihs, Lorenz von Stein - Un jeune Hegelien liberal ä Paris, Revue d'histoire economique et sociale, 47 /1969, S. 404 - 446. [2] Vgl. dazu: F. Gilbert, Lorenz von Stein und die Revolution von 1848, in: Mitteilungen d. Österr. Institutes für Geschichtsforschung, 1936, S. 368 - 387; H. Steinen / H. Treiber, Die Revolution und ihre Theorien - Frankreich 1848. Marx, v. Stein und Tocqueville im aktuellen Vergleich, Opladen 1975. [3] Bd. I, Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der Französischen Revolution bis zum Jahre 1830, hrsg. v. G. Salomon, Ndr. d. Ausg. 1850, München 1921, S. 7. [4] Vgl. Schmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation, 1950, S. 80 f., 84. [5] „Es gibt für uns kein absolutes Recht: Der Traum des Naturrechts ist ausgeträumt und die titanenhaften Versuche der neueren Philosophie haben den Himmel nicht gestürmt", so der Pandektist Bernhard Windscheid (1817 - 1872) in s. Greifswalder Universitätsrede 1854; zit. nach Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 398; vgl. a. vorl. Bd., S. 175. [6] Wie FN [4], S. 100. [7] „Die Reaktion ist das, mit dem Königtume, seiner Notwendigkeit, seinem Rechte und seiner Macht ausgerüstete Prinzip der feudalen Gesellschaft, das mit der staatsbürgerlichen Gesellschaft den Kampf beginnt. - Natürlich ist die Kraft dieser Reaktion eine wesentlich verschiedene, je nachdem die ständischen Elemente bloß als eine Forderung und Hoffnung einer Partei, oder aber als ein förmlicher Teil der Gesellschaft bestehen . . . ", so Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, I, Ausg. Salomon, 1921, S. 492 f. Verfassungsgeschichtlich z. Reaktionszeit: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, III, 2. Aufl. 1978, S. 129 - 223; ideengeschichtlich: P. Kondylis, Reaktion, Restauration, in: Geschichtliche Grundbegriffe, V, 1984, S. 179 - 230; vgl. auch bes. den zweiten Band von Max Stirner, Geschichte der Reaction, Berlin 1852. [8] Die Wendung „la demission de la France" war 1940, nach der Niederlage Frankreichs, gebräuchlich; sie war u. E. nicht üblich unter den Feinden Napoleons III. [9] Diese Bemerkungen Schmitts dürfen als eine Quersumme des Denkens von Bruno Bauer (1809 - 1882) nach 1852 betrachtet werden; vgl. v. Bauer: Rußland und das Germanenthum, Charlottenburg 1853, S. 29 - 37; De la Dictature occidentale, ebd., 1854, S. 36 f.; Zur Orientierung über die Bismarcksche Ära, Chemnitz 1880, S. 1 - 4; Disraelis romantischer und Bismarcks sozialistischer Imperialismus, ebd., 1882; dazu: D. Groh, Rußland und das Selbstverständnis Europas, 1961, bes. S. 263 - 67; ders., Cäsarismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, I, 1972, S. 754. - Die außerordentliche Bedeutung, die Bruno Bauer - nicht nur wegen der auch von ihm gedeuteten „Großen Parallele" - für Schmitt besaß, geht auch 11 Staat, Großraum, Nomos
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aus dem nicht datierten Entwurf eines Briefes (Winter 1945/46 im Internierungslager Lichterfelde verfaßt) an Pater Erich Przywara SJ (vgl. vorl. Bd., S. 573 ff.) hervor, in dem es u. a. heißt: „Bruno Bauer, die aufschlußreichste Figur in dem langen Prozeß der Selbstzersetzung deutschen Protestantismus und Idealismus, Urheber einiger erstaunlicher allerchristlichster Attentate auf das Christentum . . . die ahnungslose Selbstgefälligkeit der deutschen Philosophieprofessoren (verdrängte) sich mit rein restaurativen Hegel-Renaissancen aus der Weltgeschichte . . ., ohne die explosiven Energien zu bemerken, die aus der Selbstzersetzung des idealistischen Systems „frei" wurden. Von den unzeitgemäßen, isolierten Einzelgängern bemerkten sie nur den Renommisten der Unzeitgemäßheit, Nietzsche, nicht aber einen so echten Fall wie Bruno B a u e r . . . " (Privatarchiv d. Hrsg.). - Schmitt unterhielt ab 1927 Kontakte zu Ernst Barnikol (1892 - 1968), der 1927 Bauers verschollen geglaubte Schrift „Das entdeckte Christentum - Eine Erinnerung an das achtzehnte Jahrhundert und ein Beitrag zur Krisis des neunzehnten" (1843) herausgab: E. Barnikol, Das entdeckte Christentum im Vormärz, 1927 (Bauers Schrift auf d. S. 83 - 164). In d. Jahren 1967 - 73 korrespondierte er mit dem Bauer-Forscher Hans Martin Sass, der 1972, gemeinsam mit Peter Reimer, den Bd. „Bruno Bauer - Studien und Materialien" aus Barnikols Nachlaß herausgab (Assen/Holland 1972). [10] Die Seeschlacht bei Aktium (an der Westküste Griechenlands, am Eingang des Ambrakischen Golfes) fand am 2. 9. 31 v. Chr. zwischen der Flotte Octavians und den vereinigten Flotten Antonius' und Kleopatras statt. Der Sieg Octavians war der Sieg des Westens über den Osten. Bei einem anderen Verlauf wäre Alexandria die Hauptstadt der „Welt" geworden, so daß das Römische Reich, derart von der Peripherie aus regiert, vermutlich zerfallen wäre. Die Seeschlacht ermöglichte das Friedensreich des Augustus; vgl. u. a.: Kromayer, Aktium, Hermes, 68 / 1933, S. 361 ff.; Wurzel, Der Ausgang der Schlacht von Aktium, ebd., 73 / 1938, ebenf. S. 361 ff.; Zechlin, Maritime Weltgeschichte, 1947, S. 191 f.; Kienitz, Das Mittelmeer, 1976, bes. S. 14 ff., 139 ff. - Spengler bezieht sich auf Aktium in: Der Untergang des Abendlandes, Ausg. 1969, S. 584, 603, 615, 638, 788, 873, 1086, 1090. Zur Diskussion um die „Große Parallele" im 19. Jahrhundert (= daß man in einer Zeitenwende lebe wie nach der Seeschlacht von Aktium) und deren Bedeutung f. Schmitt vgl. vorl. Bd., Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, S. 549 f., FN[16]. Proudhon schrieb in s. Werk „Du principe federatif, et de la necessite de reconstituer le parti de la Revolution", das erstmals 1863 und nicht, wie Schmitt irrtümlich meint, 1861, erschien: „J'ai ecrit quelque part (De la Justice dans la Revolution et dans l'Eglise, 4 e etude, edition beige, note), que l'annee 1814 avait ouvert Y ere des constitutions en Europe. La manie de contredire a fait huer cette proposition par des gens qui, melant ä tort et ä travers dans les divagations quotidiennes histoire et politique, affaires et intrigue, ignorent jusqu'ä la Chronologie de leur siecle. Mais ce n'est pas ce qui dans ce moment m'interesse. L'ere des constitutions, tres reelle et parfaitement nommee, ä son analogue dans V ere actiaque, indiquee par Auguste, apres la victoire remportee par lui sur Antoine ä Actium, et qui coincide avec l'an 30 avant Jesus-Christ. Ces deux eres, Yere actiaque et l'ere des constitutions, ont cela de commun qu'elles indiquaient un renouvellement general, en politique, economie politique, droit public, liberte et sociabilite generale. Toutes deux inauguraient une periode de paix, toutes deux temoignent de la conscience qu'avaient les contemporains de la revolution generale qui s'operait, et de la volonte des chefs de nations d'y concourir. Cependant l'ere actiaque, deshonoree par l'orgie imperiale, est tombee dans l'oubli; elle a ete completement effacee par l'ere chretienne, qui servit ä marquer, d'une fa$on bien autrement grandiose, morale et populaire, le meme renouvellement. II en sera de meme de l'ere constitutionnelle: eile
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disparaitra ä son tour devant l'ere federative et sociale, dont l'idee profonde et populaire doit abroger l'idee bourgeoise et moderantiste de 1814." (Zit. n.: Proudhon, Du principe federatif, in: ders., Oeuvres completes, 1959, S. 253 - 551, hier S. 355 f. (ed. Puech / Ruyssen). P., behauptend, daß das 20. Jahrhundert die Ära der Föderationen eröffnen werde, bezog sich auf eine Note in s. De la Justice . . ., zuerst 1858, S. 314 f. der Ausgabe v. Bougie / Puech i. den Oeuvres completes, Bd. II d. „Justice", 1931: „Le Congres de Vienne avait ete charge, apres la defaite de Napoleon, de regier le droit public de 1'Europe. Les idees etaient dans l'air: il etait impossible ä la diplomatic, malgre ses reticences, ses equivoques, ses subterfuges, de s'y soustraire. Deux grands principes, plutöt impliques qu'exprimes, forment la base de la pacification de 1815: pour les puissances, l'obligation de garder entre elles un certain equilibre; pour les peuples, la promesse, l'espoir de constitutions ." Proudhons Föderalismus wird von dem Völkerbundsjuristen Georges Scelle (zu dessen Kritik vgl. Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938, S. 11 - 21) als Argument zugunsten der eigenen, die staatliche Souveränität auflösen wollenden, universalistischen Völkerrechtsdoktrin benutzt; vgl. Scelles Einleitung im o. a. Bd. v. 1959, S. 9 - 23 u. bereits s. Precis de Droit de gens, I, 1932, S. 187 - 287 (Le phenomene federatif). Allgemein zu Proudhons Föderalismus: Chr. Brun, La tradition federaliste en France. Vers la Societe des Nations, Paris 1911; N. Bourgeois, Les theories du droit international chez Proudhon, le federalisme et la paix, ebd., 1926; M. Amoudruz, Proudhon et l'Europe: les idees de Proudhon en politique etrangere, ebd., 1945.
[11] Schmitt mag sich hier auf den Sieg des föderativen Prinzips in der deutschen Reichsverfassung ab 1648 (Westfälischer Frieden) beziehen, der die politische Schwäche Deutschlands für lange Zeit befestigte. Er denkt aber wohl auch an die Probleme mit dem Föderalismus in den Verfassungsdiskussionen der Paulskirchen-Versammlung 1848 und in der Bismarckschen Reichs Verfassung; dazu E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, II, 1960, S. 792 ff.; ebd., III, 2. Aufl. 1978, S. 777 ff.; 785 ff.; M. Dreyer, Föderalismus als ordnungspolit. Prinzip - Das föderative Denken d. Deutschen i. 19. Jahrhundert, 1987. - Zu dem Föderalismus des Weimarer Parteienbundesstaates, in dem die Länder von den Parteien als Bastionen „für ihren Kampf gegen das Reich" (Huber, Verfassung, 1937, S. 21) benutzt wurden, vgl. v. Schmitt: Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 41 ff.; Schmitts Äußerungen im Prozeß vor dem Leipziger Staatsgerichtshof in: Preussen contra Reich, 1933; Das Reichsstatthaltergesetz, 1933, bes. S. 10 ff.; Reich-Staat-Bund (1933), in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 190 ff.; vgl. auch: Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 94 ff. S. a. vorl. Bd., S. 171, 181 [11].
[IIa] Lorenz v. Stein hat die Situation seiner Heimat im Rahmen der europäischen Politik damals des öfteren untersucht, vgl. u. a.: Die Großmächte und die Schleswig- Holsteinische Frage, Deutsche Vierteljahrs-Schrift, 4 / 1847, S. 134 - 162 (anonym); La Question du Schleswig-Holstein, Paris 1848; Schleswig-Holstein bis zur Erhebung im Jahre 1848, Die Gegenwart, II, Leipzig 1849, S. 404 - 429 (anonym); Die Erhebung Schleswig-Holsteins im Frühjahre 1848, ebd., III, 1849, S. 41 - 73 (anonym). - Zur geistigen Prägung v. Steins als Schleswiger, Deutscher und Europäer vgl.: Werner Schmidt, Lorenz von Stein - Ein Beitrag zur Biographie, zur Geschichte Schleswig-Holsteins und zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Eckernförde 1956; auch: ders., Der junge Lorenz von Stein zwischen Nationalität und Europa, in: R. Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft - Studien über Lorenz von Stein, 1978, S. 29 - 46. il*
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[12] Vgl.: A. Novotny, Lorenz von Steins Berufung nach Wien, in: L. Santifaller (Hrsg.), FS z. Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, II, Wien 1951, S. 474 - 484; vgl. auch den bei der Bewerbung eingereichten Lebenslauf Steins, in: D. Blasius / E. Pankoke, Lorenz von Stein, 1977, S. 181 - 189. Zur Wirkung Steins in Österreich: K. Wenger, Lorenz von Stein und die Entwicklung der Verwaltungswissenschaft in Österreich, in: R. Schnur, wie FN [IIa], S. 479 - 501. [13] C. Menger, Lorenz von Stein, 23. Sept. 1890, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 1891, S. 193 - 209, hier S. 195: „Auch der Grundcharakter von Stein's einzelnen Schriften ist die Großartigkeit. Sein alle Gebiete des Staats- und Gesellschaftslebens umfassender Blick ist auf die letzten und höchsten Ziele wissenschaftlicher Forschung gerichtet. Sein nie ruhender Forschergeist sucht alle Kulturvölker in ihrer geschichtlichen Entwickelung zu erfassen und in dieser letzteren die Ursachen und das Gesetz der Entwickelung zu erkennen. Es hat auf dem Gebiete der Staatswissenschaften nie einen Schriftsteller gegeben, welcher sich umfassendere und höhere Ziele gesetzt hätte als Lorenz von Stein." [14] Zahlreiche Indizien dafür in: Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, 1876, Ndr. in: E. Forsthoff (Hrsg.), Lorenz von Stein - Gesellschaft, Staat, Recht, 1972, S. 147 - 494. Vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 6 f. [14a] Stein, Zur Physiologie der Städtebildung, Deutsche Vierteljahrs-Schrift, 1861, S. 57 ff. [15] So etwa M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland 1800 - 1914, II, 1992, S. 388 ff. [16] G. Schmoller, Lorenz von Stein, Preuß. Jahrbücher, 1867, S. 245 - 270; Ndr. in: ders., Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften, Leipzig 1888, S. 114 146, die Zitate auf S. 115 u. S. 136. [17] E. R. Huber, Die deutsche Staatswissenschaft, ZgStW, 95,1, 1934 / 35, S. 1 - 65, hier S. 8: „Das wissenschaftliche Schaffen Steins umfaßt in erstaunlicher Weise das Gesamtgebiet der Staatswissenschaft; er ist als Jurist, als Nationalökonom, als Soziologe und als Politiker gleich bedeutend . . . "; dennoch kritisiert Huber, daß Stein die „entscheidende These der Hegeischen Rechtsphilosophie,... die Einordnung der Gesellschaft in den Staat" bereits aufgebe (S. 9). Ähnlich Huber, Lorenz von Stein und die Grundlegung der Idee des Sozialstaats (1958), in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 127 - 142, hier S. 127: vereinte Stein die auseinanderstrebenden Methoden philosophischer und historischer, politischer und soziologischer, juristischer und ökonomischer Betrachtung noch einmal in bewältigender Gesamtschau". Kritisch hierzu: Stolleis, wie FN[15], S. 391. Vgl. auch d. einfühlsamen Versuch eines Gesamtbildes Steins: Manuel Garcia Pelayo, La teoria de la sociedad en Lorenz von Stein, Revista de Estudios Polfticos, 47/1949, S. 43 - 90, jetzt in: ders., Escritos polfticos y sociales, Madrid 1989, S. 121 - 155.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien zuerst in: Schmollers Jahrbuch, LXIV, 6, 1940, S. 641 - 646; danach, als Nachwort, in: L. v. Stein, Zur Preußischen Verfassungsfrage, Berlin 1941, Verlag Wolfgang Keiper, S. 61 - 70; vgl. auch d. Brief des Verlegers, Antiquars und Goethe-Forschers
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Keiper (1911 - 1981) an Schmitt v. 27. 7. 1944, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana HI, Brüssel 1991, S. 127 - 130. Steins Schrift ist nachgedruckt in: E. Forsthoff (Hrsg.), Lorenz von Stein. Gesellschaft-Staat-Recht, 1972, S. 115 - 146. Steins Grundthese darin „lautete,..., daß Preußen nicht verfassungsfähig sei - verfassungsfähig im westlichen Sinne - , daß aber alle geschichtlichen Hindernisse einer preußischen Konstitution auf ihre Aufhebung in einer deutschen Verfassung drängen" und daß „die nationalpolitische Bewegung alle sozialen Fragen zurückdrängen werde, um sie erst nach vollzogener Einigung emporschnellen zu lassen", so R. Koselleck, Geschichtliche Prognose in Lorenz v. Steins Schrift zur preußischen Verfassung, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1979, S. 87 - 104, hier S. 96. Trotz einiger deutlicher Fingerzeige Schmitts (z. B.: Verfassungslehre, 1928, S. 6 f.; Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 47) wird Steins Bedeutung für Schmitts Werk gern übersehen; die Schmitt-Literatur schweigt sich hier meist aus. Erwähnenswert ist, daß einige der engeren Freunde und Schüler Schmitts sich als Stein-Kenner hervorgetan haben, u. a. J. Popitz, H. Freyer, E. Forsthoff, E. R. Huber, W. Schmidt, E. W. Bökkenförde, R. Schnur, R. Koselleck, H. Kesting, H. J. Arndt; vgl. auch die Habilitation (bei P. Ritterbusch u. Schmitt) v. G. Hahn, Lorenz von Stein und die deutsche Rechtswissenschaft, 1943, Berlin. - U. Storost, Staat und Verfassung bei Ernst Forsthoff, 1979, sieht Hegel, Stein und Carl Schmitt als die großen Anreger Forsthoffs u. weist akribisch deren Einflüsse nach. Die hier auch von Schmitt vorgebrachte These vom „Scheitern" Steins in Wien scheint nur stichhaltig, denkt man an Steins Anspruch, noch einmal die ganze Staatswissenschaft zu beherrschen. In Wien entstanden, neben mehreren Monographien, Steins zahllose Arbeiten zum europäischen Eisenbahn- und Schiffahrtsrecht; vor allem aber entwickelte er hier seine Vorstellungen von einem auf wirtschaftlicher Integration beruhenden, unter deutscher Führung stehenden Großraum „Mitteleuropa" und nahm zu vielen völkerrechtlichen Fragen (MonroeDoktrin, Suez-Kanal, engl. Seemacht, Aufstieg Japans) Stellung; vgl. dazu B. Richter, Völkerrecht, Außenpolitik u. internationale Verwaltung bei Lorenz v. Stein, 1973, bes. S. 155 181, „Die raumhafte Ordnung der politischen Welt". Daß Schmitt diesen Aspekt 1940, sich gerade mit der Großraum-Frage befassend, überging, scheint festhaltenswert. Über den von Schmitt in s. FN 3 erwähnten Doktoranden Fritz Knoll aus Wien konnte leider nichts in Erfahrung gebracht werden.
Das „Allgemeine Deutsche Staatsrecht44 als Beispiel rechtswissenschaftlicher Systembildung Fast zweihundert Jahre lang hat die Gesamtleistung der deutschen Rechtswissenschaft im wesentlichen darin bestanden, rezipierte Rechtsbegriffe und -regeln in ein wissenschaftliches System zu bringen und auf diese Weise ein deutsches „Gemeinrecht" zu schaffen. Gemeinrecht bedeutete hier - zum Unterschied von common law, droit commun, aber auch von der heutigen Bedeutung des Wortes Gemeinrecht - ein unstaatliches, ersatzweise geltendes (subsidiäres) Recht, das die staatliche Zersplitterung Deutschlands überspannte^ 1] Dieses deutsche Gemeinrecht ist eine Schöpfung der deutschen UniversitätsWissenschaft; die Juristenfakultäten sind daher in einer solchen Zeit der eigentliche deutsche Rechtsstand. Ihre system- und gemeinrechtsbildende Arbeit hatte die politisch-praktische Bedeutung, in der politischen Lage staatlicher Zersplitterung den Gedanken einer deutschen Rechtsgemeinschaft zu wahren. Dazu kommt noch eine weitere, kennzeichnende Entscheidung: das von der deutschen Rechtswissenschaft geschaffene System wirkt stark auf andere europäische Nationen zurück und verschafft der deutschen Rechtswissenschaft einen europäischen, oft sogar einen Welterfolg. Diese rechtsgeschichtliche Gesamtkennzeichnung der bisherigen rechtswissenschaftlichen Arbeit in Deutschland gilt nicht nur für die Privatrechtswissenschaft des gemeinen Rechts. Hierfür ist sie als Tatsache längst bekannt und unbestreitbar. Es genügt, den treffenden Satz Lorenz von Steins zu zitieren, der sagt, in Deutschland habe „das römische Recht schon im Mittelalter durch die Arbeit der Wissenschaft Platz gewonnen", während es in Frankreich ein Teil der Macht des königlichen Beamtentums war, „das Recht für die allgemeine Macht des Landes", ein vom Beamtentum getragenes, „mittels dieses Beamtentums alle Teile und alle selbständigen Rechtskörper des französischen Landes mit einem gemeinsamen Band umschließendes droit commun"1. Eine bloße Universitätswissenschaft hatte natürlich für sich allein nicht die Macht, ein solches politisches Band herzustellen. Sie schuf dafür den um so wissenschaftlicheren Ausbau eines die politische Zersplitterung überwölbenden Regeln- und Begriffssystems. Schon die Rezeption des römischen Rechts war, wie Rudolph Sohm mit Recht betont, Rezeption einer Rechtswissenschaft gewesen2. Stark beeinflußt durch die philosophischen Systeme der großen Naturrechtslehrer, deren erster der große Samuel Pufendorff war, wei1 L. von Stein, Geschichte des französischen Strafrechts und des Processes, Bd. III von Warnkönigs und Steins französischer Staats- und Rechtsgeschichte, Basel 1846, S. 412. 2 R. Sohm, Die deutsche Rechtsentwicklung und die Codifikationsfrage, Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht, Bd. I (1874), S. 258.
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tergetrieben durch die kodifikatorischen Arbeiten des 18. Jahrhunderts, insbesondere durch das preußische Allgemeine Landrecht von 1794, von der historischen Rechtsschule Savignys nur scheinbar unterbrochen und, wie Hans Thieme gezeigt hat, in Wirklichkeit durch sie weitergetragen 3, vollendet sich diese Entwicklung der deutschen Privatrechtswissenschaft schließlich in dem System des gemeindeutschen Privatrechts, das von der deutschen Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts zum systematischen Abschluß gebracht wurde. Windscheid wurde der „zweite Ulpian oder Paulus" dieses Juristenrechts. Für ihn lag die europäische, ja die Weltbedeutung des römischen Rechts darin, daß sein Inhalt zum großen Teil „nichts ist als der Ausdruck allgemein menschlicher Auffassungen, allgemein menschlicher Verhältnisse, nur mit einer Meisterschaft dargestellt, welche keine Jurisprudenz und keine Gesetzgebungskunst seither zu erreichen verstanden hat". Das war der „wissenschaftliche Glaube", der die immer allgemeineren Begriffe schuf 4. Im Aufbau des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1896 steht diese Schöpfung bis auf den heutigen Tag vor unseren Augen. „Diese Pandektenwissenschaft ist nun im 19. Jahrhundert zur europäischen, ja zur Rechtswissenschaft überhaupt geworden", sagt Koschaker, den wir hierfür als maßgebende Autorität zitieren können5. Sogar die mehr pragmatisch-praktische französische Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, die auf ihren Code civil und ihre juristische Tradition so stolz war, konnte sich der Wirkung der wissenschaftlichen Systematik dieser Rechtslehrer nicht entziehen. Das privatrechtliche System des Heidelberger Pandektisten Zachariae wurde in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts durch die elsässischen Kommentatoren Aubry und Rau übernommen und, wenn auch durchaus selbständig, weiter verarbeitet 6. Dem Code civil selbst gegenüber bewährte sich in dem berühmten Handbuch des französischen Zivilrechts von Zachariae-Crome die besondere Fähigkeit der deutschen Rechtswissenschaft zu einem systematischen Gedankenbau. [2] Es ist von demselben Heidelberger Professor Carl Salomo Zachariae begründet worden, von dem unten noch die Rede sein wird. Die eigentümliche Verbindung von Rezeption und Systembildung wäre aber noch nicht das kennzeichnende Merkmal der bisherigen deutschen Rechtswissenschaft, wenn es sich dabei nur um einen auf das Privatrecht beschränkten Vorgang handelte. Zur alles beherrschenden Grundtatsache wird der Zusammenhang von Rezeption, rechtswissenschaftlicher Systembildung und Schaffung eines deutschen Gemeinrechts erst dadurch, daß er in irgendeiner Form auf andern wichtigen 3 Hans Thieme, Die preußische Kodifikation, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Band LVII (1937), German. Abteilung. 4 Von „wissenschaftlichem Glauben" spricht in diesem Zusammenhang Joseph Partsch, Vom Beruf des römischen Rechts in der heutigen Universität, Bonn 1920, S. 15. 5 Koschaker, Die Krise des römischen Rechts und die romanistische Rechtswissenschaft, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Römisches Recht und fremde Rechte, Nr. 1, München und Berlin 1938. 6 Julien Bonnecase (L'äcole de l'ex6g£se en droit civil, 2. Aufl., Paris 1924, S. 76 ff.) sucht die Originalität von Aubry und Rau gegenüber Zachariae zu retten.
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Zweiter Teil: Politik und Idee
Rechtsgebieten wiederkehrt. Das ist wirklich der Fall. An die straf- und prozeßrechtliche Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts sei hier nur mit einem Wort erinnert. Im übrigen soll auf zwei in durchaus gleicher Richtung verlaufende, aber weniger zum Bewußtsein gekommene rechtsgeschichtliche Entwicklungsreihen des letzten Jahrhunderts aufmerksam gemacht werden: die Schöpfung eines gemeinen deutschen Staats- und die eines gemeinen deutschen Verwaltungsrechts. Beide sind rechts wissenschaftliche Systematisierungen rezipierten Rechts. In beiden Fällen hat die deutsche Universitätsrechtswissenschaft unter Verwertung rezipierten Rechts ein gemeindeutsches Recht auf diesen Gebieten zu schaffen versucht und dieses Ziel, soweit es die Zeit erlaubte und soweit man in diesem Sinne von einem Gemeinrecht sprechen kann, auch wirklich erreicht.[3] Im 19. Jahrhundert ist über dem Staatsrecht der vielen souveränen Staaten des Rheinbundes und des Deutschen Bundes ein System entstanden, das als ein „gemeines" und auch ein „allgemeines" deutsches Staatsrecht bezeichnet wird. Das Nebeneinander der Bezeichnungen „Gemein" und „Allgemein" deutet sowohl auf die gleichzeitig politische und philosophische Herkunft dieses Begriffssystems, wie auch auf die logische Methode der Bildung ihrer durch Verallgemeinerung gewonnenen Begriffe. Es ist nämlich ein Vierfaches vorhanden und führt ins „Allgemeine": zunächst das Bestreben über der Vielstaaterei ein gemeinsames deutsches Staats- und Verfassungsrecht zu schaffen; daneben wirkt der weltbürgerliche Universalismus der humanitär-individualistischen philosophischen Systeme des 18. Jahrhunderts und des deutschen Idealismus; außerdem liegt die Methode nahe, das Ziel eines allgemeinen Staatsrechts durch eine abstrahierende Verallgemeinerung verfassungsrechtlicher Bestimmungen im Sinne einer Ausklammerung ,/einer" Begriffe zu erreichen; und schließlich drängt als die geistig tragende und legitimierende Kraft dieser Zeit die totalitäre Tendenz zum „Systematisieren, d. h. das Erheben ins Allgemeine, der unendliche Drang der Zeit", wie Hegel es genannt hat7. Dieser Drang ins Allgemeine, der vor 1848, wie gesagt, in enger Verbindung mit den philosophischen Systemen der großen deutschen Philosophen steht, zeigt sich im vorpositivistischen 19. Jahrhundert nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auf allen Gebieten, nicht nur in berühmten Werken, wie in der Geschichtsschreibung Rankes, sondern auch in heute nicht mehr sehr bekannten Büchern, denen man die Genialität nicht absprechen kann, z. B. in der „Allgemeinen Cultur-Geschichte der Menschheit" von Gustav Klemm (Leipzig 1843), die für die Entwicklung der Rassenlehre von großer Bedeutung ist 8 , und in der „Philosophischen oder vergleichenden Allgemeinen Erdkunde" von Ernst Kapp (Braunschweig 1845), die mächtige Bilder geopolitischer Zusammenhänge enthält9. 7
Hegel, Zusatz zu § 211 der Rechtsphilosophie von 1821. G. Klemm baut seine Allgemeine Kulturgeschichte auf der Unterscheidung der aktiven und der passiven Rassen auf. 9 E. Kapp, ein Schüler Carl Ritters, hat die großartige Unterscheidung und Stufenfolge der potamisch-orientalischen, thalassisch-klassischen und ozeanisch-germanischen Welt entworfen. [S. 96 ff., 163 ff. u. 250 ff., Bd. I des o. a. Werkes. - G. M.]. 8
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Die Allgemeinheit, zu der die Wissenschaft des Staats- und Verfassungsrechts dieser Zeit drängte, war die Allgemeinheit eines konstitutionellen Verfassungsrechts. Kants Rechtsphilosophie war die Brücke, die sie mit der vom Westen kommenden Dauerwirkung Rousseaus und mit der Zeitwirkung Benjamin Constants verband. [4] Rezipiert werden in diesem Falle die Rechtsbegriffe der westlichen Nachbarländer Frankreich, England und Belgien. So verschieden die Richtungen und Haltungen sein mögen, die in solchen, untereinander oft verschiedenen und sich bekämpfenden Rezeptionen zutage treten, im ganzen und in complexu ist unbestreitbar eine Rezeption westlich-liberaler Verfassungsvorstellungen gegeben. Dabei erweisen sich die ausgeprägten Begriffe des französisch-belgischen Konstitutionalismus für eine wissenschaftliche Systematisierung besser geeignet als die englischen Vorbilder. Insbesondere hat der sog. konstitutionelle Verfassungsbegriff, der das ganze 19. Jahrhundert beherrscht, seine Achse in dem festen Verhältnis seiner beiden Wesensbestandteile: Grundrechte und Gewaltenteilung. Er ist in dieser Ausprägung durchaus französischen Ursprungs (Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789).[5] Alle daraus folgenden weiteren Begriffsbestimmungen von Gesetz, Verordnung, Exekutive, Justiz sind Ausfluß dieses, auf Grundrechten und Gewaltenteilung aufgebauten, konstitutionellen Verfassungssystems. Auch da, wo man sich gegen das, was Friedrich Wilhelm IV. die „Lügenmaschine" des französisch-belgischen Konstitutionalismus genannt hat, [6] auf das Heftigste wehrte, insbesondere in Preußen, mußte man doch die im entscheidenden, kritischen Augenblick innerpolitisch wichtigste Einrichtung, den Belagerungszustand, nach französischem Vorbild organisieren. Als deutliches Negativ zu einer auf Grundrechten und Gewaltenteilung aufgebauten konstitutionellen Verfassung ist der preußische Belagerungszustand als Aufhebung von Grundrechten und Gewaltenteilung (Übergang der vollziehenden Gewalt) ganz nach dem Bilde des französischen etat de siege konstruiert 10. Im übrigen waren auch hier nicht die großen Staaten, Österreich und Preußen, sondern das sog. „Dritte Deutschland" und die juristischen Fakultäten seiner Universitäten der Schauplatz solcher allgemein- und zugleich gemeinrechtlicher Bildungen. Ein „allgemeines" deutsches Staatsrecht beginnt bereits im 18. Jahrhundert. Es entwickelt sich in demselben Maße, in dem der Staatsbegriff das Reich zerstört und über der Vielheit der sich bildenden Staaten das „Gemeine" oder „Allgemeine", immer schattenhafter werdend sich auflöst. Die deutsche Rechtswissenschaft kannte seit Bodinus kein Reich mehr, sondern nur noch den Staat. [7] Nur er war ihr ein Begriff. Das Reich war ihr juristisch nicht mehr begreiflich und nur als „System von Staaten" konstruierbar. Wenn Hegel in der Einleitung zu seiner Verfassung des Deutschen Reiches (1802) sagt, die deutsche Verfassung könne „nicht mehr begriffen werden", so bringt er zum Ausdruck, daß das Deutsche Reich, eben 10 Preußisches Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851, § 3 und §§ 5 ff.; französisches Gesetz vom 9. August 1849; über die Entwicklung der Einrichtung des Belagerungszustandes in Frankreich seit der Revolution: Carl Schmitt, Die Diktatur, 1921 (2. Aufl. 1928), S. 187 ff. [Vgl. vorl. Bd., S. 3 - 23].
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weil es kein Staat ist, juristisch sinnlos geworden ist. Damit steht er, wie seit hundert Jahren die meisten deutschen Philosophen und Juristen, auf dem Boden des aus Frankreich rezipierten Staatsbegriffes, von dem aus das Deutsche Reich allerdings nicht mehr begriffen werden konnte 11 . In gleicher Weise wie das sonstige rechtswissenschaftliche System nimmt die Systematik des gemeinen Verfassungsrechts ihren Ausgang von natur- und vernunftrechtlichen philosophischen Gedanken 12 . Freilich waren die Göttinger Staatsrechtslehrer des 18. Jahrhunderts pragmatisch gerichtet. Ihre Staatsrechtslehre suchte zwischen der überkommenen Reichsvorstellung und dem durch Pufendorff rezipierten, auf Bodinus und Hobbes zurückgehenden Staatsbegriff zu vermitteln und dem Dezisionismus der staatlichen Souveränität zu entgehen, obwohl deren politischer Sinn und Erfolg gerade in diesem Dezisionismus lagen. Haeberlins, nach dem System Pütters verfaßtes „Handbuch des teutschen Staatsrechts" (2. Aufl. 1797), ist der Abgesang dieser Epoche.[8] In der Einleitung heißt es: „Es gibt gewisse, der höchsten Gewalt jedes Staates zukommende Rechte und Verbindlichkeiten, welche sich aus der Natur des Staates herleiten, ohne daß es besonderer Verträge bedarf. Der Inbegriff dieser aus dem Begriff eines Staates fließenden Rechte und Verbindlichkeiten macht das allgemeine Staatsrecht aus". In der Anmerkung dazu verweist er auf „Schlözers Meisterwerk" aus dem Jahre 1793, das den Titel „Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere" führt. Die „allgemeine Staatsrechtslehre" des alten Reiches stellt bereits einen Übergang zum allgemeinen deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts dar, wenn sie auch, da ein „Reich" immer noch vorhanden war, noch nicht entfernt eine derartig offene Rezeption eines ganzen Komplexes westlicher Begriffe enthielt. Die wissenschaftliche Systematisierung des westeuropäisch-konstitutionellen Verfassungsrechts beginnt aber sofort mit dem Augenblick, in dem die volle Souveränität der deutschen Staaten erreicht und das alte Reich beseitigt wurde. Sie setzt daher gleich in der Rheinbundszeit ein. So kurz die Zeit dieses Rheinbundes war, in seinen sieben Jahren (1806 - 1812) sind doch alle Grundlagen des gemeindeutschen konstitutionellen Staatsrechts gelegt worden. Was „Konstitution" ist, konstitutionelle Monarchie, Staatsbürgertum, nationale Repräsentation, Legislative, Exekutive und Justiz, kurz das ganze Begriffsinventar des Verfassungsdenkens des deutschen 19. Jahrhunderts, ist hier bereits als bestimmter Begriff vorhanden. [9] Dabei soll hier nicht einmal von der Nachahmung französischer Vorbilder in der organisatorischen Ausgestaltung der neuen souveränen Staaten des dritten Deutschland wie Bayern, Württemberg und Baden gesprochen werden 13. Auch die 11 Die Verfassung des Deutschen Reiches, eine politische Flugschrift von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ausgabe von Georg Mollat, Stuttgart 1935, S. 2. 12 Karl Rieker, Begriff und Methode des allgemeinen Staatsrechts, Vierteljahresschrift für Staats- und Volkswirtschaft, Band IV (1896), S. 250 ff. 13 Vgl. auch Johannes Weidemann, Neubau eines Staates. Staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung des Königreichs Westfalen. Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Leipzig 1936; dazu die Besprechung von Carl Schmitt, Deutsche Juristen-Zeitung 1936, S. 624.
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Kontroverse zwischen E. von Meier und M. Lehmann über den Einfluß französischer Ideen auf die Neuorganisation Preußens kann hier ganz beiseite bleiben. [10] Wohl aber ist es notwendig, daran zu erinnern, daß schon in der Rheinbundszeit, in der der Staatsbegriff das Reich endgültig Juristisch unbegreiflich" gemacht hatte, auch die ganze unglückselige Doktrin des deutschen Föderalismus auftritt. Ihre Antithese von Staatenbund und Bundesstaat bewegt sich ganz um eben jenen reichsfeindlichen Staatsbegriff.[ll] Sie hat erst seit 1933 das Feld geräumt. Deutsche Juristen der Rheinbundszeit sind die Vater dieser alles beherrschenden Antithese von Staatenbund und Bundesstaat, vor allen: der eingangs bereits genannte Carl Salomo Zachariae, seit 1807 Professor in Heidelberg, und Wilhelm Joseph Behr in Würzburg. Der Gedanke eines auf der Grundlage rezipierter Staats- und Verfassungsvorstellungen ausgearbeiteten, über die Vielstaaterei sich ausbreitenden gemeinen deutschen Staatsrechts bekommt dadurch einen neuen Inhalt. Er äußert sich zuerst in Behrs Systemen (1804: System der allgemeinen Staatslehre; 1810: System der allgemeinen angewandten Staatslehre), C. S. Zachariaes „Jus publicum civitatum quae foederi Rhenano adscriptae sunt" (1807) sowie in seinen unter dem Titel „Staatsrecht der rheinischen Bundesstaaten" 1810 veröffentlichen Abhandlungen; ferner in J. N. F. Bauers „Beiträgen zu einem allgemeinen Staatsrecht der rheinischen Bundesstaaten in 50 Sätzen" (1807). Die Zeit des Deutschen Bundes (1815 - 1866) wird dann die eigentliche Epoche des allgemeinen deutschen Staatsrechts, wie es auf der Grundlage eines Kompromisses zwischen monarchischem Prinzip und folgerichtigem Konstitutionalismus systematisch aufgebaut worden ist. Das Jahr 1848 macht, wie auf allen anderen Gebieten, so auch hier einen tiefen Einschnitt. In den ersten Jahren des Deutschen Bundes beherrschte Johann Ludwig Klüber noch das Feld. [12] Er führte die alten reichs- und territorialstaatlichen Vorstellungen weiter. „Schon in sein System des Rechts des Rheinbundes hatte er, wie Robert von Mohl von ihm sagt, einen guten Teil des alten Reichsstaatsrechts mit hinübergenommen, um nicht zu sagen, eingeschmuggelt"14. Bei aller Anerkennung dieser Leistung darf man nicht vergessen, daß ein solcher Schmuggel nichts an der Grundtatsache ändern konnte: die Bildung eines neuen Reiches ging über einen ausgeprägten Staat, nämlich Preußen, und nicht über einen lavierenden, den Reichsbegriff mißbrauchenden Staatenföderalismus. In einem wesentlichen Punkt, in der Auffassung des Budgetrechts, mußte sich Klübers ständische Deutung außerdem durchaus in der konstitutionell-französischen Richtung auswirken und die Politik der Regierung von dem Geldbewilligungsrecht des Parlaments abhängig machen15. Daneben waren die ersten Jahre des Deutschen Bundes von der Arbeit an dem Staatsrecht der einzelnen Staaten in Anspruch genommmen: in Bayern durch Schmelzing, Dresch und Cucumus 16, in 14 Aegidis Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und deutsche Verfassungsgeschichte, Berlin, Bd. 1 (1865), S. 359. 15 Rudolf von Gneist, Budget und Gesetz, 1867, S. 136. 16
Robert Piloty, Ein Jahrhundert bayerischer Staatsrechts-Literatur (Festgabe für Laband), Tübingen 1908,1, S. 35 ff. (Das Biedermeier).
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Sachsen von Bülau, in Württemberg Robert von Mohl, in Kurhessen Murhard usw. Eine der ersten Darstellungen des gemeinen deutschen Staatsrechts im neuen Stil ist das unvollendete „Lehrbuch des gemeinen und deutschen Staatsrechts" des im Jahre 1826 zum ordentlichen Professor in Jena ernannten Staatsrechtslehrers Karl Ernst Schmid.[ 13] Es ist 1821 erschienen und steht ganz in der Gedanken- und Begriffswelt des westlichen Konstitutionalismus. Wie sehr es in diesem Sinne zeitgemäß war, zeigt sich darin, daß ihm und dem auf Schmids Entwürfe zurückgehenden „Grundgesetz für die vereinigte landschaftliche Verfassung des Herzogtums Sachsen-Meiningen" vom 23. August 1829 der Ruhm gebührt, als erstes staatliches Gesetz - und zwar noch vor den sonst meistens hierfür zitierten französischen oder belgischen Gesetzen - das Verbot der Auslieferung politischer Verbrecher und den neuen Gedanken des politischen Asyls in das positive Recht eingeführt zu haben17. Der in diesem Begriff des politischen Verbrechens vorausgesetzte Begriff des Politischen lag bei der damaligen deutschen Vielstaaterei nahe; er entsprach aber auch im ganzen der liberalen Tendenz des 19. Jahrhunderts, das Politische wesentlich vom Innerpolitischen her aufzufassen und dementsprechend zu definie18
ren . Für den vernunftrechtlichen „philosophischen" Charakter des ersten Stadiums ist das „Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften" kennzeichnend, das der Freiburger Professor Carl Rotteck 1829 in Stuttgart veröffentlichte. Der zweite Band war die „Allgemeine Staatslehre" (2. Auflage 1840). Eine allgemeine Weltgeschichte und ein mit Welcher zusammen herausgegebenes Staatslexikon machten die rezipierten Begriffe des westlichen Konstitutionalismus in allen Schichten des gebildeten Bürgertums populär. [14] Es ist für die Geschichte der Judenfrage in Deutschland sehr wichtig, daß sich die Haltung des gebildeten und besitzenden deutschen Bürgertums in der Judenfrage zum großen Teil aus der Selbstverständlichkeit konstitutioneller Verfassungsideale, insbesondere aus dem 17 Mettgenberg, Das erste Verbot der Auslieferung politischer Verbrecher, Zeitschrift für Völkerrecht, Bd. XIV (1927), S. 237 ff.; ferner Siebenhaar, Der Begriff des politischen Delikts im Auslieferungsrecht, Berliner rechtswissenschaftliche Dissertation 1939. 18 Wilhelm Hanemann, Der Begriff des Politischen in der deutschen Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Heidelberger staatswissenschaftliche Dissertation 1934, S. 29 ff. 19 Eine in den geschichtlichen Darstellungen der Judenfrage dieser Zeit unbeachtet gebliebene, aber wichtige und typische Äußerung zur Judenfrage sei ihrer besonderen Bedeutung wegen hier ausführlich zitiert, weil sie zeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit der liberale Bürger das nichtbesitzende deutsche Volk als „Pöbel" und „besitzloses Gesindel", den an Bildung und Besitz beteiligten Juden dagegen als seinesgleichen ansah. In Rottecks Allgemeiner Geschichte (Braunschweig 1846, Bd. X, 1, Erster Ergänzungsband, S. 82) heißt es zu den Unruhen, die 1820 am Main gegen die jüdischen Wucherer ausgebrochen waren: „ E r s t durch die Einwirkungen der französischen Revolution waren die äußeren gesellschaftlichen Unterscheidungen, die unter der alten Reichsverfassung zwischen Christen und Juden bestanden, aufgehoben worden, und der Pöbel fühlte sich tief gekränkt, daß dieselben bei der Austreibung der Franzosen nicht in ihrem vollen Umfang wiederhergestellt wurden. Die niedrigste Klasse der christlichen Bevölkerung, der es oft an dem Notwendigsten fehlte, hatte in der alten Zeit doch immer noch den Trost gehabt, daß sie nicht den letzten Rang in der gesell-
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konstitutionellen Begriff des „Staatsbürgers" erklärt 19 . Der totale Charakter der liberal-konstitutionellen Weltanschauung bewährte sich darin, daß sowohl auf rechtlichem wie auf geschichtlichem Gebiet ein neues Gesamtbild entstand und alle aus dem alten Reich überkommenen Vorstellungen, Begriffe und Redensarten veränderte. Robert von Mohl begann seine Tübinger Vorlesungstätigkeit 1824 damit, „die konstitutionelle Auffassung zur Anwendung" zu bringen und vor allem Benjamin Constant zu übernehmen 20. Seine „Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates" (1832) wurde für den liberalen Rechtsstaatsbegriff bahnbrechend. In dem Maße, in dem sich die gleichzeitig nationale und liberale Bewegung dem Jahre 1848 näherte, steigerte sich die Überzeugungkraft des gemeinen deutschen Staatsrechts. Trotz aller von Rudolf Smend 21 hervorgehobenen Verschiedenheiten und Besonderheiten der in der reichspublizistischen Tradition verbleibenden Göttinger Rechtslehrer wirkte auch H. A. Zachariaes 1841 veröffentlichtes „Deutsches Staats- und Bundesrecht I. Teil, Allgemeine Lehren und Verfassungsrecht der deutschen Bundesstaaten" im Ergebnis in derselben konstitutionellen Gesamtrichtung. In Darmstadt erschienen 1837 K. D. A. Röders „Grundzüge der Politik des Rechts, Teil I: Allgemeine Staatsverfassungslehre"; in Gießen 1843 F. Schmitthenners „Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts". Ihren Höhepunkt erreicht die auf den deutschen Universitäten siegreiche, neue wissenschaftliche Disziplin nach 1848, in dem kurzen anderthalben Jahrzehnt von der Wiederherstellung des Deutschen Bundes bis zu seiner Auflösung (1850 1866). In dieser Zeit hat die deutsche Staatsrechtswissenschaft des dritten Deutschland die politische Niederlage der liberalen Bewegung von 1848 und den Sieg der Reaktion in einen Triumph des konstitutionellen Verfassungsrechts zu verwandeln gewußt. Die Philosophie hört auf; der sichtbare Einfluß französischer Vorbilder tritt stark zurück; der konstitutionelle Kern wird um so klarer. Das führende Werk dieser Zeit schrieb Johann Caspar Bluntschli, damaliger Professor in München, mit seinem „Allgemeinen Staatsrecht" von 1852 (4. Auflage 1868). Neben ihm verdient das „System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands mit besonderer Rücksicht auf den Constitutionalismus" des Würzburger Staatsrechtslehrers Joseph Held aus dem Jahre 1856 erwähnt zu werden. Das große Handbuch von Zöpfl und H. A. Zachariae hat mehr praktische Bedeutung, liegt aber auch hier in der Gesamtrichtung durchaus „konstitutionell". [15] Das „Staatsschaftlichen Ordnung einnahm, da es Menschen gab, die, wenn sie auch mit Reichtümern überladen waren, und sich durch wissenschaftliche Bildung oder Tugenden jeder Art auszeichneten, doch durch das Gesetz weit unter das roheste besitzlose Gesindel gestellt wurden.Man konnte es dem Pöbel darum kaum verdenken, daß er in der Gleichstellung der Juden mit den Christen und in jeder Annäherung zu einer solchen Gleichstellung eine Kränkung seines guten Rechtes sah; forderte doch der Adel seine alten Vorrechte zurück, warum hätte der Pöbel nicht dasselbe tun sollen?" 20
Robert von Mohl, Lebenserinnerungen, Stuttgart und Leipzig 1902,1, S. 146. 21 Deutsche Rechtswissenschaft, Bd. IV (1939), S. 27. [Der Einfluß d. deutschen Staats- u. Verwaltungsrechtslehre d. 19. Jhdts. auf d. Leben in Verfassung und Verwaltung, S. 25 - 39. G. M.].
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lexikon" dieser Epoche wird von Bluntschli und dem bayerischen Liberalen Brater herausgegeben. [16] Diese Beispiele zeigen, daß auch in diesem Stadium das „dritte Deutschland" der eigentliche Schauplatz einer gemeinrechtlichen Neubildung auf dem Gebiete des Staats- und Verfassungsrechts ist, dieses Mal in Verbindung mit den politischen Chancen, die sich in jener Zwischenzeit den Staaten des „dritten Deutschland" zu eröffnen schienen22. Preußen und Österreich hatten zu viel eigene staatliche Substanz. Sie hielten sich gegenüber den Systematisierungen des Konstitutionalismus zurück, waren aber andererseits auch nicht imstande, der Wissenschaft eines gemeindeutschen Staats- und Verfassungsrechts von sich aus die Gesamtprägung zu verleihen. Mit dieser, Preußen und Österreich betreffenden Einschränkung, muß festgestellt werden, daß der Erfolg des „allgemeinen" deutschen Staatsrechts als wissenschaftlicher Disziplin unbestreitbar war. Er ergibt sich schon aus Robert von Mohls „Geschichte und Literatur des allgemeinen konstitutionellen Staatsrechts"23. Vor allem ist der bedeutendste Lehrer des öffentlichen Rechts und zugleich der größte Gegner des „allgemeinen" Staatsrechts, Rudolf von Gneist, wiederholt als Kronzeuge gegen dieses „allgemeine" Staatsrecht aufgetreten. Er hat darüber geklagt, daß man Jahrzehnte hindurch „französische Theorien schlechthin als konstitutionelle Verfassungsgrundsätze behandelt" hat und daß auch der preußische Jurist unbekümmert um seinen Teil II des Allgemeinen Landrechts diesem allgemeinen konstitutionellen Staatsrecht als der „Staatsphilosophie der gebildeten Klassen" anheimgefallen war 24 . Von Gneist stammt die beste, auf eigenster Erfahrung beruhende, sachkundige Gesamtkennzeichnung: „Was auf den deutschen Universitäten seit 1806 als Staatsrecht gelesen und gehört wurde, war entweder ein philosophisches, „allgemeines" Staatsrecht oder ein Gebiet von Rechtsaltertümern, für welches der Kreis der Liebhaber immer kleiner wurde. Um so weiter dehnten sich die allgemeinen Lehren des Privatrechts aus, die man seit dieser Zeit als allgemeine Normen des juristischen Denkens ansah, obgleich man in der Wirklichkeit nur den allgemeinen Teil des Vermögensrechts vor sich hatte 25 . Gneist hat aber auch den Wesenszusammenhang dieser Verallgemeinerungen mit dem Vorgang der Rezeption an der gleichen Stelle klar erkannt und ausgesprochen: „In Wechselwirkung damit [mit diesem allgemeinen Staatsrecht und dem Mangel staatswissenschaftlicher Bildung] steht die Rezeption fremder Rechtsbegriffe [von Gneist gesperrt], die heute, wie einst zur Zeit der Rezeption des römischen Rechts, die juristische Logik verwirrt und dahin führt, daß die Juristen weder das alte noch das neue Recht zu beherrschen wissen" 26 . 22 Es ist die Zeit der Reformpläne von Beust (Sachsen) und von der Pfordten (Bayern) sowie der Bamberger (1854) und Würzburger (1860) Konferenzen; vgl. Walter Peter Fuchs, Die deutschen Mittelstaaten und die Bundesreform 1853 bis 1860, Berlin 1934; H. F Feine, Das Werden des deutschen Staates, Stuttgart 1936, S. 184. 23 R. von Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. I (1855), S. 265 ff. 24 R. von Gneist, Der Rechtsstaat, 1872, S. 149; Die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußische Dreiklassenwahlsystem, 1894, S. 5. 2 5 Gneist, Budget und Gesetz, Berlin 1867, S. 5.
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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich aber auch die Wendung zum juristischen Positivismus. Sie gehört zu der oft geradezu nihilistischen Enttäuschung, die nach den Erfahrungen der Jahre 1848/49 eintrat. Der „Traum des Naturrechts" war, nach Windscheids viel zitiertem Ausspruch aus dem Jahre 1854, „ausgeträumt". In Wahrheit war die geistige Grundlage des bisherigen Gemeinen und Allgemeinen, die große Systematik der Philosophie des 18. Jahrhunderts und des deutschen Idealismus, zusammengebrochen. Das letzte und größte dieser Systeme, Hegels Philosophie des objektiven Geistes, versank unter dem Hohngelächter Schopenhauers und eines ahnungslos mitlachenden Bürgertums. Die Allgemeinheit hatte damit sowohl ihre logisch-systematische Konsistenz wie ihre gemeinsame geistige Substanz verloren. Sie wurde auf der einen Seite „allgemeine Bildung", auf der andern eine Methode technischer Begriffsausklammerungen eines immer neutraler und in diesem Sinne immer allgemeiner werdenden allgemeinen Teils. Vor dem ängstigenden Rechtsnihilismus suchte man Schutz beim Staat und beim staatlichen Gesetz. Das ist der tiefere, rechtsgeschichtliche Sinn des nach 1848 in Deutschland auftretenden Gesetzespositivismus, der - mit Rücksicht auf das Gemeinrecht der Pandektenwissenschaft - zunächst noch weitgehende Vorbehalte zugunsten des Gewohnheitsrechts machen mußte, um dessen „Positivität" wenigstens bis zur nächsten Gesetzeskodifikation zu retten 27. Dieser neue, unwiderstehlich vordringende, juristische Positivismus des positiv geltenden staatlichen Gesetzes stellte das gemeine deutsche Staatsrecht vor die Frage, ob und wieso es denn überhaupt wirkliches, d. h. staatlich gesetztes positives Recht sei? Das war für die neue Disziplin eine schwierige und in dieser Zeitlage sogar eine lebensgefährliche Frage. „Das Staatsrecht kann", sagt Friedrich von Gerber, „seiner Natur nach nur das Recht eines bestimmten Staates sein, da es eine konkrete, geschichtlich realisierte staatliche Willensmacht voraussetzt. Sonach könnte für Deutschland nur von einem Staatsrecht jedes einzelnen der selbständigen Staaten die Rede sein, welche innerhalb der deutschen Völksverbindung nebeneinander bestehen"28. Für eine Berufung auf die gewohnheitsrechtliche Geltung, wie sie dem seit Jahrhunderten rezipierten römischen Recht zugute kam, fehlte dem vor kaum zwei Menschenaltern entstandenen gemeindeutschen Staatsrecht der lange Zeitraum. So treten denn seit 1860 die Fragen nach dem Geltungsgrund und der Rechtsnatur wie die Totenvögel des nahen Endes auf. Der erste und einzige, 1867 erschienene Band von Aegidis „Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte" enthält allein drei größere Aufsätze zu diesem Problem 29. Man betont den Unterschied einer „rein wissenschaftlichen" Diszi26 Ebenda, S. 64. 27 „Man darf nicht vergessen, daß die deutsche Theorie des Gewohnheitsrechts sich vor 1848 durchgesetzt hat, ihre eigentlich polemisch-politische Bedeutung damals also durch den Gegensatz gegen das Gesetzgebungsrecht der absoluten Fürsten bestimmt war." 2 » F. von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 1. Aufl. 1865, 3. Aufl. 1880, S. 9. 29 Robert von Mohl, Bemerkungen über die neuesten Bearbeitungen des allgemeinen deutschen Staatsrechts, S. 354 ff.; H. Schulze (Breslau), Über Prinzip, Methode und System des
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plin des gemeinen deutschen Staatsrechts oder einer bloß „rechtsphilosophischen Einleitung" gegenüber der staatlich-positiven Geltung wirklicher Rechtssätze. Zöpfl, H. A. Zachariae (Göttingen) und H. Schulze suchen mit verschiedener Begründung den „positiven" Charakter zu retten, indem sie entweder die wissenschaftlich gefundenen Begriffe teils als fundamentale, teils als ergänzende Bestandteile des positiven Staatsrechts hinstellen oder behaupten, diese wissenschaftlichen Begriffe seien in das Rechtsbewußtsein von Regierung und Volk übergegangen und allgemein anerkannt. Mohl, Kaltenborn und Gerber dagegen lassen den positiven Charakter fallen und sprechen dem allgemeinen deutschen Staatsrecht nur wissenschaftliche Bedeutung zu. Alles mußte aufatmen, als endlich im Jahre 1867 mit der Gründung des Norddeutschen Bundes ein zweifellos positives Bundesstaatsrecht erschien, wenn auch die juristische Konstruktion der Gründung des Bundesstaates als eines Gesamtaktes für das staatlich-positivistische Gesetzesdenken ein unlösbares Rätsel blieb 30 . Jetzt, 1868, kennzeichnet Joseph Held die geschichtlich erledigte Disziplin folgendermaßen: „Der Begriff eines gemeinen deutschen Staatsrechts oder richtiger eines deutschen Staatsrechts ist demnach entweder ein noch unentschiedener Protest des deutschen staatlichen Einheitsdranges gegen die politische Zerstückelung der Nation oder, was bisher gänzlich unbeachtet blieb, ein Protest der politischen Freiheit, ein Hebel der freiheitlichen und nationalen Reform gegen den Rest des Absolutismus auf Grund derselben alten, allgemein-nationalen gewohnheitsrechtlichen Bildung, welche früher von Seiten des Feudalismus oder des feudalen Rechtspartikularismus und Spezialismus den höheren Einigungs- und Befreiungsbestrebungen des modernen absoluten Fürstentums entgegengestellt wurde". Diese treffende Kennzeichnung erscheint freilich, wie die Eule der Minerva, erst am Ende der Epoche des gemeindeutschen Staatsrechts. Doch darf nicht vergessen werden, daß das Reichsgericht (III. Senat) noch im Jahre 1882 das „allgemeine konstitutionelle Staatsrecht" als Entscheidungsgrundlage heranzieht, um die Frage zu bejahen, ob Staats Verträge, die dem Staate selbst oder den Staatsangehörigen Verpflichtungen auferlegen, der Genehmigung der Landstände bedürfen 31. Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes und dessen Erweiterung zum Zweiten Reich mußte dieses allgemeine und gemeine deutsche Staatsrecht eines natürlichen Todes sterben. Aber es starb nur als allgemeine deutsche Staatsrechtslehre, während es sich gleichzeitig in ebenso natürlicher Weise zu einer allgemeideutschen Staatsrechts, S. 417 ff.; Über den Begriff des Staatsrechts im Allgemeinen und den des deutschen Staatsrechts insbesondere von J. Held (Würzburg), S. 452 ff. 30 Zur Theorie des Gesamtaktes und der Vereinbarung: Gierke, Genossenschaftstheorie III, Berlin 1887, S. 132; Kariowa, Grünhuts Zeitschrift XV (1887), S. 402; Karl Binding, Die Gründung des Norddeutschen Bundes, Festgabe für Windscheid, 1888, S. 69 f. (abgedruckt in der Sammlung „Zum Werden und Leben der Staaten" 1920, S. 161, 217); G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 193; Kuntze, Der Gesamtakt, Festgabe für Müller, Leipzig 1892; schließlich H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 37, 178 f. 31 RGZ 7, 52.
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nen Staatslehre des Konstitutionalismus erweiterte und in dieser Form europäische, ja Weltgeltung erlangte. Den entscheidenden Schritt in dieser Richtung stellt Georg Jellineks Allgemeine Staatslehre (1. Auflage 1900) dar 32 . Die von ihm geplante besondere Staatslehre ist Fragment geblieben. [17] Sie war aus denselben Gründen unmöglich, aus denen, wie gerade G. Jellinek selbst betont hat, Otto Mayer ein „besonderer" Teil seiner Art Verwaltungsrecht nicht möglich war (vgl. unten). Der logische und methodische Kunstgriff, der die Disziplin einer allgemeinen Staatslehre vor positivistischen Bedenken rettet, besteht darin, daß die allgemeine Staatslehre von einer Staatsrechtslehre scharf getrennt, aber doch als rechtswissenschaftliche Disziplin beibehalten wird. Das Geheimnis des Welterfolges aber erklärt sich daraus, daß diese allgemeine Staatslehre in der Sache nichts anderes ist als die Verallgemeinerung des weltläufigen, liberaldemokratischen Verfassungsrechts. Nach der Entstehung des Zweiten Reiches blieb der deutschen Universitätswissenschaft nur noch ein Betätigungsgebiet für die Bildung eines neuen deutschen Gemeinrechts: das Verwaltungsrecht. Staats- und Verfassungsrecht konnten positivistisch werden, weil eine Reichs-, d. h. eine bundesstaatliche Verfassung als staatliches, wenn auch nur bundesstaatliches Gesetz vorlag. Die Verwaltung dagegen war in der Hauptsache einzelstaatlich geblieben und harrte daher einer auf Rezeption beruhenden rechtswissenschaftlichen Systembildung. Die größeren Einzelstaaten empfanden das Bedürfnis nach einem Gemeinrecht nicht. Das preußische Verwaltungsrecht genügte sich auch in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus selbst, und der größte Verwaltungsrechtslehrer dieser Zeit, Rudolf von Gneist, war in ihm verwurzelt. Auch das bayerische, württembergische, sächsische, badische Verwaltungsrecht konnte seine Besonderheit vor allem auf Grund einer Praxis der Verwaltungsgerichtshöfe wahren. So blieb für die Praxis eines gemeindeutschen Verwaltungsrechts kein sehr großer Spielraum. Um so unbestrittener war der rechtswissenschaftlich-theoretische Sieg. Dieses Mal ging der Anstoß von der deutschen Universität des Reichslandes Elsaß-Lothringen, von Straßburg aus. Als junger deutscher Anwalt hatte der aus Mittelfranken stammende Jurist Otto Mayer unmittelbar nach der Reichsgründung in den Jahren 1872 - 1880 zuerst die Praxis eines französisch geprägten Rechtslebens und dann als Dozent der deutschen Universität in Straßburg die große Schöpfung der Praxis des Conseil d'Etat kennengelernt. Im Jahre 1886 veröffentlichte er eine „Theorie des französischen Verwaltungsrechts", von der er selber sagt: „Es gibt ja eine solch eigentümliche Besonderheit der Denkweise: was der Franzose mit glücklichem Instinkte zu schildern und anschaulich zu machen weiß, muß der Deutsche, um es voll zu beherrschen, in seine festen, scharfumrissenen Begriffe fassen; anders wird es bei uns
32 Der 2.Auflage, die 1905 erschienen war, war bereits eine französische und eine russische Übersetzung vorangegangen; 1906 folgte eine tschechische, 1921 eine italienische Übersetzung. Bereits im Jahre 1903 war an der Universität Rom ein eigener Lehrstuhl für „diritto pubblico generale" gegründet und V. E. Orlando übertragen worden.
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nicht getan. Die Verwandtschaft und die Gegensätze dieser Begriffe führen dann von selbst auch zu einem gewissen System der Darstellung, in welchem sie sich gegenseitig erläutern und begrenzen, gerade wie das bei unserer Behandlung des römischen Rechts sich herausgebildet hat" 33 . Otto Mayer fühlte sich hier nur als „Berichterstatter über die Taten der französischen Juristen", deren Begriffe ihm fertig und vollendet erschienen, die er aber in ein System brachte. Im Vorwort zur ersten, 1895/96 erschienenen Auflage seines großen systematischen deutschen Verwaltungsrechts heißt es: „Wenn ich ein deutsches Verwaltungsrecht schreiben sollte, so müßte ich dabei den Anforderungen zu entsprechen suchen, welche ich in meiner Theorie des französischen Verwaltungsrechts an eine derartige Arbeit gestellt habe. Das bot aber hier ganz andere Schwierigkeiten. Dort habe ich den Einheitsstaat vor mir mit schlechthin nationalem Recht. Hier die Mannigfaltigkeit der Landesrechte, ihrerseits wieder in verschiedenem Maße dem Einflüsse fremden, d. h. französischen Rechtes unterliegend. Dort ein neues Recht aus einem Gusse, wie es aus dem Schmelzofen der Revolution hervorging. Hier allmähliche Übergänge und alles durchzogen von stehengebliebenen Resten des Alten. Dort, auf diese Voraussetzungen gegründet, eine wohlgefestigte Lehre mit einer verblüffenden Gleichartigkeit der Schriftsteller. Ich konnte damals aufrichtig schreiben, ich sei bloß Berichterstatter über die Taten der französischen Juristen. Alle Rechtsbegriffe waren fertig gegeben; ich hatte nur eine andere Ausdrucksweise und Anordnung hinzuzutun. Wer möchte behaupten, daß unsere deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft auch nur annähernd zu einem ähnlichen Abschluß gekommen sei?" Hier liegt also ein ganz erstaunlicher Fall einer Rezeption vor. Es werden nicht nur von der französischen Verwaltungsjurisprudenz entwickelte Begriffe wie Verwaltungsakt, Verwaltungsstreitsache, öffentlicher Vertrag, öffentliches Eigentum, öffentliche Anstalt übernommen; auch die verfassungsrechtliche Grundlage dieses verwaltungsrechtswissenschaftlichen Gebäudes in typisch französischer Ausprägung der Teilung der Gewalten. „Rechtsstaat" wird zur dialektischen Überwindung des ,,Polizeistaates",[18] Rechtsstaat wird aber zugleich in typischer Weise zu einem auf Gewaltenteilung beruhenden Gesetzesstaat mit Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. Verwaltung wird definiert als das, was nicht Legislative oder Justiz ist. Jetzt erst ist die Rezeption und der Sieg des französischen Konstitutionalismus vollendet, weil er ins Allgemeine erhoben ist. Georg Jellinek bemerkte gleich, Otto Mayer könne auf Grund seines Ausgangspunktes keinen besonderen Teil des Verwaltungsrechts kennen, da er einen solchen aber trotzdem hat, so handelt es sich dabei nach Jellineks Meinung um die Fortsetzung des Allgemeinen Teils. Mayer verdeckt dies, wie Jellinek sofort sieht, durch ein künstliches, mit privatrechtlichen Analogien durchsetztes System. „Vom Standpunkte Mayers ist es eben unmöglich, zu etwas anderem als einer allgemeinen Theorie des Verwaltungsrechts zu gelangen. Denn alles Spezialisierende liegt gerade in jenen Objekten der Ver33
In seiner Selbstbiographie (herausgegeben von Planitz, 1924), S. 162.
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waltung, denen kein Einfluß auf das System eingeräumt werden soll. So hat denn der Verfasser der Theorie des französischen Verwaltungsrechts diesem seinem ersten Werke nicht ein System, sondern eine auf gleicher systematischer Grundlage aufgebaute Theorie des deutschen Verwaltungsrechts an die Seite gesetzt"34. Ein anderer jüdischer Rechtsgelehrter hat nach dem Tode Otto Mayers die Gelegenheit benutzt, um gegenüber dessen französischen Rezeptionen sich selbst als den Hüter des bodenständigen preußischen Verwaltungsrechts aufzuspielen 35. Er hat damit nur ein weiteres Beispiel dafür geliefert, daß die schwierige Frage der Verwandtschaft und des Gegensatzes von zwei benachbarten europäischen Völkern durch die Einmischung eines Juden nur getrübt und vergiftet wird. Der große Erfolg Otto Mayers ist bekannt. Die systematischen Lehrbücher des deutschen Verwaltungsrechts sind bis auf den heutigen Tag von ihm her bestimmt. Seine Methode galt als „rein juristisch". Der abstrahierenden und verallgemeinernden Begriffsbildung der Wissenschaft sind landesgesetzliche Kodifikationen in weitem Maße gefolgt. „Dieselbe juristische Betrachtungsweise, die durch die Privatrechtswissenschaft groß geworden ist, ist auch auf die Behandlung verwaltungsrechtlicher Probleme übertragen worden. Den Bann hat Otto Mayer gebrochen mit seinem grundlegenden Werk." Das sagt Fritz Fleiner, dessen „Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts" ein hervorragendes Beispiel der Wirkung Otto Mayers sind 36 . Fritz Fleiner, der jene Feststellung macht, fügt unter Berufung auf Enno Becker hinzu, daß der Versuch der Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919, allgemeine verwaltungsrechtliche Begriffe (Verfügungen usw.) in bestimmte Gesetzesvorschriften zusammenzufassen und sie so dem Steuerrecht und dessen Anwendung nutzbar zu machen, ebenfalls auf den Versuch Otto Mayers zurückgeht 37. Der „Welterfolg" ist auch hier nicht ausgeblieben. Otto Mayer selbst konnte sich der Rückwirkung seiner Werke auf die französische Jurisprudenz rühmen 38. In der italienischen Wissenschaft des Verwaltungsrechts trug sein Einfluß zur unbestritte-
34
Verwaltungsarchiv 5, 306. Verwaltungsarchiv 30, 377 ff. [E. Kaufmann, Otto Mayer - Ein Beitrag z. dogmat. u. histor. Aufbau des dt. Verwaltungsrechts - G.M.]. 36 Fleiner, Institutionen des Verwaltungsrechts, S. 44. Die französische Übersetzung der Institutionen Fleiners durch Ch. Eisenmann trägt den Titel „Les principes generaux de droit administratif allemand", Paris 1933. 37 Enno Becker, Kommentar zur RAO. Vorbemerkung zu § 73; dazu die Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer vom März 1926 (Heft 3 der Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1927 über den „Einfluß des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts"), S. 77: „In keinem Gesetz ist der Einfluß O. Mayers so stark zum Ausdruck gekommen wie in der AO." (was in diesem Zusammenhang um so merkwürdiger ist, als es sich um die eigenständige Begriffsbildung der Steuerrechtswissenschaft handelte!). S. 120 heißt es wörtlich: „Der Wert des Steuerrechts liegt darin, daß durch dieses zur Klärung der allgemein verwaltungsrechtlichen Begriffe beigetragen wird." 35
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Selbstbiographie (bei Planitz), a. a. O.
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nen Herrschaft einer „rein juristischen" Methode bei 39 . Ein enger Zusammenhang rechtswissenschaftlicher Systematisierung mit philosophischen Systemen bleibt gewahrt. Otto Mayer selbst hat auf das Nachdrücklichste betont, daß er ohne die Beschäftigung mit der Philosophie Hegels sein verwaltungsrechtliches System nicht habe entwickeln können. Unsere kurze rechtsgeschichtliche Erinnerung an die auf allen wichtigen Gebieten festzustellende Strukturgleichheit der rechtswissenschaftlichen Arbeit in Deutschland soll dazu dienen, folgende Sätze zu veranschaulichen: 1. Die Verbindung von Rezeption, rechtswissenschaftlicher Systembildung und Schaffung eines gleichzeitig „gemeinen", d. h. gemeinsamen, und „allgemeinen", d. h. durch systematisierende Begriffsbildung gewonnenen, deutschen Gemeinrechts ist die bisherige Gesamtleistung der deutschen Rechtswissenschaft. 2. Mit dieser Leistung war die deutsche Rechtswissenschaft der eigentliche deutsche Rechtsstand. 3. Der Begriff eines deutschen Gemeinrechts war bisher durch die Besonderheit dieser rechtsgeschichtlichen Entwicklung und daher wesentlich durch die staatliche Zerrissenheit Deutschlands bestimmt. 4. Der Stil der Gesetzeskodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts entspricht, auch bei scheinbar wissenschaftsfeindlicher Haltung des Kodifikators, durchaus der von einer „gemeinrechtlichen" Wissenschaft geschaffenen Methode der Systematisierung. Jede Selbstbesinnung der deutschen Rechtswissenschaft auf ihren heutigen Beruf, ihren Stand und ihre Aufgabe muß von der rechtsgeschichtlichen Tatsache dieser bisherigen Verbindung von Rezeption, Systembildung und Gemeinrecht ausgehen, sowohl um die Verschiedenheit der Begriffe System und Gemeinrecht, wie auch um die Möglichkeiten einer Anknüpfung und Fortführung in aller Klarheit zu sehen. Sobald der Begriff des Reiches wiederhergestellt ist, muß insbesondere der ihm zugeordnete Begriff eines deutschen Gemeinrechts von allen Nachwirkungen und Überbleibseln der bisherigen Entwicklung freigemacht werden. Deutsches Gemeinrecht kann dann nicht mehr, wie früher, ein aus verallgemeinernden Begriffen bestehender Dachbau sein, es muß vielmehr, als das allen deutschen Völksgenossen innewohnende Recht, seinen grundrechtlichen Charakter bewähren. Auch die Lehre vom konkreten Ordnungsdenken, die den Gesetzes- und Kodifikationspositivismus des 19. Jahrhunderts und die ihm zugehörigen Allgemeinbegriffe durch ein von einem deutschen Rechtsstand getragenes Recht zu überwinden suchte, hat bei der Erkenntnis der rechtsgeschichtlichen Verbindung von Rezeption, Systembildung und Normativismus angesetzt und kann deshalb nur von diesem ihrem Ausgangspunkt her sinnvoll bekämpft oder weitergeführt werden.
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V. E. Orlandos „Primo trattato completo di diritto amministrativo italiano" erschien 1897; er ist nicht von O. Mayer abhängig, aber in ähnlicher Weise ,/ein juristisch".
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. den Überblick bei R. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft, II, 1856, S. 286 - 394. Mohl betonte zwar, „dass jeder der einzelnen deutschen Staaten auch sein eigenes öffentliches Recht besitzt" (S. 287) und daß die Verfechter eines allgemeinen deutschen Staatsrechts „den bei weitem grössten Theil ihrer Darstellung nur aus ungebührlich verallgemeinertem partikulärem Rechte, oder aus rechtsphilosophischen Sätzen bilden konnten" (S. 295), kam aber zu dem Schluß: „In diesem Sinne und in dieser Beschränkung . . . ist dann ein gemeinsames Staatsrecht sämmtlicher deutscher Staaten anzuerkennen. Es ist ein Torso, dessen übrige Glieder durch Erdbeben abgerissen und in die Weite geschleudert sind. Es hat natürlich nicht die Schönheit und den Werth des ganzen Bildes; jedoch auch in der Verstümmelung hat es noch Werth für Wissenschaft und Leben, vor Allem eine nationale Bedeutung. Wir müssen es, bis es etwa durch ein neues vollständiges Ganzes ersetzt wird, ehren und benützen." (S. 295.) Vgl. a. vorl. Bd., S. 188. [2] Handbuch des französischen Civilrechts, 2 Bde., Freiburg 1808. [3] Vgl.: M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, II, 1800 - 1914, 1992, bes. S. 121 ff., 322 ff., 381 ff. (über die Entwicklung im Verwaltungsrecht). [4] Zum Einfluß Constants in Deutschland: F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, II, Monarchie und Volkssouveränität, 1933, S. 176 f.; L. Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, 1963, bes. S. 183 - 198; H. Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, 1975, bes. S. 142 - 151. [5] Der Art. 16 lautete: „Toute societe dans laquelle la garantie des droits n'est pas assuree, ni la separation des pouvoirs determinee, n'a pas de constitution." Vgl. vorl. Bd., S. 5, 21 [IL [6] Vgl. etwa: F. I. Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, 1990, bes. S. 76 (Brief an d. Grafen Dohna v. 24. 2. 1843), 93 ff.; 101 ff., 127 ff., u. ö. Zur preuß. Verfassungsentwicklung unter Friedrich Wilhelm IV. vgl.: E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II, 2. Aufl. 1975, S. 477 - 498, 571 - 586, 724 - 766; Bd. III, 2. Aufl. 1978, S. 3 - 26, 35 - 53. [7] Vgl. vorl. Bd., Die Formung d. französischen Geistes durch den Legisten, S. 214, FN [19]. [8] Über ihn vgl.: Stolleis, Geschichte des öffentl. Rechts in Deutschland, I, S. 319 f. [9] Vgl.: E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, I, 1960, S. 7 5 - 9 1 ; F. Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, 9. Aufl. 1969, S. 191 - 197. [10] Max Lehmann behauptete (in: Die preuß. Reform v. 1808 und die französische Revolution, Preuß. Jahrbücher, 132 / 1908, S. 211 ff.) eine Abhängigkeit des Reichsfreiherrn vom Stein von den Ideen der französischen Revolution; dem widersprach E. v. Meier in: Der Minister vom Stein, Die französische Revolution und der preußische Adel, Leipzig 1908. Vgl. die Rezensionen von O. Hintze, FBPG, 20 / 1907, S. 607 - 09; FBPG, 21 / 1908, S. 313 - 36; ebd., S. 625 - 27, sowie G. Küntzel, Über das Verhältnis Steins zur französischen Revolution, Schmollers Jahrbuch, 1910, S. 69 - 90.
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[11] Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 363 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789,1, 1960, S. 658 ff. Vgl. a. vorl. Bd., S. 158,163 [11]. [12] Zu Klüber: R. Mohl, wie FN [1], S. 473 - 487; Stolleis, wie FN [3], S. 81 - 85. [13] Vgl. Stolleis, wie FN [3], S. 167 f. [14] Das „Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften" erschien v. 1829 35 in 4 Bänden in Stuttgart; die „Allgemeine Geschichte" von 1812 - 26 in 9 Bänden in Freiburg; das gemeinsam mit Karl Theodor Welcker herausgegebene „Staats-Lexikon oder Encyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände" in Altona v. 1834 - 43 in 15 Bänden (3 Auflagen). Der Plan zu diesem Lexikon ging auf Friedrich List zurück, der sich jedoch, nach Streitigkeiten mit Welcker, zurückzog. Zur Entstehung, Bedeutung und Wirkung: H. Zehntner, Das Staatslexikon von Rotteck und Welcker. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Frühliberalismus, Jena 1929. [15] Wohl Irrtum Schmitts, da Heinrich Zöpfl (1807 - 77) und Heinrich Albert Zachariae (1806 - 75) kein gemeinsames Handbuch herausgegeben haben. Schmitt meint wohl v. Zöpfl: Grundsätze des allgemeinen und des Constitutionen- monarchischen Staatsrechts, Heidelberg 1841; das Werk erfuhr bis 1863 unter wechselndem Titel mehrere Auflagen, wurde stets erweitert und trug zunehmend konservativere Akzente; zuletzt, 1863, u. d. T. „Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts", 2 Bde., Ndr. 1975. Bei Zachariae denkt Schmitt an dessen „Deutsches Staats- und Bundesrecht", 3 Teile, Göttingen 1841 - 43. Zöpfl hielt am Dasein „eines nationalen Ideenkreises in staatsrechtlicher Beziehung" fest, während Zachariae, zunächst großdeutsche Hoffnungen hegend, 1866 als anti-preußischer „Weife" in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt wurde, vgl. Stolleis, wie FN [3], S. 324 f.; über beide Autoren schreibt: P. v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974, S. 82 ff., 114 ff.; ü. Zachariae: Chr. Starck, H. A. Zachariae. Staatsrechtslehrer in reichsloser Zeit, in: F. Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 204 - 28. [16] J. C. Bluntschli / K. Brater (Hrsg.), Deutsches Staats-Wörterbuch, 12 Bände, Bde. 1 11, Stuttgart 1856 - 68, Bd. 12. Leipzig 1870. Zum „Staats-Wörterbuch" vgl. auch d. Hinweise bei: J. J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, 1770 - 1914, aus dem Engl., 1983, S. 101, 104, 106, 127. [17] Jellinek schrieb im Juli 1900 i. d. Vorrede zur ersten Auflage s. Werkes: „Wenn an verschiedenen Stellen nähere Ausführungen vermißt werden, so sei zur Ergänzung auf den zweiten Teil verwiesen: Er soll die spezielle Staatslehre enthalten, als Darstellung der einzelnen Institutionen des modernen Staates, und zwar in stetem Hinblicke auf die deutschen Verhältnisse." In s. Vorrede zur 2. Aufl., 1905, hieß es: „Nach verhältnismäßig kurzer Zeit ist eine zweite Auflage der Allgemeinen Staatslehre notwendig geworden, noch ehe es mir möglich war, den zweiten Band des ganzen Werkes zu vollenden." (Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 4. Nachdruck d. Ausg. 1914, Berlin 1922, S. XVII - XIX.) Die Fragment gebliebene „spezielle Staatslehre" ist von Jellineks Sohn, Walther Jellinek, 1911 veröffentlicht worden (in: G. Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden, II, S. 153 - 319, „Staatslehre, Politik und Staatsrecht"). [18] Zum „Polizeistaat", der nur der „Zuchtmeister" für den folgenden „Verfassungsstaat" und „Rechtsstaat" ist vgl. bei O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, I, 1895, S. 39, 44 f., 49 f., 53 f., 95 u. ö.; ders., Justiz und Verwaltung, 1902, S. 19 ff. Vgl. auch vorl. Bd., Der Rechtsstaat, S. 118, FN [4].
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Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 100, 1940, S. 5 - 24. Zu ihm: H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 1964, S. 217, 220, 222. M. Friedrich, Die Erarbeitung eines allgemeinen deutschen Staatsrechts seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, JöR, 34 / 1985, S. 1 - 33, schreibt, daß Schmitts „polemische Abhandlung" zwar „das allgemeine deutsche Staatsrecht eindrucksvoll in die größeren geistes- und allgemeingeschichtlichen Zusammenhänge (rückt), . . . es aber pauschal und unhaltbar als eine bloße „Rezeption" des modernen westeuropäischen Konstitutionalismus (denunziert)" und es „unbesehen mit dem gleichzeitigen allgemeinen konstitutionellen Staatsrecht" gleichsetze (S. 5). Zum Thema der Abhandlung Schmitts vgl. auch: Hisao Kuriki, Die Rolle des Allgemeinen Staatsrechts in Deutschland von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, AöR, 1974, S. 556 - 585, sowie: M. Fioravanti, vorl. Bd., Der Rechtsstaat, S. 120 (Anhang).
Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten Die Eigenart des französischen Geistes wird allgemein durch Begriffe wie Klassizität, Rationalismus, clarte und mesure gekennzeichnet. Klassizität und Rationalismus sind für eine weit verbreitete Auffassung geradezu ein Monopol der Franzosen. Diese selbst rühmen sich solcher Eigenschaften, und viele deutsche Romanisten haben in gründlichen und bedeutenden Auseinandersetzungen von der geschichtlichen, insbesondere literargeschichtlichen Seite her diese Eigentümlichkeiten des französischen Geistes dargelegt und entwickelt1. Unsere folgende Feststellung einer spezifisch juristischen Prägung des französischen Geistes steht mit solchen Forschungen und Deutungen keineswegs im Widerspruch. Sie gibt aber eine, wie mir scheint notwendige, politisch-geschichtliche Konkretisierung und Präzisierung der Worte Klassizismus, Rationalismus und ähnlicher Kennzeichnungen, um sie vor der Gefahr einer rein ästhetischen, den politischen Kern verfehlenden Deutung zu bewahren. In aller Deutlichkeit sei dabei von Anfang an klargestellt, daß es sich bei unserem Thema um eine einmalige geschichtliche Entwicklung handelt, wie sie sich in dieser prägnanten Weise bei keiner anderen Nation wiederholt. Ich spreche nicht von der kultur- und geistesgeschichtlichen Bedeutung des Juristen im allgemeinen und nicht etwa nur im Zusammenhange damit vom französischen Juristen im besonderen^ 1] Es sollen hier nicht allgemeine berufsständische oder soziologische Typen aufgestellt und miteinander kombiniert werden. Es ist weder von einem französisch-national gefärbten Juristentypus, noch von einem juristisch gefärbten nationalen Typus die Rede. Unser Augenmerk richtet sich auf einen geschichtlichen Prägungsvorgang, der das nationale Keimplasma Frankreichs für einige Jahrhunderte bestimmt hat. Bestimmte, für viele Generationen entscheidende Augen-
1 K. Vossler, Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist, 1925 ; E. R. Curtius, Die französische Kultur, 1930; ders., Maurice Barres und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, 1921; Julius Wilhelm, Das Fortleben des Gallikanismus in der französischen Literatur der Gegenwart, 1933. Typologische Bestimmungen des Franzosen, wie sie z. B. der Marburger Philosoph Jaensch unternommen hat, stimmen im Ergebnis damit überein und erklären den Franzosen für einen typischen „Synästhetiker", d. h. einen Menschen von emotionaler Labilität ohne echten Wirklichkeitssinn, der in einem stabilen Ordnungsschema Schutz und Sicherheit sucht und findet. Fritz Neubert hat diese typologischen Versuche psychologisch von der literaturgeschichtlichen Seite her vervollständigt, vgl. Das Kulturproblem der französischen Klassik bis zur Gegenwart, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, XII, S. 255 ff.; Der Kampf um die Romantik in Frankreich, ebenda XIII (1935), S. 583 ff. sowie den Forschungsbericht XII (1939), S. 53 ff.
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blicke der Volk- und Nationwerdung geben dem nationalen Geist auf lange Zeit seine individuelle Formung, seine Physiognomie und seine geistige Gestalt. Derartige Prägungsvorgänge lassen sich weder von kultur- und geistesgeschichtlichen, noch von soziologischen Allgemein-Kategorien her erfassen. Sie müssen als einmalige Ereignisse erkannt und gewürdigt werden. Zu der konkreten, einmaligen Individualität des französischen Geistes gehört, anders als bei jedem anderen Volk, der französische Jurist. Das erklärt sich aus bestimmten Augenblicken der französischen Geschichte. Es gibt zwar, allgemein gesprochen, auch spezifische Begabungen der Rassen und Völker. Manches Volk ist besonders musikalisch, ein anderes besonders technisch begabt und gebildet. Die alten Römer gelten als ein Volk, das sozusagen von Natur juristisch war. Aber das Problem des juristischen Volkes liegt nicht einfach. Der alte Römer der republikanischen Ruhmeszeit und der berühmte Jurist der Kaiserzeit sind keineswegs wesensgleich2. Man kann nicht von juristischen Völkern sprechen, wie man von Hirten-, Krieger- oder Bauern Völkern spricht. Die Besonderheit unseres Themas liegt nun gerade darin, daß die französische Nation in einer besonderen, einmaligen und unvergleichbaren Weise von einem bestimmten Typus des Juristen her geprägt worden ist und diese Prägung bis zum heutigen Tage so stark bewahrt hat, daß alle jene Kennzeichnungen französischen Wesens durch raison, clarte, mesure, wie auch die Besonderheiten der „langue bien faite", ohne die Beachtung eines spezifisch juristischen Ingrediens irreführende Verallgemeinerungen sind. Nationalcharaker und juristischer Typus stehen in unserem konkreten Fall einander nicht fremd und beziehungslos oder gar feindlich gegenüber. Sie haben sich in einer tausendjährigen Entwicklung aufs stärkste beeinflußt und durchdrungen. So ist die Gefahr, daß wir hier, wenn wir über den französischen Juristen sprechen, von einem allgemeinen, übernationalen Berufstypus des Juristen ausgehen und diesen einfach auf Frankreich exemplifizieren, geringer als bei jeder anderen Nation. Die Schärfe und Ausgeprägtheit des französischen Juristen als einer rechtsgeschichtlich und berufssoziologisch bestimmten Figur ist ein Wesensbestandteil der Schärfe und Ausgeprägtheit des französischen Nationaltypus selbst, ebenso wie umgekehrt bestimmte volkhafte Voraussetzungen und eine bestimmte weltgeschichtliche Zwischenlage zwischen den Reichen und den Konfessionen gerade dem französischen Juristen seine außergewöhnliche nationale Führerrolle ermöglicht hat. Beides steigert sich gegenseitig, und dieses seltene, beispiellose Zusammentreffen erleichtert unsere schwierige Aufgabe. Es schützt uns vor den schlimmsten Mißverständnissen und vor sachlichen oder methodischen Bedenken, die sonst allerdings naheliegen. Denn unsere Herausstellung des französischen Juristen ist nicht als eine übertreibende berufsständische Verabsolutierung gemeint. Es liegt uns fern, den Juristen zum Mittelpunkt der Weltgeschichte zu machen. Das ergäbe nur eine Karikatur, die niemand ernst nehmen könnte. Die französische Nation ist 2
Wieacker, Vom römischen Juristen, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 99 (1939), S. 440 ff. - [Ndr. in: ders., Vom römischen Recht, 1944, S. 7 - 37.].
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an Begabungen und Gestaltungen sehr reich und der Jurist ist keineswegs ihr einziger Typus. Ebensowenig soll umgekehrt jeder einzelne französische Advokat, Richter oder Notar als eine Inkarnation des französischen Geistes hingestellt werden. Aber von dem Gesamtbild der vom Bürgertum her bestimmten nationalen Individualität Frankreichs ist die Figur des französischen Juristen ebenso wenig abtrennbar, wie die Figur des preußischen Offiziers von dem geschichtlichen Gesamtbild des preußischen Staates, oder die des Priesters von dem Gesamtbild der spanischen Nation.
I. Daß der Franzose im besonderen Maße juristisch denkt und spricht, ist längst bekannt und in keiner Weise etwas Neues. Eine Tendenz zur Deutlichkeit und Klarheit, zu ordnenden und wenn auch oft nur scheinbar präzisen Distinktionen und Dezisionen liegt schon in der äußerst durchgebildeten, für epigrammatische Zuspitzungen besonders geeigneten französischen Sprache. Dazu kommt, daß Juristen, vor allem Advokaten, im politischen sozialen Leben dieses Volkes offensichtlich eine besondere Rolle spielen, stärker und intensiver als in anderen romanischen oder nichtromanischen Ländern, in denen gleichfalls der Advokat als der typische Vertreter einer Intellektuellen-Schicht erscheint. Bei keinem Volk ist die Kunst des Plädoyers in höherem Maße entwickelt. Kein anderes Land hat die Typen und Physiognomien des Richters, des Staatsanwalts und des Advokaten mit solcher Schärfe sichtbar gemacht, wie sie in den Romanen Balzacs und in den Zeichnungen Daumiers festgehalten sind. Das liegt offenbar nicht nur an der Darstellungsgabe dieser großen Künstler, sondern auch am Gegenstand, d. h. an der Ausgeprägtheit und an der Volkstümlichkeit der dargestellten Typen. Ich glaube sogar, daß die besondere „Eleganz" des französischen Habitus nicht zufällig gerade dieses Wort juristischer Herkunft als sein Lieblingswort verwendet. Bekannt ist auch das Interesse des Franzosen für Tribunal und Prozeß, seine Erregbarkeit durch Recht und Unrecht eines Verfahrens. Der Fall Jean Calas,[2] den Voltaire aufgegriffen hat, und der Dreyfus-Prozeß sind naheliegende Beispiele aus zwei verschiedenen Jahrhunderten. Zum Dreyfuß-Prozeß sei noch an eine weniger bekannte, aber sehr bezeichnende Tatsache erinnert: Ein Franzose von echtester Freiheit des Geistes, zugleich ein bewußter Pragmatist, Georges Sorel, hat seine Stellungnahme zum Fall Dreyfus, ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht in der Sache, schließlich nur dadurch bestimmen lassen, daß zu Ungunsten des Angeklagten Verfahrensfehler vorgekommen waren; er hat sich erst dann voll Ekel von der ganzen „Affaire" abgewandt, als er sah, daß es sich nicht um die Ideale prozessualer Gerechtigkeit, sondern um den Interessenkampf geheimer Mächte handelte. Auch das ist, insbesondere im Vergleich zu der skeptisch-realistischen Beurteilung des gleichen Falles durch den Italiener Pareto ein beachtenswertes Symptom für eine eigentümlich juristische Haltung. [3]
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Jedem Kenner und Freund französischer Literatur und Sprache ist ein berühmter Ausspruch Stendhals geläufig: „Als ich die Chartreuse (von Parma) schrieb, las ich jeden Morgen zwei oder drei Seiten des Code Civil." Meistens wird dieser Ausspruch als interessante Kuriosität zur Psychologie Stendhals zitiert. Selten hört man den vollständigen Ausspruch, dessen Schluß lautet: „um immer natürlich zu sein", „afin d'etre toujours naturel' 3. Für den Nichtfranzosen liegt das Erstaunliche eines solchen Ausspruches darin, daß ein antiklassizistischer Autor wie Stendhal die Sprache eines Gesetzbuches als die „natürliche" Sprache empfindet. Das Wort „natürlich" bedeutet hier nicht etwa, wie der Berliner Romanist Emil Winkler es deutet, nur allgemein „logisch" und „folgerichtig", oder, wie F. Payen, ein um die Erforschung des Einflusses der Advokaten auf die französische Sprache verdienter französischer Advokat meint, nur „konzis" oder „präzis". Mir scheint eher, daß es eben das besagt, was ein Satz Pascals zum Ausdruck bringt: „Wenn man den natürlichen Stil sieht, ist man erstaunt und entzückt, denn man war darauf gefaßt, einen Autor zu sehen und findet einen Menschen4". Natürlich und juristisch, Mensch und Jurist sind im Französischen nicht so weit voneinander getrennt wie in anderen Sprachen und Völkern. Das kann nur einen politisch-geschichtlichen Grund haben. Die geistige Formung eines Volkes oder einer Nation entsteht im echten inner- und außenpolitischen Kampf. Sie geht nur von solchen Schichten aus, die in diesem Kampf eine Führerstellung eingenommen haben, die in einem wichtigen Moment Vorkämpfer und Sprecher ihres Volkes oder ihrer Nation gewesen sind. Wie bei keinem anderen Volk war der französische Legist Bahnbrecher der nationalen Einheit und Sprecher in großen Augenblicken geschichtlicher Auseinandersetzungen und eines verzweifelten Bürgerkrieges. Der französische Geist ist deshalb juristischer Geist und die französische Sprache deshalb mehr als jede andere eine juristische Sprache, weil die französische Nationwerdung selbst durch den französischen Legisten ihre entscheidende Prägung erhalten hat. Mit dem Wort und Namen „Legist" haben wir eine berühmte Figur der europäischen Rechtsgeschichte heraufbeschworen. Der Legist erscheint in allen europäischen Ländern, in denen die sog. Rezeption des römischen Rechts das mittelalterliche Bildungsmonopol des Klerus und die Alleinherrschaft des kanonischen Rechts gebrochen hat. Die juristisch-legistische Bildung ist die erste und Jahrhunderte hindurch einzige Form der nichtkirchlichen, nicht-theologischen Bildung gewesen. Die legistische Rechtslehre war die erste, gegenüber der Theologie selbständige weltliche Lehre. Das Corpus juris und die Glosse lieferten den ersten,
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En composant la Chartreuse (de Parme), pour prendre le ton, je lisais chaque matin deux ou trois pages du Code civil, afin d'etre toujours naturel. (Brief an H. de Balzac, 30 octobre 1840, Correspondance, t. III.) 4 Quand on voit le style naturel, on est tout 6tonn6 et ravi, car on s'attendait de voir un auteur, et on trouve un homme. (Pensöes, I, 29.) [In den Oeuvres completes, 6d. J. Chevalier, Paris 1954, S. 1096 als Nr. 36. - G. M.].
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dem Text der Bibel gegenübertretenden weltlichen Text, die erste weltliche ratio scripta, eine raison ecrite in der Hand von Laien. In Frankreich hat sich diese „Laizisierung" am ersten, am klarsten und am entschiedensten politisch durchgesetzt. Dadurch hat der französische Nationalgeist seine erste Sonderprägung erhalten. In Deutschland geriet die Rezeption des römischen Rechts in die politische Zersplitterung des Reiches hinein. Hier vollzog sich die Bildung eines beamteten Juristentums in den einzelnen deutschen Landesherrschaften, deren politischer Partikularismus dadurch noch gesteigert wurde. So konnte der deutsche Jurist kein staats- und nationtragender Typus werden. Der Rechtslehrer der deutschen Universitäten hat zwar einige Jahrhunderte hindurch das römische Recht als deutsches „Gemeinrecht" weiter getragen und so das Deutsche Reich wenigstens in der schattenhaften Form einer bloßen „Rechtsgemeinschaft" weitergeführt. Das ist sein Verdienst, macht ihn aber nicht zum Träger oder gar zum Vorkämpfer einer nationalstaatlichen Entwicklung oder gar zum führenden Sprecher seines Volkes in einem Augenblick des Kampfes und der Ausprägung nationalen Geistes. In Italien ist der Einfluß des Legisten auf die nationale Bildung bedeutend stärker. Besonders in den aufblühenden italienischen Städten des Mittelalters wird die bürgerliche Bildung juristisch, im Gegensatz zu der theologisch-kanonistischen Bildung des Klerus oder zur ritterlichen Erziehung 5. Aber auch in Italien war die politische Zersplitterung zu groß, als daß sich dort ein vom Juristen her bestimmter nationaler Typus hätte bilden können. Nur in Frankreich gehört der Legist wesentlich zur Entstehung und Entwicklung der Einheit des französischen Staates, des französischen Bürgertums und der französischen Nation selbst. Hier, in Frankreich, nicht in italienischen Städten, von wo sie durch Bartolus berühmt und verbreitet wurden, entstanden alle das mittelalterliche Deutsche Reich sprengenden juristischen Formeln 6. Hier in Frankreich war der Legist der revolutionäre Vorkämpfer des dritten Standes, des Tiers Etat, der classes moyennes, die schließlich die nationale Individualität des Franzosen und des Siegers der großen Revolution von 1789 bestimmen. Der Tiers Etat konnte mit Erfolg von sich behaupten, daß er „die Nation" sei - le Tiers Etat c'est la Nation. Wenn dem aber so ist, dann darf der französische Legist sich rühmen, der politische Sprecher und geistige Bahnbrecher dieses Tiers Etat und damit der Nation gewesen zu sein. [4] Für kein anderes Land außer Frankreich trifft das zu. Bis auf den heutigen Tag ist die geschichtliche, politische und moralische Bewertung des französischen Legisten Gegenstand eines erbitterten Streites und aktu5 W. Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, Leipzig 1938. Interessant ist die Bemerkung von Giuseppe Lo Verde (Die Lehre vom Staat im neuen Italien, Hamburg 1934, S. 25): „Die italienischen Gebildeten sind Juristen." 6 Formeln wie: „Rex Franciae superiorem non recognoscit" und „Rex Franciae est princeps (oder Imperator) in regno suo." Über den Ursprung der Formel des Bartolus: „civitas superiorem non recognoscens est sibi princeps" oder „habet in se ipsa imperium" vgl. Francesco Ercole, Da Bartolo all' Althusio, Florenz 1932, S. 157 ff.
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eller Stellungnahme. Darin zeigt sich die Intensität seiner bis auf den heutigen Tag bestimmenden und prägenden Wirkung. Solche Auseinandersetzungen sind ein sicheres Zeichen dafür, daß die umstrittene Gestalt noch lebt, ja, daß sie vielleicht sogar noch vor echten Entscheidungen steht. Für die Geschichtsauffassung des demokratischen Republikaners ist der französische Legist ein großer, revolutionärer Vorbereiter und Vorkämpfer zivilen Lebens und Denkens, ziviler staatsbürgerlicher Gleichheit und republikanischer Ideale, ein Feind der beiden großen Feinde der Republik, nämlich des Feudalismus und des Klerikalismus; dazu ein Sohn des Volkes, ein bourgeois oder ein roturier, der sowohl den Aristokraten wie den Pfaffen ordentlich zugesetzt hat. Berühmte Geschichtsschreiber wie Tocqueville in „L'ancien regime et la Revolution", Renan in zahlreichen Aufsätzen und Taine in „Les origines de la France contemporaine" bestätigen diesen Sachverhalt, wenn auch nicht mit gleichem Enthusiasmus. Den konservativen Bewunderern mittelalterlicher Einrichtungen und den echten Monarchisten erscheint eben derselbe Legist als das teuflische Werkzeug der Zentralisierung, als der Zerstörer regionalen, kommunalen und kirchlichen Lebens, als der intellektualistische Verderber des echten und bodenständigen französischen Volkes, der Schrittmacher der Laizisierung, Geburtshelfer von Etatismus und Bürokratismus mit allem ihrem Unheil, kurz, als die Inkarnation aller Umfälschung des Rechts in die Legalität und aller Methoden legalitären Betruges7. Wenn der größte und zugleich bitterste französische Zeit-Kritiker der Nachkriegszeit, Georges Bernanos, dem modernen Doktrinär der französischen Monarchie, Charles Maurras, einen tödlichen Stoß versetzen will, so sagt er, Maurras sei kein wahrer Monarchist, sondern nur der „heritier des anciens legistes centralisateurs" 8, was für diesen Nachkommen einer königlichen Intendantenfamilie wirklich zutrifft. Aber auch in der deutschen wissenschaftlichen Literatur ist die Stellungnahme zum französischen Legisten symptomatisch. Schon Lorenz von Stein hat die „von keinem Bedenken gestörte Selbstgewißheit" bewundert, mit der französische Legisten „in der Zeit der neuen Staatsbildung dem historisch Gegebenen gegenüber traten 9". Max Weber aber erhebt die Legisten zu Helden und Trägern dessen, was nach der Lehre dieses großen deutschen Gelehrten das eigentliche Problem unserer Gegenwart und Zukunft ist: er macht sie zu Vorkämpfern des „occidentalen Rationalismus". Der französische Legist ist danach der erste moderne Jurist überhaupt. Er beseitigt die irrationalen, nämlich die charismatischen und die traditionalisti1 W.B. Cocquille, Les Lögistes, leur influence politique et religieuse, Paris 1863 (Aufsätze aus den Jahren 1852 - 63), ein erbittert antirömischer Konservativer, der Rom und das römische Recht sowie die Legisten für den Absolutismus und alles Böse verantwortlich macht. Louis Veuillot, Le droit de Seigneur au Moyen Age, 2. Aufl. Paris 1871, S. 81: „des hommes de loi tels que Ton a vus depuis maitre Pierre de Cugnteres, Conseiller de Philippe le Bei, jusqu'ä maitre Pithou et jusqu'aux autres maitres qui institudrent enfin la constitution civile du clerg£, dernier mot de leur doctrine, dernier fruit de leurs efforts", s G. Bernanos, Scandale de la V6rit6, 1939, S. 43. 9
Geschichte des französischen Strafrechts und des Processes, 1846. (Warkönig-Stein, Bd. III), S. 412-3.
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sehen Arten der überkommenen religiösen, feudalen und patrimonialen Legitimität; er ersetzt sie durch die rationale Berechenbarkeit generell vorbestimmter, gleichmäßig funktionierender Zwangsnormen eines Gesetzgebers, verwandelt also, gemäß einer inneren Folgerichtigkeit dieses occidentalen Rationalismus, die Legitimität in bloße Legalität. Max Weber hat nicht nur als gelehrter Soziologe und Historiker, sondern auch als demokratischer Politiker von diesem französischen Juristen geradezu geschwärmt. Während des Weltkrieges 1914 - 1918, insbesondere seit 1916, wurden die demokratischen Westmächte Frankreich und England auf deutscher Seite öfters als Advokatenstaaten bezeichnet, wobei man einen Wesenszusammenhang von Demokratie und Advokatur entdeckte und den Krieg als einen „Krieg der Advokaten gegen die Könige" deutete10. Dem deutschen monarchischen Beamtenstaat hat Max Weber in liberal-demokratischem Eifer die westlichen Advokaten-Demokratien entgegengestellt. Ihm erschien, neben dem englischen Advokaten, besonders der aus dem legistischen Rationalisierungsprozeß hervorgegangene französische Advokat als der überlegene politische Führer, dem die Politiker des deutschen Beamtentypus, wie Bethmann-Hollweg, Michaelis und Graf Hertling, hoffnungslos unterlegen waren. Einen wichtigen Vorzug der parlamentarischen Demokratien vor dem deutschen Militär- und Beamtenstaat sah Max Weber gerade darin, daß die parlamentarische Demokratie solche juristisch gebildeten Advokaten in die Führung bringt. Für Weber ist es ein wesentliches Moment der Geschichte des europäischen Geistes, der Geschichte des occidentalen Rationalismus, daß die radikalen, vorwärts treibenden Männer der französischen Revolution, insbesondere der Schreckenszeit, Robespierre, Danton und viele andere, Juristen, und zwar legistisch geschulte und geprägte Juristen waren. „Der moderne Advokat und die moderne Demokratie gehören seitdem schlechthin zusammen11."
II. Was ist nun in seinem Kern und Wesen dieser vielgenannte und schon fast als eine mythische Figur erscheinende französische Legist? Wir sehen hier von rechtsgeschichtlichen Einzelheiten wie auch von Nebenbedeutungen des Wortes ab z. B. von dem Unterschied des mehr praktischen „Legisten", zu dem mehr wissenschaftlichen „Juristen" - und fassen die geschichtlich-politische Figur von ihrer Gesamtleistung her ins Auge. Dann zeigen sich drei Merkmale. Als erster Wesens10 Engelbert Drerup, Aus einer Advokatenrepublik (Studien zur Geschichte der Kultur des Altertums, Schriften der Görres-Gesellschaft VIII, Heft 3 / 4 , 1916), zog eine geschichtliche Parallele zwischen dem Athen des Demosthenes und den westlichen Demokratien mit ihren Pariser und Londoner Advokaten: Poincar6, Briand, Grey, Lloyd George. Eine Parallele mit Demosthenes hat auch Clemenceau, in umgekehrter Bewertung, nach dem Kriege seiner Geschichtsdeutung zu Grunde gelegt.
n Max Weber, Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 304. [Ausg. 1958, S. 523; vgl. auch: Wirtschaft und Gesellschaft, Ausg. 1972, II, S. 435, 816, 828 - G. M.].
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zug erscheint der im weitesten Sinne des Wortes zivile Charakter des Legisten und sein Zusammenhang mit einem unendlich folgenreichen Begriff von Zivilität und „Zivilisation". „Zivil" bedeutet hier zunächst den Gegensatz zum TheologischKirchlichen und zum Feudal-Ritterlichen, dann auch zum Militärisch-Soldatischen überhaupt. Demgegenüber vertritt der Legist eine bürgerlich-juristische Ordnung und Begrifflichkeit. Ein zweiter Wesenszug wird durch den Zusammenhang mit der staatlichen Zentralisierung bestimmt. Der sowohl vom Reich wie von der Kirche sich absetzende französische Staat erweist sich im Laufe seiner Entwicklung als die spezifische Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft und zugleich der französischen Nation. Das ist ohne die Arbeit des französischen Legisten weder geschichtlich erklärbar, noch begrifflich faßbar. Seine dritte Wesensbestimmung erhält der Legist durch die besondere Bedeutung und Wandlung, die das Recht in seiner Hand erfährt. Das Recht wird lex, loi, Legalität, Gesetz; das Gesetz wird ein Werk der staatlichen Macht, „la loi oeuvre du Prince", wie Bodin sagt, der Recht und Gesetz bereits scharf unterscheidet. [5] Jeder Jurist jedes Volkes ist, allgemein gesprochen, von Standes- und Berufswegen Wahrer und Gestalter des Rechts. Aber mit diesem Wort „Recht" sind zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Wirklichkeiten bezeichnet. Es kann ein ungeschriebenes und formuliertes Gesamtgefühl bedeuten, aber auch traditional gefestigte Gewohnheiten, Formeln und Sprichwörter, und schließlich auch ein in generellen und abstrakten Begriffen formuliertes Gesetz und Gesetzeskodifikationen. Dem entsprechen ebenso verschiedenartige Ausgestaltungen des juristischen Berufes und der Justiz als einer konkreten Ordnung, deren Sinn und Aufgabe darin besteht, das Recht zu wahren und zu behüten. Die Besonderheit des Legisten als eines besonderen Typus des allgemeinen Rechtswahrertums liegt darin, daß er aus einem Rechtswahrer zu einem Gesetzeswahrer wird. Dadurch unterscheidet er sich nach beiden Seiten hin; auf der einen Seite von dem englischen Rechtswahrer, der sich nur an „precedents" hält, also bei einem Fall-Recht, beim case-law bleibt, auf der anderen Seite von der deutschen Systematik, die auf die wissenschaftliche theoretische Grundlegung und rechts-systematischen Zusammenhang bedacht ist. Im Vergleich zum Engländer ist der französische Legist logisch und rationalistisch, im Vergleich zum Deutschen unsystematisch und pragmatistisch. Die bürgerliche, zivile Ordnung, als deren Vertreter der französische Legist auftritt, wird von ihm in einer praktisch-pragmatischen Vernünftigkeit vertreten, niemals metaphysisch oder philosophisch-systematisch. Auch in Zeiten herrschenden Naturrechts, im 17. und 18. Jahrhundert, selbst im „philosophischen" Zeitalter, in welchem auch Juristen wie d'Aguesseau auf ihre Art ebenfalls „philosophierten", wird der französische Jurist nicht philosophisch im Sinne etwa der damaligen großen Systematiker der deutschen Rechtswissenschaft: Pufendorff, Thomasius, Christian Wolff und Kant. Vielmehr genügt ihm logisch-praktisch die Legalität eines allgemeinen, gleichen Satzes. So wird aus dem Recht eine „lex", und zwar eine spezifische lex, nämlich eine mit rationalen Qualitäten ausgestattete juristisch anwendbare generelle Norm. Die Gleichheit vor dem Gesetz wird ein logisches Wesensmerkmal des Gesetzes. Sie macht das
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Recht schließlich zu einem allgemeinen Satz mit staatlicher Erzwingbarkeit. Traditionalistische oder charismatische Arten der Legitimität werden dadurch in bloße Legalität verwandelt. Staat und Legalität gehören aufs engste zusammen, weil Staatswerdung und Vergesetzlichung des Rechts nur zwei Seiten desselben Enwicklungsvorgangs sind. Jeder klassische Staat ist daher ein Gesetzesstaat. Infolge der engen Verbindung von Staat und Legalität wird der Legist zum staatlichen Beamten. [6] Er kann kein ständischer (nicht-staatlicher) Rechtswahrer bleiben. Die mittelalterliche ständische Entwicklung hat natürlich auch den französischen Legisten erfaßt. Viele Ämter waren bis ins 18. Jahrhundert hinein käuflich und erblich: der bürgerliche Jurist gehörte zum Tiers Etat. Die Ehrgeizigen strebten selbstverständlich zum Adel, wie das z. B. Wilhelm Nogaret mit erstaunlichem Erfolg getan hat. Die berühmten Juristen dieses Zeitalters, Nogaret, Pierre Flotte, Plasians, Belleperche, Beaumanoir, Marigny, sind die „chevaliers es lois".[7] Zwischen Adel und Bourgeoisie entsteht eine Zwischenschicht, die „noblesse de robe". Es gab auch einen wirklichen ordre des avocats, dessen ständisches Selbstbewußtsein ebenso ausgeprägt war, wie das anderer ständischer Körperschaften. Trotzdem bilden die französischen Juristen keinen eigentlichen Rechtsstand. Auch wenn sie einflußreichen ständischen Körperschaften und Einrichtungen, wie dem Parlament oder dem Barreau, angehören, sind sie niemals, wie in England, ein rechtstragender, das Recht als ihm unmittelbar anvertrautes Gut betrachtender eigener Stand. Auch wenn sie die Befugnis für sich in Anspruch nehmen, die Gesetzgebung des Königs zu kontrollieren (durch Verweigerung der Eintragung von Ordonnanzen), handeln sie nicht als Herren und Schöpfer des Rechts, weil sie nicht Herr und Schöpfer der Lex sind. Der Legist setzt eben einen „legislateur", einen von ihm verschiedenen Gesetzgeber voraus, der von selbst zum „Souverän" wird, dessen Souveränität vor allem in der höchsten Entscheidung und Gesetzgebungsbefugnis liegt. Die Begriffe Gesetz und Gesetzgeber ändern und entwickeln sich im Laufe der Verfassungsgeschichte. Immer bleibt die „Lex" des Legisten vom „Recht" anderer Rechtswahrer-Typen verschieden; immer ist das Wesentliche, daß die „Lex" Schöpfer und Geschöpf einer von unmittelbarem Recht und substanzhafter Legitimität unterschiedenen Legalität, und der Legist Funktion eines solchen Gesetzes ist. „Lex" und „Legist" haben demnach einen geschichtlich konkreten Sinn und sind nicht irgendwelche farblosen, volk- und geschichtslosen Allgemeinbegriffe einer allgemeinen Rechtslehre. Diese drei Merkmale - bürgerliche Zivilisation, staatliche Zentralisation und Verwandlung des Rechts in staatliche Legalität - hängen untereinander so eng zusammen, daß sie einander gegenseitig bestimmen und definieren. Sie genügen als erste vorläufige Kennzeichnung. In ihnen zeigt sich bereits, daß der französische Jurist mehr als bei jedem anderen Volk und jeder anderen Nation eine zentrale Figur der französischen Geschichte, auch der französischen Geistesgeschichte ist, und daß Frankreich als Staat und als Nation stärker als jedes andere Land in seiner geistigen Individualität vom Legisten her geprägt ist. Ein Blick auf die innerpolitische Entwicklung Frankreichs wird das bestätigen und unsere Feststellung aus der
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Sphäre allgemeiner psychologischer oder soziologischer Charakterisierungen herausheben. In zahlreichen Augenblicken der Geschichte seines Volkes ist der französische Jurist hervorgetreten. Von zwei entscheidenden Entwicklungsabschnitten der französischen Geschichte aber darf man sogar sagen, daß sie Heldenzeitalter des Legisten waren.
III. Das erste Heldenzeitalter des französischen Juristen ist von den mittelalterlichen Kämpfen der königlichen Macht in Frankreich erfüllt. Es ist das 14. und 15. Jahrhundert. Peter Dubois und Wilhelm von Nogaret sind die meist genannten Vertreter dieser Zeit. Ernest Renan hat sie durch eine Schilderung, in der Abscheu und Bewunderung ununterscheidbar gemischt sind, berühmt gemacht12. Nogaret insbesondere ist als der Legist Philipps des Schönen dem Papst Bonifaz VIII. in der weltgeschichtlichen Szene von Anagni persönlich gegenübergetreten (7. September 1303); er hat den Prozeß gegen den Templerorden juristisch geleitet (1307 1311); er kämpft den ebenso bösartigen juristischen Kampf gegen das Andenken Bonifaz VIII. vor Papst Clemens V. in Avignon (1309 - 1311).[8] Diese französischen Legisten haben damals die Juristen aller anderen Länder an staatsgestaltendem Einfluß weit überholt. Für sie war das beschriebene römische Recht in einem besonderen, praktisch- politischen Sinne „ratio", und zwar zivile ratio, sowohl gegenüber den Prälaten, wie gegenüber den Feudalherren. Es handelt sich hier nicht um die Geltung römisch-rechtlicher Sätze, sondern, wenn ich so sagen darf, um das römische Recht als den großen politischen Mythos dieser Zeit. Er hatte hier vor allem den politischen Wert, daß er den König von Frankreich, und zwar auch im Gegensatz zu demselben König als dem obersten Feudalherren seines Landes, zum lebendigen Gesetz, zur viva lex machte. Er lieferte die geistige und begriffliche Handhabe, um das Chaos der feudalrechtlichen Privilegien von Herzögen, Grafen und Baronen, und die kirchliche Macht des Papstes und der Prälaten durch eine zentrale, nationalstaatliche Macht zu überwinden. Wer die Schriftsätze Nogarets aus dem Templerprozeß oder gegen Bonifaz VIII. kennt, wird sich über den religiösen Neutralismus Jean Bodins, von dem unten noch die Rede sein wird, kaum mehr wundern. Juristisch-legistischer Sinn, staatlicher Zentralismus, theologischkonfessionelle Neutralität und bürgerlicher Rationalismus treten hier zum erstenmal als Bundesgenossen auf und heben die Welt des Mittelalters aus den Angeln, 12 Revue des Deux Mondes, 1872, S. 328 - 349, 597 - 621, 764 - 797; ferner: Pierre Dubois, legiste, 1873, und Etude sur la politique religieuse du r£gne de Philippe le Bei, 1899. Aus dem neueren Schrifttum: H. Kämpf, Pierre Dubois und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus um 1300, Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin / Leipzig 1935; Percy Ernst Schramm, Der König von Frankreich, Weimar 1939,1. S. 225; Gerd Stromeyer, Frankreich im Übergang vom Ständestaat zum Absolutismus, Göttinger Dissertation 1941. 13 Staat, Großraum, Nomos
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ohne sie religiös anzugreifen. „Es bleibt eine Tatsache, daß die mittelalterlichen Legisten, Richter, Räte und Beamte des Königs für 600 Jahre den kommenden Revolutionen die Bahn gebrochen haben" (A. Thierry). Das ist rechtsgeschichtlich bekannt und oft dargestellt worden 13 . Der Kampf war um so schwieriger, als die meisten französischen Könige für ihre Person selber wohl mehr seigneurial als staatlich dachten. Wenn sie auch selbstverständlich immer auf die Erweiterung ihrer Macht bedacht waren, so dürften die meisten von ihnen die Unterscheidung einer staatlichen von einer feudalen Machtstellung damals innerlich doch kaum begriffen haben. Die zähe und unablässige Gedankenarbeit des französischen Legisten hat hier seit dem 14. Jahrhundert Begriffe geschaffen, die schließlich allen europäischen Völkern einleuchteten. Schon in diesem ersten Stadium der Entwicklung zu staatlichem Zentralismus und staatlicher Gesetzgebung bewährt der französische Legist eine besondere Fähigkeit, juristische Begriffe als brauchbare Instrumente des politischen Machtkampfes zu bilden. So prägt er hier den überaus wirksamen Begriff des „cas royal", dessen praktische Bedeutung darin besteht, der Gerichtsbarkeit des Königs als des staatlichen Souveräns, gegenüber der feudalen und kirchlichen Gerichtsbarkeit, die politisch wesentlichen Fälle zu unterwerfen. Der König wird zum Hüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, des ordre public. Die Liste der auf solche Weise den feudalen Mächten entzogenen cas royaux wird im Laufe der Zeit immer größer; nicht nur alle schweren Fälle des Mordes, des Verrates, des Straßenraubes, verbotenen Waffentragens gehören dahin, sondern schließlich alle Verstöße gegen eine königliche Ordonnanz. [8a] Erst jetzt wird der König eigentlicher Gesetzgeber und alleiniger Träger der Polizei in einem modernen, staatlichen Sinne dieser Worte. Weit mehr als das römische Recht im allgemeinen war der Begriff des cas royal ein vom französischen Legisten angesetzter juristisch-politischer Hebel; er hat wesentlich dazu beigetragen, die mittelalterliche Rechtswelt aus den Angeln zu heben, und der Entwicklung zum modernen, zentralistischen Staat den Weg zu öffnen 14 . Bereits um 1400 ist diese Wendung klar vollzogen und die Bahn frei zur staatlichen Souveränität des Königs. 13 Ich nenne nur Augustin Thierry , Essai sur l'histoire de la formation et des progr&s du Tiers Etat, Brüssel, 1853, S. 37 / 38; Lorenz Stein, Geschichte des französischen Strafrechts und des Processes (Warnkönig und Stein, Bd. III), Basel 1846, S. 327 f., 411 f.; R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, 1910, S. 221 \ Maurice Hauriou, Principes de Droit public, 2. Aufl. 1916, S. 371; Esmein-Genestal, Cours etementaire d'histoire du droit fransais, 15. Aufl. Paris 1930, S. 331 ff. Den größten Einfluß hatten die Darstellungen von E. Renan. 14 Diese rechtsgeschichtliche und politische Bedeutung des französischen Legisten ist oft dargestellt worden; vgl. die vorige Anm. Was die praktische Bedeutung der von den Legisten geschaffenen „cas royaux" angeht, so sucht die These von Ernest Perrot, Les Cas Royaux, origine et d6veloppement de la thäorie aux XIII e et XIV 6 si&cles, Paris 1910, die übliche Auffassung der Bedeutung dieser cas royaux als übertrieben nachzuweisen. Sie legt das Hauptgewicht auf die starke Vermehrung der Zahl der königlichen Beamten seit 1200, insbesondere die Schaffung der Baillis. Doch bleibt auch nach Perrot genug übrig, um die entscheidende Wirkung der Begriffsbildung zu belegen. Perrot zeigt, daß der erste Fortschritt, den die kö-
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Diese mittelalterlichen Jahrhunderte des Kampfes mit Kirche und Feudalität sind das erste Heldenzeitalter des französischen Legisten. Kämpfe für eine neue Ordnung waren zu allen Zeiten gefahrenreich. Jede große Reform und jede bedeutende rechtliche Veränderung stößt auf den Widerstand mächtiger und einflußreicher Besitzinteressen. Jeder Vorkämpfer eines neuen, werdenden Rechts hat einen riskanten Beruf. „La Justice est une espece de martyre", hat Bossuet gesagt. In irgendeiner Form wird jeder Rechtswahrer eines Tages die Erfahrung machen, und wenn der Reichsrechtsführer des national-sozialistischen Reiches, Reichsminister Dr. Hans Frank, einmal seine deutschen Rechtswahrer beschwor, „eher Märtyrer als Verräter des Rechts zu werden", so haben die französischen Legisten des 14. und 15. Jahrhunderts einen Beitrag zu diesem Thema geliefert und eine stattliche Reihe von Märtyrern ihres Berufes aufzuweisen. Sie sind auf dem Felde ihres Rechtskampfes gefallen, sei es, weil das entgegenstehende Besitzinteresse des Adels und der Kirche zu stark und der Schutz des Königs, dem der Legist diente, zu schwach war, sei es, weil der legistische Vorstoß in die Verwirrung eines pluralistischen Zustandes hineingeriet, der noch kein erkennbares, inneres Entscheidungsprinzip in sich ausgebildet hatte. Augustin Thierry, der in seiner Geschichte des Tiers Etat die entscheidende Rolle der Legisten dieser Zeit hervorhebt, sagt von ihnen: „Sie haben das Schicksal aller großen Revolutionäre gehabt. Die kühnsten unter ihnen wurden durch die Reaktion verletzter Interessen und beleidigter moralischer Anschauungen zur Strecke gebracht; Enguerrand de Marigny wurde unter Ludwig X. in Montfaucon gehängt; Pierre de Latilly, Kanzler von Frankreich, und Raoul de Presle, Advokat des Königs im Parlament, wurden beide unter demselben König auf die Folter gebracht; Gerard de la Guette, Minister Philipps des Langen, ist 1322 während des Verfahrens gestorben und Pierre Fremy, Minister Karls des Schönen, wurde 1328 gehängt15."
IV. Das zweite Heldenzeitalter des französischen Juristen sind die hundert Jahre von 1550 - 1650. Es ist die Zeit, in der sich, gleichzeitig mit der innerpolitischen Konsolidierung des französischen Staates, die bis auf den heutigen Tag gültige „klassische" Ausprägung der französischen Nation und ihrer Sprache vollzieht. Hier haben die französischen Legisten während des Bürgerkrieges zwischen spanischrömischen Jesuiten und Calvinisten in den Formen juristischer Verfahren einen Kampf geführt, der mit der Bildung der französischen Nation und der französinigliche Gerichtsbarkeit in der Frage des Waffentragens machte, generalisiert wurde. „Toute infraction ä une ordonnance royale, £rigeant en ddlit un acte auparavant licite, devint cas royal" (S. 321). Das ist doch wohl genug! Daß um 1400 die neue Entwicklung einsetzt, sagt auch Perrot (S. 323). 15 Augustin Thierry, a. a. O., S. 37 / 38. 1*
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sehen Sprache in ihrer heutigen Gestalt zusammenfällt. Aus diesem Bildungsprozeß ist der französische Jurist schon deshalb nicht wegzudenken, weil das Parlament, die noblesse de robe und die gleichzeitig zu nennenden „Politiciens" aus dieser Entwicklung nicht wegzudenken sind. Die Zeit von Montaigne bis Pascal ist die Zeit dieser „politischen" Legisten. Von Montaigne, der Bürgermeister von Bordeaux war, bis Pascal, dem Sohn eines königlichen Intendanten, haben alle berühmten Männer dieser Zeit, wenn sie nicht zur hohen Aristokratie gehörten, in irgendeiner nahen beruflichen, verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Beziehung zur Magistratur oder zum Parlament gestanden16. Zwei Generationen vor den berühmten Klassikern der Zeit Ludwigs XIV. hat sich die Sprache dieser Klassiker durch die französischen Juristen geformt. Wenn man hier Namen nennen will, so muß man gleich eine ganze Reihe berühmter Juristen aufzählen. Es sind fast alle die „Politiciens" des Jahrhunderts, die ersten Vorkämpfer religiöser Toleranz 17: Charles Du Moulin (1500 - 1566), der „Papinian von Paris", großer Jurist, Historiker und Gallikaner; Estienne Pasquier (1529 - 1615), berühmter Advokat und Humanist, Schüler Hotmans, Freund und Kritiker Montaigne's, der erste Geschichtsschreiber des neuen Frankreich (seine „Recherches de la France" erscheinen von 1560 - 1623), der 1564 mit einem großartigen Plädoyer die Pariser Universität gegen die Jesuiten verteidigt und damit seinen Ruhm begründet hat; Pierre Pithou, der führende Autor der „Satyre Menippee" (1594),[9] unter deren sechs Mitarbeitern nicht weniger als vier bedeutende Juristen waren; Antoine Arnauld, Verfasser des Pamphlets „L'Anti-Espagnol", der Vater und Schwiegervater einer ganzen Advokatenfamilie, dessen jüngster Sohn der Jansenist und Freund Pascals, Antoine Arnauld war; der große Kanzler Michel de VHospital (1504 - 1573); der unten noch näher zu behandelnde Jean Bodin (1530 - 1596); die Advokaten Gaultier und Omer Talon und schließlich Patru (1604 - 1681), der „Quintilian" seiner Zeit, der Freund von Racine, Boileau und Fenelon.[10] Ich denke hier nicht an viele interessante Einzelheiten, etwa von der Art, daß Pierre Corneille dreizehn Jahre lang (von 1627 - 1640) als Advokat des Königs tätig war. Auch kommt es nicht darauf an, den Beitrag der damaligen Juristen zur Bildung der französischen Sprache im Einzelnen nachzuweisen18. Nicht einmal so 16 Ein Buch, das im übrigen diese Zeit auf das Prokrustesbett marxistischer Klassensdistinktionen spannt, Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Paris (Alcan) 1934, läßt hier doch die Sachlage richtig erkennen (S. 178): „Nicht nur in der Anthropologie hat die Schicht der großen Legisten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Frankreich die führenden Köpfe gestellt; der einzige bedeutende französische Naturphilosoph der Zeit, Bodin, zugleich ihr bedeutendster Staatstheoretiker, mit ihm andere vermittelnde Staatslehrer und Staatsmänner, wie L'Hopital und Pasquier, aber auch die meisten Monarchomachen entstammen derselben Schicht. Es war eben der entscheidende Teil der Intellektuellenschicht". 17 Vgl. das Kapitel über diese „Politiciens" als Begründer der religiösen Toleranz bei John Neville Figgis, Studies of Political Thought from Gerson to Grotius 1414 - 1625, Cambridge (1. Aufl. 1907), S. 94 ff.
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beachtenswerte Übertragungen, wie sie Corneille in seinem Discours über die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung aus dem Juristischen in die Dramaturgie gemacht hat 19 , sind mir hier das Wesentliche. Entscheidend ist vielmehr, daß der „Barreau", die berufsständische Organisation der Advokaten, für Frankreich dem entspricht, was in Deutschland das evangelische Pfarrhaus war. Am Anfang der italienischen Sprache steht ein großes mittelalterliches Gedicht, Dantes Divina Commedia. Am Anfang unserer heutigen deutschen Sprache steht Luthers Bibelübersetzung. Von der neueren französischen Sprache kann man keinen solchen Anfang mit dem Namen eines großen, die Entscheidung herbeiführenden Dichters oder Sprachschöpfers benennen. Am Anfang der modernen französischen Sprache steht etwas anderes: das Plädoyer des französischen Advokaten in den Prozessen, in denen das französische Volk gegenüber spanischem, römischem und jesuitischem Geist seine geistig-politische nationale Besonderheit durchgesetzt und dabei die heutige Form seiner nationalen Sprache gefunden hat. Damals waren die französischen Juristen die geistigen Vorkämpfer in einem schwierigen und gefährlichen inneren Kampf der französischen Nation. Sie waren die ersten, die eine moderne, volkstümliche und doch gebildete, kulturelle politische Beredsamkeit in der Sprache ihres Volkes schufen. Seit der Ordonnance von Villers-Cotterets (vom 15. August 1539) war die französische Sprache, an Stelle des bisherigen Latein, endgültig zur Gerichtssprache des Königreichs erhoben worden 20 . An dem entscheidenden und bestimmenden Anfang und Ursprung des modernen, klassischen Frankreich steht nun die Tatsache, daß juristische und politische Beredsamkeit zusammengetroffen sind. Gustave Lanson, der bekannte Literarhistoriker, hat dieses Zusammentreffen der „eloquence judiciaire" mit der „eloquence politique" festgestellt und gezeigt, wie sich damals in Frankreich das juristische Plaidoyer infolge der politischen Bewegung der Bürgerkriege aus der Enge einer pedantischen Gelehrsamkeit befreite und zu einem großzügigen, lichtvollen und volkstümlichen „Stil" gesteigert hat. [10a] Die Jesuiten sahen damals auf dem Höhepunkt des konfessionellen Bürgerkrieges in der französischen Sprache eine „Kriegsmaschine" der Gegner, die sie durch einen strengen Gebrauch des Latein unschädlich zu machen suchten21. Als die innerpolitische Befriedung ein18 Fernand Payen, Le Barreau et la Langue Fra^aise, Paris (Grasset) 1939, besonders S. 95 ff. 19 Discours des trois unites (Oeuvres, Marty-Laveaux I, S. 121): „Les jurisconsultes admettent des fictions de droit; et je voudrais, ä leur exemple, introduire des fictions de theatre, pour 6tablir un lieu theätral", etc. 20 Zu der Entwicklung der französischen Sprache in dieser Zeit, insbesondere auch zu der Bedeutung von Calvins „Institution Chrötienne" (1541) und die „Defense et illustration de la langue fran9aise" von 1549 vgl. die bekannte Geschichte der französischen Sprache von Ferdinand Brunot, [Histoire de la langue fran9aise des origines ä 1900, 10 Bde., Paris 1906 1943 - G. M.]. Dieser behandelt im 2. Band das 16. Jahrhundert; er erwähnt die Ordonnanz von Villers-Cotterets (S. 30) und schildert die Entwickung in der Medizin, der Mathematik, der Philosophie und der Geschichtswissenschaft, aber merkwürdigerweise nicht die der Jurisprudenz und der Politik.
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trat, war auch die Vorkämpfer-Rolle dieser Juristen zu Ende. Um 1650 haben sich neue Kampffronten gebildet; die spanische Gefahr war beseitigt; die Jesuiten hatten ihre Kampfesweise geändert und auch ihre Gegner kämpften unter neuen Losungen. Die „Führung entglitt den Juristen und ging auf die Theologen über" 22 . Hinter dem Glanz der neuen Namen: Descartes, Pascal, Bossuet, der großen Klassiker des Dramas, der Poesie und der Beredsamkeit treten die Juristen zurück. Trotzdem bleiben sie die Bahnbrecher. Sie haben nicht etwa nur das Tor geöffnet, durch das dann die Klassiker eingezogen sind; sie waren die aktive Spitze, der Vortrupp dieses mächtigen und glanzvollen Zuges, und von ihnen her kam die erste Prägung alles dessen, was man als Eigenschaften der klassischen französischen Sprache und des klassischen französischen Geistes bezeichnet hat: raison, clarte und andere Merkmale des esprit classique.
V. In diesen hundert Jahren juristischer Führung entstand zugleich die klassische politische Leistung des französischen Geistes: der nach innen und außen souveräne Staat. Er überwindet die innerstaatlichen Gegensätze des konfessionellen Bürgerkrieges durch souveräne Dezision, d. h. nicht durch eine religiöse, sondern durch eine politisch-staatliche Entscheidung. Er schafft gegenüber einem konfessionell und politisch zerrissenen Europa, in der Auseinandersetzung mit drei außenpolitischen Mächten - dem deutschen Kaiser, dem römischen Papst und dem König von Spanien - ein Stück neuer, nicht mehr mittelalterlicher „Sicherheit und Ordnung". Für zwei Jahrhunderte gilt der französische Staat als Vorbild „öffentlicher Ordnung", als Idealtypus politischer Machtform, als innen- und außenpolitischer, staats- und völkerrechtlicher Ordnungsbegriff schlechthin. Dieser Staatsbegriff zersprengt das mittelalterliche Deutsche Reich in zahlreiche Staatstrümmer; die staatliche Souveränität triumphiert im Westfälischen Frieden von 1648, als der Grundbegriff der kommenden Volkerrechtsepoche, die von 1648 - 1939 währt. Das Deutsche Reich erscheint jetzt auch deutschen Juristen wie Pufendorff als ein halb lächerliches, halb bedauernswertes Gebilde. Es wird für Pufendorff „monstro simile". Warum? Weil es kein Staat ist.[ll] Das Reich kann, wie noch der junge Hegel ganz in dieser Denklinie sagt, „nicht mehr begriffen werden". Warum nicht? Weil es kein Staat ist. Alles öffentliche Recht wird Staatsrecht; alles Völkerrecht Staatenrecht. Das erste klassische Beispiel dieses souveränen Staates aber ist der in jenem Jahrhundert entstandene französische Staat. In Frankreich wurde der moderne Begriff der Souveränität zuerst definiert. Erst seit dieser Zeit und nur aus dieser 21 Andre Schimberg, L'Education morale dans les colleges de la Compagnie de J6sus, en France, sous l'ancien regime, Paris 1913 (die französische Sprache erschien damals „une machine de guerre entre les mains des dissidents"). 22 Hans Leube, Der Jesuitenorden und die Anfänge nationaler Kultur in Frankreich, Tübingen 1935, S. 16.
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spezifisch staatlichen Leistung heraus ist Frankreich die Heimat und das Mutterland des „klassischen" Geistes geworden. Ein großer und typisch französischer Legist und Jurist hat in dem Jahrhundert der Geburt des modernen französischen Geistes die Definition des Souveränitätsbegriffes aufgestellt: Jean Bodin (1530 - 1596). Über dem Wesen und dem Lebensschicksal Bodins liegt noch manches geheimnisvolle Dunkel. Das hängt damit zusammen, daß dieser Legist, wie zahlreiche andere seiner Art, die ganze Gefährlichkeit seines Berufes erfahren hat, so daß er die Praxis einer gewissen Esoterik lernte, zu der sich insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert wohl jeder große Denker gezwungen sah. Sein äußerer Bildungs- und Entwicklungsgang ist der des Juristen seiner Zeit. Er hat in seiner Jugend in Toulouse doziert und dort den berühmten Humanisten Cujas bewundert.[12] Von seinem jugendlich begeisterten Humanismus wendet er sich dann zur Praxis, gerät in einen Methodenstreit mit Cujas und entwickelt sich zu dem pragmatisch-juristischen Realismus, der seinem französisch-bürgerlichen Wesen entsprach. Nicht nur in zahlreichen Ämtern, am Hofe des Königs, wie in der ständischen Opposition, sondern auch in der dauernden Bedrohtheit und Lebensgefahr der Bürgerkriege erreicht er die wahrhaft enzyklopädische Fülle der Beobachtungen und Erfahrungen, die sein Werk auszeichnet. Als echter Legist gehört er zum Tiers Etat. Mit diesem und dem französischen Volk steht er in dem konfessionellen Bürgerkriege gegen die Feudal-Aristokratie und den Klerus auf der Seite des Königs, aber dem König gegenüber verteidigt er die Unveräußerlichkeit der Domänen. Seiner sozialen Herkunft nach kommt er aus dem kleinen Bürgertum, wenn nicht der Roture; die Eltern und die meisten Verwandten waren kleine Handwerker. Zu den vielen Legenden und Gerüchten, die über ihn verbreitet worden sind, gehört auch die Behauptung, seine Mutter sei eine spanische Jüdin gewesen, die vor der Inquisition nach Frankreich geflohen sei. Das ist eine unbegründete und unhaltbare, erst siebzig Jahre nach Bodins Tode - bei Chapellain in einem Brief an Coming vom 1. Juli 1673 - auftauchende Erfindung. Sie konnte freilich einen Schein von Glaubhaftigkeit erhalten, weil ein berühmter Gelehrter, Coming, der im übrigen ein großer Bewunderer Bodins war, sie weiterverbreitet hat, und weil in dem nachgelassenen Religionsgespräch „Heptaplomeres" der Jude Salomo gut abschneidet. Bodin hat allerdings stark „judaisiert" und ein großes Interesse für jüdisch-rabbinische Gelehrsamkeit gezeigt. Das war aber bei den Humanisten seiner Zeit allgemein verbreitet und beweist noch nichts für eine jüdische oder halbjüdische Abstammung. [13] Sowohl in jenem Religionsgespräch wie in zahlreichen anderen Äußerungen seiner Bücher und Briefe zeigt Bodin eine ganz unjüdische Art von Frömmigkeit, die von jedem Zelotismus, jeder Proselytensucht, jedem Auserwähltheitswahn weit entfernt ist und sich in rührend bescheidener Weise aus dem Geschrei der theologischen Kontroversen auf Gebet und Geduld zurückzieht. Patiendo, non agendo beamur, sagt er in seinen „Paradoxen". Nach den Ergebnissen der neuesten archivalischen Forschungen wird niemand mehr seine rein französische Herkunft aus dem bodenständigen angevinischen Volk in Zweifel ziehen können23.
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Die politisch-praktische Lehre des modernen Staates entstand erst im 17. Jahrhundert, und zwar durch einen englischen Philosophen, Thomas Hobbes, der bereits unter dem Eindruck des Wirklichkeit werdenden französischen Staates stand, und dessen Konstruktion durch die deutschen Philosophen, an ihrer Spitze Pufendorff, auf dem Kontinent verbreitet wurde. Der Ruhm der ersten spezifisch juristischen, staatsrechtlichen Gestaltung aber gebührt dem französischen Juristen Bodin. Er gehört zu den „Politiciens" seiner Zeit, deren Auffassung und Begriff des Politischen im Ausgleich und in der Neutralisierung der konfessionellen Gegensätze liegt. Heinrichs IV. „Paris vaut bien une messe" ist aus dieser Art „politischer" Gesinnung entsprungen. Die großen französischen Juristen des 16. Jahrhunderts waren durchweg solche „Politiciens", vor allem der berühmteste von ihnen, der große Kanzler und Jurist Michel de 1'Hospital. Sie waren Feinde sowohl theologischer Intoleranz, wie eines unfrommen, nur macht-technischen Machiavellismus, den sie als Atheismus betrachteten. Sie waren Gallikaner und haben sich - unter ihnen besonders der Freund Bodins, Guy Coquille - der Einführung des Tridentiner Konzils in Frankreich widersetzt. [14] Sie hielten sich in allem, auch in den religiösen Gegensätzen, zwischen Mystizismus und Zynismus, zwischen Libertinismus und Frömmelei in einer neutralisierenden, juristisch argumentierenden Mitte, einem juste milieu, das man, gerade im Hinblick auf Bodin, als „essentiellement frangais" bezeichnet hat und das ebensosehr „essentiellement juridique" genannt werden kann 24 . Bodin steht ganz in dieser die feindlichen Gegensätze ausgleichenden juristischen Gesamthaltung, die man damals mit dem Wort „politisch" kennzeichnete. Sein nachgelassenes Religionsgespräch, das „Colloquium heptaplomeres" ist das erste moderne Dokument konfessioneller Neutralität und oft als Vorläufer von Lessins „Nathan" gekennzeichnet worden.[15] Aus dieser Haltung heraus ist er der Vater des modernen Staatsrechts geworden, und es wird in der Rechtsgeschichte wie in der Geistesgeschichte wenig Beispiele dafür geben, daß man die im Bereich des Geistes sonst sehr schwierige Frage der Vaterschaft so bestimmt und sicher beantworten kann wie hier. In Bodins Six Livres de la Republique (1576) ist die Souveränität des Staatsoberhauptes gegenüber dem feudalen, patrimonialen, ständischen und konfessionellen Pluralismus mit einer klassischen Simplizität des Denkstils als ein Rechtsbegriff entwickelt^ 16] die Souveränität wird höchste, den 23 Emile Pasquier, [La famille de Jean Bodin], Revue d'histoire de l'Eglise de France, t. XIX (Paris 1933), p. 457 - 462, hier p. 460. Le pfcre 6tait un modeste artisan, et la mfcre point du tout, ainsi que certains l'avaient cru, une marrane espagnole „chassäe de son pays par le bannissement g6n6ral de sa race en 1492", mais une bonne Angevine, Catherine Dutertre . . . Pas juif, pas meme demi-juif comme le voulait Huet, Jean Bodin se trouve done etre l'oncle propre d'un prieur de Toussaint. . . etc. Ferner die von Ponthieux in Ham (Somme) gefundenen Dokumente, die in der Revue du X V I e siecle, 1928, S. 56 - 99, veröffentlicht sind, sowie die Ausführungen von Andre Gardot, Jean Bodin, sa place parmi les fondateurs du droit international, im Recueil des Cours de l'Acad£mie de droit international, 50 (1934 IV), S. 549 - 747, hier S. 564 f. 24 Andre Gardot, s. o., S. 598.
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konfessionellen Bürgerkrieg überwindende Dezision; ihre Attribute und Kennzeichen, die „marques de la souverainete", unter ihnen das höchste Gesetzgebungsrecht, werden in einfachster, dezisionistischer Klarheit und Sicherheit formuliert. Dieses Werk Bodins enthält kein System des Staatsrechts, wie die französischen Juristen auch sonst im allgemeinen keine Systematiker sind; das Buch gibt aber ein vollständiges, wohlgeordnetes Repertorium der neuen staatsrechtlichen Begriffe, mit einfacher, begriffsrealistischer Herausstellung aller wesentlichen Institutionen und Distinktionen, mit einer erstmaligen Darlegung des modernen Beamtenbegriffs, insbesondere mit den bahnbrechenden, für die folgenden Jahrhunderte maßgebenden Unterscheidungen von Beamter und Kommissar und von Gesetz und Verordnung. Typisch legistisch ist die Auffassung des Gesetzgebungsrechts als des Wesens der Souveränität (donner des lois ä ses sujets) und, damit zusammenhängend, die Ableitung des Besteuerungsrechts aus dem Gesetzgebungsrecht. Das ist um so bedeutungsvoller, als noch die Menschen- und Bürgerrechte von 1789 den „pouvoir legislatif' vom „pouvoir financier" unterscheiden. Bodins „Republique" ist, wenigstens in den drei ersten Büchern, mit großer Durchsichtigkeit aufgebaut; der Stil ist humanistisch, wobei nicht an den sprachlich-literarischen, sondern an den Begriffs- und Argumentations-Stil zu denken ist. Eine überwältigende Fülle juristischen, verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen, wirtschaftswissenschaftlichen, ethnologischen und anderen Materials wirkt nur auf denjenigen Leser ermüdend, der die gedankliche Arbeit nicht aufzubringen vermag, die zur Erfassung eines solchen Stiles notwendig ist. Das praktische Wissen dieses Legisten ist ganz erstaunlich. Auf theologischem, geschichtlichem, ökonomischem Gebiete hat er bedeutende neue Gedanken durchgesetzt. Es ist auffällig, daß bisher keine Monographie eines Juristen über ihn vorliegt, während Philosophen, Historiker und Nationalökonomen sich eingehend mit ihm beschäftigt haben 25 . Denn in allem bleibt er immer ein Jurist, der Argumente gegeneinander abwägt. Ob er in der Erwiderung an Herrn von Malestroit mit genauer Nachrechnung zeigt, daß in Frankreich nicht nur scheinbar, sondern auch wirklich eine Preissteigerung eingetreten und diese auf die große Vermehrung der Gold- und Silbermenge zurückzuführen ist (womit er in der Geldlehre zum Vater der „Quantitätstheorie" wurde);[17] oder ob er in seinem Heptaplomeres die Argumente der Heiden, Juden und Mohammedaner, und unter den Christen wiederum der Katholiken, Lutheraner und Reformierten gegeneinander abwägt und im Ergebnis zu einem neutralen, die Gegensätze der verschiedenen Religionen vermeidenden allgemeinen Gottesglauben gelangt 26 ; immer ist er der gleiche, nüchterne und pragmatische Rechtswahrer. Niemals ist er genial, aber auch niemals unreligiös oder un25
Vgl. „La Response de Jean Bodin ä M. de Malestroit", 1568, neue Auflage Paris 1932, mit einer Einleitung von Henri Hauser; ferner Andre Gardot, a. a. O., S. 550. 26 Roger Chauvire, Colloque de Jean Bodin (Ausgabe einer französischen Übersetzung des Colloquium Heptaplomeres) Paris 1914. In Deutschland ist Guhrauers Ausgabe von 1841 am bekanntesten. Die einzige vollständige Ausgabe von Noack, Schwerin 1857, ist schlecht.
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fromm. In allem bleibt er praktisch gerecht, und jede Art von störendem Fanatismus, jeden politischen Mißbrauch religiöser Motive hält er von sich fern. Immer bleibt er in der Haltung des staatlichen Ausgleichs und auf einer den gemeinsamen Boden suchenden, vermittelnden Linie. Daß eine solche ausgleichende Haltung in einer Zeit fanatischer Religions- und Parteikriege „politisch" hieß, gehört in ein besonders lehrreiches Kapitel der Geschichte des Begriffs des Politischen. Jedenfalls war sie damals durchaus nicht ungefährlich. Bodin stand, im Gegenteil, mit seinem Beruf als Jurist Jahre lang in unmittelbarer Lebensgefahr. Er ist dem Tod durch Mörderhand nur durch ein Wunder entgangen[18] und der gerade herrschenden Strömung erlegen, als er 1589, im falschen Augenblick, den Anschluß an die Ligue vollzog. Er war in einer echten Situation und hat sich in ihr seines Berufes würdig erwiesen. Er hat die Gefahr nicht gesucht, weil niemand, der sie wirklich kennt, sie suchen wird; aber er hat auch seine gedankliche Linie nicht verraten, und selbst in jenem Augenblick des Anschlusses an die Ligue (21. März 1589) fand er eine bedeutende juristische Formulierung, indem er erklärte, er sei in Zukunft nur noch „Procureur du public et de l'Etat royal et non du roi" 2 7 . Wenn Bodin die Lehre von der staatlichen Souveränität entwickelt, ist sein eigentliches Motiv nicht machiavellistisch auf eine politische Machtsteigerung der Monarchie, sondern nur auf eine juristische Ehrlichkeit und Präzision gerichtet 28. Mit bloßen Zwecktheorien hätte er niemals einen solchen Erfolg haben können. Kein gelehrtes Werk der Wissenschaft des öffentlichen Rechts hat eine so schnelle, allgemeine, unwidersprechliche Wirkung in ganz Europa gehabt, wie das Buch des humanistischen Legisten aus dem Jahre 1576. Nach wenigen Jahren war es bei allen europäischen Nationen bekannt und verbreitet. Erst seit diesem Werk kann man überhaupt von einem eigentlichen „Staats"-Recht sprechen. Der von ihm erstmals zum Rechtsbegriff erhobene „Staat" hat das römische Reich deutscher Nation juristisch gesprengt und die Arbeit an der Wiederherstellung des Reiches auf den Weg über den Staat gezwungen. Weder Hobbes noch Chemnitius, noch Pufendorff, noch Hegel sind in ihrer politischen Theorie und ihrer praktischen Wirkung ohne den staatsrechtlichen Souveränitätsbegriff Bodins denkbar. [18a]
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Bezold, [Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres und der Atheismus des 16. Jahrhunderts], Historische Zeitschrift 113 (1914), S. 260 - 315 u. 114 (1915), S. 237 - 300; hier 113 (1914), S. 261. 28 Vgl. Jean Moreau-Reibel, Jean Bodin et le Droit Public Compart dans ses rapports avec la philosophie de l'histoire, Paris 1933, S. 252 / 3: „En la formulant (sc. la pensäe de la souverainet£), Bodin n'a pas vu d'abord un instrument politique, un moyen de renforcer l'autoritö monarchique, mais avant tout un instrument de precision juridique, propre ä determiner la nature du lien 6tatique."
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VI. Als im 17. Jahrhundert die Führung von den Juristen an andere Schichten und Eliten überging, war die Ebene des modernen „klassischen" Geistes bereits erreicht. Die berühmten Autoren, die jetzt folgen, Descartes sowohl wie Pascal und Bossuet, Racine, Corneille, Moliere, Boileau, ernten bereits die Saat, die im Bürgerkrieg gereift war. Ihr Klassizismus steht auf dem Boden einer durch die staatliche Souveränität des Königs gewonnenen politischen Entscheidung. Innenpolitisch bedeutet diese Staatlichkeit einen ausgegrenzten Bereich öffentlicher Ruhe, Sicherheit und Ordnung, der über dem Chaos der unausgetragenen, nur durch die staatlich-politische Dezision beendeten Bürgerkrieges, das Chaos überbrückend und verdeckend, als ein Bezirk bürgerlichen Friedens erscheint. Außenpolitisch besteht die Eigenart dieses souveränen Staates darin, daß er sich als ein Stück öffentlicher Ordnung gegenüber Einmischungsansprüchen verschiedenster Art ausgegrenzt hat, gegenüber dem Deutschen Reich, der römischen Kirche und der spanischen Weltmacht, ohne jedoch deren geschichtlicher oder metaphysischer Substanz etwas anderes als die juristische Dezision der souveränen Einheit entgegenzusetzen. Der Kampf mit dem Deutschen Reich hatte schon lange vorher im Mittelalter begonnen; er wurde jetzt durch das außenpolitische Bündnis des französischen Staates mit den protestantischen Mächten des Auslandes zum endgültigen Sieg Frankreichs, das sich als ein Land klassischer Ordnung gegen die Anarchie und das Chaos dieses Reiches abgrenzte. Der Kampf mit der römischen Kirche hatte schon bei Philipp dem Schönen 1308 zu einem Sieg Frankreichs geführt; er setzte sich jetzt in den Formen des gallikanischen Streites fort. Die spanische Weltmacht war im 16. Jahrhundert der gefährlichste Feind. Sie stand nicht nur mit dem Deutschen Reich und der römischen Kirche in einem außenpolitischen Bunde; durch den neugegründeten Jesuitenorden war sie auch Partner des innerfranzösischen Bürgerkrieges und stand sozusagen schon im Herzen Frankreichs, während sie durch spanische Königinnen und Verwandte selbst im französischen Königshause ihre Posten hatte. In dieser Lage hätte Frankreich die Vormacht des Weltprotestantismus werden können 29 . Die außenpolitische Entscheidung, aus der in einer solchen Lage das neue klassische Frankreich hervorging, bestand aber gerade darin, daß Frankreich in dem Weltkampf der beiden Konfessionen keine Führerrolle übernahm. Es entschied sich für den Katholizismus, aber in politisch-staatlicher Entscheidung, als Bestandteil der öffentlichen Ordnung, nicht als Entscheidung für ein katholisches Weltreich. Franz I. war, wie Ranke sagt „politischer Protestant", und die juristischen „politiciens" des 16. wie die praktischen Politiker des 17. Jahrhunderts sind weit davon entfernt, das europäische Chaos der Reformation aus der Tiefe heraus zu meistern. Was sie wollten und konnten, war, für ihr Land ein Stück Ordnung schaffen, ihr Stück französischer Sicherheit und Ordnung schützen und zu ihrem Vorteil jenseits der Grenzen Chaos und Anarchie womöglich künstlich 29
"Francis I e r 6tait plac£ v&itablement pour adopter le protestantisme ä sa naissance et s'en declarer le chef en Europe", hat Napoleon I. gesagt.
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erhalten. Dafür ist der Begriff des Politischen, den diese Politiker hatten, lehrreich und typisch. Er ist ganz auf neutralisierenden Ausgleich gerichtet; er sucht der Unterscheidung von Freund und Feind zu entgehen und den neutralen Boden der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu gewinnen. Diese französischen Politiker waren weder imstande, dem Gegner Spanien die Führung des Weltkatholizismus zu entreißen, um diese Führung selbst zu übernehmen - dagegen stand schon ihr außenpolitisches Bündnis mit den protestantischen Mächten. Noch übernahmen sie gegen Spanien die Führung des neuen Weltprotestantismus - das verhinderte die innerstaatliche Dezision für den Katholizismus, infolge deren Holland und England die protestantischen Weltmächte wurden. In dieser eigentümlichen Beschränkung und Begrenzung liegt der staatlich-juristische Charakter der politischen Grundentscheidung, durch die das nunmehr entstehende „klassische" Frankreich seine konkrete Individualität erhalten hat. Hier konnte und mußte, in den entscheidenden Jahren der Ausprägung, der Jurist als Sprecher des Tiers Etat sowohl gegenüber Theologen wie gegenüber der Feudal-Aristokratie die nationale Führung übernehmen. Diese ist damit endgültig den „classes moyennes" zugefallen. Von einer solchen Grundentscheidung her war bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts das geistige Gesicht des französischen Staates bestimmt. Im Westfälischen Frieden von 1648 bewies er bereits seine außenpolitische Überlegenheit über das vom französischen Staatsbegriff gesprengte Deutsche Reich. Die innerfranzösische Entwicklung der französischen Nation ging in der begonnenen Linie weiter. Die große Revolution von 1789 hat den Sieg des Tiers Etat vollendet. Die Rolle, die die Juristen - es genügen die Namen Danton und Robespierre - in ihr gespielt haben, ist oft bemerkt und hervorgehoben worden. Napoleons I. Versuch, den französischen Staat zu einem Reich zu erweitern, mißlang. Dafür gelangen, und zwar mit einem säkularen Erfolg, gesetzgeberische Zusammenfassungen, vor allem der Code Civil und eine Strafprozeßordnung, große Schöpfungen der französischen Jurisprudenz. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch blieb, über alle innerpolitischen Gegensätze hinweg, der soziale Vorrang des französischen Advokaten gewahrt. Sowohl in der Verbindung mit dem Parlamentarismus, wie in den Zeiten der Opposition gegen die monarchistische Restauration und gegen den Cäsarismus Napoleons III. hat der französische Advokat die forensische mit der politischen Beredsamkeit zu verbinden gewußt. Ich nenne hier nur die berühmtesten Namen: Thiers, Jules Favre, Jules Ferry, Gambetta, Waldeck-Rousseau, Viviani und Poincare, sämtlich typisch französische Advokaten. Immer hat auch das französische Volk sein in jenen heroischen Zeiten des Legisten begründetes Interesse an prozeßförmiger Politik bewahrt. Eine Affare Dreyfus, in der sich alles um einen gerichtlichen Prozeß bewegt, dürfte es in dieser Art bei keinem anderen Volk gegeben haben. Daß sich eine bürgerkriegsähnliche innere Aufspaltung eines ganzen Volkes an der Frage ausrichtet, ob ein Militärgericht einen Hauptmann Dreyfus mit Recht oder Unrecht verurteilt hat, ist in dieser Form ganz beispiellos. Als in der Nachkriegszeit einige hauptsächlich von Juden veranstaltete Versuche gemacht wurden, etwas Ähnliches in Deutschland zu inszenieren
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und die sogenannten Fälle Fechenbach, Bulleijahn und andere zu deutschen Dreyfus-Affären zu machen, [19] zeigte sich nichts anderes als ein wahrhaft kümmerliches Mißverhältnis, ja die völlige Beziehungslosigkeit jüdischen Geistes zum deutschen Volk.
VII. Es ist bekannt, daß der Franzose zu allen Zeiten dazu neigte, politische Fragen in juristischen Einkleidungen und Formulierungen zu behandeln. Man nennt das den ,juridisme" in der französischen Politik. Hierfür verweisen uns die Historiker vor allem auf die nach dem Westfälischen Frieden von Ludwig XIV. 1679 beim Parlament von Metz errichteten Reunionskammern als wichtigstes Beispiel 30 . Näher liegen uns heute die Beispiele aus dem Versailler Diktat, das die Straffälligkeit des früheren Kaisers und der sog. Kriegsverbrecher festsetzte (Art. 227) und in seinem vielerörterten Kriegsschuldartikel 231 die Verknüpfung von „responsabilite" und Reparationen herstellte. Hier erreicht die „politique juridictionnelle" ihre letzten Triumphe. Während der Pariser Friedensverhandlungen trat in der von den alliierten und assoziierten Regierungen eingesetzten „Kommission für die Feststellung der Verantwortlichkeit der Urheber des Weltkrieges und der aufzuerlegenden Strafen" der Gegensatz englischen und französischen Denkens, in dem Gegensatz des englischen Juristen Pollock und des französischen Juristen Larnaude zu Tage. [20] Auch die französische Auffassung des Erwerbes von Elsaß-Lothringen als einer „desannexion" wirkte auf uns wie eine künstliche juristische Konstruktion, die Annahme einer 1871 - 1918 vorhandenen „virtuellen" französischen Staatsangehörigkeit der Elsaß-Lothringer aber schon als offensichtlicher Mißbrauch juristischer Begriffe. Unter der Regierung des Advokaten Poincare ist dann die französische Armee im Jahre 1923 ausdrücklich als „huissier", als Gerichtsvollzieher, in das deutsche Ruhrgebiet eingerückt - eine Verwendung juristischer Denk- und Sprechweise, die fast als Karikatur erscheint und im Hinblick auf eine ruhmreiche Armee damals selbst bei uns Deutschen, den Opfern eines solchen Mißbrauchs, etwas wie Mitleid erregen konnte. [20a] Während der zwanzig Jahre, in denen der Genfer Völkerbund Gelegenheit hatte, den Volkern zu zeigen, ob er die Kraft zu einer neuen Rechtswissenschaft hatte, ist die eigentümliche Neigung des französischen Denkens zu juristischen Präzisionen und Dezisionen in allen wichtigen Augenblicken hervorgetreten und bei Fragen wie der Definition des Angreifers, der Möglichkeit von Revisionen, der gemeinsamen Beschlußfassung und Durchführung von Sanktionen oft festgestellt worden 31 . Die mühevolle Juristenarbeit des 30 Fr. Kern, Die Anfänge der französischen Ausdehnungspolitik bis 1308, 1910; Kaufmann, Die Reunionskammer zu Metz, Metz 1899; Paul de Lapradelle, La frontifcre, Etude de Droit international, 1928, S. 35, nennt die 1686 aufgehobene Reunionskammer „un Episode significatif de la politique juridictionnelle de la frontifcre". 31 Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938, S. 15 f., 27.
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Genfer Protokolls von 1924 hat der Engländer Chamberlain mit der kaltblütigen Bemerkung beiseite geschoben, daß der Engländer zum Unterschied vom Franzosen nicht logisch und rational denke.[21] Der große Gegensatz französischen und englischen Denkens, der sich dabei zeigte, wurde immer wieder auf schlagwortartig formulierte Antithesen wie Rationalismus gegen Irrationalismus, aber auch „juristisches" gegen „politisches" Denken gebracht 32. Ein Kronzeuge klassischer Art ist hierfür der langjährige Leiter der Politik des Quai d'Orsay, Philippe Berthelot, der seinen englischen Freunden sagte: „Le Frangais a une confiance complete dans la demonstration juridique 33 ." Grundsätzlich ist es für uns von besonderer Bedeutung, daß die französische Jurisprudenz, trotz der scharfen und folgerichtig durchgeführten Trennung von droit civil und droit public, das Bewußtsein der umfassenden und unteilbaren Einheit des nationalen Gemeinrechts im Ganzen nicht verloren hat. Trotz der scharf und folgerichtig durchgeführten Abtrennung eines droit public, d. h. eines Sonderrechtes der konkreten Ordnung „Verwaltung", hat die französische Jurisprudenz niemals vergessen, daß ihr droit civil eben ein droit commun und in diesem Sinne die Grundlage und Verfassung allen französischen Rechts ist. Der Code civil ist nicht nur „privates" Recht, er ist das Gemeinrecht des Franzosen und seines personalen Status. Nicht in allen Einzelheiten, wohl aber in seinen Grundbegriffen von individueller Freiheit, Privateigentum und Familie ist er die Verfassung der zivilen bürgerlichen Gesellschaft und damit die Fundamentalordnung des französischen Gemeinwesens. Die juristische, moralische und politische Fülle der Begriffe „civil" und insbesondere „droit civil" läßt sich mit keinem einfachen deutschen Beiwort, insbesondere nicht mit „bürgerlich" übersetzen, auch nicht durch die Verwendung des Fremdwortes „zivil". Der Code civil ist nicht etwa auf französisch das, was das BGB von 1896 auf deutsch ist. Wer nicht nach dem Code civil, sondern nach einem anderen Eigentums- oder Familienrecht lebt, kann nach folgerichtiger französischer Auffassung nicht vollgültig Franzose sein. „Tout Frangais jouira des droits civils" sagt der Code civil (Art. 8), woraus gefolgert wird, daß, wer nicht diese droits civils hat, nicht „Fran^ais" sein kann. Der unbeschränkte Genuß der „droits civils" ist die notwendige Voraussetzung und ein wesentliches Merkmal der politischen Rechte. Die Einheit und Gleichheit des zivilen Gesetzes ist wichtiger als Religion, Rasse oder soziale Lage. Das versteht sich für den normalen Franzosen im Grunde von selbst, zeigt sich aber in seiner eigentlichen Bedeutung in dem Status derjenigen kolonialen Eingeborenen, die nicht nach dem Code civil, sondern nach einem anderen Statut (z. B. Mohammedaner, Juden, usw.) leben. Hier wird das „zivile" Recht eine Voraussetzung des politischen Status.
32 z. B. Heinrich Rogge, Das Revisionsproblem, Berlin 1937, S. 6; derselbe in Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht, Bd. 50 (1935), [Der Kriegsschuldstreit vor dem Forum der Rechtswissenschaft. Ein Arbeitsprogramm, S. 209 - 314 - G. M.], S. 220. 33 In einer Rede, die er, kurz vor seinem Tode (1934) für London vorbereitet hatte und in der er den Engländern die Eigenart französischen Wesens klarzumachen suchte.
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Es ist bekannt, daß die Assimilierungstendenz der französischen Bevölkerungspolitik im Allgemeinen sehr weit geht. Aber auch gegenüber den sonst als Citoyens vielleicht erwünschten Mohammedanern Algeriens wird die Auffassung vertreten, daß ein Mohammedaner, der beim islamischen Recht bleibt, nicht im vollen Sinne französischer Citoyen sein kann, weil er nach seinem EingeborenenStatut und nicht nach dem Recht des Code civil lebt 34 . Ein solcher Algerier ist „fran^ais", aber nicht „Fran9ais". „Droit civil" wie „Code civil" haben also nicht nur privat-, oder in unserem Sprachgebrauch „bürgerlich"-rechtlichen, sondern grund- und verfassungsrechtlichen Sinn und Charakter. Die Homogenität, ohne die es kein Gemeinwesen gibt, ist hier weder von der Religion noch von der Rasse her bestimmt; sie liegt in einem juristisch bestimmten „regime civil". Das regime civil ist die Voraussetzung für den citoyen, den Staatsbürger 35. Der Staat der modernen Zivilisation, der moderne Staat schlechthin, ist im Bewußtsein des Franzosen ein juristisch aufgefaßter etat civil im Gegensatz zu allem, was unzivilisiert ist. Ein Negerstamm sowohl wie eine feudale oder klerikale Herrschaft, ein Militär- oder Beamtenstaat wie eine Diktatur fallen unter diese negative Kategorie. Die Gegner, die als „nicht zivil" polemisch in Betracht kommen, mögen untereinander sehr verschieden sein, als Gegner werden sie immer mit gleicher Entschiedenheit ins Auge gefaßt. Was nicht zivil ist, ist eben auch nicht zivilisiert. Auch in dieser Ausgeprägtheit des Begriffes „civil" ist das Werk und das Erbe der Legisten lebendig. So konnte der Rechtslehrer eines Pariser Lehrstuhles, Gaston Jeze, vor dem Genfer Völkerbundsrat (am 5. September 1935) in der Erörterung des italienisch-abessinischen Konflikts als Vertreter Abessiniens auftreten und dem italienischen Anspruch einer zivilisatorischen Aufgabe die beleidigenden Sätze entgegenhalten: „Die abessinische Regierung erklärt mit Bestimmtheit, daß ihr Ideal nicht die Unterwerfung ihres Volkes unter ein militaristisches Regime ist, und daß sie diese Art von Zivilisation nicht für das abessinische Volk erstrebe."[22] Zur Ehre der Pariser Rechtsstudenten ist freilich hinzuzufügen, daß sie gegen diesen Rechtslehrer in heftigen Demonstrationen protestiert haben. Die beste Zusammenfassung dieses über Jahrhunderte sich erstreckenden Sachverhalts hat ein französischer Advokat, Barboux, mit französisch-legistischer Prägung und Eleganz formuliert. Er sagt von den Legisten: „Ces proletaries eloquents qui ont employe cinq siecles ä saper et ä detruire la feodalite, ont ecrit la Satire Menippee, chasse les Espagnols, rendu la France ä Henri IV, proclame 1' unite de la France, redige le Code Civil".[22a] Mit dieser Erbschaft und auf einer solchen Grundlage wurde nun die französische Nation, in der Rolle des scheinbaren Siegers von Versailles, im 20. Jahrhundert vor die Aufgabe einer europäischen Großraumordnung gestellt. Frankreich ist, und zwar gerade vom Juristischen her, an 34 Paul-Emile Viard, Les Droits politiques des Indigenes d'Alg&ie, Paris (Recueil Sirey) 1937, p. 11: „A l'heure actuelle, dans l'Empire fran^ais, l'accession ä la parfaite Citoyennet£ comporte la perte du Statut (sc. des muselmanischen, jüdischen oder sonstigen Eingeborenenrechts) et la pleine soumission au droit civil fransais." 3 5 Maurice Hauriou, Principes de Droit public, 2. Aufl. 1916, S. 379.
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dieser Aufgabe gescheitert. Unmittelbar vor dem Zusammenbruch ist freilich noch ein letzter großer Anlauf gemacht worden, um den Geist eines juristischen Universalismus vom französischen Staat auf die Welt auszudehnen. Hier ist der Entwurf eines systematischen Werkes entstanden, das dem Völkerrecht nicht nur eine völlig neue Grundlage, sondern bis in die Einzelheiten hinein eine neue Gestalt, freilich nur die in die Welt projizierte, innerstaatliche Gestalt des französischen Gesetzesstaates zu geben versuchte. Es handelt sich um das 1932-34 erschienene Buch von Georges Scelle „Droit des gens".[23] Das ganze Werk trägt in allen seinen Konstruktionen den Stempel legistischer Herkunft. Es würde, wenn die Strömung einer universalistischen französisch-englisch geführten Weltpolitik gesiegt hätte, auch die politische Bedeutung erhalten haben, die legistischen Vorstößen in früheren Jahrhunderten zugekommen ist. Es macht den Versuch, in einem gleichzeitig individualistischen und universalistischen juristischen System die liberal-individualistische Verfassung der Ideen von 1789 auf die Welt zu übertragen und aus dem Citoyen Francis das Normalbild des alle Völker umfassenden kosmopolitischen Weltbürgers zu machen. Der neue Weltbürger würde dem Citoyen Fran^ais so ähnlich sehen, weil das Weltrecht dieses neuen völkerrechtlichen Systems in Wirklichkeit nur eine Erweiterung und Erhebung des droit civil zum Gesetz eines Weltstaates, die „Welt" aber, die der Weltbürger bevölkert, im Kern ihrer Wirklichkeit nur ein mit dem angelsächsischen Herrschaftsreich zusammenfallender Weltmarkt wäre. Auch hier wird die Tragik des französischen Geistes darin sichtbar, daß er zum Diener der englischen Weltmacht herabgesunken war. Aus dem Legisten des französischen Königs wurde auf dem Wege über den Legisten eines parlamentarischen Gesetzespositivismus der Legist einer ihm wesensfremden Weltherrschaft. Was vom römischen Juristen des klassischen Zeitalters gesagt werden konnte, daß er nämlich in einem volklosen Weltreich ein volkloses Weltrecht wissenschaftlich entwickelte, würde auch für den Juristen eines solchen universalistischen Weltsystems zutreffen. Aber das Ende des Genfer Völkerbundes hat diesen juristischen Konstruktionen jede praktische Bedeutung genommen. Die französische Jurisprudenz stand, wie Frankreich selbst, seit der Unterwerfung unter die Hegemonie Englands in einer unentschiedenen spannungsvollen Mitte zwischen der Erstarrung des überkommenen legalitären und der Grenzenlosigkeit eines universalistischen Systems. Den Weg zum europäischen Großraum hat sie nicht gefunden. Sie schloß sich ein und schloß die übrige Welt aus. Auch von ihr galt, was ein edler und wissender Franzose, der am 8. Juli 1916 an der Somme gefallene Augustin Cochin von der „langue bien faite" gesagt hat, und was wie eine Prophezeiung des Schicksals Frankreichs überhaupt klingt: „rempart sans doute, mais aussi prison".
Meine Ausführungen sollten auf eine öfters bemerkte, aber noch nicht in systematischem Zusammenhang behandelte Eigentümlichkeit des französischen Geistes hinweisen, auf seine in spezifischer Weise juristisch geprägte Sonderart. Diese er-
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klärt sich aus der politischen Geschichte Frankreichs, aus dem Siege des von Legisten geführten Tiers Etat und der classes moyennes, zu welchem Sieg der Legist als wesentlicher Vorkämpfer gehört. Die Herausarbeitung dieses Zusammenhangs scheint mir notwendig gegenüber manchen nur literarhistorischen oder ästhetischen Deutungen der französischen raison, clarte und mesure. Allerdings steht meine Betrachtung stark unter Gesichtspunkten, die mir als Juristen besonders nahe liegen. Das liegt in der Natur des Themas. Es kommt dabei auf die Erkenntnis eines konkreten politischen Zusammenhangs an, ohne den sich die nur literargeschichtlichen Betrachtungen in eine bloß ästhetisch unverbindliche oder nur psychologisch interessante Schilderung verlieren. Der große geschichtliche Zusammenhang betrifft eine europäische Nachbarnation, deren politische und geistige Machtform jahrhundertelang unser deutsches Schicksal beeinflußt hat. Eine ihrer wirksamsten Beeinflussungsmethoden bestand eben darin, daß der politische Charakter geistiger Beeinflussung verschleiert blieb und uns nicht zum Bewußtsein kam. Die Erkenntnis der großen, ja maßgebenden Bedeutung des französischen Juristen kann hier zur Klärung beitragen, weil die tiefste Wurzel aller geistigen Schöpferleistung eines Volkes in großen Kampfestaten liegt. An der geistigen Formung eines Volkes nehmen nur die Schichten teil, die führend auch an dem aktiven Kampf beteiligt sind. Nur in der alles erfassenden, kämpferischen Auseinandersetzung bildet sich die konkrete geschichtliche Gestalt. Mögen dann im Laufe weiterer Entwicklung immer höher getriebene Verfeinerungen entstehen und letzte feinste Blüten sich weit von ihrer wurzelhaften Herkunft entfernen, solange sie echt bleiben, leben sie doch nur aus ihrer tiefsten Wurzel. Mit Frankreich verhält es sich - ganz konkret gesprochen - so, daß der französische Jurist an zwei entscheidenden Kampfpunkten der Geschichte seiner Nation steht. Er war der eigentliche Vorkämpfer nationaler Bildung in der Überwindung des Mittelalters und in der Heraufführung der Neuzeit, und er war das gerade in denjenigen Augenblikken geschichtlicher Wendezeiten, in denen der französische Geist seine Ausprägung erhielt. In keinem anderen Lande hat der Jurist eine gleiche oder auch nur ähnliche Bedeutung gehabt. Darum macht eine Betrachtung des französischen Juristen die politische Herkunft typischer Ausformungen des französischen Geistes am deutlichsten sichtbar und fällt von dort her, unter dem politischen Horizont des Kampfes um die Nation-Werdung des französischen Bürgertums, ein neues aufhellendes Licht auf viele, zutreffende Kennzeichnungen, die man für die typische Eigenart des französischen Geistes gefunden hat. Glanz und Trübungen, Tugenden und Fehler, Größe und Enge dieses für manche faszinierenden französischen Geistes werden dadurch auf die Wurzel aller geschichtlichen Kraft, auf eine Bewährung im politischen Kampf zurückgeführt. Auf diese Weise erhält insbesondere auch derjenige Begriff seine konkrete Wahrheit, der in unserem Zusammenhang am meisten genannt und am häufigsten als wirksames Schlagwort für Frankreich gegen Deutschland verwendet worden ist, der Begriff des „Maßes", der „mesure". In ihm sammelte sich alles, was der selbstbewußte Franzose für sich und seinen Machtanspruch geltend machte und 14 Staat, Großraum, Nomos
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was er andern, insbesondere dem Deutschen entgegenhielt, um ihn zu widerlegen. Dieses Maß, diese so vielgenannte „mesure", wird durch unsere Betrachtung aus einem vieldeutigen, ganz verschiedenartige geschichtliche Idealvorstellungen in sich einbeziehenden Allgemeinbegriff auf ihre konkret französische Besonderheit reduziert. Sie wird auf ihr eigenes, d. h. ihr französisches Maß zurückgeführt, und das ist ein im Kern juristisches und legistisches Maß. Es ist nicht das Maß eines Reiches, sondern das eines Staates, dessen europäische Sonderleistung darin bestand, nach der Auflösung der mittelalterlichen Einheit als erster ein abgegrenztes und ausgegrenztes Stück übersichtlicher und zentralistischer Sicherheit und Ordnung bei sich verwirklicht zu haben. Alle Präzision, Klarheit und spezifische Rationalität, aber auch alle Enge, Äußerlichkeit und Schikane dieser Maß- und Grenzenvorstellung liegen in dieser geschichtlichen Herkunft begründet. Auch die heutige Angst- und Untergangs-, ja Todesstimmung der um ihr Maß besorgten „defenseurs de TOccident". [24] Denn heute ändern sich die Maße, die im 17. und 18. Jahrhundert entstanden sind. In einem mächtigen Wandel aller geschichtlichen Begriffe entstehen neue Inhalte und neue Proportionen, steigen neue Raumbegriffe auf und bildet sich neues Recht in neuen Ordnungen. Dieses Mal wird die Ordnung von Deutschland und vom Reich her gewonnen. Es ist aber nicht so, wie es jenen angsterfüllten und verzweifelten Verteidigern der bisherigen Maße vorkommt, als hörten Maß und Recht heute überhaupt auf. Was aufhört, ist nur ihr altes Maß und ihre Art Legalität. Was kommt, ist unser neues Reich. Auch hier sind Götter, die walten. Groß ist ihr Maß.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. etwa H. E. K. L. Keller, Das rechtliche Weltbild. Gegenreich Frankreich, 1936, u. P. R. Rohden, Die französische Politik und ihre Träger. Advokat, Schriftsteller, Professor, 1941. [2] Der französische protestantische Kaufmann Jean Calas (1698 - 1762) wurde nach dem Selbstmord eines seiner Söhne hingerichtet; man warf ihm vor, diesen ermordet zu haben, um dessen geplante Konversion zum Katholizismus zu vereiteln; vgl. dazu: D. D. Bien, The Calas affair. Persecution, toleration and heresy in 18th century, Princeton 1960. Voltaire, Traite sur la tolerance, ä l'occasion de la mort de Jean Calas, 1763, griff den Fall auf und erreichte, daß das Urteil des Toulouser Gerichts kassiert wurde. Der Vorfall war auch von Bedeutung für die Entstehung von Cesare Beccarias berühmter Schrift „Dei delitti e delle pene" v. 1764, die für Abschaffung der Folter und für die gesetzmäßige Regelung der Untersuchungshaft, Öffentlichkeit des Verfahrens und Gleichheit vor dem Strafgesetz eintrat und die europäische Strafrechtswissenschaft grundlegend beeinflußte; zum geschichtl. Kontext vgl. H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, II, 1966, S. 435 - 55, „Das Strafrecht im Zeitalter der Aufklärung". - Voltaire ließ sich bei s. Forderung nach Toleranz möglicherweise v.
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Bodins „Heptaplomeres" anregen, vgl. H. Hornik, Jean Bodin and the beginnings of Voltaire's struggle for religious tolerance, Modern Languages Notes, 76 / 1961, S. 362 - 375. [3] Vgl. G. Sorel, La Revolution dreyfusienne, 1909, 2. Aufl. 1911. - Sorel wandte sich enttäuscht von den Dreyfusards ab, als diese ihre Politik mit der Unschuld Dreyfus' zu „begründen" suchten. Er warf ihnen Mangel an Respekt für das Juridische vor und kritisierte sie als Verfechter einer vagen, arbitrairen Menschlichkeit, die die Massen ihrer „Intellektuellenkirche" unterwerfen wollten. Vgl. a.: M. Freund, Georges Sorel, 1932, S. 108 - 129. - Pareto konstatierte: „L'affare Dreyfus e un semplice episodio della contesa tra la presente e la futura aristocrazia", in: Un'applicazione di teorie sociologiche, 1900, Ndr. in: Scritti sociologici minori, Turin 1966, S. 234. S. auch Paretos Brief an den Ökonomen Antonucci v. 7. 12. 1907, Ndr. in: Scritti politici, II, Turin 1974, S. 806 - 11. [4] Philipp der Schöne berief die Vertreter aller drei Generalstände am 14. 4. 1302 nach Paris ein, Anfang Mai 1308 nach Tours. Beide Male ging es ihm dabei um die Unterstützung der gesamten Nation: 1302 gegen Bonifaz VIII., 1308 gegen die Templer. Diese ersten gemeinsamen Versammlungen der drei Stände, bei denen den Legisten eine bedeutende Rolle zukam, waren damals eine politische Sensation. Vgl. Fr. Olivier-Martin, Histoire du Droit fran?ais des origines ä la Revolution, 2. tirage, 1951, S. 366 f. u. J. Favier, Philippe le Bei, 1978, S. 352 ff., S. 451 ff. [5] Bodin schreibt: „ . . . mais il y a bien difference entre le droit & la loy: l'vn n'empörte rien que l'equite, la loy empörte commandement: car la loy n'est autre chose que le commandement du souuerain, vsant de sa puissance". (Les six livres de la Republique, Ausg. 1583 / Ndr. 1977, S. 155.) Dazu: H. Quaritsch, Staat und Souveränität, I, 1970, S. 333 - 337. [6] E. W. Eschmann, Die Führungsschichten Frankreichs, I, 1943, S. 153, betont hingegen, daß sich aus „der Machtstellung der Legisten . . . kein dauerndes, staatstragendes Beamtentum entwickelte" und sieht den Grund im „kommissarischen Charakter ihrer Tätigkeit." [7] Über die führenden Legisten Philipps des Schönen liegen nur z. T. Biographien vor, etwa R. Holtzmann, Wilhelm von Nogaret, 1898; R. Bechon, Pierre Flotte, chancelier de France, Rom 1891; A. Henry, Guillaume de Plaisians, ministre de Philippe le Bei, Ecole nationale des chartes, 1892, S. 71 - 78; J. Favier, Un conseiller de Philippe le Bei: Enguerran de Marigny, 1963. Pierre de Belleperche (1250 - 1308) wurde 1307 als Großsiegelbewahrer von Guillaume de Nogaret abgelöst, weil er sich dem Prozeß gegen die Templer widersetzte; vgl. Holtzmann, a. a. O., S. 142 ff. - Philippe de Beaumanoir (1247 - 1296 o. 1297) kompilierte 1283 die wichtigen „Coutumes de Beauvaisis" (ed. A. Salmon, 1899 / 1900, Ndr. 1970, 2 Bde.) und ist vermutlich Autor der Versromane „La Manekine" und „Jehan et Blonde", so H. P. Dyggve, Neuphilologische Mitteilungen, 1940, S. 49 - 60. Das zuletzt genannte Werk soll Rudolf von Ems als Quelle zu seinem „Willehalm von Orlens" (1238, Edit, von V. Junk, 1905) gedient haben. Beaumanoir muß im Grunde von den Legisten unterschieden werden, da er über die Relation der „Souveränität" der Barone zu der des Königs schrieb („chascuns barons est souverains en sa baronie; voirs est que Ii rois est souverains par dessus tous") und nicht über die des letzteren; zu ihm vgl. H. Quaritsch, Staat und Souveränität, 1,1970, S. 163 68; ders., Souveränität, 1986, S. 15 - 18. - Allgemein zur Theorie und Praxis der Legisten: R. Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz' VIII., 1903, Ndr. 1969; J. Riviere, Le probleme de l'Eglise et de l'Etat au temps de Philip le Bei, 1926; G. Digard, Philippe le Bei et le Saint-Siege de 1285 ä 1304, 1936, 2 Bde. 14*
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[8] Zur von Nogaret organisierten Gefangennahme d. Papstes in Anagni vgl.: W. Holtzmann, Zum Attentat von Anagni, FS A. Brackmann, 1931, S. 492 - 507; R. Fawtier, L'attentat d'Anagni, in: Melanges d'archeologie et d'histoire, 1948, S. 153 - 179; F. X. Seppelt, Geschichte der Päpste, IV, 1957, S. 37 ff. - Bodin ergreift sehr eindeutig die Partei Philippe le Bel's, weil der Papst mit seinem Bann gegen den französischen Herrscher und die, die ihn als König anerkannten, unerlaubterweise die weltliche Souveränität für sich in Anspruch genommen hätte; er schreibt: „ . . . mais le Roy luy enuoya lettres telles qu'il meritoit, qui se truuent encores au thresor, auec vne armee sous la conduite de Noguarel, portant decret de prise de corps, en vertu duquel il constitua le Pape prisonnier, luy faisant congnoistre que le Roy n'estoit pas son subiect, comme il l'auoit qualifie par sa bulle" (Les six livres . . . , Ausg. 1583 / Ndr. 1977,1, 9, S. 201). - Zum Prozeß gg. die Templer: G. Lizerand, Le dossier de l'affaire des Templiers, 1924; H. Finke, Papsttum und Untergang des Templerordens, 2 Bde., 1907; G. Roman, Le proces des Templiers. Essai de critique juridique, Montpellier 1943; A. Beck, Der Untergang der Templer, 1992; den Prozeß gg. Bonifaz' VIII. Andenken schildert detailliert R. Holtzmann, Wilhelm v. Nogaret, 1898, S. 176 - 201. Vgl. jetzt auch die prozeßrechtlich akribische Studie v. T. Schmidt, Der Bonifaz-Prozeß. Das Verfahren der Papstanklage in der Zeit Bonifaz' VIII. und Clemens' V., 1989. [8a] Zu den „cas royaux" vgl.: R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, 1910, S. 438 ff.; Fr. Olivier-Martin, Histoire du Droit fransais de origines ä la Revolution, 2. Aufl. 1951, §§ 375, 384 f., 409,411. [9] Die „Satyre Menippee de la Vertu du catholicon d'Espagne et de la tenue des Estats de Paris" (1594), zu der neben Pierre Pithou (1539 - 1596) die Kanonisten Jacques Gillot und Pierre Leroy, der Humanist Jean Passerat, der Hellenist Florent Chrestien und die Juristen Gilles Durant und Nicolas Rapin beitrugen, war das bedeutendste Pamphlet der „politiques catholiques moderes" die einer Annäherung an die Hugenotten zustimmten und gegen die pro-spanische Liga kämpften. Der Stil dieses „pamphlet du sens commun" darf als „Rabelais moins l'ivresse" gekennzeichnet werden (so H. Baudrillart, Bodin et son temps, 1853, S. 107). Das z. T. sehr grobianische Werk, sich aus Szenen und feierlich-satirischen Reden aufbauend, begründet die absolutistische Legitimität mit bourgeoisem bon sens; z. T. nimmt es die Eloquenz des Siecle classique vorweg. Editionen: Ch. Read, Paris 1876 u. 1880; Josef Frank, Oppeln 1884, Eugen Franck'sche Buchhandlung; die Ausgabe von E. Tricotel, Paris 1877 / 81 inzwischen als Nachdruck, Genf 1971. Vgl. a.: F. Giroux, La Composition de la Satire Menippee, Laon 1904; Etudes sur la Satyre Menippee, sous la direction de D. Menager et F. Lestringer, Genf 1987. - Pithou bekräftigte in s. „Recueil des libertes de l'Eglise gallicane" (1594) die Unabhängigkeit d. französischen Königs ggü. dem Papste; er edierte u. a. die Fabeln des Phaedrus und die Deklamationen Quintilians. Zu ihm: R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, 1910, S. 438 ff.; de Rosanbo, Pierre Pithou, Revue du Seizieme Siecle, 1928, S. 279 ff.; P. sollte in der Bartholomäusnacht ermordet werden, konnte aber zu seinem Freund, dem „politicien" Antoine Loisel (1536 - 1617) fliehen; vgl. R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts - Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, 1962, S. 31 f. [10] Olivier Patru galt als einer der „meilleurs arbitres du langage". Von ihm: Les plaidoyers et oeuvres diverses de M. Patru, 1681; Oeuvres diverses contenant les plaidoyers, harangues, lettres et vies de quelques-uns de ses amis, 1732, Ndr. Genf 1972. [10a] G. Lanson, L'ideal frangais dans la litterature de la Renaissance ä la Revolution, Paris 1927.
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[11] Severinus de Monzambano (= Pufendorff), De statu imperii Germanici (1667), ed. F. Salomon, 1910, VI, § 9, S. 126: „Germaniam esse irreguläre aliquod corpus et monstro simile, siquidem ad regulas scientiae civilis exigatur." - Hegel, Die Verfassung Deutschlands (1801 / 02), hrsg. v. H. Heller, 1919, S. 11: „Deutschland ist kein Staat mehr . . . Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr." [12] Jacques Cujas (auch Cujaz, latinisiert Cuiacius), 1522 - 1590, war neben Alciatus (1492 - 1550) der Hauptvertreter des mos gallicus; diese französische Schule des Römischen Rechts pflegte besonders die philologisch-humanistische Auslegung der Quellen und argumentierte „imperio rationis", nicht „ratione imperii" und somit „nationalistisch" u. gegen das Reich; vgl. P. Koschaker, Europa und das Römische Recht, 1947, S. 105 ff.; ü. Cujas: E. Spangenberg, Jacob Cujas und seine Freunde, 1822, Ndr. 1967. In den „Six livres" polemisierte Bodin häufiger gg. den ihn früher stark beeinflussenden Denker, vgl.: Les six livres . . . , Ausg. 1583 / Ndr. 1977, III, 2, 373 f.; III, 3, 403; III, 6, 463. Lt. P. Mesnard, Einleitung zu: Oeuvres philosophiques de Jean Bodin, 1951, S. XXXI, verspottete Cujas daraufhin Bodin als „Andius sine bono" (Anagramm aus „Bodinus Andius"). Zu Cujas vgl. auch: Stintzing / Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, I, 1910, S. 367 f., 375 f. [13] Vgl. dazu auch: J. Levron, Jean Bodin et sa famille. Textes et commentaires, Angers 1950. Danach ist Bodins »Judaismus" calvinistisch und das Interesse Bodins am Judentum erklärt sich daraus, daß er im selben Hause aufwuchs wie einer der „lecteurs royaux" für Hebräisch, Jordanus. In s. Rezension d. Buches von F. J. Conde, El pensamiento politico de Bodin, Madrid 1935 (jetzt in Conde, Escritos y fragmentos politicos, Bd. I, Madrid 1974, S. 17 - 115) in der DJZ, 3 / 1936, Sp. 181 f., behauptet Schmitt noch die jüdische Abstammung Bodins; vgl. vorl. Bd., Staatliche Souveränität u. freies Meer, FN 1, S. 402 f.. Zu dessen „Judaisieren" vgl. a.: P. L. Rose, Bodin and die Great God of Nature: the moral and religious universe of a Judaiser, Genf 1980. [14] Guy Coquille, 1523 - 1603, galt als einer der bedeutendsten „coutumiers" seiner Zeit, bes. durch: Coutume du pays et duche de Nivernais, 1590. Seine wichtigste gallikanische Schrift: Traite des libertes de l'Eglise de France, 1594. Über ihn: J. Declareuil, Histoire generale du Droit frangais des origines ä 1789, Paris 1925, S. 422 - 424 (sich u. a. mit Coquilles Diktum „Le roi est monarque et n'a point de compagnon en sa majeste royale . . . ce qui est de Majeste representant sa puissance et sa dignite reside inseparablement en sa seule personne" befassend); vgl. Fr. Olivier-Martin, Histoire du Droit frangais des origines ä la Revolution, 2. Aufl. 1951, §§ 261, 266, 318, 320 f.; vgl. a.: J. de Maumigny, Etude sur Guy Coquille, 1910, Ndr. Genf 1971. [15] So bes. J. S. Bloch, Jean Bodin, ein französischer Staatsmann und Rechtslehrer, ein Vorläufer Lessings aus dem 16. Jahrhundert, Prag 1881; Ndr. in: Aus der Vergangenheit für die Gegenwart, Wien 1886, S. 221 - 258. - Während aber in der Ringparabel von Lessings Nathan (1779) alle Ringe gleich und gleichwertig sind, alles religiöse Fragen in einem allgemeinen Gottesglauben mündet, impliziert Bodins Äpfelgleichnis in den Heptaplomeres das Gegenteil: der Lutheraner Fridericus beißt in einen täuschend „echten", künstlichen Apfel. Es gibt also eine echte Religion für Bodin, das mit der natürlichen Religion weitgehend übereinstimmende Judentum - nur aus pragmatischen Gründen plädiert er für die Toleranz. Vgl. bes. G. Roellenbleck, Offenbarung, Natur und jüdische Überlieferung, 1964, S. 136 - 141; dazu C. Schmitt, Die vollendete Reformation, Der Staat, 1965, S. 62 f. Zum Problem d. jüd. Religion u. d. Judaismus bei B. vgl. auch die Beiträge u. die Diskussion in: H. Denzer (Hrsg.), Jean Bodin, 1973, bes. S. 1 - 21, 53 - 67,420 - 427.
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[16] Vgl.: H. Quaritsch, Souveränität, 1986, S. 46 - 65; J. Dennert, Ursprung u. Begriff d. Souveränität, 1964, S. 58 ff.; M. Göhring, Weg u. Sieg d. modernen Staatsidee in Frankreich, 1946, S. 99 ff. [17] Zu Bodins Bedeutung als Ökonom vgl. u. a.: H. Baudrillart, Jean Bodin et son temps, 1853, Ndr. Aalen 1964, S. 473 - 503; E. Oberfohren, Jean Bodin und seine Schule. Untersuchungen über die Frühzeit d. Universalökonomie, Weltwirtschaftl. Archiv, 1 / 1913 S. 249 85, H. Hauser, Un precurseur - Jean Bodin, Angevin, in: Annales d'histoire economique et sociale, 3 / 1931, S. 379 - 87; P. Nancey, Jean Bodin economiste, Bordeaux 1942; A. Wolff, Die Geldlehre Jean Bodins, Diss. St. Gallen 1990. Von ausschlaggebender Bedeutung ist hier Bodins Kontroverse mit Jehan Cherruyt de Malestroi(c)t über d. Ursachen d. Teuerung; vgl. Bodins „Les paradoxes du seigneur de Malestroit", 1568, in den neueren Editionen von H. Hauser, 1932, o. von J. Y. le Branchu, 1934. Zu diesem Thema auch: A. Gardot, Jean Bodin et la vie chere. La Reponse aux Paradoxes de Malestroit, La Province d'Anjou, 4 / 1929, S. 371 - 87; E. Chiriotti, La ,Reponse' al Malestroit e il pensiero economico di Jean Bodin, Annali de economia, 13 / 1938, S. 281 - 325; G. A. Moore, The Response of Jean Bodin to the Paradoxes of Malestroit and the Paradoxes, Washington 1946; P. Harsin, Les doctrines monetaires et financieres en France du X V I e au XVII e siecle, Paris 1928, S. 31 - 44; R. le Moine, La decouverte de l'Amerique et la hausse de la monnaie de change selon Jean Bodin, Revue de 1'Universite d'Ottawa, 40 / 1970, S. 62 - 68; J. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, I, 1965, S. 395 ff. - Bodin selbst geht in s. „Six livres" nur noch einmal kurz auf die Kontroverse ein; vgl. d. Ausg. 1583 / Ndr. 1977, VI, 2, S. 882 f. [18] R. Chauvins, Bodin, l'auteur de la Republique, Paris 1914, S. 35. [18a] Zur Bodin-Rezeption im Reich u. zu den durch die Übernahme des Souveränitätsbegriffs entstehenden Konfusionen vgl. u. a.: F. H. Schubert, Die deutschen Reichstage i. d. Staatslehre d. frühen Neuzeit, 1966, S. 360 - 82 (zu Bodins Interpretation des dt. Reichstags), 422 - 524 (zu d. staatsrechtl. Debatten in Deutschland); ders., Französ. Staatstheorie u. deutsche Reichsverfassung im 16. u. 17. Jahrhundert, in: H. Lutz u. a., Frankreich und das Reich im 16. u. 17. Jahrhundert, 1968, S. 20 - 35, 55 - 59; G. Henkel, Untersuchungen z. Rezeption d. Souveränitätsbegriffs durch die dt. Staatstheorie i. d. ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Diss. Marburg 1967, bes. S. 50 - 60; R. Hoke, Die Reichsstaatslehre d. Johannes Limnaeus, 1968; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, I, 1970, bes. S. 400 - 408; R. Hoke, Bodins Einfluß auf das dt. Reichsstaatsrecht, in: H. Denzer (Hrsg.), Jean Bodin, 1973, S. 315 32; M. Stolleis, Geschichte d. öffentl. Rechts in Deutschland, I, 1988, bes. S. 174 - 86; im Zusammenhang mit dem Westfäl. Frieden: Fr. Dickmann, Der Westfäl. Frieden, 6. Aufl. 1992, S. 127 - 237. - Bodin hatte d. Reich als „Aristokratie" definiert, weil in ihm d. Souveränität bei d. Reichsständen liege (vgl. Les six Livres de la Republique, Ausg. 1583, Ndr. 1977, bes. S. 320 - 332); es stelle keine Monarchie, d. h. keinen modernen, souveränen Staat dar. Tatsächlich wurden im Westfälischen Frieden die deutschen Stände mitschließende Partei und konnten, in ihren Konflikten mit dem Kaiser, die Garantiemächte Schweden und Frankreich anrufen. Diese konnten nicht nur intervenieren, wenn der Kaiser gegen völkerrechtliche Abmachungen verstieß, sondern auch, wenn er die Reichsverfassung verletzte. Damit war, zugunsten Frankreichs, für lange Zeit die „deutsche Anarchie organisiert"; vgl. a. R. Schnur, Der Rheinbund von 1658 in der deutschen Verfassungsgeschichte, Diss. Mainz 1953, S. 9 - 29. Der große Erfolg Frankreichs im Westfälischen Frieden war aber nur möglich, weil Frankreich schon einen Staat besaß; mit bestem Gewissen konnte Frankreich die Forderung
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der kaiserlichen Unterhändler, auch die französischen Stände seien in die Verhandlungen einzuheziehen, ablehnen, da es über einen „absolutus status monarchicus" verfüge. [19] Die Fälle Fechenbach und Bulleijahn wurden wiederholt mit der Dreyfus-Affaire verglichen, so auch rückblickend: F. Stampfer, Die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik, 3. Aufl., o. J. (zuerst 1947), S. 292, 505 f. - Felix Fechenbach (1894 - 1933, von Nationalsozialisten ermordet), Mitglied d. USPD und Sekretär Kurt Eisners, wurde am 20.12. 1922 in München zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er ein Telegramm des bayerischen Gesandten am Vatikan, v. Ritter, das Deutschland in der Kriegsschuldfrage belastete, dem Schweizer Journalisten Payot zugänglich machte. Aufgrund der Proteste zahlreicher Journalisten wurde Fechenbach Ende 1924 entlassen, das Urteil im Dezember 1926 aufgehoben. F. publizierte u. a.: Der Revolutionär Kurt Eisner, 1929; Im Haus der Freudlosen - Bilder aus dem Zuchthaus, 1925. Über ihn: P. Dreyfus / P. Mayer, Recht und Politik im Fall Fechenbach, 1925; H. Schueler, Auf der Flucht erschossen. Felix Fechenbach, 1894 - 1933, 1981. Walter Bulleijahn, Lagerverwalter der Berlin-Karlsruher Industriewerke in Berlin-Wittenau, wurde 1926 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er beschuldigt wurde, der Alliierten Militärkontrollkommission Hinweise über in seinem Werk versteckte Materialien (15 000 Rohre f. Maschinengewehre, 30 000 Rohre für Maschinenpistolen) gegeben zu haben; den Alliierten diente dies, neben anderen Vorkommnissen, als Vorwand, die Räumung der Kölner Zone, die am 10. 1. 1925 stattfinden sollte, auf den 31. 12. 1926 zu verschieben (vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VII, 1984, S. 526 f., 538 ff., 572; M. Salewski, Entwaffnung und Militärkontrolle in Deutschland, 1966, bes. S. 189 ff.). Ein Wiederaufnahmeverfahren endete 1932 f. Bulleijahn erfolgreich. Paul Levi im Reichstag, Hugo Sinzheimer und Kurt Rosenfeld setzten sich wiederholt f. Bullerjahn ein; sein Verteidiger E. E. Schweitzer kritisierte d. Urteil mehrfach in der Zeitschrift des Republikanischen Richterbundes „Die Justiz". [20] Der Art. 231 des Versailler Vertrages lautete: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben." - Sir Ernest Pollock erklärte in der „Commission des responsabilites", man solle alle politischen Fragen beiseitelassen u. sich darauf beschränken, nach den Urhebern der in Verletzung des Völkerrechts begangenen Verbrechen zu forschen. Larnaude hingegen wollte festgestellt wissen, daß das Deutsche Reich die Schuld träfe. Sir Ernest erwiderte, daß es nicht gelingen könnte, die Deutschen von ihrer Schuld zu überzeugen und daß es keinen Zweck hätte, sich einer derart unmöglichen Aufgabe zu unterziehen. Die Handlungen, die den Krieg und seinen Ausbruch herbeigeführt haben, dürften nicht Gegenstand der Eröffnung eines Anklageverfahrens gegen ihre Urheber sein. Vgl. P. Bloch / C. Renouvin, Die Entstehung und die Bedeutung des Artikels 231 des Versailler Vertrages u. den einleitenden Kommentar von A. v. Wegerer, beides in: Berliner Monatshefte, Dez. 1931, S. 1166 - 1209, bes. S. 1172 f., 1191 ff. - Die zentrale Frage des Art. 231 war, ob er - so Bloch / Renouvin - sich nur als eine sich auf die Auslösung des Krieges im Sinne einer techn. Angriffshandlung erstreckende Schuldzuweisung verstehen lasse, oder als Generalschuldklausel gelesen werden müsse (so v. Brockdorff-Rantzau). Dazu: M. Behaim-Schwarzbach, Der Kriegsschuldartikel 231 d. Versailler Vertrages, Diss. Greifswald 1934; Schmitt, Das politische Problem der Friedenssicherung, 1934, Ndr. 1993, S. 35; F. Dickmann, Die Kriegsschuldfrage auf d. Friedenskonferenz von Paris, 1964; J. Fisch, Krieg u. Frieden i. Friedensvertrag, 1979, S. 207 - 20 u. ö. - Vgl. a. Schmitt zum
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Zweiter Teil: Politik und Idee
Art. 231 in: Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges (August 1945), hrsg. v. H. Quaritsch, 1994, S. 29 ff.; von bes. Interesse dabei die Stellungnahme des damals 29jährigen Beraters der US.Delegation u. späteren US-Außenministers, John Foster Dulles, vgl. Schmitt, ebd.; ders., Der Nomos der Erde, 1950, S. 241. Der Rückblick Dulles' auf die Pariser Konferenz in: Ph. M. Burnett, Reparation at the Paris Peace Conference. From the Standpoint of the American Delegation, 2 Bde., New York 1940, Bd. I, S. V - XIV. Burnett schildert auch die Entstehung d. Artikels in Bd. I, S. 66 ff. u. 784 ff. (Dok.). [20a] Zu dieser „Pfandbesetzung" des Ruhrgebietes: E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 278 ff.; zum Problem des völkerrechtlichen Pfandrechts in bezug auf die Rheinlandbesetzung vgl.: K. Heyland, Die Rechtsstellung der besetzten Rheinlande, 1923, S. 52, 55,91. [21] Vgl. auch Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 246, 250. [22] Dazu auch Schmitt, Die siebente Wandlung des Genfer Volkerbundes (1936), in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 212. [22a] Schmitt bezieht s. wohl auf d. Buch von Agenor Bardoux, Les Legistes au X V F siecle, Paris 1856, das uns leider nicht vorlag. [23] G. Scelle, Precis de Droit des gens, 1932 / 34, 2 Bde., vgl. dazu C. Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938, S. 10 ff. [24] Bezieht sich auf Henri de Massis, Defense de 1'Occident, 1927; dt. Verteidigung des Abendlandes, übers, von G. Moenius, 1930. De Massis, katholisch-abendländischer Konterrevolutionär, war ein Bewunderer Charles Maurras' (vgl.: Maurras et notre temps, 1951, 2 Bde.) und vertrat die These eines „eternel danger allemand", vgl. La Guerre de trente ans. Destins d'un äge, 1909 - 1939, 1940, S. 279 - 288. S. auch: H. Dorowin, Retter des Abendlandes. Kulturkritik im Vorfeld des europäischen Faschismus, 1991.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Deutschland-Frankreich. Vierteljahresschrift des Deutschen Instituts, Paris, 1. Jg. 1942, H. 2, S. 1 - 30. Eine französische Version u. d. T. La formation de 1'esprit frangais par les legistes in: C. Schmitt, Du Politique. „Legalite et legitimite" et autres essais. Textes choisis et presentes par Alain de Benoist. Puiseaux 1990, S. 177 - 210 (Pardes). Die Zeitschrift „Deutschland-Frankreich" wurde herausgegeben von Karl Epting (1905 1979), von 1940 bis 1944 Direktor des Deutschen Instituts in Paris und bis 1942 auch Kulturreferent an der Deutschen Botschaft. Der leitende Redakteur war Karl Heinz Bremer (1908 1942), Romanist und Historiker, der 1942 zur Wehrmacht einberufen wurde und kurze Zeit darauf fiel. Zwischen Schmitt und Epting entwickelte sich eine enge Freundschaft, vgl. auch Eptings Beitrag „Die politische Theologie Louis-Claude de Saint-Martin's" in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, I, 1968, S. 161 - 184. Epting, der erst 1949 in einem Kriegsverbrecherprozeß freigesprochen wurde und von 1947 - 1949 im Pariser Gefängnis Cherchemidi einsaß, hat s. mehrmals auf den vorl. Aufsatz bezogen: Aus dem Cherchemidi. Pariser Aufzeichnungen 1947 - 1949, Bonn 1953, S. 101, Eintragung v. 30. 6. 1948, u.: Das französische Sendungsbewußtsein im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 1952, S. 16, 31, 157 f. Einen
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Einblick in Eptings Frankreich-Bild gibt auch s. Essayband „Frankreich im Widerspruch", Hamburg 1943, in dem S. 152 - 160 ein die o. a. Zeitschrift eröffnender Aufsatz nachgedruckt ist. Zur Kulturpolitik des Deutschen Instituts vgl. E. Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940 - 1944, Revue d'Allemagne, Okt. - Dez. 1991, S. 451 - 466; inzwischen liegt von diesem Autor eine Monographie gleichen Titels vor (Stuttgart 1993), dort S. 239 - 248 über die Zeitschrift „Deutschland- Frankreich". Zu Eptings Tätigkeit in Paris vgl. auch die Memoiren des Botschafters Otto Abetz (1903 - 58), Das offene Problem. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte deutscher Frankreichpolitik. Mit einer Einführung von Ernst Achenbach, Köln 1951 (Greven), S. 132 f. - Von Bremer vgl.: Der französische Nationalismus. Von der Französischen Revolution bis heute, Berlin 1939; Nationalismus und Chauvinismus in Frankreich, Berlin 1940. Von Schmitts Studie geht der Aufsatz v. Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, FS Carl Schmitt z. 70. Geburtstag, 1959 (2. Aufl. 1989), S. 179 - 219, aus. Diese Arbeit ist, erheblich erweitert, unter dem gl. Titel 1962 als Buch erschienen. Schmitt wie Schnur gleichermaßen verpflichtet ist: Emanuele Castrucci, Ordine convenzionale e pensiero decisionista. Saggio sui presupposti intelettuali dello Stato moderno nel seicento francese, Mailand 1981; vgl. auch ders., Convenzionalismo etico-politico e svolta epocale seicentesca, in: II Politico, 3 / 1987, S. 523 - 540; vgl. auch: R. Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, 1986, darin bes.: ders., Moderner Staat, moderne Dichtung und die Juristen, S. 851 - 878. Die von Schmitt gewagte These vom großen Einfluß des konfessionellen Bürgerkrieges auf die französische Dichtung bestätigen (ohne Schmitts Text zu kennen): W. Floeck, Die Literaturästhetik des französischen Barock, Berlin 1979, u. M. Fumaroli, L'äge de Teloquence. Rhetorique et „res literaria" de la Renaissance au seuil de l'epoque classique, Genf 1980. Einige zusätzliche bibliographische Hinweise seien noch erlaubt: A. J. Coquerel, Jean Calas et sa famille, 1875, Ndr. 1970; Philippe de Remi (= Beaumanoir), Jehan et Blonde, edite par S. Lecuyer, Genf 1984; H. Bordier, Philippe de Remi, sire de Beaumanoir, jurisconsulte et poete national de Beauvaisis, 1869, Ndr. 1980; J. Loiseleur, La doctrine secrete des Templiers, 1872, Ndr. 1975; Du Plessis-Mornay, Memoires et correspondance, 12 Bde., 1824 - 25, Ndr. 1969; J. L. Thireau, Charles Du Moulin (1500 - 1566), Genf 1980; M. de l'Höpital, Oeuvres completes, ed. Dufey, 5 Bde., 1824 - 26, Ndr. 1968; E. Pasquier, Escrits politiques, ed. Thickett, 1966; ders., L'interpretation des Institutes de Justinian, 1970; Oeuvres completes (1723), 2 Bde., Ndr. 1971; D. Thikett, E. Pasquier (1529 - 1615) - The versatile barrister of 16th century France, 1979; S. Trocme-Sweany, E. Pasquier (1529 - 1615) et le nationalisme litteraire, 1985; Verlagsort d. Neudrucke ist Genf; dort auch: Nicolas Rapin, Oeuvres, 3 Bde., 1982/84, ed. Jean Brunei.
Amnestie oder die Kraft des Vergessens
Allmählich kommt es uns zum Bewußtsein, daß „Krieg" heute etwas wesentlich anderes ist als zu den Zeiten unserer Großväter. Die Änderung geht sehr tief und hat etwas Beunruhigendes und Unheimliches. Der Krieg ist heute nicht mehr nur ein Zusammenstoß von zwei organisierten, gut disziplinierten Armeen. Er wird nicht nur mit militärischen Waffen geführt. Die Gegner unterminieren sich gegenseitig mit allen Mitteln. Dadurch verwandelt sich der Krieg in einen Bürgerkrieg, und auch der Kalte Krieg wird zum Kalten Bürgerkrieg. Jedes europäische Volk weiß heute, was das bedeutet. Jeder kennt nicht nur eine, sondern mehrere fünfte Kolonnen. Die Entnazifizierung war Kalter Bürgerkrieg. Das Kennzeichen dieses Bürgerkrieges besteht darin, den andern als Verbrecher, Mörder, Saboteur und Gangster zu behandeln. In einem schauerlichen Sinne ist der Bürgerkrieg ein gerechter Krieg, weil jede der Parteien unbedingt auf ihrem Rechte sitzt wie auf einer Beute. Jeder nimmt Rache im Namen des Rechts. Wie ist es möglich, aus diesem Zustand des Kalten Bürgerkrieges zu einem Frieden zu gelangen? Wie kann der Zirkel der tödlichen Rechthaberei durchbrochen werden? Wie kann der Kalte Bürgerkrieg ein Ende finden? Der Kommunist hat eine einfache Antwort: durch Vernichtung des anderen. Mit diesem Entschluß zur Vernichtung ist er den anderen überlegen. „Ins Nichts mit ihm" heißt es in einem Stück von Bert Brecht. Das ist die eine, die unmenschliche Möglichkeit der Beendigung eines Bürgerkrieges. Wir können nicht an sie als an ein echtes Mittel zur Beendigung eines Bürgerkrieges glauben. - Dann aber gibt es nur noch ein einziges anderes Mittel, und wenn wir nicht die Kraft und die Ehrlichkeit finden, es anzuwenden, muß der Vernichtungsgedanke siegen. Dieses andere Mittel ist eben die Kraft des Vergessens. Alle Bürgerkriege der Weltgeschichte, die nicht in der totalen Vernichtung der Gegenseite endeten, haben mit einer Amnestie geendet. Das Wort Amnestie bedeutet Vergessen, und nicht nur Vergessen, sondern auch das strenge Verbot, in der Vergangenheit herumzuwühlen und dort Anlaß zu weiteren Racheakten und weiteren Entschädigungsansprüchen zu suchen. Dieses Wort Amnestie erscheint zum erstenmal in der menschlichen Sprache nach einem fürchterlichen dreißigjährigen Kriege, dem Peloponnesischen Krieg, nach einem Brüderkrieg der griechischen Stämme und Städte (vierhundert Jahre vor Christi Geburt).[l] Die englische Revolution Cromwells wurde im Jahre 1660 durch ein Entlastungs- und Vergessensgesetz, einen Indemnity and Oblivian Act beendet. [2] In England gilt heute noch ein Gesetz aus dem Jahre 1495, das den Engländern, die seit Jahrhunderten keinen
Amnestie oder die Kraft des Vergessens
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Bürgerkrieg mehr erlebt haben, anscheinend aus dem Gedächtnis geschwunden ist, das aber trotzdem noch gilt und einen Augenblick des Nachdenkens verdient: nach der Wiederherstellung normaler Zustände darf niemand wegen des Tatbestandes, daß er auf der falschen Seite stand, bestraft werden. Amnestie bedeutet also mehr, als eine bloße Begnadigung wegen kleiner Vergehen. Sie muß mehr sein als ein Akt des Mitleides, das man einem jahrelang Gequälten und Verfolgten schließlich nicht mehr gut verweigern kann, Amnestie ist mehr als die Zigarette, die man dem Entrechteten anbietet, um selber seine Menschlichkeit zu beweisen. So billig ist der Kalte Bürgerkrieg nicht zu beenden. Nachdem so viele Worte, Begriffe und Einrichtungen verfälscht und vergiftet worden sind, sollten wir darauf bedacht sein, wenigstens das Urwort des Friedens nicht zu vergessen. Die Amnestie ist mehr als eine Entlastung des staatlichen Verfolgungsapparates. Sie ist ein gegenseitiger Akt des Vergessens. Sie ist keine Begnadigung und kein Almosen. Wer Amnestie nimmt, muß sie auch geben, und wer sie gibt, muß wissen, daß er sie auch nimmt. Erhalten wir uns wenigstens diese Erinnerung an einen Rest heiligen Rechtes rein, damit das letzte und einzige Mittel, den Kalten Bürgerkrieg auf eine menschliche Weise zu beenden, nicht in Vergessenheit gerät!
Anmerkungen des Herausgebers [1] Dazu: Aristoteles, Der Staat der Athener, Akademie-Ausgabe, Berlin 1990, S. 43 f.; Xenophon, Hellenika, Tuskulum-Ausgabe, 1970, II, 3, S. 106 - 125; II, 4, S. 146 - 149. Zum rechtsgeschichtlichen Hintergrund: H. Quaritsch, Über Bürgerkriegs- und Feind-Amnestien, Der Staat, 3 / 1992, S. 389 - 418, hier S. 403 - 407. [2] Dazu: J. P. Kenyon, The Stuart Constitution - Documents and Commentary, Cambridge 1960, S. 365 - 371. - Karl II. (1630 - 1685),/eiste aus seinem Exil im spanisch-katholischen Brüssel in die protestantischen Niederlande nach Breda und sicherte seinen Landsleuten am 14. April 1660 eine allgemeine Amnestie zu („a free and general pardon"), konfessionelle Toleranz (für alle nicht-katholischen Christen), Anerkennung der Eigentumswechsel durch das Parlament und Übernahme der Armee unter General Monk in königlichen Dienst" (H. Quaritsch, o. a., S. 411). Nach seinem Einzug in London am 29. 5. 1660 kam es zu dem von König und Parlament verabschiedeten „Act of free and general pardon, indemnity and oblivion"; dazu F. C. Dahlmann, Geschichte der englischen Revolution, 3. Aufl. 1844, S. 285 ff.; L. v. Ranke, Englische Geschichte (zuerst 1859 ff.), hrsg. v. M. Freund, 1955, II, S. 493 f., 515 f. - Hobbes erwähnte diese Amnestie und verglich sie mit der von Athen in: Dialogue between a Philosopher and a Student of the Common Law, English Works, Wolesworth-Edition, VI, S. 1 - 160, hier S. 35 f., 145 f.; dt.: Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das englische Recht, hrsg. v. B. Willms, 1992, S. 77 ff., 184 f.
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Zweiter Teil: Politik und Idee
Anhang des Herausgebers Der Artikel erschien zuerst u. d. T. „Amnestie - Urform des Rechts", in „Christ und Welt", 10. 11. 1949, anonym. Leicht verändert u. d. T. „Amnestie ist die Kraft des Vergessens Wann werden wir den Bürgerkrieg beenden", erschien er im Hamburger „Sonntagsblatt" am 15. 1. 1950. „Die Zeit" veröffentlichte am 21. 9. 1950 unter dem Autorennamen „Walter Masuch" ein Plagiat mit dem Titel „Amnestie - Urform des Rechts"; die Identität des Plagiators konnte nicht geklärt werden. Zum ersten Mal unter Schmitts Namen druckte die Essener Zeitschrift „Der Fortschritt" am 5. 10. 1951 den Artikel ab, diesmal betitelt mit „Das Ende des kalten Bürgerkrieges. Im Zirkel der tödlichen Rechthaberei - Amnestie oder die Kraft des Vergessens". Wir folgen hier dem wohl bisher letzten, von Piet Tommissen veranstalteten Nachdruck in: Dietsland-Europa, Antwerpen, Oktober 1959, S. 16 - 17. Alle Fassungen variieren geringfügig und gehen z. T. kurz auf die damaligen Forderungen nach einer Amnestie ein. Erwähnenswert scheinen die Artikel von Richard Tüngel, Wenn Gnade bei dem Rechte steht, Die Zeit, 23. 6. 1949; der Text ähnelt dem Schmitts bzw. nimmt ihn vorweg, was sich wohl auf den engen Kontakt zwischen Tüngel (1893 - 1970) und Schmitt zurückführen läßt, sowie von Ernst Friedländer, Amnestie: Der Vorvertrag zum Frieden, Die Zeit, 27. 10. 1949, in dem u. a. gefordert wird, daß künftig kein Deutscher mehr unter das Kontrollratsgesetz Nr. 10 fallen dürfe und eine Amnestie als notwendig für einen besseren Start des Rechtsstaates in Deutschland angesehen wird. Italienisch erschien der Text u. d. T. „La guerra civile fredda" in: II Borghese, Mailand, 1. 11. 1951; Ndr. in: Schmitt, Scritti politico-giuridici, 1933 - 1942, Antologia da „Lo Stato", a cura di Alessandro Campi, Perugia 1983, Bacco & Arianna, S. 125 - 127; Ndr. in: Schmitt, L'Unitä del mondo e altri saggi, Rom 1994, S. 299 - 301. Im direkten Zusammenhang mit vorl. Artikel ist Schmitts Notiz v. 14. 7. 1949, Glossarium, 1991, S. 257, zu sehen; vgl. auch ebd., S. 275 (6. 10. 49). Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich in Deutschland bes. das Essener AmnestieKomitee um Ernst Achenbach u. Friedrich Grimm u. der Heidelberger Juristenkreis um Eduard Wahl - erfolglos - um eine Amnestie; dazu F. W. Buscher, The US War Crimes Trial Program in Germany 1945 - 1955, New York 1989, bes. S. 101 ff. In s. Artikel „Generalamnestie!", Zeitschrift f. Geopolitik, H. 6 / 1952, S. 321 - 24, bezog sich Achenbach auf Schmitts „Nomos der Erde", 1950, S. 121, wo es um den Zusammenhang von justus hostis, Friedensvertrag und der einem solchen Vertrag immanenten Amnestieklausel geht. Vgl. auch v. Grimm: Amnestie als völkerrechtliches Postulat, Vortrag v. 12. 2. 1951 in Düsseldorf, Köln u. Opladen 1951. Der Fassung in „Christ und Welt" v. 10. 11. 1949 fügte Schmitt noch einen Passus aus Homers Odyssee bei, u. d. T. „Zeus an die Bundesregierung", mit den einführenden Worten: „Als Odysseus von seiner Irrfahrt nach Hause kam, fand er seine Gegner als Beherrscher des Landes. Viele seiner Untertanen hatten sich den Gegnern angeschlossen. Nach dem Siege des Odysseus wurden auch die Mitläufer beim Strafgericht nicht verschont. In dem Augenblick, da das Morden seinen Höhepunkt erreicht, tritt die Göttin Athene vor den Göttervater Zeus in der Sorge, diese Art von politischer Säuberung könne das ganze Volk verderben.
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Amnestie oder die Kraft des Vergessens Die folgenden Verse lauten: Es antwortet darauf, der Herrscher im fernem Gewölk, Zeus: „Warum fragst du mich, Tochter mein, und erkundigst dich also? Hast du nicht selber den Rat in deinem Herzen ersonnen, daß Odysseus nach Hause käm' und die Freier bestrafe? Tu, wie es dir gefällt, doch will ich das Rechte dir sagen: Da die Freier nun vom hohen Odysseus bestraft sind, werde der heilige Bund erneut: er bleibe der König. Wir aber wollen dem Volk den Mord der Söhne und Brüder aus dem Gedächtnis tilgen, sie sollen sich untereinander lieben wie sonst, und Friede gedeihen und Fülle des Reichtums."
Odyssee, 24. Gesang.
Dritter Teil
Großraum und Volkerrecht
Führung und Hegemonie In einer Zeit, in der ein angeblich unpolitischer Positivismus die Wissenschaft des öffentlichen Rechts beherrschte, hat Heinrich Triepel den politischen Sinn verfassungs- und völkerrechtlicher Begriffe und Normen im Auge behalten und in bewußter rechtswissenschaftlicher Methode durchzusetzen versucht.[l] Seine Berliner Rektoratsrede „Staatsrecht und Politik" aus dem Jahre 1926 ist ein berühmtes Denkmal dieser seiner Überlegenheit über eine leere und unwahre Methode geworden. Aber, wie Rudolf Smend zu Triepels 70. Geburtstag am 12. Februar 1938 treffend gesagt hat: der große Berliner Rechtslehrer „hat seine Lebensaufgabe nicht in der Beteiligung am Methodenstreit gesehen, sondern in strengster und gewissenhaftester Arbeit am Stoff und in dem so zu gewinnenden Höchstmaß an Einsicht in die Dinge und in das Gesetz, das in und über den Dingen ist". [2] Das vorliegende Buch über die Hegemonie1 führt dieses Lebenswerk einer „Arbeit am Stoff 4 weiter und gibt ihm eine großartige Krönung. „Hegemonie" ist nach Triepel ein Führungsverhältnis zwischen einem Staat und einem oder mehreren anderen Staaten. Das Thema dieses „von führenden Staaten" handelnden Buches ist ganz auf den überkommenen Staatsbegriff abgestellt, auf dessen weitere Erörterung der Verfasser sich nicht einläßt. Hier, im Kern des Buches, nimmt Triepel auch ein Element der Homogenität in den Begriff der Führung hinein, indem er sagt, daß es sich um ein Führungsverhältnis von Staat zu Staaten „gleicher Art" handeln muß, „wenn man von Hegemonie in unserem Sinne sprechen will" (S. 125). Damit scheiden alle auf eigentlicher Herrschaft und Abhängigkeit beruhenden Beziehungen aus, weil Führung von Herrschaft und Vormacht unterschieden und dazu sogar in Gegensatz gebracht wird. Das Verhältnis eines Staates zu einem in sein Gefüge eingebauten Land, z. B. des zaristischen Rußland zu dem Großfürstentum Finnland oder dem Königreich Polen, ferner zu Protektoraten, Kolonien, Nebenländern usw. wird dadurch aus dem Begriff Hegemonie ausgeschlossen. Im politisch Wesentlichen bleiben eigentlich nur föderalistische oder Bündnisbeziehungen und -Verhältnisse als echt hegemonisch übrig. Das Problem des modernen Imperialimus, an dem man bei dem Wort „Hegemonie" doch meistens denkt, wird sehr kurz auf wenigen Seiten (S. 185 - 189) behandelt. Imperialismus wird ganz allgemein als „Machterweiterungstendenz" gekennzeichnet, im übrigen wird allgemein nur bemerkt, daß der Verzicht auf Inkorporation fremder Länder in das eigene Staatsgefüge der Punkt sei, an dem Imperialismus und Hegemonie sich begegnen oder doch begegnen können. Die imperialistische Macht 1
Heinrich Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten. W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart u. Berlin, 1938. IS Staat, Großraum, Nomos
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
kann ihre Unterworfenen führen, sie braucht es aber nicht. So ist das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zu Kuba selbstverständlich doch eine Hegemonie im Sinne Triepels (S. 302 ff., 229). T. wendet sich dabei mit Recht gegen die Verherrlichung der pazifistischen Tendenzen eines nichtmilitärischen, ökonomischen Imperalismus und sagt: „Der Imperialismus der Neuzeit führt seine Kriege viel mehr gegen die Konkurrenten als gegen seine Objekte." Das scheint mir der beste Satz der sonst sehr kurzen Erörterung über das Verhältnis von Imperialismus und Hegemonie zu sein. Die eigentliche Begriffsbestimmung, die dem Buche zugrunde liegt, geht dahin, daß staatliche Hegemonie „wie jede Führung" eine „in der Mitte zwischen bloßem Einfluß und Herrschaft" sich bewegende Beziehung ist (S. 140). Hegemonie ist selbstverständlich auch Macht, aber das Wort Vormacht wird abgelehnt, weil es eben schon zu stark nach Herrschaft klingt. Die Hegemonie ist eine „schwächere Machtform", sie steht „auf der Stufenleiter der Machtbeziehungen eine Sprosse tiefer als die Herrschaft". Wo die Herrschaft (aQX^l) beginnt, hört die Hegemonie auf. Das ist die obere Grenze, die natürlich sehr flüssig ist, weil Hegemonie leicht in Herrschaft übergeht, was aber an der scharfen begrifflichen Unterscheidung nichts ändern soll. Die untere Grenze liegt da, wo auch der „Einfluß" aufhört. Auch das ist eine sehr unscharfe Absteckung, weil Einfluß in den unmerklichsten Motivationen wirksam werden kann. Das Wort „Einfluß" ist, soviel ich sehe, zuerst durch Carl Bilfinger in seinem Buch „Der Einfluß der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens" (1923) als Rechtsbegriff in die föderalistische Literatur eingeführt worden. Es hatte dort, als prägnanter Gegensatz zur „Freiheit", im Sinne eines Teilnahme- und Beteiligungsrechts der Mitglieder einer bündischen Gemeinschaft, einen guten und bestimmten Sinn. Ob man es aus der spezifisch föderalistischen Verfassungswelt herausnehmen und als einen allgemeinen Rechtsbegriff verwenden kann, ist mir zweifelhaft, um so mehr, als auch noch mancherlei Arten sogar „indirekten" Einflusses ein Führungsverhältnis begründen sollen. Dieser überaus elastische und in mannigfacher Weise oszillierende, jedenfalls „nicht mit dem Zollstock meßbare" Begriff der Hegemonie hat jedoch den großen praktischen Vorteil, daß er es dem Verfasser möglich macht, gerade die komplizierten, nicht formulierten, meistens absichtlich im Zwielicht gelassenen Beziehungen zwischen führenden und Gefolgsstaaten in aller geschichtlichen Fülle darzustellen. Die Handhabung eines solchen Begriffs erfordert ein ungewöhnliches Maß von Takt und sicherer Materialbeherrschung, von größter Sachkunde und höchster Überlegenheit über alle subalternen Begriffsschablonen. Gerade hier ist T. in seinem Element und hat er in vielen Kapiteln und Abschnitten seines neuen Buches wahre Meisterstücke der Völker- und verfassungsrechtswissenschaftlichen Schilderung geschaffen. Die Abschnitte über die griechische (328 - 436), die römische (436 - 490) Hegemonie, die bündische Hegemonie der Neuzeit (514 - 541) enthalten eine solche Fülle staatsrechtlicher, bundesrechtlicher und völkerrechtlicher Beobachtungen und Feststellungen, daß jede von ihnen zum Gegenstand eines eigenen Berichtes und einer Besprechung gemacht werden müßte und ich mich hier
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mit diesem Hinweis begnügen muß. Auch kleinere Stücke, wie der Exkurs über das Verhältnis von England und Portugal (149 - 153), das als ein Fall englischer Hegemonie dargestellt wird, zeigen die Meisterhand in der gründlichen Beherrschung des Materials und in der Klarheit der Ausarbeitung. Das gipfelt in dem letzten Paragraphen des Buches „Preußen und Deutschland" (541 - 578). Hier konnte T. seine dem deutschen Staats- und Verfassungsrecht gewidmete Lebensarbeit zusammenfassen und ihr durch die Einfügung in ein monumentales Werk über ein Thema wie „Hegemonie" einen mächtigen Abschluß geben. Die Weite und Elastizität von Triepels Hegemoniebegriff ist also der Eigenart seines Gegenstandes durchaus adäquat. Sie ermöglicht überhaupt erst das konkrete und überzeugende Bild der vielen geschichtlich-politischen Beispiele von Hegemonien, von denen in dem Buche die Rede ist. Sie steht aber in einem doppelten Gegensatz, um nicht zu sagen Widerspruch. Einmal in dem Gegensatz ihrer geschichtlich-politischen Konkretheit zu den als Grundlegung und Unterbau gedachten, allgemeinen soziologischen Begriffsbestimmungen über Führung von Menschen und Gruppen. In diesen, die beiden ersten Teile des Buches ausmachenden Darlegungen sehe ich nicht die spezifische Leistung dieses Werkes. Darüber ist unten noch näher zu sprechen. Zum andern ist es auffällig, wie sehr dieser elastische Hegemoniebegriff mit dem in unveränderter Starrheit beibehaltenen alten Staatsbegriff kontrastiert. T. will sich zwar „nicht ängstlich an einen strengen Staatsbegriff klammern" (S. 125), aber er geht auf eine Diskussion über diesen Begriff nicht ein. Auch wir wollen hier keineswegs in eine allgemeine und uferlose Begriffsspintisiererei über den Staatsbegriff eintreten. Aber dieser überkommene Staatsbegriff ist inzwischen doch wirklich in mancher Hinsicht von Grund auf problematisch geworden und schon durch die aktuellen und unabweisbaren Fragen nach dem Verhältnis von Volk und Staat, Partei und Staat, Recht und Staat von den verschiedensten Seiten her offenbar innerlich gewandelt. Wahrend T. in seinem Hegemoniebegriff in großzügiger und großartiger Weise modern ist, bleibt er mit seiner Staatsvorstellung bei dem dezisionistisch-positivistischen Begriff des 19. Jahrhunderts. Hier machen sich also zwei entgegengesetzte Stilelemente bemerkbar. Die spezifische, übrigens nicht zu verachtende Leistung und Qualität des überkommenen Staatsbegriffs, die seinen Sieg in der Bürgerkriegslage des 16. und 17. Jahrhunderts entschied und ihn positivistisch auch über die Widersprüche einer pluralistisch zerissenen bürgerlichen Gesellschaft erhob, war mit Recht gerade dieses Element reiner Dezision, das die staatliche Legalität an die Stelle aller sonstigen substanzhaften Legitimität setzte und mit Hilfe des positiven, staatlichen Gesetzes alle Unklarheiten und Unberechenbarkeiten einer Berufung auf ein höheres, echteres oder tieferes Recht abschnitt. Auf dieser staatlichen Gesetzlichkeit beruht auch die von T. begründete und geführte Lehre von dem Dualismus zwischen Völkerrecht und Landesrecht, die seit dem Erscheinen seines Buches „Völkerrecht und Landesrecht" (1899) zur herrschenden Lehre geworden und durch das T. gewidmete Werk von G. A. Walz „Völkerrecht und staatliches Recht" (1933) in diesem ihren Kern bestätigt worden ist, woran die von Walz vorgeschlagene Ersetzung des 15*
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Ausdrucks „Dualismus" durch „Pluralismus" nichts ändert. Nicht nur die scharfe dualistische Trennung der beiden Rechtskreise Völkerrecht und Landesrecht, zwischenstaatliches und innerstaatliches, internationales und nationales Recht, sondern vor allem auch das scharfe und ausschließliche Entweder-Oder dieser Alternative und die Antithesen vom Primat des Völkerrechts oder des Staatsrechts, entstehen aus dem dezisionistischen Staatsbegriff und seiner Art Gesetzlichkeit. Das Problem des „Übergangs" aus einem Rechtskreis in den andern, der „Umschaltung", der „Transformation", der auctoritatis interpositio, wird durch die so geschaffene Kluft von staatlich und nichtstaatlich überaus schwierig. Man will, wenn ich mich so ausdrücken darf, jedesmal das dezisionistische Knackgeräusch der staatlichen Gesetzesmaschine hören. Wo dagegen der Anspruch, ein Reich zu sein, lebendig geblieben ist, wie im englischen Weltreich, läßt man sich auf solche alternativen Trennungen nicht gern ein, in dem richtigen Gefühl, daß z. B. eine nur als nationales Gesetz vom nationalen Richter angewandte, nur innerstaatliche Prisenordnung keine über die Grenzen des Staates hinausgehende Geltung oder Überzeugungskraft haben kann, worauf es bei einer Prisenordnung doch auch ankommt. Die am Staatsbegriff ausgerichtete Alternative von Völkerrecht und Landesrecht kennt nichts Drittes. Nihil Medium. Sie sucht auch „Reich" oder „Bund" in ihr dualistisches Schema zu zwingen. Dabei genügt ein unvoreingenommener Blick auf jede bündische Zusammenfassung politischer Einheiten, möge sie „Staatenbund" oder „Bundesstaat" oder anders heißen, daß sie weder rein zwischenstaatlich noch rein innerstaatlich sein können, sondern eben etwas Drittes, Anderes sein müssen, das sich derartigen Alternativen entzieht. Es wird allerdings noch viele Mühe kosten, ehe wir uns aus der Zwangsjacke, die eine hundertjährige, am Staatsbegriff ausgerichtete Erörterung des Bundesproblems in Deutschland aus der falschen Antithese Staatenbund - Bundesstaat gewoben hat, befreit haben werden. Aber die Unzulänglichkeit des alten Staatsbegriffes ist heute schon erkennbar. Auch das britische Weltreich, der British Commonwealth of Nations, den T. (191 200) als Beispiel einer „Hegemonie des Abstiegs" und einer „föderativen Reichsidee" behandelt, ist weder ein rein zwischenstaatliches noch ein innerstaatsrechtliches Gebilde. Ich möchte auch nicht wie Bilfinger (Bruns' Zeitschrift, IV., 1934, S. 496)[3] von einem „Übergang" zwischen beiden sprechen. Kein Reich und kein Bund läßt sich in diese Disjunktion hineinpressen, die nur ein Ausfluß und eine Nachwirkung staatlichen Gesetzesdenkens ist und daher entfällt, wenn solche Gebilde nicht mehr normativistisch, sondern in konkretem Ordnungsdenken rechtswissenschaftlich erfaßt werden. Es scheint mir folgerichtig zu sein, daß gerade aus der Schule Santi Romanos eine erste richtige Fragestellung hervorgegangen ist, nämlich in dem Aufsatz des sehr gründlichen und vorsichtigen und keineswegs neuerungssüchtigen jungen italienischen Gelehrten Biscaretti di Ruffia, in der Festschrift für Santi Romano (1938), der die Staatenverbindungen behandelt, die weder rein zwischenstaatlich noch rein innerstaatsrechtlich sind und dabei vor allem auch das englische Weltreich als Beispiel erwähnt. [4] Hier, wo es sich um die Überwindung des staatsgesetzlichen Denkens und um die Einführung neuer, kon-
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kreter Begriffe von Reich und Bund handelt, die sich nicht mehr um die Begriffsachse des alten Staatsbegriffs bewegen, hier liegt, glaube ich, ein wichtiger Ansatzpunkt, um der nur staatsrechtlichen Begriffsbildung des 19. Jahrhunderts zu entgehen. T. bleibt demgegenüber bei seinem Dualismus. Er bemerkt nur, daß die Hegemonie, soweit sie „juridifiziert" wird, „überwiegend im Völkerrechtlichen verfangen" bleibe, und wenn sie bei föderativen Systemen „in die Sphäre des Staatsrechts" trete, das regelmäßig nur in der Form der „indirekten" Hegemonie geschehen könne (S. 143). „Je mehr sich die Organisation eines Staatenbundes der eines Bundesstaates nähert, um so geringer werden die Aussichten für eine Hegemonie" (S. 290, 135). Während so der Begriff des Staates nicht als Problem behandelt ist, wird dagegen der Begriff der Führung in einer eingehenden Auseinandersetzung gewonnen. Das scheint logisch und systematisch zu sein, denn ein Buch von führenden Staaten muß natürlich klarstellen, was es unter Führung versteht. Aber der Gedankengang, der hier von Allgemeinen zum Besonderen geht, beginnt, fürchte ich, bei keinem guten Allgemeinen. Was Führung im allgemeinen sein soll, wird nämlich zwar mit vielen treffenden psychologischen Bemerkungen, aber doch im wesentlichen unter den Gesichtspunkten soziologischer Literatur (Simmel, Robert Michels, Geiger, L. v. Wiese, F. v. Wieser usw.) bestimmt. Auf diese Weise kann nur ein neutraler Allgemeinbegriff gewonnen werden. Dieses „Buch von führenden Staaten" ist folgendermaßen aufgebaut: 1. der führende Mensch (S. 14 - 79), 2. die führende Gruppe (S. 80 - 124), 3. der führende Staat (S. 125 - 578). Die Verschiedenheit des Umfangs der einzelnen Teile ist, wie man sofort sieht, außerordentlich groß und läßt, obwohl sie natürlich zunächst als etwas nur Äußerliches angesehen werden kann, wenn nicht eine innere Unstimmigkeit, so doch ein Problem vermuten. Jener erste Teil hat 65 Seiten, der zweite 44, der dritte dagegen 453, also mehr als das Vierfache des ersten und zweiten Teiles zusammen. Dieses auffällige Verhältnis läßt sich nicht einfach darauf erklären, daß erst einmal in schneller Umreißung ein Begriff gewonnen und klargestellt werden mußte, der dann bei der ausführlicheren Erörterung des eigentlichen Themas, der „führenden Staaten", zugrunde gelegt werden konnte. Vielmehr dürfte „Führen", der tragende Begriff des ganzen Werkes von führenden Staaten, überhaupt nicht mit einem soziologischen Allgemeinbegriff aller denkbaren Arten von Führung abstrakt und neutral vorwegbestimmt und dann auf alle möglichen Subjekte und Träger, darunter schließlich auch Staaten, angewandt werden. Der führende Mensch, die führende Gruppe, der führende Staat, das sind nicht etwa drei im Wesenskern gleichbleibende Fälle von Führung mit austauschbaren Subjekten oder Trägern. Sondern: je nachdem Führung ein Verhältnis von Einzelmensch zu Einzelmensch oder ein solches von Gruppen im soziologischen Sinne oder aber ein Verhältnis von Staaten als politischen Einheiten ist, liegt etwas qualitativ Verschiedenes, rechtswissenschaftlich gesehen, ein aliud vor. Es handelt sich nicht etwa um Modifikationen, Etappen oder dialektische Veränderungen desselben Begriffs, sondern um völlig verschiedene Ansätze zur Begriffsbestimmung desselben Wortes in verschiedenen Sphären. Die
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spezifische Energie des Begriffs des Politischen läßt sich nicht einem neutralen Allgemeinbegriff von Führung hinzutretend anfügen. Politische Führung ist von Anfang an ein prägnanter Begriff, der durch die Reduzierung auf einen psychologischen oder soziologischen Allgemeinbegriff seines politischen Nervs beraubt wird. Die Prägnanz, die das Wort „Führer" durch eine politisch-geschichtliche Tat für unser Verfassungsrecht erhalten hat, indem das deutsche Volk zum erstenmal einen Führer fand, ist notwendig mit der Besonderheit eines solchen konkreten politischgeschichtlichen Ereignisses verbunden. Sie ist das Ergebnis einer geschichtlichen Tat, die niemand als „Abstieg zu bloßer Führung" empfunden hat und deren Ausprägung zu einem Begriff unseres Verfassungsrechts nicht auf dem Weg über neutrale Begriffe, sei es der Soziologie, der Psychologie oder der früheren allgemeinen Staatslehre gefährdet werden darf. Ich brauche hier meine Klarstellung des Führerbegriffes aus der Schrift „Staat, Bewegung, Volk" (1933) und insbesondere auch die Absetzung dieses Begriffes von „Kontrolle" und „Aufsicht" nicht zu wiederholen oder darüber in eine neue Kontroverse einzutreten. Die Selbständigkeit des politischen Führerbegriffs gegenüber den Kategorien der früheren Soziologie steht fest 2. Der politische Führer ist eine Persönlichkeit und kein Kollektiv, auch kein personifiziertes Kollektiv, keine Gruppe und kein Gremium. Daß Führen nicht dasselbe ist wie Befehlen, Diktieren, ist seit 1933 oft genug klargestellt worden.[5] Aber daraus folgt nicht, daß der Führer nun nicht befehlen dürfe und auf „Einflußnahme", womöglich sogar „indirekte" Einflußnahme angewiesen wäre. Dieser Punkt ist entscheidend. Die neutralisierende Verallgemeinerung des Führerbegriffes kommt zu einem Führer, der nicht befiehlt oder jedenfalls nicht als Führer befiehlt. Führung wird das Neutralste und nur in diesem neutralisierenden Sinne Totalste, was man sich denken kann, und dieses Ergebnis ist nicht etwa aus guten Beobachtungen empirisch und in konkretem Ordnungsdenken rechtswissenschaftlich gewonnen, sondern durch die methodische Eigenart verallgemeinernder soziologischer Kategorien vorbestimmt. Der Gegensatz des echten Führers gegen alles „Indirekte" scheint mir dabei so wesentlich, daß er auch in dieser kurzen Besprechung ausdrücklich hervorgehoben werden muß. Im Gegensatz gegen dieses „Indirekte" liegt ein wesentlicher Teil des politischen Sinnes, der eigentlichen Kraft und Ehrlichkeit unseres Führerbegriffes. Ich gebe zu, daß das britische Weltreich mit indirekten Methoden arbeitet und daß die britische Politik es darin zu großer Virtuosität gebracht hat. Auch der Genfer Völkerbund ist, wie ich an anderer Stelle3 gezeigt habe, ein Versuch indirekter Methoden. Das alles ist aber gerade das nicht, was wir im Führerbegriff finden. Unser 2 Ich nenne hier vor allem Herbert Krüger, Führer und Führung 1935, und den kürzlich erschienenen ausgezeichneten Aufsatz von Roger Diener, Reichsproblem und Hegemonie im „Deutschen Recht", Heft 13 / 14, 1939. [Z. „ F ü h r e r " in d. Soziol. vgl. u. a.: Geiger, Führen u. folgen 1928; ders., Handwörterbuch d. Soziol., 1931, S. 136 - 41. - G. M.]. 3 Monatshefte für Auswärtige Politik, herausgegeben vom Deutschen Institut für außenpolitische Forschung, V (1938), S. 617 ff. [Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität, Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 255 - 260. - G. MJ
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Führer stellt die echte Öffentlichkeit wieder her, die durch indirekte Methoden und Wege der Machtausübung zerstört war. Er nimmt die Verantwortung und die Gefahr des Politischen auf sich, die bei der indirekten Methode auseinanderfällt. Die Überwindung der Anonymität und Verschleierungstechnik indirekter Methoden, das war die Leistung eines Führers, den das ganze deutsche Volk als den Befreier von den typisch indirekten Mächten eines pluralistischen Kompromißsystems begrüßt hat. Und lag nicht auch die Ehrlichkeit des alten Souveränitätsbegiffes darin, daß er die Lehre von der „potestas indirecta" überwandt? Ist nicht ein durchschlagendes und entscheidendes Kapitel von Hobbes' Leviathan dem Kampf gegen diesen barocken Pseudobegriff aus dem System des Kardinals Bellarmin gewidmet ?[6] Kämpfen wir nicht seit Jahrzehnten gegen alle jenen aus dem Dunkel oder dem Zwielicht heraus Einfluß nehmenden, geheimen und anonymen Träger indirekter Macht und gegen die Fälschungen eine Liberaldemokratie, die vorgibt, die Geheimdiplomatie abzuschaffen und dabei in Wirklichkeit nichts anderes getan hat, als die öffentliche Meinung und die öffentliche Diplomatie zu einem Werkzeug jener geheimen Mächte zu machen? Wissen wir nicht längst, „daß die geheime Diplomatie öffentlicher Machthaber ein harmloses Spiel ist im Vergleich zu der öffentlichen Diplomatie, welche geheime Mächte durch ihre Agenten betreiben?4" T. hat diese Seite des Problems außer acht gelassen, indem er sich auf das „Indirekte" einläßt. Er kennt eine „indirekte" Führung (S. 71, 103/4, 116). Er rühmt die „kluge Politik Englands", „die eine indirekte Herrschaft - wir sagen Hegenomie - jeder territorialen Erweiterung vorzieht" (S. 189), und schließlich will er sogar innerhalb seines doch schon äußerst elastischen Begriffes von Hegemonie noch einmal zwischen „direkter" und „indirekter" Hegemonie unterscheiden (S. 553). Aber zum Glück ist jener soziologisch und psychologisch gewonnene Führerbegriff nur ein Vorbau, und zwar ein von der „Arbeit am Stoff 4 abtrennbarer Vorbau vor der eigentlichen Leistung des Buches. Der erfahrene und erprobte Lehrer und Forscher einer so schwierigen und selbständigen Disziplin wie der des Verfassungs- und des Volkerrechts hatte es nicht nötig, bei den von ihm zitierten Soziologen in die Schule zu gehen, und wenn er es trotzdem tat, so fallen die dort bezogenen Begriffshülsen im Verlauf der eigentlichen juristischen Argumentation wie Spreu weg, und es bleibt das gute Korn einer hervorragenden verfassungs- und völkerrechtswissenschaftlichen Arbeit. Die Selbständigkeit unserer Disziplin und die Kraft politischer Begriffe und Unterscheidungen bewähren sich auch in diesem großartigen Buch. Sie sind stark genug, einer spezifischen Leistung des Meisters Heinrich Triepel zu einem siegreichen Durchbruch zu verhelfen.
4 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), S. 214.
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Anmerkungen des Herausgebers [1] H. Triepel, Staatsrecht und Politik, Berlin u. Leipzig 1927. [2] R. Smend, Heinrich Triepel zum 70. Geburtstag am 12. Februar 1938, Forschungen und Fortschritte, 14. Jahrg., Nr. 5, 10. 2. 1938, S. 58 - 59 (59). [3] C. Bilfingen Zum Problem der Staatengleichheit im Völkerrecht, ZaöRV, 1934, S. 481 497. [4] Vgl. vorl. Bd., S. 299, FN 63. [5] Vgl. etwa E. Becker, Diktatur und Führung, 1935. Bes. aufschlußreich sind die Kontroversen um die Arbeiten von G. Neeße, Führergewalt, 1940 u. H. B. Brauße, Die Führungsordnung des deutschen Volkes, 1940, vgl. C. H. Ule, RVB1. 1940, 611 f.; Brauße, ebd., 1941, 246 - 48; Ule, ebd., 248 - 53; Neeße, ebd., 253 - 55 u. O. Koellreutter, ebd., 445 - 49; auch: H. Muth, Reich u. Führung, DR, 45 - 46/1940, S. 1913 - 16. Vgl. auch Ules Habilitationsschrift, Herrschaft und Führung im nationalsozialistischen Reich, Verwaltungsarchiv, 45 / 1940, S. 193 - 260 u. ebd., 46 /1941, S. 1 - 53, deren Verbreitung in Buchform von der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums 1942 untersagt wurde. Auf Triepels Buch und die Großraumfrage eingehend: E. R. Huber, Herrschaft und Führung, Dt. Recht, 27. 9. 1941, S. 2017 - 24. [6] Vgl. Hobbes, Leviathan, III, Kap. 42, „Of Power Ecclesiastical".
Anhang des Herausgebers Der vorl. Rezensionsaufsatz zu dem Buch „Die Hegemonie" von Heinrich Triepel (1868 1946) erschien in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 63. Jg., 1939, H. 5, S. 513 - 520. Das Werk Triepels wurde 1943, mit leichten Veränderungen, neu aufgelegt; diese 2. Aufl. wurde 1961 und 1974 nachgedruckt, mit einem Vorwort v. Gerhard Leibholz (Aalen, Scientia). Zu den bedeutenderen Rezensionen gehören: R. Diener, Dt. Recht, 1939, S. 565 ff.; C. Bilfinger, Dt. Rechtswissenschaft, 1939, S. 361 ff.; E. Maschke, Dt. Adelsblatt, 1939, S. 1082 f.; H. Mitteis, ZRG, Germ. Abt., 1940, S. 337 ff.; G. A. Walz, ZVR, 1940, S. 129 ff.; Huber, ZgStW, 1941, S. 172 ff.; Hugelmann, ZöR, 1941, S. 1 ff.; Schmidt-Burgk, AöR, 1941, S. 77 if.; P. Herre, HZ, 163 / 1941, S. 569 ff.; H. Schaefer, ZRG, Rom Abt., 1943, S. 368 ff. Die Rezensionen sind z. T. aufschlußreich, etwa wenn Diener bemängelt, daß Triepel nichts zum Problem der Hegemonie in der Gegenwart sage; Hugelmann die Behandlung der Hegemonie als Verhältnis nicht nur zw. Staaten, sondern auch zw. Völkern, vermißt; Schmidt-Burgk die „Entleerung des Führerbegriffs" moniert o. Huber Triepel soziologischen Formalismus ankreidet. Die Diskussion gehört z. T. zur umfangreichen, die gesamte Zeit des Dritten Reiches durchziehende Erörterung des Verhältnisses v. Herrschaft, Führung, Diktatur und Leitung. Triepel selbst polemisiert gg. Schmitts Begriff des Politischen (S. 337 f.), der dazu führe, „in sprach- und geschichtswidriger Weise das Wesen des Staates vom Politischen statt das Politische vom Staate abzuleiten". Im Zusammenhang mit der damaligen deutschen Literatur zum Völkerrecht (wobei Schmitt eine besondere Stellung eingeräumt wird) erörtern Triepels Werk: Ch. Kruszewski, Hegemony and International Law, American Political Science Review, Dez. 1941,
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S. 1127 - 1144, u. R. Monaco, Gerarchia e paritä fra gli Stati neH'ordinamento internazionale, Rivista di Studi politici internazionale, 1 / 1942, S. 58 - 75; vgl. von diesem sehr kritisch ggü. Schmitt eingestellten Autor auch: Carl Schmitt e il diritto internazionale, Quaderni costituzionale, Diciembre 1986, S. 511 - 523. - Sehr gründlich u. eindringlich und mit vielen Fragen aus der Sicht des Bürgers eines Kleinstaates der Artikel eines Anonymus: Het hegemoniebegrip en de politiek der groote ruimte, in: Het vaderland, 20. 7. 1941. Der Autor, Triepel und Schmitt in Beziehung setzend, soll ein Dr. Krekel aus Leiden gewesen sein (freundl. Mitteilung von Prof. Tommissen). Schmitts Betrachtung zu Triepel regte Michele Surdi zu einer Studie über „Egemonia, istituzione e norma in una nota di Carl Schmitt" an (in: Rivista internazionale di filosofia del diritto, 1976, H. 4, S. 565 - 70). Surdi legt hier vor allem Schmitts Beziehung zum konkreten Ordnungsdenken Santi Romanos dar; vgl. auch die Hinweise Santi Romanos auf Schmitts Triepel-Rezension in s. Hauptwerk „L'Ordinamento giuridico", 2. Aufl., Turin 1946, in den Fußnoten mit den Nummern 45 b, 69 a, 94 a; ebenso in d. dt. Ausgabe, Die Rechtsordnung, hrsg. v. R. Schnur, 1975. Zur Beziehung CS-Santi Romano vgl. auch: A. Catania, Carl Schmitt e Santi Romano, Rivista internazionale di filosofia del diritto, 4 / 1987, S. 545 - 75. G. Zarone, Crisi e critica dello Stato. Scienza giuridica e trasformazione sociale tra Kelsen e Schmitt, Neapel 1982, geht öfters auf d. Verhältnis Schmitt-Romano ein u. erklärt, Romano würde „den Gerichtshof zwischen Kelsen und Schmitt" eröffnen bzw. ermöglichen („apre al contenzioso tra Kelsen e Schmitt", S. 132). - Triepels Hegemonie u. Schmitts Großraum als sich ergänzende Konzeptionen auffassend, fordert Giancarlo Ballarati, Verso una nuova sintesi europea, Dottrina fascista, 1940/41, Agosto XIX, S. 27 - 52, die Schaffung eines geeinten Europa nach ihren Ideen; nur so könne Europa dem Ansturm zweier feindlicher, kulturloser Großmächte (Rußlands als Land ohne Geschichte, die USA als Land ohne Tradition) standhalten.
Raum und Großraum im Volkerrecht Seit über hundert Jahren - seit jenem Weltsieg Englands, den das Jahr 1815 bezeichnet - ist die Völkerrechtswissenschaft immer mehr ausgesprochen „raumscheu" geworden, bis sie schließlich, rein normativistisch, nur noch die leere Raumvorstellung des „Geltungs- oder Anwendungsbereiches von Gesetzen" als einzige juristische Kategorie anerkennen wollte. Das erschwert die Aufgabe, die wir uns hier gestellt haben. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich aus dem Worte „Raum". Dieses Wort erfreut sich zwar gegenwärtig einer fast ungeheuerlichen Beliebtheit, erregt aber gerade dadurch das Mißtrauen vorsichtiger Juristen. Daher sei folgendes vorausgeschickt: „Raum" erhält seinen konkreten, spezifischen Sinn im Zusammenhang der folgenden Darlegung, die vom „Großraum" spricht. Es handelt sich um die begriffliche Ausgestaltung eines tiefgehenden, alle Völker der Erde erfassenden, geschichtlich-politischen Vorganges, ohne dessen Beachtung das ganze Völkerrecht nur eine Reihe beziehungsloser Pseudo-Normen wäre. „Raum" behält daneben - neben dem noch näher zu gestaltenden Begriff „Großraum" - seinen allgemeinen, neutralen, mathematisch-physikalischen Sinn. Wir sprechen vom erdräumlichen Bild der verschiedenen Zeiten und Völker, von Räumen im allgemeinen usw. Dadurch scheint die Vieldeutigkeit und Vielsinnigkeit des Wortes unabsehbar zu werden. Es gibt mathematische, physikalische, geographische, biologische, psychologische, erkenntnistheoretische, metaphysische und noch manche andere Probleme des Raumbegriffs.[l] Zerredungskünstler können sich hier entfalten; wer schikanieren oder ein Bein stellen will, hat es hier leicht. Auch melden sich schon die Ansprüche von Gerne-Großräumen. Ich kann das nicht ändern. Zur Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft gehört die Beobachtung und Deutung neuer Ansätze und Entwicklungen. So, nämlich durch die gedankliche Erfassung und Weiterführung einer neuen politischen Lage, neuer Raumvorstellungen und - entwicklungen, ist die bisherige Völkerrechts Wissenschaft im 17. Jahrhunderts entstanden. So wurde im 19. Jahrhundert ein der britischen Weltherrschaft zugeordnetes Völkerrechtssystem von allen Völkern rezipiert. Nur so kann sich heute, im Umbruch einer neuen geschichtlichen Epoche, die Völkerrechtslehre als Wissenschaft halten. Dabei wirft schon die bloße Einführung der Begriffe Reich und „Großraum" eine grundlegende Frage auf: Wenn die Entwicklung wirklich zum Großraum geht, betrifft dann „Völkerrecht" die Beziehungen zwischen diesen „Großräumen" oder ist „Völkerrecht" das Recht der innerhalb eines gemeinsamen Großraumes lebenden freien Volker? Zweifellos steht das gegenseitige Verhältnis von Großräumen zueinander in einer anderen Art konkreter Ordnung als die Beziehung von Volk zu
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Volk innerhalb eines Großraums. Ich möchte hier zunächst nur vor einer naheliegenden Gefahr warnen, nämlich vor einer mechanischen Übertragung der bisherigen, überspitzt dezisionistischen, zwischen-staatlichen Denkweise auf zwischengroßräumige und zwischen-reichische Verhältnisse. Im übrigen soll offen bleiben, ob die zwischen den sich bildenden Reichen und Großräumen entstehenden Beziehungen noch als „Völkerrecht" bezeichnet werden können, ob andere Worte und Benennungen richtiger sind, und ob man die innerhalb der Großräume sich entwikkelnden zwischen-völkischen Beziehungen nicht richtiger, wie Werner Best vorgeschlagen hat, „völkische (statt völkerrechtliche) Großraumordnung" nennt1. Das ist zweifellos eine wichtige Frage, zu der ich aber in einem anderen Zusammenhang Stellung nehmen möchte. Vorläufig wird hier das Wort „völkerrechtlich" nur als fachliche Bezeichnung verwendet, um einen Problemkreis in herkömmlicher Weise zu bezeichnen, wobei die Elastizität des Wortes „Völkerrecht" - jus gentium - bis zu weiterer Entwicklung kein Grund zu Mißdeutungen zu sein braucht, wenn nur der Wille zu sachlicher Klärung auf allen Seiten vorhanden ist. Während „Raum" seinen allgemeinen, neutralen, mathematisch-physikalischen Sinn behält, ist „Großraum" für uns ein konkreter, geschichtlich-politischer Gegenwartsbegriff. Herkunft und Ursprung des Wortes „Großraum" liegen, soweit ich bisher feststellen kann, bezeichnenderweise nicht im staatlichen, sondern im technisch-industriell-wirtschaftlich-organisatorischen Bereich. An sich sind tausenderlei Wortverbindungen mit „Groß" möglich und seit langem gebräuchlich: Großmacht, Großverband, Großhandel usw. Das berühmte Buch Friedrich Naumanns, Mitteleuropa (1915), enthält eine Menge solcher Wortverbindungen: Großstaat, Großbetrieb, Großkörper (S. 177) usw. Naumann sieht auch bereits, daß es sich hier um einen industriell-organisatorischen Vorgang handelt, durch den die individualistische Stufe der kapitalistischen Organisation überwunden wird, um einen, wie er sich ausdrückt, „staatlich-wirtschaftlichen Vergrößerungsvorgang" (173).[2] Das Wort „Großraum" scheint auf der Zunge zu liegen, fallt aber nicht. Seine erste konkrete, daher für die Begriffsbildung durchschlagende Verwirklichung erhielt es erst nach dem Weltkrieg in der Zusammensetzung „GroßraumWirtschaft". Damit erscheint ein beliebtes Schlagwort, beginnt aber auch der konkrete Gegenwartsbegriff, den wir brauchen. Bestimmend waren vor allem spezifische Formen und typische Ausgestaltungen der Energiewirtschaft, die sich im Zusammenhang mit der fortschreitenden Elektrifizierung und der Gasfernversorgung durch Hütten- und Zechenkokereigas ergaben. Der erste Anfang dieser Entwicklung fällt in die Zeit der Jahrhundertwende, als um 1900 Großkraftwerke und Überlandzentralen gebaut werden. Um 1913 haben sie die eigenen Elektrizitätswerke der kleineren Städte und Gemeinden bereits überholt. Die schnelle Entwicklung des von Hugo Stinnes und Lahmeyer und Co. gegründeten Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerkes sei hier zur Veranschaulichung mit einem Wort wenigstens erwähnt. Um 1913 beginnt auch die unaufhaltsame Elektrifizierung landwirtschaftlicher und dünn besiei Deutsches Recht, 22. Juni 1940, S. 1006 / 7. [Vgl. vorl. Bd., S. 474 f., FN [25]; S. 476, FN [27] - G. M.].
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delter Gebiete. Fragen der Zusammenarbeit von Steinkohle und Wasserkraft, Einzelfragen der Elektrowirtschaft wie Fernversorgung oder Einzelversorgung, Steinkohlen- oder Braunkohlenstrom, Wirtschaftlichkeit der Pumpspeicherwerke, finden ihre Lösung in der „Verbundwirtschaft". Der Weltkrieg hat, wie auf anderen Gebieten, so auch hier, das Zeitmaß der Entwicklung nur beschleunigt. Aber erst mit der erstaunlichen Leistung der deutschen Großindustrie nach dem Weltkrieg, mit der Erhebung aus dem Zusammenbruch von 1918/19, aus kommunistischer Revolution, Inflation und französischer Invasion, mit der sog. Verjüngung und Rationalisierung von 1924/25 ist „Großraumwirtschaft" als Wort und Sache zum ersten Male klar, infolge der planmäßigen Zusammenarbeit weiträumiger elektrischer Strom- oder Gasrohrnetze und einer „Verbundwirtschaft", d. h. rationaler Ausnutzung der Verschiedenartigkeit der Energieerzeugungsanlagen, rationaler Verteilung der verschiedenartigen Belastungen, Rückgriff auf einander aushelfende Reserven, Ausgleich von gesicherten und ungesicherten Leistungen und von Belastungsspitzen. Jetzt erst entsteht eine neue technisch-industriell-wirtschaftliche Ordnung, in der die kleinräumige Isoliertheit und Vereinzelung der früheren Energiewirtschaft überwunden ist. Die wirtschaftliche Großraumbildung kann dabei, wie vielfach in der Elektrizitätswirtschaft, von unten nach oben gehen, indem sich kleinräumige Bezirke mehr oder weniger „organisch" (die Problematik dieses Wortes wird hier besonders sichtbar) zu größeren Komplexen zusammenschließen; sie kann aber auch, wie es für die Ferngasversorgung mit Hütten- und Zechenkokereigas näher liegt, von vornherein durch großräumig geplante Großraumnetze vorgenommen werden, an die sich dann die kleinräumigen Netze anschließen. Weitere Ausführungen über technische und wirtschafts-organisatorische Einzelheiten gehören nicht zu unserem Thema2. Der Zweck unseres Hinweises auf diesen geschichtlichen Zusammenhang von Großraum, Großraumwirtschaft und Energieversorgung ist nicht, das Wort auf den wirtschaftlich-industriell-technischen Bereich zu beschränken. Im Gegenteil: in diesem Bereich hat sich nur, in einer Zeit staatlicher Ohnmacht, ein Entwicklungsprozeß von allgemeiner Bedeutung vollzogen, dessen Prinzip wir freilegen, um es für die völkerrechtliche Neuordnung fruchtbar zu machen. Es ist freilich kein Zufall, daß auch die bereits völkerrechtlich bedeutungsvollen theoretischen und praktischen Verwirklichungen des Großraumgedankens zunächst in der wirtschaftlich-organisatorischen Sphäre liegen. Darum müssen hier insbesondere die praktische Arbeit und die Veröffentli2
Segelken, Großraumwirtschaft in der deutschen Gasversorgung, 1937; Karl-Heinz Sonne, Der Energieferntransport durch Elektrizität, Gas und Kohle, Dissertation der Wirtschafts-Hochschule Berlin, 1939; Alfred Begemann, Die Verbundwirtschaft in der deutschen Stromversorgung, Dissertation der Technischen Hochschule zu Berlin, 1935; Darge-Melchinger-Rumpf Kommentar, 1. Teil, zum Energiewirtschaftsgesetz, Berlin 1936; Henke-MüllerRumpf, Rechtsgrundlagen der elektrischen Elektrizitätswirtschaft in Deutschland, Berlin 1930; ferner zahlreiche Aufsätze in der „Elektrizitätswirtschaft", in den Gesamtberichten der Weltkraftkonferenzen usw. Sprachlich sei noch bemerkt, daß die Energie-Großanlagen im Französischen als „grandes installations 6nerg6tiques", in den angelsächsischen Sprachen dagegen als „Large Power Plants" bezeichnet werden.
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chungen des Reichsamtsleiters und Gesandten Werner Daitz 3 und des Staatsrats Ministerialdirektor Helmuth Wohlthat 4 ausdrücklich genannt werden. Auch die wehrgeographische Arbeit von Oberst Ritter von Niedermayer gehört hierhin 5. Für unseren Großraumbegriff wird jedenfalls hier schon deutlich, daß der mathematisch-neutrale und leere Raumbegriff überwunden ist und eine qualitativ-dynamische Größe an seine Stelle tritt: Großraum ist ein aus einer umfassenden gegenwärtigen Entwicklungstendenz entstehender Bereich menschlicher Planung, Organisation und Aktivität, der sowohl die früheren Rechtsbildungen sich isolierender Kleinräumigkeit wie auch die mit dieser Kleinräumigkeit polar sich verbindenden Ansprüche universalistischer Systeme zu überwinden vermag.
I. Der wichtigste Ansatz für eine völkerrechtliche Neuordnung und fruchtbare völkerrechtswissenschaftliche Neubildungen liegt in der Besinnung auf die Raumbedingtheit des bisherigen völkerrechtlichen Systems. Damit ist nicht eine geopolitische Raumbedingtheit im Allgemeinen, sondern das konkrete und zeitgebundene weltpolitische Bild des Erdraums gemeint. Friedrich Ratzel, der große Begründer der politischen Geographie, stellte (1897) fest, daß „die Geschichte mit jeder Generation geographischer und territorialer" wird. [3] Die rechtswissenschaftliche Behandlung des Raumproblems ist aber gerade seit dieser Zeit, wie wir noch sehen werden, immer leerer und raumscheuer geworden. Auch das erklärt sich aus einer bestimmten weltpolitischen Gesamtentwicklung. Im Staats- und Völkerrecht gelangte die sogenannte „Raumtheorie" zur Herrschaft, die trotz ihres Namens das Gegenteil einer konkreten Raumvorstellung war. Denn sie richtete sich nur polemisch gegen die „Objekttheorie" und verstand unter Raum eine leere Fläche oder eine leere Tiefendimension als ein notwendiges „Substrat" aller menschlichen Herrschaft, als unvermeidlichen „Schauplatz" des „Imperium", der gegen andere Schauplätze gleicher Art durch eine Liniengrenze abgegrenzt sein muß. Mit Land und Boden oder andern konkret-geschichtlichen Raumvorstellungen wußte sie nichts anzufangen. „Raum" war für sie ein Allgemeinbegriff; eine aus praktischen und physikalischen Gründen notwendige Begleiterscheinung zur Herrschaft über Personen und zur Geltung und Anwendung von Normen. Das Recht wird als Normenkomplex aufgefaßt; Normen wenden sich nur an Menschen, und da die Men3
Das Selbstbestimmungsrecht Europas, Dresden 1940. Großraum und Meistbegünstigung in „Der Deutsche Volkswirt" om 23. Dezember 1938. Der neue deutsch-rumänische Wirtschaftsvertrag in der Zeitschrift „Der Vierjahresplan" 20. April 1938. Neuordnung in Europa und Deutscher Außenhandel in „Der Deutsche Volkswirt" vom 10. Mai 1940. 5 z. B. Nord- und Ostsee in „Das Meer" VI, Kleine Wehrgeographie, 1938, Wehrgeographie am Beispiel Sowjetrußlands in der Ztschr. d. Gesellschaft f. Erdkunde zu Berlin, 1940, S. Iff. 4
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
sehen nun einmal, wie alle sichtbaren Erscheinungen, mit ihrer Körperlichkeit im Raum herumspazieren, auch die Behörden einen gegenüber andern Behörden abgegrenzten örtlichen Zuständigkeitsbereich haben müssen, so muß es so etwas wie „Raum" und „Staatsgebiet" geben6. Vergebens hatte Otto von Gierke mit Hinweisen auf die Durchdringung von Körperschaft und Gebiet zu einer organischen Einheit („Gebietskörperschaft"), wie er sie in der mittelalterlichen Stadt verwirklicht sah, gegen die Flächenhaftigkeit und leere Tiefendimensionalität dieser „Raumtheorie" angekämpft. Nicht einmal die raumrevolutionäre Wirkung der Einbeziehung des Luftraumes in den Bereich menschlicher Macht und Aktivität hat sich bisher in einer neuen völkerrechtlichen Raumauffassung rechtswissenschaftlich ausgewirkt. Die Völkerrechtswissenschaft konnte damals noch nicht über die von den überkommenen Raumvorstellungen bestimmte Fragestellung hinaus gelangen und mußte sich darauf beschränken, eine (in der damaligen geschichtlichen Situation praktisch unausweichliche, systematisch gesehen allerdings willkürliche) Einengung der Frage vorzunehmen, indem sie die Frage nur dahin stellte, welche Analogien mit dem Recht des festen Landes oder mit dem Recht des freien Meeres in Betracht kommen7. Die Blickrichtung der Auffassung des Luftraumes ging immer nur von unten nach oben. Bekanntlich haben sich, nach einigen anfänglichen Schwankungen, Theorie und Praxis für den Luftraum über dem festen Land auf die sogenannte „territoriale Souveränität" im Luftraum geeinigt, [4] während der Luftraum über dem freien Meere ebenso frei sein soll wie dieses8. Der Grundsatz der absoluten Lufthoheit liegt auch allen vertraglichen Vereinbarungen zu Grunde und hat seit der Pariser Konvention vom 13. Oktober 1919 unbestrittene Geltung; auch die panamerikanische Luftfahrtkonvention vom 20. Februar 1928 geht davon aus. Das bedeutet praktisch für den Luftraum über dem Lande die Ausdehnung der staatsbezogenen Kleinräumigkeit bis in die Stratosphäre; für den Luftraum über dem frei6 Die bekanntesten Vertreter der herrschenden sog. Raumtheorie sind Fricker, Vom Staatsgebiete, Tübingen 1867, Gebiet und Gebietshoheit, in den Festgaben für Schäffle, 1901, Die Persönlichkeit des Staates, Tübingen 1901; Rosin, Das Recht der öffentlichen Genossenschaft, 1886, S. 46; Zitelmann, Internationales Privatrecht, I (1897), S. 82 ff.; Meyer-Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, S. 236; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394 ff.; Liszt-Fleischmann, Das Völkerrecht, 1925, S. 26, 129; F. Giese, Gebiet und Gebietshoheit, Handbuch des deutschen Staatsrechts, I, 1930, S. 226; weiteres Schrifttum bei W. Hantel, Das Wesen des Staatsgebietes, Berlin 1933, S. 89, Anm. 302; Meyer-Anschütz, a. a. O., S. 236/7. Zu der reinen Kompetenztheorie braucht hier nicht Stellung genommen zu werden. Gegen Hamels Dinglichkeitstheorie Hermann Held, Gebiet und Boden in den Rechtsgestalten der Gebietshoheit und Dinglichkeit, Breslau 1937. 7 Roberto Sandiford, Brevi note sull'analogia fra Diritto Marittimo e Aeronautico, Studi di Diritto Aeronautico, VI (1933). 8 Über die Besonderheiten des Luftraumes über dem Küstenmeer: Böhmert, Archiv für Luftrecht V I (1936), S. 77 ff.; Friedrich Giese, Das Luftgebiet in Kriegszeiten, Archiv des öffentlichen Rechts, Neue Folge 31 (1939), S. 162, 165; Dietrich Christensen, Der Grundsatz der Verkehrsfreiheit im überseeischen Luftverkehr, 1939, S. 15 (uneingeschränkte Souveränität im Küstenmeerluftraum).
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en Meer die Übertragung der Vorstellungen von der Meeresfreiheit auf diesen Raum. In Wirklichkeit ist das nicht mehr als ein fiktiver juristischer Ausgangspunkt für zwischenstaatliche vertragliche Regelungen. Die Herrschaft über den Luftraum ist keineswegs nur eine Ausstrahlung der Herrschaft über das überflogene Land oder Meer; sie erfaßt tatsächlich in weitem Umfang umgekehrt die Herrschaft über das Land und in noch höherem Grade die Herrschaft über das Meer. Die heutige Kriegführung hat auf manchen Meeren bereits „amphibischen" Charakter 9. Damit erledigen sich auch die - im übrigen ebenso interessanten wie symptomatischen - Versuche von englischer Seite, den ganzen Luftkrieg vom Seekrieg her zu konstruieren und ihn auf dem „Naval Precedent" und der „Naval Parallel" aufzubauen, wodurch das Luftbombardement nur eine weiter ins Binnenland hineinwirkende Bombardierung einer Küste oder eines Hafens durch Seestreitkräfte wäre, eine Küstenstreife mit tiefer ins Land hineingetragener Schußwirkung 10. Solche vom Meere her gezogenen Parallelen sind offenbar ebenso naiv von unten nach oben gesehen wie die vom Lande her gewonnenen Parallelen. In dem Maße, in dem beides - die kleinräumige Staatsbezogenheit des kontinentalen und die uferlose Meeresbezogenheit des englischen Völkerrechtsdenkens - sich auflöst, werden sich von dem neu gewonnenen Luftraum her Wandlungen der Land-, insbesondere aber der Meeresraumvorstellungen durchsetzen. Um die eigene Position und den Unterschied neuer Raumvorstellungen gegenüber den überkommenen und veralteten Analogiekonstruktionen kurz, aber in aller Schärfe herauszustellen, sei hier bereits eine Gegenthese gewagt: Es ist heute schon sachgemäßer, die infolge der Beherrschung des Luftraums sich entwickelnden Besonderheiten der Raumvorstellungen im Auge zu behalten und insbesondere zu versuchen, die völkerrechtliche Lage großer Teile des Meeres vom effektiv beherrschten Luftraum zu konstruieren, als umgekehrt sich den Luftraum wie eine vom Land oder Meer nach oben getragene Flächen- oder Tiefendimension vorzustellen. Selbstverständlich soll hier nun nicht der umgekehrte Fehler eines aus der Luft konstruierten Raumbildes begangen werden. Alle wesentlichen und in der Natur der Sache liegenden Besonderheiten des Meeres wie auch des festen Landes müssen bleiben. Aber es ist auch an der Zeit, die im bisherigen Völkerrecht vorausgesetzten Raumvorstellungen zu revidieren und sich auf die zeitgebundene Besonderheit des ihm zugrunde liegenden erdräumlichen Bildes zu besinnen. In der Systematik der bisherigen Lehrbücher kommen die sachlichen Verschiedenheiten völkerrechtlicher Raumvorstellungen vielfach noch als Überbleibsel früherer Unterscheidungen zur Geltung; insbesondere werden Kolonien, Dependenzien und Protektorate meistens noch erwähnt. Doch können sich weder die Nachwirkungen alter noch die Vörwirkungen neuer Raumbegriffe zu wissenschaftlicher Fruchtbarkeit entfalten, weil sie in der Alternative von Staatsgebiet oder Nicht9 Oskar Ritter von Niedermayer, in „Das Meer", a. a. O., Bd. VI, Kleine Wehrgeographie des Weltmeeres, 1938, S. 118. 10 J. M. Spaight, Air power and warrights,1924, Air power and Cities, 1930.
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
Staatsgebiet einfach verschwinden. Als typisches Beispiel nenne ich den systematischen Aufbau des bekannten Lehrbuches von Fauchille-Bonfils. Er überschreibt das umfangreiche 1. Kapitel des 2. Teiles von Band I seines „Traite de Droit international public" (8. Auflage 1925): „Les diverses especes de territoire". Das klingt sehr verheißungsvoll, obwohl sich schon in diesem Gebrauch der Worte „territoire" und „domaine" statt eines modernen Raumdenkens ein überholtes Territorialdenken äußert. Immerhin könnte man erwarten, daß hier die Ausschließlichkeit des Schemas von Staatsgebiet und Nicht-Staatsgebiet überwunden sei. In Wirklichkeit ist das gerade nicht der Fall. Das feste Land (le domaine terrestre) wird in der Sache überhaupt nicht behandelt, weil es unterschiedslos Staatsgebiet ist. Der Unterschied von „Metropole" und „Kolonie" wird in wenigen Teilen als eine völkerrechtlich bedeutungslose Angelegenheit aus dem System verwiesen (S. 99). Im übrigen wird unter dem Problem des festen Landes nur das Problem der Grenzen, und zwar der Liniengrenzen erörtert (S. 100 - 128). Die anderen Überschriften betreffen freies Meer, Wasser, Luft und Polarzone. Auf 98 Seiten werden das freie Meer und die hohe See, auf über 450 Seiten (S. 126 - 579) Küstengewässer, Kanäle, internationalisierte Flüsse usw., auf 70 Seiten (581 - 651) „le domaine aerien", schließlich auf 12 Seiten „le domaine polaire ou glaciaire" (651 - 663) behandelt. In diesem Mißverhältnis der Proportionen, der Ungleichmäßigkeit und Gestaltlosigkeit des Aufbaues, der die räumlichen Verschiedenheiten des festen Landes überhaupt nicht mehr als völkerrechtliches Problem kennt, dokumentiert sich das Ergebnis einer auf die kontinentale Kleinräumigkeit abgedrängten Entwicklung staatsbezogenen Gebietsdenkens. Ende des 19. Jahrhunderts war „Staatsgebiet" der einzige, alles beherrschende positive Raumbegriff des völkerrechtlichen Denkens geworden. Dieses Monopol soll durch die folgenden Darlegungen beseitigt werden. Die Vorstellung „Staatsgebiet" ist heute nicht mehr die einzige normale und wirklichkeitsgemäße Raumvorstellung völkerrechtlichen Denkens, das mehrere völkerrechtliche Raumvorstellungen braucht, ebenso wie früher, sogar noch im 19. Jahrhundert, mehrere Raumvorstellungen völkerrechtlich wirksam waren. Es handelt sich dabei für uns nicht darum, den Begriff „Staatsgebiet" auszurotten, sondern ihn durch eine relativierende Richtigstellung aus seiner von 1890 bis 1939 berechtigten, nunmehr aber geschichtlich überholten Alleinherrschaft und Absolutheit zu lösen. Das kann auf der einen Seite dadurch geschehen, daß der Begriff „Boden" als ein in spezifischer Weise dem Begriff „Volk" zugeordneter Begriff erkannt wird. Dieser Teil unserer Aufgabe muß hier beiseite bleiben. Die Überwindung der Alleinherrschaft des bisherigen, typisch kleinräumig-staatsbezogenen „Staatsgebiets" kann aber auch von einer andern Seite, von großräumigen Vorstellungen her erfolgen. Das soll hier versucht werden.
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II. Das feste Land war nach der bisherigen Lehre teils bereits wirkliches Staatsgebiet, teils herrenloses okkupierbares Land, d. h. potenzielles Staatsgebiet. Staatsgebiet ist dabei immer die alleinige juristische Raumvorstellung, in der auch die Ansätze zu konkreten Unterscheidungen - Nebenländer, Vasallenstaaten, Souzeränität - doch immer wieder untergehen. Der Staat wiederum ist wesentlich eine „souveräne Gebietskörperschaft"; seine Souveränität ist vor allem territoriale Geschlossenheit und Ausschließlichkeit. Staatsgebiet ist der von staatlichen Gesetzen und von staatlicher Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz beherrschte, geschlossene Raum. Die hohe See dagegen ist „frei", wobei Freiheit wesentlich bedeutet: nicht Staatsgebiet. Zwischenbildungen wie das Küstenmeer werden nicht als Grenzzonen aufgefaßt, weil das staatsbezogene Raumdenken nur eine Liniengrenze kennt; solche Zonen werden daher demselben Entweder-Oder unterworfen, das für den Dezisionismus der Staatlicheit überhaupt kennzeichnend ist: entweder sind sie Staatsgebiet mit gewissen Einschränkungen, die von der Nicht-Staatlichkeit des freien Meeres herkommen, oder sie sind freies Meer mit gewissen Einschränkungen, die von der staatlichen Gebietshoheit des Uferstaates herrühren. Stets ergibt sich das gleiche, für den Juristen einleuchtende, dezisionistische Entweder-Oder, das seit dem typisch staatlich gedachten Souveränitätsbegriff des französischen Juristen Bodinus (1576) das kontinental-juristische Denken unbedingt beherrscht. In Wirklichkeit ist dieses staatsbezogene Völkerrecht des festen Landes mit seinem territorial geschlossenen Staatsgebietsbegriff eine erstens zeitgebundene und zweitens raumgebundene rechtsgeschichtliche Erscheinung. Zeitgebunden, weil die Organisationsform, die man in einem spezifischen Sinne „souveräner Staat" nennt, mit ihrer territorialen Ausschließlichkeit in der europäischen Geschichte sich erst nach 1600 entwickelt, erst nach 1648 für das innere europäische Völkerrecht praktisch wird und erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die deutsche Staatstheorie auch theoretisch folgerichtig auf das Völkerrecht ausgedehnt worden ist. Der Westfälische Friede von 1648 ist das erste große Dokument eines im eigentlichen Sinne zwischenstaatlichen Rechts. Er läßt bereits das Bündnis von universalistischem Herrschaftsanspruch und staatsbezogener Kleinräumigkeit erkennen. Raumgebunden ist dieses europäische Völkerrecht, weil es ein auf europäische Staaten beschränktes Recht ist und als seine Träger ursprünglich nur europäische Staaten gedacht sind, während der gesamte übrige Erdraum, soweit er nicht bereits zwischen europäischen Staaten verteilt ist, außerhalb dieses Völkerrechts liegt, in diesem Sinne also hors de la loi ist. Nur die europäischen Staaten bilden die „Familie der Nationen". Nur auf europäischem Boden entwickelt sich ein Völkerrecht, das man infolge dessen als eine Art „Binnenrecht" und „Binnenmoral" bezeichnen kann. Alles, was nicht zum Boden dieser „Familie" gehört, ist Objekt der Okkupation ihrer Mitglieder und ihrer Besitzverteilung, ist staatenloses Gebiet oder Nicht-Staatsgebiet, das sie in der Form überseeischer, kolonialer Eroberung unter sich verteilen 10a . Der Kampf um die überseeischen Kolonien mag zwischen 16 Staat, Großraum, Nomos
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
den europäischen Völkern noch so blutig und erbittert gewesen sein, er blieb, solange dieses europäische Völkerrecht bestand, ein Kampf mit doppeltem Kampfplatz, ein begrenzter Kampf mit typisch raumhaften Ausgrenzungen des Kampfgebietes. Der außereuropäische Boden ist nicht nur der große Expansionsraum, in den die europäischen Volker ausschwärmen; er ist nicht nur das große Reservoir, aus dem sie durch Kompensationen und Schadloshaltungen ihre europäischen Konflikte ausbalancieren und vor der Totalität bewahren können; der koloniale Boden hat überhaupt für das europäisch-völkerrechtliche Denken einen anderen völkerrechtlichen status als der europäische Boden. Im ersten Jahrhundert der kolonialen Kämpfe hat das zu Raumausgrenzungen in der typischen Form der Freundschaftslinien geführt. Als erstes Beispiel wird man die mündliche Vereinbarung des spanisch-französischen Vertrages von Cateau-Cambresis vom 3. April 1559 ansehen können11. Der Sinn dieser Abmachung ist, daß das ausgegrenzte außereuropäische Gebiet einen anderen status hat als europäisches Gebiet, daß in ihm, im vollsten Sinne des Hobbes'sehen Wortes, der „Naturzustand" herrschen soll, wo die Europäer den Macht- und Eroberungskampf rücksichtslos unter sich abmachen können, ohne daß deshalb der europäische Friede gestört wird oder daraus für die europäischen Beziehungen politische oder rechtliche Störungen eintreten. Der französische König Heinrich IV. umschreibt das so: „Die Franzosen haben ihre Fahrten fortgesetzt und die Spanier haben sie, wenn sie sie jenseits der Linie antrafen, als Feinde behandelt; die Franzosen taten dasselbe, und man hat darin nicht eine Verletzung des Friedens gesehen"12. In der folgenden Zeit verwirklicht sich aber auch die umgekehrte Möglichkeit: die Kolonie wird als Raum relativer Befriedung ausgegrenzt, sie wird ein „neutralisierter" Raum, der von den europäischen Kriegen seiner Besitzer nicht berührt werden soll. So heißt es in dem Kaufvertrag zwischen Frankreich und der dänischen Westindischen und Guinea-Kompagnie (Kopenhagen, den 15. Juni 1733), daß ein europäischer Krieg zwischen Frankreich und einer anderen Macht, selbst zwischen Frankreich und Dänemark, die Freundschaft und das gute Einvernehmen in den dort genannten Kolonien und Inseln nicht berühren soll, diese vielmehr zu strengster Neutralität verpflichtet sind 10a
Spezifische Rechtsbildungen für den asiatischen Raum, auch die „Kapitulationen" mit „Exterritorialität" der Europäer, bleiben hier beiseite. 11 Abgedruckt bei F. G. Davenport, European Treaties bearing on the History of the United States and its Dependencies to 1648 (Publications of the Carnegie Institution 254, 1), Washington 1927, S. 208, 219 ff. Dazu die völkerrechtswissenschaftlich bei weitem noch nicht ausgewertete hervorragende Darstellung von Adolf Rein, Der Kampf Westeuropas um Nordamerika im 15. und 16. Jahrhundert, Stuttgart-Gotha 1925 (Allg. Staatengeschichte 2, 3), S. 207 f.; über den Satz: »Jenseits vom Äquator gibt es keine Sünde", S. 292. Über die Bedeutung der überseeischen Ausdehnung für das europäische Staatensystem, Histor. Zeitschr. 137 (1927), S. 28 ff.; Zur Geschichte der völkerrechtlichen Trennungslinie zwischen Amerika und Europa, Ibero-Amerikanisches Archiv IV (1930), S. 530 - 543; Ulrich Scheuner, Zur Geschichte der Kolonialfrage im Völkerrecht, Z. f. Völkerrecht XXII (1938), S. 466; Wolf gang Windelband, Motive neuzeitlicher Kolonialpolitik, Deutsches Adelsblatt, 1. Januar 1939. 12
A. Rein, Der Kampf Westeuropas um Nordamerika, a. a. O., S. 208.
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und auch französische Schiffe in ihren Häfen aufnehmen sollen, ebenso wie Frankreich für seine amerikanischen Kolonien das Gleiche gegenüber Dänemark verspricht 13. Man erkennt bereits, trotz ihrer abschwächenden Kompromißformulierung, die Abmachung des Artikels 11 der Berliner Kongo-Akte vom 26. Februar 1885 Art. 11: „Dans le cas oü une Puissance exer^ant des droits de souverainete ou de protectorat dans le contrees mentionnees ä I'article 1 et placees sous le regime de la liberte commerciale serait impliquee dans une guerre, les Hautes Parties signataires du present Acte et Celles qui y adhereront par la suite, s'engagent ä preter leurs bons offices pour que les territoires appartenant ä cette puissance et compris dans la zone conventionnelle de la liberte commerciale soient, du consentement commun de cette Puissance et de T autre ou des autres parties belligerantes, places pour la duree de la guerre sous le regime de la neutralite et consideres comme appartenant ä un Etat nonbelligerant, les parties belligerantes renonceraient, des lors, ä etendre les hostilites aux territoires ainsi neutralises, aussi bien qu'ä les faire servir de base ä des operations de guerre." Sowohl in den Beratungen der Kongo-Konferenz wie in der späteren Erörterung des Verhältnisses der Neutralität Belgiens zur Neutralität des Kongo-Beckens tritt das Gefühl für den Unterschied europäischen und kolonialen Bodens noch gelegentlich zu Tage. Bismarcks Eintreten für volle Neutralisierung entspricht durchaus dieser Unterscheidung.[5] Doch argumentieren auf der Konferenz der französische und der portugiesische Vertreter (de Courcel und de Serpa Pimentel) bereits ganz im Sinne der unterschiedslosen Staatlichkeit, um die Neutralisierung des Kongobeckens zu verhindern. In der Begründung des Entwurfes eines belgischen Gesetzes über die Abtretung des Kongo-Gebietes durch den Kongo-Staat an Belgien (1895) kommt der Unterschied von „metropole" und „colonie" natürlich auch noch vor. Doch stützt sich die eigentliche Argumentation jetzt nur auf die Verschiedenheit des Vertragsinhaltes der belgischen Neutralität von 1839 gegenüber der Kongo-Neutralität von 1885 und sucht die „incompatibility des regimes" damit zu widerlegen, daß die eine Neutralität die andere verstärken helfe, während die Wesensverschiedenheit europäischen und kolonialen Bodens völlig verkannt ist. Der Kern der Frage, ob ein neutralisierter europäischer Staat überhaupt koloniefähig ist, wurde nicht mehr begriffen und in keiner Weise vertieft. Nur Fauchille bemühte sich darum 13a . Im übrigen begnügt sich alles mit der positivistischen Feststellung, daß die Vertragsmächte der belgischen Neutralität keinen Widerspruch 13 Abgedruckt bei Chr. Koch, Table des trails entre la France et les puissances dtrangeres, I, Basel 1802, S. 304 - 309; vgl. z. B. ferner den Vertrag zwischen Spanien und Portugal vom 13. Jan. 1750, ebenda S. 470 - 72. 13a Fauchille, Revue g6n6rale de droit international public II (1895), S. 435 ff.; Trait£, I 1 § 367 (S. 716) bleibt er dabei, daß die Frage „delikat" ist, freilich durch die 1919 erfolgte Aufhebung der belgischen Neutralität überholt. Ferner Descamps, La neutrality beige, S. 516; Roger Brunet, L'Annexion du Congo ä la Belgique et le Droit international, Paris 1911; Hilaire Dulong, Une colonie nouvelle; Le Congo beige, Toulouse 1911. Charles Dupuis, Le Droit des Gens et les rapports des Grandes Puissances avec les autres Etats avant le pacte de la Social des Nations, Paris 1921, S. 212.
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gegen den den Erwerb des Kongo-Staates durch Belgien vorsehenden Vertrag vom 3. Juli 1890 erhoben haben, einige von ihnen sogar im Gegenteil die Vereinigung der beiden „Staaten" offenbar wünschten. Treffend bemerkt Paul Herre 13b : „Damit (nämlich mit dem seit der Jahrhundertwende feststehenden Erwerb des KongoStaates als belgischer Kolonie) entfernte es (Belgien) sich immer weiter von den internationalen Bindungen, die es bei seiner Entstehung übernommen hatte, und es bildete sich ein Zustand staatlichen Lebens heraus, dem gegenüber die Grundverträge von 1831 und 1839 eine reine Fiktion waren." Das Kongo-Abkommen von 1885 liegt im Schnittpunkt alter und neuer Entwicklungstendenzen des Völkerrechts und läßt sowohl in die Vergangenheit wie in die Zukunft hinein die einander ablösenden Auffassungen der Kolonie und damit des europäischen Völkerrechts selbst erkennen 14. Es ist in seinen Artikeln 34, 35[6] das letzte Beispiel der Rechtsüberzeugung, daß außereuropäische Landnahme eine Angelegenheit europäischer Mächte ist 1 4 a . Drei Punkte werden hier sichtbar, an denen sich zeigt, daß die überseeische, außereuropäische Kolonie die raumhafte Voraussetzung und Grundtatsache des europäischen Völkerrechts war und daß die völkerrechtliche Auffassung der Kolonie erst um die Jahrhundertwende, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, durch die Einbeziehung in die Unterschiedslosigkeit des „Staatsgebiets" einen grundlegenden Wandel erfährt. Die heute übliche unterschiedlose Behandlung der Kolonie und der „Vasallenstaaten" als „Staatsgebiet" erweist sich dadurch als eine verhältnismäßig späte, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts eintretende Verengung und Vereinfachung 15, die ihrerseits keineswegs endgültig ist, sondern nur den Zwischen- und Übergangszustand vom bisherigen europäischen zu einem neuen, vom Großraum her bestimmten erdräumlichen Weltbild darstellt. Die drei Punkte sind: 1. Der koloniale Raum wird vom europäisch-staatlichen Raum völkerrechtlich unterschieden. Er ist unter europäische Mächte verteilt, und die Kolonie „gehört" selbstverständlich der europäischen Macht, die sie besitzt. Aber die mit diesem Besitz verbundene Raumvorstellung wahrt sowohl völkerrechtlich wie staatsrechtlich - der Triepel'sehe Dualismus ist noch nicht erfunden[7] - die fundamentale Verschiedenheit des Boden-Status. Der Begriff „Staatsgebiet" hat noch nicht seine ab13b
Die kleinen Staaten Europas und die Entstehung des Weltkrieges 1937, S. 185. Die im übrigen verdienstliche, gründliche Darstellung der Geschichte und Vorgeschichte der Kongo-Konferenz von Georg Königk, Die Berliner Kongo-Konferenz 1884 1885, Essen 1938, ist zu sehr monographische Materialsammlung und läßt die weltpolitische und völkerrechtsgeschichtliche Gesamtbedeutung des Kongo-Problems nicht hervortreten. 14a Unter den Autoren des VÖlkerechts ist es vor allem John Westlake, der noch ein starkes Gefühl zeigt für den völkerrechtlichen Unterschied des von der „European race" besiedelten und von der „White Society" beherrschten Bodens gegenüber den „uncivilised regions" und daher die Bedeutung der Artikel 34, 35 hervorhebt; Collected papers (1914), S. 140. 15 Im italienisch-türkischen Kriege 1912 galten Ägypten und Cypern als „neutral", im Weltkrieg 1914 - 1918 waren sie „Staatsgebiet" einer kriegführenden Macht. Dieses Beispiel zeigt die Wertlosigkeit der generellen Formulierungen staatsbezogenen Gebietsdenkens. 14
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solute, jede Art der Ausschließung anderer Mächte unterschiedslos erfassende Alleinherrschaft angetreten. Die Kolonie ist auch für die zwischenstaatlich-europäischen Beziehungen eine andere „Welt" als Europa. Diese Unterscheidung ist für das seit dem 16. Jahrhundert entstandene, christlich-europäische Völkerrecht grundlegend. Auf ihr können „Freundschaftslinien" vor allem deshalb aufgebaut werden, weil damit beide Räume hinsichtlich des Krieges ein verschiedenes Schicksal haben können. [8] Der eine Raum kann außerhalb des Krieges und des Kriegsschauplatzes des andern bleiben. Es ist ungenau, das als „Neutralität" zu kennzeichnen. Es ist weder Neutralität eines Staates im Kriege anderer Staaten, noch ist es dasselbe, wie die innerstaatliche Neutralisierung einzelner Staatsgebietsteile in Europa. Diese ist bloße „Staatsservitut", jene beruht auf der Voraussetzung, daß der räumliche Status des europäischen Bodens von dem des kolonialen Bodens von vornherein im ganzen, und zwar sowohl im Verhältnis zum eigenen wie zum fremden europäischen Boden, völkerrechtlich verschieden ist. Die Konstruktion einer Ausgrenzung des während eines europäischen Krieges befriedeten Kolonialraumes als einer „Staatsservitut" aus dem kolonialen Teil des „Staatsgebietes" wäre für das damalige erdräumliche Bild ebenso absurd, wie die umgekehrte Konstruktion einer während des Kolonialkrieges auf europäischem Boden ruhenden „Staatsservitut". Ebenso wären vom Standpunkt des europäischen Völkerrechts des 16., 17., 18. und 19. Jahrhunderts Behauptungen unmöglich, wie sie in den letzten Jahren in Europa aufgetreten sind, um die deutschen Kolonialansprüche abzuwehren, z. B. der Boden Madagaskars sei in derselben Weise französischer Boden wie der von Paris, also überhaupt nicht „Kolonie", oder der Boden des portugiesischen Südostafrika unterscheide sich in nichts von dem Boden Lissabons, weil beides eben staats- und völkerrechtlich in gleicher Weise „Staatsgebiet" sei 16 . Solche Behauptungen sind die Folge der unterschiedslosen, zentralistischen Einbeziehung des kolonialen Bodens in das Staatsgebiet; ihr Fehler liegt darin, daß sie eine spätere, spezifisch staatlich-zentralistische Raumvorstellung auf einen Begriff wie „Kolonie" übertragen, der bisher ganz auf einem europa-zentrischen Völkerrecht beruhte. Wenn die Kolonie unterschiedslos „Staatsgebiet" ist, dann gibt es in der Tat überhaupt keine „Kolonien" mehr und die Verschiedenheit der „Verfassung" von Metropole und Kolonie ist nur ein innerstaatliches Problem des Geltungsbereichs verschiedener Gesetzesnormen. In gleicher Weise geht der Unterschied von zivilisierten, halbzivilisierten (barbarischen) und unzivilisierten (wilden) Völkern gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der nicht mehr unterscheidenden „Völkerrechtsgemeinschaft" unter 16a . 2. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren Handelskompagnien und Kolonialgesellschaften als selbständige Subjekte des Völkerrechts Träger kolonialer Eroberung und kolonialen Besitzes. Bekannte und berühmte Beispiele sind die EnglischOstindische Kompagnie (1600 - 1858), die Holländisch-Ostindische Kompagnie, 16
Pierre Mille, La question des colonies, in Le Temps vom 16. Nov. 1938. J. L. Kunz, Z. öff. Recht X (1927), S. 86 ff. [Zum Begriff d. „nation civilisSe" im mod. Völkerrecht]. 16a
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die Nord-Borneo-Kompagnie, die Deutschostafrikanische Gesellschaft (Kaiserlicher Schutzbrief 1885), die Neuguinea-Kompagnie (1886) usw.[9] Die europäischen Mächte üben in den von diesen Handelskompagnien beherrschten Räumen nicht „Staatsgewalt", sondern „Schutzgewalt" aus. Die Kolonie ist daher nicht „Staatsgebiet", sondern „Schutzgebiet". Eine typisch europäische Auffassung des 19. Jahrhunderts ist noch von Bismarck in seiner Reichstagsrede vom 26. Juni 1884 formuliert worden: „Den Interessenten der Kolonie (nämlich den Kolonialgesellschaften) soll das Regieren derselben im wesentlichen überlassen und ihnen nur für Europäer die Möglichkeit europäischer Jurisdiktion und desjenigen Schutzes gewährt werden, den wir ohne stehende Garnisonen dort leisten können. Ein Vertreter des Reichs, ein Konsul, wird die Autorität des Reichs wahren und Beschwerden entgegennehmen, Handelsgerichte werden weitere Streitigkeiten entscheiden. Nicht Provinzen sollen gegründet werden, sondern Unternehmungen mit einer Souveränität, welche dem Reiche lehnbar bleibt; ihre Fortbildung bleibt im wesentlichen den Unternehmen überlassen."[10] Auch mit dieser Auffassung der Kolonie erweist sich Bismarck als der letzte europäische Staatsmann des vergangenen Jahrhunderts. Diese noch nicht zentralistische, elastische Auffassung endet mit dem 19. Jahrhundert. 1899 ist der Schutzbrief der Neuguinea-Kompagnie als letzter deutscher Schutzbrief außer Kraft getreten. Seit dieser Zeit werden die Handelskompagnien als „der Rechtsgeschichte angehörig" betrachtet 17. Der Dualismus von Völkerrecht und Landesrecht ergreift sie und schleudert sie in das rein innerstaatliche Recht; dem rein innerstaatlichen Dualismus von öffentlich-rechtlichen und privat-rechtlichen Kolonialgesellschaften fehlt dann schon überhaupt jede Berührung mit dem eigentlichen Kolonialproblem. So verschwindet die Handelskompagnie alten Stils. Sie kann mit einer nachträglichen, die Begriffe der Gegenwart in die Vergangenheit projizierenden Konstruktion als bloßes „Organ" der Staates behandelt werden 18 und dabei sogar in einer Reihe mit dem Staatsoberhaupt auftreten. Ernst Wolgast, der diese Konstruktion vertritt, scheint auch das noch für zu weitgehend zu halten, denn er sagt, daß Kolonialgesellschaften nur „höchstens (!) als Organe ihrer Staaten begriffen werden können" 18a . Die Frage, ob sie noch Subjekte des Völkerrechts sind, wird uninteressant. In der Abhandlung von Paul Schön, Zur Lehre von den Subjekten des Völkerrechts 19, in der die Kuriositätenliste der nichtstaatlichen Völkerrechtssubjekte ziemlich vollständig aufgestellt und behandelt ist, figurieren sie schon gar nicht mehr. Die letzte zusammenfassende Darstellung „Das Deutsche Kolonialrecht in seiner Entwicklung bis zum Weltkrie-
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Jäckel, Art. Kolonialgesellschaften in Stengel-Fleischmanns Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, 1913, S. 597. 18 Wenn John Westlake die ostindische Kompagnie als „only the organ by which the British state was pleased to act" ansieht, meint er das Wort „Organ" vielleicht nicht im technischen Sinne. Doch betont auch er, daß es sich um ein Problem nicht des Völkerrechts, sondern der englischen Verfassungsgeschichte handelt, Collected Papers, 1914, S. 197. 18a Völkerrecht, 1934, § 148 (S. 766). 19 Zeitschrift für Völkerrecht XXIII (1939), S. 411 - 448.
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ge" von Friedrich Schack (Bd. I, Hamburg 1923), behandelt die Frage als rein „staatsrechtlich". In dem ebenfalls von Schack verfaßten, für die herrschende Auffassung kennzeichnenden Artikel „Kolonien" im Nachtrag zu Strupps Wörterbuch des Völkerrechts der Diplomatie (1929) ist das völkerrechtliche Problem der Kolonie überhaupt schon in Vergessenheit geraten. „Kolonien im eigentlichen oder engeren Sinne sind diejenigen Kolonien, welche in einem staatsrechtlichen Verhältnis zum Auslande stehen; diese und die Protektoratskolonien (völkerrechtliches Protektorat) bilden den Kolonialbegriff im weiteren Sinne" 20 . Als Schulbeispiele völkerrechtlicher Protektorate aber bleiben (nach Krakau und den Jonischen Inseln) schließlich Andorra und Monaco übrig! 3. Die Grundsätze des freien Handels, der offenen Tür und der Meistbegünstigung kommen erst im 19. Jahrhundert für den kolonialen Raum in Betracht. Sie bedeuten seine Einbeziehung in den freien, d. h. nicht-staatlichen Welthandel und Weltmarkt. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde die Kolonie selbstverständlich in das Merkantilsystem der Zeit eingefügt. Im 19. Jahrhundert scheint die Einbeziehung in das liberale Weltwirtschaftssystem auf dem Wege über die Handelsfreiheit die Lösung des Kolonialproblems und der Verteilung und Befriedung der Erde zu werden, bis der um 1900 sich durchsetzende Imperialismus auch diese Illusion zerstört. Jedenfalls entspricht es dem britischen Weltbild bei Bildungen wie dem Kongostaat und in der völkerrechtlichen Regelung der Verhältnisse der Kongo-Kolonie durch Wirtschaftsfreiheit und -gleichheit die Einbeziehung in die freie, vom englischen oder angelsächsischen Kapital beherrschte Weltwirtschaft zu versuchen. Aber auch Bismarck hielt das noch für den entscheidenden Punkt der Kongo-Frage. Die Mandatsartikel der Genfer Völkerbundssatzung und die ergänzenden Mandatsbestimmungen (Art. 22, 23) knüpfen an diesen weltökonomischen Versuch der Lösung des Kolonialproblems an 21 , freilich sehr vorsichtig und so, daß die praktische Durchführung der „völligen ökonomischen Gleichheit" sofort eine ähnliche Art von Problematik enthüllt, wie sie uns in Deutschland aus der liberal-demokratischen Erörterung des Gleichheitsartikels 109 der Weimarer Verfassung zum Bewußtsein gekommen ist. Kennzeichnend ist hierfür der ,,0scar-Chinn-Fall".[ll] Er
20 Friedrich Schack, Wörterbuch des Völkerrechts III (1929), S. 956 ff.; ganz unter der m. E. zu engen dualistischen Fragestellung steht auch der sonst hervorragende Aufsatz von Ulrich Scheuner, Zur Geschichte der Kolonialfrage im Völkerrecht, Zeitschrift für Volkerrecht XXII (1938), S. 444. Immerhin gibt Scheuner zu, daß in der Bedeutung und den wirtschaftlichen Bedürfnissen eines Volkes wichtige politische und moralische Beweggründe für die Anerkennung seines Verlangens nach kolonialer Betätigung erblickt werden können. Weitere Zitate möchte ich mir hier versagen. Es wäre ein allzu billiges Vergnügen, angesichts konkreter Fälle wie Tunis, Annam, Cambodscha usw. das Durch- und Gegeneinander der Autoren der verschiedenen Nationen zu konfrontieren. 21
Das Mandatsrecht in den deutschen Kolonien, herausgegeben von Freiherrn von Freytagh-Loringhoven, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Kolonialrecht Nr. 1, München 1938, S. 600 („Egalitd 6conomique"); Jean Ray, Commentaire du Pacte de la Society des Nations, 1930, S. 622; Georges Scelle, Precis de Droit des Gens, I (1932), S. 142 f., 175.
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betrifft die Frage, ob die Verpflichtung zu ökonomischer Freiheit und Gleichheit, die Belgien in der (an die Stelle der Berliner Generalakte von 1885 und der Brüsseler Generalakte von 1890 getretenen) Konvention übernommen hatte, durch das de facto-Monopol einer vom belgischen Staat kontrollierten Handelsgesellschaft verletzt wurde. Der Ständige Internationale Gerichtshof im Haag hat die Frage in seinem Urteil vom 12. Dezember 1934 verneint 22 und damit zugleich sowohl dem kolonialen Regime wirtschaftlicher Gleichheit überhaupt, wie auch diesem Versuch einer universalistischen Lösung des Kolonialproblems das Urteil gesprochen. Der Kampf um die „offene Tür" in Ostasien ist ebenfalls ein Kampf um die universalistische Weltherrschaft durch Methoden liberaler Weltwirtschaftspolitik 23. Deren weltpolitisch-völkerrechtlicher Sinn ist hier leicht erkennbar. Freier, d. h. nicht-staatlicher, privater Handel, Freizügigkeit des Goldes, der Automatismus der internationalen Wechselkurse und des Devisenmarktes, kurz das liberale System der Weltwirtschaft ist während des 19. Jahrhunderts ein brauchbares Instrument und eine wirksame Methode britischer Weltherrschaft gewesen. Hier war die Weltpolitik des britischen Weltreichs Trägerin eines Universalismus, der hoffen konnte, das gesamte Erbe sowohl der früheren europäischen Kolonialpolitik wie auch des früheren europäischen Völkerrechts in sich aufzunehmen und es zu einem universalistischen Weltvölkerrecht weiter zu führen. Vom Weltmarkt her ergibt sich von selbst ein die staatliche Souveränität überwindendes Weltvölkerrecht und damit eine Legitimität und Garantie des status quo, die nicht wie das französische status quo-Bestreben nur europäische, sondern universalistische Maße hat. Vom freien Weltmarkt und von der wirtschaftlichen Gleichberechtigung her ist es auch möglich, das Kolonialproblem als eine „nicht politische und territoriale, sondern rein wirtschaftliche Frage" hinzustellen24. Die wirtschaftspolitische Bedeutung des Welt-Liberalismus ist in der letzten Zeit durch eine Reihe wirtschaftswissenschaftlicher Darlegungen mit einer Klarheit dargestellt worden, wie sie sich eben nur am Ende einer Epoche einstellt. Ich nenne hier aus den letzten Monaten die Darlegungen von Andreas Predöhl 25 und Hermann Bente 26. Daß der Weltliberalismus außenpolitisch und innerpolitisch ein Bestandeil der britischen Weltpolitik ist, hat 22 Publications de la Cour permanente de Justice internationale, Serie A / B No. 63, dazu B. Schenk Graf von Staufenberg, Zeitschr. f. ausl. öffentliches Recht und Völkerrecht Bd. V (1935), S. 195 f.; Ulrich Scheuner, a. a. O., S. 469. 23 Carl Schmitt, Großraum gegen Universalismus, Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, VI (Mai 1939), S. 333; Positionen und Begriffe, 1940, S. 295 ff. 24 Viktor Bruns, Die Genfer Rede des britischen Außenministers, Sir Samuel Hoare, vom 11. September 1935, in Zeitschrift für ausl. öffentl. Recht und Völkerrecht V (1935), S. 755; Freiherr von Freytagh-Loringhoven, Volkerbund und Völkerrecht II (1936), S. 713 ff. 25 Vortrag vom 27. April 1940, gehalten in der NS.-Dozentenbunds-Akademie in Kiel, veröffentlicht im Weltwirtschaftlichen Archiv Sept. 1940. [Die sogenannten Handelshemnisse und der Neuaufbau d. Weltwirtschaft - G. MJ. 26 Hermann Bente, England und Deutschland im Kampf um die Neuordnung der Weltwirtschaft, Berlin 1940, Schriften des Deutschen Instituts für außenpolitische Forschung, herausgegeben von Fritz Berber, Heft 53.
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von italienischer Seite Carlo Scarfoglio vorzüglich gezeigt27. Zur Ergänzung und Vervollständigung sei aber auch noch darauf hingewiesen, daß die gesamte sog. konstitutionelle Verfassungsbewegung in diesem Zusammenhang steht und daß der innerpolitisch verfassungsrechtliche Liberalismus, mit seinem Kampf um eine freiheitliche Verfassung, um den Rechtsstaat, die Grund- und Freiheitsrechte des Individuums, die Teilung der Gewalten, den Schutz von Freiheit und Eigentum, als europäische und weltpolitische Gesamterscheinung ebenfalls nur im Rahmen dieser britischen Weltherrschaftstendenzen richtig verstanden werden kann. Wenn er auch im Bewußtsein seiner innerpolitischen Träger anders gemeint war und von unseren liberalen Großvätern und Urgroßvätern in bestem Glauben als eine rein innerstaatliche und innervölkische Auseinandersetzung um Recht und Freiheit geführt wurde, so geriet er doch von selbst sofort in das europäisch und weltpolitisch stärkere Kraftfeld der britischen Weltpolitik, die im 19. Jahrhundert eine überragende, nicht nur europa-, sondern auch weltumfassende und damit die Gesamtrichtung bestimmende Macht bedeutete. Für unsern vom Raumgedanken her bestimmten Zusammenhang ist der liberale Konstitutionalismus und sein Verfassungsideal eine weltpolitisch-völkerrechtliche Angelegenheit. Er hatte den Sinn und das Ergebnis, eine neue, durch alle europäischen Staaten, später durch alle Staaten der Welt hindurchgehende innerpolitische Freundschaftslinie, neue echte amity-line, zu schaffen und zu garantieren. Es gehört zum Wesen eines universalistischen Weltrechts, daß es echte Raumausgrenzungen aufhebt und die Unterscheidungslinien durch die Völker hindurchgehen läßt. Konstitutionelle Verfassung, Freiheit und Rechtsstaat waren in concreto innerstaatliche Sicherungen der Unterscheidungslinie von staatlich-öffentlicher und staatsfrei-privater Sphäre, wobei der Handel, vor allem auch der Außenhandel, selbstverständlich und naturnotwendig in die staatsfreie Sphäre fiel. Liberaler Konstitutionalismus und Verfassung gewährleisten im 19. Jahrhundert in erster Linie den privaten, staatsfreien Charakter des Handels, der die Grundlage freien Welthandels ist. Dadurch entsteht, über die Grenzen der Staaten hinweg und unter ihren Grenzen hindurch, eine nicht-staatlich private Verbindung und Gemeinschaft, die das weltwirtschaftliche System, Welthandel und Weltmarkt trägt. Hört der unkontrollierte private Handel auf, so hört auch diese Methode britischer oder angelsächsischer Weltherrschaft auf. Ihre typischen völkerrechtlichen Ausprägungen findet die durch die Staaten hindurchgehende, innerstaatlich-konstitutionelle amity-line des privaten Handels im völkerrechtlichen Prisen- und Neutralitätsrecht. Beide setzen den nicht-staatlichen, privaten Handel voraus. Hinter dem Vordergrund der ausschließlichen Staatlichkeit aller Völkerrechtssubjekte und des scharfen Dualismus von Völkerrecht und Landesrecht wird hier für den Bereich der Wirtschaft ein in Wirklichkeit universalistisches Völkerrecht geschaffen, auf der Grundlage der
27 England und das Festland (Deutsche Ausgabe bei F. Meiner), 1939; das italienische Original ist 1936 in Rom erschienen; vgl. auch Carl Düssel, Europa und die Achse. Die kontinentaleuropäische Frage als Kehrseite britischer Politik, Essen 1940.
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Weltgeltung und Weitläufigkeit des liberal-demokratischen, konstitutionalistischen Verfassungsrechts. Dieser Strukturzusammenhang von Völkerrecht und liberalem Verfassungsrecht ist ebenso sehr ein Bestandeil des bisherigen, angeblich rein zwischen-staatlichen und nur von Staaten getragenen Völkerrechts, wie des bisherigen, angeblich rein innerstaatlichen Staats- und Verfassungsrechts. Es klingt vielleicht heute noch überspitzt und paradox, wird aber in kürzester Zeit als einfache und handgreifliche Wirklichkeit erkannt werden, wenn ich sage: die innerstaatlich-konstitutionalistische amity-line der Unterscheidung von staatlich-öffentlichen und nicht-staatlichprivatem Handel ist zugleich die Verbindungslinie, die den scheinbar so tiefen Dualismus von zwischen-staatlichem und inner-staatlichem Recht, von Völkerrecht und Landesrecht überbrückt und diesen Dualismus zu einer bloß vordergründigen Angelegenheit relativiert. Diese Freundschaftslinie macht es möglich, daß alles, was der private Handel eines neutralen Staats während eines Krieges unternimmt, Frieden und Freundschaft zwischen dem neutralen Staat und den Kriegführenden grundsätzlich nicht berührt. Ein anderer, ebenfalls wichtiger Teil des durch die liberal-konstitutionelle Freundschaftslinie ausgegrenzten innerstaatlichen Bereichs ist der gesamte Bereich der sog. öffentlichen Meinung und Meinungsbildung, mit Pressefreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung. Darauf habe ich verschiedentlich, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Prof. Dietrich Schindler, 1938, hingewiesen28. Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beginnt die Aufspaltung und Zersetzung des überlieferten europäischen Völkerrechts. Das Völkerrecht wird aus einem zwischen europäischem und nicht-europäischen Boden unterscheidenden, auf der Grundtatsache der außereuropäischen Kolonie aufgebauten, also immer noch wesentlich europäischen Völkerrecht ein unterschiedsloses, raumaufhebendes Weltrecht, das ohne Unterscheidungen und Zwischenbildungen die Beziehungen zwischen etwa fünfzig heterogenen, über die ganze Erde verstreuten, aber sämtlich „souveränen", territorial in sich geschlossenen Staaten durch generelle Normen regelt. Hinter der Fassade genereller Normen steht in Wirklichkeit das System des angelsächsischen Weltimperialismus, neben einem aus dem 18. und 19. Jahrhundert weitergeführten System europäischer Großmächte. Ein Völkerrecht des angelsächsischen Kriegs- und Feind-Begriffes steht neben dem des kontinentalen Kombattantenkrieges. Nun sind Krieg und Frieden doch die zentralen Begriffe jedes Völkerrechts, und zwei völlig verschiedene Kriegsbegriffe müßten eigentlich notwendigerweise auch zwei völlig verschiedene Friedensbegriffe und damit zwei 28
„Das neue Vae Neutris!" in der von Freytagh-Loringhoven herausgegebenen Zeitschrift „Völkerbund und Völkerrecht", IV. Jahrg. (1938), S. 633 / 638; „Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität" in den von Fritz Berber herausgegebenen „Monatsheften für Auswärtige Politik", 5. Jahrgang, Juli 1938, S. 613 - 618; beide Aufsätze abgedruckt in „Positionen und Begriffe", 1940, S. 251 ff., 255 ff. Weitere Ausführungen zu dieser Frage in dem Aufsatz für die Festschrift Georgios Streit, Athen 1940, „Über die zwei großen Dualismen des heutigen Rechtssystems" (Positionen und Begriffe, S. 261 ff.).
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völlig verschiedene, ja gegensätzliche Völkerrechtssysteme bedeuten. Trotzdem ist von „dem" Völkerrecht der zivilisierten Völker die Rede. Das ist nur möglich unter der Weiterwirkung der überkommenen, europäischen Formeln und Begriffe, die einfach auf den planetarischen Raum ausgedehnt und mit Hilfe verwischender, normativistischer Generalisierungen zum Völkerrecht der Erde gemacht werden. Die Struktur dieses allgemeinen, angeblich von fünfzig gleichberechtigten Staaten getragenen planetarischen Völkerrechts ist durch die Aufspaltung in einen polaren Gegensatz bestimmt: ein universalistisch-imperalistisches, raumaufhebendes Weltrecht auf der einen, ein krampfhaft staatsbezogenes, raumverengendes, kleinräumiges Staatenrecht auf der anderen Seite. Von dem einen Pol her sind unabsehbare „humanitäre" Interventionen völkerrechtlich zulässig; von dem andern her ist die kleinste „Einmischung" ein völkerrechtliches Delikt 29 . Von der universalistisch-imperialistischen Seite her wird die Überwindung des Staatsbegriffs seit 1900 in der Weise vollzogen, daß die imperialistischen Mächte die von ihnen „kontrollierten" politischen Gebilde als „Staaten", sogar mit ausdrücklichen und feierlichen Betonungen als „souveräne Staaten" weiter bestehen lassen, sich aber gleichzeitig in der Form von Interventionsverträgen die nötigen militärischen und verfassungsrechtlichen Stützpunkte und Einwirkungsmöglichkeiten sichern. Der amerikanische Imperialismus unter Theodore Roosevelt ist das erste und zugleich deutlichste und bekannteste Beispiel. Die völkerrechtlichen Methoden dieses ökonomischen, d. h. aus der innerstaatlich-konstitutionellen amity-line des privaten Handels aufgebauten Imperialismus sind bereits behandelt worden 30 . Weniger beachtet ist die auf der anderen Seite sich vollziehende, zwar gegensätzliche, aber doch auch dialektisch verbundene, gleichzeitige Entwicklung zur entschiedenen Staatsbezogenheit. Wie niemals vorher tritt eine Auseinanderreißung des „Gemeinrechts" in ein zwischen-staatliches und ein inner-staatliches Recht ein. Das klassische Dokument dieses Teiles der um die Jahrhundertwende einsetzenden Entwicklung ist Heinrich Triepels berühmtes Buch „Völkerrecht und Landesrecht", das 1899 erschien. Es hat die „dualistische" Theorie des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht, von zwischen-staatlichem und inner-staatlichem Recht begründet. Seine Bedeutung und Wirkung waren vielleicht noch tiefer, als in Fachkreisen zum Bewußtsein gekommen ist. Seine völkerrechtsgeschichtliche Leistung besteht darin, daß es aus der deutschen und der italienischen (von Anzilotti völkerrechtswissenschaftlich geführten) Situation heraus gegenüber dem angelsächsischen Universalismus entschieden die kontinental-staatliche Gegenposition sicherte. In einer noch schwierigeren und gefährlicheren Lage hat G. A. Walz diese 29 Gerhard Ostermeyer, Die Intervention in der Volkerrechtstheorie und -praxis unter besonderer Berücksichtigung der Staatenpraxis des 19. Jahrhunderts (Abhandlungen der Hansischen Universität, herausgegeben von L. Raape und R. Laun, Heft 36, 1940) übersieht diesen weltpolitischen Zusammenhang und geht daher an dem Problem vorbei, das mit dem allgemeinen Begriff „Notstandsintervention" nicht zu lösen ist. 30
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus, Carl Schmitt, Positionen und Begriffe, 1940, S. 172 ff.
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Leistung weitergeführt 31. Aber gerade bei voller Anerkennung und Bewunderung dieser völkerrechtsgeschichtlichen Leistung darf man die damalige weltpolitische Gesamtlage nicht aus dem Auge lassen und nicht vergessen, daß die tiefe Kluft, die sich bei einer dualistischen oder pluralistischen Konstruktion zwischen Völkerrecht und Landesrecht öffnet, in der damaligen weltpolitischen Wirklichkeit durch die Weltgeltung des konstitutionellen Verfassungsrechts sowohl ermöglicht wie auch zugleich überbrückt ist. Die eigentlich juristische Evidenz des Dualismus ergibt sich, in der allgemeinen Verfassungslage des konstitutionellen Zeitalters, aus der Trennung von Legislative und Exekutive, die als Kernstück des konstitutionellen Systems den Gesetzesbegriff spezifisch bestimmt; und die Auseinanderreißung von Innen und Außen wird dadurch zu einer praktisch beachtlichen Möglichkeit, daß die von der Legislative (dem Parlament) betriebene Innenpolitik von der durch die Exekutive (der Regierung) geführten Außenpolitik abweichen kann. Mit der Vereinheitlichung sowohl von Legislative und Exekutive wie von Innen- und Außenpolitik in einer einheitlichen, ungeteilten Führergewalt verlieren solche Auseinanderreißungen von selbst ihre praktische Bedeutung. Die Transformation oder, wie Walz treffender sagt, die „Geltungserstreckung" aus der völkerrechtlichen in die inner-staatliche Geltung, ist dann kein grundsätzlich wichtiges Problem mehr, sondern nur noch eine Frage der „Umschaltung", der technischen Organisation und geordneten Befehls weitergäbe. Neben Triepels Werk aus dem Jahre 1899 ist hier Max Hubers Buch über die Staatensuccession (1898) als zweites klassisches Dokument dieser Wendezeit zu nennen. [12] Es stellt den Begriff des Staatsgebietswechsels in den Mittelpunkt der Begriffsbildung und trägt dadurch zur Alleinherrschaft des Staatsgebiets als des einzigen juristischen Raumbegriffes bei. Zum Schluß unserer Übersicht sei auf den inneren Widerspruch hingewiesen, der in den Pariser Vörortsdiktaten von 1919 zwischen den universalistischen Tendenzen der englischen und der ihr folgenden französischen Weltpolitik und der Steigerung kontinental-staatlicher Kleinräumigkeit liegt. Es handelt sich, in einem Schlagwort zusammengefaßt, um die sonderbare Gleichzeitigkeit von erdräumlicher Allgemeinheit und kleinräumiger „Balkanisierung" Europas. Der Widerspruch ist für die Zeit von 1919-1939 kennzeichnend; er hat diese zwanzig Jahre zu einem Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden entstellt. Die universalistischen Tendenzen des Genfer Völkerbundes haben alle in seinem Rahmen versuchten Bemühungen um eine kontinental-europäische Großraumordnung verhindert. Man empfand sie in Genf sogar als „Europäisierungskrise" 32. Das Schicksal von Briands „Memorandum sur 1' organisation d'un regime d'union federate europeenne" vom 17. Mai 1930 ist dafür kennzeichnenden] Der Europa-Plan Briands wurde in einer Studienkommission begraben, die die Völkerbundversammlung am 17. September 1930 beschloß, und zu der auch die europäischen Nicht-Mitglied-
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Völkerrecht und staatliches Recht. Untersuchungen über die Einwirkungen des Völkerrechts auf das innerstaatliche Recht, 1933. 32 Georges Scelle, Une crise de la Soci6t6 des Nations, 1927.
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Staaten eingeladen wurden. Das Mandat dieser Kommission wurde 1931, 1932 und 1933 verlängert und war damit erledigt. Es zeigte sich, daß der Genfer Völkerbund zu einer europäisch-kontinentalen Großraumordnung nicht fähig, daß er sogar ein spezifisches Instrument ihrer Verhinderung war. Auf der anderen Seite aber garantierte derselbe Genfer Völkerbund die durch die Pariser Vorortsdiktate geschaffene europäische Klein- und Mittelstaaterei und wurde so zum Hort staatsbezogener Kleinräumigkeit. Die Verbindung von Universalismus und staatsbezogener Kleinräumigkeit entspricht dem Wesen einer universalistisch-imperialistischen Weltpolitik. Sie wurde durch zahlreiche künstliche Begriffskonstruktionen verdeckt, auf die heute noch einzugehen nicht der Mühe lohnt. Für uns ist nur die Feststellung wichtig, daß diese Zwischenzeit völkerrechtsgeschichtlich durch den Versuch gekennzeichnet ist, einen liberaldemokratischen Universalismus als planetarischen Erben des christlich-europäischen Völkerrechts zu organisieren und ihn über die in der Wirklichkeit sich entwickelnden Großräume hinweg - in einem universalistischen System mit staatsbezogener Kleinräumigkeit durchzusetzen.
III. Das Meer hat heute auf weite Strecken aufgehört, ein der menschlichen Herrschaft unzugängliches Element zu sein. Die von den älteren Autoren bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Begründung der Meeresfreiheit vorgebrachten Argumente (das Meer als ein seinem Wesen nach unbezwingbares Element, das Meer als eine allen in gleicher Weise offene unerschöpfliche Reichtumsquelle) sind längst überholt. Zahlreiche auf solchen Argumenten errichtete Normen und Gewohnheiten werden nur noch als „positives" Völkerrecht weitergeschleppt, während ihre Voraussetzungen und ihre technischen Grundlagen längst entfallen sind. Selbstverständlich sind die Ozeane frei und sollen es bleiben. Aber das Meer ist für uns nicht mehr nur ein „Element"; es ist ein Raum geworden, der menschlicher Herrschaft, Machtentfaltung und Machtverteilung zugänglich ist. Besonders bei Meeresbecken wie der Ostsee, der Nordsee, dem Mittelmeer, ist man sich wehrgeographisch, nach dem Wort von O. von Niedermayer, „der Schrumpfung wieder voll bewußt, wenn man sich die gesteigerten Geschwindigkeiten der Fahrzeuge und die Verwendung der Flugwaffe vor Augen hält" 33 . Der berühmteste Autor der französischen Seekriegswissenschaft, Admiral Castex, spricht davon, daß sich „das Land auf das Meer ausdehnt". Wie weit diese „Schrumpfung des Meeres" und „Ausdehnung des Landes" zu dauernden Veränderungen der das freie Meer betreffenden Maße und Maßstäbe im einzelnen führen wird, braucht hier nicht abgemessen und entschieden zu werden. Daß sich hier die Raumvorstellungen, die Maße und die Maßstäbe revolutionär ändern, ist unverkennbar.
33 a. a.O.,S. 117.
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Neben dauernden Maßveränderungen sind aber auch Raumausgrenzungen aus der Meeresfreiheit zu beachten, die sich im Rahmen der allgemeinen raumrevolutionären Entwicklung bereits abheben und in einigen völkerrechtlichen Bildungen der Rechtslage des freien Meeres heute schon erkennbar werden. Der Gedanke solcher Raumausgrenzungen steht dabei im Gegensatz zu den auf der Grundlage der britischen Meeresherrschaft konstruierten, raumaufhebenden, generalisierenden Normen, die den gleichzeitig universalistischen und anarchistischen Kern der britischen Weltherrschaft umhüllen. Freiheit der Meere heißt nach geltendem Völkerrecht, daß bei jedem Seekrieg, gleichgültig zwischen welchen kriegführenden Staaten, und ohne Rücksicht auf die geographische Lage, alle Meere der Welt unterschiedslos, von der Dreimeilen-Küstenzone an gerechnet, Kriegsschauplatz sind. Wenn zwischen Estland und Lettland ein Seekrieg geführt wird, so ist nach diesen anerkannten Regeln des Völkerrechts z. B. das japanische Meer Kriegsschauplatz, wenn Japan gegen China Krieg führt, wäre die Ostsee Kriegsschauplatz, und jeder dieser kriegführenden Staaten hat angeblich das gute Recht, daraufhin den Seehandel aller nichtkriegführenden Staaten der Welt auf allen Meeren der Welt, womöglich mit Kursanweisungen, nach Prisenrecht zu behandeln. Dieses Beispiel veranschaulicht sowohl das, was wir hier unter der Verbindung von Universalismus und Anarchismus verstehen, wie auch die groteske Methode normativistischer Generalisierungen, die aus dem, was das geographisch zusammenhanglose, über die ganze Erde verstreute, far-flung-Empire der Engländer[14] in Ausübung seiner Welt- und Meeresherrschaft tut, allgemein anerkannte, angeblich für alle Staaten in gleichberechtigter Weise geltende Regeln des Völkerrechts machen 34 . In Wirklichkeit hat der Gemeingebrauch am freien Meer - von der Fischerei abgesehen - zwei miteinander schwer zu vereinbarende Seiten: das freie Meer ist die für alle Volker in Krieg und Frieden offenstehende friedliche Verkehrs- und Handelsstraße und doch andererseits in gleichem Maße ein ebenso „freies", jeder kriegführenden Macht offenstehendes Kriegsoperationsgebiet. Deutlich und offenherzig hat das Dana-Wheaton-Zitat der berühmten prisengerichtlichen Entscheidung des Miramichi-Falles vom 23. November 191435 die Sache beim Namen genannt: „The sea is res omnium, the common field of war as well as of commerce". Mit militärischer Offenheit bekennt Admiral Castex, daß es ihm schwer geworden ist, zu begreifen, um was es sich bei dieser viel erörterten Freiheit der Meere eigentlich handelt. „Le mot n'evellait rien en moi. Je ne lui attribue maintenant en34 Es ist zugleich ein Beispiel für das, was diese Art Völkerrechtswissenschaft unter juristisch" versteht. Man erlaube mir diese etwas persönliche Nebenbemerkung, die durch folgende Stelle im American Journal of International Law, 1940, S. 170, veranlaßt ist: „Carl Schmitt, professor of law, has, of course, never been a jurist, but a politician." Seit 1923 wurden solche als Bosheit gemeinte Antithesen zuerst gegen meine verfassungsrechtlichen Schriften kolportiert. Daß sie jetzt mit Bezug auf meine völkerrechtswissenschaftliche Arbeit weiter laufen, scheint mir kein schlechtes Omen. [Vgl. vorl. Bd., S. 349]. 35 Sir Samuel Evans, in British and Colonial Prise Cases, I (ed. by J. M. Trehern), 1915, S. 137; die zitierte Stelle stammt aus der Anmerkung von Dana in seiner Ausgabe von Wheatons Elements zu § 365.
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core aucune valeur d'ordre pratique. En temps de paix, la mer ist libre pour tout le monde. En temps de guerre, eile appartient, theoriquement, au plus fort, qui en chasse ou essaie d'en chasser son ennemi ou les neutres qui agissent inamicalement, et cela autant qu'il peut le faire politiquement et militairement. C'est ä cela que servent les marines de guerre" 36 . Wenn das Recht auf friedlichen Verkehr und das Recht auf kriegerische Aktion sich in ein und demselben Räume betätigen wollen, so entsteht in der Tat eine schwer lösbare Kollision, die auch mit „Rechtsvermutungen" zugunsten des einen oder des andern nicht behoben werden kann. Zu „vermuten" ist nur, daß bei genügender militärischer Stärke eher der friedliche Verkehr die Kriegszone meidet, als daß die kriegerischen Notwendigkeiten der Kriegführenden dem Interesse des friedlichen Verkehrs der Nicht-Kriegführenden das Feld räumen. Richten wir daher unser Augenmerk lieber auf einige Sachverhalte, in denen sich die Möglichkeit einer Raumausgrenzung erkennen läßt. Es wird sich zeigen, daß mit Hilfe raumhaft-konkreter Vorstellungen das Problem besser gelöst werden kann, als durch die normativistische Methode der Verallgemeinerung zu raumaufhebenden generellen Regeln. 1. Auf der Seite der kriegführenden Mächte ergeben sich durch die Effektivität der heutigen Waffen während eines Seekriegs bestimmte Gefahrenzonen, die für die Nichtkriegführenden (die sog. Neutralen) 37 eine Raumausgrenzung aus der Meeresfreiheit bedeuten. Der Streit um die völkerrechtliche Zulässigkeit solcher Zonen ist durch die Effektivität der Raumbeherrschung, vor allem auch durch die Effektivität der durch moderne Kriegsmittel geschaffenen Gefahr schnell erledigt worden. Auch das Problem der Seesperre ist dadurch praktisch gelöst, nachdem es kurz vor dem gegenwärtigen Kriege in einem eingehenden und gründlichen Aufsatz von Ernst Schmitz behandelt worden war 38 . Die praktische Lösung liegt darin, daß die Neutralen unter dem Eindruck der Effektivität der Gefahr dazu übergehen, ihren Schiffen solche Gefahrenzonen zu verbieten, wie das die amerikanische Regierung für amerikanische Schiffe hinsichtlich der gefährdeten Zone um England getan hat. Diese Wendung ist in der Unterredung, die Großadmiral Raeder am 3. März 1940 einem Vertreter der National Broadcasting Company, New York, ge-
36 Caste x t Theories strat^giques, Band I, 2. Aufl. 1937, S. 85. Ähnlich schon in Synthese de la guerre sous-marine, 1920; dagegen G. Gidel, Le droit international public de la mer, I, 1932, S. 127. 37 Der Ausdruck Nicht-Kriegführende ist im Text rein negativ bestimmt, um alle Erscheinungsformen des Fernbleibens vom Kriege zu treffen. Das Wort „Neutrale" ist längst irreführend geworden und bedarf der Auflösung in die verschiedenen typischen Sachverhalte, die durch eine solche Bezeichnung verdeckt werden; vgl. Positionen und Begriffe, 1940, S. 250. Über die italienische Nichtkriegsführung 1939 / 40: W. Grewe, Der Status der Nichtkriegsführung in der Zeitschr. der Akademie für Deutsches Recht, 1. Juli 1940, S. 206. Die amerikanische Sicherheitszone (vgl. unter 2) dient der Isolierung, nicht der Neutralität im Sinne unparteiischer Freundschaft. 38 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Volkerrecht VIII (1938), S. 642 ff.
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währt hat, klar und sachlich ausgesprochen worden: „Das Verbot (des amerikanischen Präsidenten Roosevelt für die amerikanische Schiffahrt, die gefährlichen Zonen um England zu befahren) ist der beste Beweis gegen das von England geübte Verfahren, das die Neutralen zum Befahren dieser Gebiete zwingt, ohne in der Lage zu sein, ihre Sicherheit zu gewährleisten. Deutschland kann allen Neutralen nur raten, die Politik Ihres Präsidenten nachzuahmen"39. 2. Auf der Seite der Nicht-Kriegführenden (sog. Neutraler wie anderer NichtKriegführender) liegt der bedeutendste Ansatz zu einer Raumausgrenzung in der Erklärung einer für feindliche Akte der Kriegführenden gesperrten Sicherheitszone. Die vom 23. September bis 3. Oktober 1939 abgehaltene Panama-Konferenz der amerikanischen Staaten hat in ihrer Resolution Nr. XIV eine Raumausgrenzung größten Stiles unternommen und auf eine Entfernung bis zu 300 und mehr Seemeilen um die amerikanischen Kontinente herum eine Sperrzone für feindliche Handlungen der Kriegführenden gelegt.[15] Es ist bekannt, daß sowohl die englische wie auch die französische Regierung am 15. bzw. 22. Januar 1940 unter Berufung auf die bekannten allgemeinen Regeln des Völkerrechts und die Dreimeilenzone gegen diese Raumausgrenzung protestiert und sich alle Rechte der Kriegführenden vorbehalten haben. Die deutsche Stellungnahme vom 14. Februar 1940 dagegen nimmt nicht einfach den reaktionären Standpunkt einer bloßen Berufung auf den status quo ein. Sie erklärt selbstverständlich, nicht an diese Sicherheitszone gebunden zu sein, an die die gegnerischen Mächte sich nicht gebunden halten, läßt aber im übrigen den neuen Gedanken völkerrechtlicher Neubildungen gelten.[16] Die praktische Durchführung dieser panamerikanischen Sicherheitszone wird auf manche Schwierigkeiten stoßen. Daß die Meereszone um das englische Dominion Kanada nicht in die Sicherheitszone einbezogen ist, wirft das Problem der Monroedoktrin und ihrer folgerichtigen Anwendung als kontinentales Großraumprinzip auf. Die Erklärung des Staatssekretärs Hull, der betont, daß eine Verletzung der Zone nicht die Anwendung von Gewalt nach sich ziehen werde, zeigt, daß die entscheidende Frage der Sanktionierung offen bleibt. Insofern hat Freiherr von Freytagh-Loringhoven recht, wenn er diese amerikanische Sicherheitszone eine „problematische Erscheinung" nennt. Doch spricht auch er hier von einem „Fortschritt" 40 . Das ist es in der Tat. Der Gedanke einer Raumausgrenzung aus der Meeresfreiheit von Seiten sich isolierender, nicht-kriegführender Mächte ist hier mit bedeutender Kraft zutage getreten 40a, und das Ergebnis beider Arten von Raumaus-
39 DNB, 4. März 1940; dazu Ministerialrat Eckhardt, (1940), S. 41 / 42.
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40 Europäische Revue, Januar 1940, S. 3, und November 1939, S. 357. 40a Ein vielgenannter Präzedenzfall der „Neutralisierung" eines Meeres durch nichtkriegführende (neutrale) Mächte ist die bewaffnete Neutralität der Ostseemächte von 1780. In dem Vertrag zwischen Rußland, Dänemark und Schweden kommen die Vertragsparteien dahin überein, daß die Ostsee „ein geschlossenes Meer" ist, „une mer ferm£e, incontestablement telle par sa situation locale", wo alle Nationen in Frieden Schiffahrt treiben sollen und sich vor „hostilitds, pirateries et violences" schützen dürfen (Martens, Recueil III. S. 193, ferner
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grenzungen - von Seiten der Kriegführenden wie der Nicht-Kriegführenden - läßt neue Großräume erkennen und treibt die Entwicklung zur Großraumbildung vorwärts. 3. Während eines modernen Krieges ist das von jeder kriegführenden Macht beherrschte sog. Küstenvorfeld ein auf Grund effektiver militärischer Machtbeherrschung aus der Meeresfreiheit ausgegrenzter Raum. Die Rechte der Nicht-Kriegführenden treten hier sowohl hinsichtlich der Dreimeilen-Küstenzone wie hinsichtlich des freien Meeres ganz zurück. Das Küstenvorfeld des Feindes ist für den Gegner Kampfzone. Handelsschiffe nicht-kriegführender Mächte setzen sich hier besonderen Gefahren aus, denen sie nur dadurch entgehen können, daß sie sich der Führung durch die kriegführende Macht überlassen, wodurch sie wiederum unter deren Botmäßigkeit geraten und deshalb vom Gegner nach Maßgabe der militärischen Notwendigkeiten behandelt werden. 4. Von diesen Gegenwartserfahrungen her fällt aber auch ein neues Licht auf die Bedeutung raumhafter Konstruktionen, die unter englischem Einfluß in Vergessenheit geraten sind. a) Die effektive Küstenblockade alten Stiles,[17] wie sie in der Pariser Deklaration von 1856 gemeint ist, hat als völkerrechtliches Institut verschiedene Deutungen erfahren 41. Die Rechtfertigungen und Erklärungen aus der Kriegsnotwendigkeit (die durchaus nicht, wie von ausländischer Seite vielfach behauptet wird, spezifisch deutsch sind, sondern außer von Geßner, Bluntschli und Ullmann auch von Galiani, Travers Twiss, v. Martens, Rivier u. a. vertreten werden) sind zu allgemein und laufen schließlich nur darauf hinaus, den Interessenkonflikt von Kriegführenden und Nicht-Kriegführenden durch einen mehr oder weniger fingierten Kompromiß zu lösen. Die ihm entgegentretende Theorie von Fauchille, nach der die Verletzung der Blockade durch den Neutralen eine Einmischung in Kriegsunternehmungen und daher Neutralitätsbruch ist, geht an der Eigentümlichkeit des von einem privaten Handelsschiff vorgenommenen Blockadebruchs ganz vorbei. Ortolan und Hautefeuille dagegen haben die Blockade als Okkupation und Eroberung (conquete) eines bestimmten „Territoriums" aufgefaßt, das sie daraufhin mit
bei Sir Francis Pigott und E. W. T Omond, Documentary history of the Armed Neutrality 1780 and 1800, London 1919, S. 237). In Wirklichkeit war das nicht als Schließung, sondern als zeitweilige „Neutralisierung", d. h. als Ausgrenzung aus dem Raum des Meeres als freien Kriegsschauplatzes, modern gesprochen als „Sicherheitszone" gedacht (so z. B. H. Gejfcken, Revue de Droit international et de legislation compare XVII, 1885, S. 363). Eine andere, die dauernde Rechtslage betreffende Frage ist, ob die Ostsee infolge der veränderten Raumdimensionen nicht von selbst ein ähnliches Schicksal haben wird wie etwa der Bodensee. 41 Heinrich Pohl gibt in seinem Aufsatz „Die rechtliche Natur der Blockade" 1907 eine auch heute noch wertvolle Übersicht; der Aufsatz ist in Niemeyers Zeitschrift, Band XVII, erschienen und in den gesammelten Aufsätzen Pohls aus Völkerrecht und Politik, 1913, S. 165 ff., abgedruckt. Eine ebenfalls sehr brauchbare Übersicht über die Konstruktion der Blockade gibt Peter Albert Martini, Blockade im Weltkrieg (Völkerrechtsfragen, herausgegeben von Max Wenzel, 36. Heft), 1932, S. 124.
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der Landkriegslage einer belagerten Festung in Analogie bringen. Das ist eine unbeholfene und noch allzu „territoriale" Konstruktion, der die Elastizität unseres Raumbegriffes noch fehlt. Insofern sie aber überhaupt raumhaft gedacht ist und das Bestreben nach sinnvollen Raumausgrenzungen aus der Meeresfreiheit erkennen läßt, verdient sie unser Interesse. Auch Heinrich Pohl hat das empfunden, wenn er sich auch selbst nur an den militärisch-organisatorischen Gesichtspunkt hält.[18] Die englische Abneigung gegen diese raumhafte Konstruktion aber äußert sich mit bemerkenswerter Animosität in der Zurückweisung, die Hautefeuille in W. E. Hall's International Law gefunden hat 42 . b) Auch die völkerrechtliche Lage des Geleitzuges (convoy) ist in der deutschen Konstruktion [vgl. Willms 43 und Stödter 44] ganz militärisch-organisatorisch. Das im feindlichen Geleitzug fahrende Handelsschiff wird als Bestandteil der maritimen Macht des geleitenden Staates angesehen. Die deutsche amtliche Erklärung vom 24. Oktober 1917 sagt: „Ein neutrales Schiff, das sich einem solchen (feindlichen) Geleitzug anschließt, stellt sich bewußt unter den Befehl einer feindlichen Streitmacht. Wer Waffenhilfe anruft, hat Waffenangriff zu gewärtigen." Das ist durchaus richtig. Daneben ist aber auch der Raumgesichtspunkt zu beachten, unter dem der ganze Geleitzug als eine schwimmende Raumausgrenzung aus der Meeresfreiheit erscheint. Die Raumauffassung führt dazu, daß Geleitzüge nicht-kriegführender Mächte völkerrechtlich zulässig sind. Wiederum zeigt sich hier die Abneigung des englischen Völkerrechtsdenkens gegen raumhafte Rechtsvorstellungen. Im Gegensatz z. B. zu Art. 34 der deutschen Prisenordnung vom 28. August 1939 erkennt die englische Auffassung die Zulässigkeit nicht-kriegführender Geleitzüge nicht an, weil es die im Geleitzug enthaltene Raumausgrenzung aus der Meeresfreiheit nicht gelten lassen will. [19] Auch hier ist es wieder Hautefeuille, der den Gedanken des „territoire naval" oder „domaine naval" vom Schiff als schwimmendem Staatsgebiet vor allem auf das Kriegsschiff überträgt. Er spricht hier von einem „espace occupe par le navire et necessaire ä son manoeuvre". Freilich sind auch hier territorialistische Vergröberungen und Übertreibungen möglich, wie z. B. die auch von Hautefeuille abgelehnte Konstruktion de Cussy's, der um neutrale Kriegsschiffe sogar eine befriedete Zone von Kanonenschußweite verlangte 45 . Das alles kann die Brauchbarkeit und die Verwertung des Raumbegriffes nicht hindern. Angesichts der Konstruktionen Hautefeuilles sollte man sich daran erinnern, daß dieser vorzügliche Jurist einer der letzten europäischen Völkerrecht42 8. Aufl., herausgegeben von A. Pearce Higgins, 1924, S. 759 Anm.; die im Text erwähnte Stellungnahme von Pohl in seinem Aufsatz über die Natur der Blockade a. a. O., S. 197/98. 4 3 Artikel Convoi, Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie 1/1924, S. 207 ff., III, 1929, 249 ff. 44 Flottengeleit im Seekrieg, 1936, S. 171 ff. (Wesen des feindlichen Geleitzuges als einer Kampfeinheit). 45 Histoire des origines, des progr&s et des variations du Droit Maritime international, 2. 6d., 1869, S. 23.
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ler war, die den völkerrechtswissenschaftlichen Kampf gegen die englische Seeherrschaft und ein ihr dienendes Seekriegsrecht geführt haben46. Seine Lage war allerdings damals schon, 1850-60, verzweifelt, weil die Unterwerfung Frankreichs unter England bereits unter Napoleon III. ihren Anfang genommen hat. Im Laufe von zwei Generationen hat sie dann zur völligen Unterwerfung Frankreichs und zur völligen Rezeption des englischen Geschichtsbildes geführt. Der oben genannte Admiral Castex erblickt, ganz englisch, in der jeweils stärksten europäischen Landmacht den eigentlichen Friedensstörer, den „perturbateur".
IV. Unsere Hinweise 463 sollten die Alleinherrschaft des kleinräumigen Staatsgebietsbegriffs und der ihr entsprechenden Auffassung der Meeresfreiheit auflockern und daran erinnern, daß diese dem 19. Jahrhundert und seinen Weiterwirkungen zeitlich zugeordneten Vorstellungen durch eine neue Wirklichkeit und neue Raumbilder überholt sind. Daß die weltpolitische Entwicklung zu neuen Positivierungen führt, ist sicher; wann das im einzelnen eintreten wird, ist eine Frage, die die Loslösung von der alten, beziehungslos gewordenen Systematik und den Versuch völkerrechtlicher Neubildungen nicht aufhalten darf. Der Begriff „Staatsgebiet" ist zum eigentlichen Bollwerk kleinräumiger Begriffsbildung und damit zu einer Fehlerquelle schlimmster Art geworden, weil er der Mannigfaltigkeit des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens zwischen Großräumen und innerhalb der Großräume nicht gerecht zu werden vermag und mit seinem Monopolanspruch der Wahrheit im Wege steht, daß es auch andere Arten der Ausschließung von Interventionen und Einmischungen geben kann, die elastisch und doch wirksam sind. Dazu gehört der Begriff des „Großraumes", den ich in meinem Kieler Vortrag vom 1. April 1939 eingeführt habe47. Er hat eine sinnvolle Verwertung und Übertragung des Grundgedankens der Monroe-Doktrin und zugleich die Überwindung imperialistischen Mißbrauchs und universalistischer Umdeutung dieser Doktrin ermöglicht. Er steht im Einklang mit den Formulierungen des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschafts Vertrages vom 28. September 193948, der den Grundsatz des Ausschlusses der Intervention raumfremder Mächte in aller Schärfe aufstellt und dabei von „beiderseitigen Reichsinteressen" und auf beiden Seiten von Völ46 Hautefeuilles Anklagen gegen die britische Meeresherrschaft lesen sich auf vielen Seiten, als wären sie 1939 und nicht vor 1870 geschrieben. Es ist der Mühe wert, z. B. den Schluß seiner Geschichte des Droit maritime international, a. a. O., S. 470 f., heute noch zu lesen. 46a Weitere Darlegungen sind einem anderen Zusammenhang vorbehalten. 47 Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, 2. Aufl. 1940; auch in Politische Wissenschaft, herausgegeben von Paul Ritterbusch, Berlin 1940. [Im vorl. Bd. S. 269 -371]. 4 s Zeitschrift für Völkerrecht XXIV (1940, S. 39).
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kern spricht. Damit sind „Reiche" und ihnen zugeordnete, von selbständigen Völkern bewohnten Großräume, im Gegensatz zu den kleinräumigen, staatsbezogenen Vorstellungen eines im Schatten des angelsächsischen Universalismus gedeihenden Zwischenstaatenrechts, in die Begriffswelt und die Sprache des Völkerrechts eingezogen. Schon aus unseren kurzen Beispielen wird der tiefgehende Strukturwandel des Völkerrechts sichtbar. Unter dem Raumgesichtspunkt ordnen sich die neuen Sachverhalte besser als auf dem Prokrustesbett überkommener, angeblich positivistischer Normen, die nichts als Überlagerungen einer vergangenen Weltlage sind und versuchen nicht nur der weiteren Entwicklung, sondern auch der richtigen wissenschaftlichen Erkenntnis des europäischen Völkerrechts früherer Jahrhunderte hemmend in den Weg zu treten. Der Begriff des Großraumes dagegen kann zu einem Schlüssel wirklichkeitsgemäßer Begriffsgestaltung und Einsicht werden. Er führt notwendigerweise dazu, daß - neben mancherlei Subjekten des Völkerrechts - nur wenige Schöpfer und Gestalter der erdräumlichen Gesamtentwicklung übrig bleiben. Die dadurch notwendig werdende Unterscheidung der Beziehungen zwischen den Großräumen von solchen innerhalb der Großräume wurde bereits eingangs erwähnt. Sie ist aber keineswegs ausschließlich. Ebenso wie zwischen den Großräumen ein ökonomischer Austausch stattfinden wird, sind auch manche andere Beziehungen zwischen ihnen im ganzen und im einzelnen möglich, freilich immer unter dem Vorbehalt des Interventionsverbotes für raumfremde Mächte. Daraus ergeben sich vier verschiedene Arten denkbarer Beziehungen; solche zwischen den Großräumen im ganzen; dann zwischen-reichische Beziehungen zwischen den führenden Reichen dieser Großräume; zwischen-völkische Beziehungen innerhalb eines Großraums und endlich - da die Großräume keineswegs zentralistisch undurchdringliche Blöcke sind - zwischen-völkische Beziehungen zwischen staatlich organisierten Völkern verschiedener Großräume. Diese Skizze der Grundlinien einer künftigen Großraumordnung ist natürlich keine dogmatische Fixierung. Aber die bloße Tatsache, daß sie heute ohne weiteres gedanklich vollziehbar ist, genügt schon, um das bisherige rein zwischen-staatliche Völkerrecht von etwa fünzig heterogenen und angeblich souveränen, territorial in sich geschlossenen Staaten sowohl in seiner ganzen heutigen Unwirklichkeit als auch in seiner praktischen und theoretischen Unmöglichkeit zu erkennen. Immer wieder sei daran erinnert, daß das Reich nicht mit dem Großraum identisch, daß aber auch ein Großraum etwas anderes als ein vergrößerter Kleinraum ist. Die Rechtslage und die rechtlichen Verhältnisse des großräumigen Bereichs würden durch die unterschiedslose Anwendung des Begriffes „Staatsgebiet" noch schlimmer zentralistisch verfälscht und vergewaltigt, als durch die Verwandlung des Reichsgebiets in bloßes Staatsgebiet. Der Großraum bleibt ein Bereich völkischer Freiheit und Selbständigkeit. Nur deshalb ist er universalistischen Herrschaftsformen überlegen, und nur deshalb ist er der Friede. Der weltpolitisch ausrichtende Gegenbegriff gegen Großraum ist aber trotzdem nicht Kleinraum. Das wäre eine geschichtlich längst überholte Position. Eigentlicher Gegner sind alle
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universalistischen Herrschafts- und Organisationsansprüche. Auch vom universalistischen Denken her ist nämlich die geschichtlich fällige Relativierung des Staatsbegriffes bereits in Angriff genommen worden. Der einzige bisherige Versuch, die „Krise des Souveränitätsbegriffes" und die alte völkerrechtliche Systematik des 19. Jahrhunderts zu überwinden und ein neues völkerrechtliches System zu schaffen, ist sogar radikal und folgerichtig universalistisch auf der Polarität vom einzelnen Individuum und Weltvölkerrecht aufgebaut worden. Es handelt sich um den „Precis de Droit des Gens" von Georges Scelle (1932 und 1934), mit dem ich mich an einer anderen Stelle auseinandergesetzt habe49. Der Genfer Völkerbund hat sich in gleicher Richtung bemüht, die unverkennbare geschichtliche Gesamtentwicklung an sich zu ziehen und in seine Hand zu bekommen. Gegenüber solchen, offen oder versteckt universalistischen Versuchen haben wir hier mit Hilfe raumhafter Vorstellungen eine neue systematische Grundlegung skizziert. Sie macht mit der geschichtlich unvermeidlich gewordenen Relativierung des Staatsbegriffes Ernst, indem sie den Begriff des Staatsgebiets entthront, steht also ganz in der unwiderstehlichen Entwicklung zu größeren Räumen und Raummaßstäben, vermeidet es aber trotzdem, im Zuge dieser Entwicklung in ein universalistisches Weltreich hineinzutreiben, wie das dem weltpolitischen Interesse des angelsächsischen Imperialismus entspricht. Sie überwindet die staatsbezogene Kleinräumigkeit des bisherigen völkerrechtlichen Denkens, hebt aber Eigenleben und Selbständigkeit der verschiedenen Völker nicht auf, sondern ist in der Lage, staatlich organisierte Völker auf einer in Großräume aufgeteilten Erde bestehen zu lassen. Sie beseitigt die friedenstörenden Garantien und Interventionen raumfremder Mächte und das Bündnis zwischen universalistischer Weltherrschaft und staatsbezogener Kleinräumigkeit, und macht doch nicht, wie es nach dem Ausspruch eines irischen Autors die Methode des Universalismus ist, die kleinen Völker zu „Hühnern in der Küche des kosmopolitischen Restaurants". Bisher war der dem britischen Weltreich zugeordnete Universalismus der weltpolitische Träger dieser dialektischen Verbindung von staatsbezogener Kleinräumigkeit und universalistischem Weltherrschaftsanspruch. Der britische Weltherrschaftsanspruch ist heute erschüttert. Die weitere weltgeschichtliche Entwicklung steht vor der Frage, ob die andere angelsächsische Macht, die Vereinigten Staaten von Amerika, sich zu dem ursprünglichen und unverfälschten kontinentalen Großraumgedanken der Monroe-Doktrin entschließen, oder ob sie eine Verbindung oder gar Verschmelzung mit dem Reichtum und der Tradition des britischen Universalismus eingehen werden. Wir erleben es gegenwärtig, daß Gold, Juwelen, Kunstschätze und privatrechtliche Rechtstitel in der Form von Aktienpaketen von Europa nach dem amerikanischen Kontinent gebracht werden. Aber auch Regierungen und besiegte führende Schichten wandern aus und versuchen, Rechtstitel der 49 Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr. 5, 1938, S. 8 ff. Scelle macht insbesondere systematisch den Versuch, die Kolonie als ein völkerrechtlich-universalistisches Mandat zu konstruieren (I, S. 142 f.).
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staats- und völkerrechtlichen Legalität und Legitimität mit sich zu nehmen und nach Amerika zu übertragen. So hat eine merkwürdige, neue Art von Exodus eingesetzt, und der Gedanke einer translatio Imperii Britannici liegt nahe. Auch dieser erstaunliche Vorgang steht, weltpolitisch- völkerrechtlich gesehen, unter der alles beherrschenden Fragestellung: Großraum oder Universalismus.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. das von Schmitt konsultierte Werk Werner Gents: Die Raum-Zeit-Philosophie des 19. Jahrhunderts, 1930; ferner ders., Die Philosophie des Raumes und der Zeit, 2. Aufl. 1971, 2 Bde.; auch M. Jammer, Das Problem des Raumes, 1960. Einen nützlichen Überblick leistet: W. Woodward, Raum, Raumwahrnehmung, psychologischer Raum, in: Historisches Wörterbuch d. Philosophie, VIII, 1992, Sp. 111 ff. - Zum Raum im politischen u. geopolitischen Sinne vgl.: A. Haushofer, Zur Problematik des Raumbegriffs (zuerst 1932), 1935; H. Schmitthenner, Sinn und Wert des Wortes Raum in d. geographischen Literatur von heute, Geograph. Zeitschrift, 2 / 1939, S. 41 ff.; W. Köster, Raum, politischer, in: Histor. Wörterbuch . . . , a. a. O., Sp. 122 ff., mit Überlegungen zu Schmitt. [2] „Indem aber die Staaten so kämpfen, entstehen eben jene sich vergrößernden Mittelpunkte . . . , denn der militärische Kampf der Staaten ist kein Spiel, das immer von neuem auf demselben Schachbrett mit denselben Figuren aufgestellt wird. Es wächst durch Militärtechnik, Massenhaftigkeit der Heere und Höhe der Kriegskosten die Anforderung an jeden kämpfenden Staat, und welcher Staat im Wettlauf nicht mitkommen kann, wird in die zweite oder dritte Reihe der Souveränität versetzt. Es waltet da ein strenges, unerbittliches Gesetz der Auslese. Wie viele Staaten sind schon untergegangen! Wie viele sind in Bundesstaaten oder Staatenverbände eingegliedert! Die Gründung des Deutschen Reiches ist ein klassisches Beispiel für den staatlich-wirtschaftlichen Vergrößerungsvorgang. Diese Entwicklung ist unabhängig von allem unserem Einzelwillen." (Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 173.) Zu Naumanns Idee von Mitteleuropa vgl. u. a.: Maria Enste, Das Mitteleuropabild Friedrich Naumann und seine Vorgeschichte, Diss. Marburg 1941; J. Droz, UEurope centrale. Evolution historique et l'idee de „Mitteleuropa", Paris 1960, bes. S. 207 - 222; H. C. Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action, Den Haag 1955. Schmitts Schüler Helmut Rumpf weist auf den Zusammenhang mit „Großraum" und „Reich" hin in s. Aufsatz: Mitteleuropa. Zu Geschichte und Deutung eines politischen Begriffs, HZ, Bd. 149, 1942 / I, S. 510 - 527; den Zusammenhang von „Mitteleuropa"-Großraum-Monroedoktrin unterstreicht: M. Korinman, Quand l'Allemagne pensait le monde - Grandeur et decadence d'une geopolitique, Paris 1990, S. 191 - 201, „Monroe Praeceptor Germaniae". Der Schmitt in seinen Überlegungen zu Raum und Großraum u. zum Kampf zw. Land- u. Seemächten oft sehr nahe Ernst Wolgast (1888 - 1961) schreibt freilich: „Großräume sind oder werden Amerika, Ostasien, Rußland und Mittel- + Osteuropa. Der letztgenannte wird - und kann es erst jetzt werden - ein Großraum seit und wegen der Zusammenfassung der deutschen Mitte Europas zu einem starken Reich. Das Reich wächst in den Osten hinein, der Osten in das Reich. Der politische Begriff Mitteleuropa hört zu gelten auf. (Von mir kursiviert - G. M.) Ein Großraum, für den der Name noch fehlt, entsteht." (Wolgast, Über die Gesetze d. auswärtigen Politik und die Machtauffassung d. Staaten - Prolegomena zu einer Lehre von den Gesetzen der auswärtigen Politik, ZöR, 1940, S. 359 - 417,411).
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[3] So, sinngemäß, Ratzel, Politische Geographie (zuerst 1897), 3. Aufl. 1927, S. 59 - 74, „Die geschichtliche Bewegung"; ausführlicher der unter dem gl. Titel stehende Abschnitt in: Anthropogeographie, I, 2. Aufl. 1899, S. 111 - 208; ähnliche Gedanken schon in: ders., Studien über politische Räume, Geographische Zeitschrift, 1895, S. 163 - 82, 287 - 302; vgl. auch die kurze, doch grundsätzliche Studie „Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten", Petermanns Mitteilungen, 1896, S. 97 - 107. [4] Zu d. unterschiedl. Konzeptionen (Luftfreiheit, Luftzonen, Lufthoheit): Berber, Lehrbuch d. Völkerrechts, I, 2. Aufl. 1975, 350 f.; Menzel / Ipsen, Völkerrecht, 2. Aufl. 1979, 419 f.; Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, 737 f. Zwar hat sich die Theorie der Lufthoheit durchgesetzt (= der gesamte, sich kegelstumpfförmig über dem Territorium d. Staates erstrekkende Luftraum untersteht dessen Hoheit); die Lufthoheit endet jedoch an der bisher noch nicht definierten Grenze zum Weltraum; dazu Ipsen, a. a. O., 771 ff. Zu den Versuchen einer Grenzziehung zw. Luft- und Weltraum vgl.: M. A. Dauses, Die Grenze zwischen Luftraum u. Weltraum, Diss. Würzburg 1969; ders., Die Grenze des Staatsgebietes im Raum, 1972. Im letzteren Buch, S. 87 ff., erörtert der Autor ausführlich die sogen. „Unendlichkeits-" bzw. „Usque-ad-coelum"-Theorien, nach denen das Hoheitsgebiet der Staaten bis ins Unendliche reiche; diese Konzeptionen verschwanden mit dem Beginn der Raumfahrt am 5. 10. 1957 (Sputnik) und machten dem Grundsatz der Weltraumfreiheit Platz. - Die Texte der von Schmitt erwähnten Abkommen von 1919 u. 1928 in: Societe des Nations. Recueil des Traites, X I / 1922, S. 173 ff.; CXXIX / 1929, S. 223 ff. - Das heute gültige internal. Luftrecht beruht vor allem auf dem Chicagoer Abkommen v. 7. 12. 1944 und einigen Zusatzvereinbarungen; die betr. Texte in: Berber, VÖlkerrechtl. Dokumentensammlung, I, Friedensrecht, 1967, 72 - 106; zu diesem Abkommen u. a.: Pepin, Le droit aerien, RdC, 1947 / II, 481 - 581; Jennings, Some aspects of the International Law of the air, ebd., 1949 / II, 513 - 590. [5] Über die ökonomischen Motive von Bismarcks Verhalten („Open door" für die deutsche Wirtschaft in Afrika) vgl.: H. U. Wehler, Bismarck und d. Imperialismus, 3. Aufl. 1972, S. 373 - 390. - Zur völkerrechtl. Bedeutung d. Kongo-Konferenz vgl. u. a. auch: F. v. Martens, La conference de Congo ä Berlin et la politique coloniale des etats modernes, RDILC, 18 / 1886, S. 113 - 150, 244 - 280; G. de Courcel, L'influence de la conference de Berlin de 1885 sur le Droit colonial international, Paris 1936; Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 188 - 200; J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 1984, S. 87 ff., 106 ff., 321 ff., 330 ff. (zu den Diskussionen über die Berliner Konferenz innerhalb des „Institut de Droit international" in den Jahren 1885 - 88; vgl. auch: G. Hardy, La politique coloniale et le partage de la terre aux XIX et XX siecles, Paris 1937, bes. S. 194 ff.). [6] Die Artikel 34 u. 35 der Kongoakte lauten: „Diejenige Macht, welche in Zukunft von einem Gebiete an der Küste des afrikanischen Festlandes, welches außerhalb ihrer gegenwärtigen Besitzungen liegt, Besitz ergreift, oder welche, bisher ohne dergleichen Besitzungen, solche erwerben sollte, desgleichen auch die Macht, welche dort eine Schutzherrschaft übernimmt, wird den betreffenden Akt mit einer an die übrigen Signatarmächte der gegenwärtigen Akte gerichteten Anzeige begleiten, um dieselben in den Stand zu setzen, gegebenenfalls ihre Reklamationen geltend zu machen." - „Die Signatarmächte der gegenwärtigen Akte anerkennen die Verpflichtung, in den von ihnen an den Küsten des afrikanischen Kontinents besetzten Gebieten das Vorhandensein einer Obrigkeit zu sichern, welche hinreicht, um erworbene Rechte und, gegebenenfalls, die Handels- und Durchgangsfreiheit unter den Bedingungen, welche für letztere vereinbart worden, zu schützen." (Nach: Fleischmann, VÖlkerrechtsquellen, 1905, S. 207.) Mit den Artikeln 34 u. 35 waren auch die Bedingungen für die
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Rechtmäßigkeit der Okkupation, nämlich Notifikation und Effektivität, erfüllt; dazu auch Fisch, wie FN [5], S. 88 f. [7] Gemeint ist das Buch von Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899, dazu auch Schmitt, Die Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law" (1890 - 1939), vorl. Bd., S. 378 ff. - Triepels Werk bildet einen der Ausgangspunkte der Lehre vom völkerrechtlichen „Dualismus", wonach Völkerrecht und Landesrecht nicht nur verschiedene Rechtsteile darstellen, sondern auch unterschiedliche Rechtsordnungen sind (Triepel, S. 111), die als solche gar nicht in Konflikt miteinander geraten können (ebd., S. 254). Triepels Werk wurde weitergeführt v. G. A. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, 1933, das die zentrale Bedeutung der „Transformation" betont: völkerrechtliche Normen können nur nach einer Transformation in innerstaatliches Recht angewandt werden. Im Gegensatz dazu die „monistische" Schule, die, vom Primat des Völkerrechts ausgehend, das einzelstaatliche Recht als eine Teilrechtsordnung des Völkerrechts ansieht und die „Einheit des rechtlichen Weltbildes" behauptet, vgl. u. a.: Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf der Grundlage der Völkerrechtsordnung, 1923; Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 2. Aufl. 1928. Zum Streit der beiden Ansätze: Starke, Monism and Dualism in the theory of International Law, BYIL, 1936, S. 66 - 81; H. Drost, Grundlagen des Völkerrechts, 1936, S. 111 - 130; Wagner, Monismus und Dualismus; eine methodenkritische Betrachtung, AöR, 1964, S. 212 - 241; Sperduti, Dualism and Monism: a confrontation to be overcome, FS Miaja de la Muela, Madrid 1979, Bd. I, S. 459 - 476; Menzel / Ipsen, Völkerrecht, 2. Aufl. 1979, S. 49 ff.; Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 1071 ff.; P. Fischer/H. F. Köck, Allgemeines Völkerrecht, 3. Aufl. 1991, S. 12 ff. - Vgl. auch die ehrgeizige Erörterung beider Konzepte in: D. S. Constantopoulos, Verbindlichkeit und Konstruktion des positiven Völkerrechts, Hamburg 1948, bes. S. 17 ff., 96 ff., 129 ff., 199 ff., 208 ff., mit den Bemerkungen zu Schmitt: S. 15 f., 37, 136, 142, 144, 192. - Schmitt, einerseits Feind des Universalismus, andererseits den Staat vom Großraum her infragestellend, steht jenseits dieses methodologischen Konflikts, dessen politische Implikationen offenkundig sind, vgl.: Über die zwei großen „Dualismen" des heutigen Rechtssystems (1939), in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 261 - 271, bes. aber: Über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht, ZAkDR, 1940, S. 4 - 6. [8] Zur Geschichte und zur Bedeutung der „Freundschaftslinien" vgl. neben den von Schmitt unter FN 11 genannten Arbeiten: Ch. A. Julien, Les voyages de decouverte et les premiers etablissements (XV 6 - X V I e siecles), Paris 1948; dazu der Rezensionsaufsatz v. G. A. Rein, Die europäische Bedeutung der französischen Übersee-Politik im 16. Jahrhundert, Saeculum, 1951, S. 416 - 32, Ndr. in ders., Europa und Übersee, 1961, S. 81 - 99. Vgl. auch: L. Garcia Arias, Una fräse famosa en las relaciones maritimas hispano-franceses del siglo X V I (zuerst 1956), in: ders., Estudios de Historia y Doctrina del Derecho Internacional, Madrid 1964, S. 211 - 253; G. Fahl, Der Grundsatz der Freiheit der Meere in der Staatenpraxis von 1493 bis 1648, 1969, bes. S. 58 - 62. Einen speziellen Fall behandeln: C. u. R. Bridenbaught, No peace beyond the line. The English in the Carribean 1624 - 1690, New York 1972. Den Forschungsstand darstellend und ggü. Schmitts Thesen skeptisch: J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 1984, S. 25 ff., 57 ff., 139 ff., 146 ff. u. ö. Demgegenüber auf der Bedeutung und dem verpflichtenden Charakter der Freundschaftslinien beharrend: Grewe, Epochen der VÖlkerrechtsgeschichte, 1984, S. 181 - 193; auch in seiner Kritik an Fisch: AöR, 3 / 1985, S. 447 - 456, Ndr. in ders., Machtprojektionen und Rechtsschranken, 1991, S. 232 - 246.
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[9] Zur völkerrechtlichen Bedeutung u. Geschichte der Handelskompagnien vgl. u. a.: Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 345 ff., 364 ff., 547 ff.; zur Deutschostafrikanischen Gesellschaft und zur Neuguinea-Kompagnie vgl. Wehler, wie FN [5], S. 344 67, 370 ff., 393 - 98. - Als Standardwerk ist anzusehen: H. H. Kraft, Chartergesellschaften als Mittel z. Erschließung kolonialer Gebiete, Hbg. 1943. [10] Fürst Bismarck als Redner, hrsg. v. W. Böhm / A. Dove, Bd. 13, 1891, S. 304 ff. [11] Zum Oscar-Chinn-Fall vgl.: H. L., The Chinn Case, BYIL, 16 / 1935, S. 162 ff.; J. G. de Beus, Het arrest van het Permanente Hof in de zaak Chinn, Nederlandsch Juristenblad, 10 / 1935, S. 33 ff. [12] Max Huber, Die Staatensuccession. Völkerrechtliche und staatsrechtliche Praxis im 19. Jahrhundert, Leipzig 1898. [13] Aristide Briand regte am 5. 9. 1929 in der X. Völkerbundversammlung die Schaffung e. europ. Bundesstaates innerhalb d. Völkerbundes an; am 15. 5. 1930 wurde d. europ. Regierungen das entsprechende Memorandum übersandt; Text in: Societe des Nations. Documents relatifs ä l'organisation d'un regime d'Union Federale Europeenne, Genf 1930, S. 1 - 16; deutsch in: Europa. Dokumente zur Frage d. europäischen Einigung, Dt. Gesellschaft f. Ausw. Politik, I, 1962, S. 29 - 40. Der Plan scheiterte u. a. an britischen Einwänden; dort wurde auf die Verflechtung mit d. außereurop. Welt hingewiesen und zu bedenken gegeben, daß die Ähnlichkeit der angestrebten Föderation mit dem Völkerbund diesen und die von ihm angestrebte Universalität bedrohen könne: England sah seine Vormachtstellung im Genfer System bedroht. Italien u. Deutschland erkannten in dem Projekt die Absicht einer Stabilisierung des Versailler Vertrages, die USA die Gefahr einer europazentrischen Auslegung des Kellogg-Paktes, usw. Vgl. Schmitt, Der Völkerbund u. das polit. Problem d. Friedenssicherung, 1930, S. 44 ff.; G. Bilfinger, Das Briand-Memorandum, Europ. Revue, 6 / 1930, S. 478 ff.; B. Mirkine-Guetzevich / G. Scelle, L'union europeenne (Dok.), Paris 1931; G. Scelle, Essai relatif ä l'Union europeenne, Rev. generale de Droit internat. public, 1931, S. 521 ff.; R. Manuel, L'union europeenne, Paris 1932; Carlos Schanzer, II mondo fra la pace e la guerra, Mailand 1932, bes. S. 229 - 245; A. Röhe, Die politisch-geographische Stellung Deutschlands zu dem Paneuropa des Briand-Memorandums, Diss. Königsberg 1933. Schmitt, Das polit. Problem der Friedenssicherung, 1934 (Ndr. 1993), 48 f., weist auf die Konfusion in der Sprache des Memorandums und auf den völlig unklaren Sinn von Schlüsselbegriffen wie „union", „union federate", „coordination", „cooperation" hin. Der Text des Memorandums stammte übrigens von dem Dichter Saint-John Perse (1887 - 1975), damals Kabinettsdirektor Briands; wohl auch deshalb wurde das Memorandum in der literar. Intelligenz Deutschlands u. Frankreichs stark diskutiert, dazu: P. M. Lützeler, Die Schriftsteller und Europa, 1992, 332 - 44, der auch die Nähe der Ideen Briands zu denen Coudenhove-Kalergis zeigt. - Zu Saint-John Perse (Ps. f. Alexis Saint-Leger): E. R. Cameron, Alexis Saint-Leger, in: G. A. Craig/F. Gilbert (eds.), The Diplomats 1919 - 39, Princeton 1953, S. 378 - 405. Eine m. E. zu positive Darstellung v. Briands Unternehmen, die dessen Ablehnung als schweren politischen Fehler deutet, bietet: W. Lipgens, Europäische Einigungsidee 1923 - 1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, HZ, Bd. 203, 1966, S. 46 - 89, 316 363 (mit umfangr. Literaturhinweisen). [14] Vgl. Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, Kap. III, im vorl. Bd. S. 285 ff. Zur raumpolitischen Lage des Empire: A. Demangeon, Das Britische Weltreich, 1926, aus dem Franz.; Kjellen-Haushofer, Die Grossmächte vor und nach dem Weltkriege, 1930, S. 70 -
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
101; M. Langhans-Ratzeburg, Die Grossmächte geojuristisch betrachtet, 1931, S. 57 ff.; H. Lufft, Das Empire in Verteidigung u. Angriff, 1936, bes. S. 13 -16. [15] Dazu u. a.: ZaöRV, 10 / 1940 - 41, S. 443 ff. (Dokumente); Bruns/v. Gretschaninow, Polit. Verträge, III/2, 1942, S. 1118 - 1130; Biscia, La dichiarazione de Panama, Rivista marittima, 1939, S. 201 ff.; Mohr, Die Deklaration von Panama, Marine-Rundschau, 1940, S. 239 ff.; Fenwick, The declaration of Panama, AJIL, 1940, S. 116 ff.; Wright, Rights and duties under International Law as affected by the United States Neutrality Act and the resolutions of Panama, ebd., S. 238 ff.; Scheuner, Die Vereinigten Staaten und Europa. Ein Kapitel zur Monroedoktrin, RVBL, 1940, S. 551 - 54; ders., Die Sicherheitszone des amerikanischen Kontinents, ZVR, 1941, S. 180 ff.; ders., Der Gedanke d. Sicherheit Amerikas auf den Konferenzen von Panama und Habana u. die Monroe-Doktrin, ebd., S. 273 ff.; ders., Amerika, Jb. für Ausw. Politik, 1941, S. 75 ff. - Man darf die eher positive Reaktion Schmitts u. des von ihm erwähnten v. Freytagh-Loringhoven als „politisch naiv" bezeichnen. Zum einen diente die panamerik. 300 sm-Sicherheitszone brit. und französ. Kriegsschiffen als Reduit, von dem aus sie zwar deutsche Schiffe angreifen konnten, in dem sie von diesen aber nicht verfolgt werden durften; dies hätte ja eine Verletzung der amerikanischen „Neutralität" bedeutet u. die entsprechenden Maßnahmen der US-Marine nach sich gezogen. Zum anderen war diese Sicherheitszone nur d. Auftakt zur immer großzügigeren Ausdehnung der „western hemisphere" u. des Geltungsbereichs d. Monroe-Doktrin bis hin auf den gesamten Erdball, so daß die Armeen der Achse die ihnen stets näherrückende „western hemisphere" verletzen und so die amerikanische „Selbstverteidigung" provozieren mußten. Besonders im Atlantik sorgten diese ständig ausgeweiteten „Verteidigungszonen" rasch für Zusammenstöße zwischen der deutschen u. der amerik. Marine, so daß, u. a. nach der Schaffung der amerik. „NeutralitätsPatrouillen-Tätigkeit" (24. 4. 1941) auf 1 000 sm und der damit verbundenen „Schutzüberwachung" der nach England führenden Schiffahrtswege, Roosevelts „undeclared war" immer mehr intensiviert werden konnte. Die von Schmitt mit Reserve gelobte „Raumausgrenzung" war nur die Vorstufe zu einer völligen Entortung und zu einer Globalisierung des Krieges; vgl. vorl. Bd., Beschleuniger wider Willen, FN [5], S. 437 f. u. S. 443 u. Grewe, Kriegsgebiete und Verteidigungszonen, Monatshefte f. Ausw. Politik, Okt. 1941, S. 844 - 848. [16] Die Texte d. betr. Antwortnoten in: ZaöRV, 10 - 1940 / 41, S. 449 ff.; Monatshefte f. Ausw. Politik, 1940, S. 205 ff. [17] Im Punkt 4 der Pariser Erklärung über gewisse Seerechtsregeln in Kriegszeiten (16. 4. 1856) hieß es: „ . . . die Blockaden müssen, um rechtsverbindlich zu sein, effektiv sein, das heißt durch eine Streitmacht aufrecht erhalten werden, welche hinreicht, um den Zugang zur Küste des Feindes wirklich zu verhindern." Nach: Hinz / Rauch, Kriegsvölkerrecht, 1984, 1525, S. 2; die Herausgeber dieser Textsammlung fügen hinzu: „Der Effektivitätsgrundsatz wurde in beiden Weltkriegen weitgehend mißachtet. An Stelle der klassischen Blockade trat zunehmend die sogenannte Fernblockade, die demselben Zweck diente, aber im Grunde nichts anderes war als die Inanspruchnahme ausgedehnter Seekriegszonen, in denen u. a. unbeschränkter U-Boot-Krieg geführt wurde. Dennoch blieben die Seekriegsregeln auch des vorl. Abkommens formell anerkannt u. die Einführung von Kriegszonen u. Sperrgebieten fand keine rechtliche Grundlage als Nachfolge d. klassischen Blockaderechts. Denn alle Beteiligten beriefen sich auf das Rechtsinstitut der Repressalie, gingen also grundsätzlich von der Rechtswidrigkeit d. eingeschlagenen Verfahrens aus." Ähnlich L. Kotzsch, Kriegerische Blockade, in: Strupp / Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch d. Völkerrechts, 1,1960, S. 216 f. Zur Fernblockade vgl. auch: Grewe, Der dritte Wirtschaftskrieg, 1940; ders., Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 744 ff., „Fernblockade u. Wirtschaftskrieg".
Raum und Großraum im Volkerrecht
267
[18] Schmitt hat dabei wohl folgende Werke im Auge: Geßner, De Droit des neutres stumer, Berlin 1876, S. 145 ff.; Bluntschli, Das moderne Völkerrecht d. civilisirten Staaten, 1868, §§ 827 - 40; v. Ullmann, Völkerrecht, 2. Aufl. 1908, S. 490 ff.; Galiani, Dei doveri dei principi neutrali verso i principi guerregianti, e di questi verso i neutrali, Neapel 1782; dt. Ausg.: Recht der Neutralität, v. C. Ad. Cäsar, Leipzig 1796 (gemeint sein könnte auch: Galiano, Exercice du Droit de visite. Exercice et consequences du blocus. Contrebande de guerre. Prises maritimes, in: Journal du Droit international prive, 1898, S. 515 ff.); Tr. Twiss, La theorie de la continuite du voyage, Paris 1877; ders., The law of nations, Oxford / London 1863; v. Martens, Völkerrecht, dt. Ausg. v. Bergbohm, 1886, II, § 124; Rivier, Lehrbuch d. Völkerrechts, 2. Aufl. 1899, § 9, x; Fauchille, Du blocus maritime, Paris 1882; ders, Traite de Droit international public, ed. Bonfils, 1921; Ortolan, Regies internationales et diplomatic de la mer, Ausg. 1868, S. 326 - 68; Hautefeuille, Des Droits et des devoirs des nations neutres en temps du guerre maritime, Paris 1868, II, S. 177 - 274; ders., Questions de Droit maritime international, 1868; ders., Histoire des origines, des progres et des variations du Droit maritime internationale, 1869. - Einen Überblick über das Blockaderecht bis zum I. Weltkrieg leisten: Despagnet / de Boeck, Cours de Droit international public, 1910, S. 975 - 1035; A. Frhr. H. v. Ferneck, Die Reform d. Seekriegsrechts durch die Londoner Konferenz 1908 / 09, 1914, S. 88 - 103; Wehberg, Das Seekriegsrecht, 1915, S. 138 - 172 (die bd. letzten Bände in Stier-Somlos Handbuch d. Völkerrechts, V I - 2a; VI - 2b). [19] Der Art. 34 der deutschen Prisenordnung v. 28. 8. 1939 lautete: „(1) Neutrale Fahrzeuge unter dem Geleit ihrer eigenen Kriegsschiffe unterliegen nicht der Anhaltung und Durchsuchung. (2) Der Befehlshaber des Geleitzugs kann jedoch um Auskünfte und Zusicherungen über die Eigenschaft der von ihm geleiteten Fahrzeuge und über ihre Ladung ersucht werden." (Prisenordnung v. 28. 8. 1939 in: RGBl., Teil I, 3. 9. 1939, S. 1585 - 93, hier S. 1589.) Damit blieb das deutsche Prisenrecht innerhalb des „klassischen" Rahmens der Londoner Seerechtskonferenz v. 1909 und deren Art. 61/62 (vgl. J. Hinz / E. Rauch (Hrsg.), Kriegsvölkerrecht, 3. Aufl. 1984, Nr. 1531, S. 18 f.). Vgl. u. a. auch: W. Kriege, Die neue deutsche Prisenordnung, ZAkDR, 1. 11. 1939, S. 625 ff.; v. Tabouillot, Die neue deutsche Prisenordnung, Dt. Adelsblatt, 21. 11. 1939, S. 1411 ff.; W. G. Grewe, Geleitzüge Nichtkriegführender, Monatshefte f. Ausw. Politik, August 1941, S. 303 ff.; G. Lehmann, Die neue deutsche Prisenordnung, Diss. Würzburg 1941 (b. Wolgast); K. Neuss, Die Entwicklung d. Prisenrechts durch den Zweiten Weltkrieg, Diss. Würzburg 1966, bes. S. 130 ff.; H. Dietz, Völkerrecht und deutsche Prisenrechtsprechung im Zweiten Weltkrieg, 1979, bes. S. 192 ff.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien zuerst in: Zeitschrift für Völkerrecht, 1940, S. 145 - 179. Da wir die zuerst 1939 erschienene „Völkerrechtliche Großraumordnung" in der Fassung d. 4. Auflage von 1941 abdrucken, wird der Aufsatz hier vor diesem größeren Text präsentiert. - Hermann Jahrreiß bedankte sich am 1. 10. 1941 für die Übersendung des Aufsatzes und schrieb u. a.: „(Ihre Abhandlung) verschärft das Profil des neuen Gesichtes und lockert die Schatten auf. Die Ausführungen S. 177 / 178 [hier S. 260 ff.] kommen den ergänzenden Fragen entgegen, die ich im August / Oktober vorigen Jahres in meiner Besprechung des Kieler Vortrags an Sie stellte [Jahrreiß, Völkerrechtliche Großraumordnung. Bemerkungen zu einer Schrift von Carl Schmitt, ZAkDR, 1939, S. 608 f.]. S. 178 oben insbesondere scheint mir in der Tat einer der schwierigen Punkte zu sein. [Hier S. 260 f.]. Die crux einer glückhaften Ergänzung von Herr-
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
schaft und Führung taucht auf, die sich aller Reglementierung entzieht. Der Berliner Pakt ist nun ein weiteres zwischen-reichisches „Sich-vertragen". In seinem Hintergrund lauert freilich ein Problem: ich bin - wie Sie wissen - je länger, je mehr der seit Jahren vertretenen Überzeugung, daß nur der Großraum vom Nord- zum Südkap neben der „westlichen Hemisphäre", „Großasien" und der russischen Welt ein eigenes Leben führen kann. „Europa" als die von Deutschland und Italien zu ordnende Welt muß auf die Dauer so weit gefaßt werden. Dann hätten wir also einen Großraum unter der ordnenden Kraft zweier con-duces . . . " (HSTAD-RW 265 - 199). - Zu Jahrreiß' Auffassung des europäischen Großraums vgl. von ihm: Chamberlains Friedensplan und der englische Weltherrschaftsanspruch. Kölner Universitätsrede v. 30. 1. 1940, 1940; Europa-Afrika. Die Welt zwischen Nordkap und Südkap, 1940; Wandel der Weltordnung. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Völkerrechtslehre von Carl Schmitt, ZöR, 1942, S. 513 - 36 (bes. S. 527 ff.).
Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht Das „Institut für Politik und Internationales Recht an der Universität Kiel" beging im Jahre 1939 sein 25jähriges Bestehen. Aus diesem Anlasse hielt es vom 29. März bis 1. April 1939 in Kiel eine Arbeitstagung ab. Die folgende Abhandlung ist eines der Referate dieser Tagung und stellt dessen authentische Fassung dar. - Die erste Ausgabe dieser Schrift erschien im April 1939 als Band 7 (N. F.) der „Schriften des Instituts für Politik und Internationales Recht an der Universität Kiel". Eine von S. E. Botschafter Graf Vannutelli Rey herausgegebene italienische Übersetzung ist, mit einem Nachwort von L. Pierandrei, 1941 in Rom (Biblioteca dell'Istituto di Cultura Fascista) erschienen. Kap. V (über den Reichsbegriff) ist in der spanischen Zeitschrift „Revista de Estudios Politicos", Madrid 1941 (von F. J. Conde übersetzt) veröffentlicht. Eine französische, japanische und bulgarische Übersetzung sind erschienen oder in Vorbereitung. (1941)
Vorbemerkung Die vorliegende 4. Ausgabe der „Völkerrechtlichen Großraumordnung" enthält außer kleineren Verbesserungen ein neues Schlußkapitel über den „Raumbegriff in der Rechtswissenschaft". Gegenüber Mißverständnissen und Mißdeutungen soll damit ein umfassender, wissenschaftlicher Gesamtzusammenhang in Erinnerung gebracht werden. Ein neuer völkerrechtlicher Gedanke von weltpolitischer Tragweite ist immer der doppelten Gefahr ausgesetzt, auf der einen Seite zu einem hohlen Schlagwort aufgedröhnt, auf der andern in absprecherischem Gemäkel zerredet zu werden. Dagegen gibt es keinen andern Schutz, als den Gedanken weiterzudenken und das mit den Ereignissen wachsende Problem nicht verflachen zu lassen. Im übrigen muß die Abhandlung bleiben, was sie ist. Sie entstand im Frühjahr 1939 mit bestimmten Thesen und Gesichtspunkten in einer bestimmten Situation. Durch den Gang der Ereignisse hat sie manche bedeutende Bestätigung erfahren. Darin liegt ihr Wert als Dokument. Nicht aber soll sie sich mit den Ereignissen in einen Wettlauf einlassen. Daher kann ich die Ergebnisse weiterer Forschungen
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
nicht einfach an sie anhängen. Große neue Fragen, wie das neue Problem der westlichen Hemisphäre und das Verhältnis von Land und Meer im Völkerrecht, bedürfen eines eigenen Ansatzes. Hierfür kann ich, als auf einen ersten Beginn, auf die Ausführungen verweisen, die ich vor Hochschullehrern der Geschichte am 8. Februar 1941 in Nürnberg gemacht habe und die inzwischen in dem Sammelwerk „Das Reich und Europa" bei Koehler und Amelang (Leipzig 1941) erschienen sind. Möge der Leser es recht verstehen, wenn ich der Schrift das Motto gebe: „Wir gleichen Seeleuten auf ununterbrochener Fahrt und jedes Buch kann nicht mehr als ein Logbuch sein". Berlin, den 28. Juli 1941
Carl Schmitt
Allgemeines Das Völkerrecht ist als jus gentium, als ein Recht der Volker, zunächst eine personal, d. h. von der Volks- und Staatsangehörigkeit her bestimmte, konkrete Ordnung. Das dem Volksbegriff zugeordnete völkerrechtliche Ordnungsprinzip ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es ist als Grundsatz heute anerkannt. Jede Ordnung seßhafter, mit- und nebeneinander lebender, gegenseitig sich achtender Völker ist aber nicht nur personal bestimmt, sondern zugleich eine territorial konkrete Raumordnung. Die unentbehrlichen Elemente einer Raumordnung lagen bisher hauptsächlich im Staatsbegriff, der außer einem personal bestimmten Herrschaftsbereich auch, und sogar in erster Linie, eine territorial begrenzte und territorial geschlossene Einheit bedeutet. Von der personalen Seite her wurde der aus dem 18. und 19. Jahrhundert überkommene Begriff des Staates durch den Volksbegriff erschüttert. Hierzu soll im folgenden (unter IV und V) noch Stellung genommen werden. Jedenfalls ist, außer der vom Volksbegriff ausgehenden Überprüfung der bisherigen Völkerrechtslehre, auch eine neue Betrachtung unter den Gesichtspunkten einer Raumordnung erforderlich. Dabei halte ich es für notwendig, über die abstrakten, im Allgemeinbegriff „Staat" liegenden Gebietsvorstellungen hinaus, den Begriff des konkreten Großraums und den ihm zugeordneten Begriff eines völkerrechtlichen Großraumprinzips in die Volkerrechtswissenschaft einzuführen. In dem Wort Großraum spricht sich für uns der Wandel der Erdraumvorstellungen und -dimensionen aus, der die heutige weltpolitische Entwicklung beherrscht. Während „Raum" neben den verschiedenen spezifischen Bedeutungen einen allgemeinen, neutralen, mathematisch-physikalischen Sinn behält, ist „Großraum" für uns ein konkreter, geschichtlich-politischer Gegenwartsbegriff. Herkunft und Ursprung des Wortes „Großraum" liegen, soweit ich bisher feststellen kann, bezeichnenderweise nicht im staatlichen, sondern im technisch-wirtschaftlich-organisatorischen Bereich. An sich sind tausenderlei Wortverbindungen mit „Groß" möglich
Völkerrechtliche Großraumordnung
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und seit langem gebräuchlich: Großmacht, Groß verband, Großhandel usw. Das berühmte Buch Friedrich Naumanns, Mitteleuropa (1915), enthält eine Menge solcher Wortverbindungen: Großstaat, Großbetrieb, Großkörper (S. 177) usw. Naumann sieht auch bereits, daß es sich hier um einen industriell-organisatorischen Vorgang handelt, durch den die individualistische Stufe der kapitalistischen Organisation überwunden wird, um einen, wie er sich ausdrückt, „staatlich-wirtschaftlichen Vergrößerungsvorgang" (S. 173). Das Wort „Großraum" aber erhielt seine erste konkrete, daher für die Begriffsbildung durchschlagende Verwirklichung erst nach dem Weltkrieg, und zwar in der Zusammensetzung ,,Großraumwirtschaft".[l] Damit erscheint ein beliebtes Schlagwort 1, beginnt aber auch der konkrete Gegenwartsbegriff, den wir brauchen. Bestimmend waren vor allem spezifische Formen und typische Ausgestaltungen der Energiewirtschaft, die sich im Zusammenhang mit der fortschreitenden Elektrifizierung und der Gasfernversorgung durch Hüttenund Zechenkokereigas ergaben. Der erste Anfang dieser Entwicklung fällt in die Zeit der Jahrhundertwende, als um 1900 Großkraftwerke und Überlandzentralen gebaut wurden, die bereits um 1913 die eigenen Elektrizitätswerke der kleinen Städte und Gemeinden überholt hatten. Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges beginnt auch die unaufhaltsame Elektrifizierung landwirtschaftlicher und dünn besiedelter Gebiete. Der Weltkrieg 1914 - 1918 hat, wie auf anderen Gebieten so auch hier, Durchschlagskraft und Zeitmaß der Entwicklung nur gesteigert. Aber erst mit der erstaunlichen Leistung der deutschen Großindustrie nach dem Weltkrieg, seit der Erhebung aus dem Zusammenbruch von 1918 / 19, aus kommunistischer Revolution, Inflation und französischer Invasion, seit der sog. Verjüngung und Rationalisierung von 1924 / 25, ist „Großraumwirtschaft" als Wort und Sache zum ersten Male spezifisch klar, infolge der planmäßigen Zusammenarbeit weiträumiger elektrischer Strom- oder Gasrohrnetze und einer „Verbundwirtschaft", d. h. rationaler Ausnutzung der Verschiedenartigkeit der Energieerzeugungsanlagen, rationaler Verteilung der verschiedenartigen Belastungen, Rückgriff auf einander aushelfende Reserven, Ausgleich von gesicherten und ungesicherten Leistungen und von Belastungsspitzen. [2] Damit entsteht eine technisch-industriell-wirtschaftliche Ordnung, in der die kleinräumige Isoliertheit und Vereinzelung der früheren Energiewirtschaft überwunden ist. Die wirtschaftliche Großraumbildung kann dabei, wie vielfach in der Elektrizitätswirtschaft, von unten nach oben entstehen, indem sich kleinräumige Bezirke mehr oder weniger „organisch" zu größeren Komplexen zusammenschließen; sie kann aber auch, wie es für die Ferngasversorgung mit Hütten- und Zechenkokereigas näher liegt, von vornherein durch großräumig geplante Großraumnetze vorgenommen werden, an die sich dann die kleinräumigen Netze anschließen.
1
Vgl. das Schrifttum bei Walter Thiele, Großraumwirtschaft in Geschichte und Politik, Dresden 1938. Dieser, im übrigen tüchtigen Arbeit fehlt der gegenwartsnahe Zusammenhang mit der gegenwärtigen weltpolitischen Umwälzung; sie spricht daher z. B. noch vom Großraum der britischen Weltwirtschaft, obwohl dieses Netz von Verkehrswegen gerade kein wirklicher Großraum ist; vgl. unten Kap. III, S. 285 f.
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
Weitere Ausführungen über technische und wirtschaftsorganisatorische Einzelheiten gehören nicht zu unserem Thema. Der Zweck unseres Hinweises auf den Entwicklungszusammenhang von Großraum, Großraumwirtschaft und Energiefernversorgung ist nicht, das Wort auf den wirtschaftlich-industriell-technischen Bereich zu beschränken. Im Gegenteil: in diesem Bereich hat sich nur, in einer Zeit staatlicher Ohnmacht, ein organisatorischer Prozeß von allgemeiner Bedeutung vollzogen, dessen Prinzip wir freilegen, um es für die völkerrechtliche Neuordnung fruchtbar zu machen. Es ist freilich kein Zufall, daß auch die bereits völkerrechtlich bedeutungsvollen theoretischen und praktischen Verwirklichungen des Großraumgedankens zunächst in der wirtschaftlich-organisatorischen Sphäre liegen. Darum müssen hier insbesondere die praktische Arbeit und Veröffentlichungen des Reichsamtsleiters und Gesandten Werner Daitz 2 und des Staatsrats Ministerialdirektor Helmuth Wohlthat3 ausdrücklich genannt werden. Auch die wehrgeographische Arbeit von Oberst Ritter von Niedermayer gehört hierhin 4. Für unseren Großraumbegriff wird jedenfalls hier schon deutlich, daß der mathematischneutrale, leere Raumbegriff überwunden ist und eine qualitativ-dynamische Größe an seine Stelle tritt: Großraum ist ein aus einer umfassenden gegenwärtigen Entwicklungstendenz entstehender Bereich menschlicher Planung, Organisation und Aktivität. Großraum ist für uns vor allem ein zusammenhängender Leistungsraum 5.
I. Beispiele unechter oder überholter Raumprinzipien Irgendwelche Raum- und (verhältnismäßig) auch Großraumvorstellungen sind selbstverständlich zu allen Zeiten im Staatsrecht wie im Völkerrecht wirksam gewesen. Im Zeitalter der kolonialen und imperialistischen Expansion haben sich „Interessensphären" aller Art herausgebildet. Dazu kommen territoriale Erwerbsansprüche und Vorzugsrechte, wie sie für das Hinterland (back country), den territorialen Zusammenhang (contiguity oder propinquity),[3] schließlich für die Arktis im sogenannten „Sektorenprinzip" erhoben worden sind6. Doch ist ein derartiger territorialer Erwerbsanspruch noch kein Raumordnungsprinzip. 2
Das Selbstbestimmungsrecht Europas, Dresden 1940. Großraum und Meistbegünstigung in „Der Deutsche Volkswirt" vom 23. Dezember 1938. Der neue deutsch-rumänische Wirtschaftsvertrag in der Zeitschrift „Der Vierjahresplan", 20. April 1938. Neuordnung in Europa und Deutscher Außenhandel in „Der Deutsche Volkswirt" vom 10. Mai 1940. 4 Z. B. Nord- und Ostsee in „Das Meer", VI, Kleine Wehrgeographie, 1938, Wehrgeographie am Beispiel Sowjetrußlands in der Ztschr. d. Gesellschaft f. Erdkunde zu Berlin, 1940, S. Iff. 5 Die Wortprägung „Leistungsraum" entnehme ich dem bedeutenden Werk von Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, Leipzig 1940, S. 129. Vgl. die weiteren Ausführungen in Kap. VII „Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft" unten S. 314 ff. 3
Völkerrechtliche Großraumordnung
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In der völkerrechtswissenschaftlichen Systematik und Begriffsbildung ist die Behandlung der wichtigen Frage völkerrechtlicher Raumordnungsprinzipien i m letzten Jahrhundert völlig vernachlässigt worden. Das erklärt sich durch die Herrschaft eines leeren Gesetzes- und Vertragspositivismus, der nichts anderes war, als das juristische Instrument der Legalität und Legitimität des status quo, und zwar hauptsächlich des status quo von Versailles. Die Grenzziehungen der Pariser Vörortverträge von 1919 waren aber derartig sinn- und ordnungswidrig, daß die Wissenschaft des Völkerrechts in einem ideenlosen Vertragspositivismus abdanken mußte, wenn sie sich auf die bloße Systematisierung dieser Vertragsinhalte beschränkte. Unter „natürlichen Grenzen" verstand man nicht Vorstellungen des inneren Maßes als Garantie des Friedens, sondern nur noch den Fall, daß in positiven Grenzziehungen zufallig ein Fluß, ein Gebirge, eine Eisenbahn usw. die Grenze bildete 7 . In der Rechtslehre herrschte zwar eine sogenannte „Raumtheorie". Diese setzte aber trotz ihres Namens das Gegenteil einer konkreten Raumvorstellung voraus und faßte Land, Boden, Territorium, Staatsgebiet unterschiedslos als einen „Raum" i m Sinne einer leeren Flächen- und Tiefendimension mit Lineargrenzen auf 8 . I m Völkerrecht des 19. Jahrhunderts wurde noch oft als völkerrechtliche Lehre vorgetragen, daß das Gleichgewicht der Staaten, wenn nicht die eigentliche Grundlage, so doch eine zusätzliche und zufällige Garantie des Völkerrechts sei 9 . Dieser 6 Das Sektorenprinzip für die Arktis besagt, daß „alle Landgebiete, selbst die noch nicht entdeckten, welche innerhalb des sphärischen Dreiecks liegen, dessen Ecken der Nordpol und die westlichsten und östlichsten Punkte der Küsten der Uferstaaten des nördlichen Polarmeeres bilden, zu dem Staatsgebiet des betreffenden Uferstaates gehören, beziehungsweise daß letzterer ein Vorzugsrecht auf deren Erwerb hat"; so Böhmert in seiner Behandlung dieses und anderer Prinzipien (contiguity, propinquity) für den Erwerb von Gebieten im Archiv für Luftrecht, Bd. VIII (1938), S. 272. Ferner Ernst Schmitz und Wilhelm Friede im Juliheft 1939 der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. IX, S. 219 ff., „Souveränitätsrechte in der Arktis"; auch unten (unter II) S. 280 f. 7 Zum Beispiel der Artikel „Staatsgrenzen" im „Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie" von Karl Strupp, Bd. II, S. 615, oder Fauchille, Trait£ de droit international public, I 2 (1925), S. 108 (§ 486 ff.). Ferner Paul de Lapradelle, La Frontifcre, Paris 1928, und Hermann Martinstetter, Das Recht der Staatsgrenzen, Berlin 1939. 8 Die bekanntesten Vertreter der herrschenden sog. Raumtheorie sind Fricker, Vom Staatsgebiete, Tübingen 1867, Gebiet und Gebietshoheit, in den Festgaben für Schäffle, 1901, Die Persönlichkeit des Staates, Tübingen 1901; Rosin, Das Recht der öffentlichen Genossenschaft, 1886, S. 46: Zitelmann, Internationales Privatrecht, I (1897), S. 82 ff.; Meyer-Anschiitz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, S. 236; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394 ff.; Liszt-Fleischmann, Das Völkerrecht, 1925, S. 26, 129; F. Giese, Gebiet und Gebietshoheit, Handbuch des deutschen Staatsrechts, I, 1930, S. 226; weiteres Schrifttum bei W. Harnel, Das Wesen des Staatsgebietes, Berlin, 1933, S. 89, Anm. 302; Meyer-Anschütz, a. a. O. S. 236 /7. Zu der reinen Kompetenztheorie braucht hier nicht Stellung genommen zu werden. Gegen Hamels Dinglichkeitstheorie Hermann Held, Gebiet und Boden in den Rechtsgestalten der Gebietshoheit und Dinglichkeit, Breslau 1937. Weiteres zu dieser „Raumtheorie" unten S. 314 ff., „Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft". 9
Zum Beispiel A. W. Heffter, Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, 3. Ausgabe, Berlin, 1855, § 5: Zufällige Garantie des Völkerrechts: Das Gleichgewicht der Staaten. Auch 18 Staat, Großraum, Nomos
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
Gedanke enthielt zweifellos auch Elemente einer gewissen Raumordnung, er schloß wenigstens die Vorstellung konkreter Raumverhältnisse nicht einfach als unjuristisch aus. Darüber ist unten, bei der Erörterung der Gesamtstruktur des bisherigen, staatlich gedachten Völkerrechts (unter V) noch zu sprechen. Ein eigentliches Raumprinzip jedoch ist in den Gleichgewichtsvorstellungen nicht enthalten. Stärker und unmittelbarer ist ein anderes Prinzip, das der „natürlichen Grenzen", raumhaft bestimmt. Es hat jahrhundertelang der französischen Ausdehnungspolitik als Vorwand gedient. Es war gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch als ein „vernünftiges" Rechtsprinzip weithin anerkannt und hat als solches auch dem jungen Fichte eingeleuchtet. [4] Durch den offensichtlichen Mißbrauch, den Frankreich zu Eroberungszwecken, insbesondere zum Erwerb des linken Rheinufers, mit diesem Prinzip der „natürlichen Grenzen" getrieben hat, mußte es seine Überzeugungskraft einbüßen, und seit 1848 hat es jede Geltung als eigentlicher völkerrechtlicher Grundsatz verloren. Dennoch spielt es bei wichtigen Grenzveränderungen, in den Verhandlungen über Gebietsabtretungen bei Friedensschlüssen und bei ähnlichen Anlässen in der Verbindung mit strategischen, wirtschaftsgeographischen und anderen Vorstellungen immer wieder eine praktische Rolle 10 . Manche seiner Argumente und Gesichtspunkte erscheinen uns heute im Lichte der neuen, von Karl Haushofer geführten, geopolitischen Wissenschaft in neuer Bedeutung11. In der Gestalt aber, in der die französische Expansionspolitik es geltend zu machen versuchte, ist es zweifellos erledigt, und gerade zwei hervorragende französische Gelehrte, Th. Funck-Brentano und Albert Sorel, haben es in einem vorzüglichen, von der Academie Fransaise preisgekrönten Grundriß des Völkerrechts in Grund und Boden kritisiert 12 . Die Lehre von den natürlichen Grenzen war überwiegend geographisch-geopolitisch und überwiegend staatlich bestimmt. Vom Standpunkt des Volkes und der wachsenden Bevölkerung eines Landes aus ist ein anderer Grundsatz, das Recht der Völker auf Raum und Boden, insbesondere das Recht bevölkerungsstarker geFranz von Holtzendorff widmet dem „sogenannten Gleichgewicht der europäischen Staaten" noch einen besonderen Abschnitt in Band 2 (Völkerrechtliche Verfassung und Grundordnung der auswärtigen Staatenbeziehungen), 1887, § 4, S. 14 ff. 10 Vgl. in Bruns, Fontes Juris Gentium, Serie B (Handbuch der diplomatischen Korrespondenz der europäischen Staaten), Bd. I, Teil I, S. 339 ff. (Savoyen und Nizza 1860, Schleswig, Venetien, Südtirol, das linke Rheinufer usw.); ferner z. B. Fauchille, Trait6 de Droit International, 12 (1925), S. 100 ff. (§ 486). 11 Karl Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Berlin 1927. Aus der neuesten Zeit vgl. besonders Kurt O. Rabl, Staat und Verfassung, Zeitschr. f. öffentl. Recht XVIII (1938), S. 213 ff.; Ernst Wolgast, Völkerrechtsordnung und Raumordnung, Zeitschrift f. Völkerrecht, XXII (1938), S. 25 ff., der Talleyrands Europaplan (Straßburger Denkschrift von 1805) behandelt. K. O. Rabl hat mich auf die wichtige Abhandlung von Hassinger, Das geographische Wesen Mitteleuropas, Mitteilungen der K. K. Geographischen Gesellschaft Wien, 1917, aufmerksam gemacht. Im übrigen kann hier das eigentlich geographische Schrifttum nicht weiter herangezogen werden. 12 Präcis du Droit des Gens, 3. Aufl. Paris 1900, S. 17 ff., Du systdme des fronti&res naturelles.
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genüber bevölkerungsschwachen Ländern öfters genannt worden. [5] Namentlich von italienischer und von japanischer Seite wurde es im Laufe der letzten Jahrzehnte oft geltend gemacht. Aus dem Schrifttum möchte ich nur die kurze, aber inhaltreiche und fesselnde Abhandlung eines italienischen Gelehrten, des DanteForschers Luigi Valli, „Das Recht der Völker auf Land", besonders nennen13. Valli bezeichnet diesen Anspruch als das „demographische Recht". Die sachlichen Erwägungen, auf denen es beruht, sind zweifellos beachtlich. Sie lassen sich keineswegs in der Weise abtun, wie es vor kurzem gegenüber japanischen Ansprüchen ein bekannter amerikanischer Gelehrter, W. W. Willoughby, versucht hat, indem er sagt, die Industrialisierung, die zu einer Steigerung der Bevölkerungsziffer führe, erziehe die Völker auch zu einem höheren Lebensstandard, eben aber dadurch sinke die Geburtenziffer von selbst, bis dieser Standard haltbar wäre 14 . Ein solches Argument erscheint uns geradezu unsittlich und unmenschlich, doch ist es für eine bestimmte liberal-individualistische weltanschauliche Haltung überaus kennzeichnend. Im Zusammenhang unserer Erörterung aber kann jenes „demographische" Recht auf Land zwar als eine allgemeine Rechtfertigungsgrundlage territorialer Forderungen angesehen werden, nicht jedoch in einem spezifischen Sinne als ein konkretes völkerrechtliches Großraumprinzip, das erkennbare Abgrenzungen und Maßstäbe in sich enthält. Außer Betracht bleiben hier ferner die im Rahmen des Genfer Völkerbundes und des Versailler Systems entstandenen sogenannten „Regionalpakte". Die Bezeichnung stammt aus Artikel 21 der Genfer Völkerbundssatzung, der „ententes regionales" zuläßt. Die Genfer Völkerbundspolitik und ihre Jurisprudenz hat die danach benannten Verträge als „ein hervorragendes Mittel zur Sicherung des europäischen Friedens" empfohlen. Die sogenannte Kleine Entente zwischen der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien, die sich noch einen besonderen Organisationspakt (vom 16. Februar 1933) gegeben hatte, ist wohl das wichtigste Beispiel; sie galt sogar als das Muster eines solchen Regionalpaktes. Nach der französischen Denkschrift zur Völkerbundsreform vom 14. August 1936 ist „unter dem Ausdruck regionale Entente jede Gruppierung von Mächten zu verstehen, deren Gemeinschaft sich auf die geographische Lage oder (!) auf eine Interessengemeinschaft gründet" 15 . Demnach bezeichnet das Wort „regional" hier nur eine ganz allgemeine, äußerliche geographische Anknüpfung. Es enthält nicht etwa die Forderung einer neuen, sinnvollen Raumordnung, sondern meint nur Beistands-, Bündnisoder sonstige politische Verträge alten Stils, die in der Sache dazu dienen, den ge13 Deutsche Ausgabe Hamburg 1934. Um die ganze Entschluß- und Hilflosigkeit der Genfer Methoden der Behandlung solcher Fragen zu erkennen, vergleiche man damit die Verhandlungen der Weltkonferenz für Bevölkerungsfragen in Genf vom 29. August bis 3. September 1927, veröffentlicht in Proceedings of the World Population Conference, London 1927, bes. S. 257. 14 Foreign Rights and Interests in China, Baltimore, 1927, S. 409 (the birth rate will decrease until these standards become maintenable). 15 Zeitschrift für ausl. öff. Recht und Völkerrecht, Bd. VII (1937), S. 149.
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rade vom Standpunkt einer Raumordnung sinnlosen status quo des Versailler Systems in irgendwelchen „Regionen" aufrechtzuerhalten. Auf deutscher Seite haben drei hervorragende Völkerrechtsjuristen - Paul Barandon, Freiherr von FreytaghLoringhoven und Asche Graf von Mandelsloh - die inneren Widersprüche und den Mangel jedes wirklichen Ordnungsgedankens dieser hauptsächlich dem französischen Sicherheitsbedürfnis entsprungenen Art von Verträgen nachgewiesen16. Mit dem Versailler System und dem Genfer Völkerbund ist diese Art von Verträgen nicht nur geschichtlich überholt, sondern auch als völkerrechtlich interessanter neuer Typus entfallen. Nur der Locarno vertrag vom 16. Oktober 1925 verdient noch ein Wort der Erwähnung. [6] Er hätte ein Ansatz zu einer auf dem Gedanken guter Nachbarschaft beruhenden regionalen Befriedung werden und insofern, wenn auch nicht gerade ein eigentliches Raumordnungsprinzip, so doch echte Ordnungselemente enthalten können, namentlich dann, wenn die einseitige Entmilitarisierung der deutschen Westgrenze aufgehoben worden wäre. Die deutsche Regierung hat den ehrlichen Versuch gemacht, alle diese Befriedungs- und Ordnungselemente des Locarnovertrages zur Geltung zu bringen. Aber das Bündnis Frankreichs mit der Sowjetunion hat die regional-nachbarschaftliche Locarnogemeinschaft zerstört 17. So ist im ganzen festzustellen, daß die Regionalpakte kaum aus äußerlich geographischen Gründen den Namen verdienen, den sie tragen 18, viel weniger, daß sie als Ausdruck eines neuen konkreten Raumordnungsgedankens anzusehen sind. Ihr politischer Gedanke hat auch mit dem ursprünglichen Grundgedanken der amerikanischen Monroelehre nicht das geringste gemeinsam. Nur aus dem äußerlichen, aber für den juristischen Formalismus der Genfer Jurisprudenz typischen Grunde, weil in Artikel 21 der Genfer Völkerbundssatzung die Monroe16
Paul Barandon, Das Kriegsverhütungsrecht des Volkerbundes, HI/4, S. 279 f., Berlin 1933; Freiherr v. Freytagh-Loringhoven, Die Regional vertrage, Fünf Vorlesungen an der Haager Akademie für Völkerrecht, Deutsche Ausgabe, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, herausgegeben von Reichsminister Dr. Hans Frank, Gruppe Völkerrecht, Nr. 4, München und Leipzig 1937; Asche Graf von Mandelsloh, Politische Pakte und völkerrechtliche Ordnung, Sonderdruck aus „25 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft", Bd. 3, Berlin 1937. Vgl. auch G. A. Walz, Inflation im Völkerrecht, Beiheft zu Bd. XXIII der Zeitschrift für Völkerrecht, Berlin 1939, S. 54 f., und Georg Hahn, Grundfragen europäischer Ordnung (Schriften des Instituts für Politik und Internationales Recht an der Universität Kiel, N. F., Bd. 5), Berlin-Wien 1939, S. 160. 17 Fritz Berber, Locarno, Eine Dokumentensammlung mit einer Einleitung des Botschafters von Ribbentrop, Berlin 1936, besonders S. 162 f.; Carl Schmitt, Sprengung der LocarnoGemeinschaft durch Einschaltung der Sowjets, Deutsche Juristen-Zeitung 1936, S. 377 ff. Georg Hahn, a. a. O., S. 112 ff. Zur Bewertung des Vertragswerkes von Locarno vor allem die ausgezeichnete Darlegung von Asche Graf von Mandelsloh, a. a. O., S. 23 ff. 18 Treffend die Bemerkung des belgischen Delegierten Rolin in der VI. Vollversammlung des Völkerbundes (Actes de la VI. Ass. pl£n. p. 118; Bruns, Politische Verträge II 2 , S. 465): „Quant aux pactes de s6curit£, on les a appell£s des ententes regionales. II est vrai que dans une certaine mesure ils möritent cette denomination, puisqu'ils visent ä maintenir la paix suivant les termes du Pacte et puisqu'ils concernent certaines regions; mais pour le surplus, par leur contenu, notamment, ils different compl&tement des ententes regionales auxquelles, les annees pr£c6dentes, les Assemblies avaient accord^ leur Sympathie."
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doktrin als Beispiel einer „entente regionale" genannt ist und dort als mit der Satzung „nicht unvereinbar" bezeichnet wird, konnten jene Regionalpakte des Versailler Systems mit der Monroedoktrin überhaupt in eine gedankliche Verbindung gebracht werden 19.
II. Die Monroedoktrin als der Präzedenzfall eines völkerrechtlichen Großraumprinzips Die 1823 verkündete amerikanische „Monroe Doctrine" ist in der neueren Geschichte des Völkerrechts das erste und das bisher erfolgreichste Beispiel eines völkerrechtlichen Großraumprinzips.[7] Sie ist daher für uns ein einzigartiger, wichtiger „precedent". Von ihr, nicht von der Lehre der „natürlichen Grenzen" oder dem „Recht auf Land" oder gar den eben erwähnten Regionalpakten, ist auszugehen, wenn der Rechtsgedanke eines völkerrechtlichen Großraumprinzips zur Erörterung steht. Freilich ist ihr in den verschiedenen Abschnitten ihrer Entwicklung ein oft sehr verschiedener Inhalt gegeben worden. Ihre Geschichte kennt Zeiten der Verdunkelung und sogar der Verfälschung ihres ursprünglichen Sinnes, der mit drei Stichworten: Unabhängigkeit aller amerikanischen Staaten; Nichtkolonisation in diesem Raum; Nichtintervention außeramerikanischer Mächte in diesem Raum, kurz gekennzeichnet ist. Die vielfachen Ausweitungen und Wandlungen im Laufe späterer Entwicklungen vermögen aber an dieser ursprünglichen Bedeutung und ihrer Präzedenzkraft nichts zu ändern. Auch daß ein so großer deutscher Staatsmann wie der Fürst Bismarck sich sehr ungehalten über die Monroedoktrin geäußert und von amerikanischer Anmaßung und einem Gespenst gesprochen hat,[8] braucht uns nicht zu hindern, den völkerrechtlich bedeutsamen und fruchtbaren Kern der ebenso merkwürdigen wie erfolgreichen „Doktrin" zu untersuchen, um so weniger, als die heftigsten Äußerungen Bismarcks in die Zeit der beginnenden imperialistischen Fälschungen Ende des 19. Jahrhunderts (1898) fallen 20 . In den letzten Jahrzehnten sind wichtige und aufschlußreiche Versuche sowohl einer „Universalisierung" der Doktrin wie auch ihrer Übertragung auf bestimmte andere Erdräume, wie Australien und Ostasien, aufgetreten, von denen im folgenden noch zu sprechen ist. Unser Versuch, den Gedanken völkerrechtlicher Großraumprinzipien in die Völkerrechtswissenschaft einzuführen, findet jedenfalls hier seinen besten Ansatz und Ausgangspunkt. Dabei sei von Anfang an betont, daß es sich für uns nicht etwa darum handelt, die amerikanische Monroedoktrin als solche zu übernehmen und auf andere Län19
Freiherr v. Freytagh-Loringhoven, a. a. O., S. 26 f., derselbe, Die Satzung des Völkerbundes (Kommentar), 1926, S. 221. 20 Vom amerikanischen Standpunkt die Darstellung bei Dexter Perkins, The Monroe Doctrine, Bd. 3, 1867 - 1907, Baltimore 1937, S. 301 / 302.
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der und Zeiten einfach zu übertragen. Unsere Aufgabe geht vielmehr dahin, den in ihr enthaltenen völkerrechtlich brauchbaren Kerngedanken eines völkerrechtlichen Großraumprinzips sichtbar und dadurch auch für andere Lebensräume und andere geschichtliche Situationen fruchtbar zu machen. Es soll nicht etwa die umfangreiche Literatur zur Monroedoktrin noch um eine weitere Abhandlung vermehrt werden, und wir möchten uns nicht darauf einlassen, das wichtige Kernproblem dieser Doktrin zu zerreden oder unter historischem und juristischem Material zu verschütten. Eine völkerrechtswissenschaftliche Begriffsklärung, wie wir sie in Angriff nehmen, muß sich vielmehr ihren Weg durch das umfangreiche Material und durch die zahlreichen geschichtlichen und juristischen Kontroversen bahnen, um den Kern, ein völkerrechtliches Großraumprinzip, in seiner ganzen Einfachheit und Größe herauszustellen. Von der Monroedoktrin steht fest, daß sie, wie es in der üblichen Formulierung heißt, „ein Bestandteil der traditionellen Politik der Vereinigten Staaten mit Bezug auf die amerikanischen Kontinente" ist. Man hat nun die Frage erhoben und viel erörtert, ob die Monroelehre ein eigentlicher Rechtsgrundsatz, ein „legal principle", oder eine „nur politische Maxime" der Regierung der Vereinigten Staaten ist. Wird die Frage mit dieser typischen Alternative von Recht und Politik gestellt, so ist der Sinn eines derartigen Prinzips bereits verfehlt. Dann bleibt nichts übrig, als die zahllosen Äußerungen amerikanischer Staatsmänner nebeneinander zu stellen, die manchmal ebenso selbstverständlich von der Monroedoktrin als einem Grundsatz des amerikanischen „public law" und einem rechtswirksamen Vorbehalt ausgehen, der allen von den Vereinigten Staaten geschlossenen Verträgen innewohnt, wie sie andererseits auch wieder betonen, daß die Monroedoktrin kein eigentlicher Rechtsgrundsatz des Völkerrechts sei 21 . Das Bestreben, den eigentlichen völkerrechtlichen Charakter der „Doktrin" zu verneinen, erklärt sich daraus, daß sie einseitig in der Hand der Vereinigten Staaten und von der Zustimmung der anderen Staaten unabhängig bleiben soll 22 . Läßt man sich auf jene Fragestellung ein, so kann man ferner, außer den Erklärungen amerikanischer Staatssekretäre, eine große Reihe der Namen von Völkerrechtsgelehrten, die sich unter dieser Fragestellung geäußert haben, mit Pro und Kontra nebeneinander aufzählen 23. Als Schluß 21
Man vergleiche zum Beispiel Staatssekretär Olney 1895 (Reuben Clark, Memorandum on the Monroe Doctrine, Washington 1930, S. 160): die Monroedoktrin ist „a doctrine of American public law, well founded in principle and abundantly sanctioned by precedent"; dagegen Staatssekretär Knox 1911 (Reuben Clark, S. 175 / 176): die Monroedoktrin wird respektiert, solange wir imstande sind, sie aufrechtzuerhalten; „it does not depend upon technical legal right, but upon policy and power"; oder Staatssekretär Hughes 1923 (Reuben Clark, S. 179): die Monroedoktrin ist „only a phase of American policy in this hemisphere"; nur ein „principle of opposition to action by non-American powers". 22 Vgl. die Erklärungen des Senators Root 1914 und des Staatssekretärs Hughes 1923, American Journal of International Law XVII (1923), S. 611. Inzwischen soll die Monroedoktrin durch die Deklaration von Lima „multilateralen" Charakter erhalten haben, vgl. Fenwick, American Journal of International Law XXXIII (1939), S. 266. Dagegen U. Scheuner, Zeitschr. f. Völkerrecht XXIV (1940), S. 193.
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einer solchen, von einer falsch gestellten Alternative ausgehenden Kontroverse ergibt sich dann unvermeidlich die ausweichende Antwort, daß die Monroedoktrin zwar nicht gerade einen rechtlichen, aber doch mindestens einen „quasi-rechtlichen" oder, wie C. C. Fenwick salomonisch sagt, „mindestens semi- legalen" Charakter habe 24 . Um nicht in derartigen falsch gestellten Vorfragen steckenzubleiben, ist es zweckmäßiger, auf einige einfache und unbestreitbare Tatsachen zu achten, die ich in drei Punkten kurz aufzählen will: 1. Wohl alle wichtigen Lehrbücher und Wörterbücher des Völkerrechts behandeln die Monroelehre ohne Rücksicht darauf, ob ihr „rechtlicher" Charakter bejaht wird oder nicht. [9] Sie erscheint in jedem bedeutenden System des Völkerrechts, wobei es eine aufschlußreiche weitere Frage ist, welcher Standort ihr im System zugewiesen wird, ob sie zum Beispiel, wie das der amerikanischen Tradition entspricht, beim Recht auf nationale Existenz und Selbstverteidigung (z. B. Calvo, §143; Fenwick, S. 169) behandelt wird; oder bei der Lehre von der Intervention (z. B. Despagnet, § 208); oder bei den Staatenverbindungen (Santi Romano, Corso di Diritto Internazionale, S. 79). Für eine beachtliche neue „Schule" des Völkerrechts, die von dem berühmten chilenischen Juristen Alejandro Alvarez geführt wird, ist die Monroelehre - allerdings nur in ihrem echten und ursprünglichen, d. h. noch nicht imperialistisch verfälschten Inhalt - sogar die Rechtsgrundlage eines besonderen, kontinental-amerikanischen Völkerrechts geworden 25 . 2. In der Praxis der völkerrechtlichen Verträge haben es die Vereinigten Staaten seit der ersten Haager Friedenskonferenz (1899) 26 mit großem Erfolg vor allem gegen englischen Widerstand durchgesetzt, daß ausdrücklich oder stillschweigend der „Vorbehalt der Monroedoktrin" immer gilt. Das ist für eine wirklichkeitsnahe Völkerrechtswissenschaft deshalb von entscheidender Bedeutung, weil das Völkerrecht in besonders hohem Grade ein Vorbehaltsrecht ist. Vor normativistischen Verallgemeinerungen und universalistischen Auflösungen findet die Wirklichkeit schließlich in solchen Vorbehalten ihre eigentliche Stätte. Bei der Unterzeichnung des Kellogg-Paktes von 1928 haben die Vereinigten Staaten den Vorbehalt der 23 Das tut zum Beispiel Fauchille in seinem Lehrbuch des Völkerrechts, TraitS de Droit International Public, I, 1 (1922), S. 646, § 324. 2 4 Fenwick, International Law, 2. Aufl. 1934, S. 178. Vgl. auch oben Anm. 18. 25 Alvarez hat seine Gedanken seit 1910 (Le Droit International Am&icain) wiederholt dargelegt, zuletzt in der Schrift Le Continent Am6ricain et la Codification du Droit International, Une nouvelle „Ecole" de Droit des Gens, Paris 1938, insbesondere S. 82/ 83. Dazu Carl Bilfingen Volkerbundsrecht gegen Völkerrecht, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr. 6, München 1938, S. 19 ff., Heinrich Triepel, Die Hegemonie, Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938, S. 300 ff., Scheuner, a. a. O., S. 186 f. 26 Die eindrucksvolle Schilderung der Vorgänge auf dieser Haager Friedenskonferenz, die Heinrich Pohl in seinem Aufsatz „Der Monroe-Vorbehalt" (Festgabe der Bonner Juristischen Fakultät für Paul Krüger, 1911, abgedruckt in Pohls Gesammelten Aufsätzen, Berlin 1913, S. 132 ff.) gegeben hat, ist auch heute noch lesenswert und keineswegs überholt.
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Monroe Doctrine zwar nicht ausdrücklich angebracht, obwohl auch das im Senat verlangt wurde; es bestand aber kein Zweifel, daß dieser Vorbehalt, wie bei jedem von den Vereinigten Staaten geschlossenen Vertrage, so auch hier sub silentio selbstverständlich ist, weil die Monroelehre als ein Ausdruck des unveräußerlichen Rechtes der Selbstverteidigung gilt. Der Staatssekretär Kellogg selbst sagte in einer Rede vor der Amerikanischen Völkerrechtlichen Gesellschaft am 28. April 1928: „This right (sc. das in der Monroelehre enthaltene Recht der Selbstverteidigung) is inherent in every sovereign state, and is implied in every treaty." Die unten (unter III) noch zu erwähnenden englischen Vorbehalte zum Kellogg-Pakt werden sogar als „britische Monroe Doctrine" bezeichnet27. 3. Die Satzung des Genfer Völkerbundes hat in Artikel 21 dem Vorbehalt der Monroedoktrin den Vorrang vor ihren eigenen Normen zuerkannt. [10] Die Folge ist, daß der Genfer Völkerbund aus Respekt vor der Monroelehre „auf seiner ganzen amerikanischen Seite hinkt" 2 8 . Das ist überaus merkwürdig, denn dieser Völkerbund und insonderheit auch dieser Artikel 21 seiner Satzung wurde von dem amerikanischen Präsidenten Wilson unter der Drohung, daß andernfalls die Vereinigten Staaten nicht beitreten würden, den damaligen europäischen Siegermächten abgerungen; dann aber sind die Vereinigten Staaten doch nicht beigetreten, obwohl Artikel 21 blieb 29 . Für unsere Betrachtung genügen diese drei Punkte, um die völkerrechtswissenschaftliche Beachtlichkeit der Monroedoktrin zu begründen. Schwieriger aber als die pseudojuristische Kontroverse darüber, ob die Monroelehre ein rechtlicher oder nur ein politischer Grundsatz ist, sind die Bedenken und Hemmungen, die sich aus der anscheinend uferlosen Wandelbarkeit ihres Inhaltes ergeben. Die Monroedoktrin wurde um die Jahrhundertwende aus einer defensiven Abwehr der Interventio27
Über den Vorbehalt der Monroe Doctrine beim Kellogg-Pakt: David Hunter Miller, The Peace Pact of Paris, New York 1928, S. 118, 123; James T. Shotwell, War as an instrument of National Policy, New York 1929, S. 20 f., 75, 123, 169, 272; J. B. Whitton, La Doctrine de Monroe et la Society des Nations (Vortrag vom 13. Mai 1932), Institut des Hautes Etudes internationales, Dotation Carnegie, Bd. 8, S. 174 f.; C. Barcia Trelles, La Doctrine de Monroe dans son dSveloppement historique, particuli&rement en ce qui concerne les relations interamdricaines, Recueil des Cours de l'Acad6mie de Droit international, Bd. 32 (1930), S. 557; Hans Wehberg, Die Ächtung des Krieges (Deutsche Ausgabe), Berlin 1930, S. 112, gibt die interessante Begründung, daß „Amerika Streitfragen, betreffend die Monroedoktrin, nicht als solche rein nationaler Politik ansieht". Der Staatssekretär Henry L. Stimson sagte in einer Rede vom 8. August 1932, daß das Recht der Selbstverteidigung (und damit auch die Monroedoktrin) die einzige Schranke des Kellogg-Paktes sei; vgl. dazu Asche Graf von Mandelsloh, Die Auslegung des Kellogg-Paktes durch den amerikanischen Staatssekretär Stimson, Zeitschrift für ausl. öffentl. Recht und Völkerrecht, III (1935), S. 617 ff. Am ausführlichsten die Darstellung der Verhandlungen im amerikanischen Senat bei Andre N. Mandelstam, L'interpretation du pacte Briand-Kellogg par les gouvernements et les parlements des Etats signataires, Paris 1934, S. 32 - 95. 28
So Carl Schmitt, Der Volkerbund und Europa, 1928, abgedruckt in „Positionen und Begriffe", Hamburg 1940, S. 88 f. Carl Bilfingen a. a. O., S. 22 ff. 2 9 Jean Ray, Commentaire du Pacte de la Soci6t6 des Nations, 1930, S. 571 f.
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nen raumfremder Mächte zu einem aggressiven, imperialistisch gedeuteten Ausdehnungsgrundsatz, um dann seit 1934 diesen imperialistischen Charakter wenigstens offiziell wieder einzuschränken. Sie wurde aus einem Grundsatz der Nichtintervention und der Ablehnung fremder Einmischungen zu einer Rechtfertigung imperialistischer Interventionen der Vereinigten Staaten in andere amerikanische Staaten. Man hat sie sowohl für eine Politik strengster Isolierung und Neutralität der Vereinigten Staaten wie auch für eine in alles sich einmischende Welt- und Weltkriegspolitik benutzen wollen. Die Amerikaner streiten darüber, ob man sie als die Grundlage oder aber im Gegenteil als das Haupthindernis einer die amerikanischen Kontinente umfassenden Solidarität ansehen soll 30 . In ihrem großen, die ganze westliche Halbkugel umfassenden Rahmen hat sich außerdem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine besondere, Kuba und Westindien betreffende Karibische Doktrin" entwickelt, deren Verhältnis zur Monroedoktrin nicht ganz klar ist.[ll] Derartig viele, verschiedenartige und widersprechende Anwendungs- und Auslegungsmöglichkeiten geben der „Doktrin" gegenüber den wechselnden politischen Situationen eine solche Elastizität, daß es oft den Anschein hat, als könnte, je nachdem, alles und nichts aus ihr heraus- oder in sie hineingelesen werden. Der Verfasser einer eingehenden geschichtlichen Darstellung der Monroedoktrin, Dexter Perkins, ist der Ansicht, sie sei heute überholt und nicht mehr „relevant", zumal die Vereinigen Staaten Weltmacht geworden seien und Europa sich in einer dauernden Krisis befinde. Darauf wurde aber gleich erwidert, niemals seit einem Jahrhundert sei sie so notwendig und auch niemals so populär gewesen wie heute31. Die Abneigung aller „positiven" Juristen gegen eine solche „Lehre" läßt sich wohl verstehen; gegenüber einer solchen Unbestimmtheit des normativen Inhaltes hat der Positivist das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber die inhaltliche Unbestimmtheit ist, wie oft im Leben, einem dialektischen Umschlagen in eine rein dezisionistische Bestimmtheit außerordentlich nahe, womit dann der echte Positivist wieder Boden unter den Füßen fühlt. Der Staatssekretär Hughes hat sich 1923 zu der Frage nach dem eigentlichen Inhalt der Monroedoktrin in einer Weise geäußert, die ein geradezu klassisches Beispiel reinsten Dezisionismus darstellt: was die Monroe Doctrine eigentlich besagt, das „definiert, interpretiert und sanktioniert" nur die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. [12] Für uns ist entscheidend, daß die ursprüngliche Monroelehre von 1823 die erste Erklärung in der Geschichte des modernen Völkerrechts ist, die von einem Großraum spricht und für ihn den Grundsatz der Nichtintervention raumfremder Mächte aufstellt. Sie bezieht sich ausdrücklich auf die „westliche Halbkugel" der Erde. Wenn Talleyrand oder Gentz oder die Regierungen der Heiligen Allianz von „Europa" sprechen, so meinen sie mehr ein staatliches Machtverhältnissystem 32. Die 30 Über die Monroelehre in ihrem Gegensatz zur amerikanischen Solidarität: C. Barcia Trelles, a. a. O., S. 397 f. J. Quijano Caballero, Bolivar und Fr. D. Roosevelt, Geist der Zeit, Juni 1940, S. 338, ferner Grenzen der panamerikanischen Solidarität in „Monatshefte für Auswärtige Politik", März 1941. 31 Reeves , American Journal of International Law, Bd. 33 (1939), S. 239.
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amerikanische Erklärung von 1823 aber denkt in einem modernen Sinne raumhaft planetarisch. Das ist schon an sich etwas ganz Außerordentliches und völkerrechtlich aller Beachtung wert. Freilich hätte es noch nicht genügt, um ein völkerrechtliches Großraumprinzip in unserem Sinne zu konstituieren. Es hat oft in der Geschichte Inanspruchnahmen von Interessensphären aller Art gegeben. Auch das von Rußland und Kanada für die arktischen Räume praktizierte sogenannte Sektorprinzip ist noch kein völkerrechtlicher Großraumgedanke im Sinne eines inhaltlich bestimmten Ordnungsprinzips 33. Eine nur geographisch bestimmte Vorstellung mag eine große politisch-praktische Bedeutung haben, für sich allein stellt sie noch kein überzeugendes Rechtsprinzip dar. Dafür ist die Kraft der raumüberwindenden Mächte zu groß, deren Bedeutung doch gerade von dem Meister der geopolitischen Wissenschaft, Karl Haushofer 34, betont wird. Vom völkerrechtswissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, lassen sich Raum und politische Idee nicht trennen. Für uns gibt es weder raumlose politische Ideen noch umgekehrt ideenlose Räume oder Raumprinzipien. Zu einer bestimmbaren politischen Idee wiederum gehört, daß ein bestimmtes Volk sie trägt und daß sie einen bestimmten Gegner im Auge hat, wodurch sie die Qualität des Politischen erhält 35 . Die echte und ursprüngliche Monroedoktrin hatte als Gegendoktrin das monarchistisch-dynastische Legitimitätsprinzip im Auge. Dieses gab dem damaligen status quo der europäischen Machtverteilung die Weihe und Heiligkeit des Rechts; es erhob die absolute und legitime Monarchie zum Standard der völkerrechtlichen Ordnung und rechtfertigte auf dieser Grundlage die Interventionen europäischer Großmächte in Spanien und Italien. Es hätte folgerichtig auch zu Interventionen in die revolutionären Staatsbildungen Lateinamerikas führen müssen. Gleichzeitig sucht sich die Vormacht dieser Heiligen Allianz, Rußland, im höchsten Norden des amerikanischen Kontinents kolonisatorisch festzusetzen. [13] Die Völker der amerikanischen Kontinente dagegen fühlten sich nicht mehr als Untertanen fremder 32 Ernst Wolgast, der in dem Aufsatz Völkerrechtsordnung und Raumordnung, Zeitschrift für Völkerrecht, Bd. XXII (1938), S. 25 - 33, Talleyrands Europaplan behandelt, deutet, wie mir scheint, diesen Europabegriff Talleyrands zu günstig im Sinne dessen, was wir unter einer Raumordnung verstehen. Mit dieser Feststellung soll das große Verdienst Wolgasts, den Blick auf solche Fragen gelenkt zu haben, in keiner Weise gemindert werden. Vgl. auch den Aufsatz Wolgasts, Konkretes Ordnungsdenken im Volkerrecht, in der Zeitschrift Völkerbund und Völkerrecht, Bd. IV (1937), S. 74. 33 SmedaU Acquisition of Sovereignty over Polar Areas, Oslo 1931, deutsch: Königsberg 1931; Wolgast, Das Grönlandurteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofes vom 5. April 1933, in der Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. XIII (1933), S. 599 ff.; Böhmert, a. a. O., S. 279; Schmitz und Friede, a. a. O., S. 257. 34 Insbesondere trägt Bd. 3 der von Karl Haushofer herausgegebenen Schriften Raum und Erde, Leipzig und Berlin, 1934, den Titel: Raumüberwindende Mächte. 35 Kurt O. Rabl spricht in seinem Aufsatz Staat und Verfassung, Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. XVII (1938), von der Dreiheit: Boden, Volk und Idee. Das kommt meinem Gedanken nahe und scheint mir eine um so wichtigere Bestätigung, als der Aufsatz Rabis von ganz andern, nicht, wie unsere Darlegung, von spezifisch völkerrechtlichen Gesichtspunkten ausgeht.
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Großmächte und wollten auch nicht mehr Objekte fremder Kolonisation sein. Das war „die freie und unabhängige Stellung", von der die Monroebotschaft spricht, auf die sie stolz waren und die sie zu dem „politischen System" der europäischen Monarchien in Gegensatz stellten. Sie erklären, daß sie sich nicht in dieses andere, von ihrem wesentlich verschiedene „System" einmischen wollen, verbitten sich aber jede „Interposition" und jede Übertragung, die von diesem europäischen System ausgeht. Dieses soll sich nicht unter Berufung auf den status quo und auf Besitztitel in einen zum Selbstbewußtsein erwachten, politischen Großraum einmischen. Das ist die politische Idee, die in der Monroelehre mit dem Großraum „Amerika" verbunden wird. Hier ist der Kern der großen ursprünglichen Monroedoktrin, ein echtes Großraumprinzip, nämlich die Verbindung von politisch erwachtem Volk, politischer Idee und politisch von dieser Idee beherrschtem, fremde Interventionen ausschließendem Großraum. Nicht die Monroedoktrin, um es zu wiederholen, wohl aber dieser Kern, der Gedanke einer völkerrechtlichen Großraumordnung, ist auf andere Räume, andere geschichtliche Situationen und andere Freund-Feind-Gruppierungen übertragbar. Die bisherigen Fälle einer Übertragung der Monroedoktrin liegen verschieden und bedürfen einer besonderen Untersuchung. Als „australische Monroedoktrin" zum Beispiel werden zwei Sätze des australischen Premierministers Hughes bezeichnet, die er am 7. April 1921 als die zwei Bedingungen angab, unter denen Australien einer Erneuerung des Bündnisses zwischen England und Japan zustimmen könne: 1. kein Bündnis darf sich gegen die Vereinigten Staaten auswirken; 2. kein Bündnis darf den Grundsatz gefährden, daß Australien der weißen Rasse gehört 36 . Von der sogenannten „ostasiatischen oder japanischen Monroedoktrin" ist gleich noch zu sprechen. Ausdrücklich sei nochmals betont, daß wir hier nicht eine „deutsche Monroedoktrin" vorschlagen, sondern nur den berechtigten Kerngedanken der ursprünglichen Monroebotschaft freilegen, nämlich den Gedanken der völkerrechtlichen Unzulässigkeit von Interventionen raumfremder Mächte in einen von einem Ordnungsprinzip beherrschten Großraum. Dieser Großraumgedanke nicht die Monroedoktrin selbst - ist zwar nicht beliebig, aber doch nach Lage der politischen Wirklichkeit sinngemäß übertragbar. Seine Anwendbarkeit auf den mittel- und osteuropäischen Raum wird nicht dadurch aufgehoben, daß sich seit 1823 die Verhältnisse in Europa wie in Amerika wesentlich geändert und daß, hinsichtlich des Charakters der tragenden politischen Ideen, die Fronten sich geradezu umgekehrt haben. Der liberale Freiheitsgedanke der westlichen Demokratie ist heute geschichtlich überholt. Er dient jetzt seinerseits dazu, einen bloßen status quo rechtlich zu sanktionieren und einem Weltbesitz die Heiligkeit des Rechts, die Weihe der Legalität und der Legitimität zu geben. Die westlichen Demokratien sind heute in der Lage der damaligen europäischen Mächte der Heiligen Allianz. Aus einem monarchistisch-dynastischen ist ein liberaldemokratisch-kapitalistisches Legitimitätsprinzip geworden. Schon der Weltkrieg 1914 bis 1918 war ein 36 Fauchille, Traitd I, 1 (1922), S. 37 (§ 44, II).
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Interventionskrieg dieser liberaldemokratischen Legitimität 37 . Damals konnte er sich allerdings noch als Krieg gegen reaktionäre, mit der monarchistischen Heiligen Allianz verwandte Mächte ausgeben, während die liberaldemokratische Heilige Allianz der westlichen Mächte heute offen auf der Seite der Vergangenheit und der Heiligkeit des status quo steht und neue politische Ideen sowohl wie neue, wachsende Volker zu unterdrücken sucht. Die Rechtfertigung eines kapitalistischen Imperialismus, zu der Präsident Theodore Roosevelt um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert die Monroedoktrin benutzte, ist ein besonderer Abschnitt in der Geschichte dieser Doktrin. [14] Es ist mit Recht als ein Selbstwiderspruch und als das auffälligste Beispiel des Sinnwandels eines solchen Grundsatzes empfunden worden, daß ein ursprünglich defensiver, Interventionen raumfremder Mächte abwehrender Raumgedanke zur Grundlage einer „Dollar Diplomacy" gemacht werden konnte.[15] In allen geschichtlichen Darstellungen der Monroedoktrin tritt diese imperialistisch-kapitalistische Umdeutung des ursprünglichen Sinnes als eine tiefe Sinnänderung hervor. Daneben aber haben wir eine andere, vielleicht noch tiefere und für unsere Betrachtung völkerrechtlicher Großraumprinzipien jedenfalls noch aufschlußreichere Art der Veränderung und des Sinnwandels zu beachten, nämlich die der Umdeutung der Monroelehre aus einem konkreten, geographisch und geschichtlich bestimmten Großraumgedanken in ein allgemeines, universalistisch gedachtes Weltprinzip, das für die ganze Erde gelten soll und „Ubiquität" beansprucht. Diese Umdeutung hängt allerdings mit der Fälschung in ein universalistisch-imperialistisches Expansionsprinzip eng zusammen. Sie ist für uns von besonderem Interesse, weil sie den Punkt sichtbar macht, an welchem die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika ihr kontinentales Raumprinzip verläßt und sich mit dem Universalismus des britischen Weltreiches verbindet. [16] Im Jahre 1905 soll der Präsident Theodore Roosevelt dem Vicomte Kaneko gesagt haben, die Monroedoktrin müsse ganz Asien umfassen und Japan solle eine solche asiatische Monroelehre proklamieren^ 17] Damit meinte er wohl nur die Proklamation einer „Politik der offenen Tür" und der „gleichen Chance" aller Mächte in China. [18] Auch wenn der Text seiner Äußerung nicht mehr wörtlich und exakt festzustellen ist, so geht ihr Sinn wohl sicher dahin, Asien und insbesondere Japan in den ökonomischen Imperialismus des angelsächsischen Weltsystems einzubeziehen. Eine asiatische oder japanische Monroelehre, eine „Asia Monroeshugi", mit dieser Bedeutung wäre den Vereinigten Staaten von Amerika und England ebenso erwünscht gewesen, wie ihnen später, als Japan die Mandschurei eroberte, eine »japanische Monroedoktrin" unangenehm war 38 . Der Präsident W. 37 „Man könnte geradezu den Weltkrieg als die abschließende (dies ist inzwischen wohl fraglich geworden, C. S.) Auseinandersetzung der großen Kulturstaaten darüber bezeichnen, daß ihr Imperialismus fortan durchweg an die innen- und außenpolitischen Rechtsformen der demokratisch-parlamentarischen Ideologie gebunden bleibt." So Carl Brinkmann 1925 in der Festgabe zu Lujo Brentanos 80. Geburtstag in einem überaus gedankenreichen Aufsatz, Imperialismus als Wirtschaftspolitik, S. 84.
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Wilson hat in seiner Botschaft an den Kongreß vom 22. Januar 1917 vorgeschlagen, daß alle Völker der Welt die Lehre des Präsidenten Monroe als eine „Weltdoktrin" annehmen sollten, mit dem Sinn des freien Selbstbestimmungsrechts der Völker für große und kleine Völker in gleicher Weise. [19] Man hat sogar den Artikel 10 der Genfer Völkerbundsatzung[20] bereits als einen Ausdruck und Anwendungsfall dieser Weltmonroedoktrin ausgegeben39. Das sind typische und kennzeichnende Sinnveränderungen. Ihre Methode besteht darin, einen konkreten, räumlich bestimmten Ordnungsgedanken in universalistische „Welt"-Ideen aufzulösen und dadurch den gesunden Kern eines völkerrechtlichen Großraumprinzips der Nichtintervention in eine imperialistische, unter humanitären Vorwänden in alles sich einmischende, sozusagen pan-interventionistische Weltideologie zu verwandeln.
I I I . Der Grundsatz der Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreiches Universalistische, weltumfassende Allgemeinbegriffe sind im Völkerrecht die typischen Waffen des Interventionismus. Auf ihre Verbindung und Verquickung mit konkreten, geschichtlichen und politischen Situationen und Interessen ist daher stets zu achten. Ein wichtiger Fall solcher Verquickung wird uns noch im Minderheitenrecht (unter IV) begegnen. Hier soll zunächst eine mit der Monroedoktrin oft in Parallele gesetzte „Doktrin" behandelt werden: die der „Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreiches". Sie ist das Gegenbild dessen, was die ursprüngliche Monroelehre war. Diese hatte einen zusammenhängenden Raum, die amerikanischen Kontinente, im Auge. Das britische Weltreich dagegen ist kein zusammenhängender Kontinent, sondern eine auf die entferntesten Kontinente, Europa, Amerika, Asien, Afrika und Australien, verstreute, räumlich nicht zusammenhängende, politische Verbindung von Streu-Besitz. Die ursprüngliche Monroelehre hatte den politischen Sinn, durch Ausschluß von Interventionen fremdräumiger Mächte eine neue politische Idee gegen die damaligen Mächte der Legitimität des status quo zu verteidigen. Dagegen ist der Grundsatz der Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreichs, völkerrechtlich gesehen, nichts anderes als ein Anwendungsfall des Gedankens der Legitimität des bloßen status quo. Er kann auch nichts anderes sein und ist daher in keinem höheren Sinne eine „Doktrin", wie bei38 Westel W. Willoughby, a. a. O., S. 402 ff. (Has Japan an Valid Right to assert a Monroe Doctrine with reference to China?); C. Walter Young , Japan's special position in Manchuria, Baltimore 1931, S. 329; Johnson Long, La Mandchourie et la doctrine de la porte ouverte; Vorrede von de La Pradelle, Paris 1933, S. 176, 182, bezeichnet, vom chinesischen Standpunkt, die sogenannte asiatische Monroedoktrin als „Pseudo-Doctrine". Vgl. Carl Schmitt, Großraum gegen Universalismus; der völkerrechtliche Kampf um die Monroedoktrin, in Positionen und Begriffe, 1940, S. 295 ff. 39 Fauchille, a. a. O., I, 1, S. 647 (§ 325).
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spielsweise eine „Disraeli-Doktrin" 40 , die besagte, daß der unveränderte Bestand der Türkei eine Lebensfrage des britischen Weltreiches sei. Die juristische Denkweise, die einem geographisch zusammenhanglosen, über die Erde verstreuten Weltreich zugeordnet ist, tendiert von selbst zu universalistischen Argumentationen. Sie muß das Interesse am unveränderten Bestand eines solchen Reiches mit dem Interesse der Menschheit gleichsetzen, um überhaupt eine Argumentation zu haben. Eine solche Denkweise richtet sich nicht auf einen bestimmten zusammenhängenden Raum und dessen innere Ordnung, sondern in erster Linie auf die Sicherung der Verbindung der verstreuten Teile des Empire. Dem Juristen, insbesondere dem Völkerrechtsjuristen, eines derartigen Weltreiches liegt es infolgedessen näher, statt in Räumen, in Straßen und Verkehrswegen zu denken. Für diese Besonderheit der britischen Denkart ist der Ausspruch eines hervorragenden englischen Sachverständigen, Sir William Hayter, kennzeichnend, der offen sagt, in Griechenland und Bulgarien könne die englische Regierung Revolutionen erlauben; in Ägypten dagegen müsse Ruhe und Ordnung herrschen, damit die große Verbindungsstraße des britischen Weltreiches, vor allem der Weg nach Indien, nicht gestört werde. [21] Derselben Auffassungsweise entspringt ein ebenfalls sehr bekannter englischer Ausspruch zu der Frage, ob England Ägypten annektieren solle. Die Frage wird verneint, weil derjenige, der regelmäßig von seiner Heimat eine große Reise in eine andere Gegend machen muß, wohl ein Interesse daran habe, daß in der Mitte des Weges ein gutes Hotel liegt, nicht aber daran, daß er selber Hotelier und Eigentümer dieses Hotels sei. In seiner Mailänder Rede vom 1. November 1936 hat Mussolini an den tiefen Gegensatz erinnert, der darin liegt, daß das Mittelmeer für England nur eine Straße, nur eine von vielen Straßen, ja, nur eine Abkürzungsstraße und ein Kanal ist, während es für Italien den Lebensraum bedeutet41. Der Gegensatz von Straße und Lebensraum wird hier in seiner ganzen Tiefe sichtbar. [22] Von englischer Seite wurde darauf erwidert, daß das Mittelmeer nicht ein Abkürzungsweg, sondern eine Hauptverkehrsader sei und an ihr für den britischen „Commonwealth of Nations" ein Lebensinteresse im vollen Sinne des Wortes bestehe42. Das Lebensinteresse an Seestraßen, Luftlinien (airlines), Röhrenlinien (pipe-lines) usw. ist unter den Gesichtspunkten des weit verstreuten englischen Weltreichs unbestreitbar 43. Aber damit ist die Verschiedenheit 40
Die türkenfreundliche und russenfeindliche Politik Disraelis hat zum Beispiel bei Fenwick, International Law 1924, S. 148, die Bezeichnung „Disraeli-Doktrin" erhalten. 41 ,,L' Italia £ una isola che si immerge nel Mediterraneo. Questo mare (io mi rivolgo anche agli Inglesi che forse in questo momento sono alio radio), questo mare per la Gran Bretagna & una strada, una delle tante strade, piuttosto una accorciatoia con la quale lTmpero britannico raggiunge piü rapidamente i suoi territori periferici. Se per gli altri il Mediterraneo b una strada, per noi Italiani b la vita." 42 Darüber vom englischen Standpunkt: Elizabeth Monroe, The Mediterranean in Politics, Oxford-London 1938, S. 10 ff.; George Slocombe, The dangerous Sea, London 1937, S. 266. Von italienischer Seite: Gaspare Ambrosini, I problemi del Mediterraneo, Rom (Istituto Nazionale di Cultura Fascista) 1937, S. 164; Pietro Silva, II Mediterraneo dall'Unitä di Roma allTmpero Italiano, Mailand 1938, S. 477.
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und der Gegensatz des völkerrechtlichen Raumdenkens gegenüber einem völkerrechtlichen Wege- und Straßendenken nicht beseitigt oder überwunden, sondern nur bestätigt. Während das Problem der amerikanischen Monroedoktrin in zahllosen Veröffentlichungen behandelt worden ist, gibt es kaum ein spezielles völkerrechtswissenschaftliches Schrifttum über das große Problem der Sicherheit der Verbindungsstraßen des britischen Weltreichs. Zum Teil mag das daran liegen, daß es britischer Methode nicht entspricht, Lebensfragen der britischen Weltpolitik zum Gegenstand rechtswissenschaftlicher Erörterungen oder gar echter Kontroversen zu machen. Das englische Lebensinteresse an der Sicherheit der Verkehrswege bekundet sich am offensten und deutlichsten in Vorbehalten, die wichtigen völkerrechtlichen Verträgen beigefügt werden. Auch hier bestätigt sich unsere These, daß das heutige Völkerrecht im wesentlichen Vorbehaltsrecht ist 44 . So hat die englische Regierung im Jahre 1922 das im Dezember 1914 einseitig erklärte englische Protektorat über Ägypten durch einseitige Erklärung aufgehoben und Ägypten als souveränen Staat anerkannt, aber nur unter vier Vorbehalten, die dem Ermessen der englischen Regierung überlassen bleiben, solange es nicht zu einer Verständigung zwischen England und Ägypten kommt.[23] An der Spitze dieser vier Vorbehalte steht - vor dem Schutz fremder Interessen in Ägypten, dem Schutz der Minderheiten und dem allgemeinen Vorbehalt des Sudangebietes - die Sicherheit der Verkehrswege des britischen Empire in Ägypten 45 . Der spätere Bündnisvertrag mit Ägypten vom 26. August 1936 46 beruht auf demselben Vorbehalt. Er bestimmt in Artikel 8: „Angesichts der Tatsache, daß der Suezkanal, wenn auch ein integrierender Teil Ägyptens, sowohl ein allgemeines (universal) Verkehrsmittel wie auch ein wesentliches (essential) Verkehrsmittel zwischen den verschiedenen Teilen des britischen Empire ist", wird vereinbart, daß England den Schutz des Kanals übernimmt, bis Ägypten selbst dazu imstande ist. Diese Verbindung eines „universalen" Weltinteresses mit einem „essentialen" britischen Interesse ist typisch und für unsere Betrachtung von großer Bedeutung. Auch bei der Unterzeichnung des Kellogg-Paktes, 1928, ist der britische Vorbehalt der Sicherheit der Verkehrswege angebracht worden, dieses Mal jedoch in einer anscheinend nicht Straßen-, sondern raumhaften Ausdrucksweise, wobei sogar auf die amerikanische Monroelehre Bezug genommen wird. Der englische Vorbehalt zum Kellogg-Pakt wird die „britische Monroedoktrin" genannt47, obwohl die 43 Ob eine Übertragung der für Meeresstraßen gültigen Prinzipien auf Luftstraßen möglich ist, soll hier offen bleiben. Norbert Gürke hat in einem Gespräch, das sich an meinen Kieler Vortrag anschloß, die Nichtübertragbarkeit und die spezifische Besonderheit der Luftstraßen gegenüber den Meeresstraßen überzeugend vertreten. 44 Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Völkerrecht, Schriften der Deutschen Hochschule für Politik, Heft 9, Berlin 1934, S. 23. 4 5 The British Yearbook of International Law, XVIII (1937), S. 87. 46
Treaty Series 1937, Nr. 6; Austausch der Ratifikationsurkunden in Kairo am 22. Dezember 1936. [Vgl. a.: Bruns/v. Gretschaninow, Polit. Verträge, III/1, 1940, S. 374 - 420].
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Verschiedenheit, ja, Gegensätzlichkeit der Interessen und Denkweisen sofort erkennbar ist, wenn der echte Raumgedanke festgehalten wird. Die Formulierung des Vorbehalts ist so kennzeichnend, daß die maßgebende Stelle aus der Note des britischen Staatssekretärs für auswärtige Angelegenheiten an den amerikanischen Botschafter in London vom 19. Mai 1928 hier wörtlich zitiert sei. Es heißt dort (unter Ziffer 10): „Die Fassung des (den Krieg als Werkzeug der nationalen Politik »verdammenden') Artikels 1 hinsichtlich des Verzichts auf den Krieg als Werkzeug nationaler Politik macht es wünschenswert, daß ich Euer Exzellenz daran erinnere, daß es gewisse Gebiete auf der Welt gibt, deren Wohlfahrt und Unversehrtheit ein besonderes und lebenswichtiges Interesse für unseren Frieden und unsere Sicherheit darstellt. Die Regierung Seiner Majestät hat sich in der Vergangenheit bemüht, Klarheit darüber zu schaffen, daß eine Einmischung hinsichtlich dieser Gebiete von ihr nicht geduldet werden könne; ihr Schutz gegen jeden Angriff stellt für das britische Reich einen Akt der Selbstverteidigung dar. Es muß darüber völlige Klarheit herrschen, daß die Regierung Seiner Majestät in Großbritannien den neuen Vertrag nur annimmt, wenn völliges Einverständnis darüber besteht, daß er ihrer Handlungsfreiheit in dieser Hinsicht keinen Abbruch tut. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat vergleichbare Interessen, hinsichtlich deren sie erklärt hat, daß sie jede Nichtachtung durch eine fremde Macht als einen unfreundlichen Akt betrachten würde. Die Regierung Seiner Majestät glaubt deshalb, daß sie mit ihrer Stellungnahme die Absicht und Meinung der Regierung der Vereinigten Staaten wiedergibt" 48 . Die Formulierung dieses Vorbehaltes enthält einen klaren und absichtlichen Hinweis auf die Monroelehre. Aber sie löst deren konkreten Raumgedanken mit Hilfe des allgemeinen Begriffs des „Rechtes der Selbstverteidigung" auf. Trotzdem ist die Verschiedenheit des ursprünglichen amerikanisch-kontinentalen Raumdenkens und des britisch-imperialistischen Straßen- und Wegedenkens auch hier nicht zu verkennen. Für den Suezkanal hat die englische Politik eine völkerrechtliche Regelung durchgesetzt, die ihrem Interesse an dieser Verkehrsstraße entspricht.[24] Solange der Kanal noch nicht in der Hand Englands war, argumentierte die englische Regierung mit ganz allgemeinen Prinzipien. Die Äußerungen aus dieser Zeit sind Dokumente des unerschütterten, geradezu naiven, viktorianischen Glaubens an die Harmonie des politischen Interesses Englands mit den in solchen allgemeinen Prinzipien sich äußernden Interessen der Menschheit. Als Lord Salisbury 1856 gegen das dem Erbauer Ferdinand von Lesseps vom Khediven erteilte Monopol protestierte, berief er sich auf das „natürliche Recht aller andern Völker", das im Interesse des Welthandels solche Wasserstraßen von einer Konzession oder einem Monopol ausschließe49. Nachdem englische Truppen den Kanal besetzt hatten, wurde 47
James T. Shotwell, War as an instrument of National Policy, a. a. O., S. 163. Materialien zum Kriegsächtungspakt, Berlin 1928, S. 49. Wiederholt in der Note vom 18. Juli 1928, a. a. O., S. 94, 95. 4 9 Abgedruckt bei Fauchille , a. a. O., I 2 (1925), S. 212, § 511 b. 48
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der Kanal durch den Kollektivvertrag vom 29. Oktober 1888 internationalisiert und neutralisiert, wobei England den allgemeinen Vorbehalt seiner Handlungsfreiheit während der englischen Besetzung Ägyptens machte50. Der obenerwähnte Vertrag mit Ägypten vom 26. August 1936 gehört bereits in ein drittes Stadium dieser Entwicklung, nämlich das der offensichtlich auf den bloßen status quo abgestellten Argumentation, deren Kennwort „Sicherheit" ist. Zwischen jener anfänglichen Berufung auf ein allgemeines natürliches Recht und der heutigen bloßen Sicherung eines status quo liegt ein beachtenswertes Zwischenstadium. In ihm geht das Bestreben der englischen Völkerrechtspolitik dahin, aus der Internationalisierung und Neutralisierung des Suezkanals, wie sie der Vertrag von 1888 bewirkt, den für alle wichtigen Meeresstraßen, die nicht in englischer Hand sind, völkerrechtlich allgemein anerkannten Prototyp eines „internationalen Rechtssystems der interozeanischen Kanäle und Meeresstraßen" zu machen. [25] Bei dem Versuch, dieses Ziel gegenüber dem Panamakanal durchzusetzen, stieß die englische Politik auf einen Widerstand, den die Vereinigten Staaten im Namen der Monroelehre leisteten. Der Gegensatz zweier Welten trat in dieser Kanalfrage zutage. Der Kampf hat mit einem vollen Sieg der Vereinigten Staaten und damit der Monroedoktrin geendet, die sich als ein konkretes Großraumprinzip dem universalistischen Anspruch Englands überlegen zeigte. [26] Ein anderer, dritter, für uns Deutsche besonders wichtiger Fall betrifft den Kieler Kanal. Auch hier hat eine dem englischen Weltreich zugeordnete völkerrechtliche Argumentation versucht, den Gedanken eines einheitlichen und allgemeinen völkerrechtlichen Systems der drei großen interozeanischen Kanäle durchzusetzen und den Kieler Kanal einem angeblich völkerrechtlich allgemein anerkannten „Regime der großen internationalen Meeresstraßen" zu unterwerfen. Im Wimbledonprozeß (1923) hat der englische Vertreter, der Justitiar im Foreign Office, Sir Cecil Hurst, das „DreiKanäle-Argument" mit großer Energie vertreten. Das Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Haag vom 17. August 1923 enthält in seiner Begründung eine Anerkennung der englischen Tendenz, das völkerrechtliche Prinzip der Internationalisierung aller großen Meeresstraßen auch im Falle des Kieler Kanals durchzusetzen. Ernst Wolgast, dem wir eine Monographie über den Wimbledonprozeß verdanken, hat mit dem ihm eigenen Blick für die Wirklichkeitsbedeutung völkerrechtlicher Konstruktionen diese Seite des Wimbledonprozesses vorzüglich herausgearbeitet 51. Die „Freiheit", von der in zahlreichen völkerrechtlichen Argumentationen Englands die Rede ist, gehört nach ihrem Ursprung in das Naturrecht des 17. Jahrhunderts 52. Sie erreicht ihren Höhepunkt in der Freiheit des Welthandels im 19. Jahr50 Über die Bedeutung dieses „Generalvorbehalts" neuerdings Herberth Monath, Die Rechtslage am Suezkanal, Vorträge und Einzelschriften des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, Heft 23, 1937, S. 38,44 ff. 51 Ernst Wolgast, Der Wimbledonprozeß vor dem Völkerbundgerichtshof, Berlin 1926, insbesondere S. 74 ff.
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hundert. Dieses Jahrhundert ist daher auch der Zeitabschnitt, in dem zwischen den politischen und wirtschaftlichen Interessen des britischen Weltreiches und den anerkannten Regeln des Völkerrechts eine geradezu wunderbare Harmonie obwaltet. „Freiheit" bedeutet hier im politisch entscheidenden Fall stets eine Umschreibung des begreiflichen, spezifisch britischen Weltreichinteresses an den großen Verkehrswegen der Welt. So bedeutet die „Freiheit der Meere" nach einer Formulierung von Wheaton-Dana, die durch die Zitierung im Miramichi-Fall (englische Prisengerichtsentscheidung vom 23. November 1914) berühmt geworden ist: „the sea is res omnium , the common field of war as well as of commerce."[27] Solange England die Herrschaft zur See hat, erhält die Freiheit der Meere ihre Grenze, ja sogar ihren Inhalt durch die Interessen der englischen Seekriegführung, nämlich durch das Recht und die Freiheit der kriegführenden Macht, den Handel der Neutralen zu kontrollieren. „Freiheit der Dardanellen" bedeutet ungehinderte Benutzung dieser Meerengen durch englische Kriegsschiffe, um Rußland im Schwarzen Meer angreifen zu können usw. [27a] Immer ist hinter der freiheitlich-humanitärallgemeinen Fassung der eigentümliche Zusammenhang erkennbar, der die besonders gearteten Interessen eines geographisch nicht zusammenhängenden Weltreichs zu universalistisch verallgemeinernden Rechtsbegriffen treibt. Das ist nicht einfach als „Cant" und Betrug oder mit ähnlichen Schlagworten zu erklären. Es ist ein Beispiel der unvermeidlichen Zuordnung völkerrechtlicher Denkweisen zu einer bestimmten Art politischer Existenz53. Im übrigen ist die Frage nur, wie lange jene wunderbare Harmonie von britischem Interesse und Völkerrecht ihre Evidenz noch in das 20. Jahrhundert hinein zu bewahren vermag. Auch die Monroedoktrin hat durch Th. Roosevelt und W. Wilson eine Umdeutung zu einer universalistisch-imperialistischen Weltdoktrin erfahren. Trotzdem sind die beiden Grundsätze - amerikanische Monroedoktrin und Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreiches - im Kern immer verschieden geblieben. Der Universalismus des Grundsatzes der Sicherheit der Verkehrswege hat heute nicht einmal mehr eine naturrechtlich-freiheitliche Umhüllung; er ist der offene Ausdruck des Status-quo- Interesses eines Weltreiches, das als solches bereits genügend Legitimierung in sich zu enthalten glaubt. Die Universalisierung der Monroedoktrin durch Roosevelt und Wilson dagegen war die Verfälschung eines echten Großraumprinzips der Nichtintervention zu einem grenzenlosen Interventionismus. Der Moment, in dem diese Universalisierung in aller Form amtlich verkündet 52 Über den Zusammenhang der Freiheitslehren mit der kolonialen Expansion (Freiheit der Meere und des Handels als holländische und englische Lehre gegenüber dem spanischportugiesischen Kolonialmonopol des 16. und 17. Jahrhunderts) der hervorragende Aufsatz von Ulrich Scheuner, Zur Geschichte der Kolonialfrage im Völkerrecht, Zeitschrift für Völkerrecht, Bd. XXII (1938), S. 442 ff., 463. 53 „Es ist ein Ausdruck echter politischer Macht, wenn ein großes Volk die Redeweise und sogar die Denkweise anderer Völker, das Vokabularium, die Terminologie und die Begriffe von sich aus bestimmt." So Carl Schmitt, Die Vereinigten Staaten von Amerika und die völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus, Königsberger Vortrag vom 20. Februar 1932, veröffentlicht in Positionen und Begriffe, Hamburg 1940, S. 162 f.
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wurde, die obenerwähnte Botschaft des Präsidenten Wilson vom 22. Januar 1917, bezeichnet auch von dieser Seite her die Stelle, an der sich die Politik der Vereinigten Staaten von ihrem Heimatboden abwendet und mit dem Welt- und Menschheitsimperialismus des britischen Empire ein Bündnis eingeht.
IV. Minderheiten- und Volksgruppenrecht im mittel- und osteuropäischen Großraum Unsere Erörterung der Monroedoktrin und ihres Gegenbeispiels, des Grundsatzes der Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreiches, sollte die Verschiedenheit eines in konkreten Großräumen gedachten Völkerrechts gegenüber einem universalistisch-humanitären Weltrecht zum wissenschaftlichen Bewußtsein bringen. Nicht nur die ursprüngliche echte Monroelehre, sondern fast alle wichtigen grundsätzlichen Fragen des modernen Völkerrechts sind durch die Vorherrschaft dieses Universalismus in ihrem eigentlichen Sinn bedroht. An diesem selben Universalismus mußte der Genfer Völkerbund scheitern. Er hat auch die völkerrechtliche Regelung des sogenannten Minderheitenschutzes, die 1919 versucht wurde, zu einem haltlosen und in sich selbst widerspruchsvollen Scheingebilde gemacht. [28] Der Minderheitenschutz des Versailles-Genfer-Systems läßt sich in seiner konkreten Eigenart am besten unter den Gesichtspunkten unserer Problemstellung erkennen. Freilich ist dieses System mit seinem Minderheitenschutz heute geschichtlich überholt. Aber die völkerrechtliche Denkweise, die sich in ihm dokumentiert, und eine Welt dazugehöriger völkerrechtlicher Prinzipien und Begriffsbildungen wirken immer noch weiter und sind keineswegs verschwunden. Sie werden von den Mächten der westlichen Demokratie weitergetragen und sind ein Teil der geistigen und moralischen Rüstung zu einem neuen, totalen Weltkrieg, zu einem „gerechten Kriege" großen Stils 54 . Darum ist auch die kritische Arbeit, die die deutsche Völkerrechtswissenschaft sowohl gegenüber dem Universalismus des Genfer Völkerbundes wie seiner versuchten Identifizierung von Völkerrecht und Genferbundsrecht 55 , wie insonderheit gegenüber dem liberalen Minderheitenschutzsystem geleistet hat, keineswegs bedeutungslos geworden. In der 20jährigen Geschichte des Versailles-Genfer Minderheitenschutzes hat die deutsche Lehre vom Volk und Volksgruppenrecht den Gegensatz herausgearbeitet, der ein vom Volk und der Volksgruppe ausgehendes Volksgruppenrecht von einem individualistisch-liberal konstruierten Minderheitenschutz trennt. Die mühevolle Arbeit der deutschen Rechts wahrer auf diesem Gebiet - ich nenne nur einige 54 Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr. 5, München 1938. 55 Carl Bilfingen Völkerbundsrecht gegen Völkerrecht, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr. 6, München 1938.
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
führende Namen: M. H. Böhm, W. Hasselblatt, Hans Gerber, C. von Loesch, K. G. Hugelmann, G. A. Walz, N. Gürke, H. Kier, H. Raschhofer, K. O. Rabl - hat sich als fruchtbar erwiesen. [29] Ihr voller Sieg ist auch als ein rechtswissenschaftliches Ergebnis heute nicht mehr zweifelhaft. Die juristische und logische Widersinnigkeit, die schon in einem Allgemeinbegriff wie „Minderheit" liegt, ist heute allen zum Bewußtsein gekommen. In der politischen und sozialen Wirklichkeit verbergen sich hinter dem inhaltlosen Wort „Minderheit" derartig offensichtlich verschiedene und widersprechende Sachverhalte - Grenzbereinigungsfragen, Fragen der kulturellen und völkischen Autonomie, das durchaus besonders geartete und mit keiner dieser anderen Fragen vergleichbare Judenproblem - , daß ich in diesem Zusammenhang nur daran zu erinnern brauche. Das Ergebnis hat Georg H. J. Erler neulich gut zusammengefaßt: „In der Lebenswirklichkeit gibt es dieses Wesen »Minderheit4 nicht. Es gibt in ihr lebendige Gemeinschaften verschiedenster Art, und selbst die völkischen Minderheiten sind untereinander wiederum sehr verschieden56." Die Frage der sogenannten Minderheiten bedarf aber noch einer Klärung unter dem Gesichtspunkt völkerrechtlicher Großraumprinzipien, der das eigentliche Thema unserer Untersuchung ist. Im Minderheitenrecht des Versailler Vertrags kreuzen sich mehrere gegensätzliche, einander aufhebende Tendenzen. Im Vordergrund steht der allgemeine liberal-individualistische Gedanke, daß dem einzelnen Individuum, das zufällig einer „Minderheit" angehört, Gleichheit und Gleichbehandlung gewährleistet wird. Liberaler Individualismus und übervölkischer Universalismus erweisen sich auch hier als die beiden Pole derselben Weltanschauung. Die staatsbürgerliche Gleichheit und die Freiheitsrechte des liberalen Konstitutionalismus sind hier innerstaatlich als die eigentliche Grundnorm der europäischen Zivilisation vorausgesetzt; sie stellen den innerstaatlichen „Standard" der Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft dar, auf dem die Homogenität der Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft beruhen soll. Damit ist, wie sich schon auf dem Berliner Kongreß 1878 zeigte,[30] die weitere, stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzte Vorstellung verbunden, daß die westlichen demokratischen Großmächte, in erster Linie natürlich England, in dieser Hinsicht führend und vorbildlich sind 57 . Weil sie als die wahren freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaaten gelten, kann ihnen gegenüber ein völkerrechtlicher Minderheitenschutz niemals zur Diskussion stehen; bei ihnen kann es schon begrifflich überhaupt keine schutzbedürftigen Minderheiten geben. Neben dieser strukturellen Verbindung von inner56
Georg H. J. Erler, Mißverstehen, Mißtrauen und Mißerfolg im Genfer Minderheitenschutzsystem, Zeitschrift für Völkerrecht, Bd. XXII (1938), S. 5. 57 Hermann Raschhofer, Die Krise des Minderheitenschutzes, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. VI (1936), S. 239 / 240; G. A. Walz., Inflation im Völkerrecht der Nachkriegszeit, Beiheft zu Bd. XXIII der Zeitschrift für Völkerrecht, 1939, S. 70 / 71; derselbe, Artgleichheit gegen Gleichartigkeit, Die beiden Grundprobleme des Rechts, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Rechtsgrundlagen und Rechtsphilosophie, Nr. 8, Hamburg 1938. [Vgl. bes. S. 31 f. - G. M.].
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staatlichem Liberalismus und völkerrechtlicher Hegemonie der westlichen Demokratien 58 enthält der Minderheitenschutz des Versailler Systems ein weiteres, rein machtpolitisches Element, das sich in dem berühmten Brief Clemenceaus an Paderewski vom 24. Juni 1919 mit zynischer Offenheit ausspricht: die Siegergroßmächte des Jahres 1919 nehmen gegenüber den durch ihren Sieg neu entstandenen oder vergrößerten Staaten des europäischen Ostens ein Kontroll- und Interventionsrecht für sich in Anspruch. [31] Außerdem - und dieses in offenem Mißverhältnis zu dem Kontroll- und Interventionsanspruch der fremdräumigen Westmächte - ist dann noch eine dritte, nämlich eine Raumvorstellung wirksam: das geographische Verbreitungsgebiet des Genf-Versailler völkerrechtlichen Minderheitenschutzes ist begrenzt und zieht sich von der Ostsee zum Mittelländischen Meer über einen in einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung entstandenen Landgürtel einer Völkergemengelage. Schon in den Verhandlungen der Pariser Konferenzen 1919 wurde der Widerspruch sichtbar, der zwischen dem universalistischen Gedanken eines allgemeinen, individualistisch konstruierten Minderheitenschutzes und dieser Begrenzung auf einen geschichtlich-politisch bestimmten Raum besteht. Der Vertreter der Südafrikanischen Union, General Smuts, der nächst dem amerikanischen Präsidenten Wilson den Gedanken eines universalistischen Völkerbundes am eifrigsten vertrat, wollte dem Völkerbund ein großes Programm humanitärer Aufgaben und Grundsätze mitgeben und dieses in die Satzung aufnehmen. Die jetzigen Satzungsartikel 22 (Mandat) und 23 (humanitäre und ähnliche Aufgaben des Völkerbundes) waren nur als ein Teil dieses umfassenden Programms gedacht. Vor allem sollten Religionsfreiheit und der Schutz nationaler, religiöser und sprachlicher Minderheiten in der Völkerbundssatzung verankert werden. Die Judenfrage wurde als Religionsfrage angesehen. Der japanische Vertreter verlangte, daß der Grundsatz der Rassengleichheit in der Völkerbundssatzung ausgesprochen werde. Die Rassengleichheit wurde aber besonders von Australien abgelehnt, worauf der japanische Delegierte erklärte, daß Japan sich der Aufnahme der Religionsfreiheit widersetze, wenn die Rassengleichheit nicht aufgenommen werde. So fielen schließlich beide Programmpunkte, Religionsfreiheit wie Rassengleichheit, weg.[32] Der Widerstand, den besonders Polen und Rumänien einem nicht allgemeinen, sondern nur ihren Raum treffenden Minderheitenschutzsystem entgegensetzten, blieb ohne Erfolg. Die zugrunde liegende liberal-individualistische und daher universalistische 59 Konstruktion des Minderheitenschutzes war die Grundlage einer auf dem Weg über den universalistischen Genfer Völkerbund ausgeübten Kontrolle und Interven58 Darüber Carl Schmitt, Neutralität und Neutralisierungen, Verfassungs- und völkerrechtliche Bemerkungen zu dem Buch von Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Deutsche Rechtswissenschaft, Bd. IV (1939), Heft 2; auch in „Positionen und Begriffe", a. a. O., S. 271 f.; ferner Zeitschr. für Völkerrecht XXIV (1940), S. 164 f. 59 Über den systematischen Zusammenhang von liberalem Individualismus und Universalismus im Völkerrecht: Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, a. a. O., S. 15.
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tion der fremdräumigen Westmächte in den europäischen Ostraum. Diese Konstruktion wurde in einer offensichtlich widerspruchsvollen Weise mit einer Beschränkung dieses selben, seiner Idee nach universalistischen Minderheitenschutzes auf den europäischen Ostraum verbunden. Die polnische Regierung hatte daher durchaus recht, als sie am 13. September 1934 ihre weitere Mitarbeit mit den internationalen Organen und der Kontrolle des Versailler Minderheitenschutzsystems „bis zur Inkraftsetzung eines allgemeinen gleichmäßigen Systems des internationalen Schutzes der Minderheiten" verweigerte.[33] Denn die Beschränkung eines solchen liberal-individualistischen, seinem Wesen nach universalistischen Minderheitenschutzsystems auf bestimmte Staaten ist eine beleidigende Diskriminierung dieser Staaten. Ebenso wie dieser polnische Standpunkt berechtigt war, hatte umgekehrt der brasilianische Delegierte Mello Franco nicht das Recht, für den Genfer Minderheitenschutz eine geographische Beschränkung auf den europäischen Ostraum geltend zu machen und sich mit seinen unvölkischen Assimilierungs- und Schmelztiegel-Ideen in europäische Angelegenheiten einzumischen. Mello Franco gab auf der 37. Tagung des Genfer Völkerbundsrates am 9. Dezember 1925 die vielerörterte Definition, daß es Minderheiten im Sinne des Genfer Minderheitenschutzes in Amerika nicht geben könne, weil zum Begriff der Minderheit im Sinne des Versailler Systems eine ganz bestimmte geschichtliche Entwicklung gehöre.[34] Das ist zwar insofern richtig, als der im Versailler Minderheitenschutzsystem sich abzeichnende geographische Bereich zu einem bestimmt gearteten Großraum gehört, in dem besondere völkerrechtliche Gesichtspunkte sinnvoll und der Schutz der volkhaften Eigenart jeder Volksgruppe gerade vor westlichen Assimilierungsideen notwendig ist. Aber die Aufstellung und Durchführung dieser für einen solchen Großraum geltenden Grundsätze ist nicht die Sache raumfremder Mächte, die sich von außen in diesen Raum einmischen; sie ist daher weder Sache der westeuropäischen Demokratien noch einer amerikanischen Regierung, sondern der diesen Raum tragenden volkhaften und staatlichen Mächte, insonderheit des Deutschen Reiches. Seit der Erklärung, die der Reichskanzler Adolf Hitler am 20. Februar 1938 im Deutschen Reichstag gegeben hat, besteht auf der Grundlage unseres nationalsozialistischen Volksgedankens ein deutsches Schutzrecht für die deutschen Volksgruppen fremder Staatsangehörigkeit. [35] Damit ist ein echter völkerrechtlicher Grundsatz aufgestellt. Er gehört zu dem Grundsatz gegenseitiger Achtung jeden Volkstums, der auch in den deutsch-polnischen Erklärungen vom 5. November 1937 feierlich anerkannt ist und die Ablehnung aller Assimilierungs-, Absorbierungs- und Schmelztiegel-Ideale bedeutet. Das ist die politische Idee, die für den mittel- und osteuropäischen Raum, in dem viele, aber - von den Juden abgesehen - einander nicht artfremde Völker und Volksgruppen leben, die hier entwickelte, spezifische Bedeutung eines völkerrechtlichen Großraumprinzips hat. Es ist keine „deutsche Monroedoktrin", wohl aber eine der heutigen politischen und geschichtlichen Lage des Deutschen Reiches wie des osteuropäischen Raumes entsprechende Anwendung des völkerrechtlichen Raumordnungsgedankens, auf dem auch der
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berechtigte Erfolg der 1823 verkündeten amerikanischen Monroelehre beruhte, so lange diese sich vor universalistisch-imperialistischer Verfälschung bewahrt hat und ein echtes, Interventionen raumfremder Mächte abwehrendes, völkerrechtliches Großraumprinzip geblieben ist. Daß neben diesem in der Erklärung vom 20. Februar 1938 enthaltenen Großraumprinzip die übrigen allgemeinen völkerrechtlichen Schutzrechte des Reiches für Staatsangehörige und Volksgenossen bestehen bleiben, versteht sich von selbst und ist ein Problem für sich, das den spezifischen Gedanken des völkerrechtlichen Großraumprinzips nicht aufhebt oder beeinträchtigt. Der deutsch-russische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 (abgedruckt Zeitschrift für Völkerrecht, Band XXIV, S. 99) verwendet bereits im amtlichen Text den Begriff des Reiches. Er setzt die Grenze der „beiderseitigen Reichsinteressen" im Gebiet des bisherigen polnischen Staates fest. Ausdrücklich wird in Art. 2 des Vertrages jegliche Einmischung dritter Mächte in diese Abmachung abgelehnt und in der Einleitung als Zweck des Vertrages betont, daß den dort lebenden Völkerschaften ein ihrer völkischen Eigenart entsprechendes friedliches Dasein gesichert werden soll. Damit war das Versailler System des sogenannten Minderheitenschutzes für diesen Teil des europäischen Raumes erledigt. Aus den baltischen Ländern ist im Gesamtzusammenhang der politischen Neuordnung im Osten die deutsche Bevölkerung auf das Gebiet des Deutschen Reiches umgesiedelt worden (deutsch-estnisches Protokoll über die Umsiedlung der deutschen Volksgruppen vom 15. Oktober 1939 und deutsch-litauischer Vertrag vom 30. Oktober 1939).[36] Dazu kommt die Rückwanderung der Deutschen aus Wolhynien und Bessarabien. Für den Donauraum hat der Wiener Schiedsspruch des deutschen und des italienischen Außenministers vom 30. August 1940 die neue Gebietsgrenze zwischen Ungarn und Rumänien unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Volksordnung gezogen. [37] Gleichzeitig sind zwischen der Reichsregierung und der ungarischen und der rumänischen Regierung Abmachungen zum Schutze der deutschen Volksgruppen in beiden Ländern getroffen worden, so daß auch hier das liberaldemokratische, individualistische Versailler Minderheitensystem überwunden und durch den Gedanken einer Volksgruppenordnung ersetzt ist. Für die Dobrudscha sieht der rumänisch-bulgarische Vertrag vom 7. September 1940 eine Pflichtumsiedlung der beiderseitigen Volksgruppen aus der Nord- und der Süddobrudscha vor.[38] In allen diesen Fällen hat sich der Grundsatz der Nichteinmischung raumfremder Mächte als geltendes Prinzip des heutigen Völkerrechts auch hinsichtlich des Volksgruppenrechtes durchgesetzt.
V. Der Reichsbegriff im Völkerrecht Eine Großraumordnung gehört zum Begriff des Reiches, der hier als eine spezifisch völkerrechtliche Größe in die völkerrechtswissenschaftliche Erörterung eingeführt werden soll. Reiche in diesem Sinne sind die führenden und tragenden
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen. Der Großraum ist natürlich nicht identisch mit dem Reich in dem Sinne, daß das Reich der von ihm vor Interventionen bewahrte Großraum selber wäre; und nicht jeder Staat oder jedes Volk innerhalb des Großraumes ist selber ein Stück Reich, so wenig jemand bei der Anerkennung der Monroedoktrin daran denkt, Brasilien oder Argentinien zu einem Bestandteil der Vereinigten Staaten von Amerika zu erklären. Wohl aber hat jedes Reich einen Großraum, in den seine politische Idee ausstrahlt und der fremden Interventionen nicht ausgesetzt sein darf. Der Zusammenhang von Reich, Großraum und Nichtinterventionsprinzip ist grundlegend. Erst durch ihn erhalten die Begriffe Intervention und Nichtintervention, die für jedes auf dem Zusammenleben der verschiedenen Völker beruhende Völkerrecht ganz unentbehrlich, heute aber heillos verwirrt sind, ihre theoretische und praktische Brauchbarkeit. Im bisherigen, staatlich konstruierten Völkerrecht war das berühmte Witzwort Talleyrands, Nichtintervention bedeute ungefähr dasselbe wie Intervention, nicht etwa ein überspitztes Paradox, sondern eine alltägliche Erfahrungstatsache. [39] Sobald aber völkerrechtliche Großräume mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte anerkannt sind und die Sonne des Reichsbegriffes aufgeht, wird ein abgrenzbares Nebeneinander auf einer sinnvoll eingeteilten Erde denkbar und kann der Grundsatz der Nichtintervention seine ordnende Wirkung in einem neuen Völkerrecht entfalten 60. Wir wissen, daß die Bezeichnung „Deutsches Reich" in ihrer konkreten Eigenart und Hoheit nicht übersetzbar ist. Es gehört zu der Geschichtsmächtigkeit jeder echten politischen Größe, daß sie ihre eigene, nicht beliebig subsumierbare Bezeichnung mitbringt und ihren eigentümlichen Namen durchsetzt. Reich, Imperium, Empire sind nicht dasselbe und von innen gesehen untereinander nicht vergleichbar. Während „Imperium" oft die Bedeutung eines universalistischen, Welt und Menschheit umfassenden, also übervölkischen Gebildes hat (wenn auch nicht haben muß, da es mehrere und verschiedenartige Imperien nebeneinander geben 60 Die neueste monographische Behandlung des völkerrechtlichen Interventionsproblems von Gerhard Ostermeyer, Die Intervention in der Völkerrechtstheorie und -praxis unter besonderer Berücksichtigung der Staatenpraxis des 19. Jahrhunderts (Abhandlungen der Hansischen Universität, herausgegeben von L. Raape und R. Laun, Heft 36, 1940) enthält gute Ansätze konkreten Ordnungsdenkens, übersieht aber das weltpolitische Raumproblem und geht an der eigentlichen Frage vorbei, die mit dem allgemeinen Begriff „Notstandsintervention" nicht zu lösen ist. Statt dessen hätte die Struktur der konkreten Ordnung „europäisches Völkerrecht" und die völkerrechtliche Bedeutung des „Konzerts der Großmächte" und seiner Methoden herausgearbeitet werden sollen. Wer im Volkerrecht von „Notstand" und von Intervention spricht, sollte doch das Quis judicabit? nicht immer vergessen. Mit pseudojuristischen Allgemeinbegriffen bleibt man in einem entscheidungslosen Hin und Her zwischen der grenzenlosen Zulassung völlig unabsehbarer „humanitärer" Interventionen und der ebenso grenzenlosen Ablehnung auch der kleinsten „Einmischung", die dann gleich als ein „völkerrechtliches Delikt" erscheinen muß.
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kann), ist unser Deutsches Reich wesentlich volkhaft bestimmt und eine wesentlich nichtuniversalistische, rechtliche Ordnung auf der Grundlage der Achtung jedes Volkstums. Während „Imperialismus" seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer oft als bloßes Schlagwort mißbrauchten Bezeichnung ökonomisch-kapitalistischer Kolonisierungs- und Expansionsmethoden geworden ist 6 1 , blieb das Wort „Reich" von diesem Makel frei. Auch bringen sowohl die Erinnerungen an die Völkermischungen des untergehenden römischen Imperiums wie die Assimilierungs- und Schmelztiegel-Ideale der Imperien westlicher Demokratie den Begriff des Imperiums in den schärfsten Gegensatz zu einem volkhaft aufgefaßten, alles volkliche Leben achtenden Reichsbegriff. Das wirkt um so stärker, als das Deutsche Reich, in der Mitte Europas, zwischen dem Universalismus der Mächte des liberaldemokratischen, völkerassimilierenden Westens und dem Universalismus des bolschewistisch-weltrevolutionären Ostens lag und nach beiden Fronten die Heiligkeit einer nichtuniversalistischen, volkhaften, völkerachtenden Lebensordnung zu verteidigen hatte. Eine völkerrechtliche Betrachtung muß aber nicht nur die innere Einzigartigkeit, sondern auch das Zusammenleben und Nebeneinander der politischen Größen sehen, die Träger und Gestalter der völkerrechtlichen Ordnung sind. Aus praktischen wie theoretischen Gründen ist es notwendig, dieses Neben-, Mit- und Gegeneinander wirklicher Größen im Auge zu behalten. Jede andere Betrachtungsweise leugnet entweder das Völkerrecht, indem sie jedes einzelne Volk isoliert, oder sie verfälscht, wie es das Genfer Völkerbundsrecht getan hat, das Recht der Völker in ein universalistisches Weltrecht. Möglichkeit und Zukunft des Völkerrechts hängen also davon ab, daß die wirklich tragenden und gestaltenden Größen des Zusammenlebens der Völker richtig erkannt und zum Ausgangspunkt der Erörterung und Begriffsbildung gemacht werden. Diese tragenden und gestaltenden Größen sind heute nicht mehr, wie im 18. und 19. Jahrhundert, Staaten, sondern Reiche. Die richtige Benennung ist dabei von großer Bedeutung. Wort und Name sind nirgends nebensächlich, am wenigsten bei politisch-geschichtlichen Größen, die das Völkerrecht zu tragen bestimmt sind. Der Streit um Worte wie „Staat", „Souveränität", „Unabhängigkeit" war das Zeichen tiefer liegender, politischer Auseinandersetzungen, und der Sieger schrieb nicht nur die Geschichte, sondern bestimmte auch das Vokabularium und die Terminologie. Die Bezeichnung „Reiche", die hier vorgeschlagen wird, kennzeichnet am besten den völkerrechtlichen Sachverhalt der Verbindung von Großraum, Volk und politischer Idee, der unseren Ausgangspunkt darstellt. [40] Die Bezeichnung „Reiche" hebt die eigentümliche 61
Eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff des Imperialismus und seiner umfangreichen Literatur würde den Rahmen unserer Darlegung sprengen und muß einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Ich möchte aber wenigstens auf die überaus klare Darlegung von Werner Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus (Der moderne Kapitalismus, Bd. III, 1), München und Leipzig 1927, S. 66 ff., und auf den oben (S. 284/37) genannten Aufsatz von Carl Brinkmann und Heinrich Triepel, a. a. O., S. 185 ff. (Imperialismus und Hegemonie) hinweisen.
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
Besonderheit jedes einzelnen dieser Reiche in keiner Weise auf. Sie vermeidet die das Völkerrecht gefährdende leere Allgemeinheit, wie sie in Worten wie „Großmachtsphäre", „Block", „Raum- und Machtkomplex", „Gemeinwesen", „Commonwealth" usw., oder gar in der inhaltslosen Raumangabe „Bereich" liegen würde; sie ist also konkret und prägnant im Hinblick auf die Wirklichkeit der gegenwärtigen Weltlage. Sie gibt andererseits aber auch eine gemeinsame Benennung der mehreren, maßgebenden Größen, ohne welche gemeinsame Benennung jede völkerrechtliche Erörterung und Verständigung sofort aufhören müßte; vermeidet also den andern, ebenfalls das Völkerrecht gefährdenden Irrtum, der aus der Konkretisierung eine vereinsamende, jeden Zusammenhang aufhebende Isolierung der einzelnen politischen Größe macht. Sie entspricht endlich dem deutschen Sprachgebrauch, der das Wort„Reich" in den mannigfaltigsten Verbindungen - Reich des Guten und des Bösen, Reich des Lichtes und Reich der Finsternis, sogar in „Pflanzen- und Tierreich" - als Ausdruck, sei es eines Kosmos im Sinne einer konkreten Ordnung, sei es einer krieg- und kampffähigen, Gegenreichen gewachsenen geschichtlichen Macht, verwendet, der aber auch zu allen Zeiten gerade die großen, geschichtsmächtigen Gebilde - das Reich der Babylonier 62 , der Perser, der Makedonier und der Römer, die Reiche der germanischen Völker wie die ihrer Gegner - in einem spezifischen Sinne immer „Reiche" genannt hat. Darüber hinaus würde es uns von dem rein völkerrechtlichen Sinn und Ziel unserer Arbeit ablenken und die Gefahr endloser Zerredungen heraufbeschwören, wollten wir uns hier auf alle denkbaren geschichtsphilosophischen, theologischen und ähnlichen Deutungsmöglichkeiten einlassen, zu denen das Wort „Reich" Veranlassung geben kann. Hier kommt es nur darauf an, dem bisherigen Zentralbegriff des Völkerrechts, dem Staat, einen einfachen völkerrechtlich brauchbaren, aber durch seine Gegenwartsnähe überlegenen, höheren Begriff entgegenzusetzen. Das bisherige im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte und in unser 20. Jahrhundert hinein weitergeführte Völkerrecht ist allerdings ein reines Staatenrecht. Trotz einzelner Besonderheiten und Auflockerungen erkennt es grundsätzlich nur Staaten als Völkerrechtssubjekte an. Von Reichen ist nicht die Rede, obwohl noch jeder aufmerksame Betrachter sich darüber gewundert hat, wie sehr die politischen und wirtschaftlichen Lebensinteressen des englischen Weltreiches mit den Sätzen dieses Völkerrechts harmonieren. Auch das englische Weltreich können sich die Lehrbücher des Völkerrechts nur als eine „Staatenverbindung" vorstellen.[40a] Dabei ist der Reichsbegriff des englischen Empire durchaus besonderer Art und als „Staatengemeinschaft" nicht zu begreifen 63. Er ist, wie das oben (unter III) gezeigt 62 „In Babylon erhob sich zuerst das Reich" (To babilonie irhuf sik irst dat rike), Sachsenspiegel III, 44, § 1; zum mittelalterlichen Reichsbegriff vgl. auch Otto Brunner, Land und Herrschaft, 1939, S. 217, 234 f. 63 So z. B. Friedrich Apelt, Das britische Reich als völkerrechtsverbundene Staatengemeinschaft (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Heft 90, Leipzig 1934). Vom Staat her läßt sich die Alternative von zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Beziehungen nicht überwinden. Das liegt in der dezisionistischen Struktur des Staatsbegriffes, der alle Fragen
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wurde, schon durch seine geographisch zusammenhanglose Lage universalistisch bestimmt. Der diese Art von Weltreichsgedanken zum Ausdruck bringende Kaisertitel des Königs von England ist an weit entfernte, überseeische, fernasiatische Kolonialbesitzungen, an Indien angeknüpft. Der Titel eines „Kaisers von Indien", eine Erfindung Benjamin Disraelis, ist nicht nur ein persönliches Dokument des „Orientalismus" seines Erfinders, sondern entspricht auch der Tatsache, die Disrael i selbst in dem Ausspruch formuliert hat: „England is really more an Asiatic Power than an European."[41] Z u einem solchen Weltreich gehört kein Völkerrecht, sondern ein allgemeines Welt- und Menschheitsrecht. Die systematische und begriffliche Arbeit der Völkerrechtswissenschaft kannte aber, wie eben gesagt, bisher überhaupt keine Reiche, sondern nur Staaten. In der politisch-geschichtlichen Wirklichkeit gab es selbstverständlich immer führende Großmächte; es gab ein „Konzert der europäischen Mächte" und i m Versailler System die „alliierten Hauptmächte". Die rechtliche Begriffsbildung hielt an einem Allgemeinbegriff „Staat" und an der rechtlichen Gleichheit aller unabhängigen und souveränen Staaten fest 6 4 . Eine echte Rangordkonkreter völkerrechtlicher Ordnung in eine hoffnungslose Sackgasse führt. Demgegenüber ist es ein beachtenswerter Fortschritt, daß Santi Romano (Corso di Diritto Internazionale, 4. Aufl., Padua 1939, S. 79) aus seinem „institutionellen" Denken heraus erkennt, daß gewisse geschlossene und mit eigenen Institutionalisierungen ausgestattete „Staaten"-Verbindungen weder innerstaatliche noch zwischenstaatliche Verbindungen sind. Er rechnet dahin die Konföderationen, die Realunionen und die Kolonialprotektorate. Paolo Biscaretti di Ruffia hat diese Frage in der Festschrift für Santi Romano, Padua 1939, in einem Aufsatz über „die nicht-völkerrechtlichen zwischenstaatlichen Verbindungen, die keine Bundesstaaten sind" (Süll' esistenza di Unioni non internazionali fra Stati, diverse dagli Stati di Stati), weiter ausgeführt. Insbesondere behandelt er hier den britischen „Commonwealth of Nations" als Beispiel einer solchen weder zwischenstaatlichen noch rein innerstaatlichen Staatenverbindung. Leider gelingt es ihm nicht, die schwierigen Fragen solcher Gebilde überzeugend zu lösen, weil er im dezisionistischen Staatsbegriff steckenbleibt und daher das Dilemma von innerstaatlich und zwischenstaatlich nicht überwinden kann. Was heißt denn „Unioni non intemazionali fra Stati"? Solange das „Internationale" Recht wesentlich ein „zwischenstaatliches" Recht ist, nichts anderes als eine offensichtliche Verwirrung, nämlich „Unioni non inteistatali fra Stati"! Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns folgerichtig daran gewöhnten, wenigstens sprachlich zwischen „internationalen" und „interstatalen", „zwischenstaatlichen" Beziehungen stets genau zu unterscheiden und die verwischenden Bezeichnungen von „internationaler" Gemeinschaft und „VÖlkerrechtsgemeinschaft" als Benennungen des zwischenstaatlichen Rechts zu vermeiden. Die staatsbezogene Begrifflichkeit, in der Biscaretti di Ruffia verharrt, macht es ihm unmöglich, mit der Alternative von innerstaatlich und zwischenstaatlich zu brechen. Dem staatsbezogenen Denken müssen völkerrechtliche Beziehungen, die weder zwischenstaatliche noch innerstaatliche und Staatenverbindungen, die keine zwischenstaatlichen Verbindungen sind, unkonstruierbar, ja völlig widersinnig erscheinen. Nur von einer höheren als der staatlichen Kategorie aus, z. B. vom Bund (der als Begriff der Begriffsalternative Staatenbund oder Bundesstaat vorhergeht) oder vom Reich und vom Großraum, lassen sich jene von Santi Romano genannten Gebilde rechtswissenschaftlich verstehen, ohne daß ihre mit der Alternative von innerstaatlich und zwischenstaatlich nicht zu fassende rechtliche Eigenart zerstört wird. 64
Carl Bilfingen Zum Problem der Staatengleichheit im Völkerrecht. Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. IV (1934), S. 481 ff., und Les bases
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
nung der Völkerrechtssubjekte wurde von der Völkerrechtswissenschaft grundsätzlich ignoriert. Die sachliche und qualitative Verschiedenheit hat trotz mancher naheliegenden Erörterungen auch in der Genfer Völkerbundsjurisprudenz keine offene und folgerichtige Anerkennung gefunden, obwohl die Fiktion der völkerrechtlichen Gleichheit angesichts der offenkundigen Hegemonie Englands und Frankreichs gerade im Genfer Völkerbund aller Wahrheit und Wirklichkeit fortwährend ins Gesicht schlug. Daß dieser überkommene Staatsbegriff als Zentralbegriff des Völkerrechts der Wahrheit und Wirklichkeit nicht mehr entspricht, ist seit langem zum Bewußtsein gekommen. Ein großer Teil der Völkerrechtswissenschaft der westlichen Demokratien, insbesondere auch der Genfer Völkerbundsjurisprudenz, hat die Entthronung des Staatsbegriffes auf dem Wege eines Vorstoßes gegen den Souveränitätsbegriff in Angriff genommen. [42] Das geschah mit der Tendenz, der zweifellos fälligen Überwindung des Staatsbegriffs im Völkerrecht die Wendung ins Pazifistisch-Humanitäre, also in ein universalistisches Weltrecht zu geben, dessen Stunde mit der Niederlage Deutschlands und mit der Gründung des Genfer Völkerbundes gekommen zu sein schien. Auch jetzt noch blieb jene obenerwähnte prästabilierte Harmonie von Völkerrecht und politischem Interesse des englischen Weltreiches gewahrt, ja, sie war eigentlich auf ihrem Höhepunkt angelangt. Deutschland stand, solange es wehrlos und schwach war, gegenüber diesen Tendenzen ganz in der Defensive und konnte, völkerrechtlich gesehen, zufrieden sein, wenn es ihm gelang, seine staatliche Unabhängigkeit zu verteidigen und seine Staatsqualität zu wahren. Mit dem Sieg der nationalsozialistischen Bewegung ist aber auch in Deutschland freilich von ganz anderen Ausgangspunkten aus und mit ganz anderen Zielen als jene pazifistisch-universalistische Staatsentthronung - ein Vorstoß zur Überwindung des Staatsbegriffs im Völkerrecht erfolgreich geworden. Angesichts der mächtigen Dynamik unserer außenpolitischen Entwicklung soll die nunmehr gegebene Lage des Völkerrechts im folgenden kurz erörtert und durch die Einführung unseres Reichsbegriffs völkerrechtlich geklärt werden, nachdem die staats- und verfassungsrechtliche Bedeutung des Reichsbegriffs durch Darlegungen von Reichsminister Lammers und Staatssekretär Stuckart 65 bereits klargestellt worden ist. Das überkommene zwischenstaatliche Völkerrecht findet seine Ordnung darin, daß es eine bestimmte konkrete Ordnung mit gewissen Eigenschaften, eben einen fondamentales de la Communautd des Etats in Recueil des Cours de l'Acaddmie de droit international 1939, S. 95 f. (Egalitd et Communaut6 des £tats). 65 H. H. Lammers, Staatsführung im Dritten Reich, in der Vortragsreihe der Österreichischen Verwaltungsakademie, Berlin 1938, S. 16: „Staatsidee und Völksidee in sich vereinend, scheint mir das Wort vom Dritten Reich der Deutschen aber auch von tiefer staatsrechtlicher Bedeutung und zum ersten Male dierichtigeBezeichnung für den deutschen Staat zu sein." Ebenso im Völkischen Beobachter vom 2., 3. und 4. September 1938. Wilhelm Stuckart, zuerst in dem Vortrag Partei und Staat, Deutscher Juristentag 1936, S. 271 - 273, über das Reich als völkische Lebensform und Lebensordnung.
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„Staat", bei allen Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft in gleicher Weise voraussetzt. Wenn die Herrschaft des Staatsbegriffs im Völkerrecht in den letzten Jahren in Deutschland vom Volksbegriff aus erschüttert worden ist, so liegt es mir fern, das Verdienst dieser völkerrechtswissenschaftlichen Leistung herabzusetzen. Nur darf nicht übersehen werden, daß im bisherigen Staatsbegriff ein Mindestmaß von innerer, berechenbarer Organisation und innerer Disziplin enthalten ist und daß dieses organisatorische Minimum die eigentliche Grundlage alles dessen bildet, was man als die konkrete Ordnung „Völkerrechtsgemeinschaft" ansehen konnte. Insbesondere hat der Krieg, als eine anerkannte Einrichtung dieser zwischenstaatlichen Ordnung, sein Recht und seine Ordnung wesentlich darin, daß er ein Staatenkrieg ist, d. h. daß Staaten als konkrete Ordnungen ihn gegen Staaten als konkrete Ordnungen gleicher Ebene führen. Ähnlich wie ein Duell, wenn es einmal rechtlich anerkannt ist, seine innere Ordnung und Gerechtigkeit darin findet, daß auf beiden Seiten satisfaktionsfähige Ehrenmänner (wenn auch vielleicht von sehr verschiedener körperlicher Kraft und Waffenübung) einander gegenüberstehen. Der Krieg ist in diesem völkerrechtlichen System eine Beziehung von Ordnung zu Ordnung und nicht etwa von Ordnung zu Unordnung. Diese letzte Beziehung, von Ordnung zu Unordnung, ist „Bürgerkrieg". Die unparteiischen Zeugen, die zu einem solchen Staatenkriegsduell gehören, können in einem zwischenstaatlichen Völkerrecht nur die Neutralen sein. [43] Das bisherige zwischenstaatliche Völkerrecht fand seine wirkliche Garantie nicht in irgendeinem inhaltlichen Gerechtigkeitsgedanken oder einem sachlichen Verteilungsprinzip, auch nicht in einem internationalen Rechtsbewußtsein, das sich während des Weltkrieges und in Versailles als nicht vorhanden erwiesen hat, sondern wiederum in voller Harmonie mit dem außenpolitischen Interesse des britischen Reiches66 - in einem Gleichgewicht der Staaten. Die maßgebende Vorstellung ist, daß die Machtverhältnisse der zahlreichen großen und kleinen Staaten sich fortwährend ausbalancieren und daß gegen den jeweils übermächtigen und daher dem Völkerrecht gefährlichen Stärkeren automatisch eine Koalition der Schwächeren zustande kommt. Dieses schwankende, von Fall zu Fall sich bildende, fortwährend sich verlagernde, daher äußerst labile Gleichgewicht kann nach Lage der Sache gelegentlich wirklich eine Garantie des Völkerrechts bedeuten, nämlich dann, wenn genügend starke neutrale Mächte vorhanden sind. Die Neutralen werden auf diese Weise nicht nur die unparteiischen Zeugen des Kriegsduells, sondern auch die eigentlichen Garanten und Hüter des Völkerrechts. Es gibt in einem solchen völkerrechtlichen System so viel wirkliches Völkerrecht, wie es wirkliche Neutralität gibt. Der Genfer Völkerbund hat nicht zufällig seinen Sitz in Genf, und der Internationale Ständige Gerichtshof residiert aus gutem Grund im Haag 67 . Aber 66 Fritz Berber, Prinzipien der britischen Außenpolitik, Schriften des Deutschen Instituts für außenpolitische Forschung, Berlin 1939, S. 20 f. 67 Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1939; dazu Carl Schmitt, Neutralität und Neutralisierungen, in „Positionen und Begriffe", Hamburg 1940, S. 271 f.
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
weder die Schweiz noch die Niederlande sind starke Neutrale, die das Völkerrecht im Ernstfall allein und aus eigener Kraft verteidigen könnten. Gibt es, wie während des letzten Weltkrieges 1917/18, keine starken Neutralen mehr, so gibt es, wie wir erfahren haben, auch kein Völkerrecht mehr. Das bisherige Völkerrecht beruhte ferner auf der unausgesprochenen, aber im wesentlichen und jahrhundertelang auch wirklichen Voraussetzung, daß jenes, das Völkerrecht garantierende Gleichgewicht sich um eine schwache Mitte Europas bewegte. Es konnte eigentlich nur funktionieren, wenn hier viele mittlere und kleinere Staaten gegeneinander ausgespielt werden konnten. Die zahlreichen deutschen und italienischen Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts wurden, wie Clausewitz anschaulich sagt, als die kleinen und mittleren Gewichtssteine zur Ausbalancierung zwischen den Großmächten bald auf dieser, bald auf jener Seite in die Waagschale geworfen. [44] Eine starke politische Macht in der Mitte Europas mußte ein derartig konstruiertes Völkerrecht zerstören. Die Juristen eines solchen Völkerrechts konnten daher behaupten und auch in vielen Fällen wirklich glauben, daß der gegen ein starkes Deutschland gerichtete Weltkrieg 1914 bis 1918 ein Krieg des Völkerrechts selbst und die scheinbare Vernichtung der politischen Macht Deutschlands im Jahre 1918 „der Sieg des Völkerrechts über die brutale Gewalt" war. Nicht nur für eine geschichtlich-politische, sondern auch für eine rechtswissenschaftliche Betrachtung und Forschung ist es notwendig und keineswegs unjuristisch, sich auf diesen Sachverhalt zu besinnen, um den gegenwärtigen Wendepunkt der völkerrechtlichen Entwicklung richtig zu erfassen. Denn heute, angesichts eines neuen und starken Deutschen Reiches, wird jene gegen ein starkes Deutsches Reich gerichtete völkerrechtliche Begriffswelt in den westlichen Demokratien und in allen von ihnen beeinflußten Ländern mit großer Wucht aufs neue mobilisiert. Angeblich streng wissenschaftliche Zeitschriften des Völkerrechts stellen sich in den Dienst dieser Politik und arbeiten an der moralischen und juristischen Vorbereitung eines „gerechten Krieges" gegen das Deutsche Reich. Der im Januar-Heft 1939 des American Journal of International Law erschienene Aufsatz von J. W. Garner, „The Nazi proscription of German professors of international law", ist in dieser Hinsicht ein geradezu erstaunliches Dokument.[45] Die deutsche Völkerrechtswissenschaft hat, wie gesagt, in den letzten Jahren einen sehr bedeutenden Vorstoß unternommen, um das Völkerrecht aus einer bloß zwischenstaatlichen Ordnung zu einem wirklichen Recht der Völker zu machen. Unter den Veröffentlichungen dieser Richtung verdient der erste systematische Entwurf eines neuen, auf dem Volksbegriff aufgebauten Völkerrechts von Norbert Gürke, Volk und Völkerrecht (Tübingen 1935), als positive wissenschaftliche Leistung in erster Linie genannt zu werden. [46] Aber es ist selbstverständlich nicht möglich und liegt auch nicht im Sinne Gürkes, nun einfach aus der bisherigen zwischenstaatlichen eine zwischenvolkliche Ordnung zu machen. Dann würde nämlich nur der alten zwischenstaatlichen Ordnung durch den Begriff des Volkes neue Substanz und neues Leben zugeführt. An die Stelle eines innerlich neutralen, abstrakten Staatsbegriffes wäre ein substanzhafter Volksbegriff getreten, im übrigen
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aber die systematische Struktur der überkommenen VÖlkerrechtsordnung beibehalten. Das wäre dann schließlich nur eine Bluttransfusion in die alten Adern, nur eine Aufwertung oder Auffüllung des alten Staatenrechts zu einem Völkerrecht. So richtig und verdienstvoll dieser Vorstoß ist, zwei Gesichtspunkte dürfen, glaube ich, dabei nicht außer acht bleiben: Der erste betrifft die völkerrechtlichen Ordnungselemente, die im bisherigen Staatsbegriff als einer organisatorisch bestimmten Größe liegen. „Staat" im Sinne der VÖlkerrechtsordnung setzt jedenfalls ein Mindestmaß von Organisation, berechenbarem Funktionieren und Disziplin voraus. Ich will hier nicht auf die Kontroverse eingehen, die auf der einen Seite von Reinhard Höhn geführt wird, der den Staat entschieden und folgerichtig als „Apparat" bestimmt,[47] während auf der anderen Seite verschiedenartige Vorstellungen, wie Staat als Form oder als Gestalt, verwendet werden. Begnügen wir uns hier mit der Formulierung Gottfried Neeßes, daß der Staat wesentlich Organisation und das Volk wesentlich Organismus ist. [48] Apparat und Organisation sind aber, wie auch Höhn selbstverständlich weiß, durchaus keine „ungeistigen" Dinge. Das moderne Zusammenleben der verschiedenen Völker und besonders der großen oder gar der bedrohten Völker erfordert eben eine straffe Organisation im eigentlichen Sinne des Wortes; er verlangt ein Mindestmaß von innerer Konsistenz und sicherer Berechenbarkeit. Dazu gehören hohe geistige und sittliche Qualitäten, und bei weitem nicht jedes Volk ist schon als solches diesem Mindestmaß an Organisation und Disziplin gewachsen. Der völkerrechtswissenschaftliche Kampf gegen den Staatsbegriff müßte sein Ziel verfehlen, wenn er der echten Ordnungsleistung nicht gerecht würde, die - in der Wirklichkeit oft sehr problematisch, aber im Grundsatz doch immer verlangt - dem bisherigen Staatsbegriff wesentlich war. Ein zum Staat auch in diesem nur organisatorischen Sinne unfähiges Volk kann gar nicht Völkerrechtssubjekt sein. Im Frühjahr 1936 zum Beispiel hat sich gezeigt, daß Abessinien kein Staat war. Nicht alle Völker sind imstande, die Leistungsprobe zu bestehen, die in der Schaffung eines guten modernen Staatsapparates liegt, und sehr wenige sind einem modernen Materialkrieg aus eigener organisatorischer, industrieller und technischer Leistungskraft gewachsen. Zu einer neuen Ordnung der Erde und damit zu der Fähigkeit, heute Völkerrechtssubjekt ersten Ranges zu sein, gehört ein gewaltiges Maß nicht nur „natürlicher", im Sinne naturhaft ohne weiteres gegebener Eigenschaften, dazu gehört auch bewußte Disziplin, gesteigerte Organisation und die Fähigkeit, den nur mit einem großen Aufgebot menschlicher Verstandeskraft zu bewältigenden Apparat eines modernen Gemeinwesens aus eigener Kraft zu schaffen und ihn sicher in der Hand zu haben. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die völkerrechtlichen Ordnungselemente des bisherigen Staatsbegriffs, die im Staat als einer Raumordnung liegen. Jede völkerrechtlich brauchbare Vorstellung eines Trägers oder Subjekts der VÖlkerrechtsordnung muß außer einer personalen Bestimmung (der Staats- und Volkszugehörigkeit) auch eine territoriale Abgrenzungsmöglichkeit in sich enthalten. Diese Seite des Staatsbegriffes wird sogar von den extremsten englischen Pluralisten aner-
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
kannt. G. D. H. Cole, dessen Ansichten in dieser Hinsicht vielleicht authentischer sind als die des sonst für den englischen Pluralismus meistens zitierten Juden Laski, sagt zum Beispiel, der Staat als „political body" sei „an essentially geographical grouping" 68 . Statt weiterer Ausführungen möchte ich hier auf ein Symptom von größter Bedeutung aufmerksam machen: die moderne technische Überwindung des Raumes durch Flugzeug und Radio hat nicht etwa, wie man zuerst vermutet hatte, und wie man nach manchen sonstigen, zum Teil sehr wichtigen Analogien erwarten sollte, völkerrechtlich dazu geführt, daß der Luftraum im Völkerrecht nach der Analogie des freien Meeres behandelt wurde, vielmehr ist, im Gegenteil, der Gedanke der territorialen Souveränität des Staates im atmosphärischen Raum in besonders betonter Weise die Grundlage aller bisherigen vertraglichen und sonstigen Regelungen des internationalen Flug- und Funkwesens geworden. [49] Vom technischen Standpunkt aus ist das sonderbar und geradezu grotesk, besonders bei territorial kleinen Staaten, wenn man bedenkt, wie vielen „Souveränitäten" ein modernes Flugzeug unterstehen soll, wenn es in wenigen Stunden über viele kleine Staaten hinwegfliegt, oder gar was aus den vielen Staatshoheiten über alle die elektrischen Wellen wird, die ununterbrochen mit Sekundenschnelle durch den atmosphärischen Raum über den Erdball kreisen.[50] Die völkerrechtswissenschaftliche Überwindung des alten, zentralen Staatsbegriffs ist hier situationsmäßig zweifellos fällig. Es gibt auch schon wichtige Ansätze dazu. Man hat in Deutschland nicht genügend darauf geachtet, in welchem Maße eine in England vertretene Theorie gerade diese moderne technische Entwicklung benutzt, um durch die Überwindung des Staates unmittelbar in ein universalistisches, sei es vom Genfer Völkerbund, sei es von anderen Organisationen getragenes Weltrecht vorzustoßen und dadurch die Staatsüberwindung im universalistischen Sinne plausibel zu machen. Insbesondere hat J. M. Spaight in mehreren Schriften 69 solche Erwägungen zu dem Gedanken benutzt, daß die moderne technische Entwicklung, insbesondere der Luftwaffe, den Staatenkrieg überholen werde, daß die Luftwaffe genüge, um die Erde in Ruhe und Ordnung zu halten, so daß die Staatenkriege von selbst aufhören und schließlich nur noch Bürgerkriege oder Sanktionskriege übrigbleiben. [51] Solche Konstruktionen, die oft großen Eindruck machen, zeigen, daß das Problem einer neuen Raumordnung völkerrechtswissenschaftlich nicht länger außer acht bleiben kann. Im Volksbegriff an sich ist aber ein völlig neues, den bloßen Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts überwindendes Raumordnungselement noch nicht so deutlich, daß damit allein die bisherige zwischenstaatliche Ordnung in einer überzeugenden Weise rechtswissenschaftlich aus den Angeln gehoben wäre. 68 Conflicting Social Obligations, in Proceedings of the Aristotelian Society, Neue Reihe XV (1915), S. 151. Coles Gesellschaftslehre geht wohl auf die Theorie von Lewis Morgan: Ancient Society (1877) zurück. 69 Air power und Cities, London 1930 (die Fortführung von Air power and War Rights, 1924). Bemerkenswert und kennzeichnend ist besonders folgender Satz Spaight's: „Air power will clear the way of the acceptance of the new order of ideas" (An International Air Force, London 1932).
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Die Maße und Maßstäbe unserer Raumvorstellungen haben sich in der Tat wesentlich geändert. Das ist auch für die völkerrechtliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Das europäische Völkerrecht des 19. Jahrhunderts, mit seiner schwachen Mitte Europas und den westlichen Weltmächten im Hintergrunde, erscheint uns heute als eine von Riesen überschattete Kleinwelt. Dieser Horizont ist für ein modern gedachtes Völkerrecht nicht mehr möglich. Wir denken heute planetarisch und in Großräumen. Wir erkennen die Unabwendbarkeit kommender Raumplanungen, von denen Ministerialdirektor H. Wohlthat wie auch Reichsleiter General Ritter von Epp bereits gesprochen haben70. In dieser Lage besteht die Aufgabe der deutschen Völkerrechtswissenschaft darin, zwischen einer nur konservativen Beibehaltung des bisherigen zwischenstaatlichen Denkens und einem von den westlichen Demokratien her betriebenen, unstaatlichen und unvölkischen Übergreifen in ein universalistisches Weltrecht, den Begriff einer konkreten Großraumordnung zu finden, der beidem entgeht und sowohl den räumlichen Maßen unseres heutigen Erdbildes wie unseren neuen Begriffen von Staat und Volk gerecht wird. Das kann für uns nur der völkerrechtliche Begriff des Reiches sein als einer von bestimmten weltanschaulichen Ideen und Prinzipien beherrschten Großraumordnung, die Interventionen raumfremder Mächte ausschließt und deren Garant und Hüter ein Volk ist, das sich dieser Aufgabe gewachsen zeigt. Mit der Einführung der Begriffe Reich und Großraum ist freilich sofort auch die naheliegende Frage aufgeworfen, ob - wenn die Entwicklung wirklich zum Reich und zum Großraum geht - , das „Völkerrecht" dann nur die Beziehungen zwischen diesen Reichen und Großräumen betrifft oder ob Völkerrecht nur das Recht der innerhalb eines gemeinsamen Großraumes lebenden freien Völker ist. Offensichtlich ergeben sich nunmehr vier verschiedene Arten denkbarer Rechtsbeziehungen: Erstens solche zwischen den Großräumen im ganzen, weil diese Großräume selbstverständlich nicht hermetisch abgeschlossene Blöcke sein sollen, sondern auch zwischen ihnen ein ökonomischer und sonstiger Austausch und in diesem Sinne ein „Welthandel" stattfindet; zweitens zwischenreichische Beziehungen zwischen den führenden Reichen dieser Großräume; drittens zwischen-völkische Beziehungen innerhalb eines Großraumes und endlich - unter dem Vorbehalt der Nichteinmischung raumfremder Mächte - zwischen-völkische Beziehungen zwischen Völkern verschiedener Großräume. Die Bezeichnung „völkerrechtlich" ist wegen ihrer Vieldeutigkeit und Elastizität auf alle diese Beziehungen anwendbar. Im übrigen ist es bei weiterer Entwicklung und Klärung der Großraumbildung selbstverständlich, daß sich auch die Ausdrucksweise klärt und handlichere Formeln gefunden werden. Die für absehbare Zeit schlimmste Fehlerquelle wird darin liegen, daß die bisherigen staatsbezogenen Begriffe des rein zwischen-staatlichen Völkerrechts einfach auf die neuen Beziehungen zwischen den Großräumen und innerhalb ihrer
? o H. Wohlthat, Großraum und Meistbegünstigung, im Deutschen Volkswirt vom 23. Dezember 1938; Ritter von Epp, Rede vom 24. Februar 1939, vgl. Hakenkreuzbanner, Nr. 56, S.2.
20 Staat, Großraum, Nomos
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
übertragen werden. Auf diese Gefahr, die einer fruchtbaren Erörterung sehr nachteilig werden kann, möchte ich hier besonders nachdrücklich hinweisen. Soviel wissenschaftliche Arbeit auch noch erforderlich sein wird, um unseren Begriff des Reiches im einzelnen sicherzustellen, seine grundlegende Stellung für ein neues Völkerrecht ist ebensowenig bestreitbar wie seine spezifische, zwischen der alten Staatenordnung des 19. Jahrhunderts und dem universalistischen Ziel eines Weltreiches stehende Eigenart erkennbar und unterscheidbar ist. Als ich im Herbst 1937 meinen Bericht über „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff 4 7 1 der Abteilung für Rechtsforschung der Akademie für Deutsches Recht zu deren 4. Jahrestagung vorlegte, war die politische Gesamtlage von der heutigen noch wesentlich verschieden. Damals hätte der Reichsbegriff nicht, wie das jetzt hier geschieht, zum Angelpunkt des neuen Völkerrechts erhoben werden können. Im Anschluß an jenen Bericht wurde die Frage gestellt, was ich denn eigentlich Neues an die Stelle der alten Staatenordnung zu setzen hätte, da ich weder einfach beim alten bleiben noch mich den Begriffen der westlichen Demokratien unterwerfen wollte. Heute kann ich die Antwort geben. Der neue Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser Begriff des Reiches, der von einer von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht. In ihm haben wir den Kern einer neuen völkerrechtlichen Denkweise, die vom Volksbegriff ausgeht und die im Staatsbegriff enthaltenen Ordnungselemente durchaus bestehen läßt, die aber zugleich den heutigen Raumvorstellungen und den wirklichen politischen Lebenskräften gerecht zu werden vermag; die „planetarisch", d. h. erdraumhaft sein kann, ohne die Völker und die Staaten zu vernichten und ohne, wie das imperialistische Völkerrecht der westlichen Demokratien, aus der unvermeidlichen Überwindung des alten Staatsbegriffs in ein universalistisch-imperialistisches Weltrecht zu steuern. Der Gedanke eines zu den Trägern und Gestaltern eines neuen Völkerrechts gehörenden Deutschen Reiches wäre früher ein utopischer Traum und das auf ihm aufgebaute Völkerrecht nur ein leeres Wunschrecht gewesen. Heute aber ist ein machtvolles Deutsches Reich entstanden. Aus einer schwachen und ohnmächtigen ist eine starke und unangreifbare Mitte Europas geworden, die imstande ist, ihrer großen politischen Idee, der Achtung jedes Volkes als einer durch Art und Ursprung, Blut und Boden bestimmten Lebenswirklichkeit, eine Ausstrahlung in den mittel- und osteuropäischen Raum hinein zu verschaffen und Einmischungen raumfremder und unvölkischer Mächte zurückzuweisen. Die Tat des Führers hat dem Gedanken unseres Reiches politische Wirklichkeit, geschichtliche Wahrheit und eine große völkerrechtliche Zukunft verliehen.
71 Inzwischen als Heft 5 der Gruppe Völkerrecht der Schriften der Akademie für Deutsches Recht, herausgegeben von Reichsminister Dr. Hans Frank, in München bei Duncker & Humblot, 1938, erschienen.
Vlkerrechtliche Großraumordnung
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VI. Reich und Raum Der Gedanke des Großraumes, der sich zuerst in dem Zusammenhang wirtschaftlich-industriell-organisatorischer Entwicklung Bahn brach 72 , hat sich in kurzer Zeit auch im völkerrechtlichen Denken unwiderstehlich durchgesetzt. Die Veränderungen der Raumdimensionen und -maßstäbe sind zu auffällig und vor allem auch zu effektiv, als daß Vorkriegsvorstellungen hier noch haltbar wären. Wer möchte heute im Ernst für die gegenwärtige Beherrschung der Nordsee durch die deutsche Flotte und Luftwaffe noch die hilflosen Argumentationen über völkerrechtliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit wiederholen, mit denen man während des Weltkrieges 1914 - 18 das Problem der „Seesperre" zu lösen suchte?[52] Wer will die neuen Zonen und Raumausgrenzungen, die sowohl von Kriegführenden (als Gefahrenzonen aller Art) wie auch von Nichtkriegführenden (als Sicherheitszonen) in Anspruch genommen werden, mit den Maßen und Raumvorstellungen der Vorkriegszeit messen73? Jeder kennt die ausschlaggebende, alles beherrschende Stellung, die dem Begriff der Effektivität im Völkerrecht zukommt: bei der Okkupation herrenlosen Gebietes, der militärischen Besetzung, der Küstenblockade, der Seesperre, der Anerkennung als kriegführende Partei, als Regierung und Staat. Sollte gerade ein typisch situations- und technik-gebundener Begriff wie „Effektivität" an eine vergangene, oft um das Hundertfache überholte Technik gebunden bleiben? So krampfhaft sich der bisherige völkerrechtliche Positivismus im Dienst des damaligen status quo bemüht hat, er ist durch die im gegenwärtigen Kriege zutage tretende Entwicklung der effektiven Raumbeherrschung ganz von selbst ad absurdum geführt worden. Dabei ist die raumrevolutionäre Wirkung der Luftwaffe besonders stark. An einem dem bisherigen Völkerrecht unbekannten praktischen Problem wie dem der Verdunkelung von neutralen, dem Luftoperationsbereich benachbarten Gebieten wird man eher ein zeitgemäßes Neutralitätsrecht entwickeln können als durch Interpretationskünste an Vorkriegsverträgen. Ja, ich möchte hier eine noch weitergehende Behauptung wagen: während man bisher vom Recht des Meeres und der See zahlreiche friedens- und kriegsrechtliche Analogien für das Recht des Luftraumes zu gewinnen sucht 74 , scheint mir die künftige Entwicklung eher dahin zu gehen, daß umgekehrt das Recht des Meeres entscheidende Normen und Begriffe vom Recht des Luftraumes her erhalten wird. Denn das Meer ist heute nicht, wie das die Völkerrechtsautoren des 18. und 19. Jahrhunderts noch 72 Vgl. oben S. 270 ff.; ferner Zeitschr. für Völkerrecht XXIV (1940), S. 146 f. [Hier S. 235 ff.]. 73 Man vergleiche nur - zum Unterschied von den englischen und französischen Protesten vom 15. und 22. 1. 1940 - die deutsche Erklärung vom 14. 2. 1940 zu der amerikanischen Sicherheitszone (14. Resolution der Panamerikanischen Konferenz vom 3. 10. 1939). Dazu Z. f. V. XXIV (1940), S. 180 f. Ulrich Scheuner, Die Sicherheitszone des amerikanischen Kontinents, sowie im gleichen Heft Carl Schmitt, Raum und Großraum im Völkerrecht, S. 172. [Im vorl. Bd. S. 256]. 14
Roberto Sandiford, Brevi note sull'analogia fra Diritto Marittimo e Aeronautico, Studi di Diritto Aeronautico, VI (1933). *
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
annehmen, ein der menschlichen Herrschaft unzugängliches „Element"; es ist im Gegenteil im weitesten Maße ein „Raum" menschlicher Herrschaft und effektiver Machtentfaltung geworden. Wenn Reiche zusammenbrechen und um neue Ordnungen gekämpft wird, erscheint die Struktur der den alten Reichen zugeordneten Völkerrechtssysteme in greifbarer Deutlichkeit. Dann fallen die von der Kernfrage - die immer auch eine Raumfrage ist - ablenkenden Übermalungen eines subalternen Positivismus weg. Die alles beherrschenden und alles tragenden Grundbegriffe jedes Völkerrechts, Krieg und Frieden, werden in ihrer zeitgebundenen Konkretheit sichtbar, und die spezifische, für jedes Völkerrechtssystem kennzeichnende Vorstellung vom Erdraum und von einer Raumverteilung der Erde tritt dann offen zutage. Die jahrhundertelange Kleinräumigkeit deutschen Staatsdenkens, das fast immer auch Kleinoder Mittelstaatsdenken war, hat uns bisher den völkerrechtlichen Horizont versperrt. Sie wird heute mit derselben Schnelligkeit überwunden, mit der die großen militärischen und politischen Ereignisse ihren Lauf nehmen und der Erkenntnis zum Siege verhelfen, daß nicht Staaten, sondern Reiche die wahren „Kreatoren" des Völkerrechts sind. Die Staatsbezogenheit des früheren kontinental-kleinräumlichen Völkerrechtsdenkens äußerte sich vor allem darin, daß das Raumbild dieses Völkerrechts an dem Begriff „Staatsgebiet" ausgerichtet war. Staatsgebiet ist das Stück der Erdoberfläche (mit darüber liegendem Luftraum und darunter befindlichem unterirdischem Raum bis zum Erdmittelpunkt), das ausschließlich und geschlossen der „Staatsgewalt" unterworfen ist. Wir brauchen hier die verschiedenen Theorien und Konstruktionen der Lehre vom Staatsgebiet nicht zu behandeln75. Jedenfalls sieht ihr Raumbild so aus: Der Erdraum ist entweder festes Land (und dann wiederum entweder bereits wirkliches Staatsgebiet oder herrenloses, dem Erwerb durch Okkupation seitens einer Staatsgewalt zugängliches, also potentielles Staatsgebiet) oder aber freies Meer, wobei die Freiheit des Meeres wesentlich darin besteht, daß das Meer, die hohe See, weder wirkliches noch mögliches Staatsgebiet ist. Die großen Raumprobleme der weltpolitischen Wirklichkeit, Interessensphären, Interventionsansprüche, Interventionsverbote für raumfremde Mächte, Zonen aller Art, Raumausgrenzungen auf hoher See (Verwaltungszonen, Gefahrenzonen, Blockade, Seesperren, Geleitzüge), Probleme der Kolonie (die doch in einem ganz anderen Sinne und mit einer ganz anderen Verfassung „Staatsgebiet" ist wie das Mutterland), völkerrechtliche Protektorate, abhängige Länder - alles das fiel dem unterschiedslosen Entweder-Oder von Staatsgebiet oder Nichtstaatsgebiet zum Opfer. Die Grenze wird eine bloße Liniengrenze. Die Möglichkeit von wirklichen (nicht nur innerstaatlichen) Grenz- und Zwischenzonen ist diesem staatsbezogenen Gebietsdenken verschlossen76. Selbst neutrale Pufferstaaten, deren Sinn eine Grenz75
Vgl. das Schlußkapitel über den „Raumbegriff in der Rechtswissenschaft" unten S. 314 ff. Es ist ein beachtenswertes Symptom für die raumrevolutionäre Wirkung der Beherrschung der Luft, daß gerade im Luftrecht der Gedanke einer Grenzzone (statt bloßer Flächen76
Völkerrechtliche Großraumordnung
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und Zwischenzone ist und die ihre Existenz der Vereinbarung von Reichen verdanken, werden als souveräne Staaten auf einer Ebene mit denselben Reichen behandelt. Daß es zwischen dem geschlossenen Staatsgebiet und dem - wenn ich so sagen darf - nichtstaatlichen völkerrechtlichen Nichts in Wirklichkeit viele eigentümlichen, weder rein innerstaatlichen noch rein außenstaatlichen Bildungen gibt, daß nicht nur staatliche Gebietshoheit, sondern Raumhoheiten mancher Art zur Wirklichkeit des Völkerrechts gehören, wurde in dem einfachen Entweder-Oder von zwischenstaatlich und innerstaatlich in ähnlicher Weise verkannt, wie der Dualismus von zwischenstaatlichem und innerstaatlichem Recht keinerlei übergreifende Zusammenhänge zu konstruieren vermochte 77. Sobald dagegen nicht Staaten, sondern Reiche als Träger der völkerrechtlichen Entwicklung und Rechtsbildung erkannt sind, hört auch das Staatsgebiet auf, die einzige Raumvorstellung des Völkerrechts zu sein. Das Staatsgebiet erscheint dann als das, was es in Wirklichkeit ist, als nur ein Fall völkerrechtlich möglicher Raumvorstellungen, und zwar der dem damals verabsolutierten, inzwischen durch den Reichsbegriff relativierten Staatsbegriff zugeordnete Fall. Andere, heute unentbehrliche Raumbegriffe sind in erster Linie Boden, der in spezifischer Weise dem Volk zuzuordnen wäre, und dann der dem Reich zugeordnete, über Volksboden und Staatsgebiet hinausgreifende Großraum kultureller und wirtschaftlich-industriell-organisatorischer Ausstrahlung. Um es gegenüber neueren Mißverständnissen einer früheren Darlegung 78 zu wiederholen: Das Reich ist nicht einfach ein vergrößerter Staat, so wenig wie der Großraum ein vergrößerter Kleinraum ist. Das Reich ist auch nicht identisch mit dem Großraum, aber jedes Reich hat einen Großraum und erhebt sich dadurch sowohl über den durch die Ausschließlichkeit seines Staatsgebietes räumlich gekennzeichneten Staat wie über den Volksboden eines einzelnen Volkes. Ein Machtgebilde ohne diesen, Staatsgebiet und Volksboden überwölbenden Großraum wäre kein Reich. Auch in der bisherigen Geschichte des Völkerrechts, die in Wirklichkeit eine Geschichte von Reichen ist, hat es kein solches Reich ohne Großraum gegeben, wenn auch Inhalt, Struktur und Konsistenz des Großraumes zu verschiedenen Zeiten verschieden sind. Das Völkerrecht des letzten Jahrhunderts war ein Zwischen- und Übergangsgebilde zwischen dem alten, im 16. Jahrhundert entstandenen christlich-europäischen Völkerrecht und einer erst heute allmählich sich abhebenden neuen Raum- und und Liniengrenze) vertreten worden ist: Kroell, Trait£ de droit international public afrien, 1934, I, S. 71 (fronti£re volume statt fronti&re surface), dazu (ablehnend) Friedrich Giese, Das Luftgebiet in Kriegszeiten, Arch. d. öff. Rechts, N. F. 31 (1939), S. 161. 77 Carl Schmitt, Über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht, ZAkDR 1940, S. 4; ferner die Besprechung des Buches von H. Triepel, Die Hegemonie (1938), in Schmollers Jahrbuch, Band 63 (1939), S. 516, [vorl. Bd., S. 227 f.] und schließlich Festgabe für Georgios Streit (Athen) 1940, Positionen und Begriffe, Hamburg 1940, S. 263 f. 78 Vgl. die Besprechung der 1. und 2. Auflage vorliegender Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventions verbot für raumfremde Mächte" (auch in der Sammlung „Politische Wissenschaft", herausg. von Paul Ritterbusch, Berlin 1940, S. 27 - 69) von Böhmen in „Zeitschrift für Völkerrecht" XXIV (1940), S. 134 bis 140.
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Völkerordnung. Der Wiener Kongreß 1814/15 dachte noch ganz europa-zentrisch 79 . Seit 1856 (Zulassung der Türkei zur Familie der Nationen) hat das Völkerrecht auch formal aufgehört, ein europäisch-christliches Völkerrecht zu sein. Seit 1890 löst sich das europa-zentrische Erdbild in ein unterschiedsloses „International Law" auf 80 . Den ersten Stoß hatte es durch die Monroe-Botschaft des Jahres 1823 erhalten. Die Pariser Vorortdiktate von 1919 bedeuteten seinen endgültigen Zusammenbruch. In unseren Tagen, 1940, beginnt eine neue Raum- und Völkerordnung sich abzuheben. Während der Zwischenzeit haben die führenden Reiche des bisherigen europäischen Völkerrechts, England und Frankreich, das alte europa-zentrische System weiterzuführen versucht, ohne der Aufgabe einer europäischen Ordnung gewachsen zu sein. Das alte europa-zentrische Völkerrechtssystem beruhte auf der völkerrechtlichen Unterscheidung eines europäischen Staatenraumes vollgültiger, staatlicher Ordnung und Befriedung, von einem nichteuropäischen Raum freier, europäischer Expansion. Der nichteuropäische Raum war herrenlos, unzivilisiert oder halbzivilisiert, Kolonisationsgebiet, Objekt der Besitzergreifung durch europäische Mächte, die eben dadurch Reiche wurden, daß sie solche überseeischen Kolonien besaßen. Die Kolonie ist die raumhafte Grundtatsache des bisherigen europäischen Völkerrechts. Alle Reiche dieses völkerrechtlichen Systems hatten einen großen Expansionsraum zur Verfügung: Portugal, Spanien, England, Frankreich und Holland in ihren überseeischen Kolonien 81 , die habsburgische Monarchie auf dem Balkan gegenüber den Besitzungen des nicht zur Völkerrechtsgemeinschaft gehörenden Ottomanischen Reiches, das Russische Reich sowohl gegenüber ottomanischen Besitzungen wie auch in Sibirien, Ost- und Mittelasien. Preußen war die einzige Großmacht, die nur Staat war und, wenn sie sich räumlich vergrößerte, dieses nur auf Kosten von Nachbarn tun konnte, die der europäischen Völkerrechtsgemeinschaft bereits angehörten. Dadurch war es leicht, Preußen in den Ruf des Friedensstörers und brutalen Machtstaates zu bringen, obwohl sein Raum im Vergleich zu dem der anderen Reiche klein und bescheiden war. Führend waren in diesem System des europäischen Völkerrechts die Westmächte England und Frankreich. Der Reichsbegriff hing, soweit er nicht Fortführung und translatio des Römischen oder Deutschen Reiches war, [52a] an der überseeischen Besitzung. Es war nicht etwa Disraeli, der zuerst einen vom überseeischen Reichtum her bestimmten Reichsbegriff entdeckte, als er 1876 die Krone 79
Um so naiver wirken heute die Versuche, diesen Kongreß als maßgebliches Vorbild hinzustellen (Guglielmo Ferrero, Reconstruction, 1940) oder einige Figuren dieses Kongresses, Metternich, Talleyrand oder Alexander I., im Lichte einer glorifizierenden Aktualität erscheinen zu lassen. 80 Carl Schmitt, Die Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law", Deutsche Rechtswissenschaft (Vierteljahrsschrift der Akademie für Deutsches Recht), Bd. V (Oktober 1940), S. 267 ff. [vorl. Bd., S. 372 ff. - G. M.]. 81 Die belgische Kongo-Kolonie war eine späte, für die Gesamtlage des damaligen Völkerrechts charakteristische Schiebung und vermochte natürlich kein Reich, auch keinen eigenen Großraum zu bilden.
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des Königs von England mit dem Titel des Kaisers von Indien verband - worauf das faschistische Italien 1936 eine Antwort gab, indem es nicht den Titel des Kaisers von Rom, sondern den des Kaisers von Äthiopien mit der italienischen Königskrone verband 82 - , sondern gleich zu Beginn der neuen Erdverteilung, im frühen 16. Jahrhundert, hat der spanische Konquistador Hernän Cortes dem deutschen Kaiser Karl V. nach der Eroberung Mexikos vorgeschlagen, sich Kaiser seiner neuen indischen Besitzungen zu nennen, weil dieser Titel besser gerechtfertigt sei als der eines Kaisers von Deutschland83. Der an den überseeischen Kolonialbesitz geknüpfte Kaisertitel ist zwar nur ein Symptom, aber ein wichtiges und beweiskräftiges Symptom sowohl für das Raumbild wie für den Reichsbegriff des bisherigen, von England und Frankreich geführten europäischen Völkerrechts. Die entscheidende völkerrechtliche Bedeutung der überseeischen Kolonie liegt darin, daß die konkrete Wirklichkeit der Begriffe Krieg und Frieden im bisherigen Völkerrecht nur von diesem Raumbild her zu verstehen ist. Immer wieder muß daran erinnert werden, daß das Völkerrecht ein Recht des Krieges und des Friedens ist, jus belli ac pacis. Die in den verschiedenen Geschichtsepochen verschiedene, zeit- und raumgebundene, konkrete und spezifische Wirklichkeit von Krieg und Frieden und das ebenso konkrete und spezifische gegenseitige Verhältnis dieser beiden Zustände bilden den Kern jeder völkerrechtlichen Ordnung und allen Zusammenlebens organisierter Völker in irgendwie verteilten Räumen. Was war der Friede des angeblich von souveränen Staaten getragenen europäischen Völkerrechts von 1648 bis 1914? Wie ist ein Friede und damit ein Völkerrecht möglich zwischen souveränen Staaten, deren jeder ein freies, seiner souveränen Entscheidung überlassenes Recht zum Kriege für sich in Anspruch nimmt? Es ist selbstverständlich, daß das Zusammenleben solcher souveränen Machtgebilde nicht von einem substanzhaft gegebenen wirklichen Frieden, sondern von der fortwährenden Zulässigkeit des Krieges ausgeht. Das bedeutet, daß der Friede hier nur der NichtKrieg ist 8 4 . Ein solcher Friede aber ist nur so lange möglich und ein solcher auf bloßem Nicht-Krieg aufgebauter Gesamtzustand nur so lange erträglich, als der Krieg nicht total ist. Der in dem früheren europäischen Völkerrechtssystem vorausgesetzte Krieg zwischen europäischen Staaten war in der Tat immer nur ein partieller Krieg, sei es als Kabinettskrieg des 18. Jahrhunderts, sei es als Kombattantenkrieg, an dem auch die folgende Zeit bis 1914 festhielt. Das ist der Kern dieses Völkerrechts. Zum partiellen, nicht totalen Krieg gehörte auch die wichtige, in den letzten Jahren öfters hervorgehobene Besonderheit, daß der Kriegsbegriff dieses bisherigen Völkerrechts die Frage der Gerechtigkeit des Krieges beiseitelassen mußte, daß er ein „nichtdiskriminierender" Kriegsbegriff war. 82 Dazu Giorgio Cansacchi in den Scritti giuridici in onore di Santi Romano, 1940, S. 393 f., und Carlo Costamagna, in Lo Stato VII (1936), S. 321 ff. 83 Karl Brandi, Der Weltreichsgedanke Karls V. in „Europäische Revue" X V I (Mai 1940), S. 277. Carl Schmitt, Inter bellum et pacem nihil medium, ZAkDR 1939, S. 594; La Vita Italiana XXVII (Dezember 1939), S. 637 f., Positionen und Begriffe, S. 246 f.
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
Die Bedeutung der Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff und zum totalen Krieg ist inzwischen erkannt worden 85 . Dagegen ist bei weitem noch nicht hinreichend zum Bewußtsein gekommen, wie sehr die frühere Parzellierung und Relativierung des Krieges mit raumhaften Mitteln völkerrechtlich erreicht wurde. Dahin gehört in erster Linie die Methode einer Politik des Gleichgewichts, die zwar ebenfalls oft erörtert und behandelt worden ist 8 6 , deren Zusammenhang mit dem partiellen Kriegsbegriff jedoch bisher nicht wahrgenommen wurde, weil das raumhafte Denken der Völkerrechtswissenschaft verlorengegangen war. Im Zusammenhang mit der Tatsache, daß die Kolonie die Grundlage des bisherigen europäischen Völkerrechts war, ist außerdem noch eine Reihe besonderer Völkerrechtsbildungen zu beachten, die bei der staatsbezogenen Kleinräumigkeit der meisten kontinentalen Völkerrechtsdenker jedenfalls ganz außer acht geblieben sind. Dazu gehört eine interessante, nicht nur geschichtlich, sondern allgemein wichtige Tatsache: die ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung von „FreundschaftslinienSolche Linien grenzen z. B. im 16. Jahrhundert einen unbefriedeten Raum für rücksichtslose Machtkämpfe in der Weise aus, daß die innerhalb des ausgegrenzten Raumes (jenseits der Linie, beyond the line) sich abspielenden gegenseitigen Rechtsverletzungen und Schadenszufügungen für die europäischen Beziehungen der Kolonialmächte keinen Grund zum Kriege bedeuten, Vertrag und Frieden nicht stören sollten 87 . Freundschaftslinien, „amity lines", liegen in verschiedenen Ausprägungen räumlich und in übertragener Weise jedem völkerrechtlichen System zugrunde. Im 18. Jahrhundert finden sich bereits zahlreiche umgekehrte Beispiele dafür, daß europäische Kriege sich nicht in den Kolonien auswirken sollen, die Kolonie also als der befriedete Raum, Europa als der Kampfplatz erscheint. Die bekannte und in den letzten Jahren oft zitierte Bestimmung des Art. 11 der Berliner Kongo-Akte vom 26. 2. 1885, wonach die in der Kongo-Akte genannten Gebiete im Falle eines Krieges als neutral und einem nichtkriegführenden Staat
85 Julius Evola, La guerra totale, in La Vita Italiana XXV (1937), S. 567; Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (Schriften der Ak. f. D. R., Gruppe Völkerrecht Nr. 5), 1938; G. A. Walz, Nationalboykott und Völkerrecht (Schriften usw. Nr. 7), 1939; Theodor Maunz, Geltung und Neubildung modernen Kriegs Völkerrechts, Freiburg 1939; H. Pleßner, De huidige Verhouding tussen Oorlog en Vrede, Groningen 1939; Franz v. Wesendonk, Der Kriegsbegriff im Völkerrecht, Bonner Dissertation 1939. 86 Fritz Berber, Prinzipien der britischen Außenpolitik (Schriften des Deutschen Instituts für außenpolitische Forschung), Berlin 1939. 87 Erstes Beispiel wohl die (nur mündlich vereinbarte) Abmachung des spanisch-französischen Vertrages von Cateau-Cambrdsis, 3. 4. 1559, bei F. G. Davenport, European Treaties bearing on the History of the United States and its Dependencies to 1648 (Publications of the Carnegie Institution 154,1), Washington 1917, S. 208, 219 ff. Dazu die völkerrechtswissenschaftlich bei weitem noch nicht ausgewertete hervorragende Darstellung von Adolf Rein, Der Kampf Westeuropas um Nordamerika im 15. und 16. Jahrhundert, Stuttgart-Gotha 1925 (Allg. Staatengeschichte 2, 3), S. 207 f.; über den Satz: „Jenseits vom Äquator gibt es keine Sünde", S. 292. Vgl. auch Ulrich Scheuner, Zur Geschichte der Kolonialfrage im Völkerrecht, Z. f. Völkerrecht XXII (1938), S. 466; Wolfgang Windelband, Motive europäischer Kolonialpolitik, Deutsches Adelsblatt, 14. 11. 1939.
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gehörig betrachtet werden sollen, ist ein letztes Beispiel dieser Entwicklung und Verlagerung von „Freundschaftslinien". [53] Auch zahlreiche Neutralisierungen (Schweiz, Belgien, Luxemburg) und „Unabhängigkeits"-Erklärungen des 19. und 20. Jahrhunderts hatten den Sinn raumhafter Ausgrenzungen und Ausklammerungen, meistens im Dienst einer den Interessen des britischen Weltreiches entsprechenden europäischen Gleichgewichtspolitik, deren tragende Grundlage eine bestimmte Verteilung des kolonialen Weltbesitzes war. Das zweimal total besiegte Frankreich konnte - nach mehr als zwanzigjährigen Koalitionskriegen der Jahre 1792 bis 1815 und nach der furchtbaren Niederlage 1870 / 71 - in einem solchen System als europäische Großmacht bestehen bleiben. Selbst blutige Kriege dieser Zeit waren nicht total im Sinne eines Kampfes um die letzte Existenz, weil die Träger dieses Völkerrechts in den Kolonien einen ausreichenden freien Raum zur Verfügung hatten, um ihren gegenseitigen Auseinandersetzungen in Europa die eigentliche, letzte, existenzielle Härte zu nehmen. Bismarck hat noch, mit europäischem Verantwortungsgefühl, dem besiegten Frankreich nach 1871 die Möglichkeit zur kolonialen Expansion in Afrika und Ostasien offengelassen. [54] Aber während des 19. Jahrhunderts schließt sich dieser freie Raum allmählich. Die Bedeutung der Monroe-Botschaft von 1823 beruht allgemein auf der Schaffung eines Großraums mit Interventionsverbot, im besonderen aber auch darauf, daß sie die erste Schließung eines weiten Bereiches europäischer Kolonisation ist. Damit erscheint das erste nicht-europäische Reich. Die von England betriebene Zulassung der Türkei zur europäischen Völkergemeinschaft enthält eine weitere Einengung, mit der die englische Politik der Unterstützung „kranker Männer" erst außerhalb, nach 1919 auch innerhalb Europas ihren Anfang nimmt. 1905 tritt mit Japan das zweite nicht-europäische Reich auf.[55] Gleichzeitig wurden die neuen europäischen Großmächte, das Deutsche Reich und Italien, von der Verteilung des außereuropäischen Kolonialbesitzes ferngehalten oder mit Resten abgespeist, während England und Frankreich sich (1882 - 1912) Nordafrika in alter Weise als herrenloses Land teilten, wobei Ägypten an England, Marokko an Frankreich fiel. Damit haben sich die Mächte des alten europäischen Völkerrechts zum letztenmal im Stil vergangener Zeiten auf Kosten Dritter und auf der Grundlage einer Teilung überseeischen Besitzes geeinigt. Die weitere Entwicklung, wie sie durch die Pariser Vorortdiktate von 1919 und ihre Legitimierung im Genfer Völkerbund bestimmt wurde, ist bekannt. Die besiegte europäische Macht, Deutschland, wurde der Kolonien beraubt. Auch hier zeigte sich, daß die Kolonie die Grundtatsache des bisherigen europäischen Völkerrechts war. Die Ausschließung Deutschlands vom außereuropäischen Kolonialbesitz war die eigentliche Diffamierung und Disqualifizierung Deutschlands als europäischer Macht. Wahrend der Völkerbundsanktionen gegen Italien (1935 / 36) und während des spanischen Bürgerkrieges (1936 -39) hat sich dann in Genf und im Londoner Nicht-Interventionsausschuß die ganze Hilflosigkeit Englands und Frankreichs enthüllt. Sinnvolle und wirksame „Freundschaftslinien" und Ausgrenzungen der Feindschaft hat man nicht mehr gefunden. Heute bezahlen die Westmächte England und Frank-
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reich ihre Unfähigkeit, neue, wachsende Völker Europas in das von ihnen geführte Völkerrechtssystem einzufügen und ein gerechtes „peaceful change" mit echten Freundschaftslinien zu verwirklichen. [56] Sie büßen ihre Schuld nicht nur mit dem Zusammenbruch ihrer bisherigen Weltmacht, sondern auch mit dem Zusammenbruch eines völkerrechtlichen Systems, das auf ihnen als den führenden Reichen und auf einer von ihnen geschaffenen Raumverteilung der Erde beruhte und das sie 1919 sieg- und besitzgeblendet selber zerstört haben.
VII. Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft Vor zehn Jahren veröffentlichte der vielseitige Wirtschaftshistoriker und Professor der Sorbonne Henri Hauser Vorträge, die er in England gehalten hatte, unter dem Titel: „Modernite du X V I e siecle." 88 Die „Modernität" des 16. Jahrhunderts, das er sogar als „prefiguration" des 20. Jahrhunderts bezeichnet, erblickt er darin, daß damals eine politische, moralische, intellektuelle und ökonomische Revolution die Demokratie des 19. und 20. Jahrhunderts bereits eingeleitet habe, während die Gegenreformation des 17. Jahrhunderts demgegenüber einen Rückschritt bedeute. So wurde diese Abhandlung Hausers zu einer Apologie des politischen Systems der liberaldemokratischen Westmächte und des status quo von Versailles. Der gelehrte Verfasser hatte im Jahre 1930 nicht bemerkt, daß die Modernität des 16. Jahrhunderts ganz anderer Art ist, als er sie auffaßte und als sie im Sinne des politischen Systems der westlichen Demokratien lag. Die eigentliche Modernität jenes Zeitalters liegt nämlich darin, daß die raumrevolutionäre Veränderung des mittelalterlichen Weltbildes, wie sie im 16. Jahrhundert eingetreten und im 17. Jahrhundert wissenschaftlich vollendet ist, uns eine Vergleichsmöglichkeit bietet, um die heutige Veränderung des Raumbildes und der Raumvorstellungen besser und tiefer zu erfassen. Die Wandlung des Raumbegriffs ist heute in mächtiger Tiefe und Breite auf allen Gebieten menschlichen Denkens und Handelns im Gange. Auch das große weltpolitische Geschehen der Gegenwart enthält in seinem bewegenden Kern eine derartige Wandlung der bisherigen Raumvorstellungen und Raumvoraussetzungen, daß wir dafür nur in jenem Wandel des planetarischen Raumbildes, der vor 400 Jahren einsetzte, einen brauchbaren geschichtlichen Vergleichsfall haben. Das Wort „ Großraum " soll uns dazu dienen, diesen Wandel zum wissenschaftlichen Bewußtsein zu bringen. Dieses Wort steht, trotz seiner gegenwärtigen Beliebtheit, über jeder bloß tagespolitisch-journalistischen Konjunktur und über dem Wechsel bloßer Modebeliebtheit, der sonst das Schicksal von Schlagworten bestimmt. Allerdings bedarf es einer genauen wissenschaftlichen Klärung, um Mißverständnisse und Mißbräuche zu verhindern und um einer fruchtbaren und folgerichtigen Verwendung in Theorie und Praxis den Weg frei zu machen. 88 Hauser, La Modernity du X V I e sifccle, Paris 1930.
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Man darf der Wortbildung „Großraum" nicht entgegenhalten, daß sie die nur räumliche Vorstellung „Groß" mit dem Begriff „Raum" verbinde und daher nur eine räumliche Kennzeichnung eines ausgedehnteren, weiteren Raumes mit Hilfe einer nur äußerlich vergleichenden Maßbestimmung enthalte. „Groß" enthält hier eine andere als bloß quantitative, mathematisch-physikalische Bestimmung. Das ist sprachlich durchaus zulässig und auch üblich. In vielen Zusammensetzungen mit Groß— zum Beispiel Großmacht, Großkönig, die „große" Revolution, die „große" Armee usw. - bedeutet das Wort eine qualitative Steigerung und nicht eine nur als Ausdehnung gemeinte Vergrößerung. Die Wort- und Begriffsbildung „Großraum" trägt allerdings insofern Übergangscharakter, als sie vom „Raum" ausgeht und dessen bisherige Wesenheit durch die Beifügung von „Groß" zu verändern und zu überwinden sucht. Eine allgemeine und unbestimmte, jede ausfüllende Bestimmung offenlassende Vorstellung vom Raum wird beibehalten und doch zugleich begrifflich auf eine andere Ebene überführt. Es läßt sich dabei nicht vermeiden, daß „Großraum" vielfach als eine bloße Verneinung von „Kleinraum" aufgefaßt wird. Dann wird die Bezeichnung zu einer bloß negativen und bloß komparativischen Bestimmung. Sie bleibt dann in einer gedanklichen und sachlichen Abhängigkeit von eben dem Raumbegriff, den sie zu verneinen und zu überwinden sucht. Solche Mißverständnisse sind unvermeidliche Begleiterscheinungen jeder Übergangszeit. Ich erwähne sie nur, um der Gefahr von Zerredungen vorzubeugen, die hier besonders groß ist. Sobald einmal die Erde ihre sichere und gerechte Großraumeinteilung gefunden hat und die verschiedenen Großräume in ihrer inneren und äußeren Ordnung als feste Größen und Gestalten vor uns stehen, werden sich wohl andere und schönere Bezeichnungen für die neue Sache finden und durchsetzen. Bis dahin aber bleiben Wort und Begriff des Großraumes eine unentbehrliche Brücke von den überkommenen zu den künftigen Raumvorstellungen, vom alten zum neuen Raumbegriff. Großraum ist also nicht ein verhältnismäßig größerer gegenüber einem verhältnismäßig kleineren Raum, nicht ein erweiterter Kleinraum. Gerade die bloß mathematisch-physikalisch-naturwissenschaftliche Neutralität des bisherigen Raumbegriffes soll überwunden werden. „Es liegt", wie Ratzel sagt, „schon in dem weiten Raum etwas Größeres, ich möchte sagen, Schöpferisches" 89. Die Beifügung des Wortes „Groß" soll und kann das Begriffsfeld verändern. Für die Rechtswissenschaft, insbesondere für die staats- und völkerrechtliche Begriffsbildung, ist das von ausschlaggebender Bedeutung, weil alle sprachlichen und daher auch alle juristischen Begriffe durch das Begriffsfeld bestimmt werden und mit ihren begrifflichen Nachbarn zusammenleben und -wachsen. Jeder juristische Begriff unterliegt dem, was Ihering „die Vorforderung der begrifflichen Nachbarn" genannt hat. In der Sprachwissenschaft ist schon seit längerer Zeit zum Bewußtsein gekommen, in welchem Maße ein Wort in seinem Gehalt durch ein solches Bedeutungsfeld bestimmt wird 9 0 . In der Rechtswissenschaft ist die gegenseitige Bestimmung durch 89 Friedrich
Ratzel, Der Lebensraum, Festgaben f. Albert Schäffle, Tübingen 1901, S. 169.
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den systematischen Begriffszusammenhang ohne weiteres einleuchtend. Worte wie: Raum, Boden, Land, Feld, Fläche, Gelände, Gebiet, Bezirk sind nicht etwa beliebig vertauschbare und nur „terminologische" Nuancen. Von seinem Standort her ist jeder Begriff am sichersten zu verstehen und nötigenfalls zu widerlegen 91, und die „Topik" ist ein leider arg vernachlässigter Zweig der Rechtswissenschaft. [57] Der Wandel des Bedeutungsfeldes, den das Wort „Großraum" gegenüber dem Wort „Raum" bewirkt, liegt vor allem darin, daß das bisher mit dem Begriff „Raum" gegebene mathematisch-naturwissenschaftlich-neutrale Bedeutungsfeld verlassen wird. Statt einer leeren Flächen- oder Tiefendimension, in der sich körperliche Gegenstände bewegen, erscheint der zusammenhängende Leistungsraum, wie er zu einem geschichtserfüllten und geschichtsmäßigen Reich gehört, das seinen eigenen Raum, seine inneren Maße und Grenzen mit sich bringt und in sich trägt. Der Auffassung des Raumes als einer leeren Flächen- und Tiefendimension entsprach die in der Rechtswissenschaft bisher herrschende sogenannte „Raumtheorie". Sie faßt Land, Boden, Territorium, Staatsgebiet unterschiedslos als einen ,,Raum" staatlicher Betätigung im Sinne des leeren Raumes mit Lineargrenzen auf. Sie verwandelt Haus und Hof aus einer konkreten Ordnung in eine bloße Katasterfläche und macht aus dem Staatsgebiet einen bloßen Herrschafts- oder Verwaltungsbezirk, einen Zuständigkeitsbereich, einen Amtssprengel, eine Kompetenzsphäre oder wie die verschiedenen Umschreibungen lauten. „Der Staat ist nichts anderes als das auf einer bestimmten Fläche für das Recht organisierte Volk", lautet die Definition, die Fricker, der Begründer dieser Raumtheorie, aufgestellt hat und die dann durch Rosin, Laband, Jellinek, Otto Meyer, Anschütz herrschend geworden ist 9 2 . Bei dieser bisher herrschenden Raumtheorie sind vier Entstehungsfaktoren zu beachten. Erstens ihre politisch-polemische Richtung: sie wollte bestimmte frühe90 Der Ausdruck „Bedeutungsfeld" hat Gunther Ipsen in der Festschrift für Wilhelm Streitberg, Heidelberg 1924, S. 225, wohl als erster gebraucht. Aus der sprachwissenschaftlichen Forschung gehören hierhin die Arbeiten von Ferdinand de Saussure, Leo Weißgerber, Jost Trier. Die Ausdrucksweise ist übrigens noch stark raumhaft im Sinne der bloßen Fläche bestimmt. 91 Schmitt, „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff', 1938, S. 7 f.; Kindt-Kiefer, „Über die Fundamentalstruktur des Staates. Theorie der sozialen Ganzheit", Bern 1940, Einleitung. 92 Die Bezeichnung „Raumtheorie" (über deren wichtigste Vertreter vgl. oben S. 273 Anm. 8) ist ein Beispiel der „ungeheuren Anpassungsfähigkeit der mathematischen Ausdrucksweise" (G. Joos). Eine rechtswissenschaftliche Raumtheorie, die diesen Namen verdient, müßte sich gerade von den Verschiedenheiten und Besonderheiten des Raum- und Bodenstatus bewähren, die jene allgemeine Raumtheorie in Nichts auflöst, also z. B. an der Besonderheit des Bodenstatus von Protektorat, Kolonie, Staatsgebiet, Volksboden; vgl. dazu den sehr beachtenswerten Ansatz von Friedrich Klein, über den Unterschied von Gebietshoheit und Raumhoheit im Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 32, 1941, S. 258 f., und die Versuche italienischer Rechtslehrer, territorio statale und spazio imperiale zu unterscheiden.
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re Auffassungen des Bodens ablehnen, nämlich alle patrimonialen und feudalen Objektsvorstellungen, die aus dem Boden eine Art Privateigentum, sei es des Fürsten, sei es des als juristische Person gedachten Staates machten. Insofern ist diese Raumtheorie ein Ausdruck der politischen Entwicklung zum konstitutionellen Verfassungsstaat, auf der Grundlage der Trennung von öffentlichem und privatem Recht, von Imperium und Dominium. Im Privatrecht wird die konkrete Raumvorstellung dadurch beseitigt, daß alles Grundeigentum zum Eigentum an einem „Grundstück" wird. Im öffentlichen Recht wird das Staatsgebiet zu einem bloßen „Schauplatz des Imperiums". Diese berühmte Formulierung Zitelmanns hat Ende des 19. Jahrhunderts den größten Erfolg gehabt. Heute ist leicht zu erkennen, daß sie noch ganz unter der Nachwirkung barocker und repräsentativer Vorstellungen steht, die sich den Boden eines Volkes als eine Art Theaterbühne denken, auf der das Schauspiel der öffentlichen, staatlichen Machtausübung aufgeführt wird. Neben jener innenpolitisch-polemischen und dieser barock-bühnenhaften Vorstellung wirkt aber als dritter Faktor die positivistisch-naturwissenschaftliche Vorstellung des leeren Raumes als einer ganz allgemeinen, d. h. nicht spezifisch juristischen Kategorie. Alles gegenständlich Wahrnehmbare und daher auch jeder rechtlich bedeutungsvolle Sachverhalt sind bloße „Erscheinungen" in den kategorialen Formen von Raum und Zeit. Der sachliche Kern solcher Raumtheorien und ihrer Beweisführung ist immer der gleiche: das Recht ist gesetzlicher Befehl; Befehle können sich nur an Menschen wenden; Herrschaft wird nicht über Sachen, sondern nur über Menschen ausgeübt; daher kann staatliche Herrschaft nur personal bestimmt sein, und alle raumhaften Bestimmungen sind rechtlich nur deshalb von Bedeutung, weil die von der Norm geregelten Tatbestände, wie alles wahrnehmbare Geschehen, räumlich und zeitlich bestimmt sind. Das spezifisch Rechtliche, die konkrete Ordnung, wird dadurch zu einer inhaltlosen Allgemeinform des Erkennens. Zu diesen drei, die Entwicklung juristischer Raumtheorien bestimmenden, teils verfassungsrechtlich, teils naturwissenschaftlich bedingten Faktoren tritt dann gerade hier der jüdische Einfluß als eigenes viertes Moment deutlich hinzu. Jedem, der sich in das Studium des letzten Entwicklungsabschnittes dieser Lehren vom Staatsgebiet vertieft, fällt auf, in welchem Maße jüdische Autoren, deren Meinungen sich sonst auf die entgegengesetztesten Theorien und Richtungen zu verteilen pflegen, hier plötzlich einmütig die Entwicklung zur leeren Raumvorstellung vorwärtstreiben. Ich nenne unter den Juristen nur die Namen Rosin, Laband, Jellinek, Nawiasky, Kelsen und seine Schüler, unter den Philosophen und Soziologen Georg Simmel, der jede andere als eine von den beherrschten Menschen her bestimmte Herrschafts- und Gebietsvorstellung für „Nonsens" erklärte.[58] Das eigentümliche Mißverhältnis des jüdischen Volkes zu allem, was Boden, Land und Gebiet angeht, ist in seiner Art politischer Existenz begründet. Die Beziehung eines Volkes zu einem durch eigene Siedlungs- und Kulturarbeit gestalteten Boden und zu den daraus sich ergebenden konkreten Machtformen ist dem Geist des Juden unverständlich. Er will sie übrigens auch gar nicht verstehen, sondern nur sich ihrer
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begrifflich bemächtigen, um seine Begriffe an ihre Stelle zu setzen. „Comprendre c'est detruire", wie ein französischer Jude verraten hat. Diese jüdischen Autoren haben natürlich die bisherige Raumtheorie so wenig geschaffen, wie sie irgend etwas anderes geschaffen haben. Aber sie waren doch auch hier ein wichtiges Ferment der Auflösung konkreter, raumhaft bestimmter Ordnungen. Im deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttum finden sich beachtliche Anläufe zu einer Überwindung dieses leeren Raumes93. Auch der Begründer einer neuen Wissenschaft vom Raum, Fr. Ratzel, hatte bereits erkannt, daß „Raum&ewältigung das Merkmal allen Lebens" ist 9 4 . Aber die umfassende Wirkung und die eigentliche Tiefe neuer Raumvorstellungen kommt doch noch überzeugender zum Bewußtsein, wenn wir auf die Überwindung der bisherigen naturwissenschaftlichen, sogenannten klassischen Raumvorstellungen in anderen, insbesondere auch naturwissenschaftlichen Arbeitsgebieten achten. Dann erst tritt die Zeitgebundenheit der scheinbar ewigen „klassischen" Kategorien ins rechte Licht. Die leere, neutrale, mathematisch-naturwissenschaftliche Raumvorstellung hat sich zu Beginn der gegenwärtigen politisch-geschichtlichen wie staats- und völkerrechtlichen Epoche, d. h. im 16. und 17. Jahrhundert durchgesetzt. In verschiedener Weise haben alle geistigen Strömungen dieser Zeit dazu beigetragen: Renaissance, Reformation, Humanismus und Barock ebenso wie die Veränderung des planetarischen Erd- und Weltbildes durch die Entdeckung Amerikas und durch die Umseglung der Erde, die Veränderungen im astronomischen Weltbild wie die großen mathematischen, mechanistischen und physikalischen Entdeckungen, mit einem Wort alles, was Max Weber als „occidentalen Rationalismus" bezeichnet und dessen Heldenzeitalter das 17. Jahrhundert war.[59] Hier setzt sich - in demselben Maße, in dem der Staatsbegriff der allesbeherrschende Ordnungsbegriff des europäischen Kontinents wird - die Vorstellung des leeren Raumes durch, der durch körperliche Gegenstände, durch die Objekte der sinnlichen Wahrnehmung, ausgefüllt wird. In diesen leeren Raum trägt das wahrnehmende Subjekt die Objekte seiner Wahrnehmung ein, um sie zu „lokalisieren". In ihm geht durch eine Standpunktänderung die „Bewegung" vor sich. Ihren philosophischen Höhepunkt erreicht diese Raumvorstellung im Apriorismus der Kantischen Philosophie, wo der Raum eine apriorische Form des Erkennens ist. Demgegenüber verdienen die wissenschaftlichen Wandlungen dieser Raumvorstellung unsere besondere Beachtung. Die Quantenphysik von Max Planck hebt den Raum auf, indem sie jeden Bewegungsvorgang in die einzelnen, periodischen Materien wellen zerlegt und dadurch zur Wellenmechanik hinführt; nach dieser neuen Mechanik ist jeder einzelne materielle Punkt des Systems zu jeder Zeit in gewissem Sinne an sämtlichen Stellen des ganzen, dem System zur Verfügung stehenden Raumes zugleich 95 . Für unseren neuen, konkreten Raumbegriff noch be93
Das Verdienst des ersten Vorstoßes gebührt hier der Arbeit von Walter Hamel, Das Wesen des Staatsgebietes, Berlin 1933. 94 Der Lebensraum, a. a. O., S. 114.
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deutungsvoller sind die biologischen Untersuchungen, in denen sich, über die raumaufhebende Problematisierung des Raumbegriffes hinaus, ein anderer Raumbegriff durchsetzt. Danach geht „Bewegung" für eine biologische Erkenntnis nicht im bisherigen naturwissenschaftlichen Raum vor sich, sondern es geht umgekehrt die raumzeitliche Gestaltung aus der Bewegung hervor. Für diese biologische Betrachtung ist also die Welt nicht im Raum, sondern der Raum in und an der Welt. Das Räumliche wird nur an und in den Gegenständen erzeugt, und die raumzeitlichen Ordnungen sind nicht mehr bloße Eintragungen in den vorgegebenen leeren Raum, sondern sie entsprechen vielmehr einer aktuellen Situation, einem Ereignis. Jetzt erst sind die Vorstellungen einer leeren Tiefendimension und einer bloß formalen Raumkategorie endgültig überwunden. Der Raum wird zum Leistungsraum. Diese Formulierungen, die ich dem bedeutenden Werk des Heidelberger Biologen Viktor von Weizsäcker verdanke 96, können auch für unser rechtswissenschaftliches Raumproblem fruchtbar werden. Eine allgemeine Bezeichnung „Raum" bleibt aus Gründen der praktischen Verständigung als gemeinsamer Rahmenbegriff für die verschiedenen Raumvorstellungen verschiedener Zeiten und Völker. Alle heutigen Bemühungen um die Überwindung des „klassischen", d. h. leeren und neutralen Raumbegriffes aber führen uns auf einen rechtswissenschaftlich wesentlichen Zusammenhang, der in großen Zeiten deutscher Rechtsgeschichte lebendig war und den die Auflösung des Rechts in einen staatsbezogenen Gesetzesnormativismus mit aufgelöst hat: auf den Zusammenhang von konkreter Ordnung und Ortung.[60] Der Raum als solcher ist selbstverständlich keine konkrete Ordnung. Wohl aber hat jede konkrete Ordnung und Gemeinschaft spezifische Ort- und Rauminhalte. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß jede Rechtseinrichtung, jede Institution ihren Raumgedanken in sich hat und daher auch ihr inneres Maß und ihre innere Grenze mit sich bringt. So gehören zur Sippe und Familie Haus und Hof. Das Wort „Bauer" kommt rechtsgeschichtlich nicht von der Tätigkeit des Ackerbaues, sondern von Bau, Gebäude, wie dominus von domus kommt. Stadt heißt Stätte. Mark ist keine Lineargrenze, sondern eine raum-inhaltlich bestimmte Grenzzone. Das „Gut" ist Träger einer Gutsherrschaft, wie der „Hof' Träger des Hofrechts. Land ist (zum Unterschied z. B. von Wald oder Stadt oder See) der Rechtsverband der landbebauenden und landbeherrschenden Leute in ihrer auch räumlich konkreten Friedensordnung 97. Otto von Gierke hat in seiner Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffes 98 gezeigt, in welchem Maße die rechtlichen 95 Planck, „Das Weltbild der neuen Physik", 1929, S. 25 ff. Vgl. dazu den interessanten Aufsatz von Hermann Wein, „Die zwei Formen der Erkenntniskritik", Blätter für deutsche Philosophie, Band 14,1940, S. 50. 96 von Weizsäcker, „Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen", Leipzig 1940; für unseren Zusammenhang besonders wichtig S. 102. [5. A., 1986]. 97 Otto Brunner, Land und Herrschaft, Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter (Veröffentlichungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung), 1939, S. 219. 98 von Gierke, „Das deutsche Genossenschaftsrecht", II, 1873, S. 575 f.
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Vorstellungen des deutschen Mittelalters primär Raumbegriffe, wie er sich ausdrückt, „juristisch-qualifizierte, räumlich-dingliche Einheiten" waren. Das gilt vor allem auch von der „Stadt". Während im römischen Recht „Civitas" die aus „Cives" zusammengesetzte Personenzusammenfassung, also die Bürger, bedeutet, geht das mittelalterliche Wort „civitas" als Übersetzung von Stadt, Burg oder Wiek von der örtlichen Bedeutung aus, und das lateinische Wort für Bürger heißt dementsprechend manchmal sogar civitatensis statt civis. Ein Wort wie „Frieden", das seit dem 19. Jahrhundert zu einer teils gefühlsmäßig verschwommenen, teils gedanklich abstrakten Bezeichnung geworden ist, lebt im Ordnungsdenken des deutschen Mittelalters ebenfalls immer örtlich und dadurch konkret: als Hausfrieden, als Marktfrieden, Burgfrieden, Dingfrieden, Kirchenfrieden, Landfrieden. [61] Immer ist mit der konkreten Ordnung auch eine konkrete Ortung rechtsbegrifflich verbunden. Mit diesen Erwägungen soll hier nun selbstverständlich nicht etwa eine Rückkehr zu mittelalterlichen Zuständen empfohlen werden. Wohl aber bedarf es der Überwindung und Beseitigung der raumscheuen Denk- und Vörstellungsweise, die im 19. Jahrhundert zur Herrschaft kam, die heute noch allgemein die juristische Begriffsbildung bestimmt und die, weltpolitisch gesehen, dem landfremden, raumaufhebenden und daher grenzenlosen Universalismus der angelsächsischen Meeresherrschaft zugeordnet ist. Das Meer ist frei im Sinne von staatsfrei, d. h. frei von der einzigen RaumordnungsVorstellung des staatsbezogenen Rechtsdenkens99. Zu Lande aber hat die ausschließliche Staatsbezogenheit des positivistischen Gesetzesdenkens eine wunderbare Fülle lebendiger Raumgestaltungen zu einer wahren tabula rasa juristisch applaniert. Was sich im letzten Jahrhundert eine „Raumtheorie" nannte, ist das völlige Gegenteil dessen, was wir heute unter Raumdenken verstehen. Der Gedanke des Großraumes dient uns insbesondere dazu, die Monopolstellung eines leeren Staatsgebietsbegriffs zu überwinden und verfassungs- wie völkerrechtlich das Reich zum maßgebenden Begriff unseres Rechtsdenkens zu erleben. Damit ist eine Erneuerung des Rechtsdenkens überhaupt verbunden, die für alle wichtigen Institutionen den alten und ewigen Zusammenhang von Ordnung und Ortung wieder zu erfassen, dem Worte „Frieden" wieder einen Inhalt und dem Worte „Heimat" wieder den Charakter eines artbestimmenden Wesensmerkmals zu geben vermag.
99 Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit vgl. die oben in der Vorbemerkung genannte Abhandlung „Staatliche Souveränität und Freies Meer" in „Das Reich und Europa", Leipzig (Koehler und Amelang) 1941, S. 79 f. [vorl. Bd., S. 401 f. - G. M.].
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Eine ausführliche Betrachtung u. Bewertung dieser Literatur bei E. Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930 - 1939 - Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, 1984; vgl. auch: R. Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900 - 1945 (Dokumente), 1977. [2] Der Ausdruck „Verbundwirtschaft" wird in der deutschen Gesetzessprache wohl zum erstenmal im Vorspruch zum „Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft" (Energiewirtschaftsgesetz) v. 13. 12. 1935 benutzt: „Um . . . einen zweckmäßigen Ausgleich durch Verbundwirtschaft zu fördern . . . ". (RGBl, 1935,1, 16. 12. 1935, S. 1451.) [3] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 75, FN 1 (Entdeckung verleiht nur einen „Inchoate Title"), dabei auch auf den Las Palmas-Streit und das Grönlandurteil v. 1933 hinweisend; D. Schenk, Kontiguität als Erwerbstitel im Völkerrecht, 1958, S. 158, meint hingegen, daß die Besetzung von Küstengebieten auch die Okkupation des im Inneren liegenden sogen. Hinterlandes einschließen soll; vgl. Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 262. Zur allmählichen Erschließung u. Erwerbung des Hinterlandes: F. Schack, Das deutsche Kolonialrecht in seiner Entwicklung bis zum Weltkriege, 1923, S. 61 ff., 69 ff. Häufig kam es zu Absprachen der Kolonialmächte über Abgrenzungen in noch zu erschließenden Gebieten und zu Nichteinmischungszusagen; vgl. etwa den dt.-engl. Vertrag über ost- u. westafrikanische Gebiete (in dem zugleich Helgoland an das Deutsche Reich abgetreten wurde) v. 1.7. 1890, in: Martens / Stoerk, Nouveau Recueil general de Traites. Deuxieme serie, tome XVI, 1891, S. 894 - 905. Vgl. auch: Fr. Giese, Zur Rechtslage in staatlosem Landgebiet - Ein Beitrag zur völkerrechtlichen Gebietslehre, AöR, 1938, S. 310 - 360, bes. S. 351 ff. - Die Theorie von der Kontiguität (diese definierbar als »Anspruch der Staaten auf Einverleibung jener Gebiete . . ., die mit den von ihnen bereits besetzten Gebieten in einem natürlichen Zusammenhang stehen", so Grewe) ist völkerrechtlich stark umstritten; Kelsen, Contiguity as a title to territorial sovereignty, FS Wehberg, 1956, 200 ff., schreibt: „ . . . contiguity by its very nature is incompatible with any limitation." (203.) Vgl. dazu die Entscheidung des Schweizer Völkerrechtlers Max Huber im berühmten Fall der Insel Palmas (bzw. Miangas) 1928. Huber sprach die Insel (zwischen den Philippinen u. Indonesien) den Niederlanden zu und verwarf die Ansprüche der USA. Die Insel hätte lange Zeit unter niederländischer Suzeränität gestanden; das wöge schwerer als die Entdeckung durch Spanien (der keine effektive Okkupation folgte), die Anerkennung der span. Ansprüche durch die Niederlande 1648 u. 1714, die Abtretung der Philippinen durch die Spanier 1898 und die Kontiguität (von den Philippinen aus gesehen); zu diesem berühmten Fall vgl. u. a.: de Visscher, L'arbitrage de l'ile de Palmas (Miangas), RDILC, 1929, 735 ff.; Fuglsang, Der amerikanisch-holländische Streit um die Insel Palmas vor dem Ständigen Schiedshof im Haag, 1931; Fisch, Die europäische Expansion u. das Völkerrecht, 1984, 436 ff. - Die Ablehnung der Kontiguitätstheorie wird heute wieder fraglich, vgl. Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, 736 ff. Die mit der Kontiguität zusammenhängenden Fragen der „Anschlußzonen" o. „angrenzenden Gebiete" sind, trotz o. wegen der wirtschaftl. Bedeutung des Festlandssockels und der Auseinandersetzungen um den Umfang der Fischerei-, Zoll-, Wirtschaftszonengrenzen usw. bisher kaum genügend geklärt; vgl. etwa: Gidel, Le Droit international public de la mer, II, 1960, 63 ff.; Rüster, Die Rechtsordnung des Festlandssockels, 1977; Lowe, The development of the concept of the contigous zone, BYIL, 1981, 109 ff. - Das Sektorenprinzip ist völkerrechtlich nicht haltbar, vgl. Strupp-Schlochauer, a. a. O., III, 248 ff.; v. Münch, VÖlkerrechtsfragen d. Antarktis, AVR, 1958/59, 225 ff. 21 Staat, Großraum, Nomos
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[4] Die Idee der natürl. Grenzen, bereits v. Bodin erörtert, wurde im Frankreich d. 18. Jahrhunderts sowohl zur Begründung einer Politik der Mäßigung als auch - weit häufiger zur Rechtfertigung des eigenen Expansionsstrebens benutzt (wobei das linke Rheinufer als „natürliche" Grenze Frankreichs angesehen wurde, so u. a. von Danton u. Brissot). Die französische Rheinpolitik fand hier bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Motiv. Vgl. dazu: L. Rhenius, Die Idee der natürl. Grenzen u. d. französ. Revolution 1793 - 1815, Diss. Jena 1918; A. Schulte, Frankreich u. das linke Rheinufer, 1918; H. Oncken, Die historische Rheinpolitik der Franzosen, 1922; H. Stegemann, Der Kampf um den Rhein, 1924, bes. S. 461 ff.; Fr. Grimm, Frankreich am Rhein. Rheinlandbesetzung u. Separatismus im Lichte der historischen französischen Rheinpolitik, 1931; Zeller, Histoire d'une idee fausse, Revue de Synthese historique, 1936, 115 ff.; Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 374 ff.; M. Foucher, L'invention des frontieres, Paris 1986, Etudes de Defense Nationale, S. 129 136; H. D. Schultz, Pax Geographica - Räumliche Konzepte für Krieg und Frieden in der geographischen Tradition, Geograph. Zeitschrift, 1987, H. 1, S. 1 - 22. - Fichte, Der geschloßne Handelsstaat (1800), Ausg. 1979, S. 94 ff., behauptete, daß „gewisse Teile" der Erde „sichtbar von der Natur bestimmt" seien, „politische Ganze" zu bilden. Befänden sich mehrere Staaten auf dem Boden eines solchen durch „Flüsse, Meere" und „unzugängliche Gebirge von der übrigen Erde abgesonderten Gebietes", so stünden sie „in natürlichem Kriege" miteinander. Wolle man diesen aufheben, so gehöre „der Grund der Kriege" beseitigt; jeder Staat solle „erhalten, was er durch Kriege zu erhalten" beabsichtige, freilich vernünftigerweise allein beabsichtigen könne: „seine natürlichen Grenzen"; zur Kritik: Gentz, Über den ewigen Frieden (1800), in: v. Raumer, Ewiger Friede, 1953, 461 ff. Ähnlich wie Fichte argumentierte z. T. Heinrich Dietrich v. Bülow, Geist des neuern Kriegssystems, 3. Aufl., Hamburg 1837, S. 201 f., wonach natürliche Grenzen dauernden Frieden verbürgen, Staaten ohne natürliche Grenzen dauerndem Kriege ausgesetzt seien. - Die Unklarheiten des Begriffs erörtert: Ratzel, Politische Geographie, 3. Aufl. 1923, 404 ff. (der die Vogesen für die natürl. Grenzen Frankreichs hält und dessen frühe Staatswerdung damit erklärt, daß hier „die Natur der grenzziehenden Thätigkeit" entgegenkam; dazu auch ders., Anthropogeographie, 2. Aufl., I, 1899, 263). Ratzel weist aber auch auf die Nützlichkeit des Begriffs bei Grenzziehungen hin; vgl. auch: Menzel / Ipsen, Völkerrecht, 2. Aufl. 1979, 152 f. Vgl. auch: Th. Arldt, Natürliche Grenzen u. staatliche Brückenköpfe, ZfP, 1916. S. 545 - 555 u. J. Solch, Die Auffassung der „natürlichen Grenzen" in der wissenschaftlichen Geographie, Innsbruck 1924. [5] Die Idee, durch gerechte Umverteilung von Lebensräumen Kriege und wirtschaftlichen Unfrieden zu verhindern, ist in der Geopolitik der 20er bis 40er Jahre präsent; nicht zuletzt bei ihrem Hauptvertreter Karl Haushofer. H. dachte u. a. an ein „Grundbuch des Planeten", das alle „Grundlagen Leben erhaltender Fähigkeit" (Bodenfruchtbarkeit, -schätze, Ernte- und Tierhaltungsmöglichkeiten, Bewohnbarkeit usw.) erfassen sollte, um die optimale Volksmenge für bestimmte Räume zu ermitteln. Die „Inhaber des Raumüberschusses", so H's recht a-politische Hoffnung, würden dann einsehen, daß sie Konzessionen weit „billiger" kämen als „neuer Krieg und neuer Wirtschaftsdruck"; zit. nach: H. A. Jacobsen (Hrsg.), Karl Haushofer - Leben und Werk, I, 1979, S. 489 f., vgl. auch: O. Aust, Die vernunftwidrige Verteilung des Erdballs und Weltreichtums, Volksrecht, 22. 5. - 11. 6. 1929. Das Konzept, sozusagen die friedliche Alternative zum sonst notwendigen Krieg um Lebensraum, wurde von H. noch einmal unterstrichen in s. „Apologie der deutschen Geopolitik", Nov. 1945, abgedr. in: E. A. Walsh, Wahre anstatt falsche Geopolitik für Deutschland, 1946, S. 7 ff.; auch im o. a. Band Jacobsens, S. 639 ff. H. kam hier zu dem Schluß, „daß eine international im lebendigsten Gedankenverkehr... aufgebaute Geopolitik eines der besten Mittel zur Vermeidung künftiger Weltkatastrophen sein würde." Vgl. auch: F. Ebeling, Die deutsche Geopolitik
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in den Jahren 1924 - 1945, Ms. 1991, S. 80 ff. - Von Kontakten zwischen Schmitt und Haushofer ist nichts bekannt; der wohl einzige Versuch, ihre Thesen in einen Zusammenhang zu bringen, stammt von Lode Claes, Levensruimte en ruimteordening bij Karl Haushofer en Carl Schmitt, Rechtskundig Weekblad (Antwerpen), 29. 10. 1939, Sp. 225 - 232; später E. Könau, Raum u. soz. Handeln, 1977, S. 89 - 97. Haushofer weist in s. Werk wohl nur einmal auf d. „Großraumordnung" Schmitts hin: ZfG, 3/1940, S. 151. [6] Stresemann wollte mit dem Vertragswerk v. Locarno, auch „Westpakt", „Sicherheitspakt" o. „Rheinpakt" genannt, die Räumung d. Rheinlande, die Revision d. Versailler Diktates u. die Beendigung d. Reparationen befördern. Das Vertragswerk vom 16. 10. 1925 (Text in: Bruns / v. Gretschaninow, Polit. Verträge, I, 1936, S. 158 ff.; Materialien in: La Societe des Nations, Jahrgänge 1925 / 26; K. Strupp, Das Werk von Locarno, 1926, S. 123 ff.; F. Berber, Locarno. Eine Dokumentensammlung, 1936; vgl. auch: Der Locarnopakt. Gesetz über die Verträge von Locarno und den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund vom 28. November 1925, eingeleitet v. Viktor Bruns, 1936) enthielt u. a. eine Garantie der in Versailles gezogenen Grenzen u. beinhaltete einen Nichtangriffspakt. Die vertragschließenden Parteien (Belgien, Deutschland, Frankreich und die Garantiemächte Großbritannien und Italien) unterwarfen sich darin bei Streitfällen einer internat. Gerichtsbarkeit. Der bedeutendste Mangel d. Vertrages, der angeblich „volle Parität" für Deutschland brachte, lag in d. einseitigen Aufrechterhaltung d. entmilitarisierten Zone (vgl. u. a.: Schmitt, VÖlkerrechtl. Probleme i. Rheingebiet, Rhein. Beobachter, VII / 1928, S. 340 ff.; v. Mandelsloh, Polit. Pakte und völkerrechtliche Ordnung, 1937, bes. S. 27 ff.). Pikanterweise erklärte Briand am 8. 11. 1929 vor der französischen Kammer u. am 21. 12. 1929 vor dem Senat, „daß die von ihm Deutschland ggü. eingeleitete Taktik d. Verständigung sicherer zum Ziele führe als die von seinen Vorgängern angewandte Methode der Drohung u. Vergewaltigung. Man könne . . . ein großes Volk für die Dauer nicht unter Zwang halten. Man müsse es vielmehr dazu bewegen, daß es sich mit seiner neuen Lage abfinde u. aus freiem Willen den ihm auferlegten Beschränkungen zustimme. Gerade das sei jetzt gelungen. Der Versailler Vertrag sei nicht erschüttert. Er sei durch Locarno und Genf neu gefestigt, und die Lücken, die er ursprünglich enthielt, seien mit Deutschlands Zustimmung ausgefüllt." (A. Frhr. v. Freytagh- Loringhoven, Deutschlands Außenpolitik 1933 - 1941, 10. Aufl. 1942, S. 323 f.) - Durch Frankreichs Desinteresse an der im Art. 8 der VB-Satzung geforderten allgem. Abrüstung u. durch das auf der Zweiten Haager Konferenz zur Verabschiedung des Young-Plans (3.- 20. 1. 1930) mit Einschränkungen bestätigte Interventionsrecht bei Nichterfüllung der deutschen Verbindlichkeiten (dazu: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, VII, 1984, S. 708 ff.) war die Substanz des Vertrages rasch beschädigt; entscheidend war schließlich der französisch-sowjetische Beistandspakt v. 2. 5. 1935 als ein gegen Deutschland gerichtetes Militärbündnis (Text in: Berber, Locarno, a. a. O., S. 112 - 120, mit versch. Materialien). Deutschland kündigte daraufhin den Locarnovertrag u. ließ am gl. Tage Truppen in das Rheinland einmarschieren. Vgl. u. a.: v. Westarp, Locarno, 1925; Wehberg, Der Sicherheitspakt, 1926; Grigg, The merits and defects of the Locarno Treaty, Internat. Affairs, 1935, S. 176 ff.; G. Scelle, Rechtmäßigkeit des französisch-russischen Pakts, Völkerbund u. Völkerrecht, Juli 1935, S. 222 - 227, mit der anschließenden Replik v. Freytagh-Loringhoven, S. 227 - 232; Berber, Das Ende v. Locarno, Hamb. Monatshefte f. Ausw. Politik, 1936, S. 103 ff.; v. Freytagh-Loringhoven, Die Regionalverträge, 1937, S. 59 ff.; Barandon, D. System d. polit. Staatsverträge seit 1918, 1937, S. 145 ff.; W. Wache, System der Pakte. Die polit. Verträge d. Nachkriegszeit, 1937, S. 73 - 83, 148 155; Eyck, Geschichte d. Weimarer Republik, II, 1959, S. 11 ff.; Huber, op. cit., S. 372 ff.; Rößler / Hölzle (Hrsg.), Locarno u. die Weltpolitik 1924 - 1932, 1969. Zur „Sprengung der 21*
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Locarno-Gemeinschaft durch Einschaltung der Sowjets" vgl. d. Aufsatz v. Schmitt, DJZ, 15. 3. 1936, S. 337 ff.; ausführt. Literaturangaben bei: v. Mandelsloh, op. cit., S. 23, 47. [7] Der vollständige Text der überwiegend vom damaligen US- Außenminister u. späteren Präsidenten John Quincy Adams (1767 - 1848) redigierten Doktrin in: I. Elliot, James Monroe 1758 - 1831. Chronology-Documents-Bibliographical Aids, New York 1969, S. 58 - 70; vgl. auch die Auszüge bei: Schmitt, Das polit. Problem d. Friedenssicherung, 3. Aufl. 1993, S. 4 ff. - Die Literatur über die Doktrin u. ihre Wandlungen ist kaum noch überschaubar, zusätzl. zu den von Schmitt in seinen Fußnoten genannten Werken scheinen erwähnenswert: M. D. de Beaumarchais, La doctrine de Monroe, deuxieme edition, Paris 1898; H. Petin, Les Etats-Unis et la doctrine de Monroe, Paris 1900; A. B. Hart, The Monroe Doctrine. An Interpretation, Boston 1916; E. Quesada, La doctrina de Monroe - su evoluciön historica, Buenos Aires 1920; S. Plänas-Suärez, La doctrina de Monroe y la doctrina de Bolivar, La Habana 1924, bes. S. 37 - 69; ders., L'extension de la doctrine de Monroe en Amerique du Sud, RdC, 1924 / IV, S. 271 - 365; C. Barcia Trelles, La doctrine de Monroe dans son developpement historique, particulierement en ce qui concerne les relations interamericaines, RdC, 1930 / II, S. 397 - 605 (kritisiert d. Wandel d. Doktrin von einer anti-interventionist. Schutzerklärung zu einer Doktrin der interamerikanischen Intervention); ders., Doctrina de Monroe y cooperaciön internacional, Madrid 1931 (die Doktrin behindere die internationale Zusammenarbeit ebenso wie die inter- amerikanische Solidarität); J. A. Kasson, History of the Monroe-Doctrin, New York 1932; E. H. Tatum, The United States and Europe 1815 - 1823; a study in the background of the Monroe doctrine, Berkeley, Cal., 1936; F. Faa di Bruno, La dottrina di Monroe e la politica degli Stati Uniti, Alessandria 1936; H. van Buuren, The Monroe Doctrine and Manifest Destiny, The Hague 1958 (die Doktrin war von Anfang an „unilateral" gedacht, um die Neue Welt der US-Expansion zu reservieren); ähnlich kritisch: F. Merk, La doctrina de Monroe y el expansionismo norteamericano, 1843 - 1849, Buenos Aires 1968. Auch F. Berber, Der Mythos der Monroe- Doktrin, 1943, sieht die Anfänge skeptischer als Schmitt. Zur lateinamerik. Kritik an d. Doktrin sei hier auf die zahllosen Belege bei Barcia Trelles, La doctrine de Monroe ..., o. a., hingewiesen; mit der schönen Bemerkung d. Außenministers v. El Salvador v. 14. 12. 1919: „ . . . la doctrine de Monroe est une espece d'encyclique nord-americaine que seule le Pontife de Washington peut interpreter" (S. 535). Vgl. a. W. S. Robertson, Hispanic-american Appreciation of the Monroe Doctrine, in: Hispanic American Historical Review, 3/1920, S. 1 - 16; vgl. a.: K. Weege, Panamerikanismus u. Monroedoktrin, Diss. Kiel 1939. Zu den verschiedenen Konjunkturen der Doktrin - interamerikanische Solidarität, US-Hegemonie, „Kontinentalisierung" u. „Multilateralisierung", vgl.: J. Quijano-Caballero, Grenzen der panamerikanischen Solidarität, Monatshefte f. Ausw. Politik, 3 / 1941, S. 194 - 204; zur Doktrin als ,instrument der Mission" vgl. K. Krakau, Missionsbewußtsein u. Völkerrechtsdoktrin in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1967, S. 274 ff. - D. Perkins, A history of the Monroe Doctrine, London 1960, unterscheidet drei Phasen: eine defensiv-isolationistische, eine imperialistische und eine der „Good Neighbour Policy" (ab 1930); H. Lufft, Von Washington zu Roosevelt. Geschichte der amerikanischen Aussenpolitik, 1944, S. 195 - 222, unterscheidet sogar acht verschiedene „Etappen" der Doktrin: 1) Zurückhaltung (bis 1848), 2) als Waffe gg. England (1846 - 60), 3) zur Abwehr europ. Übergreifens (1865 - 1900), 4) „Polizeiknüppel"-Auslegung durch Th. Roosevelt (1901 09), 5) als Argument zu wirtschaftl. Zwangsvollstreckungsmethoden (1909 - 13), 6) als „Moral" (Wilson, 1913 - 1921), 7) als „Gutnachbarschaftsmotiv" (seit 1921), 8) als Wunsch, gemeinsam mit anderen amerik. Nationen, aber bei klarer Hegemonie der USA, zu handeln. Die zuletzt genannte Etappe beginnt um 1930 mit dem vom u.s.- amerikanischen Unterstaats-
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Sekretär J. Reuben Clarke im Auftrage Kelloggs verfaßten „Memorandum on the Monroe Doctrine", Washington 1930, Dept. of State, Publ. Nr. 37. Hier wird auf die Beibehaltung d. Doktrin verzichtet; an deren Stelle tritt ein unbegrenztes Selbstverteidigungs- u. Selbsterhaltungsrecht, dessen Interpretation sich die USA reservieren. Damit entfallen einerseits alle Probleme einer evtl. Inkompatibilität zw. der Doktrin mit dem Völkerbund und dem Kelloggpakt, andererseits waren alle defensiven Momente der Doktrin endgültig getilgt; vgl. a. H. Roemer, Das Clarksche Memorandum über die Monroe-Doktrin. Sinn und Auswirkung, ZfP, 1931, S. 590 - 606. Die weiteren Mutationen der Doktrin vor dem Beginn des II. Weltkrieges erörtert u. a. H. Rogge, Monroe-Doktrin und Weltordnung, Geist der Zeit, Mai 1939, S. 381 ff. u. ders., Wandlungen der Monroe- Doktrin, ebd., Juni 1939, S. 452 ff.; D. Perkins, Bringing the Monroe Doctrine up to date, Foreign Affairs, Jan. 1942, S. 253 - 265, behauptete, daß „the Monroe Doctrine has not been, is not, and ought not to be, a cover for a policy of isolation, or a justification of that myopic sense of national interest which assumes that the Americas lie not merely in another hemisphere from Europe or Asia, but in another world, and that they remain unaffected by the tragic and, in some mesure, inscrutable events unfolding on the other side of the two great oceans." (S. 265.) Zur Doktrin nach 1945: K. Krakau, Die kubanische Revolution u. die Monroe-Doktrin, 1968; Gaddis Smith, The last years of the Monroe Doctrine (1945-1993), New York 1994. Vgl. auch FN [14]. [8] In einem Interview v. 18. 5. 1898 erklärte Bismarck: „You in the United States are like the English in that respect: You have profited for ages from dissensions and ambitions on the continent of Europe. That insolent dogma, which no single European power has ever sanctioned, had flourished on them.... The Monroe Doctrine is a spectre that would vanish in plain daylight. Besided, the American interpretation of this presumtuos idea has itself varied constantly." (Nach W. v. Schierbrand, Germany - the Welding of a World Power, 1903, S. 352 f.) Vgl. auch Bismarcks Aufsatz „Amerikanische Selbstüberschätzung" (zuerst in den Hamburger Nachrichten v. 9. 2. 1896), in: Bismarck-Jahrbuch, III, 1896, S. 569 f. - Ausführlich A. Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, London 1935, Bd. II, S. 1636-1814, „Deutschland und die Monroedoktrin". [9] In neueren Handbüchern, etwa Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, u. Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, sucht man das Stichwort ,Monroe-Doktrin" im Register vergebens! - Was den „rechtlichen" Charakter d. Doktrin angeht, so kommt H. Kraus, Die Monroedoktrin in ihren Beziehungen zur amerikanischen Diplomatie und zum Völkerrecht, 1913, zu dem Schluß: „Die Monroedoktrin ist insoweit völkerrechtswidrig, als sie die gewaltsame Verhinderung eines berechtigten Zuwachses der politischen Macht nichtamerikanischer Staaten in Amerika durch die Vereinigten Staaten auch in solchen Fällen androht, wo deren Eingreifen nicht zur Abwehr einer ihrem unverletzten Bestände drohenden unmittelbaren Gefahr erforderlich erscheint." (S. 400.) [10] Der Art. 21 lautete: „Internationale Abreden wie Schiedsgerichtsverträge und Vereinbarungen über bestimmte Gebiete wie die Monroedoktrin, die die Erhaltung des Friedens sichern, gelten nicht als unvereinbar mit einer der Bestimmungen der gegenwärtigen Satzung". - Die Formulierung ist irreführend, da es sich bei d. Monroedoktrin nicht um eine „Vereinbarung", sondern um eine einseitige Erklärung handelte. Zur Entstehung d. Art. 21 u. d. Monroevorbehaltes, der durch den Druck d. Senates auf Wilson zustandekam, vgl. u. a.: E. Roig de Leuchsenring, La Doctrina de Monroe y el Pacto de la Liga de las Naciones, La Habana 1921; Schücking / Wehberg, Die Satzung des VB, 2. Aufl. 1924, S. 669 - 87; v. Freytagh-Loringhoven, Die Satzung d. VB, 1926, S. 221 - 25; D. H. Miller, The Drafting of
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the Covenant, 2 Bde., New York 1928 (Bd. I, S. 443 - 50; Bd. II, S. 369 ff.); J. Spencer, The Monroe Doctrine and the League Covenant, AJIL, 1936, S. 400 - 413; O. Göppert, Der VB Organisation u. Tätigkeit des VB, 1938, S. 56 ff.; K. R. Spillmann, Völkerbund vs. MonroeDoktrin - Ideologische Hintergründe der amerikanischen Ablehnung des Völkerbundes, GWU, 8 / 1972, S. 450 - 61. - L. Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung Die Konstruktion einer „deutschen Monroe-Doktrin", 1962, S. 56 ff., behauptet, daß die „ursprüngliche" Monroe-Doktrin, von der auch Wilson ausgegangen sei (? - G. M.), mit der VB-Satzung vereinbar wäre. Tatsächlich hatte Wilson am 10. 4. 1919 die Frage d. brasilianischen VB-Vertreters Reis, ob die Monroe-Doktrin eine Aktion d. VB gg. einen amerikanischen Staat ausschließen würde, verneint u. erklärt, daß, weil die VB-Satzung die politische u. territoriale Integrität ihrer Mitglieder fordere, sie im Grunde den höchsten Tribut darstelle, der an die Monroe-Doktrin gezahlt werden könne. „Er nähme die Monroedoktrin als eine Weltdoktrin an. Seine Kollegen in Amerika hätten ihn gefragt, ob der Völkerbund die Monroedoktrin vernichten würde. Er hätte ihnen geantwortet, daß der VB lediglich eine Bekräftigung u. Erweiterung d. Monroedoktrin bedeute." (W. Schücking / H. Wehberg, a. a. O., S. 671.) Doch auch Gruchmann konzediert, daß die „durch verschiedene corollaries" im Sinne einer Vorherrschaft d. USA mit Interventionsanspruch i. Lateinamerika ergänzte imperialistisch verfälschte Monroe Doctrine . . . mit der Völkerbundsatzung unvereinbar (sei)" (a. a. O., S. 57). In der VB-Kommission wurden die Forderungen nach einer Definition d. Doktrin von d. USA strikt abgelehnt, vgl. Schücking / Wehberg, a. a. O.; Spencer, a. a. O., S. 407 ff. [11] Unter dem Begriff „Caribbean Doctrine" werden gelegentlich die bes. Interessen der USA in der Karibik zusammengefaßt. US-Außenminister Robert Lansing (1864 - 1928) führte 1915 in einem für Präsident Wilson bestimmten Memorandum aus, daß es sich bei der Monroe-Doktrin um „a definite Caribbean policy" der USA handele und daß „es insbesondere seit der Konstruktion des Panamakanals für die USA von vitalem Interesse sei, daß keiner der Staaten des karibischen Raumes unter die Kontrolle einer europäischen Macht gerate" und die USA „auch eine indirekte Kontrolle der Staaten infolge finanzieller Abhängigkeit nicht dulden könnten", so: D. Ahrens, Der Karibische Raum als Interessensphäre der Vereinigten Staaten, 1965, S. 65; dort auch ausführt. Literaturhinweise. Vgl. u. a. auch: Ch. L. Jones, Caribbean interests of the United States, New York 1931; E. R. Mc Lean, The Caribbean: An American Lake, US Naval Institute 1941; W. Hardy Callcott, The Caribbean Policy of the United States 189 - 1920, Baltimore 1942; Dexter Perkins, The United States and the Caribbean, Cambridge, Mass. 1947; D. G. Munro, Intervention and dollar diplomacy in the Caribbean 1900 - 1921, Princeton, New Jersey 1964; R. R. Doerris, Amerikanische Außenpolitik im karibischen Raum vor d. Ersten Weltkrieg, Amerikastudien 1973, S. 62 - 82; E. Mayntz Valenilla, El Caribe: un mar entre dos mundos, Caracas 1978. Die Situation z. Zt. von Schmitts „Großraumordnung" untersucht: U. Scheuner, Die Machtstellung d. Vereinigten Staaten in Zentralamerika, ZAkDR, 1940, S. 309 - 311. - Allgem. z. polit. Geographie und zum Völkerrechtsproblem: R. Glusa, Zur polit. Geographie Westindiens, Diss. Münster 1962; J. P. L. Fonteyne, The Caribbean Sea: Value and Options in the Light of changing International Law, in: V. A. Lewis (ed.), Size, Self-Determination and International Relations: The Caribbean, Kingston 1976, S. 264 - 284; Sandner, Politisch-geographische Raumstrukturen und Geopolitik im karibischen Raum, Geograph. Zeitschrift, 1/1981, S. 34 - 56. [12] „As the policy embodied in the Monroe-Doctrine is distinctively the policy of the United States, the Government of the United States reserves to itself its definition, interpretation, and application", so Ch. E. Hughes, Observations on the Monroe Doctrine, AJIL, 1923,
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S. 611 - 28, hier S. 616. Vgl. von ihm auch: The Centenary of the Monroe Doctrine, International Conciliation, 1924, S. 3 - 22. [13] Zu dem „russischen Aspekt" der Doktrin: D. Perkins, The Monroe Doctrine 1823 1826, Cambridge, Mass. 1927, S. 3 - 39, 70 - 74, 78 ff., 126 - 135, 172 - 178, 228 - 260; H. Mueller, Rußland, Amerika und die Monroe-Doktrin, Zeitschrift f. Geopolitik, 8 / 1952, S. 453 - 57; E. Hölzle, Rußland und Amerika - Aufbruch und Begegnung zweier Weltmächte, 1953, S. 81 ff., 116 - 123; ders., Geschichte der zweigeteilten Welt - Amerika und Rußland, 1961, S. 37 ff., 42 f. [14] Schon 1896 deutete Th. Roosevelt die Monroe-Doktrin um in eine die US-Suprematie in Lateinamerika fordernde Lehre, vgl. Roosevelt, The Monroe Doctrine (zuerst 1896), in: ders., The Works, XIII, New York 1926, S. 168 - 81. Am 6. 12. 1904 erklärte er anläßlich der deutsch-engl.-ital. Intervention in Venezuela, daß „die Anhängerschaft der Vereinigten Staaten an die Monroe-Doktrin . . . sie in der westl. Hemisphäre . . . dazu zwingen mag, in flagranten Fällen . . . eine internationale Polizeigewalt auszuüben." (zit. nach Kraus, Die Monroedoktrin, 1912, S. 225 f.; vgl. dazu H. Lufft, Von Washington zu Roosevelt. Geschichte d. amerikanischen Aussenpolitik, 1944, S. 203 ff.; E. Angermann, Ein Wendepunkt in d. Geschichte d. Monroe-Doktrin u. d. deutsch-amerikanischen Beziehungen. Die VenezuelaKrise im Spiegel der amerikanischen Presse, Jb. f. Amerikastudien, 1958, S. 22 - 58). Bei zahlreichen Gelegenheiten (u. a. Cuba 1902, Besetzung d. dominikanischen Zollhäuser durch US-Beamte zwecks Schuldenregulierung 1904 / 07) konnte R. seine Umdeutung d. Doktrin bekräftigen; mit seiner Philippinen-Politik ging er über sie hinaus. Vgl. auch: D. Perkins, The Monroe Doctrine, III, Baltimore 1938, passim; S. Richard, Theodore Roosevelt, Principes et pratique d'une politique etrangere, Aix en Provence 1991, S. 64 - 70, 211 - 30, 313 22. Ähnlich wie Roosevelt argumentierte Mahan in s. Plaidoyer zugunsten ständiger Interventionen in Lateinamerika, um dort politisch u. finanziell „ordentliche" Verhältnisse zu garantieren u. so europäische Eingriffe zu verhindern: Mahan, The Monroe Doctrine (zuerst 1902), in: ders., Naval administration and warfare, London 1908, S. 347 - 410. - Die beiden wichtigsten vorhergehenden Neufassungen d. Doktrin sind die Botschaft des Präsidenten James Polk vom 2. 12. 1845 und d. „corollary" des Außenministers Olney v. 20. 6. 1895. Polk hatte anläßlich d. „Oregon-Streites" mit England erklärt, daß keine Kolonien von einem europ. Staat auf einen anderen übergehen dürfte, daß also Canada (und damit England) keine von den Spaniern im damaligen Oregon (= damals das Land zwischen Kalifornien u. Alaska) besessenen Gebiete übernehmen dürfe. Zum bisherigen Verbot der Neukolonisation trat so das Verbot der Weitergabe alter Kolonien. Polk wollte derart eine englisch-mexikanische Kombination verhindern, durch die die USA vom Pazifik abgedrängt worden wären; dazu u. a. H. Lufft, Von Washington zu Roosevelt. Geschichte der amerik. Außenpolitik, 1944, S. 92 - 98. Der drohende Krieg mit England wurde durch einen Kompromiß vermieden, so daß die USA freie Hand ggü. Mexiko erhielten. - Olney schließlich verlangte in einer Note an den brit. Botschafter Bayard anläßlich d. brit.-venezolanischen Grenzstreites die Etablierung eines Schiedsgerichts, um festzustellen, ob Großbritannien sich unter Verletzung der jetzt als rechtliche Norm verstandenen Doktrin amerikanische Territorien aneignen wolle; er gelangte zu der Behauptung eines unbedingten kontinentalen Interventionsrechts der USA und verstieg sich zu der Erklärung: „To-day the United States is practically sovereign on this continent, and its fiat is law upon the subjects to which it confines its interposition." Vgl. Link / Leary, Jr., eds., The Diplomacy of World Power, Edinburgh 1970, S. 51 ff. und die betr. Dokumente bei Kraus, op. cit., S. 424 ff. und bei Berber, wie FN [7], S. 51 ff.; zu den verschiedenen „corollarys" Kraus, S. 80 ff., 142 ff., 171 ff., 217 ff., 252 ff. Von bes. Reiz sind
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hier die detaillierten Untersuchungen zweier Zeitzeugen. M. D. de Beaumarchais, La Doctrine de Monroe: L'evolution de la politique des Etats-unis au XIXe siecle, Paris 1898, Deuxieme edition, revue et augmentee, S. 111 - 140, arbeitet die Absicht der USA, „un gigantesque protector at" über Lateinamerika zu errichten, klar heraus (S. 119 ff.); H. Petin, Les Etatsunis et la doctrine de Monroe, Paris 1900, S. 211 - 237, betont scharf die Inkompatibilität der Vorstellungen Olneys mit der „Ur"-Doktrin v. 1823 und weist auf u.s.-amerikanische Kritiker Olneys hin, die dessen Konzeption als eine „slaveholder Monroe Doctrine" (S. 236) brandmarkten. De Beaumarchais faßt seine Darstellung der zahlreichen Neuinterpretationen d. Doktrin ab 1850 u. d. T. „La Doctrine Monroe: „seconde maniere", S. 96 ff., zusammen, Petin spricht von „Extensibilite", S. 73 ff. - Vgl. a.: G. B. Young, Intervention and the Monroe Doctrine: The Olney Corollary, Political Science Quarterly, 1942, S. 247 - 280. - Die erstaunlichste „Umdeutung" erfolgte im Zweiten Weltkrieg, als die USA am 9. 4. 1941 einen „Vertrag" über die „Verteidigung Grönlands" mit dem dazu nicht autorisierten dänischen Gesandten de Kauffmann abgeschlossen und Grönland dabei als Teil der westlichen Hemisphäre, der der Monroe-Doktrin unterliege, definierten. Dazu u. a.: Grewe, Der Grönland-"Vertrag" von Washington, Monatshefte f. Ausw. Politik, 5 / 1941,S. 428 ff.; ebd., S. 449 ff. (Dokumente); Smedal, Grönland und die Monroe-Doktrin, ebd., 7 / 1941, S. 521 ff.; H. W. Briggs, AJIL, Juli 1941, S. 506 ff. [15] Das Schlagwort „Dollar Diplomacy" war bes. während der Regierung W. H. Taft (1909 - 13) beliebt, wurde danach aber allgemein für die Politik der Herstellung finanz. u. wirtschaftl. Abhängigkeit verwandt. Vgl. auch das berühmte Buch von S. Nearing / J. Freeman, Dollar Diplomacy, 1926; dt. mit einer Einführung von Karl Haushofer 1927. [16] Zu diesem nicht nur von Admiral Mahan propagierten Zusammengehen u. a.: Ch. S. Campbell, Anglo-American Understanding, 1898 - 1903, Baltimore 1903; L. M. Gelber, The Rise of Anglo-American Friendship - A Study in World Politics, 1898 - 1906, London 1938; B. Perkins, The Great Rapprochement - England and the United States, 1895 - 1914, New York 1968; St. Anderson, Race and Rapprochement - Anglo-Saxonism and Anglo-American Relations, 1895 - 1904, Rutherford, N. J. 1981, H. Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. II, 1982, S. 110 ff. [17] Der Vicomte Kentaro Kaneko, Finanzberater d. japan. Regierung, war Kommilitone Roosevelts in Harvard u. blieb mit ihm freundschaftlich verbunden, vgl. Roosevelts Briefe an ihn in: Th. Roosevelt, The Letters, 8 Bde., Cambridge, Mass., 1951 - 54; z. B. v. 22. 8. 1905 (IV, S. 1308 f.), 26. 10. 1906 (V, S. 473); 3. 5. 1907 (V, S. 671 f.). - Die Beziehungen zw. den USA u. Japan waren nach dem Ende der russ.-japan. Krieges ambivalent, nicht zuletzt wg. der unterschiedlichen Interpretationen d. „open-door-policy" betreffs China. (Obgleich d. Ergebnis d. Krieges zunächst von den USA begrüßt wurde u. Th. Roosevelt an s. Sohn schrieb: „Japan is playing our game", so H. F. Pringle, Theodore Roosevelt, New York 1931, S. 375, aus einem Brief v. 10. 2. 1904 zitierend.) Zwar akzeptierten die USA im Taft-Katsura-Abkommen (29. 7. 1905) die Kontrolle Koreas durch Japan u. bekräftigten dies im von Th. Roosevelt vermittelten russ.-japan. Frieden von Portsmouth (5. 9. 1905); doch die diskriminierende Einwanderungspolitik wie die Befreiung Rußlands von der Zahlung einer Kriegsentschädigung lösten in Japan eine Boykottbewegung gegen Waren aus d. USA aus. Hinzu kamen Spannungen wg. der US-Politik ggü. d. Philippinen bzw. der japan. Politik i. d. Mandschurei. Das Abkommen zwischen dem US-Außenminister Root u. dem japan. Botschafter Takahira (30. 11. 1908) bekräftigte zwar den status quo, die Politik der Offenen Tür in China und dessen territoriale Integrität, wurde aber nicht von den USA ratifiziert. Vgl. u. a. zur Ge-
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schichte der Beziehungen u. Konflikte zw. USA u. Japan: F. R. Dulles, America in the Pacific; a century of expansion, New York 1932 (zu den Konflikten ab 1853); K. Haushofer, Geopolitik des Pazifischen Ozeans, 3. Aufl. 1938, bes. S. 92 - 95, 108 ff., 157 - 160, 212 ff., 255 258 u. ö.; ders., Ostasien im Bereich d. nordamerikanischen Außenpolitik, in: F. Schönemann u. a., USA und Weltpolitik, 1940, S. 85 - 97; P. Pisano, Stati Uniti e Giappone. Politica estera americana, Rom 1941; O. Schäfer, Geopolit. Wandlungen am Großen Ozean u. in Ostasien, Geograph. Anzeiger, 1942, S. 272 - 277; B. Sievers, Japans Kampf gegen den USA-Imperialismus. Ein Abriß der japanisch-amerikanischen Beziehungen 1854 - 1942, 1943; O. J. Clinard, Japan's influence on American naval power, Berkeley, Cal. 1947; W. L. Neumann, America encounters Japan. From Perry to Mac Arthur, Baltimore 1963; R. A. Esthus, Theodore Roosevelt and Japan, Seattle 1966; Ch. E. Neu, An Uncertain Friendship - Theodore Roosevelt and Japan, 1906 - 1908, Cambridge, Mass. 1967; Akira Iriye, Pacific Estrangement - Japanese and American Expansion, 1879 - 1911, Cambridge, Mass. 1972. Während der Debatten um die VB-Satzung wies d. chines. Delegierte Wellington Koo auf die Gefahr hin, daß Japan unter Hinweis auf Art. 21 (vgl. FN [10]) eine eigene Monroedoktrin für Asien aufstellen könne; dazu: Wilson, Memoiren u. Dokumente über den Vertrag zu Versailles, hrsg. v. R. St. Baker, I, 1923, S. 272; Schücking / Wehberg, Die Satzung d. Völkerbundes, 2. Aufl. 1924, S. 665, 672, 674. Um 1930 kam es zu mehreren Versuchen, eine solche Doktrin zu formulieren, vgl. C. W Young, Japan's special position in Manchuria, Baltimore 1931, S. 327 ff.; J. Long, La Manchourie et la doctrine de la porte ouverte, Paris 1933, S. 176 ff. Als „Geburtsdatum" gilt jedoch der 17. 4. 1934, als Japans Außenminister Hirota erklären ließ, daß Japan das Monopol polit. u. militärischer Beeinflussung Chinas für sich beanspruche, alle anderen Mächte nach Gutdünken ausschließe und sich bei allen Verhandlungen Chinas mit Dritten ein Einspruchsrecht zuschreibe; vgl.: VBuVR, Mai 1934, S. 106 ff., ebd., Juni 1934, S. 191 ff.; ZaöRV, 1934, S. 597 ff. (wo die Parallele mit d. ursprüngl. Monroedoktrin zurückgewiesen wird); schließlich H. Klinghammer, Die Hirota-Doktrin, Diss. Greifswald 1935, der die Parallele betont. Regierungschef Fürst Fumimaro proklamierte am 3. 11. 1938 die asiat. „co-prosperity-sphere", der Japan, China, Mandschuko und einige Südseegebiete angehören sollten; z. T. war sogar an eine Kontrolle Indiens und Australiens gedacht. Der spätere Außenminister Arita forderte am 29. 6. 1940, daß „geographisch, rassisch, kulturell und wirtschaftlich nahe verwandte Volker zuerst eine Sphäre ihrer eigenen Ko-Existenz und Ko-Prosperität bilden, innerhalb dieser Sphäre Frieden und Ordnung schaffen u. zugleich ein Verhältnis gemeinsamer Existenz u. Prosperität mit anderen Sphären herstellen" (Japan Weekly Chronicle, 4. 7. 1940). Im Dreimächtepakt v. 27. 9. 1940 wurde Japans Führungs- u. Raumordnungsanspruch v. Deutschland u. Italien anerkannt. Die Doktrin kollidierte sowohl mit dem Neun-Mächte-Vertrag v. 6. 2. 1922, der betr. China das Open-door-Prinzip bekräftigte (Text in: Bruns / v. Gretschaninow, Polit. Verträge, I, 1936, S. 96 ff.) als auch mit d. Stimson-Doktrin. Vgl.: C. C. Wang, The pan-asiatic doctrine of Japan, Foreign Affairs, 1 / 1934, S. 59 ff.; P. Ostwald, Japan als Vorkämpfer d. asiat. Monroedoktrin, Wehr u. Waffen, März 1936, S. 209 ff.; G. Fochler-Hauke, Der Ferne Osten. Macht- und Wirtschaftskampf in Ostasien, 1936, bes. S. 45 - 56; v. Freytagh-Loringhoven, Völkerrecht im Fernen Osten, ZAkDR, 1. 3. 1938, S. 145 ff.; Schmitt, Großraum gg. Universalismus (1939), in: Positionen u. Begriffe, 1940, S. 295 ff.; A. Sottile, L'imperialisme japonais - Contribution ä l'etude des origines de 1'imperialisms nippon, Revue de Droit International, 1940, S. 73 - 80; K. Rosenfelder, Der Krieg um ein neues Asien, National-Sozialistische Monatshefte, Nov. 1940, S. 643 - 657; v. Kühlmann, Die Monroe-Doktrinen i. ggw. Kriege, Berliner Monatshefte, Sept. 1940, S. 545 ff.; K. Haushofer, Japan baut sein Reich, 1941; Grewe, Japans Hegemonie i. Ostasien u. die japan. Völkerrechtspolitik, Monatshefte f. Ausw. Politik, Jan. 1941, S. 27 ff.;
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
W. C. Johnstone, The United States and Japan's New Order, London 1941; E. H. Bockhoff, Die kontinentale Wohlstandssphäre als Rechtsbegriff. Vom horizontalen Weltrecht zum vertikalen Völkerrecht, National-Sozialistische Monatshefte, 1942, S. 773 ff.; P. A. Riebe, Weltkrieg i. Pazifik. USA gegen Japan, 1942, 2. Aufl., S. 61 ff.; R. Walter, Hakko-Ichiu, die „CoProsperitätsphase" in Ostasien, Ausw. Politik, 7 / 1942, S. 565 ff.; ders., Die amerikanische Politik d. Offenen Tür in Ostasien, 1943, S. 85 ff., 104 ff., 111 ff.; H. Oestereich, Japanisches Reich u. ostasiatischer Großraum, Reich-Volksordnung-Lebensraum, V / 1943, S. 337 ff.; E. Graf, Der gross-ostasiatische Raum, Amsterdam 1944 (Feldpostausgabe); F. C. Jones, Japan's New Order in East Asia, its rise and fall, 1937 - 1945, London / New York 1954; auch die Beiträge von B. Martin in: O. Hauser, Weltpolitik 1939 - 45, 1975. Vgl. auch d. Beiträge d. Zeitschrift „Berlin-Rom-Tokio" (1939 - 44) sowie jetzt: Krebs/Martin (Hrsg.), Formierung und Fall der Achse Berlin- Tokyo, 1994 (mit vielen Belegen zur Brüchigkeit u. geringen Ausfüllung d. Bündnisses). - Das japan. Großraum- u. Großmachtdenken resümiert: H. Gollwitzer, Geschichte d. weltpolit. Denkens, II, 1982, S. 580 - 85; zu einzelnen Aspekten vgl. auch: K. K. Kawakami, Japan spricht! Der chinesisch-japanische Konflikt, 1933; Seizo Kimase, Mitsuru Töyama kämpft für Grossasien, 1941 (ü. den 1855 geb. Vorkämpfer der großasiatischen Idee u. Schöpfer des Slogans , Asien den Asiaten") ; vgl. auch die Memoiren des japan. Außenministers Shigenori Togo: Japan im Zweiten Weltkrieg, 1958, S. 214 ff. (ü. das „Ministerium f. Großostasien"). [18] Das Prinzip der „offenen Tür" (Nichtdiskriminierung d. Ausländer in den wirtschaftl. Beziehungen u. Ausdehnung d. Meistbegünstigung auf alle Nationen) wurde v. Außenminister d. USA, John Hay, ab 1898 besonders bemüht, um die territoriale Einheit Chinas zu wahren, die durch spez. Vereinbarungen von Interessensphären f. Deutschland, Japan, England, Frankreich u. Rußland bedroht war. Vgl. u. a.: S. Tomimas, The Open Door Policy and the territorial integrity of China, 1919; R. Walter, Die amerikanische Politik d. Offenen Tür in Ostasien, 1943; Ch. S. Campbell, Jr., Special business interests and the Open Door Policy, 1951; Th. J. McCormick, China's market: America's quest for informal empire, 1893 - 1901, 1967; H. U. Wehler, Der Aufstieg des amerik. Imperialismus, 1974, S. 259 ff.; vgl. auch d. illusionslose Darstellung d. Regimes d. „Offenen Tür" (das „in der Stufenfolge imperialistischer Durchdringungsformen d. extensivste Rechtsform dar(stellt) . . . u. überall dort auftaucht), wo die Expansionskraft einer einzelnen Macht nicht zur Ausschließung aller anderen ausreicht"), b. Grewe, Epochen d. VÖlkerrechtsgeschichte, 1984, S. 559 ff.; auch ders.,Rechtsformen des ökonomischen Imperialismus im neunzehnten Jahrhundert, ZfP, April 1941, S. 231 -42, bes. S. 235 f. [19] Vgl. FN [10]. Zahlreiche Hinweise zum Verhältnis Wilsons zum VB u. zur MonroeDoktrin in: Th. J. Knock, To end all Wars - Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order, New York / Oxford 1992. Vgl. FN [10]. [20] Der Art. 10 der Völkerbundsatzung lautete: „Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren. Im Falle eines Angriffs, der Bedrohung mit einem Angriff oder einer Angriffsgefahr nimmt der Rat auf die Mittel zur Durchführung dieser Verpflichtung Bedacht." - Man darf den Artikel 10, der „auf eine Petrifizierung der durch die Pariser Verträge geschaffenen Lage" (Fr. Bleiber, Der Völkerbund Die Entstehung der Völkerbundssatzung, 1939, S. 100) hinauslief, als Quintessenz d. Völkerbundssatzung betrachten. Der Locarno-Vertrag (vgl. FN [6]) bedeutete eine Verstärkung des Art. 10. Zwar richtete sich der Artikel nur gegen gewaltsame Veränderungen des Gebietsstan-
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des, blockierte aber ganz allgemein die notwendigen u. durch die Satzung durchaus erlaubten friedlichen Veränderungen (Art. 19). - Zum Art. 10 vgl. u. a.: T. Komarnicki, La question de l'integrite territoriale dans le Pacte de la Societe des Nations, Paris 1923; H. Rolin, L'article lo du Pacte de la Societe des Nations, in: Th. Munch, Les origines et Toeuvre de la Societe des Nations, 2 Bde., Kopenhagen 1923 / 24, Bd. II, S. 453 ff.; B. W. v. Bülow, Der Versailler Völkerbund - Eine vorläufige Bilanz, 1923, S. 167 ff.; Schücking / Wehberg, Die Satzung d. Völkerbundes, 2. Aufl. 1924, S. 449 ff.; J. C. Baak, Der Inhalt d. modernen Völkerrechts und der Ursprung d. Artikels 10 d. Völkerbundssatzung, 1925; Schmitt, Die Kernfrage d. Völkerbundes, 1926; F. Korenitch, L'article lo du Pacte de la Societe des Nations, Paris 1931; O. Göppert, Der Völkerbund - Organisation u. Tätigkeit d. VB, 1938, S. 447 ff., S. 462 ff. [21] Dazu die Hinweise bei: A. Hettner, Englands Weltherrschaft, 1928, S. 104 ff.; J. Stoye, Das Britische Weltreich. Sein Gefüge u. seine Probleme, 2. Aufl. 1937, S. 325 ff.; H. Oncken, Die Sicherheit Indiens, 1937; W. Schneefuss, Gefahrenzonen d. Britischen Weltreichs, 1938, S. 35 ff. („Die Lebenslinien"). Constantin Frantz wies bereits 1882, was England betraf, auf den Zusammenhang von Streubesitz, Bedeutung der Sicherheit der Verkehrswege und Gefährdung hin: „Nur England allein,..., ist allerdings zu einer Weltmacht geworden, nämlich infolge seines Colonialbesitzes, der sich über vier Erdtheile verbreitet... trotz alledem ist England doch nur eine künstliche Weltmacht, weil die territoriale Basis dieser Macht eben nur ein europäisches Land ist, von wo aus das ungeheure Colonialreich zwar beherrscht wird, ohne aber jemals mit demselben zusammen wachsen zu können. Die Colonien hängen mit England nur durch die Fäden der Flotte zusammen, und diese Fäden können alle reißen oder zerschnitten werden. - Wie sollte England auf die Dauer dem allgemeinen Schicksal entgehen, wonach groß gewordene Colonien hinterher abfallen? Sein ostindisches Reich ... ist überhaupt keine eigentliche Colonie, sondern ein bloßes Herrschaftsgebiet, was vielleicht einmal viel schneller verloren gehen könnte, als es gewonnen wurde. Sonach hat die englische Weltmacht nur eine prekäre Existenz, weil sie nicht auf der Basis der Natur ruht, wie die Macht der Ver. Staaten oder Rußlands, welche beide sich dagegen als natürliche Weltmächte darstellen. Liegt nun die künstliche englische Weltmacht zwischen jenen beiden natürlichen Weltmächten gewissermaßen in der Mitte, dadurch ist ihr Fortbestand um so mehr gefährdet." (Frantz, Die Weltpolitik unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Chemnitz 1882/83, Erste Abtheilung, 1882, S. 106 f.). [22] Dazu ausführl.: P. Schmidt (Hrsg.), Revolution im Mittelmeer. Der Kampf um den ital. Lebensraum, 1942, mit drei Beiträgen v. Schmitts Schüler Herbert Schwörbel, S. 125 ff., 148 ff., 161 ff.; vgl. auch: E. Schopen, Weltentscheidung im Mittelmeer, 1937; U. Scheuner, Die heutige Lage i. Mittelmeer u. das engl.-ital. Mittelmeerabkommen, ZfP, 1937, S. 60 - 71; vgl. dazu den Notenwechsel u. die engl.-ital. Erklärung v. 31. 12. 1936/2. 1. 1937, in: Bruns/ v. Gretschaninow, Polit. Verträge, HI/1, 1940, S. 581 - 99; vgl. a. die Abkommen zw. England, Italien u. Ägypten v. 16. 4. 1938, in: ebd., m/2, 1942, S. 899 - 936. [23] Zum völkerrechtlichen Status Ägyptens u. dessen Geschichte: A. V. O'Rourke, The juristic status of Egypt and the Sudan, 1935; A. H. Oehme, Die Wandlung der rechtl. Stellung Ägyptens i. Britischen Reich, 1936; v. Tabouillet, Die Abschaffung der Kapitulationen in Ägypten, ZaöRV, 1937, S. 511 ff.; Fr. Bleiber, Quo vadis Aegyptus?, Monatshefte f. Ausw. Politik, 8/1940, S. 569 ff. Vgl. a.: v. Albertini, Dekolonisation, 1966, S. 56 - 63. [24] Zum Suezkanal vgl. D. Rauschning, in: Strupp / Schlochauer, Wörterbuch d. Völkerrechts, III, 1962, S. 417 ff.; eine geopolit. Skizze mit völkerrechtl. Hinweisen (S. 55 ff.): G. Hermann, Der Suez-Kanal, 1936. Wohl das Standardwerk: H. J. Schonfield, The Suez
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
Canal in peace and war 1869 - 1969, Coral Gables / Florida, 1969; vgl. a.: British Digest of International Law, 2 b, Phase one, Part III, Territory, London 1967, S. 193 - 281; vgl. a. Schmitt (anon.), Völkerrecht (Repetitorium) Salzgitter 1948/50, S. 88 f. [25] Text d. Vertrages v. 29. 10. 1888 in: M. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 221 ff. [26] Die sehr verwickelten Auseinandersetzungen zw. Großbritannien u. den USA um d. Panama-Kanal u. seine völkerrechtliche Stellung schildern: L. Oppenheim, The Panama Canal Conflict between Great Britain and the USA, 1913; J. F. Fräser, Panama and what it means, 1913; J. C. Freehof, America and the Canal Title, 1916. Im Hay-Pauncefoot-Vertrag v. 18. 11. 1901 (Text bei: M. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 321 f.) akzeptierte Großbritannien den Bau „under the auspices of the Government of the United States", wenn auch „without impairing the »general principle* of neutralization". Der Widerstand Kolumbiens gg. die in der Kanalzone von den USA beanspruchten Hoheitsrechte erledigte sich durch die von Roosevelt unterstützte panamesische „Revolution" v. 1903, deren Ergebnis die Losreißung der Provinz Panama von Kolumbien war. Vgl.: D. C. Miner, The Fight for the Panama Route, 1940, 2. Aufl. 1966; CI. Pierce, The Roosevelt Panama Libel Case - A factual study of a controversial episode in the career of Teddy Roosevelt, Father of the Panama Canal, 1959; G. Mack, The Land divided - A History of the Panama Canal and other Isthmian Canal Projects, 1944, 21. Aufl. 1974. Allgem.: British Digest, wie FN [24], S. 281 338. [27] Der britische Frachter Miramichi nahm im Juli 1914 in Galvestone / Texas eine für Deutschland bestimmte Weizenladung auf; während des Seetransports wurde das Schiff von der brit. Marine gestoppt und die Ladung infolge des Kriegsausbruchs beschlagnahmt; vgl. dazu L. Kotzsch, Miramichi-Fall, in: Strupp / Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. II, 1961, S. 542. [27a] Vgl. G. Stadtmüller, Die Dardanellenfrage in Geschichte und Gegenwart, ZgStW, 101 / 1941, S. 448 ff; E. Zechlin, Die türkischen Meerengen - ein Brennpunkt der Weltgeschichte, in: ders., Überseegeschichte, 1986, S. 179 ff. (zuerst 1964). [28] Vgl. E. Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, 1960. Allgem.: O. Junghann, Das Minderheitenschutzverfahren vor dem VB, 1934; O. Göppert, Der VB - Organisation und Tätigkeit, 1938, S. 573 ff.; H. G. Mußmann, Das Minderheitenschutzverfahren vor dem VB, seine Mängel und sein Zusammenbruch, 1939; ein Resume versucht Chr. Gütermann, Das Minderheitenschutz verfahren des VB, 1979. [29] Von den erwähnten Autoren vgl. u. a.: Boehm, Europa irredenta, 1923, ders., Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, 1932; Hasselblatt, Das Nationalitätenproblem, der Genfer Kongreß und wir, Dorpat 1927 (Estländisch-Deutscher Kalender); ders., Die sudetendeutschen Gesetzesanträge über Volkstumsrechte, ZAkDR, 1937, S. 353 ff.; ders., Die politischen Elemente eines werdenden Volksgruppenrechts, Jb. d. Akademie d. Deutschen Rechts, 1938, S. 13 ff.; Gerber, Das Minderheitsproblem, 1927; v. Loesch (Hrsg.), Volk unter Völkern, 1926; ders., Staat u. Volkstum, 1926; Hugelmann, Volk und Staat im Wandel deutschen Schicksals, 1940; Walz, Neue Grundlagen des Volksgruppenrechtes, 1940; Gürke, Der Nationalsozialismus, das Grenz- und Auslandsdeutschtum und d. Nationalitätenrecht, in: Nation und Staat, Okt. 1932; Kier, Über die Gestaltung eines Volksgruppenrechtes, ZaöRV, 1937, S. 497 ff.; Raschhofer, Hauptpro-
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bleme des Nationalitätenrechts, 1931; Rabl, Grundlagen und -fragen eines mitteleuropäischen Volksgruppenrechts, 1938. - Vgl. auch die bd. Standardwerke: H. Winthens, Der völkerrechtliche Schutz d. nationalen, sprachlichen u. religiösen Minderheiten. Unter bes. Berücksichtigung d. deutschen Minderheit i. Polen, 1930 (Handbuch d. Völkerrechts, I I - 8); G. J. Erler, Das Recht der nationalen Minderheiten i. Europa, 1931. Von bes. Interesse ist die Zeitschrift „Nation und Staat" (ab 1927), das Organ der deutschen Volksgruppen in Europa. Vgl. auch die allgem. Stellungnahmen zur Zt. des Völkerbundes: v. Balogh, Der internationale Schutz der Minderheiten, 1928; Scelle, Precis de droit des gens, II, Paris 1934, S. 187 252; Redslob, Les principes de droit des gens moderne, Paris 1937, S. 210 - 215. - F. Neumann, Behemoth. The structure and practice of National Socialism, London 1943 (zuerst 1942), S. 134 - 39, „The Folk Group versus Minority", kritisiert: „Recognition of the minority as a public corporation, as the Germans understand it and have applied it in Czechoslovakia, Hungary and Rumania, thus creates a state within a state and excempts the German group from the sovereignty of the state" (S. 137). Das ist zwar übertrieben, trifft aber die staatsauflösende Intention des deutschen Volksgruppenrechts von damals. Doch Neumann findet am Minderheitenrecht des Völkerbundes nichts auszusetzen und erwähnt nur die polnische Strafaktion in Ostgalizien gegen die Ukrainer, verschweigt aber die überaus leidvollen Erfahrungen der Deutschen mit diesem Minderheitenrecht. Die heutige Tendenz resümieren: Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 1252: „Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der völkerrechtliche Minderheitenschutz gegenüber dem Ausbau der individuellen Menschenrechte zurückgetreten. Dieser Schutz, insbesondere das in den Menschenrechtspakten enthaltene allgemeine Diskriminierungsverbot, kommt den Minderheitsangehörigen zwar auch zugute, kann sie jedoch nicht vor der Assimilierung mit dem Mehrheitsvolk bewahren." [30] Der Regelung der orientalischen Frage gewidmet war der unter Bismarcks Vorsitz v. 13. 6. - 13. 7. 1878 tagende Berliner Kongreß, - „gleichsam die glanzvolle Abschiedsvorstellung des Europäischen Konzerts" (Grewe). Vgl. F. Bamberg, Geschichte der oriental. Angelegenheit i. Zeiträume des Pariser u. des Berliner Friedens, 1892, bes. S. 605 ff.; Dokumente in: Strupp, Ausgewählte Aktenstücke zur oriental. Frage, 1916. Zur Interpretation: A. Novotny, Der Berliner Kongress und d. Problem einer europäischen Politik, HZ, 2/1958, S. 285 307; Kl. Hildebrand, Europäisches Zentrum, überseeische Peripherie und Neue Welt. Über den Wandel d. Staatensystems zwischen dem Berliner Kongress (1878) und dem Pariser Frieden (1919/20), ebd., August 1989, S. 53 - 94. Bes. aufschlußreich die Arbeit des Schülers u. Freundes Schmitts, Serge Maiwald, Der Berliner Kongreß 1878 und das Völkerrecht - Die Lösung des Balkanproblems im 19. Jahrhundert, 1948. Maiwald sieht England als den eigentlichen „Sieger" auf dem Kongreß, „da fast alle dort getroffenen Regelungen direkt oder mittelbar im Einklang mit der Ordnung der Pax Britannica im 19. Jahrhundert standen" (S. 116). Zur Bedeutung u. zu den Folgen des Kongresses für Deutschland: O. Westphal, Weltgeschichte der Neuzeit, 1953, S. 115 ff. - Allgem. z. Berliner Kongress vgl.: R. Rie, in: Strupp/ Schlochauer, Wörterbuch d. Völkerrechts, I, 1960, S. 185 f.; Frhr. v. Aretin (Hrsg.), Bismarcks Außenpolitik u. d. Berliner Kongreß, 1978; I. Geiss (Hrsg.), Der Berliner Kongreß 1878, 1979. [31] Die Note Clemenceaus v. 26. 6. 1919 an den polnischen Ministerpräsidenten Paderewski bezog sich auf den am 28. 6. 1919 abgeschlossenen Minderheitenschutzvertrag zw. d. USA, Großbritannien, Frankreich, Italien u. Japan einerseits, Polen andererseits. Clemenceau wies darauf hin, daß Polen seine Unabhängigkeit und seinen neuen Gebietsstand den Siegermächten verdanke, die sich deshalb verpflichtet fühlten, „in der dauerndsten und feierlichsten
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
Form gewisse wesentliche Rechte zuzusichern, die unabhängig von jeglicher Änderung i. innerstaatlichen polnischen Verfasssungsrecht der Bevölkerung den nötigen Schutz" gewährten (Text d. Note in: O. Junghann, Das Minderheitenschutzverfahren vor dem VB, 1934, S. 64 ff.). Um dieser Verpflichtung willen sei auch der Art. 93 in den Versailler Vertrag mit Deutschland aufgenommen worden. (Der Abs. 1 dieses Artikels lautete: „Polen stimmt der Aufnahme von Bestimungen in einen Vertrag mit den verbündeten und assoziierten Hauptmächten zu, welche diese Mächte als notwendig erachten werden, um in Polen die Interessen der Einwohner zu schützen, welche anderer Rasse, Sprache oder Religion als die Mehrheit der Bevölkerung sind"; vgl. „Die Friedensbedingungen", Berlin 1919, Hobbingausg., S. 63. Im Artikel 12 des Minderheitenschutzvertrages stimmte Polen einer Völkerbundsgarantie für den Minderheitenschutz zu; Text b. H. Kraus, Das Recht der Minderheiten, 1927, S. 58 ff. - Die Kritik Schmitts an Clemenceau wirkt hier recht deplaciert, da der französische Regierungschef, wenn auch in äußerst restriktiver Interpretation, auf Einhaltung d. Minderheitenschutzes drängte u. so zugunsten der deutschen Minderheit sprach. Vgl. H. Raschhofer, Hauptprobleme d. Nationalitätenrechts, 1931, S. 86: „Die Note muß als eine authentische Begründung der Verpflichtung zum Schutz der Minderheiten gewertet werden." Vgl. auch: G. Erler, Das Recht d. nationalen Minderheiten, 1931, S. 130 ff., 397 f.; C. G. Bruns, Gesammelte Schriften zur Minderheitenfrage, 1933, S. 69 ff.; s. u. FN [33]. [32] Dazu u. a.: Schücking / Wehberg, Die Satzung des VB, 2. Aufl. 1924, S. 126 ff. [33] Der polnische Delegierte beim VB, Graf Raczynski, richtete am 10. 4. 1934 ein Schreiben an den Generalsekretär des VB mit der Bitte, auf die Tagesordnung der nächsten VB-Versammlung einen Resolutionsentwurf zu setzen, der die „Verallgemeinerung" d. Minderheitenschutzes zum Ziele hätte; es ginge nicht an, daß es im Bereich des VB geschützte und ungeschützte Minderheiten gäbe (Text in: VBuVR, H. 2, 1934, S. 130 f.). Oberst Beck, der polnische Außenminister, erklärte am 13. 9. 1934 in d. Vollversammlung des VB, daß Polen im Falle d. Nichtannahme s. Antrages auf Verallgemeinerung jede Zusammenarbeit mit den betr. internationalen Kontrollbehörden verweigern werde. Zwar zog Graf Raczynski am 21. 9. den polnischen Antrag zurück, betonte jedoch, daß nunmehr Becks Erklärung inkraft trete. Polen annullierte seine Absage hinsichtlich d. Völkerbundskontrolle schließlich doch nicht u. schloß am 5. 11. 1937 eine Vereinbarung mit dem Reich zur Minderheitenfrage, vgl. VBuVR, Dez. 1937, S. 551 f.; dazu: E. Tartarin-Tarnheyden, Praktisches Volkstums-Völkerrecht, ebd., Jan. 1938, S. 571 ff. - Polens ggü. dem VB geäußerte Behauptung, die Kontrolle des Minderheitenschutzes beeinträchtige seine Souveränität, war irreführend, da die Anerkennung dieser Souveränität seitens der Siegermächte ja von Polens Anerkennung d. Minderheitenschutzes abhängig war, so daß A. v. Freytagh-Loringhoven zu der Konklusion kam, daß ,»rechtlich . . . gegen den polnischen Schritt . . . nichts einzuwenden (sei), wenn (Polen) zugleich mit der Aufkündigung seiner Verpflichtungen das für die Übernahme derselben empfangene Äquivalent, nämlich die fremdstämmigen Gebiete zurückgeben wollte" (VBuVR, 6 / 7, 1934, S. 349). - Auch hier mutet Schmitts Stellungnahme irritierend an. Vgl. zum Thema: W. Hasselblatt, Der Genfer Minderheitenschutz nach d. polnischen Vorstoß, Zeitschrift f. osteurop. Recht, Nov. 1934, S. 217 ff.; detailliert: J. Michalski, Polens Rücktrittsversuch vom Minderheitenschutzvertrage, Diss. Breslau 1937 (bei Walz u. v. FreytagLoringhoven); s. auch FN [31]. [34] Der Vertreter Brasiliens i. Völkerbundsrat, Afranio de Mello Franco, wandte sich am 9. 12. 1925 gegen eine Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes. Eine zu starke Ausbildung d. Prinzips der Autonomie der Minderheiten würde zur Auflösung der Staaten u. zur
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nationalen Desorganisation führen; im übrigen könne es zur künstlichen Entstehung von Minderheitsgruppen kommen. Die Minderheitenfrage tauche „nur (auf) in bestimmten geschichtlichen Augenblicken, wie bei der Einverleibung des Gebietes eines Staates in den anderen oder bei territorialer Neuregelung auf Grund eines Krieges oder besonders bei der Gründung neuer Staaten oder endlich gelegentlich von Kämpfen bestimmter Staaten gegen die Unterdrückung seitens anderer Staaten . . . Lediglich das Zusammenwohnen menschlicher Gruppen, die ethnisch verschiedene Kollektivwesen bilden, auf einem Gebiet und unter der Zwangsgewalt eines Staates genügt nicht dazu, daß man notwendigerweise in dem Staate neben der Mehrheit der Bevölkerung das Vorhandensein einer Minderheit anerkennen müßte, die eines der Sorge des Völkerbundes anvertrauten Schutzes bedürfte. Eine Minderheit im Sinne der bestehenden Verträge muß das Ergebnis von auf Jahrhunderte zurückliegenden oder auch weniger alten Kämpfen zwischen verschiedenen Nationalitäten und von dem Übergang bestimmter Gebiete aus einer Souveränität in die andere durch aufeinanderfolgende geschichtliche Zeitläufte hin sein." Mello Francos Ausführungen (Journal Officiel, Febr. 1926, S. 138 ff.) wurden als Plaidoyer für die möglichst rasche Auflösung der Minderheiten in den Herrscherstaaten betrachtet („Mello Francos Assimilationstheorie"); konnten aber auch verstanden werden als Aufforderung, eine Situation zu schaffen, in der Minderheiten aktiv mit ihrem Staate zusammenarbeiten könnten; vgl. u. a.: Fr. Wertheimer, Deutschland, Die Minderheiten und der VB, 1926, S. 65 ff.; Erler, Das Recht d. nationalen Minderheiten, 1931, bes. S. 452 ff.; Chr. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des VB, 1979, S. 80 ff., S. 146 f. [35] In s. Rede vor d. Reichstag am 20. 2. 1938 (Text in: Verhandlungen d. Reichstags, Bd. 459, S. 21 - 43) in der Hitler u. a. Mandschukuo anerkannte, führte er aus: »Allein so wie England seine Interessen über einen ganzen Erdkreis hin vertritt, so wird auch das heutige Deutschland seine, wenn auch um so viel begrenzteren Interessen zu vertreten und zu wahren wissen. Und zu diesen Interessen des Deutschen Reiches gehört auch der Schutz jener deutschen Volksgenossen, die aus eigenem nicht in der Lage sind, sich an unseren Grenzen das Recht zu einer allgemeinen menschlichen, politischen und weltanschaulichen Freiheit zu sichern." Vgl. auch Hitlers Reden vor dem Parteitag vom 12. 9. 1938 u. im Sportpalast v. 26. 9. 1938. Dazu: v. Freytagh-Loringhoven, VBuVR, März 1938, S. 710 ff.; ders., Deutschlands Außenpolitik 1933 - 1941, 1942, S. 152 f.; H. Raschhofer, Völkerbund u. Münchner Abkommen, 1976, bes. S. 125 ff.; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 702. K. G. Hugelmann, Volk und Staat im Wandel deutschen Schicksals, 1940, S. 189, definierte Hitlers Erklärung als Äußerung des Rechts auf „konnationale Intervention"; vgl. die Münsteraner Diss. v. H. Krasberg, Die konnationale Intervention, 1941, u. H. Körte, Lebensrecht und völkerrechtliche Ordnung, 1942, bes. S. 75 f. [36] Das deutsch-estnische Protokoll v. 15. 10. 1939 ist abgedruckt in: ZaöRV, 1939 / 40, S. 926 - 30; auch in: Monatshefte f. Ausw. Politik, 1940, H. 1, S. 24 - 27, u. in: ZVR, 1941, S. 348 - 52. Ein deutsch-litauischer Vertrag v. 30. 10. 1939 existiert nicht; Schmitt meint entweder den deutsch-litauischen Vertrag v. 22. 3. 1939 über die Wiedervereinigung des Memelgebietes mit dem Dt. Reich (in: Bruns/v. Gretschaninow, Polit. Verträge, III/2, 1942, S. 1039 - 42) oder den dt.-lett. Vertrag v. 15. 10. 1939 über die Umsiedlung lettischer Bürger deutscher Volkszugehörigkeit in das Deutsche Reich; Text in: ZaöRV, a. a. O., S. 932 - 37; Monatshefte, a. a. O., S. 28 - 32; ZVR, a. a. O., S. 353 - 63. Diese Verträge stehen in engem Zusammenhang mit dem sogen. Hitler-Stalin-Pakt v. 28. 9. 1939 und der durch ihn erreichten Abgrenzung deutscher und Sowjet. Interessensphären. Vgl. auch: Diktierte Option. Die Umsiedlung der Deutsch-Balten aus Estland und Lettland 1939 - 1941. Dokumentation von D.
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
A. Loeber, 1972; ders., Deutsche Politik ggü. Estland und Lettland. Die Umsiedlung der deutsch-baltischen Volksgruppe im Zeichen der Geheimabsprache mit der Sowjetunion von 1939, in: M. Funke (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte, Ausg. 1978, S. 675 - 83; vgl. auch die Studie v. F. Golczewski, Deutschland und Litauen, ebd., S. 577 - 83. [37] Der Text des Schiedspruches, durch den Nordsiebenbürgen an Ungarn abgetreten wurde, in: Monatshefte f. Ausw. Politik, 1940, H. 9, S. 702 - 708 (mit Materialien), sowie in: ZVR, 1941, S. 450 - 55; auch in: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, III/2, 1942, S. 1250/55. Dazu: W. G. Grewe, Das Volksgruppenrecht der Wiener Protokolle, in: Monatshefte f. Ausw. Politik, 1940, H. 10, S. 768 - 72. [38] Text d. Vertrages in: ZVR, 1941, S. 459 - 62, mit anschl. „Accord concernant l'echange de population bulgare et roumaine", S. 462 - 66; auch in: Bruns/v. Gretschaninow, wie FN [37], S. 1257 - 67, mit zusätzl. Dokumenten S. 1268 - 76. Vorsitzender des bulgar.rumänischen Schiedsgerichtes war Viktor Bruns (1884 - 1943), der Gründer des Kaiser- Wilhelm-Instituts f. ausl. öffentl. Recht u. Völkerrecht, vgl. d. Nachruf v. Fr. Berber, Ausw. Politik, 1 - 2 / 1944, S. 45. Siehe a. vorl. Bd.; Antwort an Kempner, FN [5], S. 464 f. [39] „Non-intervention est un mot diplomatique et enigmatique, qui signifie ä peu pres la meme chose qu'intervention", zit. n. F. H. Geffcken, Das Recht der Intervention, Holtzendorffs Handbuch d. Völkerrechts, Bd. IV, 1889, S. 135. [40] Zur deutschen Idee d. Reiches, bei Schmitt meist mit Überlegungen zu dessen Rolle als kat-echon verbunden (vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 28 - 32) u. a.: P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio - Studien z. Geschichte d. römischen Erneuerungsgedankens v. Ende d. Karolingischen Reiches bis z. Investiturstreit, 1929; O. Torsten, Riehe Eine geschichtliche Studie ü. d. Entwicklung d. Reichsidee, 1943; P. R. Rohden, Die Idee d. Reiches i. d. europäischen Geschichte, 1943; E. Müller- Mertens, Regnum Teutonicum Aufkommen u. Verbreitung d. deutschen Reichs- u. Königsauffassung i. frühen Mittelalter, 1970; G. Koch, Auf dem Weg z. Sacrum Imperium - Studien zur ideologischen Herrschaftsbegründung d. deutschen Zentralgewalt im 11. u. 12. Jahrhundert, 1972; zur christl. Geschichtstheologie des Mittelalters: A. Dempf, Sacrum Imperium, 1929. - Zur Diskussion um das Reich im modernen, völkerrechtlichen Sinne: H. K. E. L. Keller, Das Recht der Völker, Bd. II, Das Reich der Völker, 1941, mit ausführlichen krit. Erörterungen zu Schmitt; auch u. a.: E. R. Huber, Bau und Gefüge des Reiches, 1941; Scheuner, Der Bau des Reiches u. seine politischen Lebenskräfte, Deutsches Recht, 34/35-1942, S. 1169 - 71. - Großes Interesse hegte Schmitt auch hier an der Etymologie, vgl.: J. Trier, Vorgeschichte des Wortes Reich, in: Nachrichten von d. Akademie d. Wissenschaften i. Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 14/1943, S. 539-82. [40a] Wohl Anspielung auf J. L. Kunz, Die Staatenverbindungen, 1929, S. 713 - 818 ü. d. ,3ritish Empire"; erschienen als Bd. I I / 4 des „Handbuch d. Völkerrechts", hrsg. v. F. StierSomlo. [41] Zu diesem Schmitt besonders interessierenden Aspekt Disraelis (vgl. vorl. Bd., S. 397) vgl. u. a. auch C. Brinkmann, England seit 1815, 2. Aufl. 1938, S. 189 ff. [42] Vgl. die Werke v. G. Scelle, Precis de Droit des Gens, 2 Bde., Paris 1932 / 34 u. H. Lauterpacht, The function of Law in the International Community, London 1933 (die Schmitt in: Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938, S. 8 - 26, kritisch erörterte); auch die Schriften des Völkerbundsjuristen N. Politis, Le probleme de la limitation de la sou-
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verainete et la theorie de Tabus des droits dans les rapports internationaux, RdC, 6 / 1925, S. 5 - 116; ders., Les nouvelles tendances du droit international, 1927; Lauterpacht, The Covenant as the „Higher Law", BYIL, 17 / 1936, S. 54 ff. [43] Die Folgen der Intention des VB und der Angelsachsen, die Neutralität zu beseitigen, prognostizierte Schmitt 1938 in: Das neue Vae Neutris!, nachgedr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 251 ff.; auch ders., Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938. Vgl. auch zur Infragestellung bzw. Aufhebung d. Neutralität bereits durch die VB-Satzung u. den Kellogg-Pakt: Haase, Wandlung d. Neutralitätsbegriffes, 1932; Krakau, Missionsbewußtsein u. Völkerrechtsdoktrin der Vereinigten Staaten von Amerika, 1967, S. 374 - 427. Die vielleicht radikalste Stellungnahme bei N. Politis, La neutralite et la paix, Paris 1935: gg. den »Angreifer" müssen sich alle ohne Ausnahme zusammenschließen; dabei wird auch die Humanisierung des Kriegsrechtes abgelehnt, da diese auch dem »Angreifer" zugutekäme; ebenso ders., Die Zukunft des Kriegsrechts, in: Wie würde ein neuer Krieg aussehen?, 1932, S. 371 ff. - Schmitt hat hier wohl auch die seit 1935 erfolgenden Veränderungen der US-Neutralitätsgesetzgebung im Auge und die stets waghalsigeren Interpretationen der USA über ihre „Neutralität", mittels deren Hilfe Roosevelt sein Land in den Krieg führte; dazu bilanzierend: F. Schönemann, Der Weg d. Neutralität d. Ver. St. von Amerika, Jb. d. Hochschule f. Politik, 1940, S. 154 - 180; U. Scheuner, Die Neutralitätspolitik d. Ver. St. seit Beginn d. Krieges, Monatshefte f. Ausw. Politik, Febr. 1941, S. 83 - 93; Fr. Berber, Wandlungen d. amerik. Neutralität, Reich-Volksordnung-Lebensraum, 1943, S. 9 - 44; ders., Die amerik. Neutralität im Kriege, 1939 - 1941, 1943 (Dokumente u. Kommentar). Die Roosevelt'sehe Provokationspolitik gg. Deutschland im Atlantik belegen: W. Langer / S. E. Gleason, The undeclared war 1939 - 1941, New York 1953; Th. R. Fehrenbach, FDR's undeclared war 1939 - 1941, New York 1967; D. Bavendamm, Roosevelts Krieg 1937 - 45 und das Rätsel von Pearl Harbour, 1993, bes. S. 399 - 426 („Neutralität und casus-belli-Optionen"). L. Gruchmann, Völkerrecht und Moral. Ein Beitrag zur amerikanischen Neutralitätsproblematik, VZG, 1960, S. 384 - 418, leistet zwar einen detaillierten Überblick ü. die amerik. Neutralitätsverletzungen u. konzediert auch deren Völkerrechtswidrigkeit, beruhigt sich jedoch damit, daß sie „sowohl vom nationalen amerikanischen Standpunkt aus wie im Hinblick auf die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Lebensordnung in der Welt politisch wohlbegründet" waren (S. 384). Vgl. auch vorl. Bd., Beschleuniger wider Willen, FN [9], S. 438. [44] „In Italien mußte sich die Idee des politischen Gleichgewichts zuerst entwickeln, hier ging sie, gleichsam zur Probe, zuerst in eine konkrete Gestalt über. Denn hier waren eine Menge kleiner Staaten, so ziemlich von gleicher Macht, in einem sehr engen Raum zusammengedrängt, der noch dazu das Kriegstheater der beiden präponderierenden Mächte, Spanien und Frankreich, war. Auch hatte die Kultur daselbst schon eine viel reichere und mannigfaltigere Verbindung der Staaten untereinander erzeugt, als z. B. in Deutschland . . . Was Deutschland später wurde, nämlich das Gefäß, worin sich die kleinen Gewichte zur Erhaltung des politischen Gleichgewichts befanden, das war Italien früher." Clausewitz, Aufzeichnungen aus den Jahren 1803 bis 1809, in: H. Rothfels, Carl von Clausewitz. Politik und Krieg, 1920, Anhang, S. 197 - 229, hier S. 199; vgl. a. C. Frantz, Untersuchungen über das Europäische Gleichgewicht, Berlin 1859, S. 9 - 11. [45] In: AJIL, S. 112 - 119. Der Aufsatz schilderte die Gleichschaltung der völkerrechtlichen Institute während des Dritten Reiches. [46] Gürke stützte sich dabei (S. 36 f.) auf Pasquale Stanislao Mancini, Deila Nazionalitä come fondamento del Diritto delle Genti, Turin 1851, Ndr. in ders., Diritto internazionale 22 Staat, Großraum, Nomos
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
Prelezioni con un Saggio sul Machiavelli, Neapel 1873, S. 1 - 64. Ein weitaus entschiedenerer Verfechter eines völkischen statt eines zwischenstaatlichen Völkerrechts als Gürke war jedoch Hans K. E. L. Keller (1908 - 1970). K. gründete 1931 die „Deutsche Europa- Union", 1932 die Zeitschrift „Deutscheuropa", rief 1934 die „Internationale Arbeitsgemeinschaft der Nationalisten" und 1936 die »Akademie für die Rechte der Völker" ins Leben; zu s. Aktivitäten vgl. H. W. Neulen, Europa und das 3. Reich, 1987, S. 23 f. K. forderte die Reform des VB mittels eines Zweikammersystems („Völkerkammer" neben „Staatenkammer"); dazu u. a. s. Artikel : Ueber den Beruf unserer Zeit zur Gründung einer Akademie für die Rechte der Völker - Zugleich ein Bericht über den Dritten Internationalen Kongreß der Nationalisten in Oslo, ZVR, 1936, S. 485 - 496. Er kritisierte scharf die deutschen Völkerrechtler s. Zeit, die - auch Schmitt und Gürke - immer noch mehr vom Staate als vom Volke ausgingen und so der etatistischen Ideologie d. „Gegenreichs Frankreich" unterworfen blieben. Vgl. v. Keller u. a.: Droit naturel et droit positif en droit international public, Paris 1931; Das dritte Europa, 1934; Das rechtliche Weltbild - Gegenreich Frankreich, 1935; Das Recht der Völker, Bd. I: Abschied vom „Völkerrecht", 1938, u. Bd. II: Das Reich der Völker, 1941 Zur „völkischen" Auffassung des Völkerrechts allgemein vgl.: F. Giese/E. Menzel, Vom deutschen Völkerrechtsdenken der Gegenwart, 1938, S. 52-75 u. G. Hahn, Grundfragen Europäischer Ordnung, 1939, S. 58 - 83. [47] Über den Staat als Apparat, der „in der Hand des Führers der Volksgemeinschaft in verschiedener Weise" dient: Höhn, Die Wandlung im staatsrechtlichen Denken d. Gegenwart, 1934, S. 35 f.; ders., Volk, Staat u. Recht, in: Höhn / Maunz / Swoboda, Grundfragen d. Rechtsauffassung, 1938, S. 1 - 27, hier S. 21 f.; zum Staat als Apparat in der Hand des Fürsten: Höhn, Der individualistische Staatsbegriff u. die jurist. Staatsperson, 1935, S. 37 ff. Hohns Auffassung wird detailliert kritisiert in: W. Merk, Der Staatsgedanke i. Dritten Reich, 1935. [48] So G. Neeße, Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei - Versuch einer Rechtsdeutung, 1935, S. 43 ff.; ders., Partei u. Staat, 1936, S. 13 ff. [49] Vgl. Schmitt, Raum und Großraum im Völkerrecht, vorl. Bd., S. 263, FN [4]. [50] Verdroß / Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 1051: „Anders als der Luftraum gehört der Ätherraum nicht zum Staatsgebiet, da er nicht als beherrschbar gilt." Zum „grenzüberschreitenden Informationsfluß" im ,Ätherraum" ebd., §§ 1052, 1053. - Vgl. auch das rätselhafte Aper9u Schmitts kurz vor seinem Tode: „Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt" (das sich freilich auch auf das SDI-Programm bezogen haben mag), zit. nach: E. Hüsmert, Die letzten Jahre von Carl Schmitt, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana I, 2. Aufl. 1988, S. 40 - 54, hier S. 43. [51] Diese Überlegungen zu einem „police bombing" gg. Friedensstörer innerhalb der als polit. Einheit gedachten Welt gehen u. a. auf französische Vorschläge zurück, eine ständige Organisation des VB zur milit. Exekution einzurichten; vgl. dazu: Schücking / Wehberg, Die Satzung des VB, 2. Aufl. 1924, S. 606 ff., zu den Forderungen des franz. VB-Delegierten L. Bourgeois am 14. u. 28. 4. 1919. Meist wurde diese „internationale Polizei" als Luftflotte konzipiert; vgl. Brigadegeneral P. R. C. Groves, Air power and disarment, Times, 18. 9. 1922; Air power (Paris), Jan. 1930. Die Wirkung d. Luftwaffe wurde, dem Propagandisten des Luftkrieges, dem ital. General Giulio Douhet (1869 - 1930) folgend, eher überschätzt; D. hielt die Luftwaffe für das beste Instrument zur schnellen Befriedung („wenige Tonnen auf die feindliche Hauptstadt genügen"); vgl. von ihm: II dominio dell'aria, Rom 1921; dt. Ausgabe, Luft-
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herrschaft, Berlin o. J. (1935); über seine Theorie: J. L. Wallach, Kriegstheorien, 1972, S. 328 ff. Douhet übte zwar großen Einfluß aus auf die Verfechter von gg. das gesamte Feindgebiet zu führenden Bombardements aus, bei denen - wie im Zweiten Weltkrieg - die Wohngebiete nicht geschont wurden; er konnte aber zu s. Lebzeiten noch glauben, daß seine Methode geeignet sei, Kriege abzukürzen. - D. Davies, Das Problem des XX. Jahrhunderts, 1932 (zuerst engl. 1930), S. 287, warnte vor zu großen Hoffnungen auf die Luftwaffe; im übrigen ist sein Buch das Standardwerk über „internationale Polizei". H. Wehberg, La police internationale, RdC, 1934 / II, S. 7 - 131, schildert ausführlich die Vorgeschichte (Forderung nach internat. Blockadeflotten, usw.). - Der Art. 45 d. UN-Satzung fordert, damit „den Vereinten Nationen die Durchführung dringender milit. Maßnahmen" möglich sei, daß die „Mitglieder . . . nationale Kontingente von Luftstreitkräften zur jederzeitigen Verfügung für gemeinsame internat. Zwangsmaßnahmen bereithalten"; zur Folgenlosigkeit dieses Art. vgl. B. Simma, Charta der UN, 1991, S. 597 f. - Spaight rechtfertigte später die Angriffe der Royal Air Force auf die deutsche Zivilbevölkerung in: Bombing vindicated, London 1944; vgl.: C. Oehlrich, Vom Police Bombing zum Luftterror, Ausw. Politik, 1943, S. 578 ff.; J. P. Veale, Der Barbarei entgegen, aus dem Engl., 1954, S. 34, 142, 145 f., 151, 213. Ausführlich zu Spaight: E. Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit - Die völkerrechtliche Stellung der Zivilpersonen im Luftkrieg, 1956, S. 99 ff., 183 ff., 254 ff., 288 ff. u. ö.; dort auch zu Douhet u. verwandten Theorien, bes. S. 195 ff. [52] Vgl. dazu die zahlr. Hinweise bei E. Schmitz, Sperrgebiete im Seekrieg, ZaöRV, 1938, S. 641 - 671. Die Entwicklung in beiden Weltkriegen untersucht die Hamburger Dissertation von Jürgen Schmitt, Die Zulässigkeit von Sperrgebieten im Seekrieg, 1966. [52a] Vgl. etwa: W. Goez, Translatio Imperii - Ein Beitrag zur Geschichte d. Geschichtsdenkens u. d. politischen Theorie i. Mittelalter u. in d. Frühen Neuzeit, 1958. [53] Der Art. 11 d. Kongoakte d. Berliner Kongokonferenz lautete: „Falls eine Macht, welche Souveränitäts- oder Protektoratsrechte in den im Artikel 1 erwähnten und dem Freihandelssystem unterstellten Ländern ausübt, in einen Krieg verwickelt werden sollte, verpflichten sich die Hohen Teile, welche die gegenwärtige Akte unterzeichnen, sowie diejenigen, welche ihr in der Folge beitreten, ihre guten Dienste zu leihen, damit die dieser Macht gehörigen und in der konventionellen Freihandelszone einbegriffenen Gebiete, im gemeinsamen Einverständnis dieser Macht und des anderen oder der anderen der kriegführenden Teile, für die Dauer des Krieges den Gesetzen der Neutralität unterstellt und so betrachtet werden, als ob sie einem nichtkriegführenden Staat angehörten. Die kriegführenden Teile würden von dem Zeitpunkte an darauf Verzicht zu leisten haben, ihre Feindseligkeiten auf die also neutralisierten Gebiete zu erstrecken oder dieselben als Basis für kriegerische Operationen zu benutzen." (M. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 200, die ges. Akte ebd., S. 195 208). [54] Beispiele für die Frankreichs Expansion unterstützende, z. T. antienglisch akzentuierte Politik Bismarcks: W. Windelband, Bismarck und die europ. Großmächte 1879 1885, 1940, S. 551 - 56; H. U. Wehler, Bismarck und d. Imperialismus, 3. Aufl. 1972, S. 383 87. Besonders deutlich war die Zurückhaltung Bismarcks bei d. Verfolgung deutscher Wirtschaftsinteressen in Marokko. [55] Auf dem Pariser Kongreß v. 1856, der am 30. 3. den Krimkrieg beendete, am 15. 4. die Unabhängigkeit u. Integrität des Osman. Reiches garantierte, am 16. 4. die Seerechtsdeklaration verabschiedete (u. a. Abschaffung d. Kaperei) und durch den Rußlands Einfluß auf 2*
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
die Dardanellen und die Donaumündung gemindert wurde, wurde die Türkei in das Europäische Konzert aufgenommen. Preußen, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland u. Sardinien erklärten „die hohe Pforte teilhaftig der Vorteile des öffentlichen Europäischen Rechts und des Europäischen Konzerts" (Art. 7 d. Vertrags v. 30. 3. 1856, zit. n. M. Fleischmann, Völkerrechtsquellen 1905, S. 52). U. a. aufgrund des weiterbestehenden Systems d. Konsulargerichtsbarkeit war die Gleichberechtigung der Türkei nicht vollständig. Fr. v. Liszt, Das Völkerrecht, 1898, S. 3, hielt die Aufnahme der Türkei für „verfrüht" und kam in der 2. Aufl., 1902, S. 4, zu dem Schluß, daß die „Aufnahme der Türkei . . . toter Buchstabe geblieben (sei); die damals erwartete Verjüngung des Osmanischen Reiches ist nicht eingetreten, und die langsame Auflösung der europ. Türkei schreitet trotz der Eifersucht der Großmächte unaufhaltsam weiter", v. Liszt zählte aber 1898 Japan aufgrund seiner Kulturhöhe zur VÖlkerrechtsgemeinschaft (S. 3) und hielt Japans Eintritt in diese - aufgrund des Wegfalls der Konsulargerichtsbarkeit - für „vollzogen" (2. Aufl., S. 5). Zur Ersetzung des religiösen u. räumlichen Kriteriums („christlich-europäische Staaten") durch die Zurechnung zur „Zivilisation": Abeken, Der Eintritt der Türkei in die Europäische Politik, 1856; Heffter, Das Europ. Völkerrecht d. Gegenwart, Ausg. 1861, S. 14 ff.; Rivier, Lehrbuch d. Völkerrechts, 1899, S. 3 ff.; Siebold, Der Eintritt Japans in das europ. Völkerrecht, 1900; Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 200 ff. u. ö.; Truyol y Serra, La sociedad internacional, Madrid 1981, S. 57 ff., 74 ff.; Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 520 ff. - Vgl. Kunz, Zum Begriff der „nation civilisee" im modernen Völkerrecht, ZöR, 1927, FS Strisower, S. 86 - 99. [56] Schmitt bezieht sich hier v. a. auf d. Unfähigkeit d. VB-Systems zur friedlichen Revision. Lt. Art. 19 d. VB-Satzung („Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte") hätte der nicht zuletzt vom Versailler Vertrag bestimmte, gefährliche Status quo in Europa geändert werden können; bes. dringlich wäre die Entkoppelung d. Völkerbundsatzung von den Versailler Verträgen gewesen. Doch blieb Art. 19 ganz i. Schatten des Art. 10 (vgl. FN [20]) u. spielte nur dreimal in d. Geschichte des VB eine wenig bedeutende Rolle: beim bolivianisch-peruanischen Streitfall 1921 u. bei zwei chinesischen Anträgen betr. ungleicher Handels- u. Niederlassungsverträge und betr. der Notwendigkeit einer häufigeren Anwendung d. Art. 19; vgl. Böhmert, Der Art. 19 d. Völkerbundsatzung, 1934, S. 232 ff.; Walz, Revisionsmöglichkeiten im Rahmen d. Völkerbundsatzung, DJZ, 1931, Sp. 596 ff.; Schönborn, Der Art. 19 der VBS, Berliner Monatshefte 1933, S. 945 ff.; Toynbee, Peaceful change, Intern. Affairs, 15 / 1936, S. 36 ff.; Scelle, Theorie juridique de la revision des traites, Paris 1936; John Foster Dulles, Peaceful change within the Society of Nations, Washington 1936; Rogge, Das Revisionsproblem, 1937; v. Renvers, Die Pariser Konferenz über Peaceful change. Eine Bilanz, Monatshefte f. Ausw. Politik, August 1937, S. 465 ff.; de Visscher, Theories et realites en droit international public, Paris 1953, S. 370 - 89. - Die geringen Ergebnisse kommentiert: Göppert, Der Völkerbund, 1938, S. 427 ff. (mit ausführl. Literaturhinweisen). [57] Vgl. die bereits „klassisch" zu nennende Schrift von Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 3. Aufl. 1974. Vgl. auch Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 20f. (FN). [58] Die Raumauffassungen u. Gebietstheorien d. von Schmitt gen. Autoren sind nachzulesen: H. Rosin, Das Recht d. Öffentl. Genossenschaften, 1886, S. 42 ff.; Laband, Das Staatsrecht d. Dt. Reiches, 5. Aufl., I, 1911, S. 190 ff.; Jellinek, Allgem. Staatslehre, 3. Aufl. 1922, S. 394 ff.; Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, 1920, S. 10 ff., S. 132 ff., S. 176 ff.; Kelsen, Das Problem d. Souveränität u. d. Theorie d. Völkerrechts, 2. Aufl. 1928, S. 70 ff. -
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Für Kelsens Schüler W. Henrich, Theorie d. Staatsgebietes - entwickelt aus d. Lehre v. d. lokalen Kompetenzen d. Staatsperson, 1922, S. VI, ist „das Staatsgebiet für die Staatsrechtslehre weder ein Stück Erde im Sinne d. politischen Geographie noch ein Objekt im Sinne d. privatrechtlichen Eigentums . . ., sondern einzig und allein als lokale Kompetenz der Staats person verständlich"; vgl. auch E. Radnitzky, Die rechtl. Natur d. Staatsgebietes, AöR, 1905, S. 313 ff., der eine Skizze der „Kompetenztheorie" liefert. Zur Kritik: W. Hamel, Das Wesen d. Staatsgebietes, 1933, S. 129 ff. - Simmeis Raumtheorie in: Soziologie, zuerst 1908, Ausg. 1992, S. 687 - 790. Dort S. 776: „Wir erblicken die Gebietshoheit als Folge und Ausdruck der Hoheit über Personen . . . die Staatsfunktion kann immer nur Beherrschung von Personen sein, und die Herrschaft über das Gebiet in demselben Sinne wäre ein Nonsens." - Die von Schmitt aufgewiesene Tendenz, den politischen Raum „als Produkt d. Herrschaft über Personen dar(zu)stellen, und ihn von jeder Naturbeziehung (zu) lösen" (W. Köster, Stichwort „Raum, politischer", Hist. Wörterbuch d. Philosophie, VIII, 1992, Sp. 122 ff., hier 127) findet sich tatsächlich bei all diesen Autoren. Die These von einem generellen jüdischen Unvermögen ggü. diesem Problem ist jedoch fraglich: vgl. etwa die Schriften von lange mit Schmitt Kontakt pflegenden Autoren wie A. Grabowsky, Staat und Raum, 1928; Raum als Schicksal, 1933; Raum, Staat und Geschichte, 1960 (geopolitisch) o. von E. Rosenstock-Huessy, Die Europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, 1931, S. 121 - 31, „Das erregende Moment / Zeit oder Raum?" (dieses Buch las Schmitt in den Fahnen); ders., Die Übermacht der Räume, 1956. Franz Rosenzweig schließlich hat 1917 in einem erst 1984 veröffentlichten Text bedeutsame Motive Schmitts (Geschichte als Geschichte des Kampfes zw. Land- und Seemächten, Raumrevolution) „vorweggenommen": Globus. Studien zur weltgeschichtlichen Raumlehre, in: Gesammelte Schriften, III, Dordrecht 1984, S. 313 - 68. [59] Vgl. Schmitt, Land und Meer, 1942, S. 44 - 49, 73 - 76 (Ausg. 1981, S. 64 - 70, 103 107). [60] Vgl. a. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 13 - 20. H. J. Arndt, Verfassungsstandard und Gebietsstatus, Studium Generale, 22 / 1969, S. 783 - 813, weist S. 791 darauf hin, daß „die Territorialstaatsidee genau das Gegenteil einer ,Verortung', nämlich das Irrelevantwerden des konkreten Ortes für die politische Beziehung" impliziere u. bezieht sich auf H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 104 ff. [61] Dazu die zahlreichen Hinweise b. O. Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl. 1965 (zuerst 1939).
Anhang des Herausgebers Bibliographisch-editorische
Hinweise
Unser Abdruck folgt, mit wenigen stillschweigenden Korrekturen, den textlich identischen 4. und 5. Auflagen der Schrift. Die 4. Auflage: Berlin/Leipzig/Wien 1941, Deutscher RechtsVerlag, 67 S.; die 5.: Berlin 1991, Duncker & Humblot, 82 S. Die 1. Auflage, Berlin-Wien 1939, Deutscher Rechts-Verlag, 88 S., endete - wie Schmitts Kieler Vortrag - mit dem Kap. V, „Der Reichsbegriff im Völkerrecht" (gekürzt in: Deutsches Recht, 11/1939, S. 341 - 344; vollständig in: Schmitt, Positionen und Begriffe, 1940, S. 303 312). Auch die 2. Auflage, Berlin/Leipzig/Wien 1940, Deutscher Rechts-Verlag, 43 S., schloß mit diesem Kapitel ab. Der Text dieser 2. Auflage erschien auch in: Paul Ritterbusch
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
(Hrsg.), Politische Wissenschaft. Sechs Abhandlungen, die auf der Arbeitstagung des Kieler Instituts für Politik und Internationales Recht vom 29. März bis 1. April 1939 vorgetragen wurden, gl. Verlag, gl. Jahr, S. 29 - 69. Dieser Sammelband, damals in einer limitierten Auflage von 1 000 Exemplaren erschienen, enthält sämtliche Vorträge der Tagung (vgl. u., S. 343 ff.) und umfaßt 191 Seiten. Der 3. Auflage, Berlin/Leipzig/Wien 1941, Deutscher Rechts-Verlag, 58 S., wurde das Kapitel VI, „Reich und Raum", hinzugefügt (zuerst mit Abweichungen in: ZAkDR, 13/1940, 1. 7. 1940, S. 201 - 203). Die 4. u. 5. Auflagen wurden ergänzt durch das Kapitel VII, „Der neue Raumbegriff in der Rechtswissenschaft" (zuerst in: Raumforschung und Raumordnung, 11 - 12/1940, S. 440 - 442). Zwar schreibt Schmitt in seiner Vorbemerkung (hier S. 269): „Eine französische, spanische und bulgarische Übersetzung sind erschienen oder in Vorbereitung"; erschienen ist aber wohl nur eine japanische Auswahlübersetzung von Masao Hidaka in Mandschuko, 1941 (vgl. Masanori Shiyake, Zur Lage der Carl Schmitt-Forschung in Japan, in: H. Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988, S. 491 - 502, 497). Diese Ausgabe konnte bisher nicht eingesehen werden. Eine italienische Ausgabe erschien 1941 im „Istituto Nazionale di Cultura Fascista", Rom, u. d. T. „II concetto d'Impero nel diritto internazionale. Ordinamento dei grandi spazi con esclusione delle potenze estranee", 143 S. Diese Ausgabe enthält nur die Kapitel I - V, beruht also auf der 1. o. 2. deutschen Ausgabe. Eingeleitet wurde sie durch eine „Prefazione" von Luigi Vannutelli Rey, der Schmitts Gedankengang knapp skizzierte, das Konzept „Pan-Europa" und die „visione promissa della unificazione dell'umanitä in un dominio comune" zurückwies und den Anschluß Albaniens an Italien als Schritt zur italienischen Reichsbildung begrüßte (S. 1-12). Eine umfangreiche „Appendice" m. d. T. „La politica e il diritto nel pensiero di Carl Schmitt" (S. 95 - 143) steuerte Franco Pierandrei bei. Pierandreis Aufsatz ist eine wohlwollend kritische Darstellung des Gesamtwerkes Schmitts; bezüglich der Großraumordnung fragt er nach deren rationaler Begründung u. Begründbarkeit sowie nach deren tragenden moralischen Grundsätzen und nach der Überwindung des Dezisionismus in der „konkreten Ordnung" des Reiches (bes. S. 129 ff., 134 f.). Von Pierandrei stammt auch das Buch „ I diritti subiettivi pubblici neirevoluzione della dottrina germanica", Turin 1940, in dem öfters auf Schmitt eingegangen wird, u. a. S. 211 f., 218 ff., 228 f. - P studierte 1937 zwei Semester in Berlin, lt. F. Lanchester, Momenti e figure nel diritto costituzionale in Italia e Germania, Mailand 1994, S. 401. Die Übersetzung stammt von Schmitts damaligem Schüler Luciano Conti. In einem Schreiben Schmitts an Mussolini v. 26. 11. 1939 heißt es u. a.: „Nachdem Euere Exzellenz im vorigen Jahre die Überreichung meiner Schrift „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff" freundlich entgegengenommen haben, bitte ich heute um die Erlaubnis, eine andere in diesem Jahr erschienene Abhandlung „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte" als Zeichen derselben ehrerbietigen Gesinnung vorlegen zu dürfen. - Bei diesem Anlaß darf ich vielleicht auch den Namen eines jungen Italieners Luciano Conti aus Livorno nennen. Er hat eine ausgezeichnete italienische Übersetzung dieser Abhandlung angefertigt. Während seines völkerrechtlichen Studiums in Berlin hat er hier einen vorzüglichen Eindruck und seinem Vaterland Ehre gemacht." (SchmittNachlaß, Hauptstaatsarchiv NRW, Düsseldorf.) Vgl. auch den stark an Schmitt gemahnenden
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Aufsatz von Conti: Die Stellung der Großmächte in der internationalen Ordnung, Monatshefte für Auswärtige Politik (MAP), 6/1939, S. 307 - 317. Stark mit „Reich und Raum" überschneidet sich: II concetto imperiale di spazio, Lo Stato, XI/1940, S. 309 - 321; Ndr. in: Schmitt, Scritti politico-giuridici (1933 - 1942). Antologia da „Lo Stato", a cura di Alessandro Campi, Perugia 1983, Bacco & Arianna, S. 93 - 105; sowie in der ebenfalls v. Campi herausgegebenen Schmitt-Auswahl „L'Unitä del mondo e altri saggi", Rom 1994, Antonio Pellicani Editore, S. 203 - 215. Trotz Schmitts großem Einfluß in Spanien kam es dort nur zur Übersetzung des Kap. V, „Der Reichsbegriff im Völkerrecht" u. d. T. „El concepto de Imperio en el derecho internacional", Revista de Estudios Polfticos, 1941, S. 83 - 101. Diese, einige kleinere, doch unbedeutende Veränderungen aufweisende Übersetzung stammt von Francisco Javier Conde y Graupera (1908 - 1974), der 1933/34 in Berlin bei Schmitt studierte, mehrere Schriften Schmitts übersetzte (u. a. „Politische Theologie", „Der Begriff des Politischen" und „Der Leviathan") u. in seinen letzten Lebensjahren spanischer Botschafter in Bonn war; vgl. zu ihm meine Hinweise in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 17 f. In niederländischer Sprache erschien das Kap. VII, „Der neue Raumbegriff in der Rechtswissenschaft", u. d. T. „Het ruimtebegrip in de rechtswetenschap", Het Juristenblad, 27. 3. 1943, Sp. 801-810.
Zur unmittelbaren Diskussion und Rezeption der „ Großraumordnung " Schmitt hielt den Vortrag „Völkerrechtliche Großraumprinzipien" im Rahmen der mit der 25-Jahr-Feier des Kieler Instituts für Politik und Internationales Recht verbundenen Tagung der Reichsfachgruppe Hochschullehrer im Nationalsozialistischen Rechtswahrer-Bund am 1. 4. 1939 in Kiel. Die Tagung, unter dem Motto „Völker und Völkerrecht" stehend, fand am 31.1. - 3. 4. 1939 statt. Außer Schmitt sprachen: Ernst Rudolf Huber, Der Volksgedanke in der Revolution von 1848; Gustav Adolf Walz, Neue Grundlagen des Volksgruppenrechts; Cezary Berezowski (Warschau), Die Minderheiten als Rechtsproblem; Mircea Djuvara (Bukarest), Die neue rumänische Verfassung; Fritz Reu, Fragen des internationalen Handels- und Wirtschaftsrechts. Die Beiträge erschienen in dem o. a. Sammelband, hrsg. von Paul Ritterbusch (1900 - 1945), dem damaligen Leiter des Instituts; bis auf den Text Berezowskis auch als Einzelbroschüren. - Auch Rene Capitant sollte bei dieser Tagung referieren, sagte aber in letzter Minute ab (vgl. den Bericht von M. Djuvara, S. 345, dort S. 98). Das deutsche Presse-Echo auf die Tagung hielt sich in Grenzen; vgl. etwa die knappen Berichte „Das Reich im Völkerrecht. Ein Vortrag Carl Schmitts in Kiel", Frankfurter Zeitung, 3. 4. 1939, oder „Grossräumiges Denken. Professor Carl Schmitt sprach in Kiel", Deutsche Allgemeine Zeitung, 3. 4. 1939. Ergiebiger war der Aufsatz von „Dr. v. T." (vermutlich W. v. Tabouillet, vgl. von ihm u. a.: Der Kampf um die amerikanische Neutralitätsgesetzgebung, Deutsches Adelsblatt, 12. 8. 1939, S. 1079 ff., ebd., 19. 8. 1939, S. 1113 f.; Die totale Blokkade gegen England, Deutsches Recht, 5/1941, S. 229 - 232, sowie einige Beiträge in der ZaöRV) in der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) v. 7. 4. 1939 u. d. T.: „Volk, Nation, Staat, Reich. Die Vorträge auf der Kieler Jubiläumstagung". Ggü. Schmitts Ausführung wandte v. T. ein: „1. Auch das unversalistische englische Imperium stellt ein, ja vielleicht
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
sogar typisches Beispiel eines völkerrechtlichen Großraumprinzips, wenngleich anderer Art dar. Wenn bei diesem Großraum allerdings der unmittelbare geopolitisch räumliche Zusammenhalt, wie etwa bei dem amerikanischen Kontinent oder bei dem mitteleuropäischen großdeutschen Raum fehlt, so ersetzt jedoch gerade das britische Straßen- und Wegedenken in Verbindung mit der bisher von England ausgeübten Seeherrschaft auf allen Weltmeeren diesen räumlichen Zusammenhang. Die englische Rotte und die jetzt im Aufbau begriffene englische Luftwaffe sind die zur Überbrückung der räumlichen Entfernungen dienenden Faktoren, die auch das britische Weltreich trotz seiner Zerstreutheit als einheitlichen Großraum anzusehen berechtigen. 2. Der von Carl Schmitt eingeführte neue Reichsbegriff ist - wie sich auch in der Diskussion ergab und wie er selbst einräumen mußte - zum mindesten vieldeutig. Es bleibt daher die Notwendigkeit offen, eine zweckentsprechende Terminologie für den deutschen Großraum aufzufinden." Karl Heinz Bremer, Völkerordnung und Völkerrecht - Arbeitstagung des Instituts für Politik und internationales Recht in Kiel, Münchner Neueste Nachrichen (MNN), 26. 4. 1939, wies darauf hin, daß sich die „hitzigsten Erörterungen ... über Carl Schmitts Referat" entwikkelten. U. a. führte Bremer aus: „Der Begriff des Reiches, sagte Carl Schmitt, ermöglicht es, den neuen Raumvorstellungen gerecht zu werden. Das Reich ist der deutsche Großraum und entspricht einer deutschen Monroedoktrin. Die Großraumidee Carl Schmitts enthält eine durchaus konstruktive Tendenz, ist indessen in ihrem Rohzustand mehr politische Ideologie als schon ein völkerrechtlicher Begriff von allgemeiner Gültigkeit; sie kann es werden. Aber, wie auch die Debatte klarlegte, steckte doch noch manche Unklarheit in der Schmittschen These, vor allem durch die Gleichsetzung von Reich und „Großraum". Das „Reich" bedeutet uns Deutschen allerdings etwas anderes als der „Großraum", es ist gleichzeitig Idee und völkische Wirklichkeit, kann jedoch der Gravitationspunkt eines Großraums werden. Namentlich Professor Ritterbusch konnte manche berichtigende Ergänzung zu Carl Schmitts Grundidee beisteuern: auch der Großraum muß durch die Volker organisch ausgefüllt werden; das untrennbar zusammengehörige Mittel- und Osteuropa ist Gemeinbesitz all der Völker und muß es bleiben, um zu leben; aber es muß sie eine gleiche Leitidee des Rechtes und der Ordnung verbinden: die Idee der völkischen Ordnung und des Zusammenschlusses um den geistig und politisch ordnenden Kern." - Bremers Bericht läßt vermuten, daß Schmitt in der „Urfassung" seiner Großraumtheorie noch nicht zwischen „Reich" und „Großraum" unterschied und sie vielmehr ineinssetzte; die Bestimmtheit, mit der er im Kapitel V, „Der Reichsbegriff im Völkerrecht", diese Unterscheidung betonte (in der 1. Aufl. d. „Großraumordnung", 1939, S. 69; im vorl. Band bei gl. Text, S. 295 f.) könnte also eine Reaktion auf die Kritik Bremer oder anderer Teilnehmer der Tagung darstellen. Deutlich wird, daß der später kurrente Vorwurf, Schmitts Konzept leide an einem völkischen Defizit, schon auf der Kieler Tagung eine Rolle spielte. - Zu Bremer vgl. vorl. Bd., Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten, S. 216; zur Kritik an der Ineinssetzung von „Reich" und „Großraum" vgl. vorl. Bd., Antwort Schmitts an Kempner, FN [12], S. 469. Hans-Helmut Dietze, Politische Völkerrechtswissenschaft, Deutsches Recht, 16/1939, S. 703 f., die verschiedenen Vorträge d. Tagung kommentierend, wandte gg. Schmitt ein: „Es ist zweifellos richtig, daß neben den zwischenvölkischen Beziehungen auch konkrete Raumordnungen im Völkerrecht wirksam sind ... Ebenso notwendig ist es auch, derartige Großräume, die von bestimmten Gesetzen und Anschauungen beherrscht werden, begrifflich irgendwie zu erfassen, wenn auch terminologische Erwägungen niemals schlechthin entscheidend sein sollten. Allein, der Vorschlag, den vom deutschen Volkstum getragenen mitteleuropäischen Raum als „Reich" zu bezeichnen und somit den Reichsbegriff in das Völkerrecht
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einzuführen, muß doch auf verschiedene Gegengründe stoßen. Nicht nur, daß das „Reich" für uns Deutsche seit jeher das Sinnbild der völkischen Totalität, nicht aber irgendeiner übervölkischen Raumordnung bedeutet hat - entscheidend ist vielmehr gerade die Tatsache, daß wichtiger als die Räume die Volker sind, die diese Räume besiedeln. Wenn der Reichsbegriff allgemein als die Bezeichnung für wesentlich territorial bestimmte Mächte im „VölkerRecht herrschend werden sollte, so stände der Folgerung an sich nichts im Wege, gerade jene Mächte wiederum als Subjekte des „VÖlker"-Rechts zuzulassen, die infolge ihres überstaatlichen imperialistischen Wesens in einem echten, d. h. völkischen Völkerrecht auf die Dauer kein Recht auf Anerkennung besitzen: die Sowjet-Union sowie die katholische Kirche. Gerade diese beiden Mächte bilden zweifellos typische „Groß-Raumordnungen" und beanspruchen für sich - vor allem, was die Kirche angeht - den Begriff „Reich". Die Folge wäre also, daß alle inzwischen unternommenen berechtigten Versuche, diese Kräfte als Feinde eines auf Völkern beruhenden Völkerrechts zu erkennen und zu behandeln, in dem Augenblick vergeblich sein müßten, in dem das entscheidende Gewicht nicht mehr auf Völker, sondern auf Räume gelegt würde. In dieser, wenn auch ungewollten, so doch unausweichbaren Konsequenz beruhen die Gefahren eines derartigen Reichsbegriffes im Völkerrecht besonders." Ähnlich Dietze in: 25-Jahrfeier des Instituts für Politik und Internationales Recht an der Universität in Kiel, Kieler Blätter, 1939, S. 228 - 231. Wilhelm W. Grewe, Der Reichsbegriff im Völkerrecht, MAP, August 1939, S. 798 - 802, sah den „tiefere(n) Sinn des Reichsbegriffes" in der Versöhnung von Großraumbildung und völkischem Prinzip: „Das „Reich" ist der Gegenbegriff zu den beiden Grundformen nationalstaatlicher Gestaltung, die das 19. Jahrhundert beherrschten: zum reinen Nationalstaat, der auf der vollkommenen Identität von Volk und Staat beruht, und zum Nationalitätenstaat, der durch Entnationalisierung und Assimilation nach derselben Einheit und Geschlossenheit strebt... Der Reichsbegriff zielt... vielmehr auf eine übervölkische Ordnung, die den Notwendigkeiten wirtschaftlicher, technischer, verkehrsmäßiger und politischer Großraumbildung in konkreten Gestaltungen auf den entsprechenden Lebensgebieten Rechnung trägt, ohne an den Bestand des Volkstums und an seine freien Entfaltungsmöglichkeiten zu rühren." - Zum Schluß gab Grewe zu bedenken: „Völkerrechtliche Prinzipien, die nicht zum Allgemeingut der Nationen werden, sind gegenstandslos. Nicht nur begrifflich-systematische Denkarbeit ist zu leisten, sondern auch die communis opinio muß hergestellt werden. Niemand wird bezweifeln, daß hier für jede völkerrechtliche Neuschöpfung gegenwärtig die größten Schwierigkeiten liegen."
Politische Reaktionen, politischer
Zusammenhang
Die Grundlinien der Auseinandersetzung um die „Großraumordnung" Schmitts zeichneten sich also schon früh ab. Dies demonstriert auch der kenntnisreiche Versuch einer Darstellung des neuen deutschen Rechtsdenkens aus der Feder Mircea Djuvaras, eines Referenten der Kieler Tagung, m. d. T. „Le nouvel essai de philosophic politique et juridique en Allemagne", in: Revista de Drept Public (Bukarest), 1 - 2/1939, S. 97 - 156; der Aufsatz soll auch als Broschüre (62 S.) erschienen sein. Djuvara unterstreicht bes. den durchgängigen AntiNormativismus des neuen Rechtsdenkens in Deutschland und sieht ihn u. a. als Reaktion auf das Versailler Diktat an. Er erörtert in gedrängter Form die Hauptthesen zahlreicher deutscher Juristen, u. a. von K. Larenz, Walz, Gürke, Wolgast, aber auch von Autoren wie Hans Freyer, und untersucht Schmitts ,Dezisionismus" (S. 117 ff.).
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Schmitts „Großraumordnung" auf den S. 137 - 142 referierend, bemerkt er warnend: ,,L'existence de ces espaces ne signifie cependant aucun droit ä une tuteile ou ä une domination internationale ... Ii n'y a pas de „rang" entre Etats, il n'y a que d'"autres" Etats." (S. 141.) D. schließt sein Referat mit der Hoffnung: „Nous sommes certains que l'eminent auteur, qui reconnait l'autodetermination comme base de l'ordre international, ne peut pas etre, en definitive, tres loin de notre pensee et qu'il n'a pas voulu justifier ä tout prix un imperialisme dont lui-meme semble se defendre et qui rendrait intolerable la vie en commun." (S. 141 f.) D., der in seiner Studie immer wieder mit großem Nachdruck die „comprehension, sincere et profonde, des peuples entre eux" fordert, schließt mit: „La theorie de la non-homogeneite des membres de la communaute internationale, celle des „grands espaces", celle d'un „Reich" depassant ses frontieres territoriales, ainsi que les evenements politiques qui se sont produits dernierement, peuvent provoquer des inquietudes. C'est ä l'Allemagne de les calmer, dans une large et bienvaillante comprehension objective et reciproque, qui est en ce moment plus que jamais, non seulement son devoir ä eile, mais aussi le devoir de toutes les puissances europeennes ..". Ulrich Scheuner, Politische Wissenschaft in der Auseinandersetzung um Volk und Raum, Deutsches Recht, 21/1940, S. 850 - 852, benutzt den o. erwähnten Sammelband Ritterbuschs, um insgesamt zur Kieler Tagung Stellung zu nehmen. Zu Schmitts „Großraumordnung" schreibt er u. a.: „ . . . eben um die Anerkennung des von Deutschland erstrebten und 1939 schon nahezu im Aufbau vollendeten Großraums geht es heute; ihr widersetzt sich England, das seine universalistisch eingekleideten Herrschaftstendenzen nicht aufgeben will. So hat der Vortrag, in dem Carl Schmitt mit gewohnter Sicherheit eine entscheidende Fragestellung unserer Zeit aufgerollt hat, überall große Beachtung hervorgerufen ... Wenn Carl Schmitt am heutigen Völkerrecht das Festhalten an dem alten Staatsbegriff ohne Berücksichtigung der Machtunterschiede und an dem Grundsatz der Staatengleichheit kritisiert, so hat er recht, daß diese Betrachtungsweise der politischen Wirklichkeit nicht gerecht wird ... Die heutige Welt, ... wird von einer geringen Anzahl führender Mächte bestimmt, von denen jede in einem bestimmten Bereich eine räumliche Vorzugsstellung zu behaupten beansprucht. Wie sich die Berücksichtigung dieses Rangunterschiedes im Völkerrecht auswirken wird, wird man freilich angesichts der Gegenwehr der alten Auffassung abwarten müssen. Es würde aber nicht genügen, nur die Mängel des bisherigen Systems aufzuzeigen ... Hier zieht nun Carl Schmitt die Raumvorstellung heran, um von ihr aus die besondere Rechtsstellung der großen Mächte im Völkerrecht zu umschreiben. In der Tat geht die politische Entwicklung heute sicherlich dahin, daß die großen Machtbildungen ihren Lebensraum in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zu sichern und zu weiten suchen, daß sie ferner aus diesem Raum Einwirkungen anderer Mächte fernzuhalten entschlossen sind. Wieweit diese Entwicklung heute schon völkerrechtliche Anerkennung besitzt, muß zweifelhaft sein ... Ganz einig bin ich mit Carl Schmitt darin, wenn er, bei der Würdigung der Versuche, den Volksgedanken im Völkerrecht zur Geltung zu bringen, doch nachdrücklich betont, daß nur das staatlich geformte Volk, nur die organisierte Einheit sich im Völkerleben zu behaupten vermag. - Die Grundlinie ... ruft nach verschiedenen Seiten zu ergänzendem Nachdenken. So wird man fragen, ob neben den Großräumen sich nicht doch ... kleinere Staaten als „Neutrale" oder Zwischenglieder in selbständiger Stellung behaupten und damit dem herkömmlichen Recht ein Feld eröffnen. Und wie steht es mit den rechtlichen Beziehungen der Großräume untereinander? Hier gilt doch wiederum die Gleichheit, zwischen ihnen muß besonders der Interventionsbegriff geklärt werden, zumal heute, wo wirtschaftliche Expansion und politischer Einfluß sich kaum trennen lassen. Endlich erweckt besonderes Interesse die innere Struktur eines solchen Großraums. Nicht immer wird es ein führungsmäßiger, hegemonialer Aufbau sein ..."
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Wirkliche (welt-)politische Resonanz erhielten Schmitts Thesen jedoch erst durch zwei britische Tageszeitungen; durch die „Times" v. 5. 4. 1939 und den „Daily Mail" vom gl. Tage. Unter der Überschrift „German Press Attacks - British Policy denounced - „Evil Intervention" brachte die „Times" einen Bericht ihres Berliner Korrespondenten v. 4. 4., in dem es unter der Zwischenüberschrift „Germany's Goal" u. a. hieß: „Hitherto no German statesman has given a precise definition of his aims in Eastern Europe, but perhaps a recent statement by Professor Carl Schmitt, a Nazi expert on constitutional law, may be taken as a trustworthy guide." Der kurzen Inhaltsangabe der „Großraumordnung" folgte als Konklusion: „In the light of these principles we can envisage Eastern Europe an area under German domination, with what Herr Funk, the Minister of Economics, recently described as a „compound economy from the North Sea to the Black Sea."" Der kürzere Bericht der „Daily Mail" vom gl. Tage, betitelt mit „Germany to Proclaim a „Monroe Doctrine", bezeichnete Schmitt als „Herr Hitler's „key" man in this policy" und schilderte ihn als „middle-aged and handsome". Das Blatt führte u. a. aus: „Professor Schmitt outlined the Führer's scheme to a meeting of political historians and professors at Kiel during the week-end. He pointed out that the declaration of President Monroe in 1823 ... was the parallel which Germany would follow. Just as President Monroe insisted on „America for the Americans", Herr Hitler insists on „Central Europe for the Central Europeans". Germany considers herself the leading nation in this sphere, just as the United States claims to be the leading nation in the Americas. Herr Hitler, it is believed, will soon give it the world as his justification for Germany's relentless expansion." Die „Continental Edition" der Zeitung vom gl. Tage titelte mit „Germany to establish a Monroe Plan. Policy against Interference in Central Europe". Vgl. dazu auch den profunden Aufsatz v. J. H. Kaiser, Europäisches Großraumdenken. Die Steigerung geschichtlicher Größen als Rechtsproblem, in: Epirrhosis. Festgabe f. Carl Schmitt, 1968, II, S. 529 - 548, hier S. 538 f. u. vorl. Bd., Antwort Schmitts an Kempner, FN [15], S. 471 f. Von entscheidender Bedeutung war Hitlers große Rede vom 28. 4. 1939, mit der er auf Roosevelts Note vom 14. 4. 1939 antwortete (Texte bd. Dokumente sowohl in: ZVR, 1939, S. 189 - 233, als auch in: Der Führer antwortet Roosevelt. Reichstagsrede vom 28. April 1939, München 1939, Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf.; photomechanischer Ndr. in: H. Gordon, Es spricht: Der Führer, Leoni 1989, im Anhang, ohne Paginierung). Roosevelt hatte in s. Note erklärt, er sei überzeugt, „daß der Sache des Weltfriedens sehr viel gedient wäre, wenn die Nationen der Welt eine freimütige Erklärung bezüglich der gegenwärtigen und künftigen Politik der Regierungen bekämen." Er bot sich als Vermittler an u. forderte Hitler auf, „die Zusage abzugeben, daß Ihre Streitkräfte das Gebiet oder die Besitzungen folgender unabhängiger Nationen nicht angreifen bzw. nicht in diese Gebiete oder Besitzungen einfallen werden: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Schweden, Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Großbritannien und Irland, Frankreich, Portugal, Spanien, Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Polen, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Rußland, Bulgarien, Griechenland, Türkei, Irak, Arabien, Syrien, Palästina, Ägypten und Irak." Diesem höchst erstaunlichen Ansinnen ließ R. folgen: „Eine Zusage darf natürlich nicht nur für die Gegenwart gelten, sondern auch für eine ausreichend lange Dauer in der Zukunft, um jede Gelegenheit zu bieten, mit friedlichen Mitteln auf einen dauerhaften Frieden hinzuarbeiten. Ich schlage daher vor, daß Sie das Wort „Zukunft" für eine zugesicherte Nichtangriffszeit von mindestens zehn Jahren bis zu einem Vierteljahrhundert - wenn wir soweit vorauszublikken haben - gelten lassen." In seiner Antwort, die angeblich Fritz Berber mit vorbereitet haben soll (lt. M. Boveri, Verzweigungen. Autobiographie, 2. Aufl., 1978, S. 209; vgl. auch den anonymen, mit Sicherheit aber v. Berber verfaßten Artikel „Roosevelt und die MonroeDoktrin", Monatshefte f. Ausw. Politik, Mai 1939, S. 434 f.), führte Hitler u. a. aus: „Wenn
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
nun aber der amerikanische Präsident... sich berufen glaubt,... an Deutschland oder Italien eine solche Anforderung richten zu dürfen deshalb, weil Amerika so weit von Europa entfernt sei, dann würde, da die Entfernung Europas von Amerika die gleiche ist, mit demselben Recht auch von unserer Seite an den Herrn Präsidenten der amerikanischen Republik die Frage gerichtet werden können, welche Ziele denn die amerikanische Außenpolitik ihrerseits verfolge, und welche Absichten denn dieser Politik zugrunde liegen, sagen wir zum Beispiel den mittel- oder südamerikanischen Staaten gegenüber. Herr Roosevelt wird sich in diesem Falle sicherlich auf die Monroe-Doktrin berufen und eine solche Forderung als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des amerikanischen Kontinents ablehnen. Genau die gleiche Doktrin vertreten wir Deutsche nunfiir Europa, auf alle Fälle aber für den Bereich und die Belange des Großdeutschen Reiches. Im übrigen werde ich mir selbstverständlich nie erlauben, an den Herrn Präsidenten der Vereinigten Staaten Nordamerikas eine solche Aufforderung zu richten, da ich annehme, daß er eine solche Zumutung mit Recht wahrscheinlich als taktlos empfinden würde." Ob Hitler von Schmitts Vortrag in Kiel Kenntnis besaß, darf bezweifelt werden. Zumindest fühlte er sich als Schöpfer einer „deutschen Monroe-Doktrin" und Schmitt wurde „von dem Inhaber eines hohen Regierungsamtes gewarnt: der Führer schätze die Originalität seiner eigenen Gedanken und Ausführungen" (lt. Kaiser, a. a. O., S. 543; lt. J. W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983, S. 259, handelte es sich dabei um Hans Frank). Die Formel von der „deutschen Monroe-Doktrin" wurde jedenfalls dem breiteren Publikum erst durch Hitlers Rede bekannt, während der zeitlich enge Abstand zwischen dem Kieler Vortrag u. der Rede Hitlers eine Verbindung Schmitt - Hitler nahelegen konnte. Während der damals in engem Kontakt mit Schmitt stehende Giselher Wirsing sich auf Hitlers Rede kaprizierte (in: Wir fordern eine Monroe-Doktrin für Europa!, Das XX. Jahrhundert, Mai 1939, S. 129 - 131), zeigte ein anonymer flämischer Autor die Parallelen zwischen Hitlers und Schmitts Konzepten auf (in: Monroeleer in Europa, De Dietsche Vorpoost, 5. 5. 1939, Ndr. in: P. Tommissen, Een politicologische initiatie in de grootruimtetheorie van Carl Schmitt, Tijdschrift voor sociale wetenschappen, 2/1988, S. 133 - 150, hier S. 143 ff.). Aufschlußreicherweise wies dieser Anonymus auf den erst 10 Tage später erscheinenden Aufsatz Schmitts „Großraum gegen Universalismus. Der völkerrechtliche Kampf um die Monroedoktrin" hin (in: ZAkDR, 15. 5. 1939, S. 333 - 337, Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 295 - 302), in dem sich Schmitt bereits positiv auf Hitlers Rede v. 28. 4. 1939 bezog. Bei dem Autor muß es sich um einen der sehr zahlreichen Flamen handeln, die damals in Berlin bei Schmitt hörten und z. T. sehr enge Kontakte mit ihm unterhielten (freundl. Mitteilung von Herrn Prof. Tommissen, 22. 6. 1994). Hitler selbst nahm den Topos von der „deutschen Monroedoktrin" 1940 wieder auf. In einem dem US-Korrespondenten Karl von Wiegand gewährten Interview (9. 6. 1940) bekräftigte er, daß die Monroedoktrin nicht als „eine einseitige Inanspruchnahme der Nichteinmischung aufgefaßt" werden könne, sondern auch Amerikas Nichteinmischung in Europa beinhalte; vgl. die Berichte in: Völkischer Beobachter, 16. 6. 1940; FZ, 17. 6. 1940 sowie die Übersetzung von v. Wiegands Bericht „Der Führer an USA", Monatshefte f. Ausw. Politik, Juli 1940, S. 533 - 536.
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Weitere Reaktionen des Auslandes Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hier noch auf einige weitere Reaktionen aus Staaten hingewiesen, die in einem je unterschiedlichem Verhältnis zum Dritten Reich standen. Josef L. Kunz, AJIL, 1940, S. 173 - 176, erörtert Schmitts Thesen innerhalb einer Sammelbesprechung und weist dabei auf das Desinteresse Schmitts an der Rassenfrage hin: „Very different is the small book by Carl Schmitt. Whereas the others still cling to the „racial community", he thinks in terms of the „German people's living space". Although paying homage to the „people", he recognizes the necessity of the territorial element in international law." Kunz kommt zu dem Schluß: „Carl Schmitt, professor of law, has, of course, never been a jurist, but a politician; and, from his point of view, this is by no means a reproach but a compliment. This book ist, therefore not a study in international law, but a political thing. The author has great knowledge and has done vast reading; he is full of wit, abundant in new ways of looking at well-known topics. Regardless of whether you agree with his ideas or not, you will find the reading of this book a pleasure, for the author has talent and brains." Vgl. vorl. Bd., S. 254. - Eher sachlich referierend verhielt sich demgegenüber Charles Kruszewski, der in seiner tour d'horizon durch das deutsche Völkerrecht und die deutsche Geopolitik („Germany's Lebensraum American Political Science Review, October, 1940, S. 964 - 975) zu dem Schluß gelangte, bei dem Deutschen Reich handele es sich um „an unsatiated state, discontented, ambitious, restless, and bent upon modifying the status quo to her advantage, in order to acquire the coveted Lebensraum." Weitaus kritischer äußerte sich Franz Neumann (1900 - 1956) in seinem Hauptwerk: Behemoth. The structure and practice of National Socialism, London 1943 (zuerst 1942), der auf den S. 110 - 153 „THE GROSSDEUTSCHE REICH (Living Space and the Germanic Monroe Doctrine)" erörterte u. bes. auf den S. 131 - 134 die deutschen Ansprüche auf eine eigene Monroe-Doktrin behandelte. Zwar seien die Postulate der dt. Monroe-Doktrin auf den ersten Blick überzeugend. Von einer wirklichen Parallele zur US-Doktrin könne aber nicht gesprochen werden, weil die Monroe-Doktrin nur die Basis des US-Imperialismus war. Neumann zitiert ohne jede Kritik die Erklärung des US- Außenministers Hull an Deutschland, in der es u. a. heißt: „It (= the Monroe Doctrine) contains within it not the slighest vestige of any implication, much less assumptions, of hegemony on the part of the United States. It never has resembled and it does not today resemble policies which appear to be similar to the Monroe Doctrine, but which, instead of resting on the ... respect for existing sovereignties, seem to be only a pretext for the carrying out of conquest by the sword ... and a complete economic and political domination by certain powers." (S. 134; die Note Hulls ist 1940 in der Ztschr. „Key", II, S. 118, erschienen.) Zwar kommt der Marxist Neumann nicht umhin, die USA zu tadeln, weil sie, statt mit den „large masses of workers, peasants, and middle classes" zu kooperieren, lieber „dealings with Latin-American ruling groups" machen, kommt aber dann zu dem Schluß: „And even in its present rudimentary form, Pan-Americanism is utterly different from the Germanic concept of a Monroe Doctrine. The American basis is democratic consent by sovereign states; Germany knows nothing but conquest and domination." (S. 134.) Die Essays von John H. Herz, The National Socialist Doctrine of International Law and the Problems of International Organization, Political Science Quarterly, December 1939, S. 536 - 554, u. von Joseph Florin (= Ossip Flechtheim) u. John H. Herz, Bolshevist and National Socialist Doctrines of International Law, Social Research, February 1940, S. 1 - 31, erwähnen die „Großraumordnung" nur en passant; beide Arbeiten wurden wohl früh im Jahre
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
1939 abgeschlossen. Während des Krieges scheint es im angelsächsischen Raum keine Stellungnahme mehr zu Schmitts „Großraumordnung" gegeben zu haben. Robert Redslob, Revue de Droit International, 1939, S. 193 - 195, schildert kurz Schmitts Thesen vom deutschen Anspruch auf eine Monroe-Doktrin u. kommentiert nur knapp: „L'auteur ne va pas plus avant. II s'abstient de preciser, de developper, de justifier cette formule ... Voilä la theorie, je dirai plutöt le programme developpe par M. Carl Schmitt, jurisconsulte officiel du gouvernement allemand et par consequent porte-parole authentique du Troisieme Reich et de ses aspirations. Cette theorie parle par elle-meme, avec eloquence. II y a lieu de la mediter." Die große Darstellung von Jacques Fournier, La conception nationalesocialiste de Droit des gens, Paris 1939, Pedone, erörtert die Großraumordnung noch nicht und klassifiziert Schmitt auch nicht als Völkerrechtler („Le Pr Carl Schmitt ... n'est pas un specialiste du droit des gens, mais du droit public interne." (S. 204.)) Auch auf die geopolitische Diskussion in Deutschland geht das Buch nicht ein. Tatsächlich ist die Bezugsetzung Geopolitik/Völkerrecht eher ein Ergebnis späterer Interpretationen nach 1945 ... Im niederländischen Sprachraum interpretierte Lode Claes, Levensruimte en ruimteordening bij Karl Haushofer en Carl Schmitt, Rechtskundig Weekblad (Antwerpen), 29. 10. 1939, Sp. 225 - 232, den Großraum Schmitts als Präzisierung des vagen Lebensraums Haushofers. Die eindringlichste Studie erschien hier in einer Tageszeitung, in der Sonntagsbeilage der Leidener „Het Vaderland" v. 20. 7. 1941, u. d. T. „Het hegemoniebegrip en de politiek der groote ruimte". Der anonyme Verfasser (lt. freundl. Mitteilung v. Herrn Tommissen Prof. Dr. H. Krekel aus Leiden) untersucht mit großer Akribie die Beziehungen zwischen Triepels „Hegemonie" und Schmitts „Großraumordnung", geht auf die Monroe-Doktrin und auf Kritiker Schmitts wie Werner Best ein und schließt mit dem Vorwurf, daß das neue Denken keineswegs so konkret sei, wie seine Anhänger es behaupten: „Carl Schmitt en vele andere Duitsche juristen van thans zijn, goede leeraars in dat concrete denken. Voor het speciale geval van de Grossraum-theorie zijn wij echter geneigd te zeggen: het moeg nog concreter!" Die Zeitung „Het Vaderland" war damals Sprachrohr der Nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande, in der Krekel, Professor der Geschichte an der Universität Leiden, eine bedeutendere Rolle spielte; vgl. von ihm auch: Von Geist und Seele Hollands, Europäische Revue, Dez. 1941, Sondernr. „Die Niederlande und das Reich", S. 748 - 54. - Der Aufsatz v. J. Mullenmeister u. Jac. Koolschijn, Carl Schmitt. Een der mannen van het nieuwe staatsrecht, Haags Maandblad, 1/1942, S. 3 - 16, versucht Schmitts Gesamtwerk zu umreißen und geht S. 14 f., rein referierend, auf die „Großraumordnung" ein. Von besonderem Interesse sind die frühen Reaktionen in der Schweiz. „W." (= Hans Wehberg), Die Friedens-Warte, 1 - 2/1940, S. 134 f., erklärt: „ . . . es soll das alte Völkerrecht zerstört und stattdessen zum Vorteil einzelner Grossmächte eine imperialistische Grossraumordnung geschaffen werden. Es ist bemerkenswert, wie wenig Gewissensbedenken Schmitt hat, die Mittel- und Kleinstaaten, die eine so hohe Kulturmission zu erfüllen haben, den Grossmächten als willkommene Beute darzubieten. Das alles hat mit Völkerrecht und Völkerrechtspolitik nichts mehr zu tun, sondern ist der Versuch, eine Politik des Imperialismus mit einem Scheine Rechtens auszustatten." - J. M., „Großraumordnung mit Interventionsverbot", Neue Zürcher Zeitung, 25. 1. 1940, argumentiert ähnlich. Der Autor meint, daß „das Operieren Schmitts mit der Monroedoktrin ... eine Verirrung" sei. Die Monroedoktrin sei kein Rechtsgrundsatz, sondern nur eine politische Maxime; Schmitt stelle sie jedoch „als kommendes Völkerrecht" dar. Der "Drang nach Lebensraum " sei „nur eine neue Form des Imperialismus, und der Versuch, den Lebensraum völkerrechtlich zu verankern, ist einer jener in
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der Geschichte des Staats- und Volkerrechts wohlbekannten Versuche, Macht als Recht erscheinen zu lassen. Der Unterschied zu früheren Fällen besteht nur darin, daß einem diesmal die Entlarvung besonders leicht gemacht wurde." Der Artikel schließt mit der These, daß der Beitrag der neutralen Staaten nach einem Frieden, gleichgültig wie dieser ausfallen mag, „ein anderer sein wird, als dieser Beitrag aus Deutschland zu einem völkerrechtlichen Neuaufbau." - K. W. (Kurt Wilk? - G. M.), „Strahlendes" Völkerrecht, Vaterland (Luzern), 26. 4. 1940, verlegt sich mehr aufs Spotten: „Wir wissen heute, daß sich das neu-deutsche völkerrechtliche „Schutzrecht" nicht bloß auf Volksdeutsche Gebiete und deutsche Volksgruppen bezieht, sondern daß die „Ausstrahlungen" dieses „Rechtes" viel weiter reichen. Polen mußte sich „bestrahlen" lassen, Dänemark und Norwegen stehen auch in der Gloriole dieser Ausstrahlungspolitik und dieses Ausstrahlungsrechtes. Was von Schmitt theoretisch als Recht konstruiert und von der deutschen Regierung als Politik betätigt wird, ist die vollkommene Auflösung jeden Rechtes, ist einfachster und brutalster Imperialismus." Puck (wohl Pseudonym? - G. M.) schrieb u. d. T. „Rayonnement" im »Journal de Geneve" v. 30. 4. 1940 u. a.: „Frederic le Grand menait des campagnes militaires et lorsqu'il les avait achevees, il chargeait ses juristes de les justifier. Le juriste le plus en vue de l'Allemagne hitlerienne est M. Carl Schmitt; il n'a pas attendu la fin de la guerre pour expliquer la conduite du Reich: dans un gros volume (! - G. M.), il essaie de creer un nouveau droit des gens en interpretant juridiquement la politique naziste ... Le Reich, nous dit M. Schmitt, rayonne, irradie sur les contrees qui l'entourent. 1'image est charmante; si on la creuse, on voit que les eclairs des bai'onnettes et les flammes des bombes sont les rayons lumineux de ce nouvel astre qui projette ses clartes sur toute T Europe centrale. Les Polonais ont eprouve les premiers les bienfaits de cette irradiation: les Danois ont ete „illumines" ä leur tour, puis le rayonnement s'est etendu ä la Norvege." Der sachlichste, aber auch theoretisch solideste Artikel, der Schmitts Thesen weder mit der Theorie vom „Lebensraum" noch mit der Politik Hitlers ineinssetzt und der auch Schmitts Beziehung zu wirtschaftlichen Theorien sieht, stammt von A. S., Carl Schmitt. Der Theoretiker des Grossraums, Die Weltwoche, 6. 12. 1940. Darin heißt es u. a.: „Wer kennt zum Beispiel den Namen Carl Schmitt? Dieser entscheidende Theoretiker des Dritten Reiches spielt für die von Deutschland ausgehende Revolution eine Rolle wie Rousseau für die französische Revolution ... Es wird dem, der genügend Einbildungskraft und Gedankenschärfe besitzt, aufgehen, daß hier ein geistiger Feldherr am Werke ist, dessen Direktiven, wenn sie mit Erfolg in die Praxis umgesetzt werden, das Leben dieser und der folgenden Generationen entscheidend umformen werden." Der Autor schildert relativ detailliert Schmitts Erörterung der Monroe-Doktrin und geht auf die technisch-wirtschaftliche Tendenz zu Groß(-wirtschafts)räumen näher ein, hält letztlich aber dafür, daß die Großraumpolitik nur dann bleibende Werte schaffen kann, wenn die Großmächte „nicht nur an ihre eigenen Interessen denken, sondern auch an die Interessen der kleinen Staaten und Völker, deren Gedeihen letzten Endes für eine gesunde Entwicklung des gesamten Grossraumes kaum minder wichtig ist, als das Gedeihen der diesen Raum ordnenden Grossmächte selber."
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht Die Großraum-Debatte in Italien während des IL Weltkrieges
Eine gewisse Eigenständigkeit gewann die Großraum-Diskussion während des II. Weltkrieges in Italien; einer der Anlässe war sicher der deutsch-ital. „Stahl"-Pakt v. 22. 5. 1939 (Text mit Materialien in: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, III/2, 1942, S. 1058 1067). Vor allem ist der römische Staats- u. Völkerrechtler Carlo Costamagna (1881 - 1965) zu nennen, der 1930 - 1943 die Zeitschrift „Lo Stato - Rivista di scienze politiche, giuridiche e economiche" leitete und als Verfechter einer etatistischen, dem Korporativismus ggü. kritischen Linie im ital. Faschismus einzustufen ist (vgl. a. über den Kurs der Zeitschrift: Monica Toraldo di Francia, Per un corporativismo senza ,corporazione": „Lo Stato" di Carlo Costamagna, Quaderni fiorentini, 1989, S. 267 - 327). Costamagnas wichtigste Bücher: Elementi di diritto pubblico fascista, Turin 1934; Storia e dottrina del fascismo, Turin 1938 (dt.: Faschismus. Entwicklung und Lehre, Berlin-Wien 1939); Elementi di diritto pubblico generale, Turin 1943 (darin ö. über Schmitt, zur Großraumtheorie u. a. S. 166 ff., 272 ff.). Vgl. auch die von Gennaro Malgieri veranstaltete Auswahl: Carlo Costagmagna. Dalla caduta dell'"ideale moderno" alla „nuova scienza", Vibo Valentia 1981. Von den Aufsätzen Costamagnas, die sich mit der Großraumfrage (auch) befassen, sind zu nennen: L'idea del impero, Lo Stato, IV/1937, S. 193 - 206; Gli aggregati imperiali, ebd., X/1939, S. 497 - 506 (auch bei Malgieri, S. 102 ff.); Autarchia e etnarchia nel diritto dell'ordine nuovo, ebd., 1/1941, S. 1 20 (gekürzte dt. Version: Autarkie und Ethnarkie in der Völker- und Staatsrechtslehre der Neuordnung, ZAkDR, 13/1941, S. 201 - 203); L'idea dell'Europa e la guerra, III/1943, S. 65 - 78 (bei Malgieri S. 123 ff.). - Schmitt publizierte des öfteren in „Lo Stato"; die Mehrzahl dieser Aufsätze ist in den o., S. 343, erwähnten Sammelbänden Alessandro Campis nachgedruckt. Um 1936 faßten Costamagna und Schmitt den Plan, ein gemeinsames völkerrechtliches Institut zu gründen. In der SD-Akte Schmitts (Institut f. Zeitgeschichte, Fa 503 (1)) heißt es in einem Bericht v. 8. 12. 1936, S. 100 f., u. a.: „(Schmitt) ist ... nicht untätig und glaubt bereits neue Betätigungsmöglichkeiten erkannt zu haben. Nachdem schon vor wenigen Tagen bekannt wurde, dass er sich in Zukunft besonders mit völkerrechtlichen Fragen befassen will (in der klaren Erkenntnis, dass derartige Fragen im Hinblick auf Abessinien, Spanien, Sowjet-Russland, Völkerbund, Locarno usw. besonders akut sind), wird dies neuerdings bestätigt durch eine Meldung aus seiner nächsten Umgebung. Er plant neuerdings ein VÖlkerrechtsinstitut zusammen mit dem berühmten italienischen Völkerrechtsprofessor Costa Magna (sie! - G. M.) in Rom, der die besondere Gunst Mussolinis geniesst. Schmitt hat ihn bei seiner vor einiger Zeit durchgeführten Reise nach Rom kennengelernt, und zwar über den Zweigstellenleiter des Deutsch-Akademischen Austauschdienstes in Rom, Blahut. Dieser Blahut ist zwar Träger des goldenen Parteiabzeichens, ist aber Katholik und wird als ein Vertreter der katholischen Kirche bezeichnet. Dieser Blahut war vorgestern abend zusammen mit dem Zweigstellenleiter des Deutsch-Akademischen Austauschdienstes in Madrid, Adams, bei Carl Schmitt zu Gast. Schmitt kennt Adams von einer früheren Reise nach Madrid. Schmitt will seinen Plan auf dem Wege verwirklichen, dass er erneut eine Reise nach Rom macht, wo Blahut ihn über Costa Magna einen erneuten Besuch beim Duce vermitteln soll. Auf diese Weise ... soll dann das geplante Institut Wirklichkeit werden. Dieses Institut soll die Völkerrechtsfragen im italienisch-deutschen Sinne gegen Genf, Locarno, Versailles, die Auffassung der Westmächte in der Abessinienfrage usw. behandeln. - Es handelt sich hier wieder um einen ganz raffinierten Plan Carl Schmitts. Nachdem er sieht, dass er innerpolitisch aus der Gestaltung des nationalsozialistischen Rechtslebens in jeder Weise ausgeschaltet ist, sucht er
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sich jetzt ein neues Betätigungsfeld, durch das er seine völlige Kaltstellung vermeiden möchte und eventuell wieder neuen Auftrieb zu bekommen hofft. Er handelt hier in der klaren Erkenntnis, dass die Vereinbarungen zwischen Deutschland und Italien die Zeit reif gemacht habe für die von ihm geplante Zusammenarbeit. Er weiss andererseits auch, dass im Hinblick auf die gegenwärtige aussenpolitische Lage eine einmal abgeschlossene Zusammenarbeit mit italienisch-faschistischen Wissenschaftlern nicht so leicht zerschlagen werden kann, denn er kann dann mit dem zugkräftigen Argument kommen, dass das gegenwärtige Verhältnis zu Italien es unmöglich macht, eine einmal geschlossene Vereinbarung wieder aufzukündigen. Er kann dann darauf hinweisen, dass das im Hinblick auf die guten Beziehungen Costa Magna's zu Mussolini von Italien als eine Distanzierung aufgefasst werden könne. Hier zeigt sich wieder einmal die ganze Raffinesse Carl Schmitts. - Es ist deshalb unbedingt erforderlich, dass Schmitt weder seine Reise nach Rom antritt noch das von ihm geplante Institut zustande bringt." - Die hieraus resultierenden Maßnahmen und der weitere Verlauf konnten leider bisher nicht eruiert werden. Für Costamagnas Auffassung vom Großraum, die in seinem o. a. deutschen Aufsatz zusammengefaßt wurde, ist wichtig, daß Autarkie und Ethnarkie an die Stelle der Begriffe Souveränität und Völkerrechtsgemeinschaft treten; Autarkie deckt sich dabei mit dem Lebensraum, Ethnarkie mit dem Großraum. Im Grunde kommt Autarkie nur den großen, leitenden Völkern bzw. Staaten zu: „Die nationalen und völkischen Revolutionen, die für die Notwendigkeit eintreten, die Beziehungen zwischen den Völkern entsprechend den tatsächlichen Unterschieden zwischen den einzelnen nationalen Existenzen zu gestalten, kehren heute zu dem Begriff der Autarkie zurück. Die Idee der „Völksgemeinschaft", d. h. des „völkischen Staates", stellt den Staat in den Dienst des Volkes, das sich in ihm erkennt. Von dieser Staatsauffassung erwarten die völkischen Revolutionen die Neuentwicklung des Begriffes der Autarkie als einer unmißverständlischen spezifischen Eigenschaft des Staates, der nicht als Regierungsapparat, sondern als politische Einheit betrachtet wird. Indem diese Lehre von der Untersuchung der wirtschaftlichen Bedingungen der Autarkie ausgeht und für ihre Verwirklichung einen angemessenen Lebensraum fordert, gelangt sie zu der Anerkennung des absoluten Wertes der Autarkie, d. h. der Notwendigkeit, durch die sich ein Volk als Lebensgemeinschaft, als Staat im geistigen Sinn des Wortes behauptet. Mit dem Begriff der Autarkie entdeckt das Verfassungsrecht die Grundlage der Autorität in dem Gefühl, von dem das Individuum durchdrungen ist und das ihm die unbedingte Abhängigkeit von dem sozialen Organismus der Nation offenbart." (S. 202.) Wie diese nationale Autarkie mit der supranationalen Ordnung zu vereinen sei, blieb aber ziemlich ungeklärt. C. sprach hier von „imperialer Ethnarkie": „Es handelt sich nicht mehr um eine einfache Zusammenarbeit im Dienst allgemeiner Ziele einer angeblich universalen Zivilisation, sondern um eine besondere Lebensauffassung im Rahmen einer konkreten Völkervereinigung, geschaffen durch das Handeln einiger berufener Nationen unter Berücksichtigung der nationalen und autarken Bedürfnisse der vereinigten Volker... Die Lehre vom Großraum bringt die Idee einer neuen Art von Vereinigung zwischen den zivilisierten Staaten zum Ausdruck, die einerseits im Innern die höchste Lebensfülle in strenger nationaler Zusammenfassung verwirklichen, andererseits bewußt Elemente eines weiteren Kräftesystems sein wollen, das eine zahlreiche Menschengruppe in einem großen geographischen Raum zur Grundlage hat. - Die ideologischen Grundsätze fordern die Achtung der nationalen Autarkie innerhalb einer positiven, übernationalen, richtig gegliederten und anderen übernationalen Organisationen gegenüberstehenden Ordnung. Wenn ein Ausdruck dazu beitragen kann, die neue Form zu bestimmen, so ist es der Ausdruck "imperiale Ethnarkieder zur Bezeichnung eines Staaten-Staates dienen kann und entsprechend dem Totalwert, den die nationale Lehre dem Staat zuschreibt, den römi23 Staat, Großraum, Nomos
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sehen Begriff des „aequam foedus" als einer politischen und dynamischen Vereinigung von Staaten zur Verteidigung und Entwicklung einer besonderen gemeinsamen Zivilisation in der Welt erneuert. Es versteht sich, daß die Systematisierung der entsprechenden Begriffe für die Juristen eine harte Aufgabe ist, da sie in der Regel nur das Material benutzen wollen, das bei der Betrachtung des Einheitsstaates, so wie dieser in den partikulären Territorialstaaten des 19. Jh. seine Verwirklichung gefunden hatte, gewonnen werden kann. In größerem Umfang und auf verfassungsrechtlicher Grundlage könnten die Institute der Symmachie und der Hegemonie ... wieder rechtliche Bedeutung gewinnen ... Sie scheinen besser als der rationalistische Begriff der Souveränität dazu geeignet zu sein, dem Gefüge als Grundlage zu dienen, dem in der Zukunft eher der Erfolg sicher sein wird, als in der Form des Bundesstaates." (S. 203.) - C. wies öfters (bes. in: Gli aggregati imperiali, o. a.) darauf hin, daß sich schon seit längerem größere imperiale Aggregate gebildet hätten, denen aber keine moralische Idee zueigen gewesen sei; im Visier hatte C. hier vor allem England als eine Macht, die stets vor der Notwendigkeit stünde, alle Raumgrenzen zu überschreiten. Bei C. sollte nur den führenden Völkern innerhalb eines Großraums gleiche Rechte zugebilligt werden, während den „populi terzi" die „Solidarität" der FührungsVölker galt; eine Art wohlwollend-paternalistische Verwaltung, deren Umrisse und deren juristische Ausgestaltung jedoch höchst unklar blieb (vgl. bes.: L'idea dell'Europa e la guerra, o. a.). Als eine Art Vorskizze seiner nie wirklich zu einem Abschluß kommenden Gedanken zur Großraumfrage darf man einige Passagen betrachten aus: Faschismus, o. a., S. 208 - 216 (ü. imperiale Ethnarkie), S. 372 - 381 (ü. Autarkie); damit sich nur überschneidend: Dottrina del fascismo (2. Aufl. v. „Storia e dottrina del fascismo", o. a.), 1940 (Ndr. o. J.), S. 226 - 241, 488 - 506. - 1954 kam es noch zu einem kurzen, freundschaftlichen Briefwechsel zw. Schmitt und Costamagna, HSTAD-RW 265-203, Nrn. 41, 44, 48. Auch ein großer intellektueller Einzelgänger wie der Kulturphilosoph Baron Julius Evola (1898 - 1974), der öfters zu Werken Schmitts Stellung nahm (vgl. u. a. die Hinweise bei I. Staff, Staatsdenken im Italien des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Carl Schmitt-Rezeption, 1991, bes. S. 37 - 45) und noch nach dem II. Weltkrieg mit Schmitt gelegentlich korrespondierte, erörterte die Großraumfrage. E. warf dem Nationalsozialismus eine Unterbewertung des Staatlichen vor, forderte die Überwindung des formalistisch-juristischen und rein verwaltungsmäßigen Denkens und einen hierarchischen Aufbau des neuen Europa durch Italien und Deutschland. Er lehnte den Begriff „Großraum" bzw. „spazio grande" ab, da dieser kein Herrscherrecht impliciere und sprach statt dessen vom „spazio imperiale". E. distanzierte sich von einer biologisch verstandenen Rasse und hob auf die Überlegenheit der Kultur ab. Mit einigem Nachdruck unterstrich er, daß es in Europa zwei Reiche, zwei Großräume, zwei unterschiedliche politische Ideologien gab; dabei war seine Distanz ggü. dem Nationalsozialismus um vieles deutlicher als die nicht zu bestreitende ggü. dem Faschismus. Beide Bewegungen begriff der geistesaristokratische, anti-moderne Traditionalist und Hierarchist eher als „linke" Bewegungen, vgl. dazu s. Spätwerk von 1968: II fascismo visto dalla destra/Note sul Terzo Reich, Ndr. Rom 1989 (Settimo Sigillo); vgl. a. die Dokumentation v. N. Cospito/H. W. Neulen, Julius Evola nei documenti segreti del Terzo Reich, Rom 1986. - In s. Artikel „England und die Frage der imperialen Großräume", Geist der Zeit, Jan. 1941, S. 15 - 22, betonte E., daß es sich im Kampf gegen das plutokratische England nicht um eine pure Wachablösung drehe. Anstelle der „Werte der Masse" bzw. handelsökonomischer Vorteile müßten heldische und wirklich geistige Werte treten; es komme auf die Gestaltung kriegerischer, aristokratischer Eliten an. Vom „Stadium der imperialen Zusammensetzungen" sei zu dem der „wahren und wirklichen Organismen " überzugehen.
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Der Staatsrechtslehrer Giuseppe Lo Verde, der u. a. 1932 in Königsberg ü. Ital. Öffentliches Recht las und im Herbst 1941, als Prof. an der Universität Camerino, einem deutschital. „Comitato giuridico" vorstand (lt. Fulco Lanchester, a. a. O., S. 400), wies in seinem Aufsatz „Souveränität, Großraum und faschistische Revolutionen", in: Geist der Zeit, 7/ 1941, S. 437 - 449, auf die „wachsende Autarkie der 4 Großraumwirtschaften" Rußland, USA, französ. u. engl. Imperium, hin und auf die Gefahr, daß die rohstoffarmeren Länder „der Abwürgung durch Seeherrschaft" ausgesetzt seien und sich deshalb gezwungen sähen, „um ihre Souveränität zu wahren, zum mindesten Wirtschaftsräume zu schaffen, die dem Zugriff der Flottenhegemonie" entzogen werden können. Mussolini hätte 1931/32 durch eine besondere Handelspolitik damit einen Anfang gemacht, um „einen von Italien geführten Wirtschaftsgroßraum zu schaffen. Ungarn, einige Staaten Südosteuropas und des östlichen Mittelmeerbeckens, Lybien und schließlich Italienisch-Ostafrika gehören diesem Wirtschaftsgroßraum an." Ähnliche Versuche sah Lo Verde in Fernost (Japan-China) und durch Deutschland in Mitteleuropa. Lo Verde sah die Großraumordnung als System tatsächlicher Abhängigkeiten, so daß er mit dem Begriff der Souveränität keine Schwierigkeiten hatte, darüber hinaus ging es ihm primär um Blockadefestigkeit; diese war ihm letztlich „identisch" mit Souveränität. Er betonte den Verzicht auf „Großraumstaatsideologie" und war davon überzeugt, daß auch nach stattgehabter Herausbildung der Großräume die internationale Gesellschaft „vorwiegend aus Nationalstaaten, ... jedenfalls nicht aus Großraumstaaten" bestehen würde. - In seinem Buch „Das faschistische Imperium, sein Staatsangehörigkeitsrecht und seine Rassenpolitik", Darmstadt 1942, erschienen in der von Reinhard Höhn herausgegebenen Reihe „Forschungen zum Staats- und Verwaltungsrecht", bezog sich Lo Verde des öfteren, nicht selten auch stillschweigend auf Schmitt o. ging näher auf dessen Thesen ein, so u. a. S. 11, 13 f., 16, 31, 40 f., 44, 46, 57 f. Von Interesse sind hier die S. 40 - 52, wo Lo Verde eine weit über Schmitt hinausgehende Detaillierung der verschiedenen möglichen juristischen (Konflikt-)Lagen innerhalb eines Großraumes oder zwischen Großräumen gelingt. Ansonsten befaßt sich sein Werk mit dem ital. Kolonialrecht. Giacomo Perticone, II problema dello „spazio vitale" e del „grande spazio", Lo Stato, XII/ 1940, S. 522 - 531, geht relativ ausführlich u. kritisch auf Schmitt ein. Er kritisiert Schmitts Freund/Feind-Kriterium, weil es inhaltlich leer sei (als wenn nicht gerade darin dessen Vorzug bestünde!) und weist auf die wechselseitige Durchdringung von Staat und Gesellschaft hin, ggü. der ihm Schmitts Politikkonzept obsolet dünkt (als ob diese Durchdringung nicht ein Dauerthema Schmitts wäre). P. sieht Schmitt in der deutschen Machtstaatstradition und vergleicht ihn gar mit Treitschke. Dennoch ist P. realistisch genug, den größeren Staaten auch größere Einflußsphären zuzubilligen, sieht aber durch Schmitt die Anerkennung der territorialen Souveränität als eines völkerrechtlichen Grundprinzips bedroht. Bei Schmitt trete an die Stelle des Rechts und der auch für die Imperiumsbildung wichtigen Vereinbarung die reine Faktizität; die i. e. S. nationalsozialistische Kritik an Schmitt, etwa durch Werner Best und Reinhard Höhn (vgl. vorl. Bd., Antwort an Kempner, FN [25 - 28], S. 474 ff.) scheint P. unbekannt zu sein. Riccardo Monaco, Gerarchia e paritä fra gli Stati nell'ordinamento internazionale, Rivista di studi politici internazionale, 1/1942, S. 58 - 75, der u. a. auch auf Triepel eingeht u. auch E. R. Hubers Kritik an Schmitt, vgl. u., S. 360 f., benützt, argumentiert ähnlich. „Fin tanto che esistono storicamente piü Stati", lassen sich die juridischen Beziehungen nicht aufheben. Schmitts Ansatz zu einer neuen internationalen Ordnung sei kaum eine Skizze und offeriere nicht die notwendigen Bausteine, um die alte Ordnung zu ersetzen. M. weist den „ordinamento a piramide" Schmitts zurück und hält seine Thesen für politisch, nicht juristisch. In 2*
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s. Aufsatz „Carl Schmitt e il diritto internazionale", Quaderni costituzionale, 3/1986, Sondernr. „Carl Schmitt Giurista", S. 511 - 523, hat M. seine frühere Stellungnahme bekräftigt, nicht ohne Schmitt eine „totale adesione airhitlerismo" vorzuwerfen. Lorenzo La Via, Lo „spazio vitale" nella dottrina e nel sistema del nostro diritto pubblico, Rivista di diritto pubblico, Agosto-Sett. 1941, S. 357 - 377, u. Giancarlo Ballarati, Verso una nuova sintesi europea, Dottrina fascista, Agosto 1941, S. 27 - 52, urteilen weit positiver. LaVia fordert für Europa eine Verwirklichung von Zielen, die sich an der „natürlichen Hierarchie der Werte" ausrichten. Zwar finde die „autarchia" im „campo internazionale limite ed equilibrio nell'eguale diritto degli altri Stati" (S. 365), doch sei ein neues Gleichgewicht erstrebenswert. Dieses, sozusagen hegemonische Gleichgewicht, soll „secondo una gerarchia rispondente al reale valore internazionale di ciascun Stato" ausgerichtet werden, was aber mit einer „solidarietä fra grandi e piccole unitä" (S. 373) vereinbar sein soll. - Ballarati fordert einen europäischen Großraum, der als Machtkomplex sowohl Rußland als auch Amerika gewachsen sein muß, „barbarischen" Ländern ohne Tradition und ohne Geschichte. Ein „PanEuropa" oder ähnliche Zusammenschlüsse seien dazu ungeeignet; nur ein faschistisches Europa als „comunitä imperiale" könne den Weg in die Dekadenz und Abhängigkeit aufhalten. B. bleibt sich dabei bewußt, daß alle Versuche einer dauernden Hegemonie in Europa bisher scheiterten. Die Zerstörung der „fondamentali nazionalismi" würde nicht Europa schaffen, sondern nur ein unvorstellbares Chaos hervorrufen: „ . . . ogni tentativo egemonico sarebbe destinato a cozzare contro l'insuperabile ostacolo della individualitä delle grandi nazioni europee, che hanno una fisonomia storica e culturale insopprimibile" (S. 41). Eine Lösung der Frage „Gleichgewicht oder Hegemonie" bzw. wie die Beziehung Gleichgewicht/Hegemonie beschaffen sein soll, schlägt freilich auch B. nicht vor. Die ausführlichste, durchweg sehr kritische Erörterung der Probleme von Großraum u. Lebensraum stammt von dem Pater A. Messineo SJ, der sich in den Jahrgängen 1941/42 der „Civiltä Cattolica" zu Worte meldete (in: 11/1941, S. 166 - 178; 252 - 268; III/1941, 32 - 43; 182 - 192; 202 - 209; 267 - 277; 329 - 339; IV/1941, 153 - 163; 335 - 344; 1/1942, 112 121; 271 - 281; 11/1942, 73 - 81; 202 - 210; III/1942, 75 - 81). Z. T. überarbeitet, erschienen diese Aufsätze in M.s Buch „Spazio vitale e grande spazio", Rom 1942, La Civiltä Cattolica, 262 S. (mit einem Anhang ü. Repressalienrecht, S. 189 ff.). M., der trotz seiner großen Kenntnisse erstaunlicherweise behauptete, die Bibliographie zu Groß- und Lebensraum sei sehr knapp („molto scarsa"), fügte mit einer gewissen Berechtigung hinzu, es handele sich um „pubblicazioni sporadiche e occasionali, dove l'argomento viene appena sfiorati senza sufficiente elaborazione scientifica." Man darf aber sagen, daß M.s Kritik die Großraumtheorie erst zu einem „System" machte und sein Werk außerordentlich zahlreiche und detaillierte, nicht nur juristisch ergiebige Einwände und Anregungen enthält, die hier nicht referiert werden können. Den Großraum deutlich von Interessensphären und Föderationen absetzend, erklärte er: „Nel grande spazio la sovranitä piena senza limitazione alcuna apparterrebbe soltanto ad un solo Stato, al piü potente, col quale le relazioni dei nuclei minori si annoderanno secondo il principio gerarchico in forma di vera e propria sudditanza, con l'esclusione del vecchio principio egualitario. Egemonia politica incondizionata e totale ..." (Civiltä Cattolica, IV/1941, S. 156; i. Buch S. 29). Die „Stati minori" befänden sich ggü. den „populi potenti" in einem „rapporto di subordinazione" (i. Buch S. 149), was aber nach den bisherigen europäischen Erfahrungen nicht von Dauer sein könne (ebd., S. 148). Das gesamte Konzept leide an einem „unbefriedigenden begrifflichen Schwanken" („sconcertante ondeggiamento concettuale") und die Spannungen und Widersprüche zwischen Politik und Recht, zwischen absoluter Souveränität der großen und begrenzter der kleinen Staaten, zwischen dem „diritto
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pubblico interno" und dem „diritto pubblico internazionale" seien gewaltig. Aufschlußreich ist, daß Messineo sich nicht nur von der Großraumtheorie distanziert, sondern auch vom angelsächsischen Universalismus („quella falsa civiltä mercantilistica") und daraus schließt: „Nell'abbandono di queste due apparentemente diverse forme di organizzazione consiste la salvezza" (La Civiltä Cattolica, 1/1942, S. 281; i. Buch S. 106). Messineos ehrgeiziger und bedeutender Versuch krankt daran, die oft beträchtlichen Unterschiede der Großraumtheorien zu übersehen. Er scheint auch nicht verstehen zu wollen, daß der fragmentarische und skizzenhafte Charakter der Theorie „en marche" etwas Zwangsläufiges hat, so daß der Vorwurf an eine Skizze, sie sei eine, wohl etwas fehl am Platze ist. Vor allem aber wertet er die Großraumtheorie nur als eine Ideologie im Dienste der Achse, ohne zu sehen, daß sie, darüber hinausweisend, wichtige Momente der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung erfaßt. Carlo Costamagna, Chiarificazione sui concetti di spazio vitale e di grande spazio, Lo Stato, XII/1941, S. 445 - 449, ging noch einmal kurz auf LaVia und Messineo ein und wies den Vorwurf, hier finde sich keine „valutazione morale", zurück. In Japan sollen zwischen 1940 und 1942 mehrere Aufsätze zur „Großraumordnung" Schmitts erschienen sein; ebenso das Buch von Kaoru Yasui, Die Fundamentalideen des europäischen Großraum-Völkerrechts, Tokio 1942 (jap.). Genaueres dazu konnte der Herausgeber, trotz Bemühungen japan. Freunde, bisher nicht erfahren. In Spanien sind angeblich um 1940 mehrere Aufsätze in Zeitschriften erschienen, die aber noch nicht gefunden werden konnten. Dem bedeutenden Völkerrechtler, Vitoria-Forscher und Rechtsphilosophen Antonia Truyol y Serra (*1913), der öfters Kontakt mit Schmitt hatte (vgl. von diesem Autor u. a.: Die Grundsätze des Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, Zürich 1947; Utopia y realismo politico en Tomas Campanella, Madrid 1955; Genese et structure de la societe internationale, Recueil des Cours, 1959/1, S. 553 - 642; Die Entstehung der Weltstaatengesellschaft, 1963; L'expansion de la societe internationale aux XIXe et XXe siecles, Recueil des Cours, 1965/III, S. 89 - 179; Der Wandel der Staatenwelt in neuerer Zeit im Spiegel der Völkerrechtsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, 1968; Dante y Campanella. Dos visiones de una sociedad mundial, Madrid 1968; The discovery of the New World and International Law, in: The University of Toledo Law Review, 1971, S. 305 - 321; La sociedad internacional, Madrid 1974 (u. ö.); Historia de la Filosofia del Derecho y del Estado, Madrid 1954/1975 2 Bde.), verdanken wir die eindringliche Studie „Una nueva representaciön del espacio en Derecho internacional", in: Revista de la Facultad de Derecho de Madrid, 4 - 5/1941, S. 81 - 104. Truyol, sich mehr auf „Raum und Großraum im Völkerrecht" beziehend, als auf Schmitts Buch, betont, daß das „Internationale Recht, mehr als irgendein anderer Sektor des juridischen Feldes, sein axiologisches Fundament in Prinzipien findet, die dem Juristischen transzendent" seien. Schmitts Thesen würden sich „bajo el signo de la vision orgänica del mundo" befinden; Truyol behauptet hier eine Nähe zu Karl Larenz' „Rechtsund Staatsphilosophie der Gegenwart" (1935). Im organischen Charakter des Großraums wäre dessen Überlegenheit über Konzeptionen zu suchen, die ihm vorausgingen. Eine nur geographische Einheit bzw. Nähe, etwa nach dem Vorbild der Monroe-Doktrin, schaffe noch nicht für sich eine Gemeinschaft der Völker. Entscheidend sei, daß es „una idea politica pujante" gebe, „como fundamento de una hegemonia, un gran quehacer (eine große historische Aufgabe) bajo la direcciön de una potencia o de un grupo de potencias"; eine ökonomische Interdependenz oder ein einigendes Ideal (wie etwa im christlichen Mittelalter). Die einigenden Elemente würden im Fall der beiden Amerikas fehlen: die Vereinigten Staaten würden
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weder eine authentische Hegemonie über Hispanoamerika ausüben bzw. etablieren, noch könnten sie eine große konstruktive Idee offerieren, da sie selbst keine besäßen. - Für Tr. gehört die Idee des Großraums zum „regionalismo internacional": in der internationalen Politik würden nur dessen Varianten überleben, die „das konkrete Gekröse (entresijo) der Bestrebungen und Interessen der verschiedenen menschlichen Gruppen berücksichtigen, die ein Naturgesetz zum Zusammenleben bestimmt hat". - Später, mit deutl. Bezug auf Schmitt: M. Navarro Rubio, Los grandes espacios econömicos y la guerra, in: Cätedra „General Palafox" de Cultura militar, Hrsg., Defensa nacional, IV, Saragossa 1963, S. 361 - 98. Zur Diskussion der „ Großraumordnung in Deutschland 1939-45
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Es ist an dieser Stelle nicht möglich, ein auch nur notdürftig vollständiges Bild dieser Diskussion zu zeichnen; die „Großraumordnung" wird in unzähligen Schriften und Aufsätzen des Völker- und Verwaltungsrechtes, der Geopolitik, der Auslandswissenschaften, des militärischen Schrifttums usw. zumindest gestreift. Der Begriff „Großraumordnung" wurde auch rasch ein bloßes Schlagwort im Popular- und Propagandaschrifttum, in dem auf den theoretischen Versuch Schmitts kaum o. nur auf wenig aufschlußreiche Weise eingegangen wurde. Zum Überblick über die „seriöseren" Publikationen vgl. die materialreichen Bücher von: Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer „deutschen Monroe-Doktrin", Stuttgart 1962, DVA, 166 S. u. Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der VÖlkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Berlin 1994, Duncker & Humblot, 310 S. (mit guter Bibliographie). Gruchmann setzt vorschnell Schmitts Theorie mit den Ansichten der Führung des Dritten Reiches ineins, suggeriert, die Großraumtheorie Schmitts sei „die Krönung der nationalsozialistischen Völkerrechtstheorie überhaupt" (S. 137) u. behauptet eine "Übereinstimmung mit den Zielen und theoretischen Grundanschauungen des Nationalsozialismus" (ebd). Der Autor beschönigt das politisch-militärische Vorgehen und die Interpretationen der Monroe-Doktrin seitens der USA. - Schmoeckel verfährt z. T. differenzierter und präpariert die Unterschiede zwischen den verschiedenen Großraumtheorien u. -Interpretationen heraus, die er allzu säuberlich - in eine „völkische" und eine „etatistische" Lehre trennt. Er sieht aber weder die politische Praxis noch die völkerrechtlich-ideologischen Vorstellungen (und Großraumkonzepte) der Feindseite, auf die die Großraumtheorie oft nur reagiert. Nimmt bei Gruchmann die politische Polemik gg. Schmitt u. a. Vertreter der Theorie allzu üppigen Raum ein, so bleibt bei Schmoeckel das Politische zugunsten eines juridisch temperierten Moralisierens blaß. Beide Autoren verharren ganz im Banne der re-education. Die Zahl der Rezensionen zu Schmitts „Großraumordnung" ist außerordentlich hoch. Der Grund liegt darin, daß die „Großraumordnung" auch in kleinen Provinzzeitungen, Verbandsblättern u. ä. besprochen wurde; diese Besprechungen sind freilich oft nur kürzere Inhaltsangaben (vgl. u. a.: Ärzteblatt für Norddeutschland, 7. 7. 1940; Die Zeit (Reichenberg), 3. 2. 1941; Weltwirtschaft, März 1942; Die Deutsche Volkswirtschaft. Nationalsozialistischer Wirtschaftsdienst, 21. 3. 1942; Sueddeutsche Sonntagspost, 18. 4. 1942). Schmitt scheint einiges für die Verbreitung seiner Thesen getan zu haben und hielt eine Vielzahl von Vorträgen, oft in Anwesenheit höherer, wenn auch nur „lokaler" oder „provinzieller" Parteigrößen. So sprach er über die „Großraumordnung" u. a. am 4. 5. 1939 während der „3. Schulungstagung des Gaurechtsamtes Mark Brandenburg der NSDAP vom 3. - 8. 5. 1939 in der Dietrich-Eckart-Schule in Lychen (Insel)"; am 4. 5. 1940 in der Mecklenburgischen Verwaltungsakademie
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in Rostock (vgl.: Anon., Die englischen Abschnürungsversuche werden scheitern!, Rostocker Anzeiger, 6. 5. 1940); am 26. 7. 1940 in Halle (vgl.: Anon., Das Raumbild der Erde ändert sich, Saale-Zeitung (Halle), 27. 7. 1940; wh., Die kommende Großraumordnung, Mitteldeutsche Nationalzeitung, 27. 7. 1940; Anon., Kommende Großraumordnung, Hallische Nachrichten, 27./28. 7. 1940); am 25. 1. 1941 vor Hörern der Verwaltungsakademie Dortmund (vgl.: O. Sehr., Weltneuordnung nach Großräumen, Westfälische Landeszeitung, 27. 1. 1941). Wir können und wollen hier nur einige der wichtigeren Rezensionsaufsätze und Kommentare erörtern. Hermann Jahrreiß (1894 - 1992) unterstützte in seiner im August 1939 geschriebenen Stellungnahme „Völkerrechtliche Großraumordnung. Bemerkungen zu einer Schrift von Carl Schmitt", ZAkDR, 1939, S. 608 f., die Thesen Schmitts in zwei Punkten. Schmitt würde, ggü. allen Neigungen, "nur das Volk als Grundlage, Ziel und Maß der politischen Macht gelten zu lassen", dem Raum seinen Rang zurückgeben und mit seiner Kritik an England mache er deutlich, „wie wenig die bisherige „VÖlkerrechts"-Ordnung mit der Gleichheit der Almanach-Staaten Ernst gemacht" habe, so daß Schmitt von den bisherigen völkerrechtlichen Theorien aus gar nicht attackiert werden könne. Danach macht J. einige Vorschläge zur Ergänzung: Beantwortet werden müsse, wie es um die Abgrenzung der Großräume stehe, was verbotene Einmischung sei, welche Probleme sich stellten, grenzten Großräume unmittelbar aneinander, wie es schließlich um die Pufferstaaten stehe. J.: „Die Pufferstaaten aber wären nach Lebensrechtfertigung und Lebensinhalt zwischen den „Reichen" souverän-neutral: Im Krieg und im Frieden neutral, in ihrer Art auch Völkerrechtssubjekte ersten Ranges ... Die Führungsordnung bringt große Schwierigkeiten. Ein Herrschaftszusammenhang soll es nicht sein. Was aber dann, wenn nicht etwa für den einzelnen Großraum eine verschleierte Situation derart bestehen soll, wie sie Großbritannien für seine Weltführung in Anspruch nimmt?" - In s. Aufsatz „Wandel der Weltordnung. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Völkerrechtslehre Carl Schmitts", ZöR, 1942, S. 513 - 536, weist J. darauf hin, daß Roosevelt und Churchill „die Welt für die angelsächsische Alleinmacht sicher machen (wollen) und ... deshalb ... die angelsächsische Weltpolizei" begründen wollen (S. 514); die vereinigte angelsächsische Macht will den Erdball beherrschen, nichts anderes sei der Sinn der Atlantik-Charta v. 12. 8. 1941. Den Dreimächtepakt v. 27. 9. 1940 deutet J. als Rechnen mit der UdSSR „wenn sie es nur will - als einem dritten politischen Kontinent". Die Existenz eines vierten, Amerikas als Bereich der Monroe-Doktrin, werde als selbstverständlich vorausgesetzt. Die USA sollten sich aber daran erinnern, daß sich eine Politik, die sich zur MonroeDoktrin bekenne, gleichzeitig aber die Weltherrschaft beanspruche, „in einem tödlichen Selbstwiderspruch verfangen muß" (S. 521). Danach führt J. aus, daß der „von beiden angelsächsischen Mächten vorbereitete Krieg ... den Trieb (verstärkt), Wirtschaftsgroßräume einzurichten" (S. 524); die „Notautarkie" sei deshalb nicht Selbstzweck, „sondern Mittel zur Erhaltung der bedrohten und bis zum letzten zu verteidigenden Selbständigkeit" (S. 525). Es bildeten sich politische Kontinente, für die Begriff „Völkerrecht" eigentlich nicht passe, so daß J. von einem „Zwischen-Kontinente-Recht" spricht. Z. T. Hohns Kritik an Schmitts „leeren" und „nicht substantiellem" Großraumbegriff zustimmend, bezweifelt J. auch den Sinn des Begriffs „Völkerrecht" bezüglich des politischen Kontinentes Europa und kommt zu dem Schluß, daß die „Gleichheit vor dem Kontinent ... keine formal-juristische Gleichheit sein" kann. Der Kieler Völkerrechtler Viktor Böhmert wandte in einer Besprechung von Schmitts Buch ein (in: ZVR, 1940, S. 134 - 140), daß bereits „in der ursprünglichen Monroedoktrin die Keime ihrer späteren, imperialistischen Umfälschung ... enthalten waren", wie es „ein Vergleich des Panamerikanismus mit der Monroedoktrin" beweise. „Während der Panameri-
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
kanismus auf dem Gedanken der Solidarität" beruhe „und eine Raumordnung durch Zusammenwirken aller im Räume gelegenen Völker vornehmen will . . e n t h ä l t die Monrotbotschaft von 1823 kein klares, positives Ordnungsprinzip." (Vgl. a. die bei Böhmert gefertigte Diss. v. K. Weege, Panamerikanismus u. Monroedoktrin, Kiel 1939, mit Bezugn. zu Schmitt.). Schmitt scheine die ursprüngliche Monroedoktrin im Sinne des Panamerikanismus zu deuten und so zu verfehlen. B. wies auch auf die Beziehung zwischen „Großraum" und „Reich" hin und hielt sie für ungeklärt; er plädierte auch für die Streichung des Reichsbegriffs, soweit es um die Großraumtheorie gehe. Die in der Großraumdebatte nicht selten vorgebrachten Argumente gg. den Reichsbegriff wurden auch, anders akzentuiert, von Ernst Wolgast (1888 - 1959), einem aus Kiel stammenden Völkerrechtler, aufgegriffen. In einem bereits im August 1939 abgeschlossenen Aufsatze, der rätselhafterweise erst zwei Jahre später erscheinen konnte (Wolgast, Großraum und Reich. Bemerkungen zur Schrift Carl Schmitts: „Völkerrechtliche Großraumordnung", ZöR, 1941, S. 2 0 - 3 1 ) monierte W.: „ . . . „die „Welt" empfindet die Benennung „Reich" nicht in objektiver Wertung, sondern aus jenem Komplex an Begebenheiten, Erinnerungen und Gefühlen heraus, dem sie - aus dem alten Reich herstammend oder doch aus Gegensatz dazu erwachsen - ihr Dasein verdankt. Die Verwendung des alten Namens „Reich" empfindet sie daher, wie jede historische Argumentation dieses Zusammenhangs, als Anrufung eines inventarium Imperii Sacri. Damit verbindet sich für die Umwelt die Wirkung der Tatsache, daß eine Zentralmacht bereits als solche als expansiv empfunden wird, gesteigert jedoch im deutschen Fall, da die Staaten um Deutschland zum großen Teil aus dem alten Reich entstanden sind und sich als disjecta membra Imperii Sacri empfinden, so wenig sie dies auch ausgesprochen wissen mögen. Die darin wirksame Furcht vor Reannexion lebt dumpf oder bewußt in allen, verwandte Gefühle in Staaten, die zwar nicht aus dem Reich entstanden sind, sich jedoch zu Deutschland in ähnlicher Lage fühlen, wie die disjecta membra." (S. 24 f.) W. wies darauf hin, daß im Falle Englands, Frankreichs, sogar des neuen Italien, Portugals usw. die Welt den Ausdruck „Reich" hinnehme. - Wolgasts etwas wildwuchernd-assoziativ geschriebenes Werk weist zahlreiche Berührungspunkte mit dem Schmitts auf; zumindest, wenn es sich um den Raum-Aspekt der Politik handelt und um die relative Abhängigkeit der „Machtauffassung" der Staaten von ihrer geographischen Lage; damit verbunden ist bei W. stets eine Kritik der deutschen Unfähigkeit, die See zu verstehen, während er zugleich nicht müde wird, der deutschen Staatsrechtslehre Ignoranz in diesen Dingen anzukreiden. Vgl. von W. die öfters explicit o. implicit auf Schmitt bezugnehmenden Texte: Über die Gesetze der auswärtigen Politik und die Machtauffassung der Staaten. Prolegomena zu einer Lehre von den Gesetzen der auswärtigen Politik, ZöR, 3/1940, S. 359 - 417; Landmacht, Seemacht, Luftmacht, RVB1., 44 - 45/1941, S. 629 - 633; Über Seefahrt und Luftfahrt in der Machtauffassung der Staaten, ZöR, 3 - 4/1941, S. 310 - 340; Staatslehre und Seemacht, ZöR, 4 - 5/1942, S. 508 - 528; Seemacht und Seegeltung. Entwickelt an Athen und England, Berlin 1944. Auch nach dem II. Weltkrieg korrespondierten Wolgast u. Schmitt miteinander; am 23. 2. 1951 wies W. Schmitt auf die ähnlichen Ergebnisse von „Der Nomos der Erde" und seinem Buche „Grundriss des Völkerrechts" (Hannover 1950) hin u. bezog sich dabei auf eine diesbezügliche Äußerung Forsthoffs; am 5. 3. 1951 gab er Schmitt Hinweise zu den Begriffen „Landnahme" und „nehmen" in skandinavischen Sprachen (HSTAD - RW 265, 8, Nr. 291 sowie 61, Nr. 3). In seinen späten Schriften „Revision der Staatslehre" (Nürnberg 1950) und „Die Rückständigkeit der Staatslehre. Studien zur Auswärtigen Gewalt des Staates", Wiesbaden 1956, unterstrich W. nochmals lebhaft die Defizite der bisherigen Staatslehre u. meinte in letzterem Buche zu Schmitt: „ . . . diese Schriften, bewundernswert in ihrem Scharfsinn, in der Brillanz ihrer Sprache und in ihrem Reichtum an Verwertbarem für eine Seemachtslehre,
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sehen die Dinge zu intellektuell, nicht elementar-seehaft, ohne das „individuelle Meereserlebnis". " (S. 124.) Anders als der intellektuelle Außenseiter Wolgast, dessen Parallelen zu Schmitt von einigem Interesse sind, sah Schmitts enger Schüler Ernst Rudolf Huber (1903 - 1990) die Schwächen der „Großraumordnung". H. fragte, „ob ... der Großraumgedanke nicht nur ein politischer Sachverhalt, sondern auch ein rechtliches Gestaltprinzip" sei bzw. sein könne (in: „Positionen und Begriffe". Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, ZgStW, 1/1941, S. 1 44, 39). Schmitt selber habe „mit großer Entschiedenheit im Namen des Rechtes gegen den Gewaltzustand von Versailles und den Imperialismus der Demokratie gekämpft, und es ist selbstverständlich, daß es ihm fernliegt, in einem neuen Machtzustand nur wegen seines Daseins einen Rechtszustand zu erblicken" (ebd.). Es müsse also gefragt werden, „was dem heutigen Großraumgedanken die rechtfertigende und rechtbegründende innere Kraft" (S. 40) verleihe; die neue Ordnung müsse sittlich begründet, gerecht und ausgleichend sein. Nicht „der Besitz der Macht, sondern das Walten der Macht" (S. 42) entscheide hierüber. Zusätzlich stellte H. einige eher fachliche Fragen: ob eine Großraumordnung ohne indirekte Gewalt und unsichtbare Herrschaft denkbar sei, ob zwischen Raumhoheit und Gebietshoheit wirklich Unterschiede bestünden, worin sich der Großraum vom Großstaat oder Überstaat unterscheide. Fast noch skeptischer wirken H.'s Ausführungen einige Monate später: „Für die politische Theorie wie für die Rechtslehre besteht das entscheidende Problem darin, wie der Gedanke des Reiches in seiner Wendung zum Großraum-Prinzip sich vom Imperialismus der anderen, gegen den wir ehrlich und aufrichtig gekämpft haben, unterscheidet. Denn dieser Imperialismus der westlichen Demokratien strebte ja auch nach einer großräumigen Aufteilung und Gestaltung der Welt. Der wesensbestimmende Unterschied kann nur darin liegen, daß der alte Imperialismus ein Gebilde der bloßen Macht und des nackten Interesses war...; für den Begriff des Reiches dagegen muß entscheidend sein, daß er auf ein Gefüge der gestuften Ordnung zielt, in der die führende Macht die offene Verantwortung für den Bestand der Gesamtordnung und für die Existenz aller Glieder übernimmt. Nur so kann aus dem Wirken des Reiches eine echte Rechtsordnung entstehen - verfassungsrechtlich nach innen und völkerrechtlich nach außen ... Macht wird nur dadurch zum Recht, daß sie als eine verantwortlich gebundene Funktion gegenüber einem anvertrauten Lebensganzen begriffen wird." (Huber, Bau und Gefüge des Reiches, 1941, S. 51 f.); ähnlich Huber in: Großraum und völkerrechtliche Neuordnung, Straßburger Monatshefte, Nov. 1941, S. 744 - 748, wo H. auch für das „rechtliche Strukturprinzip des Großraums" die Formel fand: „hegemonialer Föderalismus". Auch H. J. Wolff, Verwaltungsarchiv, 1940, S. 262 - 264, betonte zum Schluß s. Besprechung: „Außerdem habe ich Bedenken gegen eine radikale Verleugnung universalistischer und sog. humanitärer inhaltlicher Gerechtigkeitsgedanken, da ohne sie weder ein Recht innerhalb des Großraums, noch zwischen den Reichen möglich wäre." Eine besonders pointierte Kritik leistete ausgerechnet der Paladin v. Ribbentrops, Fritz Berber. Er wollte den Begriff „Großraum" nur gelten lassen in bezug auf die kommende europäische Wirtschaftsordnung, nicht aber für die Politik. Berber schrieb u. a.: „Das Spezifikum der europäischen Aufgabe liegt gerade darin, daß auf einem verhältnismäßig kleinen Raum man vergleiche ihn etwa mit dem auch im politischen Sinn typischen und eindeutigen „Großraum" Sowjetunion - eine Vielheit von Völkern in einer Kombination von verhältnismäßig starker Einheit und verhältnismäßig starker... Unabhängigkeit... leben sollen. Dabei muß die Einheit so stark sein, daß in Zukunft alle internen europäischen Streitigkeiten auf friedlichem Wege ... beigelegt werden, und daß alle Interventionen raumfremder Mächte ...
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unmöglich werden ... Aber zugleich muß die Autonomie der Glieder so stark sein, daß sie ihren besonderen Funktionen im Rahmen des Ganzen schöpferisch und freudig dienen können, wobei es die Besonderheit der europäischen Situation ist, daß es nicht „Großmächte", „Mittelstaaten" und „Kleinstaaten" gibt, sondern Norwegen und Rumänien, Spanien und Frankreich, Ungarn und Schweden, Italien und das Deutsche Reich usw. usf., d. h. konkrete, geschichtlich einmalige Größen ... Es wird das Geheimnis der für die Neuordnung Europas tätigen politischen Weisheit sein, gerade die Realität der bunten Mannigfaltigkeit der konkreten europäischen politischen Lage klug und elastisch in den vielfältig differenzierten Formen des europäischen Neuaufbaus zum Ausdruck zu bringen, statt in abstrakten Formulierungen die Wirklichkeit zu vergewaltigen ... Aus eben diesem Grunde erscheint bedenklich, den Namen „Reich" für die führende und tragende Macht „eines Großraums" einzuführen. Das Wort „Reich" hat nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der diplomatischen Sprache eine einmalige, überaus prägnante Bedeutung: es bezeichnet das Deutsche Reich, und seine Verwendung für irgendeine führende Macht in irgendeinem Großraum ist schon deshalb ganz allgemein unangebracht, erst recht für die konkrete politische Wirklichkeit Europas, in der es nicht eine führende Macht gibt, sondern zwei, das Reich und Italien." B. kam zu dem Schluß: „Will man eine juristische vorläufige Formulierung für das organisatorische Hauptproblem der Neuordnung Europas, so bietet die Staats- wie die Völkerrechtslehre dafür den Begriff des Bundes ...". (Berber, Die Neuordnung Europas und die Aufgabe der aussenpolitischen Wissenschaft, in: Auswärtige Politik, 1942, S. 189 - 195, hier S. 192 ff.) - Nach 1945 gelang B. das Kunststück, diesen Text, der nirgendwo die recht weitgesteckten Grenzen der Meinungsfreiheit in der Großraumfrage überschritt, als Widerstandsleistung anzupreisen, vgl.: Lehrbuch des Völkerrechts, I, 1975, S. 5; III, 1977, S. 154. Dies „gelang" Berber nur dank seiner irreführenden Behauptung, die Großraumthese hätte den „Zentralpunkt der nationalsozialistischen Außenpolitik" dargestellt (S. 154). Auch Carl Bilfinger, in seinen staats- wie in seinen völkerrechtlichen Auffassungen oft mit Schmitt übereinstimmend (vgl. zu letzterem Punkt bes. seine Schriften: Völkerbundsrecht gegen Völkerrecht, 1938; Der Völkerbund als Instrument britischer Machtpolitik, 1940; Das wahre Gesicht des Kellogg-Paktes. Angelsächsischer Imperialismus im Gewände des Rechts, 1941; Die Stimson- Doktrin, 1943) erhob Einwände und lehnte das Großraumkonzept sogar praktisch zur Gänze ab und hielt es nur für den wirtschaftl. Bereich sinnvoll (vgl.: Bismarcks Souveränitätsbegriff und die Neuordnung Europas, Deutsche Rechtswissenschaft, 1941, S. 169 ff.). „Raum" und „Großraum" waren für Bilfinger eher politisch-soziologische denn juristische Begriffe; „Raum" benötige, um definiert werden zu können, eine rechtliche Ordnung. B. schrieb: „Bloße „Ausstrahlungen" ohne deutliche Grenzen können, wenn man von der Vorstellung einer rechtlichen Raumordnung ausgeht, nicht dem „Räume" zugeordnet werden, so wenig wie etwa eine nur tatsächliche, z. B. durch Stützpunkte, durch irgendeine Möglichkeit des Einsatzes von Machtmitteln ausgeübte Kontrolle. Ob eine von den Beteiligten anerkannte „Interessensphäre" rechtlich als Raum oder als Raumteil gelten kann, wird von den Umständen des Falles abhängen." (Bilfinger, Raum, Raumgrenzen und internationales Nachrichtenwesen, Postarchiv, 1943, S. 281 - 293, 289 f.). Zur i. e. S. nationalsozialistischen, schroff „völkischen" Kritik an Schmitts Auffassungen vgl. im vorl. Bd., Schmitts Antwort an Kempner, FN [13] u. [25 - 28], S. 470 f., 474 ff., die Hinweise auf Lemmel, Best und Höhn. Von größerem Interesse für die Diskussion scheinen mir noch folgende Texte zu sein, auf die hier nur hingewiesen wird: Walter Mallmann, Völkisches Denken und Raumdenken in
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der Staatslehre, Geistige Arbeit, 5. 9. 1940, S. 1 f.; ders., Zur Weiterentwicklung der Großraumlehre, ebd., 20. 3. 1943, S. 1 - 3; Theodor Maunz, Verfassung und Organisation im Großraum, Deutsche Verwaltung, 1941, S. 456 - 459; ders., Der Raum als Gestalter der Wissenschaft, ebd., 1942, S. 493 - 495; Franz Arthur Müllereisert, Die in der Einigung begriffenen Staaten von Europa, das Großdeutsche Reich und das Völkerrecht des europäischen Großraums, Karlsruhe 1941, 63 S.; Axel Frhr. v. Freytagh-Loringhoven; Völkerrechtliche Neubildungen im Kriege, Hamburg 1941, S. 64 - 70; Gustav Adolf Walz, Völkerrechtsordnung und Nationalsozialismus. Untersuchungen zur Erneuerung des Völkerrechts, München 1942, S. 130 - 147; Günther Küchenhoff, Großraumgedanke und völkische Idee im Recht, ZaöRV, 1944, S. 34 - 82. Ein beträchtlicher Teil der Großraumlitertur des Dritten Reiches beschränkt sich auf das Referieren der Grundpositionen bzw. versucht zwischen ihnen zu vermitteln, etwa zwischen der Forderung nach aufrechtzuerhaltender Staatlichkeit und völkischem Ansatz, zwischen geopolitischen und rassischen Erwägungen, zwischen Reich und Großraum o. Großraum und Lebensraum, zwischen Hegemonie u. Föderalismus usw. Hinzu förderten die schnellen Entwicklungen und Wechselfälle des Krieges oft eine nur abwartende Haltung. Die zunächst überraschende Fülle und Pluralität der Gesichtspunkte reduziert sich, ist man sich dieser Sachverhalte bewußt. Von bes. Interesse mögen aber einige damalige Überlegungen zur Großraumverwaltung sein, vgl. etwa: H. P. Ipsen, Reichsaußenverwaltung, RVB1. 1942, S. 64 - 67; ders., Das Recht des Großraums, Brüsseler Zeitung, 26. 9. 1942; Reichsaußenverwaltung, Brüsseler Zeitung, 3. 4. 1943, Ndr. in: H. W. Neulen, Europa und das 3. Reich, 1987, S. 111 - 115, sowie die zahlreichen Beiträge in der Zeitschrift „Reich-Volksordnung-Lebensraum", vgl. vorl. Bd., Schmitts Antwort an Kempner, FN [11], S. 468 f. Zum Schluß sei noch auf zwei in der Regel übersehene Autoren hingewiesen. Emst Bockhoff (* 1911) hat in seinen Leitartikeln in der Brüsseler Zeitung öfters die Großraumbildung als das eigentliche, anti-imperialistische und anti-universalistische Ziel des Krieges dargestellt und dabei öfters auf Schmitt und Daitz verwiesen, vgl. u. a.: Ordnungsgrenzen. Die kontinentalen Wohlstandsphären, 20. 3. 1943; Gleichgewicht und Frieden. Es geht um völkerrechtliche Grossraumbildung, 31.5. 1943; Das neue Völkerleben. Arteigene Verfassungsordnung im Grossraum, 6. 6. 1943. Von Giselher Wirsing (1907 - 1975) sind besonders seine zahlreichen Aufsätze während des Krieges in der von ihm geleiteten Zeitschrift Das XX. Jahrhundert erwähnenswert, die ohne Schmitts Einfluß kaum denkbar sind. Sein Buch „Das Zeitalter des Ikaros - Von Gesetz und Grenzen unserer Jahrhunderts", Jena 1944, Diederichs, geht auf die Großraumtheorie bes. S. 200 - 205 ein, ist aber vor allem als eine Art Paralleltext zu dem damals schon in Arbeit befindlichen „Nomos der Erde" Schmitts zu lesen. W. schreibt am 26. 10. 1943 an Schmitt u. a.: „Es freut mich, daß Ihnen der kleine Escorialaufsatz gefällt. Er stammt ebenfalls aus einem Buch, das ich während der letzten Monate geschrieben habe und das gerade in diesen Tagen fertig wird. Es heisst „Das Zeitalter des Ikaros". Ich glaube, wir beschäftigen uns von verschiedenen Ausgangspunkten mit denselben Fragen. Ich bemerkte beim Schreiben, wie sehr mir einige Ihrer wesentlichen Kategorien schon beinahe ins Unbewusste übergegangen sind." (HSTAD-RW 265, 8). Zu Wirsing noch w. u., S. 368 f.
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht Der „ Wirtschaftsgroßraum"
und die „Großraumwirtschaft"
Die außerordentlich umfängliche Debatte um den „Wirtschaftsgroßraum" und die „Europäische Großraumwirtschaft" kann hier auch nicht annähernd skizziert werden. Sie setzt zudem lange vor Schmitts Versuch v. 1939 ein und folgt auf die Mitteleuropapläne, die Südosteuropa-Wirtschaftspolitik u. ä. Schmitt wird in dieser Literatur nach 1939 eher kursorisch erwähnt; eine der wenigen Ausnahmen ist wohl der Aufsatz von Justus Wilhelm Hedemann, Der Großraum als Problem des Wirtschaftsrechts, Deutsche Rechtswissenschaft, 1941, S. 180 - 203; bezeichnenderweise die Arbeit eines Juristen. Als Standardwerke, Jahre vor den Thesen Schmitts veröffentlicht, darf man ansehen: Großraumwirtschaft. Der Weg zur europäischen Einheit. Ein Grundriß, hrsg. von W. Gürge u. W. Grotkopp (mit Geleitwort von Reichsminister Treviranus), Berlin 1931; Karl Krüger, Deutsche Großraumwirtschaft, Hamburg 1932; Otto Leibrock, Weltwirtschaft oder Großraumwirtschaft?, Leipzig 1933. Ausführlich informiert: Reinhard Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals, 1900 1945, Köln 1977, dort auf den S. 608 - 1007 Auszüge aus Reden, Denkschriften usw. ab 1933, auf den S. 641 - 648 Auszüge aus der „Großraumordnung" Schmitts. Vgl. auch die gründliche Untersuchung von Eckart Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930 - 1939. Außenwirtschaftliche Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München 1984 (mit guter Bibliographie). Zum auch (wirtschafts-)theoretischen Hintergrund: D. Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vieijahresplan, 1968 u. L. Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft, 1982. Mit Schmitts Thesen befaßt sich z. T. auch der Hauptpropagandist der Großraumwirtschaft, Werner Daitz (vgl. vorl. Bd., Schmitts Antwort an Kempner, FN [9], S. 465 ff.). Von Interesse sind hier bes. einige Sonderhefte u. Sammelbände, etwa: Nationale Wirtschaftsordnung und Großraumwirtschaft, Jahrbuch 1941 der Gesellschaft für Europäische Wirtschaftsplanung u. Großraumwirtschaft (u. a. mit Beiträgen v. Daitz, Karl Krüger, Predöhl, Karl Schiller); Der Vieijahresplan, Sonderheft 1941 (u. a. Beiträge v. Predöhl u. Günter Schmölders); Weltwirtschaft, Sonderheft 1941, „Großdeutschland und Europa in einer neuen Weltwirtschaft"; Europäische Grossraumwirtschaft. Vorträge, gehalten auf der Tagung zu Weimar v. 9. - 11. 10. 1941, Leipzig 1942. Vgl. a. die Aufs. v. Andrae, Schm. Jb., 1/1941, S. 71 ff. u. v. Brunner, ZgStW, 103/1943, S. 119 ff. - Ein bes. ehrgeiziger, systematischer Versuch: Arno Sölter, Das Großraumkartell. Ein Instrument der industriellen Marktordnung im neuen Europa, Dresden 1941 (mit Hinweis auf Schmitt, S. 22). Schmitt unterhielt zu mehreren Wortführern der Theorie von der Großraumwirtschaft Kontakte, u. a. zu Carl Brinkmann, Friedrich Bülow, Walter Grävell und Helmuth Wohlthat.
Briefe an Schmitt zur „ Großraumordnung " Schmitt erhielt zur „Großraumordnung" eine große Zahl an Briefen, die er, berücksichtigt man seine Gewohnheiten, wohl auch überwiegendst beantwortete. Hier können nur einige Stücke aus dieser Korrespondenz vorgestellt werden. Der Historiker Albert Brackmann (1871 - 1951) schrieb am 30. 6. 1941 u. a.: „Sie haben die grosse Freundlichkeit gehabt, m i r . . . die dritte vermehrte Auflage Ihres Buches „Völkerrechtliche Grossraum-Ordnung" zukommen zu lassen ... bereits die erste Auflage dieses Buches (hat) einen starken Eindruck auf mich gemacht und hatte mich veranlasst, den Gedanken zu erwägen, dem Grossraumgedanken in der Geschichte nachzugehen. Bei den ersten Vorarbeiten sah ich jedoch, dass die Durchführung ... längere Zeit in Anspruch nehmen wür-
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de ... Schon die Beschäftigung mit der Geschichte des Altertums zeigte mir so manche Schwierigkeit, die nur durch eine gründlichere Untersuchung beseitigt werden könnte, und deshalb musste ich mich leider entschliessen, den Gedanken vorläufig zurückzustellen. Denn im gegenwärtigen Augenblicke, in dem der weitere Osten eine ausserordentliche Bedeutung für das Grossdeutsche Reich gewonnen hat, sind mir dort so viele neue Aufgaben erwachsen ...". Brackmann, damals Leiter der Staatl. Preußischen Archiv-Verwaltung Berlin-Dahlem und zugleich Chef der NOFG (Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft), ein Protege Rudolf Heß', leitete während des Krieges die wissenschaftliche Volkstumsarbeit in Nord- und Osteuropa; vgl. über ihn: E. Vollert, Albert Brackmann und die ostdeutsche Landesforschung, in: H. Aubin, O. Brunner u. a. (Hrsg.), Deutsche Ostforschung, I, Leipzig 1942, S. 3 - 11; M. Burleigh, Historians & their times. Albert Brackmann and the Nazi Adjustment of History, History today, March 1987, S. 42 - 46; M. Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum", 1990, S. 55 ff., 118-127 u. ö. Mit dem Ökonomen Dr. Walter Grävell, Direktor im Statistischen Reichsamt und einem Dr. Ferber, Chefredakteur der Zeitschrift „Völkischer Wille", scheint Schmitt öfters über Großraumfragen gesprochen zu haben. Von Grävell erschienen u. a.: Zwang zur Autarkie? Europa-Wirtschaft, 6/1932, S. 212 - 219; Nationalwirtschaft, Grossraumwirtschaft, Weltwirtschaft, ARSPh, 1933/34, S. 99 - 113; Der Außenhandel in der Nationalwirtschaft, Stuttgart 1937; Autarkie des Grossraums (ein mit „1. 1. 1942" von Schmitt handschriftlich datierter Aufsatz im Nachlaß, HSTAD-RW 265, 17, ohne Hinweis auf den Fundort). - Zu Grävells Buch von 1937 schrieb Wilhelm Grotkopp, Die große Krise, 1954, S. 225: „Die Anhänger einer aktiven Konjunkturpolitik nahmen an diesen Fragen (Mittel- u. Südosteuropa - G. M.) der raumwirtschaftlichen Neuordnung ein steigendes Interesse, viele wirkten in der pan- oder mitteleuropäischen Bewegung mit und gründeten ... die Studiengesellschaft für Mittel- und Südosteuropa ... Die Möglichkeiten einer solchen raumorientierten Handelspolitik zeigte dann später (1937) Grävell in seinem Buche: „Der Außenhandel in der Nationalwirtschaft" auf ...". - An Ferber, in dessem Blatt Grävell publizierte, schrieb Schmitt am 20. 12. 1940 u. a.: „Der Aufsatz von Dr. Grävell hat mich am unmittelbarsten beeindruckt, ebenso Ihr Aufsatz aus der Festschrift für Haushofer. Ich glaube aber nicht, daß rein wirtschaftliche Erwägungen ein klares Entscheidungsprinzip in sich enthalten. Sie sind immer ein „Stock mit zwei Enden", den man auch von der andern Seite anfassen kann. Dasselbe gilt übrigens noch mehr für geopolitische Argumente. Dem gegenüber habe ich - da Großraum doch auch nicht ein bloßes Annexionsprogramm sein soll - den technisch-industriell-organisatorischen Leistungsraum herausgestellt...". Schmitts Schüler Hans Franzen (*1911, vgl. seine Memoiren „Im Wandel des Zeitgeistes 1931 - 1991", 1992; zu Schmitt dort bes. S. 65 - 71) schrieb am 21. 7. 1939: „Die Diskussion um Ihre Rede hat m. E. den Begriff Raum zu Unrecht im Sinne des bisherigen Staatsgebiets verstanden. Dadurch erklärt sich die irrige Gleichsetzung des Reichs mit dem vor Interventionen bewahrten Großraum ... M. E. besteht der großartige Vorstoß der Untersuchung gerade darin, daß der bisherige Gebietsbegriff aus seiner zentralen Stellung entfernt wird. Das Wesentliche an dem Reichsbegriff scheint mir die Ausdehnung des Grundsatzes der Nichtintervention über das Hoheitsgebiet eines Staates hinaus zu sein, also nicht so sehr das Raumelement. Aus diesem Grunde halte ich es auch nicht für ganz berechtigt, das Britische Reich dem unseren, dem der Vereinigten Staaten oder dem Rußlands so betont entgegenzusetzen. Großbritanniens Raum ist das Meer. Die Tatsache, daß seine Nichtinterventionsanspriiche sagen wir im Bereiche der Meerenge von Gibraltar - mit denen Italiens in Konflikt geraten, haben nicht in der Unvereinbarkeit der beiden Reichsprinzipien ihren Grund, sondern in der
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
Überschneidung der beiden Reiche,... Italien und selbst Japan beginnen ebenfalls Verkehrswege für ihren Großraum in Anspruch zu nehmen. Und ich bin sicher, daß auch wir im Jahre 1940 Weltstraßen bauen werden ...". In Berlin scheint Schmitt sich des öfteren mit Oskar Ritter v. Niedermayer (1885 - wahrscheinlich 1948), dem damaligen Direktor des Instituts für Allgemeine Wehrlehre, über Großraumfragen ausgetauscht zu haben, v. Niedermayer, der im I. Weltkrieg einen Partisanenkrieg im Iran gg. England zu organisieren versuchte (vgl. s. Buch: Im Weltkrieg vor Indiens Toren, 3. Aufl., 1942, u. die Monographie von R. Vogel, Die Persien- und Afghanistanexpedition Oskar Ritter v. Niedermayers 1915/16, 1976) kann als Begründer der sogen. „Wehrgeopolitik" gelten (vgl. s. Bücher: Wehrpolitik, Leipzig 1939; Wehrgeographie, Berlin 1942). Nach dem I. Weltkrieg spielte er eine bedeutende Rolle bei der geheimen Zusammenarbeit zw. Reichswehr u. Roter Armee (vgl. F. L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918 1933, 1964, S. 141 ff.) und freundete sich 1919 mit Karl Haushofer an. Im II. Weltkrieg war er zeitweise Chef der fremdvölkischen Turk-Division 162 (vgl. Fr. W. Seidler, Oskar Ritter v. Niedermayer im Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Geschichte der Ostlegionen, Wehrwissenschaftliche Rundschau, 3/1970, S. 168 - 208). v. Niedermayer, wahrscheinlich 1948 in russ. Kriegsgefangenschaft gestorben, stand im Ruf eines geheimnisvollen Abenteurers, was mir Schmitt lebhaft bestätigte - Schmitt übersandte an v. Niedermayer am 1.7. 1939 seine „Großraumordnung" und schrieb u. a. dazu: „Sollte meine Schrift... Ihr Interesse finden, so würde ich mich ... ganz besonders freuen und gern einmal mit Ihnen darüber sprechen. Bis jetzt hat nur die Auslandspresse davon Notiz genommen, obwohl die Rede des Führers vom 28. April 1939 in aller Form die Monroedoktrin auch für uns in Anspruch genommen hat. Es ist leider in der Tat sehr schwer, die „Kleinräumigkeit" unseres außenpolitischen und völkerrechtlichen Denkens zu überwinden." v. Niedermayer antwortete am 14. 7. 1939 u. a.: „Ich habe Ihre kleine gedankenreiche und anregende Schrift... mit großem Interesse und einiger Überraschung gelesen, da von Völkerrechtlern solche mit dem strategisch-wehrpolitischen Gebiet sich eng berührende Fragen bedauerlicherweise oft wenig beachtet werden. Ich habe mich, soweit das meine Zeit erlaubte, mit der gewöhnlichen deutschen, englischen und französischen Völkerrechts-Literatur beschäftigt und gelegentlich meiner eben beendeten Vorlesung über den neuzeitlichen See- und Luftkrieg auch Völkerrechtsfragen gestreift, soweit sie mir wehrpolitische Bedeutung zu haben scheinen. Das großräumige Denken ist ja nicht neu und das alte schon etwas abgetriebene Steckenpferd unserer Geopolitiker; es fehlte ihm vielfach die strategische und wehrwirtschaftliche Komponente ... Man kann darüber freilich wenig öffentlich schreiben ... Der Kampf um wirtschaftliche, strategische und politische Interessengebiete geht seit langem und wird auch einmal zugunsten eines deutsch bestimmten Mittel- und Osteuropa entschieden werden müssen. Das weiß niemand besser als der Generalstab. Es ist nur schade, daß der Führer seine in dieser Richtung forcierte Politik der Öffentlichkeit gegenüber nicht gut damit begründen kann. Dann würden manche seiner Maßnahmen besser verstanden und unterstützt werden." v. Niedermayer war befreundet mit dem russischen Sachbuchschriftsteller Juri Semjonow, der damals in Berlin lebte und die außerordentlich erfolgreichen Bücher „Die Güter der Erde. Vom Haushalt der Menschheit. Eine Wirtschaftsgeographie für Jedermann", Berlin 1936, „Glanz u. Elend des französ. Kolonialreiches", Berlin 1942 und, nach dem Kriege „Sibirien. Eroberung und Erschließung der wirtschaftlichen Schatzkammer des Ostens", Berlin 1954, schrieb. S. übersandte Schmitt auch seine Aufsätze: „Die Überwindung des Raumes in Eurasien", Süddeutsche Monatshefte, Nov. 1933; Die Transsibirische Eisenbahn, Volk und Reich, 10/1942; Frankreich und das Meer, Wir und die Welt, Sept. 1943; S. hat noch 1957
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mit Schmitt korrespondiert. Durch einen Brief v. 21. 9. 1940 scheint v. Niedermayer den Kontakt mit Schmitt vermittelt zu haben (der Durchschlag dieses Briefes an Semjonow im Düsseldorfer Nachlaß, HSTAD-RW 265 - 33). Von bes. großem politischen Interesse ist der Brief des Japaners Yosimiti Kuboi, einem Berater des japan. Außenministers Yosuke Matsuoka, der am 27. - 29. 3. und am 4. 5. 1941 mit Hitler u. Ribbentrop in Berlin konferierte (dazu A. Hillgruber, Hitlers Strategie 1940 1941, 1965, bes. S. 409 ff.). Kuboi schreibt am 24. 4. 1941 aus dem Charlottenburger Hotel Savoy an Schmitt u. a.: „Ich habe grosses Interesse über das von Ihnen vertretene Völkerrecht im Grossraum und habe darüber auch schon viel nachgeforscht. Ich bin überzeugt, dass der Dreimächtepakt Ausdruck des Völkerrechts im Grossraum ist und die zukünftige Weltpolitik darstellt. Der vor kurzem abgeschlossene japanisch-russische Neutralitätspakt [vgl. dazu Hillgruber, op. cit., S. 295 ff. - G. M.] ist die Voraussetzung zur Schaffung des Völkerrechts im Grossraum. Im japanischen Reichstag habe ich dem Aussenminister erklärt, dass wir auf Grund des von Herrn Carl Schmitt vertretenen Völkerrechts mit Russland einen Freundschaftspakt abschliessen müssen. In der japanischen Zeitschrift „Koron" habe ich auch meine Meinung über das Völkerrecht im Grossraum dargelegt. Um dieses Völkerrecht im Grossraum zu verwirklichen, muss es die Pflicht des Aussenministers Matsuoka sein, nach Europa zu fahren und dort in direktem Kontakt mit den Führern Deutschlands, Italiens und Russlands zu treten. - Der Zweck meiner Reise nach Europa ist nun mit Ihnen zusammenzutreffen um von Ihnen [recte wohl: mit Ihnen - G. M.] ausführlich über das Völkerrecht im Grossraum sprechen zu können." Über dieses Gespräch zwischen Kuboi und Schmitt ist leider nichts bekannt. - Die Pointe war freilich, daß der Berater Matsuokas, sich wohl auf dessen Gespräche in Moskau v. 24. 3. 1941 mit Stalin und Molotow beziehend, noch nichts von den deutschen Angriffsabsichten ggü. der UdSSR ahnte, die am 22. 6. realisiert wurden, während Matsuoka einer der wenigen eifrigen Verfechter eines japan. Angriffs auf die UdSSR werden sollte (vgl. Hillgruber, a. a. O., S. 484 ff.). Gustav Adolf Walz (1897 - 1948) bedankte sich am 28. 4. 1939, also an dem Tage, an dem Hitler seine Monroe-Doktrin verkündete, für die Übersendung der Schrift: „Die Lektüre hat mir den spannenden Vormittag in Erwartung der Führerrede ausgefüllt." Er schrieb u. a.: „Nachdem ich leider versäumt habe, Ihren Vortrag in Kiel zu hören, war mir die Lektüre angesichts des allgemeinen Aufruhrs der Kieler doppelt interessant. Ihre Formulierungen haben auch in diesem Falle etwas außerordentlich Eindrucksvolles und Glänzendes. Über die Sache - glaube ich - kann man kaum verschiedener Meinung sein, wenn auch aus taktischen Gründen eine gewisse Differenzierung bestehen mag. Dies scheint mir ja letzten Endes auch die Basis der Kieler Auseinandersetzung gewesen zu sein. Die Art, wie Sie Ihren neuen Gedanken nunmehr schriftlich formuliert haben, dürfte aber - glaube ich - der neuen Konzeption die Schärfe nehmen, um derentwillen ja von verschiedener Seite Bedenken angemeldet waren. Im übrigen dürfte das, was heute noch bestritten ist, wie üblich, übermorgen als communis opinio übernommen werden ...". (HSTAD-RW 265 - 33.) Johannes Winckelmann (1900 - 1985), der Max Weber-Forscher und spätere enge Freund Schmitts, der sich auch in den 50er und 60er Jahren noch kritisch ggü. Schmitts Raumdenken verhielt (vgl. vorl. Bd., S. 570 f.), schrieb Schmitt am 19. 5. 1941 sehr ausführlich (8 Seiten) und meinte, u. a., sich vor allem auf „Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft" beziehend: „Raum - das grosse Modewort des Kolportagejournalismus, das nebst vielen Geschwi-
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
stern den deutschen Sprach,/aum" ... seuchenhaft infiziert hat. Es begann wohl mit jenem Grimmschen Buch ... Ich bin aber dessen sicher, dass diese Wortinflation keinerlei neue Raumvorstellung zum Ausdruck bringt, und dass der Raum, von dem damit die Rede ist, das Gegenteil des Raumes ist, „der an den Gegenständen haftet". Wenn ... in der Kriegsberichterstattung ... nicht mehr die Rede davon ist, dass das Gefecht bei X oder im Gebiet von X stattgefunden habe; wenn als Operationsfeld nicht mehr das ,Gelände" im Sinne der alten Generalstabskarten bezeichnet wird, sondern von dem „Raum" die Rede geht, so kommt das offensichtlich daher, dass für die heutigen Kampfhandlungen sozusagen die 3. Dimension, nämlich die Luft als Gefechts-„Raum" dazugekommen ist. Das aber bedeutet das Gegenteil jenes Raumes, der an den Dingen haftet, da aus der Vogelperspektive das Gelände, das Gebiet, die Landschaft, das Vorfeld sich in die Flächigkeit beinahe des Kartenblatts verwandelt hat. Für diese Perspektive haftet umgekehrt gewissermaßen das Erdfeld am Luftraum ... Einst hatten wir eine geschlossene Welt, in der der Raum an den Dingen haftete und an und mit ihnen gegeben war, und in dieser Dingwelt hatte ein Jegliches sein inneres Maß und seine innere Grenze ... Diese Welt und ihre realen und begrifflichen Ordnungen verfielen zunehmend der Auflösung ... die Welt und damit der Raum verloren ihr Gesicht, und es trat die allgemeine Verwandlung der Weltvorstellung ins Unsichtbare ein. Der Himmel schien nur noch blau, aber hinter dem Zauber dieser „Täuschung" verbarg sich die unsichtbare und unvorstellbare Unendlichkeit. Die Welt des Ich und Du, die Welt der Nachbarschaft, der Gemeinde, war aufgesprungen und ins Grenzenlose verflüchtigt. Es gab - vom Menschen her gesehen - keine geschlossene Welt mehr, und die neue Formel lautete: „Die Welt ist mein Feld". Diese Welt, die keine gegebene, sondern eine zu entdeckende Welt war, war schier unendlich. Und in diese Unendlichkeit war der heroische Kraftstrom ganzer Volker tragisch mit hineingerissen, und sie vergingen an dieser Unendlichkeit, weil sie nicht die Kraft hatten und haben konnten, die Unendlichkeit in ein Endliches zu zwingen. Das ward erst völlig anders - und auch das ist Ihre Entdeckung - als die Engländer die soi-disant kopernikanische Wendung vollzogen, indem sie nicht vom Land über die Meere, sondern vom Meer her über die Länder sahen, und auf diese Verschiebung des Blickpunkts gehen erst die Weltherrschaft der Seemacht, der politische Universalismus und die Pax Britannica zurück ... in dem Begriff „Grossraum" soll ein Doppeltes zum Ausdruck gelangen: die Verneinung des Universalismus, Beschränkung auf einen (irgendwie begrenzten!) Grossraum, der nun aber zugleich zum totalen Herrschaftsraum mit Ausschliesslichkeits-Anspruch erweitert werden soll. Der „Welt"-Begriff des Universalismus war grenzenlos und unbegrenzt. Es findet eine Art Rückkehr aus der Unendlichkeit..., die Limitierung auf einen endlichen Raum statt. Das ist m. E. der Sinn des Grossraums: Es ist ein Weg von der Extensivierung zur Intensivierung ...". Die von der Verkehrstechnik, der Seefahrt usw. erreichten Grenzen implicieren aber auch das Ende der liberalistischen Wirtschaftsordnung, die an unbegrenzte Ausdehnungsmöglichkeiten gebunden ist. Winckelmann weist hier zustimmend auf Engels' Diktum vom Ende des Kapitalismus hin, das dann einsetze, wenn durch den industriellen Ausbreitungsdrang des freien Konkurrenz-Kapitalismus der letzte freie Markt exploitiert sei. Winckelmann fährt fort: „ . . . wir sehen daher, dass auch das Imperium Britannicum als Gebilde sich nicht in fortschreitender Ausbreitung, sondern längst in der Defensive (Ottawa) befindet. Dieses, dass nämlich nicht nur „die Erde kleiner geworden ist", sondern dass die „Welt" an ihr Ende gelangt ist, ist der Ausgangspunkt der Raumrevolution. Sie sprechen aus, dass der Universalismus einen raumaufhebenden Herrschaftsanspruch geltend machte und damit vom konkreten Raumgedanken wegführte. Wir kehren zum Raum als Umwelt, als Lebensraum und Leistungsraum zugleich zurück."
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Winckelmann verwies im Anschluß auf Otto Hintzes Kritik an Werner Sombart, der nicht gesehen habe, daß ohne das Zutun des Staates keine erweiterten Märkte entstünden, daß diese eine Begleiterscheinung des Fortschritts der Staatenbildung seien (vgl. Hintze, Wirtschaft und Politik im Zeitalter des modernen Kapitalismus, ZgStW, 1929, S. 1 - 28) und fuhr fort: „Handelt es sich hier also bei der Betonung der engen Verbindung von Politik und Wirtschaft um die Unterstreichung der Bedeutung der modernen Staatsentwicklung und Politik für die wirtschaftliche Entwicklung, so scheint mir die umgekehrte Betonung für die Erörterung des Raumproblems von Nöten zu sein, nämlich die Unterstreichung der Bedeutung der Marktverbreiterung für die Raumentwicklung." Die Geschichte der „Raumbewegungen" ist für Winckelmann stets auch eine Geschichte der Marktentwicklung, die von der Haus- und Dorfwirtschaft bis zur „Welt"-Wirtschaft führt; die Markterweiterung ist ihm zugleich der wesentliche Schrittmacher des abendländischen Rationalisierungsprozesses. „ . . . nachdem die expansive Marktverbreiterung ihr Ende gefunden hatte, (entwickelte sich sodann) die Tendenz zur Wirtschaftsplanung und zum Totalstaat, die zu ihrer Grundlage den Grossraum intentionieren ...". (HSTAD-RW 265 - 199.) Giselher Wirsing (1907 - 1975), damals Hauptschriftleiter der „Münchner Neueste Nachrichten" und Herausgeber der Monatszeitschrift „Das XX. Jahrhundert", an der u. a. auch Ernst Wilhelm Eschmann und Ferdinand Fried mitarbeiteten, bedankte sich am 1. 6. 39 für die Übersendung der „Großraumordnung" u. schrieb u. a.: „Sie wissen ja, dass ich seit Jahren Ihre Monroe-Studie, die damals in den Königsberger Forschungen erschien, als eines der Hauptstücke unserer aussenpolitischen Literatur ansehe. [W. meinte damit den Aufsatz Schmitts „Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus", Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 162 - 180 - G. M J In Ihrer jetzigen Schrift scheint mir das Wichtigste, dass wir endlich den Weg der negativen Abgrenzung verlassen und zu einer VÖlkerrechtsdeutung kraft eigener Rechtsetzung kommen ... ich sehe als den entscheidenden Angelpunkt der Situation die Möglichkeit der amerikanischen Intervention an. Alles andere, was wir jetzt von der Gegenseite her erleben, ist nur eine Funktion dieser Möglichkeit." (HSTAD-RW 265 - 33.) Schmitt antwortete am 6. 6. 1939 und bedankte sich u. a. für den Aufsatz Wirsings „Ist der liebe Gott Engländer - Lebensraum gegen „Gleichgewicht" und Einkreisung, Münchner Neueste Nachrichten, 27. - 29. 5. 1939, der auch zu den bemerkenswerteren frühen Reaktionen auf die „Großraumordnung" zählt (vgl. vorl. Bd., Schmitts Antwort an Kempner, FN [9], S. 465 ff.). Schmitt ging noch ein auf Wirsings Aufsatz „Der Angriff gegen Europa", Das XX. Jahrhundert, Mai 1939, S. 65 - 68, in dem W. den englischen und amerikanischen Einmischungen „die europäische Doktrin", im Grunde also die „deutsche Monroe-Doktrin" entgegenstellte, und führte dazu aus: „ . . . muss ich für Ihren Aufsatz ... besonders dankbar sein, weil Sie jeden Eindruck einer grundsätzlichen Feindschaft gegen das englische Weltreich vermeiden und dadurch eine Mißdeutung von meiner Schrift fernhalten, zu der ich selber nur zu leicht Anlaß geben könnte ... Bei mir erscheint, wie ich Ihnen gestehen muss, immer zu schnell der Gegensatz von Land und Meer, la mer contre la terre, von Leviathan und Behemoth. Im übrigen aber bin ich davon überzeugt, dass die eigentlichen völkerrechtlichen wie weltpolitischen Gesamtfronten sich auf den Gegensatz „Universalismus gegen Grossraum" zurückführen lassen." Ein von Schmitt besonders geschätzter Gesprächspartner scheint damals Helmut Wohlthat (1893 - 1982) gewesen zu sein. Wohlthat befaßte sich schon früh mit Problemen der Wirtschaftsplanung u. ä. während der „Mitteleuropa"- Diskussion und sprach u. a. am 7. 12. 1936 auf einer Mitgliederversammlung der Deutschen Gruppe des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages (vgl. R. Opitz, Hrsg., Europastrategien des deutschen Kapitals 1900 - 1945, 1977, 24 Staat, Großraum, Nomos
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
S. 628; zu diesem Wirtschaftsverband und seiner Südosteuropa- und Großraumpolitik vgl. a.: A. Sohn-Rethel, Industrie und Nationalsozialismus. Aufzeichnungen aus dem „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag", 1992). W. war Ministerialdirektor zur besonderen Verwendung unter Göring als dem Beauftragten für den Vierjahresplan. In dieser Eigenschaft reiste er Mitte Juli nach London, wo er offiziell v. 17. - 20. 7. 1939 sich zu Verhandlungen im britischen Ministerium für Landwirtschaft und Fischerei aufhielt, hauptsächlich aber nach Wegen für eine deutsch-britische Verständigung suchen sollte (vgl. M. Nebelin, Zwischen Wilhelminismus und Nationalsozialismus. Helmuth Wohlthats England-Mission im Sommer 1939, in: Verfassung und Verwaltung, FS Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geburtstag, 1994, S. 255 - 272). W. veröffentlichte mehrere Aufsätze zu Groß(wirtschafts)raumfragen (vgl. die Hinweise Schmitt, Großraumordnung, vorl. Bd., FN 3, S. 272, sowie: Besetzte Gebiete in der europäischen Zusammenarbeit, Der deutsche Volkswirt, 12 - 13/1940, S. 458 - 464). Im April - Juni 1939 kam es zu einem Briefwechsel mit wechselseitiger Überreichung von Aufsätzen usw., dem engere Kontakte gefolgt zu sein scheinen (die betr. Briefe in: HSTAD-RW 265 - 33). W. spielte eine bedeutende Rolle b. Abschluß des Dt.-rumän. Wirtschaftsvertrages v. 22. 3. 1939, der als Vorbild für die Zusammenarbeit u. Arbeitsteilung im Großraum galt.
Abschließende Bemerkungen und Hinweise Man darf vermuten, daß Schmitts „Großraumordnung" auch dort Einfluß ausübte, wo nicht direkt auf sie Bezug genommen wurde, die Argumentation jedoch ähnlich verläuft (als Beispiel die Broschüre des Geopolitikers Erich Obst, Die Großraum-Idee in der Vergangenheit und als tragender politischer Gedanke unserer Zeit, Breslau 1940/41, 27 S.). Auffällig bleibt freilich, daß in der geopolitischen Literatur Schmitt - trotz nicht seltener Parallelen wenig genannt wurde (vgl. etwa: H. Offe, Im Zeichen der werdenden Großräume, Monatsschrift f. das deutsche Geistesleben, 1941, S. 177 - 180; Fr. W. Kupferschmidt, Zur Geographie der Großräume, ZfP, 1943, S. 288 - 314). Auch Joseph Alois Schumpeter (1883 - 1950), den Schmitt seit der gemeinsamen Zeit an der Universität Bonn sehr schätzte (vgl.: Glossarium, 1991, S. 101, Eintragung v. 19. 2. 48) entwickelte während des II. Weltkrieges eine Großraumtheorie. Die Welt spaltete sich danach in vier Blöcke, einen angelsächsischen, europäischen, russischen und japanischen, die relativ autark sind (vgl. Schumpeter, An Economic Interpretation of our time. The Lowell Lectures (1941), in: The Economics and Sociology of Capitalism, Princeton, 1991, S. 339 - 40, ed. by R. Swedberg). Dies nur ein Hinweis, wie sehr die Idee damals „in der Luft" lag; eine international Vergleiche ziehende Studie wäre wünschenswert. Sie müßte auch die seit den 60er Jahren in den USA entwickelten Theorien über „regionalism" und „continentalism" umfassen, vgl. etwa das grundlegende Buch des u.s.-amerikanischen Geographen Saul Bernard Cohen, Geography and Politics in a divided World, London 1964, Methuen. Cohen, der „geostrategic regions" - die maritime USA und die eurasische UdSSR - von den „geopolitical regions" unterscheidet (S. 56 - 87) will das internationale System auf eine Pluralität von Blöcken aufbauen, ähnlich wie in den 60er Jahren die von Schmitt stark beeinflußten spanischen Völkerrechtler Camilo Barcia Trelles und Luis Garcia Arias (vgl. vorl. Bd., S. 572, S. 610 f.). (Helmut Wagner weist in s. Aufsatz „Der Kontinentalismus als außenpolitische Doktrin der USA und ihre historischen Analogien in Europa", Aus Politik und Zeitgeschichte, 6. 6. 1970, B23, S. 23 - 39, auf die engen theoretischen Beziehungen dieser und ähnlicher Ideen mit den Konzepten Schmitts und Daitz' hin; eher politisch-geographisch: Detlef Herold, „Political Geography" und „Geopolitics", Die Erde, 2/1974, S. 200 - 213).
Völkerrechtliche Großraumordnung
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Auf keinen Fall kann die Großraumtheorie Schmitts (auch nicht die Daitz') einfach als Rechtfertigung von Gewalttaten oder gar als bloß vorauseilende Legitimationsideologie von Ausrottungsfeldzügen gedeutet werden (z. B. „Generalplan Ost"), wie dies Diemut Majer, Der Wahn von „Reich" und „Großraum", in: Der deutsche Beamte, 3/1983, S. 177 - 187, 9/1983, S. 198 - 208, behauptet, die all dies zusammenwirft. (Fast identisch mit diesem Aufsatz: dies., Die Perversion des Völkerrechts unter dem Nationalsozialismus, Jb. des Instituts für Deutsche Geschichte, Tel Aviv, 1985, S. 311 - 332). Die offenkundigen Tendenzen zur Bildung von Wirtschafts-Großräumen, die auch im heutigen Völkerrecht festzustellenden Neigungen zu „regionalism" usw., schließlich die Krise des universalistischen völkerrechtlichen Systems und der es tragenden Ideologien lassen es als töricht erscheinen, den „Großraum" wg. seiner Entstehungszeit und seines Entstehungslandes zu verdammen und als naiv, seine Überholtheit zu proklamieren. - Zur allgemeinen Einordnung der Großraumtheorie Schmitts in das weltpolitische Denken sei zum Schluß verwiesen auf: Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, II, Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, 1982, S. 563 - 574. Auf die zahllosen Kommentare zur „Großraumtheorie" in der Schmitt-Literatur nach 1945 kann hier nicht mehr eingegangen werden; hingewiesen sei aber auf die beiden Aufsätze Piet Tommissens, „De grootruimtetheorie van wijlen Carl Schmitt" (in: Dietsland-Europa, Antwerpen, 12/1985, S. 18 - 22) und „Een politicologische initiatie in den grootruimtetheorie van Carl Schmitt" (in: Tijdschrift voor sociale wetenschappen, 2/1988, S. 133 - 150 (mit Materialien aus den 40er Jahren). - Temperamentvoll-polemisch Schmitts Intentionen mißdeutend: R. Faber, „Großraumordnung" - Das imperialistische Friedenskonzept Carl Schmitts, in: Chr. Schulte, Hrsg., Friedensinitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg. Widersprüche, 1987, S. 135 - 158. - Die Großraumtheorie wird, ob berechtigt oder nicht, gelegentlich mit der Breschnew-Doktrin in Zusammenhang gebracht. Vgl.: Hendrik Fayat, Reflexions d'aout 1942 sur un precurseur de la doctrine de Brejnev: la „Völkerrechtliche Großraumordnung" de Carl Schmitt, bei: P. Tommissen, Hrsg., Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 96 - 104. Der Bezug wird hier nachträglich gewonnen; der Text stellt ein 1942 im Auftrage der belgischen Exilregierung entstandenes Gutachten dar. Auf die Parallele weist des öfteren hin: Jürgen v. Alten, Die ganz normale Anarchie - Jetzt erst beginnt die Nachkriegszeit, 1994, u. a. S. 261. In der spez. Literatur zur Breschnew-Doktrin wird Schmitt nicht erörtert, vgl. etwa: B. Meissner, Die „Breschnew-Doktrin", 1970. 2. A.; D. Manai, Discours jurudique sovietique et intervention en Hongrie et en Tchecoslovaquie, Genf 1980. - Zu den Aussichten einer Großraumbildung im heutigen Europa: G. Maschke, L'unitä del mondo e il grande spazio europeo. Pagine libere (Rom), Luglio-Agosto 1993, S. 48 - 53. - Den Stellenwert von Schmitts Konzept in der heutigen Weltpolitik und ihren Theorien erörtert: H. Wagner, Staatenpluralismus u. globales Gleichgewicht, FS Ernst Fraenkel, 1973, S. 331 - 61.
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Die Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law" (1890 -1939) Der Beginn des Kampfes für und gegen eine europäische Großraumordnung und darüber hinaus um den völkerrechtlichen Großraumgedanken überhaupt bedeutet nicht nur weltpolitisch, sondern auch völkerrechtswissenschaftlich den Beginn eines neuen Stadiums. Der unmittelbar vorangehende Entwicklungsabschnitt ist von 1890 bis 1939 zu datieren. Bismarcks Entlassung bezeichnet auch völkerrechtlich, nicht nur verfassungsrechtlich, einen tiefen Einschnitt. Der große Kanzler des Zweiten Reichs hat sich auf dem Berliner Kongreß von 1878 und auf der Kongokonferenz von 1885 als der letzte Staatsmann eines von Europa und den europäischen Großmächten gefühlten, noch spezifisch europäischen Völkerrechts bewährt 1. Weitere Gründe für unsere mit dem Jahre 1890 einsetzende Periodisierung werden sich aus den folgenden Darlegungen ergeben. Der Weltkrieg gegen das Deutsche Reich, 1914 bis 1918, bedeutete natürlich auch für das Völkerrecht den Anfang einer Umwälzung. Aber der Restaurationsversuch der Pariser Vorortverträge und des Genfer Völkerbundes hielt die Entwicklung einer sinnvollen Großraumordnung für fast zwei Jahrzehnte zurück. In diesem letzten Unterabschnitt von 1919 bis 1939 versuchten alle Entwicklungstendenzen der Vor-Weltkriegszeit sich noch einmal zu äußerster Folgerichtigkeit und Totalität zu entfalten 2. Der die völkerrechtsgeschichtliche Epoche bestimmende Vorgang dieses letzten Entwicklungsabschnittes liegt in der Ausdehnung des europäischen Völkerrechtes, des „Droit public de 1'Europe", zu einem allgemeinen, erdumfassenden sog. internationalen Recht aller Völker, Rassen und Kontinente. Was einige europäische Nationen als nahe Verwandte und Träger einer europäischen Hausgenossenschaft im 18. und 19. Jahrhundert untereinander zu einer gewissen konkreten Ordnung entwickelt hatten, dehnte sich plötzlich zu einem unterschiedslosen, für 50 - 60 heterogene Staaten gelten sollenden Weltrecht aus. Das ist ein erstaunlicher Vorgang. Erstaunlich ist auch die Schnelligkeit, mit der diese Ausweitung sich um 1890 in 1 Für diese im übrigen anerkannte Tatsache möchte ich wegen des wichtigen Zusammenhanges mit dem kolonialen Völkerrecht auf folgende Äußerung von Julius Goebel, The struggle for the Falkland Islands, Yale University Press 1927, S. 192, hinweisen: ,»Bismarck was the last statesman who seems to have been conscious of the old public law of Europe and with his retirement the last possibility of a restitution of the old (sc: colonial) system disappeared". Neuestens Windelband, Bismarck u. d. europ. Großmächte, Essen 1940, S. 594, 654. 2 „Unmittelbar ehe ein qualitativ Neues auftreten soll, faßt sich der alte qualitative Zustand - alle seine markierten Differenzen und Besonderheiten, die er, so lange er lebensfähig war, gesetzt hat, wieder aufhebend und in sich zurücknehmend - in sein allgemeines ursprüngliches Wesen, in seine einfache Totalität zusammen" {Hegel).
Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law"
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einer Reihe von vollendeten Tatsachen durchsetzte. Noch erstaunlicher freilich die Bewußtlosigkeit, mit der die europäische Völkerrechtswissenschaft diesen Vorgang hinnahm und in einen raumlosen Universalismus hineinglitt, als handele es sich, statt um eine fundamentale Wesensänderung, um einen nur quantitativen Erweiterungs- und Ausdehnungsprozeß. Das seit dem 16. Jahrhundert entstandene europäische Staatensystem hatte sich zunächst in den Friedensverträgen von 1648 und 1713 die Verfassungsurkunden des ihm zugeordneten ,Droit public de 1'Europe' geschaffen 3. Der Wiener Kongreß von 1814/15 hatte dieses Werk restauriert und fortgesetzt, das sich mit starken Veränderungen, aber im ganzen beibehaltener Struktur dank dem europäischen Sinn Bismarcks bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts hindurch hielt. [ 1 ] Dieses europäische Völkerrecht war zum Unterschied von dem ihm folgenden universalen internationalen Recht kein bloßes Normensystem. Trotz aller Problematik blieb etwas wie eine „Familie" der europäischen Fürstenhäuser, Staaten und Nationen, eine Hausgenossenschaft europäischer Völker, die, bei allen inneren Spaltungen und Besitzzersplitterungen, noch gemeinsamer Beratung, gemeinsamer Gesichtspunkte, gemeinsamer Ordnungsaktionen, ja - wie sich auf der Kongo-Konferenz 1885 zeigte - sogar noch einer gemeinsamen Regelung einer europäischen Landnahme auf nicht-europäischem Boden fähig waren. Die Anerkennung der Negerrepublik Liberia (1848) war nicht mehr als eine harmlose, gewissen amerikanischen Liebhabereien konzedierte Abnormität. [2] Die im Pariser Friedensvertrag vom 30. März 1856 durch die Großmächte und Sardinien ausgesprochene Zulassung der Türkei zu den ,avantages du droit public et du concert Europeen' war keine eigentliche Aufnahme als Mitglied, sondern geschah unter zahlreichen Bedingungen, insbesondere unter Beibehaltung des Regimes der Kapitulationen, das damit allerdings seinen bisherigen Sinn völlig veränderte, aber doch noch eine gewisse Vormundschaft zum Ausdruck brachte und vor allem den Führungsanspruch der europäischen Großmächte außer jedem Zweifel ließ. [3] Anläßlich des deutschfranzösischen Krieges erregte das Problem der Turkos infolge von Bismarcks Protestnote als europäische Angelegenheit noch Interesse4. Dann folgten besonders in den achtziger Jahren schnell die zahlreichen Verträge mit ostasiatischen Staaten, insbesondere mit Japan und Siam. Siam trat 1885, Japan 1886 in den Weltpostverein ein. Von 1894 bis 1904 setzte sich Japan als Großmacht durch. Das wurde als Triumph der europäischen Zivilisation und des mit ihr identifizierten europäischen Völkerrechts angesehen. Für den fortschrittlichen Rausch dieser Jahre, zugleich aber auch für das europäische Solidaritätsgefühl großer Deutscher, liefert Lorenz 3 Für das 18. Jahrhundert: Mably, Le Droit public de 1'Europe, 1748 (behandelt besonders die Friedensverträge 1648 bis 1748; die 3. Aufl. von 1764 auch die von 1763); Abreu, Derecho Publico de la Europa, 1743; Achenwall, Juris gentium Europ. 1775. Wichtig das Buch von J. Goebel, a. a. O, S. 120 f. 4 Bluntschli erklärt in § 559 seines „Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt" die Verwendung unzivilisierter Truppen für unzulässig; vgl. auch Fauchille, Trait£ II § 1083 (S. 122).
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
von Stein im Jahre 1885 ein fast rührendes Beispiel: Er schlägt vor, daß alle europäischen Eisenbahnen ,en vertu de la solidarite des interets de 1' Europe entiere' ein ,systeme juridique' bilden, mit der Wirkung, daß während eines europäischen Krieges die großen, durch die kriegführenden Länder hindurchgehenden Eisenbahnstrecken neutralisiert werden „im Namen der Integrität des großen europäischen Verkehrsorganismus und der konstitutionellen Einheit Europas" 5. Das wurde freilich als ein „chimärischer Gedanke" abgelehnt6, bleibt aber symptomatisch für den Drang zur Überwindung kleinräumiger Staatsbezogenheit. Auf der Konferenz von 1885 konnte die Sonderbarkeit, daß die Flagge der Kongo-Gesellschaft von der amerikanischen Regierung anerkannt war, bereits als Faktum von politischer Bedeutung eine Rolle spielen. [4] Die Auflösung des spezifisch europäischen Völkerrechts in ein unterschiedslos universales Weltrecht war nicht mehr aufzuhalten. Diese Auflösung ins Allgemein-Universale war zugleich die Auflösung des bisherigen europäischen Völkerrechts als einer auf bestimmten Voraussetzungen beruhenden konkreten Ordnung in einen leeren Normativismus. Sie geht nach 1900 so schnell vorwärts, daß der Geschichtsschreiber des Konzerts der europäischen Großmächte, Charles Dupuis, bereits für das Jahr 1908 dessen offenen Bankrott (faillite) feststellen kann 6a . Mit der wachsenden Macht der Vereinigten Staaten wurde auch deren eigentümliches Schwanken zwischen einer völligen Isolierung hinter einer gegen Europa gezogenen Trennungslinie und einem universalistisch-humanitären Interventionsanspruch immer auffälliger, bis es im Erscheinen Wilsons auf der Pariser Friedenskonferenz einen verhängnisvollen Höhepunkt fand.[5] Das Ergebnis ist von allen Seiten her das gleiche: das Ende des überkommenen europäischen Völkerrechts. Die den Weltkrieg 1914 bis 1918 beschließenden Pariser Vörortkonferenzen von 1918/19 waren nur noch in dem Hauptobjekt ihrer Maßnahmen, nicht aber in ihren Trägern und Gesichtspunkten etwas spezifisch Europäisches. Die Begriffe und Formulierungen der Völkerrechtswissenschaft, insbesondere der völkerrechtlichen Lehrbücher sind ein getreues Spiegelbild dieser Entwicklung. Bis um 1880 ist die Auffassung, daß „das" Völkerrecht ein spezifisch europäisches Völkerrecht ist, auf dem Kontinent und insbesondere in Deutschland durchaus vorherrschend. Auch wenn universalistische Vorstellungen wie „Menschheit" oder „Zivilisation" das System bestimmen, ist das Gesamtbild durchaus europa-zentrisch, und bedeutet „Zivilisation" selbstverständlich nur europäische Zivilisation. Das führende Lehrbuch der Mitte des 19. Jahrhunderts, August Wilhelm Heffters „Europäisches Völkerrecht der Gegenwart auf den bisherigen Grundla5
Le Droit international des chemins de fer en cas de guerre, in der Revue de Droit International et de Legislation compare X V I I (1885) S. 332 - 361. Bluntschli hatte 1878 in einem Aufsatz „Über die Organisation des Europäischen Staatenvereins" nach deutschem föderalistischen Vorbild einen europäischen Staatenbund vorgeschlagen, vgl. dazu Holtzendorff in seinem Handbuch des Volkerrechts, I, Einleitung S. 37/38 (1885). 6 Annuaire de l'Institut de Droit International VIII, 179 f.; IX 274 f. 6a Vorträge in der Dotation Carnegie 1928 / 29.
Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law"
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gen" (1. Aufl. 1844, 8. Aufl. von F. H. Geffcken besorgt, 1888) ist hierfür typisch. Von ihm konnte Robert Mohl unter allgemeiner Zustimmung sagen: „Heffters Lehrbuch ist vom juristischen Standpunkt aus weitaus das beste, welches in irgendeiner Sprache im Völkerrecht besteht".[6] Auch Franz von Holtzendorff nannte die in seiner Enzyklopädie 1885 erschienene Darstellung noch „Europäisches Völkerrecht". Die großen englischen Werke allerdings (Travers Twiss, Phillimore, Sumner Maine, Hall, Lorimer, Stephen) lassen das im Hintergrunde liegende Problem bereits dadurch erkennen, daß sie zwar auch selbstverständlich zwischen zivilisierten und anderen Völkern unterscheiden, ihrem Werk im Ganzen aber ohne nähere Kennzeichnung, nach J. Benthams Vorgang, den Titel „International Law" oder „Law of Nations" geben und allgemein von „Nationen" sprechen. [7] Ihnen lag die Hineinnahme der amerikanischen Staaten näher als den kontinentalstaatlichen, insbesondere den deutschen Völkerrechtslehrern. Die Erweiterung in den amerikanischen Bereich hinein äußert sich in der Gesamtbezeichnung verschieden. Kent behandelte das Völkerrecht im Rahmen seiner „Commentaries on American Law" (1836 zuerst erschienen). Wheaton nannte sein 1836 veröffentlichtes Werk einfach „Elements of International Law". Wharton sagt „Digest of the International Law of the United States". Der Südamerikaner Calvo dagegen gibt seinem berühmten Werk bereits 1868 den Titel „Derecho internacional teörico y präctico de Europa y America". Das imposante Buch des Franzosen Pradier-Fodere (1. Bd. 1885) nennt sich „Traite de droit international public europeen et americain". Aber auch in den Fällen, in denen es zu einer ausdrücklichen Nebeneinanderstellung von europäischem und amerikanischem Völkerrecht kam, wurde das nicht als eine Verschiedenheit oder als ein wirkliches Problem empfunden, weil beides in der Vorstellung der europäischen Zivilisation zusammenfloß. Die Erweiterung und Ausdehnung vom spezifisch Europäischen ins allgemein Universale zeigt sich entweder darin, daß die Autoren dazu übergehen, ihre völkerrechtlichen Werke jetzt einfach „Internationales Recht" oder „Völkerrecht" schlechthin zu nennen, wie das in diesem Entwicklungsabschnitt üblich wird 7 und wodurch das Problem aus dem Bewußtsein verschwindet. Soweit noch ein gewisses Problembewußtsein vorhanden war, sagte man „Völkerrecht der zivilisierten Staaten". Typisch hierfür ist Johann Caspar Bluntschlis viel beachtete Kodifikation „Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt" (1868). Das von Fr. v. Martens in russischer Sprache verfaßte völkerrrechtliche Werk wurde von Bergbohm (1883) deutsch unter dem Titel „Völkerrecht, das internationale Recht der civilisirten Nationen herausgegeben. Der Italiener Contuzzi veröffentlichte 1880 „II diritto delle genti deirUmanitä". So kündigte sich das große Problem der mehreren Völkerrechte statt eines verwischenden, allgemeinen Völkerrechts deutlich an. Doch schien das, wie gesagt, um 7 Beispiele: Bulmerincq, Gareis, Ulimann,, Heilborn, v. Liszt usw. (Völkerrecht oder Internationales Recht). Das italienische und das spanische Schrifttum sprach ebenfalls meistens von Diritto Internazionale oder Derecho Internacional, die Slawen von Mezdunarodnoe prawe oder Medunarodnog Prawa (zwischen-völkisches) Recht usw.
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
den Beginn des Entwicklungsabschnittes, um 1890, kein Problem, weil man die unproblematisch gemeinsame europäische Zivilisation im Auge hatte. Daß es kein „Afrikanisches Völkerrecht" gab, war selbstverständlich.[8] Aber auch von einem „Asiatischen Völkerrecht" ist nicht einmal der Möglichkeit nach die Rede. Zwar erscheinen in den achtziger und neunziger Jahren asiatische Staaten in der „VÖlkerrechtsgemeinschaft". Aber während in den iberoamerikanischen Staaten der Gedanke eines kontinentalen Völkerrechts wenigstens auftaucht, stehen diese asiatischen Staaten ohne jede kontinentale Problematik sofort mitten in einem unterschiedslos universalen Völkerrecht. [9] Das erklärt sich wohl hauptsächlich daraus, daß sie zunächst nur unter Kapitulationsverträgen und ähnlichen Vorbehalten mit dem Träger des bisherigen Völkerrechts in Berührung traten und dadurch das Problem für das europäische Bewußtsein vorerst verschleiert blieb, während es später, als Japan die „Rezeptionspartien" 1894 (Krieg mit China) und 1904 (Krieg mit Rußland) geschlagen hatte, nicht mehr zu existieren schien8. Die Völkerrechtswissenschaft dieser Übergangsjahre um 1890 hat in A. Riviers vorzüglichem „Lehrbuch des Völkerrechts" ihren in dieser Hinsicht typischen Ausdruck gefunden. Dieses Lehrbuch ist 1889 in Kirchenheims „Handbibliothek des öffentlichen Rechts" erschienen9. Es hat in allem - in seiner wissenschaftlichen Haltung, in seiner literarhistorischen Sachkunde (Rivier ist der Verfasser der „Literarhistorischen Übersicht der Systeme und Theorien des Völkerrechts seit Grotius" in Holtzendorffs Handbuch), im Aufbau des Systems und in der Art der Behandlung des erst jetzt, wenn auch nur für einen Augenblick in das Bewußtsein rückenden Übergangs vom europäischen zum universalen Völkerrecht - den ganz besonderen Wert eines Dokumentes, das die Bewußtseinslage einer Übergangszeit, die sonst nicht leicht zu fassen ist, in hellstem Lichte zeigt. Rivier betont nachdrücklich den europäischen Ursprung und Charakter des „Völkerrechts der zivilisierten Staaten". Er hebt hervor, daß die Bezeichnung „Europäisches Völkerrecht" „auch jetzt noch insofern richtig ist, als Europa wirklich der Ursprungskontinent 10 unseres Völkerrechts ist". Aber, so fährt er fort, „unsere Völkergemeinde ist keine geschlossene. Wie sie sich der Türkei geöffnet hat, wird sie sich noch anderen Staaten öffnen, wenn diese die erforderliche Höhe einer der unseligen analogen Gesittung erreicht haben werden. Durch Verträge, die an Häufigkeit und Bedeutung stets zunehmen, werden nach und nach die Staaten Asiens, sowie auch afrika8 Besonders lehrreich für die Bedeutung der Vorstellung „humanit6" sind die Äußerungen des italienischen Juristen Paternostro, Berater des japanischen Justizministeriums, aus Tokio 1890: Das Völkerrecht erstreckt sich nicht nur auf Europa, sondern die ganze Menschheit und die ganz Erde, vgl. Revue de Droit Internat. XXIII (1891), S. 67. In der 1. Aufl. von Liszt „Völkerrecht" (1898, S. 3) heißt es: „Zur Volkerrechtsgemeinschaft muß aber heute schon Japan gerechnet werden. Seine Kultur . . . steht durchaus auf der Durchschnittshöhe der christlich-europäischen Staaten. Im Krieg mit China hat es die Regeln des Völkerrechts strenger beachtet als mancher europäische Staat" usw. 9
2. Aufl. 1899; die Principes du droit des gens erschienen 1896. Der Ausdruck: Europa als „Ursprungskontinent" offenbar aus Holtzendorffs in das Völkerrecht, in seinem Handbuch 1885,1 S. 14. 10
Einleitung
Auflösung der europäischen Ordnung im „International Law"
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nische und polynesische Staaten, zu einer teilweisen Rechtsgemeinschaft herangezogen". Wie stellt er sich nun in concreto die sich weit öffnende europäische Völkergemeinde vor, und wie führt er die nicht-europäischen und nicht- amerikanischen Völker in sie ein? Eine Übersicht über die »jetzigen souveränen Staaten, welche gegenwärtig die eigentlichen Personen der Völkergemeinde bilden" (S. 92 ff.) gibt darüber Aufschluß. Nachdem er erst die Staaten von Europa, dann die von Amerika aufgezählt hat, nennt er die „Staaten in Afrika", nämlich: Unabhängiger Congostaat; Freistaat Liberia; Freistaat Oranien; Sultanat Marokko; Sultanat Zanzibar". Daran knüpft sich unmittelbar der Zusatz: „Daß die zwei letzteren nicht zur Völkerrechtsgemeinde gehören, ist selbstverständlich". Nach diesen „Staaten in Afrika" folgt auf gleicher Ebene eine Übersicht „In Asien". Das Wort „Staaten" wird hier vermieden. Diese Übersicht hat folgenden Wortlaut: „Gleichfalls noch außerhalb der Staatengesellschaft, aber vielfach in Vertragsverbindung mit verschiedenen Gliedern derselben stehen: Persien, China, Japan, Korea, Siam. Die anderen asiatischen Staaten werden, unter verschiedenen Bezeichnungen, nach und nach von England und von Frankreich annektiert; Malaysien gehört den Niederlanden, mit Ausnahme eines Teils von Borneo (British Borneo, Sarawack, Brunei)". Am Schluß folgt: „In Polynesien: Hawai, Samoa". Die symptomatische und dokumentarische Bedeutung dieser Übersicht bedarf keines weiteren Kommentars; sie macht den Augenblick des Umschlags deutlich sichtbar. Mit dem kurzen Hinweis auf diese völkerrechtsgeschichtlichen Daten versuchen wir auf eine wichtige völkerrechtsgeschichtliche Tatsache aufmerksam zu machen: Ohne jedes kritische Empfinden, ja, in völliger Ahnungslosigkeit hat die europäische Völkerrechtslehre einen immer weiter, immer äußerlicher und immer oberflächlicher werdenden Universalierungsprozeß hingenommen und nicht bemerkt, wie die frühere gute oder schlechte, immerhin als eine gewisse konkrete Ordnung nicht unwirkliche Hausgenossenschaft der europäischen Fürstenhäuser, Staaten und Nationen verschwand, und zwar ersatzlos verschwand. Was an ihre Stelle trat, war kein „System" von Staaten, sondern ein systemloses Nebeneinander von Normen; im übrigen ein ungeordnetes, räumlich und völkisch zusammenhangloses Nebeneinander von 50 heterogenen, aber angeblich gleich berechtigten souveränen Staaten, für die schließlich nicht einmal mehr der Begriff der „Zivilisation" als Substanz einer gewissen Homogenität gelten konnte. Die bisherige, für das koloniale europäische Völkerrecht grundlegende Unterscheidung von zivilisierten, halbzivilisierten (barbarischen) und wilden Völkern (sauvages) wurde ebenso »juristisch belanglos" wie die Tatsache räumlich kontinentaler Zusammenhänge. [10] Es gab nur noch eine nichts mehr unterscheidende Völkerrechtsgemeinschaft, die „communaute internationale" 10a. Daß eine „Familie" oder „Hausgenossenschaft" von Staaten und Nationen sich in solcher Weise ins Allgemeine öffnete, war offenbar keine bloß quantitative Ausdehnung und Erweiterung, sondern ein Sprung in das Nichts einer bodenlosen Allgemeinheit. An die Stelle der konkreten Ordnung 10a
Als „frei", d. h. staatsfrei, bleiben nur noch einige Beduinenstämme; vgl. Knubben, Die Subjekte des Völkerrechts, 1928.
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
des bisherigen europäischen Volkerrechts trat auch nicht der Schatten einer neuen konkreten Ordnung. Das System des europäischen Gleichgewichts ließ sich nicht einfach auf ein Weltgleichgewicht des Erdballs übertragen. Der englische Anspruch, Mitte der Welt zu sein, aus dem Handhaber des europäischen Gleichgewichts der Träger eines die Kontinente balancierenden Weltgleichgewichts zu werden 11 , hat sich nicht verwirklichen lassen; dafür war die europäische Insel doch zu schwach. Das Konzert der europäischen Großmächte wurde nicht einmal scheinbar von einem Konzert der imperialistischen Weltmächte abgelöst. Was nunmehr als „Völkerrecht", genauer als „International Law" erschien, war - von speziellen technischen Materien abgesehen - nichts als eine Reihe von Generalisierungen zweifelhafter Präzedenzfälle, kombiniert mit mehr oder weniger allgemein anerkannten Normen, die um so allgemeiner anerkannt waren, je bedeutungsloser sie in der Sache waren, über einem undurchdringlichen Netz von positiven vertraglichen Abmachungen verschiedenster Art. Was der Ansatz zu einer konkreten Ausgestaltung hätte werden können, z. B. die Unterscheidung von universalen und besonderem Völkerrecht oder die Herausarbeitung des konkretpolitischen Sinnes des kontinentalen gegenüber dem britischen Kriegsbegriff, blieb in unklaren Allgemeinheiten stecken. [11] Dafür aber setzen sich zwei scharfe dualistische Trennungen um so entschiedener durch. Beide sind nicht etwa nur Begleiterscheinungen des völkerrechtlichen Entwicklungsabschnittes von 1890 bis 1939, sondern konstituierende Elemente, die zur Struktur der Epoche gehören. Die erste dieser Trennungen ist der Dualismus von zwischenstaatlichem und innerstaatlichem Recht. Der Titel des Buches von Heinrich Triepel, das ihn begründete, „Völkerrecht und Landesrecht" (1899), ist noch traditionsgebunden und läßt das begrifflich Entscheidende, nämlich die ausschließliche Staatsbezogenheit dieses Dualismus, in seiner Formulierung nicht erkennen. Je schärfer sich der Staat als territorial geschlossene, klein- oder mittelräumige zentralistische Organisation entwickelt, um so mehr verwandelt sich das Völkerrecht in ein zwischen- staatliches Recht. Die Möglichkeit eines nicht-staatsbezogenen, gemeinen Völkerrechts entfällt dem Bewußtsein, weil die innerstaatliche Entwicklung zum Gesetzespositivismus das Recht in staatliches Gesetz verwandelt hatte. Das rechtswissenschaftliche Denken bewegte sich nur um eine durch die Begriffe Staat und Gesetz bestimmte Begriffsachse. Daran konnte die ausdrückliche Anerkennung des Gewohnheitsrechts nichts Wesentliches ändern. Je positiver, d. h. hier je staatsbezogener, je straffer gesetzlich und je vollziehbarer dieses innerstaatliche Recht wird, um so tiefer wird der Abgrund, der die Welt des 11 Canning sagte am 12. Dez. 1826 im englischen Unterhaus über die Erneuerung des Gleichgewichts: „Ich blicke anderswohin! Ich suche die Ausgleichsmittel in einer anderen Hemisphäre . . . Ich rief die neue Welt ins Dasein, um das Gleichgewicht der alten wiederherzustellen". Diese Rede ist sowohl gegen jede Confederacy (die heilige Allianz), wie gegen jede Resolution (die Monroe-Botschaft), wie gegen jede Combination (Bolivars Denkschriften 1819 bis 1826) gerichtet; vgl. dazu Adolf Rein in seinem auch völkerrechtlich wichtigen Aufsatz „Über die Bedeutung der überseeischen Ausdehnung für das europäische Staatensystem", Histor. Zeitschr. 137 (1927), S. 79.
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innerstaatlichen Rechts von dem Bereich der zwischen-staatlichen Beziehungen trennt. Je vollkommener sich der innerstaatliche Bereich zu einem sicher und berechenbar funktionierenden, mit fast mechanischer Genauigkeit seine Gesetze durchführenden Kosmos entwickelt, um so mehr verlieren die zwischen-staatlichen Beziehungen und ihre Normierungen diesen Charakter, um so „unvollkommener" wird das Völkerrecht. [12] Die völlige Strukturverschiedenheit von innerstaatlichem und zwischen-staatlichem Recht wird durch überkommene Bezeichnungen, wie „Völkerrecht", „internationales Recht", noch stark verwischt. Wo aber konsequent staatsbezogen gedacht wird, steigert sich die Strukturverschiedenheit der beiden „Rechte" bis zur völligen Beziehungslosigkeit. Das Wort „Recht" bedeutet in beiden Fällen etwas ganz Verschiedenes. Der gemeinsame Nenner ist schließlich nur noch, daß beides „Normen" und „Normenkreise" im Sinne eines allgemeinen „Sollens" sind. Die Überbrückung des Abgrundes wird das Hauptproblem der Völkerrechtswissenschaft. Es ist für diese Einstellung eigentlich entweder unlösbar oder überhaupt kein Problem, eine wahre „Aporie". Folgerichtig geht Triepel in seinem staatsbezogenen Normativismus davon aus, daß zwischen-staatliches wie inner-staatliches Recht nicht als zwei verschiedene „Rechtsordnungen" (gemeint sind Normenkreise) nebeneinander gelten, sondern daß sie „zunächst" überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Sie sind nach Geltungsgrund und nach dem Inhalt der Lebensverhältnisse so unendlich weit voneinander getrennt, daß eine Konkurrenz zwischen ihnen im Sinne der Normierung desselben Tatbestandes „zunächst undenkbar ist". „So ist es vor allem unmöglich, daß ein Satz der einen Rechtsordnung in Konflikt (von Triepel gesperrt) käme mit einem aus der anderen". „Das ist aber", fährt Triepel fort, „von größter Bedeutung nach mehreren Seiten". [13] Freilich ist das von größter Bedeutung. Es ist sogar von grundlegender Bedeutung, weil die völlige Beziehungslosigkeit der beiden Normenkomplexe die Frage nach ihrem Verhältnis theoretisch unbeantwortbar macht. Von der praktischen Seite her wird aber die Zeitgebundenheit dieser dualistischen Auseinanderreißung heute offensichtlich. Dieser Dualismus von zwischenstaatlichem und inner-staatlichem Recht ist ein Ausdruck der innenpolitischen Lage des deutschen 19. Jahrhunderts. Es bedeutet keine Herabsetzung der großen wissenschaftlichen Leistung von H. Triepel und ebensowenig derjenigen von G. A. Walz, der den Dualismus zu einem Pluralismus vertieft hat 12 , wenn der geschichtliche Zusammenhang mit dem Begriffssystem der innerdeutschen Problematik des 19. Jahrhunderts festgestellt wird. Die innenpolitische Verfassungslage Deutschlands war durch den Kampf der einzelnen deutschen Staaten um ihre „Souveräni12
Völkerrecht und staatliches Recht, Untersuchungen über die Einwirkungen des Völkerrechts auf das innerstaatliche Recht, 1933. Auch hier bedeutet „Völkerrecht" zwischen-staatliches Recht, wodurch der Dualismus oder, wie G. A. Walz richtiger sagt, Pluralismus ebenso unvermeidlich wie unlösbar wird. Das zeigt sich besonders deutlich im Prisenrecht bei der Frage, ob der staatliche Prisenrichter staatliches oder Völkerrecht zur Anwendung bringt; vgl. Carl Schmitt, Über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht, ZAkDR 1940, 4; ferner in der Festgabe für G. Streit (Athen), Positionen u. Begriffe, 1940, S. 261 ff.
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tät", ihre staatliche Geschlossenheit und Selbständigkeit bestimmt. Dieser Kampf führte dazu, daß das weite Problem des völkerrechtlichen Bundes zu der bereits ganz „dualistischen" Alternative von rein völkerrechtlichem Staatenbund und rein staatsrechtlichem Bundesstaat verengt wurde und sich in dieser Sackgasse mit unsagbarem Scharfsinn totlief. [14] Das Verlegenheitsergebnis war der Kompromißbegriff „Bundesstaat mit bündischer Verfassungsgrundlage". Auch dem Begriff der Vereinbarung, mit dessen Hilfe Triepel die Entstehung zwischen-staatlichen Rechtes erklären will, haftet etwas von dieser Herkunft an; er stammt aus den Konstruktionsversuchen, die die Gründung des norddeutschen Bundes von 1867 juristisch zu erklären suchen13. Eine Anwendung dieser Vereinbarungskonstruktion auf Europa wäre nicht sinnvoll, wenn auch ein großer Denker wie Lorenz von Stein einem in dieser Richtung gehenden Irrtum verfallen ist 14 . Denn der Bundesstaat „Deutsches Reich" war trotz seiner komplizierten Verfassung dank der existentiellen Wirklichkeit der nationalen Einheit des deutschen Volkes eine konkrete Ordnung echter Art, während sich das damalige europäische Völkerrecht bereits um 1900 auf dem Wege der Auflösung in ein universalistisches Normensystem befand. Triepels Versuch, die Vereinbarungskonstruktion sogar auf das damalige Völkerrecht im ganzen zu übertragen, beweist, daß das um 1890 noch andeutungsweise vorhandene Bewußtsein des Überganges aus einer engeren in eine weitere „Gemeinschaft" um 1900 bereits völlig normativistisch verblaßt war. Die ganze Frage des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht wird als eine Normenfrage aufgefaßt. Normenkreise, Normenquellen, Normenadressaten sind die juristischen Größen, mit denen hier gerechnet wird, ohne daß die Frage nach konkreten Ordnungen auch nur als interessante Nebenfrage auftaucht. Sogar die völkerrechtliche Anerkennung neuer Staaten, deren juristische Konstruktion für die Struktur der konkreten Ordnung der sog. Völkerrechtsgemeinschaft unmittelbar entscheidend ist, wird zu einer Vereinbarung über die Ausdehnung völkerrechtlicher Normen auf die neuen Staaten (Triepel, S. 102). Die ganze Frage des Verhältnisses von zwischen-staatlichem und inner-staatlichem Recht konnte nur deshalb eine derartig zentrale Bedeutung gewinnen, weil sie in der Verfassungslage des Konstitutionalismus und insbesondere des deutschen Konstitutionalismus gestellt wurde. Wo eine nach innen und außen einheitliche Herrschafts- oder Führungsgewalt besteht, ist die Umschaltung von außen nach innen keine prinzipielle Angelegenheit, sondern eine Sache der geordneten Befehlsweitergabe und der Disziplin, ein Problem, das sich ohne grundsätzliche Bedeutung überall erheben kann, innerhalb der staatlichen Verwaltung, bei der Ordnung des hierarchisch geordneten Weisungsrechts, innerhalb jeder Armee, jedes Betriebes und jeder Organisation. Die „auctoritatis interpositio" kann doch nur 13 Vgl. das Schrifttum bei Meyer-Anschütz, Staatsrecht, 7. Aufl. 1919, S. 201; daraus besonders Karl Binding , Die Gründung des norddeutschen Bundes, 1889 (in „Wesen und Werden der Staaten", 1920, S. 161 f.), der mit Recht den „Gesetzlichkeitsfehler" der Konstruktionsversuche hervorhebt. 14 Vgl. oben S. 374.
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dann zum fundamentalen Problem werden, wenn es sich um zwei verschiedene Arten von Autorität, d. h. um die praktische Möglichkeit eines Gegensatzes von Innen- und Außenpolitik handelt. Zwei Generationen hindurch ist das deutsche Verfassungsrecht durch diesen Gegensatz bestimmt worden, der in dem Gegensatz von Regierung und Parlament konstitutionell und institutionell verankert war und bei dem vorausgesetzt wurde, daß die Regierung die Außenpolitik mache, während die Völksvertretung kraft ihrer entscheidenden Mitwirkung an der Gesetzgebung die Innenpolitik bestimmte. Die „Autorität", die völkerrechtlich nach außen auftrat, war von der „Autorität", die staatsrechtlich nach innen maßgebend war, so verschieden, daß die „auctoritatis interpositio" bei der Umschaltung von außen nach innen nicht eine einfache technische Umschaltung, sondern eine echte „interpositio", nämlich die Einschaltung einer spezifischen Art von Autorität, deijenigen der Volksvertretung, zum Inhalt hatte. Ich möchte noch einmal betonen, daß die straffe Konstruktion des Gegensatzes von innen und außen auch in der damaligen weltpolitischen Lage Deutschlands und erst recht in der Zeit von 1919 bis 1933 vom deutschen Standpunkt aus praktisch-politisch sinnvoll war. Den Versuchen, auf dem Weg über die Beseitigung dieses Dualismus, über Lehren vom sog. „Primat des Völkerrechts"[15] und über Art. 4 der Weimarer Verfassung („die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts") das damalige, weitläufige, liberaldemokratische Recht des Weltkapitalismus zum innerdeutschen Recht zu machen, bin ich selber oft und entschieden genug entgegengetreten. Auch ist mir bekannt, welches Hindernis die Notwendigkeit einer innerstaatlichen Gesetzgebung für die Effektivität des Art. 16 der Völkerbundsatzung bedeutete.[16] Aber auch das gehört zur Zeitgebundenheit sowohl des staatsbezogenen wie des normativistischen Denkens in einem Entwicklungsabschnitt des Völkerrechts, der alle konkreten Ordnungen in bloße Normen aufgelöst hatte. Neben die dualistische Aufreißung von außen und innen tritt eine zweite, für diesen völkerrechtlichen Entwicklungsabschnitt kennzeichnende scharfe Trennung, die von „juristisch" und „politisch". Diese Unterscheidung ist an sich uralt, wird jetzt aber die eigentliche Grundlage, die wahre Verfassung des Völkerrechts dieser Epoche. Nicht die Vorstellung von Grundrechten der Völker oder der Staaten, nicht der mehr oder weniger tautologische Satz „pacta sunt servanda", sondern diese Ausscheidung alles Politischen aus einer hochpolitischen Wissenschaft bestimmte die Struktur der Begriffs- und Systembildung. Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 konnten zwar noch einige Regelungen aufstellen, vermochten aber an der schnellen Weiterentwicklung zu dieser Grundstruktur hin nichts mehr zu ändern. [17] Sie haben insbesondere das für die Abgrenzung des Krieges von friedlichen Aktionen wichtige Problem der Kriegserklärung nicht gelöst. Die erste große Probe auf die ordnende Kraft der Haager Regeln fiel bereits in dem Weltkrieg 1914 bis 1918, also in eine Zeit, in der sich der Übergang zur Totalität des Krieges und damit zu einer völlig neuen Epoche entschied. In der Nachkriegszeit von 1919 bis 1939 konnte der Schein einer Völkerrechtswissenschaft nur
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noch in dem Leerlauf eines „rein juristischen" Normativismus gewahrt werden. [18] Was es in Wahrheit mit der „Reinheit" dieser Trennung des Politischen vom Juristischen auf sich hatte, läßt sich am besten an den hoffnungslosen Bemühungen um eine Begiffsbestimmung der beiden Größen „politisch" und „juristisch" erkennen. Sie müssen schließlich bei einem rein dezisionistischen Voluntarismus enden: Was „politisch" ist und wo das Politische beginnt, das bestimmt nur der Wille jedes beteiligten Staates15. Die Parallele mit der entsprechenden Definition des Krieges ist so auffällig, daß an der Strukturbedingtheit solcher Definitionen kein Zweifel mehr möglich ist: Wann eine bewaffnete militärische Aktion (Repressalie, friedliche Blockade usw.) aufhört, „friedlich" zu sein, und wann der Krieg beginnt, das bestimmt nur der Wille, der animus belligerandi, jedes beteiligten Staates. Aber auch, wer „Subjekt des Völkerrechts" ist, bestimmt schließlich der „Wille" des Völkerrechts 16. Die Wahrheit, daß alles Recht in erster Linie konkrete Ordnung ist, während Normen und Regelungen ihren Sinn und ihre Logik nur im Rahmen einer konkreten Ordnung erhalten, bewährt sich im Zusammenleben der Völker am stärksten und unmittelbarsten. Hier muß sich daher auch jede Verkennung und Mißachtung dieser Wahrheit unmittelbar rächen, vor allem auch an dem moralischen Ansehen und der praktischen auctoritas der Rechtswissenschaft und ihrer Repräsentanten. Im innerstaatlichen Recht eines modernen, gut funktionierenden Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizbetriebes hat der positivistische Gesetzesnormativismus einen praktischen Sinn und einen verhältnismäßig weiten Spielraum. Als man mit Hilfe des Stichwortes „pacta sunt servanda" versuchte, die Voraussetzungen und Methoden des innerstaatlichen Gesetzesnormativismus zu einem positivistischen Vertragsnormativismus der Pariser Vorortdiktate auszudehnen, wurde der Betrug sofort handgreiflich. Der positivistische Gesetzesnormativismus des staatsbezogenen Gesetzesdenkens ist aus der innerstaatlichen Entwicklung der führenden europäischen kontinentalen Völker heraus entstanden und als eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts durchaus begreiflich. Auch die innerstaatliche, durch die gesetzgeberische Regelung des staatlich-politischen Willens bewirkte Art von Entpolitisierung des Rechts ist daher nicht sinnwidrig, wenn sie auch nicht absolut sein kann. Die konkrete Ordnung „Staat" ist so stark und so straff durchorganisiert, daß sie auch die Trennung von „juristisch" und „politisch" zu tragen und ihren Zwecken dienstbar zu machen vermag. Die zwischen-staatliche Ordnung hat diesen Grad von Organisation selbst im längsten europäischen Frieden nicht erreicht, während das erdumfassende zwischen-staatliche Völkerrecht überhaupt niemals auch nur annähernd eine konkrete Ordnung gewesen ist. Das ist der tiefere Grund, aus dem sich der positivistische Normativismus des zwischen-staatlichen Vertragsdenkens, 15 Folgerichtig Onno Oncken, Die politischen Streitigkeiten im Völkerrecht. Ein Beitrag zu den Grenzen der Staatsgerichtsbarkeit, Berlin 1936. 16 Georg Kappus, Der völkerrechtliche Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung gegenüber den militärischen Repressalien, Breslau 1936, S. 57; Knubben, Die Subjekte des Völkerrechts (Handbuch des Völkerrechts 1928), S. 495.
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unter Beifügung einiger verschwommener Allgemeinheiten und Generalisierungen, immer schärfer als ein völlig „unpolitisches" Völkerrecht aufspielen mußte. Nur dadurch konnte er zugleich seine bösartige und hinterlistige Art von status quo-Politik verbergen. Seine Blütezeit - 1919 bis 1939 - ist heute abgelaufen und derartig überholt, daß wir uns hier nicht mit seiner Widerlegung aufzuhalten brauchen 17 . Die praktische Nutzanwendung aber, die sich aus der luxurierenden Scheinblüte dieses Völkerrechtsbetriebes ergibt, besteht darin, daß wir unsere völkerrechtswissenschaftliche Fragestellung nicht auf Gesetzes- oder Vertragsnormen, sondern von Anfang an auf konkrete Ordnungen richten. Normen und Normensystematisierungen haben selbstverständlich überall und auch im Völkerrecht ihren Bereich. Aber der Grad ihrer praktischen und theoretischen Sinngemäßheit ist in den verschiedenen Ordnungen ganz verschieden und erreicht in spezifischer Weise nur in der konkreten Ordnung „Staat", und dort wieder nur in der staatlichen Justiz, seinen höchsten Punkt. Das auf andere konkrete Ordnungen, z. B. Familie, Hausgenossenschaft, gewerblichen Betrieb, Armee usw. zu übertragen, hieße diese nur zerstören. So hat auch die bisherige Methode der völkerrechtlichen Lehrbücher, auf Grund einiger, meistens angelsächsischer Präzedenzfälle Normen zu fingieren, die dann für fünfzig ungleichartige, aber in gleicher Weise souveräne Gebilde der ganzen Erde gelten sollen, den Rest von wirklicher europäischer Ordnung, der um 1890 noch vorhanden war, zerstört und dem Nihilismus des politischen Machtbetriebes einige normativistische Feigenblätter geliefert. Wenn es einer Enthüllung der inneren Unwahrheit einer solchen Methode noch bedurfte, so wurde sie durch den Verlauf und die Ergebnisse des Haager Kodifikationsversuches von 1930 erbracht. [19] Der einzige dankenswerte Erfolg dieser Kodifikationsbemühungen sind die Massen wertvollen Materials, die jeden darüber belehren, daß hinter den angeblich „allgemein anerkannten" und „kodifikationsreifen" Normen eine erstaunliche Fülle konkreter Ordnungen steht, die sich den universalistischen Generalisierungen entziehen und z. B. dem allgemeinen universalen Satz von der Drei-Seemeilengrenze des Küstenmeeres durch zahlreiche verschiedene Sonderzonen und Raumausgrenzungen ein neues Gesicht geben. Es gehörte schon etwas dazu, angesichts des ebenso lehrreichen wie handgreiflichen Endes derartiger Kodifikationsversuche am völkerrechtlichen Normativismus festzuhalten und keinerlei praktische Folgerungen für die Methode der Völkerrechtswissenschaft und ihren systematischen Aufbau daraus zu entnehmen. Heute treten die Merkmale der universalistisch-normativistischen Völkerrechtsperiode dieser fünf Jahrzehnte deutlich in unser Bewußtsein. In der Klarheit, mit der uns die innere Struktur und die Zeitgebundenheit ihrer Voraussetzungen heute erkennbar geworden sind, liegt ein weiterer Beweis dafür, daß dieser Abschnitt sein Ende erreicht und ein neues Stadium völkerrechtlicher Entwicklung begonnen hat. 17
Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Völkerrecht, Schriften der Hochschule für Politik, Heft 9, Berlin 1934, besonders S. 10 f.
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Zur Leistung des Wiener Kongresses in diesem Sinne: J. v. Elbe, Die Wiederherstellung der Gleichgewichtsordnung in Europa durch den Wiener Kongreß, ZaöRV, 1934, S. 226 260; Griewank, Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814/15, 2. Aufl. 1954; R. Rie, Der Wiener Kongreß und das Völkerrecht, 1957. S. a.: C. Chr. v. Pfuel, Wiener Kongreß - Versailler Vertrag. Ein Vergleich. Diss. Gött. 1934. [2] Seit 1822 siedelten freigelassene Sklaven aus den USA an der westafrikanischen Küste und setzten sich mit Gewalt gegen die „Afroliberianer" durch und installierten sich als Herrenschicht. Die - schwarzen - Kolonisatoren proklamierten am 26. 7. 1847 die Republik Liberia, die 1848 / 49 von mehreren europ. Staaten, aber erst 1862 von den USA anerkannt wurde; vgl. Y. Gershoni, Black Colonialism, Boulder / Colorado 1985. [3] Vgl. vorl. Bd., Völkerrechtliche Großraumordnung, FN [55], S. 339 f. [4] Die „Association Internationale du Congo" (= Internationale Kongo-Gesellschaft o. IKA) wurde 1880 von König Leopold II. von Belgien gegründet. Am 22. 4. 1884 wurde die IKA von den USA als befreundeter Staat anerkannt. Das Deutsche Reich folgte jedoch am 8. 11., also noch vor der am 15. 11. beginnenden Konferenz (vgl. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 193); mit ausschlaggebend dafür war die Erklärung der IKA ggü. Bismarck, „in ihrem Gebiet die vollständige Zollfreiheit und das Meistbegünstigungsrecht für Deutsche zu gewähren" (Wehler, Bismarck und der Inperialismus, 3. Aufl. 1972, S. 386). Der KongoStaat wurde nicht, wie Schmitt hier nahezulegen scheint, durch die am 26. 2. 1885 mit der Generalakte schließende Konferenz geschaffen, sondern durch Abmachungen zwischen der IKA und den einzelnen Teilnehmern: teils vor, teils während, teils nach der Konferenz. [5] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 270 - 274. [6] R. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, I, 1855, S. 394. [7] Gemeint sind: Sir Tr. Twiss, The Law of Nations, considered as independent political communities, 2 Bde., 1861 / 6 3 ; Sir R. Phillimore, Commentaries upon International Law, 4 Bde., 1854 / 61; ders., International Law, 3 Bde., 1864 / 73; Sir H. Sumner Maine, International Law, 1888; W. E. Hall, ATreatise on International Law, 1880 (8. Aufl. 1924); J. Lorimer, The Institutes of the Law of Nations, 2 Bde., 1883 / 84; I. K. Stephen, International Law and international relations, 1884. Zu dieser „Gruppe" und zu der von Schmitt skizzierten Entwicklung vgl.: A. Truyol y Serra, Die Entstehung der Weltstaaten-Gesellschaft unserer Zeit, 1963, S. 72 ff.; ders., La sociedad internacional, Madrid 1981, bes. S. 71 - 80. - Benthams nachgelassene „Principles of International law", 1786 / 89, wurden erstmals 1843 in den von J. Bowring hrsg. „Works", Bd. II, publiziert; dt. Ausgabe, hrsg. von O. Kraus, Jeremy Benthams Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden, übers, v. C. Klatscher, Halle 1915; Auszüge in: K. v. Raumer, Ewiger Friede, 1953, S. 379 - 417. Zu B's militaristisch-pazifistischen Vorstellungen: E. Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, II, 1963, S. 20 ff., 153 ff., 162 f. [8] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 190, 204. [9] Der Chilene Alejandro Alvarez, von einer extrem harmonisierenden Deutung der Monroe-Doktrin ausgehend, ist wohl der bedeutendste Verfechter eines eigenständigen amerikanischen Völkerrechts gewesen, vgl. von ihm: Le Droit international americain, Paris 1910; La codification du Droit international, ses tendances, ses bases, Paris 1912; The Mon-
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roe Doctrine. Its importance in the international life of the states in the New World, New York 1924. Ab 1915 lancierte A. Vorschläge zur Bildung einer europäischen und einer panamerikanischen Union; beide unions politiques sollten zusammenarbeiten und den Weltfrieden sicherstellen; vgl. Alvarez, Le Droit international de l'avenir, Washington 1915; ders., La reforme de pacte, Revue du Droit intern., 1937, S. 497 ff. Auf der 5. Panamerikanischen Konferenz 1923 in Santiago de Chile forderte A. die Kodifikation des amerik. Völkerrechts; seine Thesen wurden von ggü. den USA skeptischen bis feindlichen Lateinamerikanern abgelehnt. Vgl. zu den betr. Diskussionen: Schmitt, wie FN [8], S. 202 ff.; Codification of American International Law, Washington 1926, mit Beiträgen v. Ch. E. Hughes, J. Brown Scott, E. Root u. A. Sanchez de Bustamante y Sirven; J. M. Yepes, La contribution de l'Amerique latine au developpement du Droit international public et prive, RdC, 1930 / II, S. 697 - 799, hier S. 709 ff., 776 ff.; ders., Les problemes fondamentaux du Droit des Gens en Amerique, ebd., 1934 / 1, S. 1 - 143, bes. S. 115 - 137; A. Truyol y Serra, La sociedad internacional, Madrid 1981, S. 52 ff. - Spez. zum Panamerikanismus: A. H. Fried, Pan-Amerika. Entwicklung, Umfang u. Bedeutung d. zwischenstaatl. Organisation i. Amerika (1810 - 1916), 2. vermehrte Aufl., Zürich 1918 (pazifistisch); E. Gil, Evoluciön del Panamericanismo, Buenos Aires 1933 (die wohl umfangreichste wie eindringlichste histor. Studie); J. M. Yepes, Le Panamericanisme au point de vue historique, juridique et politique, Paris 1936 (mit guter Bibliographie); H. Berner, Die panamerikanischen Friedenssicherungsverträge, 1938; K. Weege, Panamerikanismus u. Monroedoktrin, Diss. Kiel 1939. C. Beals, Pan-America, New York 1940; L. Richarz-Simons, Die Entwicklung des Panamerikanismus i. d. Ära Roosevelt (bis zur Konferenz in Rio de Janeiro), Ibero-Amerik. Archiv, XVI, 1942,16, S. 1 - 16; R. Piccinini, Evoluzione del Panamericanismo, La Comunitä Internazionale, 15/1960, S. 293 ff.; vgl. auch die Stichworte „Panamerikanische Konferenzen", „Panamerikanische Union" u. „Panamerikanismus" von Josef L. Kunz in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch d. Völkerrechts, II, 1961, S. 729 - 734. Von bes. Interesse für die von Schmitt aufgeworfenen Fragen u. a.: I Phayre, Can America last? A survey of the emigrant empire from the wilderness to worldpower together with its claim to „Sovereignty", London 1933; d. Autor behandelt die faktische, nicht nur proklamatorische Ausweitung der Monroe-Doktrin auf den ges. Kontinent. - Der dem panamerikanischen Gedanken meist feindliche Ibero-Amerikanismus hat kaum eigene völkerrechtliche Vorstellungen entwickelt; R. F. Seijas, El Derecho internacional hispanoamericano publico y privado, Caracas 1884 / 85, 6 Bde., bietet trotz des Titels nur eine Reihe juristischer Kommentare zu politischen Vorfällen der Neuen Welt, jedoch keine Theorie. [10] Zu den Unterscheidungen von zivilisierten, barbarischen u. wilden Völkern und den daraus begründeten Rechten auf Okkupation u. Kolonisation vgl. J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 1984, bes. S. 290 ff., 304 ff., 328 ff., 360 ff. u. ö. [11] Vgl.: Mendelssohn-Bartholdy, Der Kriegsbegriff d. englischen Rechts, 1915; E. Wolgast, Völkerrecht, 1934, §§ 471 - 74 („Staat gg. Staat" als kontinentale Auffassung des Krieges, „Volk gegen Volk" als angelsächsische); Glahn, Vom englischen Kriegsbegriff, Abhandlungen d. Deutschen Gesellschaft f. Wehrpolitik u. Wehrwissenschaften, Dez. 1939, 7. Folge, S. 39 - 42; E. Menzel, Der „anglo-amerikanische" und der kontinentale Kriegsbegriff, ZöR, 20 / 1940, S. 161 - 197; Schlechte, Unterschiede des Kriegsbegriffs zu Lande, zu Wasser und in der Luft, 1965, bes. S. 4 ff., 15 ff.; D. Steinicke, Wirtschaftskrieg und Seekrieg, 1970, passim; Grewe, Epochen der VÖlkerrechtsgeschichte, 1984, S. 628 f. [12] Vgl. E. Zitelmann, Die Unvollkommenheit des Völkerrechts, 1919; allgem.: G. A. Walz, Wesen d. Völkerrechts u. Kritik der Völkerrechtsleugner, 1930, S. 97 - 100. 25 Staat, Großraum, Nomos
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[13] H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 254; dazu auch G. A. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, 1933, S. 14 f. [14] Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, III, 2. Aufl. 1978, S. 785 - 808; M. Stolleis, Geschichte d. öffentl. Rechts in Deutschland, II, 1980, S. 364 - 368. Grundsätzl. z. Unterschied v. Bundesstaat u. Staatenbund: Huber, a. a. O., I, 2. Aufl. 1975, S. 663 - 670. [15] Zum angeblichen Primat des Völkerrechts vgl. u. a.: Kunz, La primaute du Droit des gens, Revue de Droit international et de legislation comparee, 1925, S. 556 - 98; ders., Zur Hypothese vom Primat d. Völkerrechts, Revue de Droit intern. (Genf), V / 1927, S. 1 - 15; Wengler, Studien z. Lehre v. Primat U.Völkerrechts, ZöR, 1936, S. 322 - 92; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat d. Völkerrechts in der neueren Literatur, Diss. Genf 1937, bes. S. 58 ff. (ü. Duguit); zur Übersicht: P. Guggenheim, Völkerrecht und Landesrecht, Wörterbuch d. Völkerrechts, hrsg. v. Strupp / Schlochauer, 1960, Bd. III, S. 251 ff., vgl. auch vorl. Bd., Raum und Großraum im Völkerrecht, FN [7], S. 264. Vgl. a. Schmitt (anon.), Völkerrecht (Repetitorium), 1948/50, S . 7 - 11. [16] Der Art. 16 d. Völkerbundsatzung behandelte die Erzwingbarkeit des VB-Rechtes u. konstatierte, daß eine nach der VB-Satzung unerlaubte Kriegshandlung als „gegen alle anderen Bundesmitglieder" gerichtet betrachtet werden müsse. Der Art. bezog sich auf die entsprechenden wirtschaftl., finanz. und militärischen Sanktionen; zu letzteren vgl. M. Röttger, Die Voraussetzungen für die Anwendung von Völkerbundzwangsmaßnahmen, insbesondere solcher militärischer Natur, 1931. Vgl.: v. Freytagh-Loringhoven, Die Satzung d. Volkerbunds, 1926, S. 183 ff. (Text u. Kommentar); v. Bardeleben, Die zwangsweise Durchsetzung im Völkerrecht, 1930, S. 40 ff.; O. Göppert, Der Völkerbund, 1938, S. 487 - 547; Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 257, 692, 700. [17] Vgl. Ph. Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 u. 1907, 1915; H. Wehberg, Les Contributions des Conferences de la Paix de La Haye au progres du Droit international, Recueil des Cours, 1931 / III, S. 533 ff. [18] Diese Entwicklung in ungewöhnlich klarer Form zusammenfassend und charakterisierend: G. A. Walz, Inflation im Völkerrecht der Nachkriegszeit, 1939 (Beiheft z. Bd. XXIII d. Zeitschrift f. Völkerrecht). [19] Die Haager Kodifikationskonferenz (13. 3. - 13. 4. 1930) erreichte nur einige wenig bedeutende Abkommen zu Fragen der Doppelbürgerschaft u. d. Staatenlosigkeit. Vgl.: M. O. Hudson, The first conference for the codification of International Law, AJIL, 1930, S. 447 466; H Wehberg, Der augenblickliche Stand d. Kodifikation d. Völkerrechts i. Europa u. Amerika, ZVR, 1930, S. 1 - 19; H. Rauchberg, Die erste Konferenz zur Kodifikation des Völkerrechts, ZöR, 4 /1931, S. 481 - 526; O. Göppert, wie FN [16], S. 372 - 380.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Deutsche Rechtswissenschaft, 5. Bd., 4 / 1940, S. 267 - 278; Teile daraus wurden übernommen in: Der Nomos der Erde, 1950, S. 202 - 212. Schmitts Thesen wurden u. a. erörtert von Julius Evola, Per un vero diritto „europeo", Lo Stato, Gennaio 1941, S. 21 - 29, der die „idea della diversitä, della relativa indipendenza, della gradualitä e della gerarchizzazione" (S. 29) dem Recht des europäischen Raumes zugrundegelegt
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sehen wollte. Hans Wehberg, Universales oder Europäisches Völkerrecht? Eine Auseinandersetzung mit Professor Carl Schmitt, Die Friedens-Warte, 4 / 1941, S. 157 - 166, betonte, daß die Erweiterung des Völkerrechts über den europäischen Rahmen hinaus „nicht erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts" begonnen hätte u. Schmitt den anarchischen Charakter der alten Ordnung verkennen würde; das Haager Werk 1899 / 1907 sei als Versuch einer „konkreten Ordnung" anzusehen und das Völkerrecht von 1890 - 1939 nicht schlechter als das vorhergehende; im übrigen handele es sich, schon aufgrund der Einladung Bismarcks an die USA (die freilich zum Schluß die Kongoakte nicht ratifizierten), um einen internationalen Kolonialkongreß, nicht um einen europäischen. Grewe, Vom europ. z. universellen Völkerrecht, ZaöRV, 1982, S. 449 ff., Nachdruck in ders., Machtprojektionen und Rechtsschranken, 1991, S. 169 195, datiert den Beginn der Umwandlung des Völkerrechtes an den Beginn des 19. Jahrhunderts, nicht wie Schmitt an dessen Ende (S. 180 f.); A. Truyol y Serra, Die Entstehung der Weltstaaten-Gesellschaft unserer Zeit, 1963, S. 64 f., behauptet einen „Dualismus eines christlich-abendländischen Völkerrechts einerseits und eines implizite auf dem von allen anerkannten Naturrecht begründeten, partikulären Völkerrechts im Umgang mit außerchristlichen Mächten andererseits"; usw. Das Problem d. Ausweitung d. Völkerrechts (von europäisch/christlich auf mundial/zivilisiert) erörtert auf interessante Weise: Reibstein, AVR, 4/ 1960, S. 385 ff.; Carrilo Salcedo, REDI, 1 /1964, S. 3 ff. u. Bülck, FS Laun, 1972, S. 29 ff. Zum Triepelschen „Dualismus" von Völker- und Landesrecht vgl. auch von Schmitt: Über die zwei großen „Dualismen" des heutigen Rechtssystems (1939), in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 261 -271.
Die Raumrevolution Durch den totalen Krieg zu einem totalen Frieden Es sind im Lauf der Geschichte viele Arten von Kriegen unterschieden worden, um Sinn und Ziel des bewaffneten Ringens zu kennzeichnen: Einigungs- und Sezessionskriege, Erbfolge-, Verfassungs-, Kabinetts- und zahlreiche andere Kriege. Der gegenwärtige Krieg läßt sich in keine solche herkömmliche Einteilung einfügen, mögen auch selbstverständlich in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten und Parallelen mit früheren Kämpfen aufweisbar sein. Das spezifisch Neue, das unvergleichbar Aktuelle des heutigen Kriegs liegt darin, daß für und gegen eine neue Raumordnung gekämpft wird. Der Wandel der Raumvorstellungen, der heute auf der ganzen Erde und bei allen Völkern vor sich geht, ist tief und in seinen Wirkungen unabsehbar. Jeder weiß, daß infolge der neuen technischen Verkehrs- und Kommunikationsmittel unsere räumlichen Maße und Maßstäbe sich schnell verändert haben, daß „die Erde kleiner" geworden ist. Doch bleiben die Folgerungen aus solchen Einsichten meistens leider auf dem Niveau der Eindrücke von Expreßzugreisenden, Flugzeugpassagieren und Kraftwagenfahrern, denen zum Bewußtsein kommt, daß man heuzutage schneller von einem Ort zum anderen kommt als etwa zur Zeit Karls des Großen. Auf dem gleichen Niveau bewegten sich diese Theorien und Programme von der Art „Paneuropas" des Grafen Coudenhove und der Genfer Völkerbundspazifisten, denen die Erde schon fast als ein einziges kosmopolitisches Hotel erschient 1] Diese Schlaf- und Speisewagenphilosophie meine ich hier nicht. Der gegenwärtige Wandel unserer erdräumlichen Vorstellungen geht unendlich tiefer. Er läßt sich in seiner umwälzenden und umordnenden Wirkung höchstens mit einem einzigen Vorgang der uns bekannten Geschichte vergleichen, nämlich mit der Änderung des Weltbilds, die vor vier Jahrhunderten eintrat, als nach der Entdeckung Amerikas und anderen Entdeckungen und Erfindungen das mittelalterliche Weltbild versank und das europäische Staatensystem der Zeit von 1648 - 1914 sich bildete. Ja, die raumrevolutionäre Kraft der neuen technischen Entwicklung wird unser bisheriges erdräumliches Bild noch mehr als damals verändern. Es ist eine echte Raumrevolution im Gange.[2] Sie wirkt sich sowohl in den Ausmaßen des heutigen weltpolitischen Geschehens wie in der Totalität des modernen Krieges aus. Als ihre unvermeidliche Folgerung ist heute bereits der kontinentale Großraum in seinen Umrissen erkennbar.
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I. Der Sinn des Krieges: Friede Der Sinn jedes nicht sinnlosen Krieges liegt in dem Frieden, der den Krieg beendet. Das Wesen des Friedens besteht aber nicht nur darin, daß nun die Kanonen aufhören zu schießen, die Flieger keine Bomben mehr werfen und die Diplomaten auf Friedensbanketten die Art von Reden halten, die wir von Genf her kennen. Dann wäre der Frieden ein bloßer Nicht-Krieg, und was es damit auf sich hat, wissen wir aus der Erfahrung, die wir mit dem Instrument von Versailles und dem daraufhin eintretenden zwanzigjährigen Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden gemacht haben. Nicht auf irgendeinen beliebigen Friedensschluß kommt es an, sondern auf die Begründung einer neuen Ordnung, die in der gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung an der Zeit ist. Es dient der Sache des Friedens in keiner Weise, wenn ein liberaler Autor wie Guglielmo Ferrero in einem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel „Reconstruction" plötzlich den vorbildlichen Wert des Wiener Kongresses entdeckt und den Vorschlag macht, das Friedenswerk von 1814/15 heute zu wiederholen.[3] Der gegenwärtige Krieg ist in allem, in seinem Raum- und seinem Zeitmaß, in seiner Totalität und seinen plötzlichen Wendungen, neu und unvergleichbar. Er läßt sich nicht als eine Wiederholung früherer bewaffneter Aktionen verstehen. Ebensowenig kann der Friede, der ihn beendet, das Nachbild eines früheren Friedens sein. In der großen Geschichte der Menschheit ist jeder wahre Friede nur einmal wahr. Der Friede, der einen Raumordnungskrieg wirklich beendet, kann nur ein Raumordnungsfrieden sein.
IL Was „total" bedeutet Die Völker der Erde haben inzwischen erfahren, daß das Wort von der Totalität des Krieges keine leere Redensart war. [4] Ein Krieg zwischen hochindustrialisierten modernen Völkern, der zum Existenzkampf wird - andere Kriege sind keine echten Kriege mehr - ist im furchtbarsten Sinne des Wortes total, gleichgültig, ob er von Anfang an total geführt wird oder sich auf dem Wege gegenseitiger Aktionen allmählich in die Totalität hineinsteigert. Was man im europäischen Völkerrecht von 1648 - 1914 unter Frieden und Völkerrecht verstand, rechnete zwar auch mit dem Krieg, aber nicht mit dem totalen Krieg des hochindustriellen Zeitalters. Der frühere Krieg konnte gelegentlich sehr blutig sein, aber er war als ein grundsätzlich partieller und dosierter Krieg kein Existenzkampf auf Leben und Tod, und nicht nur ein bloßer Kombattantenkrieg, sondern auch ein Krieg, dessen Besiegter im Funktionieren des europäischen Gleichgewichts einen sehr wirksamen Schutz fand. Das zweimal - 1814 / 15 und 1870 / 71 - völlig besiegte Frankreich blieb auch nach seiner Niederlage als europäische Großmacht bestehen und vollberechtigtes Mitglied des Konzertes der europäischen Großmächte. Der Zwischenzustand zwischen solchen nicht-totalen Kriegen konnte mit einigem Recht als Frieden bezeichnet werden; die Aufgabe des Friedensschlusses enthielt keine sozialen und
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wirtschafts-strukturellen Probleme. Die Tatsache des totalen Krieges dagegen vertieft das Problem des Friedens in gleichem Maße, wie sie die Intensität des Krieges steigert. Jetzt muß der Friede wenigstens für den Großraum, den er neu ordnet, die Gefahr des totalen Krieges von Grund auf beseitigen. Solange eine solche Gefahr besteht, kann nicht von wirklichem Frieden gesprochen werden. Im Schatten des drohenden totalen Krieges gibt es nur den quälenden Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden, den wir seit Versailles kennen.
I I I . Universal oder regional? Warum war Versailles kein Friede? Weil die Sieger ihre Aufgabe, die Aufgabe einer europäischen Großraumordnung, die mit dem damals eingetretenen Ansatz des totalen Krieges bereits unweigerlich gegeben war, überhaupt nicht begriffen haben. Ihre Raumvorstellungen bewegten sich zwischen einem angelsächsisch-universalistischen Weltmarkt, der jeden konkreten Raumgedanken aufhob, und einem kleinräumig zerteilten, balkanisierten Kontinental-Europa. Sie empfanden jeden Vorstoß zu einer europäischen Großraumordnung als eine „Europäisierungskrise" des Genfer Völkerbundes.[5] Sie organisierten Regionalpakte von wahrhaft kümmerlicher Enge und brachten den bescheidenen Versuch einer deutsch-österreichischen Zollunion in panischer Angst zu Fall.[6] Zwanzig Jahre gab ihnen die Geschichte Zeit. Sie haben in der Raum- und Planfremdheit ihres alten weltökonomischen Universalismus nichts davon bemerkt. Heute ist ihre Frist unwiderbringlich abgelaufen. Der einzige Wert des unheilvollen Versailler Experiments besteht in einer negativen Erkenntnis: daß es keinen europäischen Frieden ohne europäische Raumordnung geben kann. Nur ein den räumlichen Dimensionen und der Wirtschaftsstruktur der Zeit entsprechender Großraum ist heute der Friede. Es wäre freilich ein subalterner und politisch schnell erledigter Irrtum, diese Großraumordnung nur als eine räumliche Ausdehnung bisheriger kleinräumiger Einrichtungen, Organisationen und Gesinnungen aufzufassen. Der tiefe Wandel unserer erdräumlichen Vorstellungen und Begriffe hat nicht den Sinn, dem alten kontinentalstaatlichen Zentralismus neue Gebiete zuzuführen und einige harte, nach innen zentralisierte, nach außen hermetisch abgeschlossene Riesenblöcke zu bilden. Wenn es so wäre, dann träfe allerdings zu, was gegen den Großraum gesagt worden ist, daß er nämlich nicht mehr sei als ein vergrößerter Kleinraum. In Wirklichkeit kann der Großraum nur ein Bereich völkischer Freiheit und weitgehender Selbständigkeit und Dezentralisierung sein. Nur dann ist er der Friede. Der große weltpolitische Gegenspieler des Großraums ist nicht etwa der geschichtlich längst überholte Kleinraum, sondern der Herrschaftsanspruch einer raumaufhebenden, universalistischen Weltmacht. Der letzte große Träger eines solchen universalistischen Herrschaftsanspruches war das britische Weltreich. Es hat im Bündnis mit der Kleinräumigkeit vieler Klein- und Mittelstaaten die ganze Erde in einen Schauplatz seiner raumfremden Interventionen verwandelt. Sein Universalismus machte,
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um den Ausspruch eines irischen Autors zu verwenden, die kleinen Völker wirklich zu „Hühnern in der Küche des kosmopolitischen Restaurants". Dieser britische Weltherrschaftsanspruch ist aber heute erschüttert. [7] Ist demnach die Bahn frei für eine vernünftige Großraumeinteilung der Erde und daher auch für einen Raumordnungsfrieden, der dem gegenwärtigen Krieg ein sinnvolles Ende macht? Hier erhebt sich die Frage, welche Front die andere angelsächsische Macht, die Vereinigten Staaten von Amerika beziehen werden, ob sie sich zu dem ursprünglichen und unverfälschten kontinentalen Großraumgedanken der Monroe-Doktrin entschließen, oder ob sie eine Verbindung oder gar Fusion mit dem Reichtum und der Tradition des britischen Universalismus eingehen wollen.
IV. Der moderne Exodus Wir erleben gegenwärtig das Schauspiel eines britischen Auszugs aus Europa, eines phantastischen Exodus moderner Art. Als Aeneas das brennende Troja verließ, nahm er, wie man im zweiten und dritten Buch von Virgils großem Epos nachlesen kann, die Hausgötter und die heiligen Bilder auf seinem Rücken mit. Der moderne Exodus sieht etwas anders aus. Heute werden Goldvorräte, Juwelen, Kunstschätze und, in der Form von Aktienpaketen, finanzielle und kommerzielle Rechtstitel von Europa nach dem amerikanischen Kontinent gebracht. Ganze Regierungen, ganze ehemals führende, jetzt besiegte Schichten wandern aus und versuchen, Rechtstitel einer europäischen staats- und völkerrechtlichen Legalität und Legitimität mit sich zu nehmen und nach Amerika zu übertragen. Diese neue Art eines Exodus legt den Gedanken einer Nachfolge und Succession einer „translatio Imperii Britannici" nahe. Auch dieser erstaunliche Vorgang steht, weltpolitisch gesehen, in der alles beherrschenden Gruppierung: Großraum gegen Universalismus. Für jeden, der die Grundtatsache des weltpolitischen Geschehens der Gegenwart, den tiefen Wandel des erdräumlichen Bildes, richtig erkannt hat, ist eines sicher: weder der britische Auszug aus Europa, noch ein etwaiger Wille Amerikas zur Fusion mit dem Rest des britischen Weltreiches halten die europäische Raumordnung auf. [8] Was immer die Routine herrschaftsgewohnter Schichten an Kombinationen und Transaktionen erfinden mag, ihr im Grunde blinder Herrschaftserhaltungstrieb vermag die große Gesamtlinie der erdräumlichen Entwicklung nicht abzubiegen. Alle tragen schließlich nur dazu bei, daß die Idee der europäischen Raumordnung sich noch klarer ausprägt und der weltgeschichtliche Sinn dieses Krieges als eines Raumordnungskrieges um so sicherer zutage tritt.
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Die Beziehung der von R. N. v. Coudenhove-Kalergi (1894 - 1972) 1923 gegründeten Paneuropa-Bewegung zum VB waren eher konfliktiv. Coudenhove schwebte eine kleineuropäische Lösung mit Ausschluß Rußlands u. Großbritanniens vor, wodurch er sich dem universalistischen Anspruch des britisch dominierten VB widersetzte. Zudem war er Anhänger eines geistesaristokratischen, antidemokratischen Führerprinzips u. hegte zeitw. lebhafte Sympathien f. Mussolini; bezügl. Afrikas war er Kolonialist. Gerade die liberal-universalistisch denkenden Völkerbundspazifisten lehnten seine Idee der „Kontinentalassoziationen" und s. Theorie der fünf „planetarischen Kraftfelder" (Amerika-Rußland-Ostasien-Britisches Empire-Europa) ab; Kritik erfuhr C. aber auch von seiten der Verfechter eines unter deutscher Führung stehenden „Mitteleuropa"; vgl. u. a. H. Krebs, Paneuropa und Mitteleuropa, 1929; R. Frommelt, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925 - 33, 1977; R. Opitz (Hrsg.), Europastrategien d. dt. Kapitals 1900 - 1945, S. 495 - 501 (Auszüge), S. 514 - 18 (Texte einer Paneuropa-Diskussion i. d. Zeitschrift „Der deutsche Gedanke" v. 1926; Opitz schreibt Coudenhove d. Streben nach einem „multinationalen Konzern-Europa" zu u. weist auf Förderer wie die AEG u. d. WarburgGruppe hin); H. Gollwitzer, Geschichte d. weltpolitischen Denkens, I, 1982, S. 466 ff. Vgl. auch: Th. Heuß, Der Einfluß von Krieg u. Frieden auf das europ. Problem („Mitteleuropa" „Paneuropa"), in: H. Heiman (Hrsg.), Europäische Zollunion, 1926, S. 23 - 35. [2] Vgl. Schmitt, Land u. Meer, 1942, S. 37 ff. („Was ist eine Raumrevolution?"); ders., Raumrevolution. Vom Geist des Abendlandes, Deutsche Kolonialzeitung, 1942, H. 12, S. 219 ff.; A. Adam, Raumrevolution. Ein Beitrag zur Theorie des totalen Krieges, in: M. Stingelin / W. Scherer (Hrsg.), Hard War / Soft War, 1991, S. 145 - 158. [3] G. Ferrero, Reconstruction. Talleyrand ä Vienne, 1814 - 1815, Paris 1940; dt. unter dem Titel: Wiederaufbau. Talleyrand in Wien 1814 - 1815, Bern 1950. [4] Dazu von Schmitt, Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, Vortrag v. 5. 2. 1937, in: Völkerbund und Völkerrecht, Juni 1937, S. 139 - 45, Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 235 - 239. Zu Schmitts Aufsatz: N. Gürke, Der Begriff des totalen Krieges, Völkerbund u. Völkerrecht, Juli 1937, S. 207 - 212, u. J. Evola, La guerra totale, La Vita italiana, Nov. 1937, S. 561 - 568; ders., A proposito di „guerra totale", ebd., 1938, S. 193 - 194. Zur Kritik an Schmitt u. Evola vgl.: M. Claremoris, La guerra totale, La vita italiana, 1937, S. 725 - 729. [5] So trat Brasilien aus dem Völkerbund aus, als Deutschland in den Völkerbundsrat eintrat, und gerade Anhänger der Pan-Europa-Bewegung hofften auf eine zunehmende „Europäisierung" des VB. Dadurch wurde dieser jedoch als universales Gebilde bedroht. Vgl. Schmitt, Der Völkerbund und Europa (1928), in: Positionen u. Begriffe, 1940, S. 89 - 97. Die „Europäisierungskrise" ist Thema von G. Scelle, Une crise de la Societe des Nations, Paris 1927. [6] Vgl.: v. Freytag-Loringhoven, Die Regionalverträge, 1937. - Der Plan einer deutschösterreichischen Zollunion (19. März 1931) scheiterte am Veto des Völkerbundsrats; der britische Ratsvorsitzende behauptete eine Unvereinbarkeit der Zollunion mit dem Art. 88 des Vertrags von St. Germain und dem Genfer Protokoll vom 4. 10. 1922. Deutschland und Österreich verzichteten daraufhin. Der Ständige Internationale Gerichtshof in Den Haag lehnte in einem Gutachten mit nur 8 gegen 7 Stimmen das Projekt ab. Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VII, 1984, S. 831 - 840; W. Truckenbrodt, Deutschland und der Völkerbund, Essen 1941, S. 136 - 144. Außenminister J. Curtius, der den Zollunionsplan
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betrieben hatte, trat wg. s. Mißerfolges am 3. 10. 1931 zurück; vgl. J. Curtius, Sechs Jahre Minister der Deutschen Republik, 1948, S. 207 f.; vgl. a. Curtius' Schrift ,3emühung um Österreich. Das Scheitern des Zollunionsplans von 1931", Heidelberg 1947. [7] Vgl. Grewe, Epochen der Volkerrechtsgeschichte, 1984, S. 683: Nach dem Münchener Abkommen und dem deutschen Einmarsch in Prag verloren die USA das Vertrauen in die Festigkeit der britischen Weltordnung und sahen sich selber als Träger einer neuen; im Zusammenhang dazu stehend erwähnt Grewe die panamerikanische Konferenz in Lima (bereits Dez. 1938) und die Schaffung der „Two Ocean Navy". Grewe bezieht sich dabei u. a. auf: Walter Lippmann, Rough-hew them how we will, Foreign Affairs, Juli 1937, S. 587 - 594, der u. a. behauptete, die klassische Neutralität der USA sei nur möglich gewesen „in a world in which Great Britain exercised unchallenged supremacy over the principal maritime highways" (S. 592). Diese Bedingung sei nunmehr entfallen: „A fatal blow struck at the heart of the British power would not mereley destroy the international unity of the Empire; it would mean the destruction of all international order as we have known it. - We have only to imagine our own position if the British supremacy were to collapse under an attack by Germany in the North Atlantic, by Italy in the Mediterranean, by Japan in the Western Pacific. Could we conceivably be indifferent to such a world-shaking catastrophe as that? ..." (S. 593). Zum Aufbau der „Two Ocean Navy" vgl.: D. C. Allard, Naval Rearmement 1930 - 1941. An American Perspective, in: J. Rohwer (ed.), The Naval Arms Race 1930 - 1941, Revue Internationale d'Histoire Militaire, Nr. 73, Stuttgart 1991, S. 35 - 50. [8] Wohl eine Anspielung auf das populäre Buch von Clarence K. Streit, Union now, London 1939. Streit betrachtete als „public problem No. 1" das „World government" (S. 61 ff.) und entwickelte detaillierte juristische, administrative u. ökonomische Vorschläge zur Vereinigung der USA mit England, den Dominien, Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und der Schweiz. Dabei verstand sich die US-Dominanz von selbst, zumal Indien kein Stimmrecht erhalten sollte; Streits Vorschläge zielten eher auf eine allmähliche Absorption Englands denn auf eine Gleichberechtigung mit den sich ihrer Überlegenheit bewußten USA. Nach der Besetzung Frankreichs, Hollands, Belgiens u. Norwegens reichte es in Streits zweitem Buche nur noch zur „Union now with Great Britain", New York 1940. Vgl. zu Streit: G. Wirsing, Flucht in einen Weltstaat der Demokratien?, Das XX. Jahrhundert, Juli 1939, S. 193 ff.; ders., Weltstaat als Tarnung für Weltherrschaft, Münchner Neueste Nachrichten, 21. 1. 1940; G. Jentsch, Union now - Disunion for ever, Monatshefte f. Ausw. Politik, Juni 1941, S. 421 - 27; P. A. Rieb, Revolution der Weltherrschaft und Englands Enteignung durch die USA, 1943, S. 239 - 264. - Dem Anti-Kolonialisten u. GandhiAnhänger Krishnala Shridharani, Warning the West, New York 1942, erschien Streits Buch nur als neue Variante eines Denkens ä la Cecil Rhodes, die einzige Antwort darauf sei eigentlich „India's union now with China", ebd., S. 172 - 77. Die angelsächsische Diskussion um das Buch Streits (der lange Zeit Korrespondent d. „New York Times" war) schildert H. Kaiser, Pax Britannica und Pax Americana. Angelsächsisches Weltherrschaftsstreben gegen Europa, ZfP, Juli 1941, S. 389 - 410, bes. S. 398 - 406.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in der Wochenzeitschrift „Das Reich", 29. 9. 1940; er ist photomechanisch nachgedruckt in: Facsimile-Querschnitt durch Das Reich, eingel. von Harry Pross, hrsg. von Hans Dieter Müller, Bern u. München o. J. (1964), Scherz-Verlag, S. 42 - 43. Bei
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dem Untertitel handelt es sich möglicherweise um eine Anspielung Schmitts auf die von Frankreichs Ministerpräsidenten und Außenminister Paul Reynaud (1878 - 1966) strapazierte Wendung von der „paix totale"; erstmals in Le Temps, 9. 11. 1939: „Nous ne recherchons dans la guerre aucun profit materiel. Mais 1'ideal pour lequel nous nous battons - le notre et le vötre - sera defendu jusqu'au bout. . . Nous sommes entres dans la guerre malgre nous, mais nous ne la ferons pas ä demi. Nos ennemis ont voulu une ,guerre totale4. Ce que nous voulons, nous, et ce que nous sommes decides ä obtenir, c'est une ,paix totale4." - Eine Begriffsgeschichte von „totaler Frieden" fehlt noch, vgl. aber das interessante Buch von Ely Culbertson, Total peace, New York 1943, Doubleday, das diesen „totalen Frieden" durch eine Kombination von Großraumprinzip und Weltföderation erreichen will: elf Großräume („groups of states") bilden sich, in jedem dieser Großräume gibt es einen hegemonialen „initiating state" mit besonderen Rechten und Pflichten, darüber thront ein „World Supreme Court", bestehend aus zwei Kammern („World Trustees" und „World Senate"). Jeder der Großräume verfügt über eine Armee, doch die größte Armee, mit Basen rund um die Welt, besitzt der „central body4'. - Zum von Schmitt hier erörterten „Sinn des Krieges44 vgl. die Überlegungen zweier mit ihm in Kontakt stehender Autoren: Mihail Manoilescu, Der Sinn des Krieges, Geist der Zeit, April 1940, S. 193 - 198, der zeitweise Außenminister Rumäniens (vgl. u. a. von ihm die Rezension der „Positionen und Begriffe 44 Schmitts in: Weltwirtschaftliches Archiv, 1943, I, S. 85 - 87), sah diesen Sinn im Kampf zwischen „Lebenskraft ohne Lebensraum44 (Deutschland) mit „Lebensraum ohne Lebenskraft 44 (England u. Frankreich mit ihren „leeren" Kolonialräumen). Johannes Kühn, Über den Sinn des gegenwärtigen Krieges, 1940, Schriften z. Geopolitik, H. 19, erkannte den Sinn im Kampf zwischen „Demokratie44 (= „die autarkistische, antiimperialistische, volkserneuernde demokratische Weltbewegung44) einerseits, dem „Liberalismus" („London, Paris und Neuyork") andererseits; gekämpft werde „um die Volkserneuerungsbewegung rund um die Welt". A. v. Freytagh-Loringhoven, Deutschlands Außenpolitik 1933 - 1941, 10. Aufl. 1942, S. 311 - 322, „Der Sinn des Krieges44, sah diesen Sinn „nicht im Kampf um Danzig und den Korridor, sondern im Kampf um den Versailler Vertrag 44, um dessen „endgültige Beseitigung oder um (dessen) Wiederaufrichtung" es ginge (S. 312). Der Autor wies auf d. Dreimächtepakt v. 27. 9. 1940 hin u. unterschied ihn positiv von d. Monroe-Doktrin; diese hätte ursprünglich nur ein negatives Ziel gehabt (die Abwehr raumfremder Intervention), während hier die positive Aufgabe einer Raumgliederung im Vordergrund stehe und „eine klare Abgrenzung der durch die Natur selbst auf unserem Erdball gegebenen Großräume geschaffen" worden sei (S. 315). Aus „dem Gedanken der Großraumordnung (ergebe sich) unausweichlich die Schlußfolgerung, daß der Zerfall des britischen Empire eine Notwendigkeit44 sei (S. 316). Zum weltgeschichtlichen Sinn dieses Krieges gehöre auch die Ausrottung des Bolschewismus, ohne die es keinen Weltfrieden geben könne.
Das Meer gegen das Land Es gehört zum ältesten Bestand menschlicher Geschichtsdeutung, in dem Gegensatz von See- und Landmächten einen Motor und Hauptinhalt der Weltgeschichte zu sehen. Die Kriege zwischen Athen und Sparta, Karthago und Rom sind die berühmten Beispiele aus der klassischen Geschichte. Im späteren Mittelalter hat die Republik Venedig ihr großes Spiel zwischen den damaligen Thronen und Mächten gespielt. Der bekannteste französische Lehrer der Kriegswissenschaft, Admiral Castex, gründet seine ganze Lehre auf die Formel: la mer contre la terre.[l] Populäre Vergleiche sprechen vom Kampf des Walfisches mit dem Bären, mythische Bilder von dem großen Fisch, dem Leviathan, der mit dem großen Landtier, dem Behemoth, einem Stier oder Elefanten, kämpft. Jüdische Kabbalisten des Mittelalters - unter ihnen der welterfahrene Abravanel - haben diesen Schilderungen einen wichtigen Zusatz gegeben, indem sie bemerkten, daß die beiden großen Tiere sich gegenseitig töten, die Juden aber dem Kampfe zusehen und das Fleisch der getöteten Tiere essen. [2] Auch die Kriege Englands gegen die Mächte des europäischen Festlandes, gegen Spanien, Frankreich und Deutschland, werden oft in diesen Zusammenhang gebracht. Natürlich gibt es hier viele Parallelen. Aber etwas Wesentliches bleibt dabei doch meistens außer Betracht. Das ist die Wendung, die die englische Politik im 16. und 17. Jahrhundert genommen hat und die in ihrem Kern etwas Besonderes und Einmaliges bedeutet. Ihr Inhalt ist nicht einfach die politische Entscheidung, alle Kräfte auf die See zu konzentrieren. Die Wendung, die England damals nahm, war vielmehr im eigentlichen Sinne des Wortes eine elementare Wendung vom Land zum Meer und eine Veränderung und Wandlung des Wesens und der Substanz der englischen Insel selbst. Es gibt viele Inseln, und mit dem allgemeinen geographischen Begriff ist noch nichts erklärt. Sizilien ist auch eine Insel, ebenso Kreta oder Java oder Japan. Eine Fülle widersprechender Schicksale und Entwicklungen kann sich mit der Insellage verknüpfen. Ein französischer Schriftsteller hat das Leben Napoleons unter dem Gesichtspunkt der Insel mythisiert: er kam von Korsika, kämpfte mit England, wurde nach Elba verbannt und starb auf St. Helena. [3] England selbst war jahrtausendelang eine Insel, unter Julius Cäsar wie unter Alfred dem Großen, zur Zeit des Richard Löwenherz wie der Jungfrau von Orleans. Wo liegt also der Kernpunkt der Frage und die wesentliche Besonderung innerhalb einer derartigen Fülle geschichtlicher Möglichkeiten? In einem Gegensatz der Elemente Meer und Land; darin, daß es möglich ist, die Insel unter den entgegengesetzten Aspekten dieser beiden Elemente zu sehen, nämlich entweder als ein vom Festland abgesprengtes Stück Land oder als einen zum Meer gehörigen Teil der See.
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Im allgemeinen ist unsere Phantasie ganz und gar vom Lande her bestimmt. Wenigstens in seinem Denken und Sprechen ist der Mensch ein Sohn der Erde. Den Planeten, auf dem er lebt, nennt er mit größter Selbstverständlichkeit „Erde". Wenn wir unsere Begriffe bilden, stellen wir uns meistens unbewußt auf das Land und sehen das Meer vom Lande her. Das Schiff auf dem Ozean ist „schwimmendes Staatsgebiet", ein Kriegsschiff eine „schwimmende Festung". Eine Insel erscheint uns als ein vom Meer wie von einem Wallgraben umgebenes Territorium. Wir sagen „Meeresstraßen", was eine ziemlich naive Übertragung der Landstraße auf ein ganz anderes Element ist, während wir bezeichnenderweise schon nicht mehr von Luftstraßen, sondern von Luftlinien sprechen. Die andere Möglichkeit, umgekehrt das Land und die Verhältnisse des Landes vom Meere her zu sehen, kommt selten zum Bewußtsein, obwohl doch das Meer den größeren Teil der Oberfläche unseres Planeten bedeckt. Vom Meere her gesehen ist nicht das Meer ein Teil der Erde, sondern die Erde ein Teil des Meeres, und müßte man nicht von einem Erdbild, sondern von einem Meeresbild sprechen. Das klingt sonderbar, kann uns aber dazu dienen, eine Möglichkeit zu verstehen, die politische Wirklichkeit geworden ist. Denn ein Volk kann seine Gesamtexistenz in das Element des Meeres verlegen, sich mit dem Meere vermählen. England hat sich in der Zeit der Königin Elisabeth in dieser Weise gegen das Land und für das Meer entschieden. Nicht die nach vielem Lavieren und Schwanken gefallene Entscheidung zwischen Katholizismus und Protestantismus oder die zwischen Absolutismus und Parlamentarismus, sondern diese im wahren Sinne des Wortes elementare Entscheidung für das Meer ist der innerste Kern des damaligen Geschehens. Der Vorgang läßt sich mit keinem früheren Ereignis der Weltgeschichte vergleichen, weil er Bestandteil einer planetarischen Raumrevolution war und in die Zeit fiel, in der die Völker Europas damit begannen, aus der Tatsache der neuentdeckten Welt die praktischen Folgerungen für eine Neuverteilung und Neuordnung des Planeten zu ziehen. Man darf sich diese Entscheidung Englands für das Meer nicht als die planmäßige Tat eines oder mehrerer einzelner Menschen vorstellen. Träger der elementaren Wendung waren neue, aus der völkischen Kraft des damaligen Frankreich, Holland und England entfesselte, in den Kampf gegen die katholische Weltmacht Spanien sich stürzende Energien, die schließlich alle in England mündeten und deren Leistungen alle von England beerbt wurden. Freibeuter, Privateers, Korsaren, Piraten, Seegeusen, Buccaneers und wie die vielen bunten Gestalten dieser erstaunlichen Zeit heißen, haben das Werk vollbracht. Sie waren wirklich das, als was sie sich selbst bezeichneten: Privateers, und handelten auf privates, eigenes Risiko im allergefährlichsten Sinne des Wortes. Die englische Regierung hat sie über hundert Jahre lang nach Lage der Sache benutzt, geehrt, zu hohen Ämtern und in den Ritterstand erhoben oder, je nachdem, fallen lassen, gefangengesetzt und gehängt. Sie waren jedenfalls politisch etwas anderes als der ins bloß Kriminelle abgesunkene Seeräuber des folgenden 18. Jahrhunderts, den nur eine ahnungslose Romantik noch verherrlicht. Sie sind es, die nach den Worten eines englischen Verfassers einer „Geschichte der Piraterie" England aus einem
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armen zu einem reichen Land gemacht, den gefährlichsten Feind Englands niedergezwungen und - was der englische Autor ausdrücklich als das Wichtigste unterstreicht - eine „Rasse zäher und fester Seeleute" heraufgeführt haben, ohne die das englische Weltreich nicht hätte entstehen oder bestehen können. [4] Das für uns wichtigste Ergebnis ihrer Taten ist aber nicht der Reichtum Englands und seines überseeischen Reiches, sondern die Wesensverwandlung der englischen Insel. Diese wird jetzt aus einem abgesprengten Stück des europäischen Festlandes zu einem Teil der Weltmeere. Von jetzt ab darf man diese Insel nicht mehr als einen Teil des europäischen Kontinents betrachten. Sie hat ihre Ehe mit dem Festland getrennt und eine neue mit dem Ozean geschlossen. Sie wird jetzt, wenn ich so sagen darf, entankert und entlandet. Sie wird aus einem Stück Erde zu einem Schiff oder gar zu einem Fisch. „Die Kinder des Löwen verwandeln sich in Fische der See", wie es in einer mittelalterlichen Prophezeiung heißt; das mythische Bild des großen Walfisches, des Leviathan, verwirklicht sich, und zwar ganz anders, als es der Staatstheoretiker Hobbes in seinem Buche vom Leviathan konstruiert hatte. Hobbes bezeichnet den Staat als den Leviathan. In Wirklichkeit wurde England infolge seiner Entscheidung für das Element des Meeres gerade nicht Staat. Der Staat hat sich auf dem europäischen Kontinent verwirklicht, während das Meer frei, d. h. eben staatsfrei, nicht Staatsgebiet wurde. Meer und Land stehen jetzt als zwei getrennte Welten fast beziehungslos nebeneinander. Auch die Länder Europas erscheinen dem Engländer nur noch unter dem Aspekt des Meeres. Was ist Spanien? fragt Edmund Burke und gibt eine Antwort, die keine Phantasie eines Kontinental-Europäers hätte finden können: Spanien ist ein am Gestade Europas gestrandeter Walfisch.[5] Die letzte folgerichtige Konsequenz der Verwandlung in ein Wesen der See ist die Möglichkeit des Exodus nach Übersee, genauer, weil auch „Exodus" schon eine vom Lande aus gebildete Vorstellung ist, die Fähigkeit, nötigenfalls nach einem anderen Weltteil abschwimmen zu können. Heute tritt diese Möglichkeit in greifbare Nähe. Aber der Gedanke ist nicht erst in den Kriegsjahren 1939 / 41 zum erstenmal in England aufgetaucht, wenn er natürlich auch erst in der Verzweiflung der gegenwärtigen Kriegslage praktische Bedeutung und allgemeines Interesse bekam. Von der Möglichkeit die Metropole und die Regierung des ganzen Empire einfach zu verlagern, hat man auch schon vorher gesprochen. Vor fast hundert Jahren, 1847, sagte Disraeli - ein Abravanel des 19. Jahrhunderts - in seinem Roman „Tancred": „Laßt die englische Königin eine große Flotte sammeln; laßt sie ihren ganzen Hof und die führende Schicht wegbringen und den Sitz ihres Empire von London nach Delhi verlegen. Dort wird sie ein ungeheures, fertiges Empire finden, eine erstklassige Armee und enorme Einkünfte."[6] Wir können das ohne Besorgnis abwarten. Die Entwicklung der Technik, die neuen Waffen des Seekrieges und die Beherrschung der Luft haben eine völlig neue Gesamtlage geschaffen. Die Situation des 16. und 17. Jahrhunderts, in der England seine Vermählung mit dem Meer vollziehen und seine Weltherrschaft ge-
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Dritter Teil: Großraum und Volkerrecht
genüber dem europäischen Kontinent begründen konnte, ist längst überholt. Das Meer ist kein Element mehr, sondern ein Raum geworden, wie auch die Luft ein Raum menschlicher Aktivität und Herrschaftsausübung geworden ist. Die gegenwärtige Raumrevolution ist größer und tiefer als die des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie wird deshalb die in der früheren planetarischen Umwälzung entstandene und in ihr begründete Verteilung der Erde ebenso tief verändern. Neue Kräfte werden eine Neuordnung durchsetzen, die nicht nur Land und Meer, Kontinente und Ozeane umfassen wird, die neuen Kräfte der Raumbewältigung werden auch den Luftraum in den Bereich menschlicher Ordnung einbeziehen. Die Zeit des Leviathan, d, h. der Geschichtsabschnitt einer gegenüber dem Land auf dem Element des Meeres errichteten Herrschaft, ist damit zu Ende. Er wird bald zu einer historischen Erinnerung geworden sein, zu einer bloßen Episode in der großen Geschichte der Volker. Und unseren Enkeln werden wir die Sage von dem Weltreich des Leviathan erzählen.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Zu Castex s. vorl. Bd., Staatliche Souveränität und freies Meer, FN [14], S. 425. [2] Dazu Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938, S. 18; Land und Meer, 1942, S. 10 (3. Aufl. 1981, S. 17, verändert). - Das Fleisch der beiden Monster, zusammen mit dem des Vogels Ziz, ist bestimmt für das Gastmahl der Gerechten am Ende der Zeiten, mit dem das messianische Zeitalter eröffnet wird - . Vgl. u. a. J. A. Eisenmenger, Entdecktes Judenthum, Frankfurt a. M. 1700, II, S. 872 - 879; Z. Ameisenowa, Das messianische Gastmahl... in einer hebräischen Bibel aus d. XIII. Jahrhundert, Monatsschrift f. Geschichte u. Wissenschaft d. Judentums, 1935, S. 409 - 422; L. Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1947,1, S. 26 - 30, II, S. 41 - 49; J. Gutmann, Leviathan, Behemoth and Ziz: Jewish Messianic Symbols in Art. Hebrew Union College Annual (Cincinnati), 1968, S. 219 - 230; L. Drewer, Leviathan, Behemoth and Ziz: a christian adaption, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 1981, S. 148 - 156. - Zu Leben und Werk Isaak Abravanels (1437 - 1508): A. Heschel, Don Jizchak Abravanel, Berlin 1937; Isaak Abravanel. Six lectures, Cambridge 1937, darin bes. L. Strauss, On Abravanel's Philosophical Tendency and Political Teaching, S. 93 - 129; jetzt auch die Monographie v. Jean-Christophe Attias, Isaac Abravanel: la memoire et l'esperance, Paris 1992 (Cerf). Zu Abravanels durch die eigenen Erfahrungen bedingten anti-staatlichen und anti-monarchischen Affekten u. seinem „rousseauistischen" Kulturpessimismus vgl. die Beiträge von E. E. Urbach, H. Finkelscherer u. I. Heinemann i. d. Jahrgängen 1937 / 38 d. Monatsschrift f. Geschichte u. Wissenschaft d. Judentums. Aus diesen Erfahrungen erklärt sich auch der Messianismus d. Spätwerks, vgl. B. Netanyahn, Don Isaac Abravanel, Philadelphia 1953, bes. S. 200 - 240 u. I. E. Barzilay, Between Reason and Faith: Anti-Rationalism in Italian Jewish Thought 1250 - 1650, Den Haag 1967, bes. S. 122 - 131. Allgemein zur Bedeutung v. Leviathan u. Behemoth i. d. jüdischen Mythologie: J. Bottero, Jüdische Schöpfungsmythen, in: Eliade, Die Schöpfungsmythen, Zürich 1964, S. 185 - 228; R. Graves / R. Patai, Hebrew Myths. The Book of Genesis, Ausg. New York 1983; Kap. I - I I . [3] Diese „Mythisierung" stammt wohl von Chateaubriand o. von dem Schmitt tief beeindruckenden Leon Bloy. Chateaubriand schrieb am 17. 11. 1818 in s. Zeitschrift „Le Conser-
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vateur" ü. Napoleon: „Ne dans une lie pour aller mourier dans une Tie aux limites de trois continents; jete au milieu des mers oü Camoens sembla le prophetiser en y pla^ant le genie des tempetes", zit. nach: Memoirs d'outre-tombe (zuerst 1849), Ausg. Paris 1949, ed. Lavaillant, I, 2, S. 672. Bloy, L'äme de Napoleon, 1912, dt. Ausg., Die Seele Napoleons, 1954, S. 22, schrieb: „Napoleon kommt auf einer Insel zur Welt. Er führt danach Krieg gegen eine Insel. Als er zum ersten Mal fällt, geschieht es auf einer Insel. Schließlich stirbt er als Gefangener auf einer Insel. Insulaner durch Geburt, Insulaner aus Wettkampf, Insulaner aus der Notwendigkeit zu leben, Insulaner aus der Notwendigkeit zu sterben". Ähnlich Dimitri Mereschkowski, Napoleon, sein Leben - Napoleon der Mensch, aus dem Russ., Berlin o. J. (zuerst Leipzig 1928), S. 400: „Die Atlantier sind Insulaner; er auch: geboren ist er auf der Insel Korsika, gestorben auf der Insel St. Helena; sein erster Sturz führte ihn auf die Insel Elba; und er kämpfte sein ganzes Leben lang mit der Insel England, dem derzeitigen kleinen »Atlantis', um das künftige große, das alle meerumspülten Kontinente der Erde umfassen sollte." [4] Nach Ph. Gosse, The history of piracy, New York 1932; vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 145. [5] Diese schöne, von Schmitt des öfteren gebrauchte Wendung Burkes konnte in dessen Werken bisher nicht gefunden werden; Schmitt benutzte wohl ein Zitat Herman Melvilles aus dem „Moby Dick" (zuerst 1851): „Spain - a great whale stranded on the shores of Europe", Ausg. Airmont 1964, S. 18, mit dem „Quellenhinweis": „Edmund Burke (somewhere)". Der Wendung bedient sich auch L. Diez del Corral, El rapto de Europa (1954), Ausgabe Madrid 1974, S. 149. Diez del Corral vergleicht Burkes Sichtweise mit der Mackinders, für den England nicht „in" Europa sei, sondern ein Glied „von" Europa, das sich darauf spezialisieren konnte, wie ein Katapult die europäischen Schöpfungen über den Erdball zu schießen. [6] So B. Disraeli in s. Roman „Tancred", zuerst 1847, Ausg. London 1894, S. 263. Schmitt war bes. beeindruckt von Bruno Bauers Erörterung des Themas in s. Buche „Disraelis romantischer und Bismarcks sozialistischer Imperialismus", Chemnitz 1882, S. 25 - 77. Vgl. auch H. Rühl, Disraelis Imperialismus und die Kolonialpolitik seiner Zeit, Leipzig 1935, S. 48 - 54, der wie Bauer auf Disraelis These von der Überlegenheit der jüdischen Rasse hinweist und „Tancred" als Manifest einer jüdisch-englischen Assimilation versteht. R. Craemer, Benjamin Disraeli, Forschungen zur Judenfrage, V, Hamburg 1941, 22 - 147, betont Disraelis Verächtlichmachung d. Christentums u. wertet dessen „asiatischen Imperialismus" als „Ausdruck einer innersten Gleichgültigkeit gegenüber dem Boden". Schmitts enger Freund u. zeitweiser Schüler William Gueydan de Roussel betont: ,JL'oeuvre litteraire de Disraeli est la Bible du racisme moderne" (in: A l'aube du Racisme. L'Homme, spectateur de l'Homme, Paris 1940, Boccard, S. 57 f.) und verweist dazu auf dessen Romane „Tancred" und „Lord Bentincks". H. Lufft, Der britische Imperialismus. Ideen und Träger, 1940, untersucht detailliert „Disraeli und die imperiale Politisierung der breiten Volksmassen", S. 216 - 45, u. weist auf Disraelis Glauben hin, „daß die jüdische Rasse berufen (sei), über eine aristokratische Ordnung der Welt die Welt zu beherrschen." Diese Ordnung bestehe in der Religion; dabei ist das Judentum die Religion schlechthin. „Das Christentum ist die Religion, mit der der alte Judengott die Heiden, die Barbaren, dem jüdischen Gott und dem Weltreich des jüdischen Gotts, damit aber dem Weltreich des Judentums angegliedert hat." (S. 229.) Der die englische Aristokratie führende jüdische Geist hat zum Ziele, daß „das englische Weltreich ... sich dann als der Sieg des jüdischen Gottes über die ganze Welt (erweist)." (S. 231).) - Vgl. auch Schmitts These vom „Disraelitismus der rabiaten Deutschheit (Hitler als Disraelit)", in: Glossarium, 1991, 1. 5. 48, S. 142; hingewiesen wird auf „Rasse als Schlüssel" und auf Christentum als Judentum fürs Volk.
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
Anhang des Herausgebers Der Artikel, das Buch „Land und Meer" (1942) skizzierend, erschien in der Zeitschrift „Das Reich" am 9. 3. 1941, S. 1 - 2; eine französische Fassung (mit geringfügigen Varianten) in den „Cahiers franco-allemands", Karlsruhe, H. 11 / 12, 1941, S. 343 - 349. In ital. Übersetzung erschien der hier nachgedruckte Text in: Lo Stato, 1941, S. 137 - 142, u. d. T. „II mare contro la terra", Ndr. in: Schmitt, Scritti politico-giuridici, 1933 - 1942, Antologia da ,JLo Stato", a cura di Alessandro Campi, Perugia 1983, S. 107 - 113; auch in: Schmitt, L'Unitä del mondo e altri saggi, Rom 1994, S. 253 - 259. Eine neue französische Fassung, ebenfalls auf der hier vorgestellten beruhend, erschien in: Schmitt, Du Politique. „Legalite et legitimite" et autres essais. Textes choisis et presentes par Alain de Benoist, Puiseaux 1990, S. 137 - 141, übers, v. Jean-Louis Pesteil. - Schmitt sprach am 16. 10. 1941 über die „völkerrechtliche Bedeutung des Unterschiedes von Land und Meer" in Paris; vgl. Ernst Jünger, Das erste Pariser Tagebuch, Eintragung v. 18. 10. 1941, in: Sämtliche Werke, Band II, Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 265. - Die für Schmitts Spätwerk so wichtige »Kontrapunktik" von Land und Meer verdankt mit einiger Wahrscheinlichkeit wichtige Anregungen den Büchern von Leo Frobenius, Vom Kulturreich des Festlandes, 1923, und v. Kurt v. Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, 1924; man vergleiche etwa im letztgenannten Buche S. 10 f. mit Schmitt, Land und Meer (1942), 3. Aufl. 1981, S. 7 f. - Vgl. a.: P Schmidt, Kontinentalmächte und Seemächte im weltpolitischen Denken Carl Schmitts, Mannheim 1980. - Zum von Schmitt im vorl. u. anderen Texten angesprochenen „Elementaren" der Auseinandersetzung Land-Meer vgl. a.: E. W. Eschmann, Politik der Elemente, MNN, 15. 12. 1940.
Staatliche Souveränität und freies Meer Über den Gegensatz von Land und See im Volkerrecht der Neuzeit
Die folgenden Darlegungen sollen einen für fast vierhundert Jahre Maß und Richtung bestimmenden Wendepunkt der europäischen Geschichte in das rechte Licht stellen, nämlich den Beginn des Zeitalters der Staatlichkeit. In diesem Zeitalter, das vom 16. bis 20. Jahrhundert reicht, ist der Staat der alles beherrschende Ordnungsbegriff der politischen Einheit. Mancherlei Faktoren verschiedener Art haben zur Entwicklung und Ausprägung des Staates beigetragen, und viele Vorläufer, Übergänge und Entwicklungsgrade sind, wie überall so auch hier aufweisbar. Aber der durch menschliche Tat und Entschluß bewirkte Wendepunkt läßt sich trotzdem in aller Schärfe erkennen. Ich möchte den entscheidenden Ansatz in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts legen. Das ist eine für das damalige Deutschland ziemlich traurige und wenig tatenreiche Zeit. Um so bedeutungsvoller wurden ihre Entscheidungswirkung und ihr Wendepunktcharakter für die europäische und die gesamte Weltgeschichte. Im 16. Jahrhundert beginnt der Kampf um die Neuordnung der neu entdeckten Erde. Es bilden sich die großen Fronten des Weltkatholizismus und Weltprotestantismus. Von Frankreich, Holland und England her werden die ersten erfolgreichen Vorstöße gegen das Seeherrschaftsmonopol der katholischen Weltmächte Spanien und Portugal unternommen. Aus den konfessionellen Bürgerkriegen entsteht in Frankreich der Gedanke der souveränen politischen Entscheidung, die alle theologisch-kirchlichen Gegensätze neutralisiert und das Leben säkularisiert, auch wenn die Kirche Staatskirche wird. In dieser Lage haben die Begriffe „Staat" und „Souveränität" in Frankreich ihre erste maßgebende juristische Ausprägung gefunden. Damit tritt die spezifische Organisationsform „souveräner Staat" in das Bewußtsein der europäischen Völker. Sie macht für die Vorstellungsweise der nächsten Jahrhunderte den Staat zur einzigen normalen Erscheinungsform der politischen Einheit überhaupt. Das alte deutsche Reich mit seiner Gemengelage feudaler, ständischer und kirchlicher Verfassungselemente wird dadurch ins Mittelalter abgedrängt; es kann, da es ein Reich und kein Staat ist, „nicht mehr begriffen werden".[l] Das Völkerrecht verwandelt sich in ein zwischen-staatliches Recht; die bewaffnete Auseinandersetzung wird aus Fehden oder Privatkriegen zum Staatenkrieg. Wie sehr dieser Begriff „Staat" die alles beherrschende Ordnungsvorstellung Europas geworden ist, zeigt sich schließlich darin, daß er im 19. Jahrhundert zu einem auf alle Zeiten und Völker übertragenen Allgemeinbegriff, zu der politischen Ordnungsvorstellung der Weltgeschichte überhaupt gemacht werden konnte. Noch heute hört man, statt von 26 Staat, Großraum, Nomos
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
der griechischen Polis oder von der römischen Republik vom „antiken Staat" der Griechen und Römer, statt vom Reich vom „deutschen Staat des Mittelalters" und gar von den Staaten der Araber, Türken oder Chinesen sprechen.[2] Eine durchaus zeitgebundene, geschichtlich bedingte, konkrete und spezifische Organisationsform der politischen Einheit verliert auf diese Weise ihren geschichtlichen Ort und ihren typischen Inhalt; sie wird in irreführender Abstraktheit auf gänzlich verschiedene Zeiten und Völker übertragen und in völlig andersartige Gebilde und Organisationen hineinprojiziert. Diese Erhebung des Staatbegriffes zum allgemeinen Normalbegriff der politischen Organisationsform aller Zeiten und Völker wird wahrscheinlich mit dem Zeitalter der Staatlichkeit selbst bald ein Ende nehmen. Sie kommt aber auch heute noch vor, und deshalb sei hier der konkret-geschichtliche und spezifische Charakter des Staatsbegriffes als einer an das 16. - 20. Jahrhundert europäischer Geschichte gebundenen, politischen Ordnungsvorstellung von Anfang an außer Zweifel gestellt. Das Land, das zuerst im „Staat" und in der „Souveränität" die Rettung aus den Religionskriegen und die Lösung seiner innerpolitischen Schwierigkeiten fand, war Frankreich. Jean Bodin, ein französischer Jurist typischer Art, Vertreter der legistischen Tradition seines Landes, hat bekanntlich die erste Definition der Souveränität gegeben. Sein Buch, das 1577 erschien,[3] heißt „Six livres sur la republique", die lateinische Ausgabe sagt: res publica. Bezeichnenderweise wird also das Wort „Staat" im Titel selbst noch nicht gebraucht. Aber gegenüber der Wirrnis der aus dem Mittelalter überkommenen feudal-ständischen Rechtsüberzeugungen tritt die Notwendigkeit der souveränen, staatlichen Entscheidung innerhalb einer politischen Einheit so einfach und klar hervor, daß mit dieser juristisch- dezisionistischen Klärung eine unwiderstehliche Wirkung auf die übrigen europäischen Länder verbunden war. Das gelehrte und materialreiche Buch des Juristen Bodin ist ein wesentliches Erzeugnis dieser Wendezeit. Sein Verfasser hat auf vielen Gebieten einen bedeutenden Namen, sowohl als Jurist, wie als „politicien" seiner Zeit, auf ökonomischem Gebiet als Begründer der sogenannten Quantitätstheorie in der Geldlehre, auf geschichtswissenschaftlichem Gebiet durch viele originelle Beobachtungen, und endlich ist er, mit seinem „Heptaplomeres", ein erstaunlich kühner Bahnbrecher des modernen Toleranzgedankens1. Das 1577 erschienene 1
Hier sei auf die neueren Werke hingewiesen: Andre Gardot, Jean Bodin. Sa place parmi les fondateurs du droit international, Recueil des Cours de l'Acadämie de Droit International ä la Haye, 50/1934, S. 549 - 747; Jean Moreau-Reibel, Jean Bodin et le droit public compare dans ses rapports avec la philosophie de l'histoire, Paris 1933; a. die Einleitung von Henri Hauser zu seiner Edition „La vie chfcre au XVIe si£cle. La response de Jean Bodin ä M. de Malestroit, 1568", Paris 1932 (zu Bodins Ansichten über polit. Ökonomie). Zusätzlich sei an einige SpezialStudien erinnert: Friedrich v. Bezold, Jean Bodin als Okkultist und seine Dämonomanie, HZ, Bd. 105, 1910, S. 1 - 64; ders., Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres und der Atheismus des 16. Jahrhunderts, ebd., Bd. 113, 1914, S. 260 - 315, Bd. 114, 1915, S. 237 - 300, sowie an: Francisco Javier Conde, El pensamiento politico de Bodino, Madrid 1935 [Ndr. in: ders., Escritos y fragmentos politicos, I, Madrid 1974, S. 17 - 115; Rez. von Schmitt in: DJZ, 1936, H. 3, Sp. 181 f. - G. M.] - Die irrige und inzwischen widerlegte Behauptung
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Buch selbst ist nicht mit anderen noch so bedeutsamen rechtswissenschaftlichen oder geschichtlichen Schriften zu vergleichen. Seine umfangreichen gelehrten Ausführungen sind freilich vergessen; aber die sofortige und nachhaltige Wirkung seines Souveränitätsbegriffes war in ganz Europa außerordentlich. Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Gedanke der den Konfliktsfall entscheidenden Souveränität überall, besonders in Deutschland, allgemein einleuchtete, ist noch fast hundert Jahre später in Pufendorffs berühmter Abhandlung „de Statu Imperii Germanici" (1667) mit unverminderter Schlagkraft zu erkennen. [4] Im Souveränitätsbegriff Bodins ist eine juristische Begriffsbildung auf eine ungewöhnliche Weise mit einer politischen Wirklichkeit zusammengetroffen. Nur deshalb konnte der juristische Begriff in solchem Maße einer neuen Ordnungsvorstellung zum Siege verhelfen. Daß es sich dabei gerade um eine juristische Begriffsbildung handelt, entspricht der eigentümlichen innerpolitischen Entwicklung und Geistesprägung des französischen Volkes. Indem die Könige von Frankreich, beraten und vorwärtsgetrieben von ihren Legisten, den ersten größeren modernen Staat schufen[5] und sich als Souveräne dieses Staates durchsetzten, machten sie Frankreich für lange Zeit zum Prototyp und zum klassischen Beispiel dessen, was man damals unter dem vollkommenen Bild einer souveränen Macht verstand. Frankreich bestimmte als europäische Macht das innere Maß und die Dimensionen des neuen Ordnungsbegriffes. Es soll keineswegs geleugnet werden, daß das Wort „Staat" schon durch Machiavelli in das politische Vokabularium der europäischen Volker eingeführt worden ist. [6] Auch haben die vielfältigen Bedeutungen des Wortes Status und bei der deutschen Wortbildung sicher auch Anklänge raumhafter Vorstellungen, wie „Stadt" und „Stätte" mitgespielt. Aber die Überwindung der feudal-ständischen Rechtsanschauungen durch eine eindeutige, höchste, souveräne Entscheidung und damit der neue europäische Maß- und Ordnungsbegriff „Staat" gehören zu der politischen Situation, die in der Souveränitätslehre des französischen Juristen Bodinus ihren existentiell adäquaten Ausdruck fand. Nicht die Kleinwelt italienischer Stadttyrannen der Renaissance, weder die Castruccio Castracanis, noch die Cesare Borgias vermochten einen neuen europäischen Maß- und Ordnungsbegriff durchzusetzen. Und die späteren deutschen Klein- und Mittelstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts wurden bereits im Gefolge des von Frankreich durchgesetzten Souveränitätsbegriffes als bloße Gewichtssteine in das große Spiel der europäischen Gleichgewichtspolitik hineingeworfen. Der Souveränitätsbegriff hat schon bei Bodinus selbst nicht etwa nur innerpolitische Bedeutung für das von Bürgerkriegen zerrissene Frankreich. Obwohl die gesamteuropäischen Auswirkungen der neuen OrdnungsVorstellung erst im 17. und 18. Jahrhundert zur vollen Entfaltung gelangen, behandelt doch auch bereits Bodin in einem wissenschaftlich leider wenig beachteten, aber höchst aufschlußreichen Kapitel seines Buches (I, Cap. 9: Du Prince tributaire ou feudataire, et s'il est SouCondes, Bodin stamme von einer jüdischen Mutter ab, berührt nicht seine zutreffenden Thesen über die absolute Technizität des Begriffs der Souveränität bei Bodin [vgl. vorl. Bd., S.199, 213, FN [13] - G. MJ. 2*
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verain) [7] die außenpolitische Lage Europas unter dem Gesichtspunkt seines Souveränitätsbegriffes 2. Er wirft einen prüfenden Blick auf ganz Europa, um an der Hand der neugefundenen Ordnungsvorstellungen „Souveränität" und „Staat" in das Durcheinander der europäischen feudalen Bindungen Ordnung zu bringen. So kann er schon einige Länder Europas aufzählen, die er für souveräne Staaten hält: außer Frankreich sind es England, Schottland, Dänemark, die einzelnen Schweizer Kantone, das Reich des Knez von Moskau, Polen. Auf italienischem Boden gibt es für ihn nur einen souveränen Staat: Venedig. In Deutschland sind weder der Kaiser noch die Fürsten noch die Reichsstädte souverän. Hier wird schon fast hundert Jahre vor der eben erwähnten Schrift Pufendorffs deutlich sichtbar, daß das mittelalterliche deutsche Reich der Sprengkraft des neuen Ordnungsbegriffes „souveräner Staat" zum Opfer fallen mußte. Mit dem neuen Ordnungsbegriff „Staat" beginnt allmählich die Beseitigung der feudalen und ständischen Gemengelage des Mittelalters. Der Staat stellt eine territorial geschlossene Einheit her. Der Rechtsgedanke der staatlichen Souveränität ist der erste entscheidende Schritt auf dem weiteren Wege, der in den folgenden Jahrhunderten zu der räumlich geschlossenen, gegen andere Staaten mathematisch scharf abgegrenzten, in sich zentralisierten und durchrationalisierten Einheit „Staat" geführt hat. Die spezifischen Organisationsmittel der einheitlichen Staatsgewalt sind bekanntlich staatliche Armee, staatliche Finanz und staatliche Polizei. Das Recht verwandelt sich immer mehr in ein staatliches, von der staatlichen Justiz gehandhabtes Gesetz und findet seine sachgemäße Erscheinungsform in staatlichen Gesetzkodifikationen. Mittelalterliche Korporationen und Institutionen, feudale, ständische oder kirchliche Verbände verlieren Sinn und Bedeutung. Die Kirche insbesondere wird entweder ein Mittel zur Aufrechterhaltung öffentlicher Ruhe, Sicherheit und Ordnung, also ein Mittel staatlicher Polizei und Volkserziehung, oder zur bloßen Privatsache des frommen Individuums. Soweit sie noch Machtansprüche erhebt, entwickelt sich die immer schärfere Trennung von äußerlich vorgeschriebenem, staatskirchlichem Kult und innerer Gläubigkeit. Selbst die römische Kirche der Gegenreformation weiß für ihre Ansprüche in der neuen, vom souveränen Staat her bestimmten Situation nur den Begriff der „potestas indirecta" aufzustellen, wie ihn der Theologe der Gegenreformation, Bellarmin, als vieldeutigen, alle Nebentüren offenhaltenden Ausweg gefunden hat.[8] Für einige Jahrhunderte ist der Zwang zur Staatlichkeit unwiderstehlich. Auch das deutsche Volk mußte durch den Engpaß der staatlichen Souveränität hindurchgehen, ehe es einem neuen Deutschen Reich möglich wurde, für Deutschland die Führung in Europa zurückzugewinnen. Diese Entwicklung zur staatlichen Souveränität ist als geschichtliche Gesamterscheinung bekannt. Sie läßt sich von vielen Seiten her betrachten und durch viele 2 Die oben erwähnte Abhandlung Andr6 Gardots über Bodin und das Völkerrecht krankt an einem unkritischen und unhistorischen Verständnis des „droit international" und ist deshalb für unser Thema nur wegen ihres Materialreichtums wertvoll.
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Daten periodisieren. Sie setzt in dem hier von uns ins Auge gefaßten Zeitabschnitt, der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts, mit den ersten, freilich entscheidenden Anfängen ein und vollendet sich erst ein und zwei Jahrhunderte später. Insbesondere wird die Entwicklung zur territorialen, mit scharfen Lineargrenzen gegen den Nachbarstaat abgeschlossenen Staatlichkeit erst durch die Französische Revolution von 1789 restlos zu Ende geführt. [9] Vorher, besonders noch im 16. und 17. Jahrhundert, ist der neue, spezifisch staatliche Begriff der Grenze noch undeutlich und sind die Grenzen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich oder zwischen England und Schottland vorläufig noch mehr als „border", als Kampfzonen und nicht als moderne Demarkationslinien anzusehen. Trotzdem beginnt schon mit dem Souveränitätsbegriff das, worauf es ankommt: der souveräne Staat ist nicht nur der neue, die mittelalterliche Reichs- und Gemeinschaftsordnungen beseitigende Ordnungsbegriff im allgemeinen, er ist vor allem auch der neue /tawmordnungsbegriff. Und zwar ist er nicht irgendeine neue, vorangehende Ordnungsvorstellungen ablösende Ordnung. Das Wesentliche ist vielmehr, daß er die neuen Raumordnungsvorstellungen in dem geschichtlichen Augenblick bestimmt, in dem eine große und bisher beispiellose planetarische Raumrevolution ihre ersten weltpolitischen und völkerrechtlichen Auswirkungen zeigte. Die Veränderung des planetarischen Erd- und Weltbildes, die durch die Umseglung der Erde und durch die Entdeckung eines neuen Erdteiles eintrat, begann alle bisherigen Verhältnisse zu verwandeln. Alle geistigen Strömungen dieser Zeit tragen zur Raumrevolution bei: Renaissance, Reformation, Humanismus und Barock. Die großen mathematischen, mechanistischen und physikalischen Entdeckungen und die Veränderungen am astronomischen und kosmologischen Weltbild setzen sich erst im 17. Jahrhundert durch. Aber die europäische Menschheit macht sich schon jetzt im 16. Jahrhundert daran, die politischen Folgerungen daraus zu ziehen, daß sich eine neue Welt eröffnet hat und daß neue Grundlagen der Weltordnung gelegt werden müssen. Die philosophischen und naturwissenschaftlichen Vorkämpfer der Raumrevolution, Giordano Bruno und Galilei, werden jetzt auch politisch verfolgt und fallen der Zensur und der Inquisition zum Opfer, während Kopernikus wenige Jahrzehnte vorher mit seiner Entdeckung noch unangefochten blieb. Aber für ihn war auch, zum Unterschied von Giordano Bruno, die Welt noch begrenzt und keineswegs unendlich. Jetzt dagegen, mit der Entstehung des neuen planetarischen Erdbildes, öffnet sich der unbegrenzte, unbegrenzbare, unendliche Weltenraum. In dieser Raumrevolution liegt die „Modernität" des 16. Jahrhunderts. Sie liegt nicht in den Renaissanceanklängen an individualistische Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts, die den Wirtschaftshistoriker und Professor der Sorbonne Henri Hauser veranlaßt haben, das 16. Jahrhundert sogar als eine „prefiguration" des 20. Jahrhunderts hinzustellen, obwohl es in anderer Hinsicht noch tief im Mittelalter steckt3. Der französische Staat findet die ersten, auch begrifflich klaren Ansätze zu der inneren Form, die ihn für lange Zeit zur führenden Macht des europäischen 3 Henri Hauser, La Modernitö du X V I e sifccle, Paris 1930.
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Kontinents gemacht hat. Er wird für lange Zeit der Staat schlechthin. Die Formeln seiner Staatlichkeit werden Rechtsbegriffe in diesem Bereich menschlichen Bewußtseins; seine Sprache wird die Sprache des diplomatischen und völkerrechtlichen Verkehrs der europäischen Völker. Die Lehre von den natürlichen Grenzen kann mit großem Erfolg als Ordnungsnorm Europas aufgestellt werden.[10] Damit liefert er aber auch einen wichtigen Maßbegriff der neuen Raumordnungsvorstellung. Das vom französischen Staat her gewonnene Maß ist groß und sogar großartig im Verhältnis zu der grauenhaften Enge und Kleinräumigkeit der Staaten italienischer Stadttyrannen und Condottieri. Aber es ist doch bescheiden und eng, gemessen an der unendlichen Weite des in diesem Jahrhundert sich eröffnenden, neuen planetarischen Weltbildes. Denn dieser Begriff des souveränen Staates war, unter den Gesichtspunkten einer Raumordnung gesehen, eine land- und erdgebundene Vorstellung. Er war ein kontinentalstaatlicher Begriff. Er stellte nur eine der vielen Auswirkungen der großen Raumrevolution dieses und des folgenden Jahrhunderts dar. Er erfaßte vor allem nicht die andere, weitaus größere Seite, er traf und betraf nicht das Meer. Hier, von der Meeresseite her, erscheint das Gegenteil der spezifisch staatlichen, geschlossenen und begrenzten Raumvorstellung. Hier wird das freie, d. h. das von einer staatlichen Raumordnung freie, nicht von staatlichen Grenzen durchzogene Meer die maßgebende Raumvorstellung der Weltpolitik und des Völkerrechts. Auch die Entwicklung zur Meeresfreiheit braucht, bis sie zur praktischen wie zur begrifflichen Klarheit und zu eindeutigen Formeln gelangt ist, noch mehrere Generationen Zeit. Sie wird in ihrem heutigen Sinne erst im 18. Jahrhundert handgreiflich. Die genauere Bestimmung der Linie, an der die Küstenzone aufhört und das freie Meer beginnt, entwickelt sich erst im 18. Jahrhundert. Eigentlich ist es erst Pufendorff, dem es (1672) zum wissenschaftlichen Bewußtsein kommt, daß die Weltozeane doch etwas anderes sind als die europäischen Meeresbecken, an die die bisherige Jurisprudenz meistens dachte, wenn sie das Problem des Meeres mit Hilfe römisch-rechtlicher Formeln erörterte. Erst mit Bynkershoek (1703) siegt die schon früher gelegentlich geltend gemachte Vorstellung, daß die staatliche Souveränität des Uferstaates sich so weit ins Meer hinein erstreckt, wie die Waffen tragen (ubi finitur vis armorum). Und erst mit einer Schrift von Galiani aus dem Jahre 1782 steht die berühmte Drei-Seemeilen-Grenze des Küstenmeeres fest 4 .[ll] 4 Pufendorf, De jure naturae et gentium, 1672, IV, 5, S. 9 [Ndr. in den „Classics", ed. H. Simons, 2 Bde., 1934 - G. M.]; Bynkershoek, De dominio maris, 1703 [Ndr. in den „Classics", 2 Bde., ed. J. Brown Scott, 1923 - G. M.]; F. Galiani, Dei doveri dei principi neutrali verso i principi guerregianti, e di questi verso i neutri, 1782. Zur Geschichte der Doktrinen über die Freiheit der Meere: G. Gidel, Le Droit International de la mer, I, 1932, S. 123 ff.; P. B. Potter, The freedom of the sea in history, law and politics, 1924; Tk W. Fulton, The sovereignty of the sea, Edinburgh/London 1911 (eine historische Studie über die Bestrebungen Englands, das britische Meer zu beherrschen und über die Entwicklung der Territorialgewässer unter bes. Berücksichtigung der Fischereirechte und des „naval salute"). Über Grotius und sein Buch „Mare liberum": W. S. Knight, The life and works of Hugo Grotius, Nr. 4 der Publikationen d. Grotius-Society, London 1925.
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Der Kampf um die Weltozeane setzt mit großer Kraft bereits in dem hier in Betracht kommenden Zeitabschnitt, in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein, als der Kampf Frankreichs, Hollands und Englands gegen die Monopolansprüche der spanischen und portugiesischen Seeherrschaft begann. So kommt es zu einer nach Land und Meer ganz entgegengesetzten, zwischen Geschlossenheit und Offenheit polaren Entwicklung der Raumordnungsbegriffe. Das feste Land wird Staatsgebiet, das Meer bleibt frei, d. h. staatsfrei, nicht Staatsgebiet. Es bildet sich der erstaunliche Dualismus des europäischen Völkerrechts der letzten Jahrhunderte. Die übliche, unterschiedslose Bezeichnung „Völkerrecht" ist falsch und irreführend, da hier in Wirklichkeit zwei zusammenhanglose Völkerrechte nebeneinander gelten. Eine europazentrische Weltordnung entsteht, aber sie bricht sofort nach Land und Meer auseinander. Das Land ist aufgeteilt in territorial geschlossene Staatsgebiete souveräner Staaten, das Meer dagegen bleibt staatsfrei. Was bedeutet das in einem zwischenstaatlichen Völkerrecht, dessen alles beherrschender Ordnungsbegriff der Staat ist? Es kennt keine Grenzen und wird ein einziger, ohne Rücksicht auf geographische Lage und Nachbarschaft einheitlicher Raum, der sowohl für den friedlichen Handel wie gleichzeitig aber auch für die Kriegführung aller Staaten unterschiedslos „frei" sein soll. Zwei derartig verschiedenen Raumvorstellungen von Land und Meer müssen zwei völlig verschiedene Völkerrechtsordnungen entsprechen, ein Völkerrecht des Meeres und ein ganz anderes des Landes. Jedes hat einen eigenen, von dem des anderen völlig verschiedenen Kriegs- und Feindbegriff. Zu Lande wird der Staat zum einzigen normalen Subjekt des Völkerrechts, daher zum einzigen Träger der Ordnung, des Fortschrittes und der Humanisierung. Der Landkrieg insbesondere wird dadurch verrechtlicht, daß er zu einem Staatenkrieg, d. h. zur bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den staatlichen Armeen der Kriegführenden wird. Alle Rationalisierung, Rationierung im Sinne der Parzellierung und Vermeidung der Totalität des Krieges liegt für den Landkrieg darin, daß er in immer schärferer Zuspitzung zu einem zwischen- staatlichen, von staatlich organisierten Armeen geführten, die Zivilbevölkerung und das Privateigentum verschonenden, reinen Staatenkrieg wird. Der Seekrieg dieser Völkerrechtsordnung dagegen ist kein Kombattantenkrieg, sondern beruht auf einem totalen Feindbegriff, der sowohl jeden feindlichen Staatsangehörigen wie auch jeden, der mit dem Feinde Handel treibt und die Wirtschaft des Feindes stärkt, als Feind behandelt: Für diesen Krieg wird unbeirrt daran festgehalten, daß das Privateigentum des Feindes Gegenstand des Seebeuterechts bleibt, daß mit dem völkerrechtlich anerkannten spezifisch seekriegsrechtlichen Mittel der Blockade unterschiedlos die gesamte Bevölkerung des blokkierten Gebietes getroffen und mit Hilfe des anderen, ebenfalls völkerrechtlich anerkannten, ebenfalls spezifisch seekriegsrechtlichen Mittels, des Prisenrechts, sogar das neutrale Privateigentum erfaßt werden kann. Zwei derartig verschiedene Kriegs- und Feindbegriffe lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Begriff bringen. [12] Und die Verschiedenheit der Kriegsbegriffe gibt auch dem zwischen den Kriegen liegenden Frieden von selbst einen verschiedenen Inhalt. So ist es nicht
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zuviel gesagt, wenn wir hier feststellen, daß hinter den üblichen Formeln und Redewendungen von „dem" Völkerrecht zwei total verschiedene Völkerrechtsordnungen, zwei unvereinbare Welten entgegengesetzter Rechtsbegriffe stehen. Der Gegensatz zweier Völkerrechtsordnungen ist aber nur ein Ausdruck des Gegensatzes zweier verschiedener Gesamthaltungen, denen verschiedene Geschichtsbilder, verschiedene Entwicklungsvorstellungen, verschiedene Humanitätsbegriffe und -ideale entsprechen. Er ist nicht etwa nur der Gegensatz von zwei verschiedenen moralischen Haltungen, wie der von offener Machtstaatlichkeit und ethischrechtsstaatlich sich verschleierndem Weltherrschaftsanspruch, wie er in Mr. Eyre Crowes oft zitierter Denkschrift vom 1. Januar 1907 einen klassischen Ausdruck gefunden hat und wie ihn uns Gerhard Ritter neuerdings als den Gegensatz von Machiavelli und Morus, von staatlichem und insularem Denken dargelegt hat5.[13] Es ist in der Tat der totale Gegensatz von zwei beziehungslosen Welten. Ich meine damit nicht etwa nur ein Beispiel des alten Kampfes einer Landmacht gegen eine Seemacht oder einer Seemacht gegen eine Landmacht. Es gehört zum ältesten Bestand menschlicher Geschichtsdeutung, in dem Gegensatz von See- und Landmächten eine Urtatsache, einen Motor und Hauptinhalt der Weltgeschichte zu sehen: la mer contre la terre. 6[ 14] Populäre Vergleiche sprechen vom Kampf des Walfisches mit dem Bären, mythische Bilder von dem des Leviathan mit dem Behemoth. Selbstverständlich lassen sich viele Parallelen aus den Kriegen zwischen Athen und Sparta, Karthago und Rom auch für die Kriege Englands mit den europäischen Kontinentalstaaten, mit Spanien, Frankreich und Deutschland aufweisen. Derartige Parallelen und Analogien sind für die geschichtliche Erkenntnis wertvoll, aber sie erschöpfen das Wesentliche nicht. Ranke hat in seiner Französischen Geschichte gesagt, daß Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert ohne den Gegensatz zur spanischen Monarchie so wenig verstanden werden kann, wie im Altertum Athen ohne Sparta nicht zu denken ist.[15] Das betrifft aber nur ein Übergangsstadium der Gesamtentwicklung, die in dem Gegensatz von Land und See ihren Kernpunkt hat. Spanien konnte sich trotz seines überseeischen Besitzes nicht als Seemacht halten, und Frankreich hat sich, indem es den Raumordnungsbegriff der souveränen Staatlichkeit fand und vollzog, für das Land entschieden. Die große geschichtliche Entscheidung dieser Zeit gipfelte in der Alternative zwischen der Welt des Meeres und der Welt des Landes, wie sie in solcher Gegensätzlichkeit und Tiefe bisher niemals in der Weltgeschichte auftreten konnte. Denn der Gegensatz von Land und Meer erscheint jetzt zum ersten Male in der Weltgeschichte nicht mehr in dem Aspekt des Kampfes um ein Meeresbecken wie das Mittelmeer, sondern in dem gewaltigen Horizont des planetarischen Bildes der Erde und der Welt-
5 Gerhard Ritter, Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht, München/Berlin 1940. Über das Memorandum Eyre Crowes ebd., S. 68 ff. 6 Einem Kenner der Kriegswissenschaft wie dem französischen Admiral Castex diente diese Formel als Ausgangspunkt seiner strategischen Doktrin sowie als Titel des letzten, fünften Bandes seiner „Theories stratägiques", Paris 1935.
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ozeane. Er ist in dieser Tiefe überhaupt erst nach der Vollendung des planetarischen Weltbildes, also erst seit dem 16. Jahrhundert, möglich geworden. Er steht, zum Unterschied von allen in Betracht kommenden Präzedenzfällen, wie AthenSparta oder Karthago-Rom, im 16. und 17. Jahrhundert in den ganz anders gearteten Horizonten einer planetarischen Raumrevolution. Nicht Frankreich und nicht Holland, die beide im ersten Jahrhundert des Kampfes mit Spanien in der Führung zu liegen schienen, haben die große und planetarische Entscheidung für die Weltozeane durchgesetzt, sondern England. Die kühnen Seefahrertaten aller europäischen Völker wurden Englands Gewinn. Die alte englische Prophezeiung aus dem 13. Jahrhundert hat sich erfüllt: „Die Kinder des Löwen werden verwandelt werden in Fische der See"7. Um den eigentlichen Inhalt und die volle geschichtliche Tragweite dieser Wandlung zu erkennen, ist es notwendig, zuerst die aktiv vorstoßende Gruppe ins Auge zu fassen. Wer waren die Menschen, die die Entscheidung für das Meer bewirkt haben, die eigentlichen Träger dieser Vermählung Englands mit den Weltozeanen? Man kann nicht sagen, daß die englische Politik, die englischen Könige und Staatsmänner ihrer Zeit ein geschichtliches Bewußtsein dieses erstaunlichen Vorganges gehabt hätten. Die offizielle englische Politik des 16. und 17. Jahrhunderts hat nach vielen Seiten laviert. Sie bietet keineswegs das Bild einer klaren, der neuen raumrevolutionären Wendung bewußten Entscheidung für die See gegenüber dem Land. Sie versucht selbstverständlich, jeden Vorteil auszunutzen und jede Position zu halten. Sie war aber in nichts „moderner" als irgendeine andere damalige Regierung eines größeren europäischen Landes. So wie England erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine endgültige Entscheidung gegen den Absolutismus gefunden hat, so hat es sich auch in dem großen weltanschaulichen Kampf zwischen Weltprotestantismus und Weltkatholizismus erst allmählich und nicht mit weltgeschichtlichem Bewußtsein religiös entschieden. Die Wendung kam langsam, ohne eigentlich religiösen Entschluß. Der Regierung der Königin Elisabeth konnte noch ein Jahrhundert katholisierender Stuarts folgen. Religiöser Fanatismus breiter Massen tritt erst in der puritanischen Revolution zutage. Das Endergebnis auf religiösem Gebiete war Toleranz und Gewissensfreiheit. Mittelalterliche Einrichtungen wurden weit konservativer als auf dem Kontinent beibehalten. Ein wichtiger Teil des kolonialen Erwerbes in Amerika ist als feudalrechtlich gedachte Landverleihung vor sich gegangen. Ein aus dem Mittelalter überkommenes Parlament hat nach vielen Schwankungen seine Macht behauptet. Der Dezisionismus, besonders der Dezisionismus juristischer Prägung, der dem französischen Staat und dem französischen Geist so gemäß ist, fehlt hier ganz. So ist auch in der Frage der Freiheit der Meere die englische Haltung zunächst ohne bewußtes Prinzip. Tudors wie Stuarts haben sich ohne Unterschied an den von ihren Korsaren erbeuteten spanischen Schätzen ebenso bereichert wie ihr ganzes Volk. Die Königin Elisabeth steht 7
Percy Ernst Schramm, Geschichte des englischen Königtums im Lichte der Krönung, 1937, S. 124. [Vgl. S. 397].
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mit ihrer großen Außenpolitik in dieser Hinsicht nicht anders da, wie mit ihrer kleineren Hauspolitik die ehrenwerte Lady Killigrew, die von ihrem Hause in Arwenack aus als gastfreundliche Helferin mit dunklen Ehrenmännern und echten Piraten große und gewinnreiche Geschäfte betrieb 8. Die ganze Familie Killigrew ist ein herrlicher, typischer Fall und für die geschichtliche Wirklichkeit Englands in diesem Zeitabschnitt aufschlußreicher als viele amtlichen Proklamationen und Deklarationen. Die Sprache und die Argumentationen der offiziellen Erklärungen der Königin Elisabeth gegenüber Spanien und Portugal bleiben ganz in den alten römisch- und naturrechtlichen Geleisen und sind in keiner Weise originell. Sie kommen über naturrechtliche und römisch-rechtliche Formeln, wie sie schon die spanischen Scholastiker kennen und wie sie von den Franzosen bereits seit einem Menschenalter vorgebracht worden waren, nicht hinaus. Wenn die englische Königin z. B. im Jahre 1580 dem spanischen Gesandten erklärt, Meer und Luft seien frei für den Gemeingebrauch aller Menschen, so ist das in der Denk- wie in der Sprechweise völlig dasselbe wie zahlreiche ähnliche Aussprüche französischer Könige aus dem 16. Jahrhundert über das allen Menschen und Nationen gemeinsame Meer, das alle befahren dürfen 9. Ebensowenig kann man sagen, daß die Argumentationen englischer Autoren in dem hundertjährigen „Bücherkrieg" (wie Nys ihn nennt) über Freiheit oder Geschlossenheit des Meeres ausschlaggebend oder führend gewesen sind. [16] Lange vor diesen Kontroversen liegt freilich ein eigentümliches, geniales Werk, die Utopie des Thomas Morus. Sie ist ein bedeutender Fall für sich. Darin, daß eine phantastisch neue, negative Raumvorstellung und ein Wort wie „Utopie" möglich war, kündete sich schon die abgründige Raumrevolution an, die im 16. Jahrhundert die Geister und Gemüter großer europäischer Denker beherrschte. [17] Aber die Schrift des Thomas Morus liegt mit dem Druckjahr 1516 fast zwei Generationen vor dem Zeitabschnitt, den wir hier im Auge haben. Man kann sie als große Leistung anerkennen und ihren von Gerhard Ritter mit Recht hervorgehobenen Symptomwert gelten lassen, aber sie betrifft nicht das konkrete völkerrechtliche Problem der Meeresfreiheit. Sie war das geistige Anliegen einiger humanistisch gebildeter Geister und ist gerade in ihrer Art Geistigkeit von den Schriften, die englische Autoren des 17. Jahrhunderts zu dem praktischen Problem der Meeresfreiheit geschrieben haben, in jeder Hinsicht grundverschieden. In dieser langen Auseinandersetzung, die im 17. Jahrhundert über die Frage der Meeresfreiheit geführt wurde, haben die englischen Autoren meist nach zwei Seiten gekämpft, indem sie einerseits die allgemeine, naturrechtlich bereits von Vitoria vertretene Freiheit des Handels, [18] das liberum commercium und die libera mercatura gegenüber den Monopolansprüchen der Spanier und Portugiesen für sich geltend machten, während sie
8 Siehe die lebhafte Darstellung bei Philip Gosse, The history of piracy, London 1932, S. 108 ff. [Vgl. a. Schmitt, Land und Meer, 3. Aufl. 1981, S. 45 ff. - G. MJ. 9 Adolf Rein, Der Kampf Westeuropas um Nordamerika im 15. und 16. Jahrhundert, Stuttgart/Gotha 1925, S. 129 f.
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gegenüber den Holländern die England benachbarten Meere, die „narrow seas", als englisches Dominium in Anspruch nahmen. Für die bisher übliche Auffassung gilt der Holländer Hugo Grotius mit seiner 1609 anonym erschienenen Schrift „Mare liberum" als der erste Herold der Meeresfreiheit. Die Schrift ist ein Kapitel aus einem 1605 geschriebenen, aber erst im 19. Jahrhundert, 1868, gedruckten größeren Werk, „de jure praedae". Neuere Untersuchungen haben ergeben, wie sehr Grotius einmal von der Schrift „de jure belli" des Albericus Gentiiis abhängig ist und außerdem die Argumente spanischer Scholastiker zum Recht des liberum commercium wiederholt 10. [19] An das Weltmeer als ebenso freien Weltschauplatz der Seekriegsführung denkt er noch nicht. Das, was als Ergebnis weltpolitischer Entwicklung der Meeresfreiheit seit dem Utrechter Frieden von 1713 eintrat, stellt jedenfalls ein anderes Bild dar, als es die gutgemeinte Schrift des Holländers aus dem Jahre 1609 im Auge hatte. Immerhin hat der Titel „Mare liberum" wie ein Signal gewirkt. Die berühmte, von den meisten Engländern, von den Stuarts wie von Cromwell, übrigens auch von Hobbes, anerkannte Gegenschrift gegen Grotius, die Abhandlung des Engländers John Seiden, „Mare clausum" (1617/18 geschrieben, 1635 erschienen), bestätigt dagegen, wie sehr die ganze Erörterung des Problems damals noch unter überlieferten Gesichtspunkten stand und man weder die Insel als Metropole eines auf dem Meere errichteten Weltreiches, noch das planetarische Weltbild der Erde im Auge hatte.[20] Diese Engländer des 17. Jahrhunderts interessieren sich hauptsächlich für Fragen der England benachbarten Meere, der Nordsee (des „oceanus germanicus"), des Kanals, des Golfes von Biscaya usw. Die Streitigkeiten der Nordseefischer bilden ein wichtiges Problem. Eine der Hauptkontroversen ist der englische Anspruch auf den „Naval Salut", den Salut, den Schiffe anderer Nationen englischen Schiffen in den England umgebenden Meeren schuldig sind. Der erste englische Autor, der den inneren Widerspruch zwischen solchen traditionellen englischen Forderungen und der neuen Entwicklung zu einer im Namen der Meeresfreiheit ausgeübten Herrschaft über die Weltozeane wirklich bemerkte, scheint Sir Philip Meadows gewesen zu sein. Seine „Observations concerning the Dominion and Sovereignty of the Seas", erschienen 1689, sind die erste englische Schrift, in der das im 18. Jahrhundert, nach dem Utrechter Frieden, entstehende neue Bild der Meeresfreiheit bereits sichtbar wird.[21] Als die Schrift Meadows' erschien, war die Entwicklung schon so weit vorwärts getrieben, daß wenige Jahre später mit dem Utrechter Frieden die neue, bis ins 20. Jahrhundert hinein maßgebende Vorstellung von der Meeresfreiheit als Freiheit nicht nur des Handels, sondern auch der Seekriegsführung offensichtlich wurde. Man darf sich also durch Buchtitel über „Freiheit" oder „Geschlossenheit" der Meere nicht täuschen lassen. Unter solchen Titeln werden in weitem Umfang alte, lokale oder regionale Fragen europäischer Meeresbecken behandelt, insbesondere Fragen der Fischerei, und auch diese nicht etwa unter dem Horizont des großen, über die Weltozeane sich erstreckenden
io Siehe Knight, Fn. 4, S. 92 ff.
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Walfanges, sondern der holländischen, schottischen, norwegischen Küstenfischerei. Das, was für unser Interesse das eigentliche völkerrechtliche Problem der Meeresfreiheit ist, die Rechte der Neutralen gegenüber den seekriegführenden Mächten im Seekriege, d. h. die schwierige und im Grunde unlösbare Frage, wieso ein und dieselbe Fläche des freien Meeres gleichzeitig Schauplatz des freien und friedlichen Handels und ebenso Schauplatz der Kriegführung sein soll, kommt den meisten dieser Broschüren noch nicht zum Bewußtsein. Für eine weltgeschichtliche Betrachtung dagegen handelt es sich nicht mehr um die lokalen oder regionalen Fragen der Nordsee, Ostsee oder des Kanals, sondern um die unter einem planetarischen Gesichtspunkt getroffene Weltentscheidung zwischen Land und Meer, zwischen Festland und Weltozeanen. Weder die englische Regierung noch die im „Bücherkrieg" über die Meeresfreiheit das Wort nehmenden englischen Autoren haben die Wendung zum Meer durchgesetzt. Weder die politische noch die geistige Führung Englands kann sich einer solchen Leistung rühmen. Ein ganz anderer Typus erscheint jetzt auf der Bühne der Weltgeschichte. Verwegene und gefährliche Männer der Tat, kühne Seefahrer und Freibeuter des 16. und 17. Jahrhunderts vollziehen die Vermählung Englands mit dem Meer. Aus der Kraft des englischen Volkes wurden plötzlich neue Energien entfesselt. Sie stürzen sich auf den Ozean. Für sie ist der Reichtum der spanischen und portugiesischen Schiffe und Kolonien nur eine Gelegenheit zu guter Beute. Von ihnen sagt der englische Autor eines wenig systematischen, aber materialreichen Buches über die Geschichte der Piraterie: „Sie haben ein armes Land reich gemacht; aber sie haben auch, was viel wichtiger ist, eine Rasse zäher und fester Seemänner (a race of tough seamen) heraufgeführt, die England aus seiner Not rettete, seinen schlimmsten Feind niederwarf und England zur stolzen Herrin der Meere machte."11 Spanien betrachtete und behandelte sie selbstverständlich als Piraten. Aber die Bezeichnung „Piraten" ist zu summarisch. Im 16. und 17. Jahrhundert gilt die Beteiligung Privater am Kriege noch als etwas Selbstverständliches. Der Krieg ist noch nicht Staatenkrieg geworden, und Grotius betrachtet die Teilnahme Privater am Krieg noch als ein natürliches Recht. [22] In dieser Übergangszeit des Weltkampfes zwischen Katholizismus und Protestantismus verwischen sich sowohl die Grenzen zwischen organisierter Gemeinschaft und einzelnem wie auch die zwischen Krieg und Frieden, damit aber auch die Grenzen zwischen Piraterie und Krieg. Deshalb betrifft die Geschichte der Seeräuberei des 16. und 17. Jahrhunderts eine andere Art von Seeräuberei als die früherer oder späterer Zeiten, sei es der Antike, des Mittelalters, der Barbaresken des Mittelmeers oder der chinesischen Piratendschunken des 19. und 20. Jahrhunderts. Vor allem ist die Lage des 17. Jahrhunderts in dieser Hinsicht von der des folgenden 18. und 19. Jahrhunderts ganz verschieden. Die Friedensschlüsse von Ryswik (1697) und Utrecht (1713) machen hier einen tiefen Einschnitt. Mit ihnen hört der vorangehende Zwischenzustand in der Hauptsache auf und tritt das europäische Völker-
Philip Gosse, Fn. 8, S. 114.
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recht in die Epoche der sich vollendenden Zwischenstaatlichkeit ein. Der Krieg wird immer deutlicher Staatenkrieg, und auch England räumt mit den privaten Beutemachern auf, soweit sie nicht die Rechtsform konzessionierter Handelskompagnien angenommen haben. Nach dem Ryswiker Frieden werden die Freibeuter zu Tausenden brotlos und sinken ins bloße Verbrechertum ab. Von einzelnen seltenen und seltsamen Ausnahmen, wie dem auf Madagaskar seine humanitären Ideen verwirklichenden Franzosen Misson abgesehen,[23] wird der Pirat jetzt ein elender, krimineller Typ, den nur noch eine ahnungslose Art von Romantik poetisch finden kann. Die sog. Seeräuberstaaten Algier, Tunis und Tripolis leben nur noch von der Rivalität der europäischen Seemächte, im übrigen wird deren Seepolizei und maritime Justiz jetzt mühelos mit den Piraten fertig, und es scheint diesen armseligen Teufeln etwas viel Ehre angetan, wenn man sie als Feinde des Menschengeschlechts, als hostes generis humani ächtet.[24] Die Freibeuter, die im 16. und 17. Jahrhundert am Kampf gegen die katholische Weltmacht Spanien teilnahmen, lebten in diesem Zwischenzustand zwischen staatlich und privat und zwischen Krieg und Frieden. Es liegt mir fern, sie zu glorifizieren, aber als geschichtliche Erscheinung waren sie tatsächlich etwas anderes als die kriminellen Untermenschen, die unter der gleichen Kategorie „Piraten" zusamengefaßt werden. Der Seeräuber hat nach der üblichen Definition völkerrechtlicher Lehrbücher keinen politischen Feind, er plündert unterschiedslos Schiffe aller Nationen, weil ihn kein anderes Motiv als niedrigste Gewinnsucht treibt, er hat die Gesinnung eines gemeinen Diebes, den „animus furandi". Die Seefahrer der hier interessierenden Art dagegen hatten sehr wohl einen politischen Feind; sie nahmen, soweit sie überhaupt geschichtliches Interesse verdienen, in einem großen weltgeschichtlichen Kampf durchaus Partei und standen in der großen hugenottisch-holländisch-englischen Front des Weltprotestantismus gegen den spanischen Weltkatholizismus. Von ihnen sind viele, besonders die elisabethanischen Korsaren, wie Drake, Hawkins, Grenville, Frobisher, Cumberland, berühmte Namen geworden. In diese Reihe gehören aber auch viele andere, mannigfaltige und bunte Gestalten, wie die Rochellois, hugenottische Seegeusen, die von La Rochelle aus katholische Schiffe kaperten, bis sie 1573, als sie der Königin Elisabeth unbequem wurden, besiegt und aus dem Kanal vertrieben wurden; später die jakobitischen Piraten, unter ihnen der Kapitän Mainowaring, der, 1616 von Jakob I. begnadigt, als Mitglied des Parlaments und Kommandant von Dover starb; dann die Buccaneers, die „Brüderschaft von der Küste", Franzosen und Engländer, die in Westindien vom Karibischen Meere aus, die spanische Blockade und das spanische Handelsmonopol brachen und deren letzte berühmte Tat die mit der königlich-französischen Rotte gemeinsam unternommene Eroberung von Cartagena (1697) war. Auch sie können auf viele Namen hinweisen, wie die französischen Calvinisten Levasseur, Legrand, Lolonois und den berühmtesten unter ihnen, Sir Henry Morgan, der 1671 Panama plünderte, als Gefangener nach England gebracht wurde und, von Jakob II. in den Ritterstand erhoben, als königlicher Statthalter nach Jamaika zurückkehrte. Dazu kamen noch andere „Kinder der See", insbesondere die
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fabelhaften Walfischjäger. Ihre Leistung war eine bisher unbekannte Steigerung der Kunst der Navigation. Ihr Werk war die Vermählung menschlicher und politischer Existenz mit dem neuen Element, dem Weltozean. Sie alle, Engländer wie Holländer und Franzosen, wurden von England beerbt. Welchen Namen soll man ihnen geben und unter welcher Bezeichnung faßt man sie am besten zusammen? Der in diesen weltgeschichtlichen Kampf sich einschaltende, verwegene Seefahrer hatte meistens einen staatlichen Auftrag, eine „commission" seiner Regierung, einen Kaperbrief, eine „lettre de marque". Er war also, völkerrechtlich gesehen, Korsar und nicht Pirat. Freilich war diese „Commission" oft sehr unklar und vage, und mit der dokumentarischen Echtheit wurde es auch nicht immer sehr pedantisch genommen. Mancher hatte Kommissionen von Regierungen, die nichts von ihm wußten. Außerdem behielten sich die Regierungen vor, derartige Freibeuter, auch wenn man ihre Dienste und Geschenke angenommen hatte, je nach der außenpolitischen Lage jederzeit fallen zu lassen. Die Regierungen ließen sich die erfolgreichen Mitkämpfer gern gefallen, aber die Ermutigung, die ihnen zuteil wurde, war inoffiziell. Um des Friedens mit Spanien willen wurden sie oft desavouiert und, wenn es sein mußte, auch gehängt. Sie handelten also im gefährlichsten Sinne des Wortes auf eigenes Risiko und führten den Krieg nicht staatlich sondern privat. Die beste Bezeichnung für sie ist daher der Name, den sie sich selber gaben: Privateers. Der Name ist auch deshalb vorzüglich, weil er erkennen läßt, daß man die heutigen, in einem Zeitalter ausgebildeter Staatlichkeit entstehenden Maße und Ideale von Krieg und Kriegertum nicht auf eine Zeit übertragen darf, die den Krieg noch nicht verstaatlicht hatte, sondern eine durch einen Kaperbrief des Königs ermächtigte Kriegführung freier Unternehmer als Rechtsinstitut ansah und insbesondere auch völkerrechtliche Repressalien dem privaten Unternehmer überließ. Von diesem „Privateer" aus wird das englische Weltbild am besten verständlich. Nur von ihm aus ist die konkrete weltgeschichtliche Entscheidung, die damals gefallen ist, sowohl in ihrer einmaligen geschichtlichen Besonderheit, wie auch in der Tragweite ihrer auf Jahrhunderte sich erstreckenden Auswirkungen am besten erkennbar. Nicht eine staatliche Organisation, sondern der Privateer war der geschichtliche Träger der Entscheidung für die See und gegen das Land. Er ist es, der eine weltgeschichtliche Entscheidung für das Element des Weltmeeres durchgesetzt hat, wie sie in diesen Dimensionen schon deshalb ohne Vorgang ist, weil es in der bisherigen Geschichte der Menschheit keine Vorstellung von Weltozeanen und kein planetarisches Weltbild gegeben hatte. Gegenüber dieser Entscheidung für das Meer als Element menschlicher und politischer Existenz sind die religiösen und konfessionellen Fronten und Fragestellungen sekundär. Jetzt erst bricht die europäische Welt und ihre völkerrechtliche Ordnung in zwei Teile nach Land und Meer auseinander. Die Wirkung der Entscheidung für das Meer liegt vor allem darin, daß sich Wesen und Substanz der Insel selbst wandeln und verändern. England wird jetzt ge-
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rade als Insel etwas anderes, als es Jahrhunderte und Jahrtausende vorher gewesen ist. Mit der Feststellung des insularen Charakters englischer Geschichte und englischen Wesens ist die Besonderheit dieser in der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts einsetzenden weltgeschichtlichen Wendung noch nicht vollständig erkannt. „Insel" im allgemeinen Sinne besagt noch nicht viel. Sizilien ist auch eine Insel, Japan, dessen Raumordnungsanspruch für das ostasiatische Festland der Dreimächtepakt vom 27. September 1940 anerkennt,[25] ebenfalls. England war jahrtausendelang eine Insel, zur Zeit Julius Cäsars wie zur Zeit Alfred des Großen, Wilhelm des Eroberers oder der Jungfrau von Orleans. England hat sich in diesen früheren Zeiten auch als Insel gefühlt, aber immer als eine Insel, die ein vom Festland abgesprengtes Stück dieses Festlandes blieb. Die Insel hörte nicht auf, ein Stück Festland zu sein. Man empfand das Meer als einen von der Natur geschaffenen Graben und die Insel infolgedessen als eine natürliche Festung und eine Wasserburg. Das ist noch ganz vom Lande aus gedacht. Ein gutes Beispiel ist das in diesem Zusammenhang mit Recht hervorgehobene, auch in Seidens Mare Clausum (II. Kap. 25) noch zitierte „Libell of Englishe Policye" aus dem Jahre 1435 / 36. Darin wird geschildert, daß England „the lordship of the sea" übernehmen und Dover, Calais, die flandrische Küste sowie die Herrschaft über die Seewege von Schottland bis Spanien und Preußen ergreifen soll, als eine Stadt, deren Schutzwall die See ist. „Keep them the sea about in special, The which of England is the round wall as Though England were likened to a city of which the wall environ was the sea." 12
Auch die englischen Siegel des Mittelalters unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der eigentlichen „Länder". Professor K. Ruppel, dem ich den Sinn für die Bedeutung der Siegel verdanke, hat mich darauf hingewiesen, daß England auch die für andere germanische Länder typische, ursprüngliche Teilung in vier Teile aufweist. Das alte englische Königssiegel stellte nach der Art anderer germanisch-christlicher Siegel den thronenden König dar und zeigte keinen spezifischen Bezug zum Meer. Ein von Cromwell 1651 „im dritten Jahr der wiederhergestellten Freiheit" geschaffenes Siegel zeigt dagegen das geographische Bild der Insel England (ohne Schottland) und daneben das der Insel Irland. Das insulare Lebensgefühl kann durchaus erd- und landhaft sein und ist das in England jahrhundertelang vor dem 16. Jahrhundert gewesen. Die Auffassung der Insel als einer vom Meer wie von einem Graben geschützten Burg kann sogar die territorialen Erd- und Landinstinkte konzentrieren und steigern und eine Art insularen Territorialismus hervorrufen. So erkläre ich es mir, daß unter den Völkerrechtsjuristen der letzten Jahrzehnte gerade ein Engländer, der auch in vielen anderen völkerrechtlichen Stellungnahmen sehr originelle T. Baty, das radikalste und empfindlichste Gefühl für die „absolute Heiligkeit des Territoriums" hat. Die territoriale Integrität ist für ihn so kompromißlos die Grundlage des heutigen Völkerrechts, daß er nur noch die 12 Abgedruckt bei Potter, wie Fn. 4, S. 248 f.
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Alternative zwischen bedingungsloser Achtung dieser Heiligkeit des Territoriums auf der einen und chaotischer Anarchie auf der anderen Seite gelten läßt. Jede gewaltsame Verletzung der territorialen Integrität bedeutet daher für ihn sofort Krieg, und Zwischenbildungen, wie „friedliche Repressalien" oder „friedliche Blockade der Küste", sind in seinen Augen eine einzige Lüge, die das ganze, auf der Unterscheidung von Krieg und Frieden aufgebaute Völkerrecht von Grund auf zerstören13.^] Gegenüber solchen Beispielen insularen Territorialismus ist es notwendig, sich wenigstens für einen Augenblick darauf zu besinnen, wie tief und selbstverständlich alle unsere Vorstellungen, die sich auf das Meer und die Probleme des Meeres beziehen, vom Lande her bestimmt sind. Wir sprechen vom Schiff auf hoher See als einem „schwimmenden Staatsgebiet", als „territoire flottant", und vom „territorialen Charakter" der Schiffe. Das ist typisch erd- und landbezogenes Denken, ebenso wie die Auffassung des Kriegsschiffes als einer „schwimmenden Festung". Auch in dem Wort See- oder Meeresstraßen ist die Übertragung vom Lande her erkennbar und eine territorial bestimmte Phantasie wirksam. Für die Luft sagt man schon nicht mehr Luftstraßen, sondern Luftverkehrslinien. Wenn für die Dreimeilen-Küstenzone geltend gemacht wird, daß im 18. Jahrhundert die Kanonenschußweite der Strandbatterien etwa drei Seemeilen war, so ist auch diese Berechnung vom Lande her gewonnen, und man darf nicht vergessen, daß es umgekehrt auch vom Meer ins Land hinein berechnete Zonen geben kann 14 . Der Blickpunkt vom Meer auf das Land ist aber nicht etwa nur für einzelne Landbeziehungen denkbar. Es ist dem Menschen möglich, auch grundsätzlich und im ganzen vom Meer und von der See her zu leben und zu denken. Ein Volk kann seine politische Existenz ganz in das Element des Meeres verlegen. Das ergibt natürlich ein politisch und geschichtlich völlig anderes Bild als die Existenz vom Lande her. Die Insel ist dann nicht mehr ein abgesprengtes Stück Land, sondern ein Teil oder sogar ein Produkt des Meeres, ein Schiff oder sogar ein Fisch, der große Walfisch, der Leviathan. Das berühmte Buch des Thomas Hobbes, das 1651 unter dem Titel „Leviathan" erschien, verwendet das Bild des großen Fisches unrichtig und irreführend für eine Staatskonstruktion, die sich nicht in England, sondern auf dem europäischen Festland verwirklicht hat 15 . Der „Staat" ist eine land- und erdräumliche Ordnung geworden, während das Meer gerade „frei", d. h. staatsfrei blieb. Das Buch müßte daher, wenn Hobbes wirklich mit den mythologischen Bildern der großen Tiere als Symbolen der Elemente Ernst gemacht hätte, nicht nach dem See13 Thomas Baty, International Law, London 1909, S. 246; ders., The canons of International Law, London 1930, S. 87 ff. 14 Vgl. das von Fritz Rörig, Reichssymbolik auf Gotland, Weimar 1940 (Auszug aus den „Hansischen Geschichtsblättern", Jg. 64), S. 7, gegebene Beispiel. Dort auch, im späteren Kapitel über das Recht auf Visby: Wer nahe der Küste einer Insel Anker wirft, darf, aufgrund der Nützlichkeit seiner Ladung, über 8 Spannen des Strandgebietes landeinwärts disponieren. 15 C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938 [Ndr. Köln-Lövenich 1982. - G. M.].
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tier Leviathan, sondern nach dem Landtier Behemoth heißen. Aus dem Behemoth hat Hobbes, im Gegensatz zum Leviathan als dem Symbol der staatlichen Ordnung, ein Symbol der Revolution zu machen versucht. Das ist, mythisch gesehen, ganz unmöglich. Hobbes ist eben auch insofern ein „Aufklärer", als ihm jeder mythologische Sinn fehlt. In seiner Eigenschaft als Engländer gehört er noch ganz zum terrestrischen, nicht zum maritimen Typus des Insulaners. Er ist keiner von den Engländern seines Zeitalters, die sich für das Element des Meeres entschieden haben und davon innerlich bestimmt und umgeprägt worden sind. Daher darf man nicht an ihn und seine Staatstheorie denken, wenn der Leviathan als Symbol des Meeres im Gegensatz zum Land zitiert wird. Als anschauliches Gegenbeispiel eines vom Meere her bestimmten Aspektes sei hier ein echter Fall maritimer Mythologie erwähnt, nämlich der erstaunliche Satz Burkes, der Spanien vom Meere aus sieht und sagt: „Spanien ist ein am Gestade Europas gestrandeter Walfisch."[27] Der Gegensatz von Meer und Land ist hier so groß, daß man, um eine solche meerbestimmte Sicht unseres Planeten richtig zu kennzeichnen, eigentlich nicht mehr von einem „Erdbild", sondern von einem ,,Meeres- oder Seebild" unseres Planeten sprechen müßte. Vielleicht klingt das auf den ersten Blick sonderbar und paradox. Aber es entspricht einer weltpolitischen und weltgeschichtlichen Wirklichkeit, die man sich erst einmal zum Bewußtsein bringen muß, um die letzen Jahrhunderte nicht nur der englischen, sondern auch der gesamteuropäischen und der Weltgeschichte von ihrer anderen, nämlich der Meeresseite her, zu verstehen und um zu wissen, was bisher europäisches Völkerrecht war. Das Land und alle Verhältnisse des Landes vom Meere her sehen, ist der elementare Gegensatz der räumlichen Vorstellungsweise, die den meisten von uns tief im Blut liegt und die es bewirkt, daß wir den Planeten, auf dem wir leben, völlig selbstverständlich und problemlos als „Erde" bezeichnen. Wir sprechen von dem „Erdball", wenn wir unseren Planeten meinen und fassen das Meer stillschweigend als einen Teil der Erde auf. Eine land- und erdbezogene Vorstellungsweise sucht die Ordnung des Meeres vom Lande her zu finden. Das andere, vom Meere her gewonnene planetarische Bild kann aber für sich geltend machen, daß die Fläche des Meeres weit größer ist als die des festen Landes. Der Mensch ist nun einmal ein Wesen, das seine Umwelt in weitem Maße frei bestimmen kann. Er hat „die Freiheit aufzubrechen, wohin er will". Er kann sich auch das Meer als den Raum seiner geschichtlichen Existenz wählen und versuchen, das Land vom Meere aus zu beherrschen, die Welt statt vom Lande vom Meere her zu ordnen. Unter diesem Aspekt beherrscht die See das Land und bestimmt sich die Ordnung des Landes vom Meere her. Das ist der fundamentale Gegensatz, den ich meine. Das ist es auch, was ein beherrschendes Seevolk unter der Freiheit der See versteht, und nur so darf man an das neuere völkerrechtliche Problem der Meeresfreiheit herangehen. Von ihm aus ist das Weltbild der europäischen Völker nach zwei entgegengesetzten Richtungen dualistisch auseinandergefallen. Daraus ergeben sich, wie oben schon erwähnt, die zwei entgegengesetzten moralischen Gesamthaltungen, zwei verschiedene Welt- und Geschichtsbilder und 27 Staat, Großraum, Nomos
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vor allem auch eine in zwei Teile auseinanderfallende völkerrechtliche Begriffswelt mit zwei verschiedenen Kriegs- und Feindbegriffen. Erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert hat sich England in seiner politischen Gesamtexistenz dem Festland gegenüber für diese vom Meere her bestimmte Weltordnung entschieden. Viele, oft erörterte und festgestellte Eigentümlichkeiten englischen Geistes und englischer Politik lassen sich unter diesem Aspekt am besten deuten. Vor allem die Tatsache, daß England kein „Staat" geworden ist, wie die Länder des europäischen Festlandes. England hat die typisch staatlichen Einrichtungen - stehendes Heer, staatliches Beamtentum, eine geschriebene Verfassung und die Verwandlung des ungeschriebenen Gemeinrechts in staatliche Gesetzeskodifikationen - nicht ausgebildet und ist ohne sie ausgekommen. Man sagt oft, die Insellage habe das stehende Heer, das staatliche Beamtentum, die geschriebene Verfassung ersetzt und überflüssig gemacht. Das ist richtig, aber noch nicht alles. Erst wenn der ungeheuerliche Gegensatz des englischen, von der See her gewonnenen Kriegsbegriffes gegenüber dem kontinentalen Staaten- und Kombattantenkrieg zum Bewußtsein gekommen ist, erkennt man die gesamte Bedeutung des Gegensatzes der Elemente, auf den es für unsere Betrachtung ankommt. In der üblichen Darstellung der völkerrechtlichen Lehrbücher wird die Tiefe eines derartigen Gegensatzes dadurch verschleiert, daß man zwischen „allgemeinem" und „partikulärem" Völkerrecht unterscheidet. [28] In Wahrheit ist es nichts „Partikuläres", sondern der höchste Ausdruck des englischen, vom „freien" Weltmeer her durchgesetzten Weltherrschaftsanspruches, daß es ihm gelungen ist, typisch englische Methoden des Seekrieges als allgemein anerkannte Regeln des Völkerrechts durchzusetzen. Ich habe bereits oben, zu Anfang meiner Ausführungen, auf die Unvereinbarkeit der beiden Völkerrechtsordnungen landbezogener Zwischenstaatlichkeit und meeresbezogener Freiheit, d. h. NichtStaatlichkeit, hingewiesen und brauche hier den tiefen Gegensatz der beiden Kriegs- und Feindbegriffe nicht weiter darzulegen. Aber ein Gedanke Gustav Ratzenhofers aus dem Jahre 1881, der in der völkerrechtlichen Erörterung bezeichnenderweise ganz unbeachtet geblieben ist, verdient doch besondere Erwähnung, weil er den Abgrund dieser Gegensätzlichkeit am besten zu erhellen vermag. Der große österreichische Lehrer der Kriegswissenschaft weist darauf hin, daß der Landkrieg vorwiegend den Raum, Landstrecken, Örtlichkeiten, der Seekrieg dagegen nicht den „Raum", sondern die Mittel des Verkehrs, welche meist beweglich sind, zum Opfer hat. Der Seekrieg der kontinentalen Staaten zielt daher vorwiegend entweder auf Landungen oder auf den Schutz der Küste hin. Der von England geführte Seekrieg dagegen hat einen wirtschaftlichen Beherrschungsraum im Auge und sucht die schwächere Seemacht zu zwingen, ihren Handel zu unterbrechen. Aus dieser völligen Verschiedenheit der Ziele, der Methoden und der rechtlichen Gesichtspunkte zieht nun Ratzenhofer einen Schluß, dessen ganze Bedeutung wohl erst heute, nach 60 Jahren, sichtbar wird. Er sagt nämlich, daß eine Seemacht, die das Eigentum anderer Staaten zur See nicht respektiert, nun auch nicht verlangen kann, daß
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nach einer etwaigen Landung das Eigentum auf ihrem Boden und bei ihren Bürgern respektiert werde 16.[29] Werfen wir zum Schluß einen Blick auf die wichtigsten politischen Auswirkungen und diejenigen charakteristischen Züge der englischen Gesamthaltung, die ihre Erklärung in jener „Vermählung mit dem Meere" finden. Das sind vor allem: der unstaatliche Societycharakter der englischen Herrschaft, das Überwiegen „indirekter" Herrschaftsmethoden und schließlich das, was ich als die „Entankerung" der Insel bezeichnen möchte. 1. Das auf die See zum Unterschied vom Lande gestützte britische Weltreich ist nicht das Werk staatlicher Organisation und auch als Ganzes keine staatliche Organisation. Weder als Staatenbund noch als Bundesstaat ist dieses Empire zu definieren. Alle Übertragungen von landbezogenen Begriffen, alle um die Begriffsachse „Staat" konstruierten Systeme müssen hier scheitern. Privateers, Handelskompagnien, merchant-adventurers, puritanische Auswanderer haben dieses überseeische Reich geschaffen, ohne Staat und sogar gegen das, was im Laufe der Zeit auch in England an Ansätzen zur Staatlichkeit hervorgetreten ist. Mit großem Selbstbewußtsein ist dieser Sachverhalt von einem Engländer während des Weltkrieges 1916 in einem bedeutenden Satz ausgesprochen worden. Der Ausspruch verdient zitiert zu werden, weil er sowohl den weltanschaulichen wie den historisch-politischen Kern der Sache richtig trifft und noch vor wenigen Jahren in einer angesehenen und typischen amerikanischen Darstellung der Lehre vom „modernen Staat" als tiefe Wahrheit nachdrücklich hervorgehoben werden konnte: „Englands Expansion im 17. Jahrhundert war eine Ausdehnung der gesellschaftlichen Kräfte, der society und nicht des Staates. Die gesellschaftlichen Kräfte expandierten, um dem Druck des Staates zu entgehen, und als der Staat, nach dem Zweikampf mit Frankreich und der Eroberung Kanadas, der sich ausdehnenden society zu folgen und seinen Druck zu erneuern suchte, da entstand ein Bund neuer Staaten, um der Verwirklichung eines Imperiums Widerstand zu leisten." 17 In der Weiterführung dieses Gedankens enthüllt sich dann unverändert die Doktrin des 19. Jahrhunderts, deren bekannte Vertreter Herbert Spencer, Buckle und ähnliche Philosophen sind. Staat und Politik sind in ihren Augen das Böse und bedeuten Krieg und Militaris16 Gustav Ratzenhofer, Die Staats wehr. Wissenschaftliche Untersuchung der öffentlichen Wehrangelegenheiten, Stuttgart 1881 [Ndr. Osnabrück 1970 - G. M.], S. 274 f. 17 „The expansion of England in the seventeenth century was an expansion of society and not of the state. Society expanded to escape from the pressure of the state; and when the state, in consequence of the duel with France and the conquest of Canada, attempted to fellow up the expanding society and to reestablish its pressure, a federation of new states arose to resist the realization of an Empire." So George Unwin im Vorwort zu dem Buche von Conrad Gill, National Power and prosperity, London 1916. In seinem Buch „The modern State", Oxford 1926, S. 227, wertet Mac Iver diese Sätze als den Mittelpunkt einer Staatstheorie, die das Wesen des Staates in der Trennung der politischen von der wirtschaftlichen Macht sieht und die diese Trennung für eine Vorbedingung des Friedens hält. [Vgl. a.: Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 229; Ernest Barker, Ideen und Ideale des britischen Weltreiches, Zürich/New York 1942, S. 56 f. - G. M.]
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mus, Society dagegen ist gleich Industrialismus, privater Wirtschaft und eben deshalb Fortschritt und Frieden. [30] So mündet alles beim freien, d. h. staatsfreien Welthandel und Weltmarkt. Es ist eine Weltdeutung und Geschichtskonstruktion, deren konkretes Ergebnis den angelsächsischen Weltkapitalismus zum Herrn der Welt und zum Inhalt und Garanten des Weltfriedens macht. Seine ökonomisch fundierte Weltherrschaft kann es sich leisten, den Krieg zu „ächten", weil ihm die Mittel des wirtschaftlichen Druckes, Sperren und Blockaden, „economic pressure", ausreichend erscheinen, um jeden Widerstand zu brechen 18. 2. Die Struktur eines solchen, von einer „society" getragenen Weltreiches ist von der Struktur aller anderen, mit staatlichen oder völkischen Organisationsmitteln zusammengefügten Reiche so verschieden, daß angesichts der Eigenart englischer Herrschaftsmethoden eigentlich schon nicht mehr von einer „Struktur" oder „Konstruktion" gesprochen werden kann. Derartige Bezeichnungen und Vorstellungen sind viel zu statisch und landgebunden; sie erinnern zu sehr an Gebäude und Architektur. Aus diesem Gegensatz heraus hat jemand auf die Behauptung: „Das englische Weltreich kracht in allen Fugen!" vor Jahren einmal erwidert: „Das englische Weltreich hat überhaupt keine Fugen." Es hält nämlich in anderer Weise als durch „Fugen" zusammen, und die englische Sprache hat nicht einmal ein eigenes prägnantes Wort für Fuge, sondern sagt nur allgemein ,joint". Vorstellungen wie „Struktur" und „Fuge" sind hier viel zu „direkt". Der englischen Herrschaft entsprechen die Mittel und Methoden indirekter Macht, der „indirect rule" im weitesten Sinne des Wortes. Die Machtausübung auf dem Wege indirekter Beeinflussung ist typisch für eine von der See auf das Land her einwirkende Macht. In allen Stadien seiner Seemacht hat England nicht nur gegenüber unzivilisierten oder „halbzivilisierten" überseeischen Völkern, sondern gerade auch gegenüber den Nationen des europäischen Festlandes diese Art indirekter, oft schwer faßbarer, aber stets umso wirksamerer Machtmittel zur Geltung bringen können. Für jedes der drei Jahrhunderte englischer Weltmacht läßt sich das nachweisen. Schon im 18. Jahrhundert gehörte die Freimauerei in diesen Zusammenhang. Sie war als eine Organisation geheimer Gesellschaften das sicherste Mittel der Herrschaft über eine angeblich freie „öffentliche" Meinung. Ihre Macht begann nach dem Frieden von Utrecht und dem Tode Ludwigs XIV. Die Gründung der hier in Betracht kommenden ersten Logen fiel in das Jahr 1717. Von London aus setzte ihre Aktion ein und erstreckte sich im 18. Jahrhundert über den ganzen europäischen Kontinent, von Lissabon und Madrid über Paris und Berlin bis nach St. Petersburg. Die erstaunliche Verbreitung humanitärer Ideen, enorme, in kürzester Zeit über ganz Europa sich ausbreitende publizistische Erfolge, wie der Schriften Montesquieus oder Voltaires, sind ihr Werk und ohne sie unerklärlich 19. [31] In dem folgenden 19. Jahrhundert ist die Freimaurerei weiter am Werk, doch ist jetzt die Verfassungsbewegung des liberalen Konstitutionalismus das typische Vehikel englischen 18
Der Begriff des Politischen, 1932 u. ö., letztes Kapitel. Bernard Fay, La Fran^-Maconnerie et la revolution intellectuelle du XVIIIe sifccle, Paris 1935.
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Einflusses auf dem Kontinent. Weltpolitisch gesehen sind die in allen europäischen Völkern auftretenden liberalen und konstitutionellen Strömungen, bewußt oder unbewußt, Instrumente der englischen Weltpolitik. Der Konstitutionalismus insbesondere findet seinen weltpolitischen Sinn darin, daß innerhalb jedes konstitutionellen Staates sowohl die Wirtschaft wie die Presse, d. h. die Bildung der öffentlichen Meinung, staatsfreie Sphären, d. h. Sache privater Unternehmer sind, die sich über die staatlichen Grenzen hinweg auf dem „freien" Weltmarkt und in der „freien" Weltpresse treffen 20. In unserem gegenwärtigen 20. Jahrhundert endlich war der Genfer Völkerbund von 1919 - 1933 ein Versuch der Organisation solcher indirekten Methoden englischer Weltherrschaft. Wirtschaftliche Sanktionen, ökonomischer und finanzieller Boykott, „economic pressure", moralische Ächtung und Friedloslegung sind hier zu einem elastischen Zusammenspiel vereinigt, in dessen Netzen jeder Widerstand erstickt wäre, wenn nicht das Deutsche Reich, Italien und Japan sich ihm im letzten Augenblick noch entzogen hätten21. 3. Die Verwandlung der Insel aus einem Stück Festlandes in ein Schiff oder gar einen Fisch der See erklärt schließlich auch die für einen kontinentalen Betrachter unbegreifliche Aufbruchsbereitschaft, mit der englische Politiker eine Verlagerung der Metropole des Weltreiches von der europäischen Insel nach anderen Weltteilen ins Auge zu fassen vermögen. Der Gedanke eines solchen Exodus ist nicht erst in der Bedrängnis des Krieges 1939 / 40 zuerst aufgetaucht, wenn ihm auch erst die Verzweiflung der heutigen Kriegslage unmittelbare praktische Bedeutung verliehen hat. Disraeli, der sich auch hier als Wissender und Eingeweihter bewährt, schlägt den Exodus schon im 19. Jahrhundert vor. In seinem Roman „Tancred" oder „Der neue Kreuzzug" heißt es 1847: „Laßt die englische Königin eine große Flotte sammeln; laßt sie ihren ganzen Hof und die führende Schicht wegbringen und den Sitz ihres Empires von London nach Delhi verlegen. Dort wird sie ein ungeheures, fertiges Empire finden, ein erstklassiges Heer und große Eink ü n f t e . " 2 2 ^ ] Was wir in den letzten Monaten aus dem Munde englischer Politiker über die Möglichkeiten eines Exodus nach Amerika gehört haben, ist hier vor fast hundert Jahren bereits als der Auszug aus Europa nach Indien vorgeschlagen worden. Auch diese Entankerung der Insel erklärt sich aus der im 16. Jahrhundert einsetzenden englischen Entscheidung für das Element des Meeres. Die Insel wird ein Schiff oder, noch deutlicher, ein großer Walfisch, der wie der Leviathan an eine andere Stelle des Planeten schwimmt, sobald ihm seine Lage gefährdet scheint.
20 Vgl. dazu meine Veröffentlichung „Raum und Großraum im Volkerrecht, ZVR, 1940, S. 162 ff. [im vorl. Bd. S. 234 ff. - G. M.]. 21 Carl Bilfingen Der Völkerbund als Instrument britischer Machtpolitik, 1940; Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938 [Ndr. 1988 - G. M.]; ders., Positionen und Begriffe, 1940 [Ndr. 1988 - G. M.]. 22 ,,Let the Queen of the English collect a great fleet, let her stow away all her court and chief people, and transfer the set of her empire from London to Delhi. There she will an immense empire ready made, a first-rate army and a large revenue."
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Unsere Betrachtung ging von dem Zentralbegriff der bisherigen Völkerrechtsordnung, von der staatlichen Souveränität und ihrer ersten juristischen Definition aus. Die staatliche Souveränität ist aber nur die eine, und zwar die Landseite der bisherigen Weltordnung. Wenn ich zuerst von ihr gesprochen habe, so hatte das nicht den Sinn, in die sterilen Begriffsspaltereien von Staatenbund und Bundesstaat, ganzer und halber, teilbarer und unteilbarer Souveränität hineinzuführen und eine Lebensfrage der europäischen Volker in verzwickten Definitionen zu zerreden. Es handelt sich vielmehr um den Gegensatz elementarer Ordnungen, im eigentlichen Sinne des Wortes „Element". Gegenüber dem das zwischenstaatliche Völkerrecht tragenden, landbezogenen Ordnungsbegriff „Staat" sollte die andere, die Meeresseite, als die polare Gegenwelt deutlich sichtbar gemacht werden. Erst vom staatsfreien Meere her wird das Gesamtbild vollständig, und jeder, der diese Meeresseite vernachlässigt hat, Jurist oder Historiker, ist einem juristischen Trugbild erlegen. Von dieser Seite her fällt aber auch ein aufhellendes Licht auf die weltpolitische Auseinandersetzung der Gegenwart. Denn es wird unserem weltgeschichtlichen Bewußtsein deutlich, daß die Situation, in der die existentielle Verbindung Englands mit dem Element des Meeres entstehen und das britische Weltreich begründet werden konnte, heute entfallen ist. Die Eroberung des Meeres durch die englischen Seefahrer beruhte auf einer spezifischen Leistung, auf der Kunst der Navigation. Hier haben die Engländer in der Tat die anderen Nationen überwunden. Aber die Entwicklung der Technik, ungeahnte neue technische Mittel und neue Waffen des Seekrieges haben sowohl diese Kunst und diese Leistung wie auch die Situation des 16. bis 19. Jahrhunderts längst überholt. Die Eroberung des Luftraumes insbesondere schafft ein neues Weltbild, das die bisherige Trennung der Elemente von Land und Meer überwindet und neue Raumbegriffe, neue Maße und Dimensionen und damit auch neue Raumordnungen durchsetzt.[33] Das ist mit dem Satz gemeint, den ich im vorigen Jahr ausgesprochen habe und den man oft mißverstanden hat: „Das Meer ist kein Element mehr, sondern ein Raum menschlicher Herrschaft geworden."[34] Diese Entwicklung geht zu einer neuen, die alten Gegensätze von Land und Meer überhöhenden Großraumordnung der Erde. Neue Kräfte und Energien tragen die neue Raumrevolution, und dieses Mal ist es das deutsche Volk, dem die Führung zukommt. Ab integro nascitur ordo.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Nach Hegel, Die Verfassung Deutschlands (1801 / 02), hrsg. v. H. Heller, 1919, S. 11: „Deutschland ist kein Staat mehr... Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr." [2] Vgl. etwa G. v. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, 1914; F. Keutgen, Der deutsche Staat des Mittelalters, 1918; H. Mitteis, Lehnsrecht und Staatsgewalt, 1933. Zur Kritik des Begriffs „mittelalterlicher Staat" vgl. H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 126 ff. u. E. Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1941, S. 14 f. - auf beide Werke
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weist Schmitt in s. Kommentar zum Teilabdruck des vorl. Aufsatzes hin: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 384. Die Diskussion um den „deutschen Staat des Mittelalters" wird dargelegt bei O. Brunner, Land und Herrschaft (zuerst 1939), 5. Aufl. 1965, S. 146 - 163 u. H. Quaritsch, Staat und Souveränität, I, 1970, S. 26 - 32; beide billigen, verkürzt gesagt, erst dem modernen souveränen Staat die entscheidenden Staatsmerkmale zu. Klärend auch: E. Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff, Diss. Hamburg 1949; bes. S. 22 f., 25 f., 49. [3] Bodins Werk erschien erstmals 1576 bei Du Puys in Paris, die zweite Auflage ebd., 1577. [4] S. auch die dt. Ausgaben: Severinus von Monzambano (= Pufendorff), Über die Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1922, übersetzt v. Harry Breßlau; Stuttgart 1976, übers, v. Horst Denzer; inzwischen die schöne, latein.-deutsche Ausgabe v. Denzer, Frankfurt a. M./Leipzig 1994. [5] Vgl. vorl. Bd., S. 184 ff. [6] Zur Wortgeschichte: A. O. Meyer, Zur Geschichte des Wortes Staat, in: Die Welt als Geschichte, 10 / 1950, S. 229 - 239; P. L. Weihnacht, Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, 1968. [7] Der vollständige Titel dieses Kapitels: Du Prince tributaire ou feudataire, et s'il est Souverain, et de la prerogative d'honneur entre les princes souverains. (Bodin, Les six livres de la republique, Ausg. 1583, Ndr. 1977, S. 161 - 211). [8] Vgl. dazu: F. X. Arnold, Die Staatslehre des Kardinals Bellarmin, 1934, S. 176 ff., S. 305 ff., S. 323 ff., S. 353 ff. Hobbes kritisiert Bellarmin bes. im Leviathan, III, 42, „Of Power ecclesiastical". [9] Vgl. Völkerrechtliche Großraumordnung, vorl. Bd., S. 322, FN [4]. [10] H. Hauser, La Modernite du XVIe siecle, Paris 1930. [11] Dazu: Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 152; A. Verdross / B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 1071. Die auf Bynkershoeks Formel „Imperium terrae finitur, ubi finitur armorum potestas" zurückgehende „Dreimeilenzone" („Kanonenschußweite") setzte sich in der 2. Hälfte d. 19. Jahrhunderts durch; inzwischen gibt es Staaten, die sogar 200 Meilen beanspruchen, vgl. Verdross / Simma, a. a. O., § 1100 ff. Die Entwicklung schildert: Dahm, Völkerrecht, 1958,1, S. 650 - 630; vgl. a. Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 679 - 682. - Die von Schmitt im vorl. Aufsatz entwickelte These von den „zwei zusammenhanglose^)" Völkerrechtsordnungen hat ein unterschiedliches Echo gefunden. Der oft ähnlich wie Schmitt argumentierende, dem Meer freilich emotional weit stärker zugewandte Ernst Wolgast, schreibt in: Seemacht und Seegeltung - Entwickelt an Athen und England, 1944, S. 43: „ . . . daß es nicht ein einheitliches Völkerrecht, sondern daß es neben dem Völkerrecht des Landes ein Völkerrecht der See gibt oder gab und daß dies nicht aus dem Prinzip gesehen worden ist. Das Jahr 1941 mußte heraufziehen, bis sich der menschliche Geist davon in Carl Schmitts . . . Studie „Staatliche Souveränität und freies Meer" Rechenschaft gab Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 322, weist Schmitts These hingegen zurück und hält dafür, „daß die kontinentale und die maritime VÖlkerrechtskonzeption sich nicht zusammenhanglos gegenüberstanden, sondern daß sich kraft des Übergewichts der einen oder anderen Konzeption in den verschiedenen Zeitaltern doch ein mehr oder minder festes Ordnungssystem bildete". - Zum Sieg des anglo-amerikanischen Kriegsbegriffs über den kontinentalen vgl. auch: D. Steinicke, Wirtschaftskrieg und Seekrieg, 1970, bes. S. 56 ff.,
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74 ff.; Th. M. Menk, Gewalt für den Frieden - Die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomic des Krieges im 20. Jahrhundert, 1992, bes. S. 262 ff., 317 ff. [12] Zum Unterschied vgl. E. Menzel, Der „anglo-amerikanische" und der kontinentale Kriegsbegriff, ZÖR, 1940, S. 161 ff. [13] Bei diesem am 1. 1. 1907 überreichten Memorandum Sir Eyre Crowes (1864 1925), damals Mitarbeiter Edward Greys (1862 - 1933) und Arthur Nicolsons (1849 - 1928) im Foreign Office, bildete die „antideutsche Option Großbritanniens in der europäischen Politik das Kernstück weltpolitischer Überlegungen" (Gollwitzer). Der Aufstieg Deutschlands habe dazu geführt, daß es sich nicht mehr mit dem Rang einer europäischen Großmacht zufriedengebe. Englands Suprematie, die „mit den allgemeinen Wünschen und Idealen der gesamten Menschheit" harmoniere, beruhe u. a. auf der Aufrechterhaltung d. Freihandels u. d. Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit anderer Länder; Deutschland hingegen strebe einen Primat in d. internationalen Politik auf Kosten u. zum Nachteil anderer Länder an. Höchste Wachsamkeit ggü. Deutschland sowie Flottenrüstung und Ausbau der Beziehungen zu Frankreich und Rußland seien deshalb geboten. Dies gelte selbst für den Fall, daß Deutschland keine Weltmachtstellung anstrebe, sondern nur eine handelspolitische und kulturelle Einflußsteigerung, die ebenfalls gefährlich sei. Der Text in: Gooch / Temperley (Hrsg.), British Documents on the Origins of the War 1898 - 1914, Vol. Ill, The Testing of the Entente, London 1928, 397 - 420. Vgl. Fr. Thimme, Das Memorandum E. A. Crowes vom 1. Januar 1907, Berliner Monatshefte, 1929, 732 ff., 874 ff.; H. Lutz, Eyre Crowe, „Der böse Geist des Foreign Office", Stuttgart 1931; H. Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, II, 1982, S. 117 ff. Die veränderten Auflagen von Ritters Buch nach 1945 erschienen unter dem Titel „Die Dämonie der Macht" (so 5. Aufl. 1947, 6. Aufl. 1948, dort S. 99 ff. ü. Eyre Crowe); vgl. auch Ritters Übersetzung der „Utopia", 1922, hrsg. v. H. Oncken. - Bei Morus versteckt „die Dämonie der Macht... ihr wahres Antlitz hinter der Maske der Gerechtigkeit" (Ritter, 6. Aufl., S. 81), es findet sich bei ihm wie bei den späteren britischen Imperialisten , jene Neigung zu moralischer Schönfärberei und Verbrämung der Machtpolitik, die wir den englischen Cant nennen" (ebd., S. 212); vgl. auch H. Oncken, Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre, 1922, sowie E. R. Hubers Rezension von Ritters Buch, ZgStW, 1941, S. 168 - 176. P. R. Rohden, Seemacht und Landmacht, 1944, S. 26 - 32, wertet Morus als den ersten Theoretiker der indirekten Kriegsführung; in seiner „Utopia" schildere er „mit einer unheimlichen Treffsicherheit die Methoden, deren sich die englische Seemacht seit der „Großen Allianz" von 1688 im Kampf gegen die jeweils stärkste Macht des Kontinents bedient hat". Aus der extrem umfangreichen Literatur zu Morus sind für die hier erörterte Fragestellung ergiebig: M. Freund, Zur Deutung der Utopia des Thomas Morus. Ein Beitrag zur Geschichte der Staatsräson in England, HZ, Bd. 142, 1930, S. 254 278, der u. a. auf die Technisierung u. Unritterlichkeit d. Krieges bei M. hinweist; Feiice Battaglia, Saggi sulf "Utopia" di Tommaso Moro, Bologna 1949; Jesus Fueyo, Tomas Moro y el utopismo politico, Revista de Estudios Poh'ticos, 86 - 87/1956, S. 61 - 107, versteht die „Utopie" des M. vor allem als Ironisierung humanitärer Illusionen; E. H. Harbison, Machiavelli's Prince and More's Utopia , in: Facets of the Renaissance, New York 1963, S. 41 - 71; E. Wolf, Social Utopia and Political Reality in Thomas More, The University of Toledo Law Review, 1 - 2/1971, S. 327 - 351 (Sonderheft „In memoriam Prof. Josef L. Kunz"). Den stark „machiavellistischen" Charakter der „Utopiä" betont: Antonio Truyol y Serra, Historia de la Filosoffa del Derecho y del Estado, II. Tercera ediciön revisada y aumentada, Madrid 1988, S. 34 f. ; F. Härtung, HZ, 169, 1949, S. 559 - 61, wertet die Nürnberger Prozesse mit Ritter
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als „höchste Steigerung des insularen Moralismus" ä la Morus. Zur „Utopia" vgl. auch: Schmitt, Glossarium, 1991, S. 46 ff., 55 f., 60, 94 ff., 112 (Notizen aus d. Jahren 1947 / 48). [14] So der Titel des 5. u. letzten Bandes des Werkes des französ. Admirals Raoul Castex (1878 - 1968): Theories strategiques, Paris 1929 - 35, Societe d'Editions Geographiques, Maritimes et Coloniales, mit zwei posthumen Ergänzungsbänden: Melanges strategiques, Paris 1976, Academie de Marine, u.: Fragments strategiques, Paris 1986, Economica. Castex' Schriften zeichnen sich vor allem durch ihr Bewußtsein über das Zusammenwirken von Land-, See- und Luftwaffe aus; deshalb gelangt er zuletzt dazu, den Gegensatz Land / Meer zu verwischen und die Bedeutung der puissance amphibie besonders zu betonen: „ . . . L'influence de la puissance de mer dans les grandes crises de ce monde est fonction de la force aeroterrestre qu'elle est capable de deployer et l'influence de la puissance de terre se mesure aux memes moments ä la force aeronavale qu'elle peut jeter dans la balance", so in: Melanges, op. cit., S. 71. Schmitt schätzte auch Castex' Buch „De Gengis Khan ä Staline, ou les vicissitudes d'une maoeuvre strategique (1205 - 1935)", Paris 1936. Über Leben und Werk des Admirals: H. Coutau-Begarie, Castex - Le Stratege inconnu, Paris 1985, Economica (mit ausführl. Bibliographie); ders., La puissance maritime - Castex et la Strategie navale, Paris 1985, Fayard; dort auf den S. 219 ff. eine Darstellung der „dialectique castexienne de la terre et de la mer". [15] Ranke, Französische Geschichte vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert (1852), hrsg. v. O. Vossler, Stuttgart 1954, über Frankreich-Spanien: I, 259 ff., 416 ff., 469 ff., 547 ff., 577 ff., II, 38 ff., 83 ff., 109 ff., 275 ff., 285 ff., 367 ff., 736 ff., III, 328 ff., u. ö. [16] Genauer: einer „Büchzischlacht", vgl. E. Nys, Les Origines du Droit international, Brüssel 1894, S. 262: „une bataille des livres". An dieser „Schlacht" beteiligten sich zuerst der Holländer Hugo Grotius, der Engländer John Seiden und der Portugiese Serafim de Freitas. Während Grotius die Weigerung d. Portugiesen, den Holländern freie Fahrt u. freien Handel mit Indien zu gestatten, als gerechten Kriegsgrund ansah (gestützt auf Vitoria) u. das Meer als nicht okkupierbares Gemeingut aller Menschen („commune est omnium Maris Elementum"), behauptete Seiden, daß das Meer einzelnen Menschen oder Mächten unterworfen werden könne, allein schon durch d. Besitz einer Flotte; das fließende Wasser sei durchaus grenzziehungsfähig, da die Meridiane wie „Hecken" zu betrachten seien. Seiden unterstrich zugleich das Recht d. engl. Königs, die engl. See zu „schließen" durch Kontrolle d. Kanalinseln, Verweigerung v. Durchfahrts- u. Fischereirechten usw. Da Seiden sich aber kaum um die Überseefragen kümmerte, sondern hauptsächlich um die seiner Überzeugung nach erlaubte Abschließung der britischen Inseln, darf man Freitas' Werk „De iusto imperio lusitanorum asiatico", zuerst 1625, als die eigentliche Gegenschrift zu Grotius einstufen; vgl.: Ch. H. Alexandrowicz, Freitas versus Grotius, BYIL, 35/1959, S. 162 - 182. Freitas hielt die Einschränkung des Handels, der Niederlassung und der Schiffahrt für rechtens u. deutete die Entdeckung (im Ggs. zu Vitoria) als legitimen Titel; zwar sei das Wasser nicht als Ganzes okkupationsfähig, aber Teile von ihm im Zusammenhang mit bestimmten örtlichen Gegebenheiten. Vgl. die sorgfältigen Editionen seines Hauptwerkes: De justo imperio Asiatico dos Portugueses / De iusto imperio lusitanorum asiatico, portugies.-latein., hrsg. v. M. Caetano, 2 Bde., Lissabon 1959 / 61; Über die rechtmässige Herrschaft der Portugiesen in Asien - Freitas gegen Grotius im Kampf um die Freiheit der Meere, Kiel 1976, übersetzt u. hrsg. v. J. P. Hardegen; das Standardwerk über ihn: M. Caetano, Um grande jurista portugues. Fr. Serafim de Freitas, Lissabon 1925; vgl. auch: Adolfo Miajä, Las ideas fundamentales del derecho de gentes en la obra de fray Serafm de Freytas, Anuario de la Associaciön Francisco de Vitoria, V/1932 - 33, S. 171 - 201; C. Barcia Trelles, Fray Serafm de Freytas y el problema de la
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libertad oceänica, in: ders., Estudios de politica internacional y derecho de gentes, Madrid 1948, S. 547 - 67. Vgl. auch: R. Boschan (Hrsg.), Über die Freiheit der Meere, 1919 (dt. Ausg. v. Grotius' „De mare libero"); Grotius / Seiden, Mare liberum und Mare clausum, Ndr. d. Ausgaben v. 1618 u. 1635, eingel. von Fr. Krüger-Sprengel, 1978; sowie: H. Klee, Hugo Grotius und Johann Seiden, 1946. Ein größerer Teil der zahllosen damaligen Streitschriften für u. wider die Meeresfreiheit ist abgedruckt in: H. u. S. v. Cocceji, Grotius illustratus, Breslau 1744 / 52, Bd. IV. - Zum geschichtlich-politischen Hintergrund: U. Scheuner, Das europäische Gleichgewicht und die britische Seeherrschaft, 1943, S. 53 ff.; Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 300 ff.; zur damaligen Staatenpraxis: G. Fahl, Der Grundsatz d. Freiheit der Meere in der Staatenpraxis von 1493 bis 1648, 1969. Vgl. die teils advokatorische, teils völkerrechtsgeschichtliche Literatur, etwa: v. Schulze-Gaevernitz, Freie Meere, 1915; F. Stier-Somlo, Die Freiheit der Meere und das Völkerrecht, 1917; W. van Calker, Der Reichstag und die Freiheit der Meere, 1918; W. Vogel, Hugo Grotius und der Ursprung des Schlagworts von der Freiheit der Meere, 1918; R B. Potter, The freedom of the seas in history, law and politicis, London 1924; G. Gidel, Le Droit public de la mer, 3 Bde., 1932 / 34, bes. I, S. 121 ff.; H. Wehberg, Die Freiheit der Meere, Die Friedens-Warte, 4 - 5 / 1942, S. 145 ff.; L. Garcia Arias, Historia del principio de la libertad de los mares, Santiago de Compostela 1946; J. L de Azcärraga, Regimen juridico de los espacios maritimos, Revista Espanola de Derecho internacional, 5 / 1952, S. 27 ff., 451 ff.; vgl. auch die Studie v. V. Böhmert, Meeresherrschaft und Meereseigentum nach englischem Recht, Internat. Recht u. Diplomatie, 1963, S. 19 - 62 (mit Seiden als Ausgangs- u. Schwerpunkt). - Die Freiheit der Meere ist nicht nur durch den U-Boot-Krieg, die Seesperren, die Fernblockaden, den verschärften Wirtschaftskrieg u. a. beschränkt - die Formel ist auch durch die jeweiligen polit. Interessen extrem deutbar, vgl. Grewe, Epochen, a. a. O., bes. S. 471 ff., 481 ff., 740 ff., 801 ff.; zur heutigen völkerrechtlichen Lage: Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, з. Aufl. 1984, bes. §§ 563, 585, 1084, 1124 ff. Vgl. auch die Berliner Diss, bei Schmitt v. H. Schwörbel, Freiheit der Meere und Meistbegünstigung, Druck Leipzig 1939. - Die „Kriegszielsophistik" Roosevelts (im Krieg gg. Deutschland ginge es um die Verteidigung der Freiheit der Meere, was schon aufgrund von Roosevelts Desinteresse für die Rechte der Neutralen absurd war) untersucht H. Rogge, Die „Freiheit der Meere" als Rechtsprinzip und als Begriffsfälschung, Geist der Zeit, Okt. 1941, S. 600 ff. Vgl. auch: K. Haushofer, Weltmeere и. Weltmächte, 1937, S. 61 - 75, „Das freie Meer in Idee und Praxis", und Dahm, Volkerrecht, I, 1958, S. 664 ff. Vgl. Schmitt, anon., Völkerrecht (Repet.), 1948/50, S. 96 - 99. [17] Vgl. vorl. Bd., Die Raumrevolution, FN [2], S. 392. [18] F. de Vitoria, De indis recenter inventis et de jure belli hispanorum in barbaros (1539), III, 3. Vitoria zitiert zustimmend Dig. I, 1, 3 (Florentinus), daß alle Menschen von Natur aus verwandt seien. - Schmitts Kritik an Vitorias sich auch hier zeigender Tendenz zur Auflösung des Christentums in Humanitarismus und Pazifismus (vgl. Der Nomos der Erde, 1950, S. 69 - 96) wird im Glossarium, 1991, verschärft. Der ,,Nomos" lag aber Ende 1944 mehr oder minder abgeschlossen vor, während Schmitts erste kritische Eintragung zu Vitoria im Glossarium vom 4. 10. 1947 stammt. Die Verschärfung der Kritik hängt wohl auch mit Anregungen seiner Freunde A. d'Ors u. G. Krauss zusammen, vgl. d'Ors, Francisco de Vitoria, neutral (zuerst 1946), in: ders., De la guerra y de la paz, Madrid 1954, S. 119 - 154. Noch massiver G. Krauss, Christentum und Humanismus im Völkerrecht des Francisco de Vitoria, Habil. Sehr., Univers. Köln 1952. Krauss weist bes. auf Vitorias Behauptung hin, die Abweisung des Fremden sei eine Kriegshandlung u. kommt zu dem Schluß: „(Vitoria) fingiert eine Angriffshandlung . . . Wer eine Aggression fingiert, ist selbst ein Aggressor, und der christli-
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che Vitoria ist viel aggressiver als mancher Atheist des 19. Jahrhunderts" (ebd., S. 235). Vitoria erscheint hier als Vater aller pazifistischen Fiktionen der Moderne und ihrer spezifischen Gefährlichkeit. Vgl. a.: Hendrik Hamacher, Carl Schmitt über Francisco de Vitoria, MA-Arbeit (Philosophie), Universität Bochum, 1993, Typoskript. [19] Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 151, FN 1. - Den großen Einfluß Gentiiis auf Grotius konstatieren auch: C. v. Kaltenborn, Die Vorläufer des Hugo Grotius auf dem Gebiete des Ius naturae et gentium sowie der Politik im Reformationszeitalter, Leipzig 1848, S. 228 - 231; C. Philippson, Einleitung zu: Gentiii, De jure belli, Ausg. Oxford 1933, Classics of International Law, II, S. IIa - 12a; G. del Vecchio, Ricordando Alberico Gentiii, Rom 1936, S. 9. [20] Vgl. den von F. Krüger-Sprengel veranstalteten Neudruck beider Werke, Osnabrück 1978. [21] Zu Meadows vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 152 f. u. W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 472 f. [22] Grotius, De jure belli ac pacis (1625), I, III, 1. [23] Der aus der Provence stammende Misson gründete um 1740 im Norden Madagaskars eine Art frühsozialistischen Piratenstaat, die „Republique internationale de Libertalia". In Libertalia herrschte Gütergemeinschaft, wurde die Rassentrennung beseitigt und ein „Esperanto" gesprochen, das aus französischen, englischen, portugiesischen und niederländischen Elementen gebildet war. Das Motto der Republik lautete „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit" und die Religion war ein von Missons „Chefideologen" Caraccioli, einem aus Neapel stammenden Dominikaner, interpretierter Deismus. Vgl. Ph. Gosse, The History of Piracy, New York 1932, S. 194 - 201 u. H. Deschamps, Les pirates ä Madagascar aux XVIII 6 et XVIIT siecles, 2. ed., Paris 1972, S. 73 - 99. [24] Wohl auf Ciceros Satz „Pirata hostis generi humani" zurückzuführen. Zur Piraterie unter völkerrechtsgeschichtlichem Blickpunkt: G. Schlikker, Die völkerrechtliche Lehre von der Piraterie und den ihr gleichgestellten Verbrechen, 1907, u. A. Müller, Die Piraterie im Völkerrecht, 1929; auch Schmitt, Der Begriff der Piraterie (1937), in: ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 240 - 43. - Über die Grausamkeiten der Piraten schon D. Defoe, A General History of the Robberies and Murders of the most notorious Pyrates and also their Policies, Discipline and Government, 1724, u. d. Ps. Captain Charles Johnson; dt. Ausgabe: Umfassende Geschichte der Räubereien und Mordtaten der berüchtigten Piraten, 1982; vgl. auch Philipp Gosses mehrfach genanntes Buch. O. Eck, Unfreiheit der Meere. Dunkle Blätter der Seekriegsgeschichte, 1943, behandelt ausführlich das Korsarenwesen verschiedener Staaten. [25] Dazu: Völkerrechtliche Großraumordnung, vorl. Bd., S. 329, FN [17]. [26] Der englische Völkerrechtler Thomas Baty (1869 - 1954) war nach dem Zweiten Weltkrieg Berater der japanischen Regierung. Neben den von Schmitt, FN 13, erwähnten Arbeiten: War. Its conduct and legal results (zus. mit S. H. Morgan), London 1915; Division of States: its effects on obligations, Grotius Soc. Trans., vol. 9 / 1923, 119 ff. ; Three-mile limit, AJIL, 1928, 503 ff.; Note sur la doctrine de Monroe, Revue Droit Int. et Legislat. comparee, 9 / 1928, 157 ff.; Abuse of Terms: „Recognition": „War", AJIL, 1936, 377 ff.; International Law on Twilight, Tokio 1954. In diesem letzten Werk sah Baty den Zustand des Völkerrechts als außerordentlich prekär an, dazu: L. Rubio Garcia, Derecho internacional y totalizaciön de la escena mundial, Revista Espanola de Derecho internacional, 1 / 1956, S. 33 - 69, hier S. 41.
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[27] Vgl. Das Meer gegen das Land, vorl. Bd., S. 399, FN [5]. [28] Paul Heilbronn, Grundbegriffe des Völkerrechts, Stuttgart 1912, unterscheidet zwischen einem „gemeinen Völkerrecht", das durch „diejenigen Völkerrechtssätze (gebildet wird), welche sämtliche Staaten der Volkerrechtsgemeinschaft wechselseitig binden" (S. 53) und einem spezifisch „amerikanischen Völkerrecht" (S. 61 ff.), das für ihn vor allem auf der Monroe-Doktrin beruht. Programmatisch f. die Behauptung eines eigenen amerikanischen VÖlkerrechtskreises: A. Alvarez, Le Droit international americain, Paris 1910, bes. S. 17 ff. [29] G. Ratzenhofer (1842 - 1904), einer der Pioniere der Soziologie, der 1898 Feldmarschall der k.u.k. Armee wurde, entwickelt diesen Gedankengang in dem von Schmitt FN 16 aufgeführten Buche (S. 274 f.) und gelangt zu dem Schluß: „Das Völkerrecht muß dahin streben, daß die Mißachtung und Vernichtung des Privateigenthums zur See ein Präcedens sei, das gegnerische Privateigenthum am Lande zu confiscieren". - Ratzenhofers Theorie vom rivalisierenden Gruppeninteresse der Individuen und vom „Gesetz der absoluten Feindseligkeit" hat sicherlich Eindruck auf Schmitt gemacht; über diese Beziehung in der Schmitt-Literatur bisher nur: W. Hanemann, Der Begriff des Politischen in der deutschen Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Urach 1935, S. 85 - 92; Luis Sanchez Agesta, Lecciones de Derecho politico, Granada 1951, S. 45 f.; P. Paolo Portinaro, Materiali per una storicizzazione della coppia ,amico-nemico\ in: Amicus - (Inimicus) - Hostis. Le radici concettuali della conflittualitä ,privata' e della conflittualitä ,politica\ Ricerca diretta da Gianfranco Miglio, Mailand 1992, S. 223 - 310, hier S. 284 f. [30] Vgl. etwa H. Spencer, The Proper Sphere of Government (1842 / 43), in: ders. The Man versus the State, Indianapolis 1981, S. 211 - 217; H. Th. Buckle, History of the Civilization in England, 2 Bde., 1857 - 1861 (dt. Ausgabe von A. Rüge); zur Kritik vgl. etwa M. Scheler, Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, 1915, bes. S. 335 - 382 („Los von England"); vgl. auch Schmitt, Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 72 ff., hier ü. Comtes und Spencers Beziehung zu Benjamin Constant. Der Einfluß dieser Ideen auf den Pazifismus des frühen XX. Jahrhunderts (etwa Anitschkow, Fried, Nicolai) und auf den völkerrechtlichen Pazifismus der Genfer Liga (Politis, Wehberg, Schücking) liegt auf der Hand. [31] Bernard Fay schildert die Londoner Loge in dem von Schmitt FN 19 aufgeführten Werk S. 120 ff., die Aktivitäten der Freimaurer zugunsten der Revolution ebd., S. 197 - 264. Zur Rolle der Freimaurer in d. Amerikanischen Revolution: Fay, L'esprit revolutionnaire en France et aux Etats-Unis ä la fin du XVIIIe siecle, 1925. Neben den Schriften Fays zum Thema schätzte Schmitt auch das Buch von Augustin Cochin, Les Societes de pensee et la democratic, Paris 1925; vgl. a. Schmitt, Positionen und Begriffe, 1940, S. 229; ders., Glossarium, 1991, S. 91, 173 (aus dem Jahre 1948). Das wohl gründlichste deutsche Werk zum Thema: Adolf Rossberg, Freimaurerei und Politik im Zeitalter der Französischen Revolution, Berlin 1942; Ndr. Struckum o. J. (ca. 1990). Vgl. a. R. Koselleck, Kritik und Krise, 1959, S. 55-81, 108 ff. [32] Dazu schon Bruno Bauer, Disraelis romantischer und Bismarcks sozialistischer Imperialismus, Charlottenburg 1882, S. 56 ff., 63 ff. u. H. Rühl, Disraelis Imperialismus und die Kolonialpolitik seiner Zeit, 1935, bes. S. 46 - 54. Allgemein zum Besitz Indiens als dem „secret of the mastery of the world" (Lord Curzon): H. Oncken, Die Sicherheit Indiens, 1937, u. H. Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, II, 1982, S. 93 - 100. [33] Vgl. die zahlreichen Erörterungen deutscher Geopolitiker und Völkerrechtler, daß England wegen der Luftwaffe ,»keine Insel mehr" sei; etwa A. Hettner, Englands Weltherr-
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schaft, 1928, S. 122 („In der Zukunft wird das Meer durch die Luft überwunden werden"); O. Graf, Imperium Britannicum, 1937, S. 293 ff. („Neuraum Luft"); J. Stoye, Das Britische Weltreich, 2. Aufl. 1937, S. 329; E. Wolgast, Über Seefahrt und Luftfahrt in der Machtauffassung der Staaten, ZöR, 1941, H. 3 / 4, S. 310 - 40; ders., Landmacht, Seemacht, Luftmacht, RVB1, 30. Okt. 1941, S. 629 ff.; W. Siewert, Krise der britischen Seemacht, ZfG, 1/ 1941, S. 1 - 4; H. Niemetz, Die Geopolitik der Luftwaffe, ebd. 7/1941, S. 381 - 88; ders., Raumüberwindende Luftwaffe, ebd., 4 /1942, S. 349 - 65. [34] Vgl. vorl. Bd., S. 253.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz ist die Ausarbeitung eines Vortrages, den Schmitt auf einer Tagung der Hochschullehrer der mittleren und neuen Geschichte hielt, die am 7. / 8. 2. 1941 in Nürnberg stattfand; neben Schmitt waren die Referenten Fritz Härtung, Theodor Mayer, Walter Platzhoff, Paul Ritterbusch, Fritz Rörig, Hans Übersberger und Hans Zeiss. Die Referate erschienen in dem Sammelband „Das Reich und Europa", Leipzig 1941, Koehler & Amelang; die zweite, durchgesehene Auflage ebd., gl. Jahr; Schmitts Beitrag in der 1. Aufl. S. 79 - 105, in der 2. Aufl. S. 91 - 117. Gerhard Ritter berichtete über diese Tagung in einem ausführlichen Brief an Hermann Oncken am 27. 2. 1941 und kam zu dem Schluß: „ . . . daß wir Historiker die Pflicht haben, den Staatstheoretikern von der Art Carl Schmitts, mit dem ich übrigens in Nürnberg lange Unterhaltungen hatte, das Feld bei der Bearbeitung politischer Lebensfragen nicht allein zu überlassen" (in: Kl. Schwabe / R. Reichardt, Gerhard Ritter - Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard a. Rh. 1984, S. 361 ff., 363). Der Aufsatz erschien jedoch noch vor der Drucklegung in Deutschland in Italien u. d. T. „Sovranitä dello Stato e libertä dei man", in: Rivista di Studi politici internazionali, 1941, S. 60 - 91; Ndr. in: Schmitt, L'unitä del mondo e altri saggi. Introduzione e nota bibliografica di Alessandro Campi, Rom 1994, Antonio Pellicani Editore, S. 217 - 252. Auf die zeitliche Priorität der italienischen Veröffentlichung weist Ernst Wolgast hin in: Über Seefahrt und Luftfahrt in der Machtauffassung der Staaten, ZÖR, 3/4-1941, S. 310 - 340, hier S. 317. Die italienische Version wurde von Schmitt mit 22 Fußnoten versehen, auf deren Abdruck in der deutschen Publikation aus ungeklärten Gründen verzichtet wurde. Der Herausgeber hat diese Fußnoten übersetzt und oben eingefügt. Französisch erschien der Aufsatz u. d. T. Souverainete de l'Etat et liberte des Mers, in: Quelques aspects du Droit allemand, Cahiers de 1'Institut allemand, publies par Karl Epting, Paris 1943, H. VI, S. 137 - 189; Ndr. in: C. Schmitt, Du Politique. „Legalite et legitimite" et autres essais, Textes choisis et presentes par Alain de Benoist, Puiseaux 1990 (Pardes), S. 143 - 168. Vgl. die Rezensionen von Roger Diener, Reich-Völksordnung- Lebensraum, II / 1942, S. 360 - 376, u. v. Carl Brinkmann, HZ, 167 / 1943, S. 360 - 362. Camilo Barcia Trelles (vgl.: Gespräch über den Neuen Raum, vorl. Bd., S. 552 ff.) erörtert den Aufsatz in: El Pacto del Atläntico, la tierra y el mar frente a frente, Madrid 1950, S. 51 - 56 u. bes. das Thema „society", vgl. FN 17, o., S. 419. G. A. Walz, damals Hauptmann i. Zagreb, schrieb Schmitt a. 3. 9. 1941: „Mich haben in der letzten Zeit wiederholt die Probleme Athen-Sparta, KarthagoRom (ersteres auf Grund einer in Thorn in einer militärischen Muße wiedervorgenommenen Lektüre von Thukydides) besonders beschäftigt. Sie bringen das Problem in grossem Zusammenhang in Ihrer Arbeit, deuten aber wohl mit Recht darauf hin, dass die Wendung Englands
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zum maritimen Denken ein einmaliger, historischer Vorgang ist, den man nicht in die starren Formen einer Verallgemeinerung pressen darf. Gerade Ihre Abhandlungen über die historisch verschiedenen, politischen Existenzformen der Insel England zeigen in der Tat, daß jedes, nur rein geopolitische Denken niemals eine befriedigende Erklärung abgeben kann. Die Zusammenhänge der englischen privateers mit dem englischen Begriff der „society" und dem historischen Begriff des modernen englischen Empire sind in der Tat verblüffend und erhalten durch die geistesgeschichtliche Einordnung der Welt-Freimaurerei einen besonders eindrucksvollen Hintergrund" (HSTAD- RW 265 - 460). G. Steinbömer schreibt am 16. 10. 1941 an Schmitt: „Kennen Sie die Verse Kipling's über die Entstehung des Empire's durch die Methoden der Privateers (?). Ich kann sie leider nicht ganz und wörtlich zitieren und muss sie zu Hause nachsehen. Sie beginnen etwa: Some we got by purchase and some we got by gun . . . Für den insularen Territorialismus sind die Verse aus Richard II. wohl das berühmteste Beispiel und zugleich ein Beweis und eine Bestätigung für das englische landhafte insulare Lebensgefühl um 1600. Es ist sehr interessant und war für mich neu, dass sie in den von Ihnen zitierten Versen aus dem Jahre 1435 / 36 in fast gleicher Formulierung (the wall environ was the sea) vorweggenommen sind. - Unter den vielen Anregungen, deren Anwendung mir besonders fruchtbar zu erweitern scheint, will mich die Unterscheidung der Wertmaßstäbe für einen Krieg in Zeiten des nichtverstaatlichten und verstaatlichten Krieges besonders bedeutungsvoll dünken. Besonders schön und von symbolhaftem Hinweis das Vergil-Zitat am Schlüsse: aus der Zeit der augusteischen Raumordnung der damaligen Welt. - Werden Sie den Vortrag nicht - bei Ihrer intensiven Beschäftigung mit Amerika in der letzten Zeit gerade in dieser Richtung - durch die Geschichte Amerika's und die neueste auf eine LandSee-Entscheidung gewaltsam hingedrängte Entwicklung ergänzen? Dadurch gewänne Ihre revolutionierende Schau den unerhört gegenwärtigen planetarischen Abschluss" (HSTADRW 265 - 33). Schmitts Überlegungen berühren sich mit der These der unterschiedlichen Staatsbildung auf dem Kontinent u. im insularen England; dazu u. a.: O. Hintze, Machtpolitik und Regierungsverfassung, zuerst 1913, Ndr. in: ders., Staat und Verfassung, 3. Aufl. 1970, S. 424 456; G. Brodnitz, Kontinentale und insulare Staatsbildung, ZgStW, 78/1924, S. 19 - 70; im Rückblick u. abwägender: E. Kessel, Der „Inselstaat" in der Geschichte, Die Welt als Geschichte, 1950, S. 168 - 186. - Neben dem o. a. Aufs. Otto Hintzes dürfen noch dessen folgende, mit einiger Sicherheit für Schmitt wichtige Texte erwähnt werden: Imperialismus u. Weltpolitik, Intern. Wochenschrift, 1/1907, S. 593 - 606, 631 - 36; Die Seeherrschaft Englands, ihre Begründung u. Bedeutung, Dresden 1907 (38 S.); Der brit. Imperialismus u. seine Probleme, ZfP, 1908, S. 297 - 345. Den ersten, sich dem Staatsbegriff widmenden Teil des Vortrages druckte Schmitt in s. Sammlung „Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954 - Materialien zu einer Verfassungslehre", Berlin 1958, Duncker & Humblot, S. 375 - 383 ab u. d. T. „Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff'. Dieser Teil endet mit dem Satz: „So ist es nicht zuviel gesagt, wenn wir hier feststellen, daß hinter den üblichen Formeln und Redewendungen von „dem" Völkerrecht zwei total verschiedene Völkerrechtsordnungen, zwei unvereinbare Welten stehen." (Hier auf S. 408). Vgl. auch Schmitts Hinweise in diesem Sammelband.
Beschleuniger wider Willen oder: Problematik der westlichen Hemisphäre Für den Teil der Völker, der im Banne angloamerikanischer Mythen stand, hatten die Vereinigten Staaten von Amerika den Nimbus einer sozusagen schon „an sich" weltkriegsentscheidenden Macht. Die bloße Möglichkeit ihres Kriegseintritts sollte bereits ausreichen, um die große Wendung herbeizuführen. Man stellte es sich so vor, als brauchten die Vereinigten Staaten nur den Schatten ihres enormen Kriegspotentials auf die eine Seite der großen Waagschale fallen zu lassen, damit die andere Waagschale sofort in die Höhe schnellte. Nachdem solche Möglichkeitsphantasien sich schnell als ein Irrtum erwiesen hatten, glaubten manche immer noch, daß nun wenigstens der faktische Eintritt in den Krieg und die förmliche Kriegserklärung für sich bereits von überwältigender Wirkung sein müßten.[l] Aber auch das ist jetzt überholt. Der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg war offenbar nicht kriegsentscheidend, und so fragt es sich, worin weltgeschichtlich und weltpolitisch sein Inhalt und seine Bedeutung eigentlich bestehen. Die Entscheidung des Präsidenten Roosevelt enthält den Anspruch, die überkommene, auf eine Seemacht gestützte britische Weltherrschaft als anglo-amerikanische See- und Weltherrschaft zu übernehmen und weiterzuführen. Eine von Amerika aus verbreitete Konstruktion der gegenwärtigen Weltlage spricht eine wichtige Folgerung dieses Einrückens in die britische Seeherrschaft aus, indem sie geltend macht, daß jetzt zwei Weltkriege zu unterscheiden sind: ein kontinentaler Landkrieg, der 1936 in Spanien begann und den Deutschland bisher zweifellos gewonnen hat, und ein ozeanischer Seekrieg, der am 7. Dezember 1941 mit dem Eintritt Japans in den Weltkrieg einsetzte. Für diesen anderen, den ozeanischen Weltkrieg, hofft man, an der ausschlaggebenden und weltkriegsentscheidenden Wirkung des amerikanischen Schrittes festhalten zu können.
Die größere Insel Soweit es sich bei der Konstruktion der zwei verschiedenen Weltkriege um die Übernahme und Weiterführung der britischen See- und Weltherrschaft handelt, entspricht die amerikanische Ansicht einem Gedankengang des Admirals Mahan, des berühmten amerikanischen Marineschriftstellers, der ein einflußreicher Berater des damaligen Präsidenten Roosevelt und der bedeutendste geistige Repräsentant des amerikanischen Imperialismus war. Der für uns heute wichtige, eigentümliche Ge-
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dankengang Mahans ist in der bisherigen Erörterung noch nicht erwähnt worden, weshalb er hier kurz mitgeteilt werden soll. Mahan, der für eine starke amerikanische Kriegsflotte und für die Besetzung Hawaiis und der Philippinen eintrat, hat mehrfach, besonders aber in einem Aufsatz des Jahres 1904, zu der Verbindung Englands mit den Vereinigten Staaten von Amerika Stellung genommen. [2] Den eigentlichen, ausschlaggebenden Grund für die „Wiedervereinigung der angloamerikanischen Mächte" sieht er nicht in der Gemeinsamkeit der Rasse, der Sprache, der kulturellen Tradition und der politischen Ideale. Das hält er für interessante Dinge, aber viel wichtiger ist ihm der seemachtpolitische Gesichtspunkt. „Die geographische Lage der USA ist dieselbe wie die Englands und treibt beide in gleicher Richtung." England, so sagt er schon um 1900, ist heute keine Insel mehr, jedenfalls keine Insel, die imstande wäre, ein auf der Herrschaft über die Weltozeane gestütztes, wirkliches Weltreich zu tragen. Es bedarf einer weit größeren und stärkeren Insel, und das sind eben die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie haben ,»insularen Charakter", weil sie keine militärische Landmacht zu fürchten haben. Sie stellen geographisch und strategisch eine den modernen Raumdimensionen und der planetarischen Weltlage entsprechende, größere und zentraler gelegene Insel dar. Von ihnen aus kann die bisherige britische See- und Weltmacht als angloamerikanische See- und Weltmacht weitergeführt werden. Man kann es verstehen, daß ein in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehender amerikanischer Marineschriftsteller den weiteren Verlauf der Dinge im Lichte eines solchen „insularen" Weltbildes erblickte. Beruf und Herkunft bestimmten den Admiral Mahan, die Welt und die Weltgeschichte ganz vom Meere her zu sehen. Der maritime Weltaspekt gab ihm eine große Überlegenheit über eine noch ganz territoriale, landbezogene Denkart, die er als Angelegenheit von Provinzlern und Hinterwäldlern aufrichtig verachtete. Auch die Monroedoktrin war für Mahan eine geschichtlich überholte Landratten-Parole. Die neue zeitgemäße Monroedoktrin hieß für ihn: offene Tür auf allen Weltmärkten, und dazu gehört eine starke Seemacht, die imstande ist, die Verkehrsstraßen und Stützpunkte eines ozeanischen Weltreiches wirksam zu schützen.[3]
Großraumordnung gegen Universalismus Um 1900, zur Zeit Mahans, konnte man noch glauben, daß die Weiterentwicklung der Weltpolitik in den Bahnen vor sich gehen würde, die im vorangegangenen Jahrhundert durch die alles beherrschende Tatsache der britischen Seemacht vorgezeichnet schienen. [4] Damals stimmten auch die das Denken der Menschen beherrschenden Ideale von freiem Weltmarkt, freiem Welthandel, Freizügigkeit der Arbeit und des Goldes mit der Prognose einer universalen angelsächsischen Weltmacht überein. Weltmarkt, Welthandel, Weltmeer und der große Mythos der Freiheit erhielten ihren konkreten Inhalt dadurch, daß die Angloamerikaner das fabelhafteste aller Monopole innehatten, nämlich das Monopol, Hüter der Freiheit
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der ganzen Erde zu sein. Damit ist es nun zu Ende. Das große Thema des gegenwärtigen Weltkrieges liegt gerade in dem Gegensatz gegen eine solche universale Weltmacht und ihren Weltordnungsanspruch. Gegen den Universalismus angloamerikanischer Weltherrschaft hat sich der Gedanke einer in kontinental zusammenhängende Großräume sinnvoll eingeteilten Erde durchgesetzt. Es kann keine gelenkte Weltwirtschaft geben. Großräume sind die dem inneren Maß menschlicher Planung und Lenkung angemessenen Räume. Die Schnelligkeit, mit der die japanische Streitmacht im ostasiatischen Großraum die technisch vollkommen ausgestatteten Stützpunkte und Positionen raumfremder Mächte liquidiert, hat die Unwiderstehlichkeit des modernen Großraumgedankens wohl auch manchem Angloamerikaner zum Bewußtsein gebracht. Damit ist aber auch der ordnende und gruppierende Gedanke der gegenwärtigen Weltauseinandersetzung in aller Schärfe herausgestellt. Die Weltgeschichte kennt Kriege verschiedenster Art, Angriffs- und Verteidigungskriege, beschränkte und unbeschränkte, Freiheits- und Eroberungskämpfe, Handels- und Religionskriege. Alle diese Einteilungen und Kennzeichnungen verblassen vor der überwältigenden Tatsache, daß der gegenwärtige Weltkrieg ein Raumordnungskrieg größten Stils, der erste Raumordnungskrieg planetarischen Ausmaßes ist. Darin liegt das Neue, das Einmalige und das Unvergleichbare dieses Land und Meer umfassenden Ringens der Völker. Darin liegt auch die Aufhebung des Gegensatzes von Land und See in ihrer bisherigen, angloamerikanisch bestimmten Ausprägung. Alle weiteren Fragen lassen sich auf diesen letzten weltgeschichtlichen Sinn bringen und von dort her beantworten. Kann also die Entscheidung eines solchen planetarischen Raumordnungskrieges aus Amerika kommen?
Taumelndes Amerika Die erste und notwendigste Voraussetzung dafür, daß der gegenwärtige Weltkrieg von Amerika her seine Entscheidung fände, wäre eine sichere und evidente Ordnung Amerikas selbst. Die beiden Kontinente der westlichen Hemisphäre[5] müßten in sich so kristallklar ihre eigene innere Ordnung gefunden haben, daß deren Ausstrahlung in eine Raumordnung der ganzen Erde von selber einleuchtet. Die Anziehungskraft, die von klaren Entscheidungen ausgeht, würde von selbst ihre Wirkung ausüben. Ein von inneren, ungelösten Widersprüchen zerrissener, von keinem neuen, der heutigen Weltsituation gemäßen Ordnungsprinzip durchdrungener, in sich entscheidungsloser Erdteil dagegen vermehrt durch sein Eingreifen in die Weltauseinandersetzung nur die allgemeine Verwirrung und schürt nur den Weltbrand, aus dem die gequälten Völker verzweifelt einen Ausweg suchen. Die innere Entscheidungslosigkeit kennzeichnet aber den Gesamtzustand der westlichen Hemisphäre in ihrer gegenwärtigen Lage. Alle aufmerksamen Beobachter, Politiker, Soziologen und Juristen haben die Selbstwidersprüche bemerkt, an denen die westliche Hemisphäre seit langem krankt und die seit dem Beginn der im28 Staat, Großraum, Nomos
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perialistischen Zeit, seit 1898, so erstaunlich gewachsen sind, daß der Gedanke einer von dort her kommenden neuen Weltordnung grotesk erscheint. [6] Diese inneren Widersprüche entstehen sämtlich daraus, daß eine zum offiziellen Dogma gewordene, mangels jeder neuen Idee krampfhaft weitergeführte Tradition den früheren Mythos der neuen Welt und der amerikanischen Freiheit festhält. Daraus ergeben sich fortwährend neue Widersprüche mit der politischen, sozialen und geistigen Wirklichkeit der heutigen Welt und mit der eigenen amerikanischen Situation. Vor zwei bis drei Generationen konnte man noch glauben, daß Amerika für jeden tüchtigen Menschen ein Asyl freier Arbeit und freien Denkens wäre. Damals konnte die westliche Hemisphäre noch mit dem ganzen Pathos Jeffersons die Trennungslinie gegenüber dem korrupten Europa ziehen. [7] Die grauenhafte Problematik eines alten Erdteils, des von konfessionellen, nationalen und sozialen Fragen zerrissenen, zur Freiheit und Gerechtigkeit unfähigen Europa, war in Amerika mit dem einen großen Wort „Freiheit" gelöst. Das kranke alte Europa flog auf den Kehrichthaufen der Weltgeschichte. Strengste Trennung und Isolation gegenüber dem infizierenden Pestherd war die konsequente Schlußfolgerung aus diesem amerikanischen Selbstgefühl. Heute aber ist Amerika nur noch das vergrößerte und vergröberte Spiegelbild der Problematik des alten Europa und der Alten Welt, und diese Problematik wird noch aufs äußerste gereizt und hochgetrieben durch den unverändert festgehaltenen Anspruch, immer noch die im alt gewordenen Sinne Neue Welt, immer noch das Land freien Bodens, freier Pioniere und freier Grenzer zu sein. Der geheiligten Tradition entspricht die folgerichtige Isolation, zu der imperialistischen Wirklichkeit eines ökonomischen Welthandelsanspruchs dagegen gehört die grenzenlose, universale Intervention. Die Interessen eines Weltkapitalismus zwingen zu einer allgegenwärtigen, „ubiquitären" Einmischungs- und Nicht-Anerkennungspolitik, die sich anmaßt, zu jeder an irgendeinem Punkt der Erde eintretenden Änderung der Lage von Washington aus das Placet zu erteilen oder zu verweigern. Die traditionelle Trennung von Handel und Politik - so viel Handel wie möglich, so wenig Politik wie möglich - ist innerlich unwahr geworden, weil es einen Welthandel ohne Weltpolitik auf die Dauer nicht geben kann. So taumelt die von den Vereinigten Staaten geführte Hemisphäre seit Jahrzehnten zwischen Tradition und Situation, zwischen Isolation und Intervention, zwischen Neutralität und Weltkrieg, zwischen Anerkennung und Nicht-Anerkennung jeder neuen Situation. Die haltlose Politik und das persönliche Schicksal des Präsidenten Wilson waren nur ein Ausdruck und Erscheinungsfall des innerlich entscheidungslosen Schwankens zwischen extremen Widersprüchen und Gegensätzen. Angesichts des Genfer Völkerbundes manifestierte sich der innere Widerspruch in einer heuchlerischen Mischung von offizieller Abwesenheit und faktischer Anwesenheit. [8] Die unwürdige Sophistik der Neutralitätsgesetzgebung in ihrer Entwicklung von 1935 bis zum Kriegseintritt 1941 war gleichfalls ein einziges Lavieren vor der inneren Unwahrheit, die der Gegensatz von Tradition und
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Situation täglich von neuem hervorbrachte. [9] Jeder Versuch, von einem derartig in sich zerrissenen Erdteil aus den Planeten neu zu ordnen, würde die Erde in das Schlachtfeld eines Weltbürgerkrieges verwandeln.
Der Ausweg in ein Doppelspiel Wahrscheinlich kommt nun ein smarter Mann auf die Idee, der großen Weltfront „Großraum gegen Universalismus" für Amerika den harten Entscheidungscharakter zu nehmen und einfach auf beiden Seiten mitzuspielen. [10] Warum soll man nicht die verlockenden Chancen einer Weiterführung und Beerbung der britischen See- und Weltherrschaft ausnutzen und unbeschadet dessen gleichzeitig die westliche Hemisphäre als einen Großraum im Sinne der neuen Weltordnung ausbauen und in der Hand behalten? Denn alles, was in diesem Weltkrieg geschehen ist und noch geschehen wird, treibt ja zur Bildung von Großräumen und zu einer kontinental zusammenhängenden Großraumeinteilung der Erde. Der Kriegseintritt Japans hat als eine erste Wirkung den Vereinigten Staaten die Möglichkeit verschafft, die beiden amerikanischen Kontinente wirtschaftlich und politisch enger zusammenzufassen. Ist also die westliche Hemisphäre nicht in der angenehmen Lage, beide Arten von Möglichkeiten, universalistische wie Großraum-Chancen, auszunutzen und auf beiden Feldern zu ernten? Ein solcher Gedanke wäre in der Tat recht gescheit. Aber sein wahrer Wert wird sofort sichtbar, wenn man sich klar macht, daß hinter seiner Gescheitheit nichts anderes steht, als dieselbe Entscheidungsunfähigkeit einer sich selbst widersprechenden Politik, die, nachdem sie jahrzehntelang zwischen allen Extremen getaumelt ist, jetzt auch vor dem großen weltpolitischen Ernstfall zu lavieren sucht. Das Doppelspiel scheitert an der Entscheidungskraft einer mit Welt-Fronten und WeltAlternativen, mit letzten Einsätzen und äußersten Opfern gestellten Frage. Alle in diesem Kampf stehenden Mächte, gleichgültig auf welcher Seite sie kämpfen, werden die Vereinigten Staaten von Amerika vor ein Dilemma zwingen, vor dem die hübsche Idee, zwei Hasen auf einmal zu jagen, in nichts vergeht.
Verzögerer und Beschleuniger Indem er die britische See- und Weltherrschaft weiterzuführen versuchte, übernahm der Präsident der Vereinigten Staaten nicht etwa nur einige vorteilhafte Stükke, die er sich aussuchen konnte. Er trat vielmehr unter das Gesetz, dem die politische Existenz des britischen Reiches im letzten Jahrhundert folgerichtig unterstand. England war der Konservator aller „kranken Männer" geworden, angefangen von dem damaligen „kranken Mann am Bosporus", bis zu indischen Maharadschas und Sultanen aller Art. England war in die Rolle des großen Verzö28*
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gerers der weltgeschichtlichen Entwicklung geraten und in dieser Rolle wie festgebannt. Es scheint das allgemeine Gesetz aller altgewordenen Reiche zu sein, das England zum Hindernis jeder vernünftigen Änderung, schließlich sogar zum Hindernis jedes starken Wachstums gemacht hat. [11] Die Historiker und Geschichtsphilosophen sollten einmal die verschiedenen Figuren und Typen der weltgeschichtlichen Aufhalter und Verzögerer untersuchen und darstellen. In der Spätantike und im Mittelalter glaubten die Menschen an eine geheimnisvoll aufhaltende Macht, die mit dem griechischen Wort „kat-echon" (Niederhalten) bezeichnet wurde und die es verhinderte, daß das längst fällige apokalyptische Ende der Zeiten jetzt schon eintrat. [12] Tertullian und andere sahen in dem damaligen, alten Imperium Romanum den Verzögerer, der durch seine bloße Existenz den Äon ,»hielt" und eine Vertagung des Endes bewirkte. Das europäische Mittelalter hat diesen Glauben übernommen, und wesentliche Vorgänge mittelalterlicher Geschichte sind nur von ihm aus verständlich. In einem anderen, aber doch wieder analogen Sinne war Hegel, der letzte große systematische Philosoph Deutschlands, in den Augen Nietzsches nichts als der große Verzögerer und Aufhalter auf dem Wege zum wahren Atheismus. Aber auch in einzelnen Figuren und Persönlichkeiten der politischen Geschichte können aufhaltende und verzögernde Kräfte in eigentümlicher, symbolischer Weise Gestalt annehmen. Der alte Kaiser Franz Joseph schien durch sein bloßes Dasein das Ende des überalterten habsburgischen Reiches immer wieder aufzuhalten, und wenn damals die Meinung verbreitet war, Österreich werde nicht zusammenbrechen, solange er lebte, so war das mehr als ein törichter Aberglaube. Nach dem Weltkrieg 1918 kam dem tschechischen Präsidenten Masaryk die Funktion eines Aufhalters in entsprechend kleinerem Maßstab zu. Für Polen wurde der Marschall Pilsudski zu einer Art von „katechon". Vielleicht genügen diese Beispiele, um den politischen und geschichtlichen Sinn anzudeuten, der in der Rolle des Verzögerers enthalten sein kann. Als der Präsident Roosevelt den Boden der Isolation und Neutralität verließ, unterwarf er sich - ob er wollte oder nicht - der aufhaltenden und verzögernden Daseinsrichtung des alten britischen Weltreichs. Gleichzeitig aber proklamierte er ein „amerikanisches Jahrhundert",[13] um die auf das Neue und die Zukunft gerichtete amerikanische Linie beizubehalten, in der sich der erstaunliche Aufstieg der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert bewegt hatte. Auch hier, wie in allen wichtigen Vorgängen der neueren amerikanischen Politik, schwankt der Schritt in den tiefen Selbstwidersprüchen einer Hemisphäre, die ihren Halt in sich selbst verloren hat. Es wäre schon viel, wenn Roosevelt durch seinen Kriegseintritt zu einem der großen Aufhalter und Verzögerer der Weltgeschichte geworden wäre. Doch die innere Entscheidungslosigkeit des Vorganges verhindert diese wie jede andere echte Wirkung. Statt dessen vollzieht sich hier das Schicksal derer, die ohne Bestimmtheit des inneren Sinnes mit ihrem Schiff in den Mahlstrom der Geschichte gleiten. Sie sind weder große Beweger noch große Verzögerer, sondern können nur als Beschleuniger wider Willen enden.
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Anmerkungen des Herausgebers [1] v. Ribbentrop stellt in einer Note an den US-amerikanischen Geschäftsträger am 11. 12. 1941 den Kriegszustand zwischen den Vereinigten Staaten und dem Großdeutschen Reich fest und warf der Regierung der Vereinigten Staaten vor, „von anfänglichen Neutralitätsbrüchen endlich zu offenen Kriegshandlungen gegen Deutschland übergegangen (zu sein). Sie hat damit praktisch den Kriegszustand geschaffen." Eine Kriegserklärung im klassischen Sinne war dies nicht. Roosevelt behauptete jedoch in einer Botschaft an den Kongreß am gleichen Tage, daß „the Government of Germany, pursuing its course of world conquest, declared war against the United States." (nach: F. Berber, Die amerikanische Neutralität im Kriege 1939 - 1941, 1943, S. 163, S. 190.) [2] Wohl Irrtum Schmitts o. Druckfehler; der hier gemeinte Aufsatz erschien u. d. T. „Possibilities of an Anglo-American Reunion" bereits im Nov. 1894 in der „North American Review"; Ndr. in: Mahan, The Interest of America in Sea Power - Present and Future, Boston 1898, S. 107 - 134; dt. in: ders., Die weiße Rasse und die Seeherrschaft, Wien u. Leipzig 1909, S. 88 -110; vgl. auch: Völkerrechtl. Großraumordnung, vorl. Bd., FN [16], S. 328. [3] Vgl. Mahans zahlreiche Erörterungen der Monroe-Doktrin in seinem Aufsatzband , Armaments and arbitration or the place of force in the international relations of states", New York / London 1912; Ndr. 1973. Dort S. 115: „The ,Open door 4, a modern phrase, is another outcome of this desire to increase area in order to gain economic advantage". - Zur „Offenen Tür": R. Walter, Die amerikanische Politik der Offenen Tür in Ostasien, Essen 1943; W. G. Grewe, Epochen d. Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 559 - 66. - Vgl. zu Mahan: Biographisches über Mahan - Sein Werdegang als Historiker und Schriftsteller, in: Marine-Rundschau, 1908, S. 1130 - 1145; Ch. C. Taylor, The life and work of Captain Alfred Thayer Mahan, New Haven 1939 (5. Aufl. 1946); W D. Puleston, Mahan. The life and work of Captain Alfred Thayer Mahan, New Haven, Conn., Yale Univ. Press, 1939; S. Plaggemeier, Admiral A. T. Mahan, Der Begründer des u.s.-amerikanischen Marineimperialismus, Zeitschrift f. Geopolitik, 11 /1941, S. 591 - 600; H. Rosinski, Mahan and the present war, Brassey's Naval Anual (Portsmouth), 1941, S. 192 - 209; M. T. Sprout, Mahan: Evangelist of Sea Power, in: E. M. Earle, Ed., Makers of modern strategy, Princeton 1943 (u. ö.), S. 415 - 45; W. E. Livezay, Mahan on Sea Power, Norman 1947, Univ. of Oklahoma Press; B. H. v. Wevell, Die Sowjetunion und die Lehre A. T. Mahans, Zeitschrift f. Geopolitik, 3 / 1953, S. 135 -141; W. H. Rüssel, Mahan, in: W. Hahlweg (Hrsg.), Klassiker der Kriegskunst, 1960, S. 319 - 345; W. LaFeber, Der „merkantilistische" Imperialismus Alfred T. Mahans, in: H. U. Wehler, Imperialismus, 1970, S. 389 - 399 (zuerst engl. 1962); J. L. Wallach, Mahan: Der Prophet der Seemacht, in: ders., Kriegstheorien - Ihre Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, 1972, S. 317 327; M. Hanke, Das Werk Alfred T. Mahans - Darstellung und Analyse, 1973. Von besonderem Interesse ist hier der Einfluß Mahans auf F. D. Roosevelt, vgl.: W. L. Neumann, Franklin Delano Roosevelt: a disciple of Admiral Mahan, in: Proceedings of the United States Naval Institute, Annapolis, 1952, S. 713 - 719. [4] Vgl.: P. Kennedy, Aufstieg und Verfall der britischen Seemacht, 1978, aus dem Engl. [5] Zur „Western hemisphere" vgl. u. a. auch: L. Martin, The Geography of the Monroe Doctrine and the Limits of the Western Hemisphere, Geographical Review, Juli 1940, S. 525 ff.; Grewe, Die westliche Hemisphäre, Monatshefte f. Ausw. Politik, Februar 1941, S. 107 ff.; A. Kühn, Zum Begriff der Westlichen Hemisphäre, Zeitschrift d. Gesellschaft f. Erdkunde zu Berlin, August 1941, S. 222 ff.; C. Ross, Die „Westliche Hemisphäre" als Programm und Phantom des amerikanischen Imperialismus, 1942; Schmitt, Der Nomos der Er-
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de, 1950, S. 256 ff.; A. P. Whitaker, The Western Hemisphere Idea: Its Rise and Decline, Ithaca / New York 1954. - Die ständige Ausweitung der „western hemisphere" durch Roosevelts interpretatorische Kunststücke, der zunächst von der 300-Seemeilen-Sicherheitszone der Panamakonferenz 1939 ausging (ca. 60. Längengrad) und zum Schluß Grönland, Australien, Neuseeland, Niederländisch-Ostindien, Indochina usw. dieser Hemisphäre zurechnete, untersucht D. Bavendamm, Roosevelts Krieg und das Rätsel von Pearl Harbour, 1993, S. 205 219, bes. S. 211 ff. Er kommt zu dem Schluß: „Nicht die Kriegsereignisse erzwangen eine Ausdehnung der westlichen Hemisphäre auf den gesamten Erdball, sondern die Ausdehnung der westlichen Hemisphäre auf den gesamten Erdball erzwang die Kriegsereignisse". Mit jeder Aktion der deutschen und der italienischen Armeen rückten nicht diese der westlichen Hemisphäre näher, sondern wurde die westliche Hemisphäre von Roosevelt diesen Armeen „nähergerückt"; vgl. dazu auch: St. Conn / B. Fairchield, The United States Army in World War II. Framework of Hemisphere Defense. I, The Western Hemisphere, Washington, D. C., 1960, S. 62 ff. - Für E. Stanley, The myth of the continents, Foreign Affairs, April 1941, S. 481 - 494, war sogar die „western hemisphere" nicht genug, ihm erschien der „Western Hemisphere defense plan" als „a static plan"; der Autor übersah aber wohl noch nicht die Interpretationskünste Roosevelts. Vgl. auch vorl. Bd., Raum und Großraum im Völkerrecht, FN [15], S. 266. [6] Vgl. H. Gollwitzer, Geschichte d. weltpolitischen Denkens, II, 1982, S. 149 - 157 („Das Jahr 1898"). [7] Vgl. vorl. Bd., Die letzte globale Linie, S. 444; Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 262; auch T. R. Schellenberg, Jeffersonian origines of the Monroe Doctrine, Hispanic American Historical Review, 1934, S. 1 - 31. [8] Vgl. Schmitt, Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus, 1932, Ndr. in ders., Positionen und Begriffe, 1940, S. 162 ff. [9] Vgl. neben der Dokumentation v. Berber (FN [1]), die auf S. 10 f. umfangreiche Literaturhinweise zu den verschiedenen Etappen der amerikanischen Neutralitätsgesetzgebung bringt, u. a.: E. Neumann, Die Neutralität der Vereinigten Staaten, 1939; H. E. Bockhoff, Begriff und Wirklichkeit der Neutralität, ZöR, 4 / 1939, S. 516 ff.; Berber, Wandlungen der amerikanischen Neutralität, Reich-Völksordnung-Lebensraum, V I / 1943, S. 9 ff. (resümierend); von amerikanischer Seite u. a.: Qu. Wright, The present Status of Neutrality, AJIL, Juli 1940, S. 391 ff.; H. L. Trefousse, Germany and American Neutrality 1939 - 1941, New York 1951; R. A. Divine, The Illusion of Neutrality, Chicago 1962. Zur Orientierung: K. Krakau, Missionsbewußtsein u. Völkerrechtsdoktrin in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1967, bes. S. 377 ff., 401 ff.; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 457 ff. Vgl. auch vorl. Bd., Völkerrechtliche Großraumordnung, FN [43], S. 337. [10] Vgl. Schmitts gleichnamigen Aufsatz in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 295 ff. [11] Vgl. K. Haushofer, Weltpolitik von heute, 1934, S. 65 ff. („Die Mächte des Beharrens"); ders., Starre Hüter des gewesenen Standes (Status quo) als Hemmungen wahren Friedens, als Ursache von Umsturz statt Umbruch und Lebenserneuerung, in: ders. / G. FochlerHauke (Hrsg.), Welt in Gärung. Zeitberichte deutscher Geopolitiker, Leipzig 1937, S. 7 - 19. [12] Hier benutzt Schmitt zum ersten Mal in seinem Werk diesen theologischen Begriff, wenn auch auf eine pejorative Weise. Sonst zum kat-echon als Aufhalter des Antichrist: Land und Meer, 1942, S. 11 f.; Ex captivitate salus, 1950, S. 31; Der Nomos der Erde, 1950, S. 2836 („Das christliche Reich als Aufhalter (Kat-echon)"); Drei Stufen historischer Sinngebung,
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Universitas, H. 8, 1950, S. 929 / 30; La Unidad del Mundo, Madrid 1951, S. 34 f.; Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 385, 428 f.; Politische Theologie II, 1970, S. 61 f. (FN 8); ebd., S. 81 (Differenz zu Peterson); Glossarium, 1991, S. 63, 80, 153, 165, 253, 273 (Eintragungen aus d. Jahren 1947 / 49). - Nachdruck auf die Bedeutung des kat-echon als der „geistige(n) Brücke vom eschatologischen Christentum zur weltgeschichtlichen Existenz des fränkisch-deutschen Reiches" legte Schmitt in s. Kommentar (als Koreferent) zur Habilitation v. Reinhard Hohns Schüler Roger Diener, Das Reich im Weltanschauungskampf, Teildruck in: Reich-Volksordnung-Lebensraum, V I / 1943, S. 216 - 352; dazu: Chr. Tilitzki, Carl Schmitt - Staatsrechtslehrer in Berlin, Siebte Etappe, Bonn, Okt. 1991, S. 77 ff. - Schmitts Freund Alvaro d'Ors kritisierte das Konzept in: De la guerra y de la paz, Madrid 1954, S. 181 - 204, „Carl Schmitt en Compostela". Danach kann es kein Interesse des Christen geben, das Ende der Welt aufzuhalten: „aquel Fin, no solo no debe ser repugnado, sino que debe ser deseado" (S. 194); vgl. auch d'Ors' Kritik an Schmitts theologischen Voraussetzungen: Teologia politica, una revision del problema, Revista de Estudios Politicos, 205 / 1976, S. 41 - 79. Zum kat-echon bei Schmitt: A. Caturelli, Despotismo universal e katechon paulino en Donoso Cortes, Sapientia (Argentinien), 13 / 1958, S. 36 - 42, 110 - 127; E. Castrucci, Naphta, o un Katechon per l'Europa (zuerst 1981), in: ders., La forma e la decisione. Studi critici, Mailand 1985, S. 91 - 102; H. Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen", 1988, ö.; G. Maschke, La rappresentazione cattolica, Der Staat, 4 / 1989, S. 557 575; M. Nicoletti, Trascendenza e potere. La teologia politica di Carl Schmitt, Brescia 1990, S. 487 - 494; F. Balke, Beschleuniger, Aufhalter, Normalisierer, in: ders. u.a. (Hrsg.), Zeit des Ereignisses - Ende der Geschichte?, 1992, S. 209 - 32; M. Cacciari, Commento teologico-politico a 2 Tessalonicesi 2, in: Multiformitä ed unitä della politica, FS Miglio, Mailand 1992, S. 103 - 23; Th. W. A. de Wit, De onontkoombaarheid van de politiek. De soevereine vijand in de politieke filosofie van Carl Schmitt, Ubbergen / Niederlande 1992, S. 202, 219, 249, 258, 336 - 39 u. ö.; F. Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom ,Katechon', unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Basel 1992; L. Berthold, Wer hält zur Zeit den Satan auf?, Leviathan, 2 / 1993, S. 285 - 99. - Zur theologischen Deutung, die Schmitt stark beschäftigte, vgl. (neben d. umfangreichen Literatur zum 2. Thessalonicher-Brief, zur mittelalterlichen Reichstheologie u. zur Apokalypse), u. a. etwa: D. Buzy, L'adversaire et 1'obstacle, Recherches de Science religieuse, 1934, S. 402 - 431; J. Schmid, Der Antichrist und die hemmende Macht, Theologische Quartalschrift, 1949, S. 323 - 343; W. Stählin, Die Gestalt des Antichrist und das Katechon, Festgabe J. Lortz, II, 1957, S. 1 - 12 (mit deutlichen Bezugnahmen auf Schmitt, ohne ihn zu nennen); A. Strobel, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, 1961, bes. S. 98 - 116, 135 ff., 147 ff.; J. Ernst, Die eschatologischen Gegenspieler in den Schriften des Neuen Testaments, 1967, bes. S. 48 ff.; H. D. Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter, 1973, S. 55 - 71; die von Schmitt wiederaufgenommene, „staatstheologische" Deutung d. kat-echon als „Reich", zurückgehend auf Hippolyt, In Dan., IV, 21, 3; Tertullian, Apologeticum, 32, 1; Lactanz, Div. inst., 7, 25; Ireaneus, adv. haer., 5, 26, u. im Mittelalter bei Otto v. Freising u. a. fortgeführt, ist theologisch stark umstritten, vgl. schon die Zweifel b. Augustinus, de civ. Dei, XX, 19. Mit bes. Nachdruck hat O. Cullmann die „staatstheologische" Deutung zurückgewiesen, vgl. ders., Der eschatologische Charakter des Missionsauftrags u. des apostolischen Selbstbewußtseins bei Paulus (1936), in: ders., Vorträge und Aufsätze 1925 - 1962, 1966, S. 305 - 336; ders., Christus und die Zeit, zuerst 1946, 3. Aufl. 1962, S. 146 ff. Danach ist b. Paulus die Heidenmission d. kat-echon. Zu weiteren möglichen Deutungen vgl. auch J. Ernst, op. cit., S. 48 - 57. - Bei Schmitts Freund E. Peterson halten die Juden durch ihren Unglauben die Wiederkunft Christi auf, vgl. ders., Die Kir-
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che, 1928/29, nach: Theolog. Traktate, 1951, S. 413; Petersons Haltung ggü. dem kat-echon ist negativ; ähnlich wie bei A. d'Ors (s. o.). [13] Das „American Century" wurde „proklamiert" von dem Zeitungsverleger Henry Luce in dem von ihm hrsg. Sammelband „The American Century", New York 1941. Luce billigte darin dem Britischen Reich nur noch die Rolle eines Juniorpartners zu. Zu Luce vgl.: G. Wirsing, Der maßlose Kontinent. Roosevelts Kampf um die Weltherrschaft, Jena 1942, S. 330 ff.; H. J. Laski, The American Democracy, New York 1948, S. 659 - 664. Mit dem Rüstungsprogramm zur Schaffung einer „Two Ocean Navy" und der Panamerikanischen Konferenz in Lima, Dezember 1938, wären für die USA die Grundlagen der anglo-amerikanischen Gesamthänderschaft hinfällig geworden - so Grewe, Sinnwandel der amerikanischen Neutralitätspolitik, Monatshefte f. Ausw. Politik, Jan. 1939, S. 29 - 33.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien am 19. 4. 1942 in „Das Reich", Sp. 1 - 5; ein Nachdruck in d. Zeitschrift „Tumult - Zeitschrift für Verkehrswissenschaft", H. 7 / 1983, „Der Planet", S. 9 - 14, mit einer Nachbemerkung v. Kai Wagner; vgl. dazu die späte, scharf polemische Stellungnahme v. D. Krochmalnik, „Tumult" und Carl Schmitts Großraumordnung, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 10. 1. 1986. - K. Saucke, Präsident Roosevelts Funktion, Zeitschrift f. Geopolitik, 10 / 1952, S. 644, weist auf Schmitts Aufsatz in Zusammenhang mit einem Artikel v. A. Seidel, Der Kalte Krieg ist nicht der Friede, ebd., 8 / 1952, S. 449 - 52, hin. - Eine italienische Fassung, „La lotta per i grandi spazi e l'illusione americana", erschien in der Zeitschrift „Lo Stato", 1942, S. 173 - 180; Ndr. in: Schmitt, Scritti politicoguiridici (1933 - 1942) - Antologia da „Lo Stato" a cura di Alessandro Campi, Perugia 1983, S. 115 - 123, sowie in: Schmitt, L'unitä del mondo e altri saggi, Rom 1994, S. 261 - 69; eine französische Version, „Accelerateurs involontaires ou: La problematique de l'hemispere occidental", in: Schmitt, Du Politique. „Legalite et Legitimite" et autres essais, ed. A. de Benoist, Puiseaux 1990, S. 169 - 175. - Schmitts Kritik an Roosevelt deckt sich z. T. mit der AntiRoosevelt-Propaganda des III. Reiches, der ein analytischer Wert nicht abzusprechen ist, vgl. etwa: W. A. Lohe, Roosevelt-Amerika, 1939; Silvanus, Präsident Roosevelt und der Krieg, Monatshefte f. Ausw. Politik, 4 / 1941, S. 263 - 277; G. Jentsch, Triebkräfte u. Grundlagen der Roosevelt'schen Außenpolitik 1941, Jb. für Ausw. Politik 1942, S. 47 - 74; H. H. Dieckhoff, Zur Vorgeschichte des Roosevelt-Krieges, 1943. Über diese Literatur informiert - freilich ganz im Banne der re-education verharrend - : H. Frisch, Das deutsche Rooseveltbild (1933 - 1941), Diss. FU Berlin 1967. Roosevelts Hinarbeiten auf den großen Krieg mit Japan und Deutschland, den Deutschland unbedingt vermeiden wollte, Japan nicht vermeiden konnte, wird belegt von D. Bavendamm, Roosevelts Weg zum Krieg, 1983; ders., Roosevelts Krieg 1937 - 45 und das Rätsel von Pearl Harbor, 1993; D. Kunert, Ein Weltkrieg wird programmiert. Hitler, Roosevelt, Stalin: Die Vorgeschichte des 2. Weltkriegs nach Primärquellen, 1984. Die „Klassiker" der „revisionistischen" US-Kritik an R.: Ch. Beard, President Roosevelt and the Coming of War, 1941, New Haven 1948; F. R. Sanborn, Design for War A Study of secret Power Politics, 1937 - 1941, New York 1951; Ch. C. Tansill, Back Door to War: The Roosevelt Foreign Policy 1933 - 1941, Chicago 1952; eine Bilanz, die auch detailliert die Hexenjagd auf die „Revisionisten" darstellt, bietet Harry Elmer Barnes in den von ihm edierten Sammelband „Perpetual War for perpetual Peace - A critical Examination of the Foreign Policy of Franklin Delano Roosevelt and its aftermath", Caldwell / Id. 1953, Ndr. New York 1969. - Vgl. a.: Archiv-Kommission des Ausw. Amtes (Hrsg.), Roosevelts Weg in den Krieg, Dok., 1943. - Vgl. a. vorl. Bd., S. 511.
Die letzte globale Linie Kaum waren die ersten geographischen Karten und Globen hergestellt und dämmerten die ersten Vorstellungen von der wirklichen Gestalt der Erde als eines „Globusses", so wurden auch gleich globale Linien gezogen, um diese Erde einzuteilen oder zu verteilen. Am Anfang steht die berühmte Linie, die der Papst Alexander VI. am 4. Mai 1493, wenige Monate nach der Entdeckung Amerikas, vom Nordpol zum Südpol durch den Atlantischen Ozean gezogen hat, und nach der die neuen Länder und Ozeane zwischen Portugal und Spanien geteilt wurden. Dieser ersten globalen Linie folgen in Verträgen zwischen den Entdeckerländern Portugal und Spanien zahlreiche weitere für beide Hälften der Erde. Sie stellen einen besonderen Typus dar, den man am besten mit dem spanischen Namen „Raya" bezeichnet. Ihr Wesen besteht darin, daß sie eine Verteilungslinie zwischen Land und See nehmenden Mächten darstellt.fi] Ganz anderer Art ist der im 16. und 17. Jahrhundert häufige Typus einer globalen Linie, der mit den sogenannten Freundschaftslinien, den „amity lines" erscheint. Sie sind keine Verteilungslinien, sondern grenzen eine Zone rücksichtslosen Kampfes aus. Solche Linien waren z. B. der Äquator oder der Wendekreis des Krebses im Süden, oder ein Meridian, der über die Azoren ging, im Westen. „Jenseits der Linie" hörte alles überkommene oder vereinbarte europäische Recht auf und begann das rücksichtslose „Recht des Stärkeren". Das ist das berüchtigte „beyond the line" der englischen Piraten und Korsaren, der Flibustiers und Buccaneers des 17. Jahrhunderts. Diese Linie ist ihrem Wesen nach eine Kampflinie.[2] Ein dritter, wiederum anders gearteter Typus einer globalen Linie ist die amerikanische Linie der westlichen Hemisphäre. Sie erscheint in aller Form, mit geographischer Bestimmtheit in der Botschaft des Präsidenten Monroe vom 2. Dezember 1823.[3] Hier wird das Wort „Hemisphäre" bereits bewußt und mit spezifischer Bedeutung gebraucht und nennt ihren eigenen Raum sowohl „Amerika" - oder „diesen Kontinent" - wie auch „diese Hemisphäre" (this hemisphere). Absichtlich oder unabsichtlich fällt der Ausdruck „Hemisphäre" im Zusammenhang damit, daß das politische System der westlichen Hemisphäre als ein Regime der Freiheit dem anders gearteten politischen System der damaligen absoluten Monarchien Europas entgegengestellt wird. Monroedoktrin und westliche Hemisphäre gehören seitdem zusammen und grenzen einen über das eigentliche Staatsgebiet hinausgehenden Raum für „spezielle Interessen" der Vereinigten Staaten ab.[4] In zahlreichen Erklärungen der Regierung der Vereinigten Staaten wurde das Wort verwendet, und zu Beginn des neuen Weltkonflikts 1939 schien es geradezu die Parole der Politik der Vereinigten Staaten zu werden. Die geographische Abgrenzung, der Inhalt und das Schicksal dieser Linie verdienen daher heute besonderes Interesse.
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Was den geographischen Bereich der „Westlichen Hemisphäre" betrifft, so hat vor kurzem ein Geograph des State Department der Vereinigten Staaten, S. W. BoggSy eine genaue Abgrenzung der westlichen Hemisphäre im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Monroedoktrin vorgenommen. [5] Er geht davon aus, daß man unter der westlichen Hemisphäre im allgemeinen die von Christoph Columbus entdeckte „Neue Welt" versteht, daß aber im übrigen die geographischen oder historischen Begriffe „Westen" und „Osten" weder durch die Natur noch durch gemeinsame Abmachungen bestimmt sind. Die Kartenzeichner haben sich daran gewöhnt, eine Linie durch den Atlantischen Ozean zu ziehen, die auf dem 20. Längengrad westlich des Null-Meridians von Greenwich verläuft. Danach würden die Azoren und Cap Verde-Inseln in die westliche Hemisphäre gehören, was allerdings, wie auch Boggs zugibt, ihrer geschichtlichen Zuordnung zur alten Welt widerspricht. Grönland dagegen rechnet er fast ganz zur westlichen Hemisphäre, obwohl es doch nicht durch Christoph Columbus entdeckt worden ist. Über die arktischen und antarktischen Regionen des Nord- und Südpols spricht er nicht. Auf der pazifischen Seite der Erdkugel will er nicht einfach den dem 20. Grad entsprechenden 160. Längengrad zur Grenzlinie machen, sondern die sogenannte internationale Datumsgrenze, d. h. den 180. Längengrad, wobei er allerdings einige Ausbuchtungen im Norden und Süden vornimmt. Die westlichen Inseln Alaskas zieht er noch ganz zum Westen, auch Neuseeland kommt in die westliche, Australien dagegen in die andere Hemisphäre. Daß die ungeheuren Flächen des Pazifischen Ozeans wenigstens, wie er sagt, „provisorisch" ebenfalls in die westliche Hemisphäre fallen, hält er damals (vor dem Ausbruch des Krieges mit Japan) nicht für eine praktische Schwierigkeit, sondern für etwas, worüber sich höchstens die Kartenverfertiger aufregen könnten. Der amerikanische Völkerrechtsjurist P. S. Jessup hat seinem Bericht über die Denkschrift Boggs' bereits im Jahre 1940 hinzugefügt: „Die Dimensionen ändern sich heute schnell, und dem Interesse, das wir 1860 an Cuba hatten, entspricht heute unser Interesse an Hawaii; vielleicht wird das Argument der Selbstverteidigung dazu führen, daß die Vereinigten Staaten eines Tages am Yangtse, an der Wolga und am Kongo Krieg führen müssen."[6] Es mußte auffallen, daß wichtige amerikanische Erklärungen, die nicht von Washington ausgingen, insbesondere die gemeinsamen Beschlüsse der amerikanischen Außenminister von Panama (Oktober 1939),[7] den Ausdruck „westliche Hemisphäre" nicht gebrauchten, sondern einfach von „Amerika", vom „amerikanischen Kontinent" (in der Einzahl) oder von „Gebieten, die geographisch zu Amerika gehören", sprachen. Hinter diesen Verschiedenheiten des Sprachgebrauchs stehen Verschiedenheiten tieferer Art. Hier wird bereits der Mißbrauch sichtbar, der den Panamerikanismus zu einem Instrument der Politik der Vereinigten Staaten gemacht hat. Allerdings hat noch in diesen Tagen der Präsident von Brasilien in einer Erklärung vom 4. Mai 1943 mit Bezug auf die französische Insel Martinique auf deren Zugehörigkeit zur westlichen Hemisphäre hingewiesen.[8] Für die Raumfragen des heutigen Völkerrechts hat die eben genannte „Erklärung von Panama" vom 3. Oktober 1939 noch eine besondere Bedeutung, auf die hier
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kurz eingegangen werden muß. Innerhalb der durch diese Erklärung bestimmten „Sicherheitszone" zum Schutz der Neutralität amerikanischer Staaten sollten die Kriegsführenden keine feindlichen Akte vornehmen. Die Linie der neutralen Sicherheitszone sollte sich zu beiden Seiten der amerikanischen Küsten bis auf 300 Seemeilen in den Atlantischen und in den Pazifischen Ozean hinein erstrecken. An der brasilianischen Küste erreichte sie den 24. Längengrad westlich von Greenwich, näherte sich also dem 20. Längengrad, der üblicherweise die kartographische Trennungslinie von Westen und Osten darstellt. Diese so unbegrenzte „amerikanische Sicherheitszone" vom Oktober 1939 ist heute praktisch schon deshalb überholt, weil die in ihr vorausgesetzte Neutralität der amerikanischen Staaten entfallen ist. Sie bleibt aber von außerordentlicher grundsätzlicher Bedeutung. Erstens hält sie zum Unterschied von der inzwischen völlig grenzen- und uferlos gewordenen Politik der Vereinigten Staaten, an dem Begriff „Amerika" und der darin liegenden Beschränkung fest. Außerdem hat sie eine große, man darf sagen, aufsehenerregende Auswirkung, weil sie die Maße und Maßstäbe der überlieferten Dreimeilenzone und die überkommene Dimension der Küstengewässer in der großzügigsten Weise ad absurdum führt. Und schließlich unterwirft sie auch den freien Ozean dem Großraumgedanken, indem sie eine neue Art von Raumausgrenzungen aus der Meeresfreiheit einführt. Das wurde von der deutschen Völkerrechtswissenschaft gleich bemerkt und hervorgehoben. [9] Es ist aber auch amerikanischen Völkerrechtslehrern aufgefallen, daß der „Zwei-Sphären-Aspekt der Monroedoktrin" (two-spheres-aspect of the Monroe-Doctrine) durch die Panama-Erklärung vom Oktober 1939 eine wichtige Änderung erfahren hat. Früher dachte man, wenn man von der Monroedoktrin sprach, im allgemeinen nur an das feste Land der westlichen Hemisphäre und setzte für den Ozean die Freiheit der Meere im Sinne des 19. Jahrhunderts voraus. Jetzt werden die Grenzen Amerikas auch ins freie Meer hinein erstreckt. Dieser letzte Punkt ist ganz besonders wichtig. Wie stets in der Weltgeschichte, hat auch hier der Übergang vom Land zum Meer unabsehbare Folgen und Auswirkungen. Solange man bei dem Wort „westliche Hemisphäre" nur an einen kontinentalen Landraum dachte, war damit eine nicht nur mathematisch-geographische Abgrenzung verbunden, sondern auch eine konkrete geographisch-physikalische und geschichtliche Gestalt gegeben. Die nunmehr eintretende Erweiterung und Verlagerung auf das Meer macht den Begriff der westlichen Hemisphäre noch mehr abstrakt im Sinne eines leeren, überwiegend mathematisch-geographisch bestimmten Raumes. In der Weite und Ebenheit des Meeres tritt, wie insbesondere Friedrich Ratzel sagt, „der Raum an sich reiner hervor". [10] In kriegswissenschaftlichen und strategischen Erörterungen findet sich sogar gelegentlich die zugespitzte Formulierung eines französischen Autors, daß das Meer eine glatte Ebene ohne Hindernisse ist, auf der sich die Strategie in Geometrie auflöst.[ll] Ihrem Inhalt nach ist die globale Linie der westlichen Hemisphäre weder eine Verteilungslinie, wie die spanisch- portugiesische „Raya", noch eine offene Kampflinie, wie die englische „amity-line", sondern - wenigstens nach ihrem ur-
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sprünglichen Sinne - eine Linie der Selbstisolierung. Die Neue Welt maßt sich den Anspruch an, das wahre und echte Europa zu sein und setzt sich gegen das alte Europa ab. Zwei oft zitierte Äußerungen Jeffersons aus den Jahren 1812 und 1820 kennzeichnen diese Haltung am besten, weil in beiden der Haß gegen England und die Verachtung des alten Europa deutlich zutage tritt. „Das Schicksal Englands", sagt Jefferson Anfang des Jahres 1812, „ist nahezu entschieden, und die gegenwärtige Form seines Daseins neigt ihrem Untergange zu. Wenn unsere Stärke uns erlaubt, unserer Hemisphäre das Gesetz aufzuerlegen, so sollte es darin bestehen, daß der Meridian, der mitten durch den Atlantischen Ozean läuft, die Demarkationslinie zwischen Krieg und Frieden bildet, diesseits derer keine Feindseligkeiten begangen werden und der Löwe und das Lamm in Frieden nebeneinander ruhen sollen."[12] Deutlich klingt hier noch etwas von dem Kampfcharakter einer „Freundschaftslinie" nach; nur ist Amerika nicht mehr, wie im 16. und 17. Jahrhundert, der Schauplatz rücksichtsloser Kämpfe, sondern umgekehrt ein Bereich des Friedens und die ganze übrige Welt ein Schauplatz des Krieges, aber nur der Kriege der anderen, an denen sich Amerika grundsätzlich nicht beteiligt. Im Jahre 1820 sagt Jefferson: „Der Tag ist nicht fern, an dem wir in aller Form einen Meridian der Teilung durch den Ozean verlangen, der die beiden Hemisphäre trennt, diesseits von dem kein europäischer Schuß jemals gehört werden soll, ebensowenig wie ein amerikanischer Schuß auf der anderen Seite." Immer wird, wie auch in der Monroebotschaft selbst, der Ausdruck „westliche Hemisphäre" in der Weise gebraucht, daß die Vereinigten Staaten sich mit allem identifizieren, was moralisch, kulturell oder politisch zur Substanz dieser Hemisphäre gehört. Oft sind diese Äußerungen der Selbstisolierung so stark, daß die Linie der westlichen Hemisphäre geradezu als eine Quarantänelinie erscheint, als eine Art Pestkordon, durch den sich eine gesunde neue Welt vor dem Leichengift eines vergangenen alten Kontinents zu schützen sucht. Es kommt heute nicht mehr darauf an, was an solchen Äußerungen „moralischer Überlegenheit Amerikas über Europa" früher einmal berechtigt gewesen ist. Zweifellos hatte die neue Welt gegenüber dem alten, in Reaktion und innere Problematik verfallenen Europa große moralische, kulturelle und geistige Möglichkeiten. Aber bereits am Ende des Jahrhunderts, um 1900, waren alle großen Möglichkeiten von außen und innen her erschöpft und entfallen. Der Überfall auf Kuba 1898 war das außenpolitische Signal, das der Welt die Wendung zum Imperialismus verkündete. Dieser war indessen schon lange vorhanden und hielt sich nicht an die alten kontinentalen Vorstellungen von der westlichen Hemisphäre, sondern griff auch weit in den Pazifischen Ozean hinein nach dem alten Osten. Für die weiten Räume Asiens trat an die Stelle der veralteten Monroedoktrin der Grundsatz der „offenen Tür". Geographisch-global betrachtet war das ein Schritt von Osten nach Westen. Der amerikanische Kontinent war jetzt im Verhältnis zu dem weltgeschichtlich auftauchenden ostasiatischen Raum in die Lage eines östlichen Kontinents versetzt, nachdem hundert Jahre vorher das alte Europa durch den weltgeschichtlichen Aufgang Amerikas in den Bereich der östlichen Hemisphäre abge-
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drängt worden war. Für eine „Geistesgeographie" bedeutet ein solcher Wechsel der Beleuchtung ein höchst sensationelles Thema. Unter seinem Eindruck ist denn auch 1930 „Der Aufgang einer Neuen Welt" verkündet worden, die Amerika und China verbinden sollte.[13] Daß sich Völker und Reiche von der übrigen Welt isolieren und durch eine Verteidigungslinie vor der Infektion durch die übrige Welt zu schützen suchen, ist oft in der Weltgeschichte vorgekommen. Der „Limes" ist ein Urphänomen der Geschichte, die „chinesische Mauer" ist ein, wie es scheint, typisches Bauwerk und die „Säulen des Herkules" bleiben ein mythisches Grenzbild für alle Zeiten. Die Frage ist nur, welches Verhalten sich gegenüber anderen Völkern aus einer solchen Abschließung und Isolierung ergibt. Der Anspruch Amerikas, die neue, nichtkorrupte Welt zu sein, war für die übrige Welt nur so lange erträglich, als er sich mit einer folgerichtigen Isolierung verband. Eine globale Linie, die die Welt nach gut und schlecht in zwei Hälften einteilt, stellt eine Plus- und Minuslinie moralischer Bewertung dar. Sie ist eine fortwährende politische Herausforderung an den gesamten anderen Teil des Planeten, wenn sie sich nicht streng auf die Defensive und Selbstisolierung beschränkt. Das war keine Frage bloß ideologischer Folgerichtigkeit, keine Angelegenheit theoretisch-begrifflicher Konsequenzmacherei, auch keine Frage bloßer Zweckmäßigkeit und Opportunität, und erst recht kein Juristenstreit über die Frage, ob die Monroedoktrin ein Rechtsgrundsatz (ein „legal principle") oder nur eine politische Maxime ist. [14] Hier entsteht vielmehr ein Dilemma, dem sich weder der Urheber einer solchen Isolierungslinie noch die übrige Welt entziehen kann. Die Linie der Selbstisolierung verwandelt sich in etwas ganz anderes, Gegenteiliges, wenn sie in eine Linie der Disqualifizierung und Diskriminierung der übrigen Welt umschlägt. Denn die völkerrechtliche Neutralität, die wesentlich zu einer solchen Selbstisolierung gehört, ist schon in ihrer Voraussetzung und ihrer Grundlage etwas Absolutes und strenger als die im alten europäischen Völkerrecht im 18. und 19. Jahrhundert für zwischenstaatliche Kriege entstandenen Arten der Neutralität. Entfällt die absolute Neutralität, die der Selbstisolierung wesentlich ist, dann wird aus dem weltpolitischen Gedanken der Isolierung ein grenzenloser, unterschiedslos die ganze Erde umfassender Interventionsanspruch. Die Isolierung wird zur „Fabel" erklärt; die Monroedoktrin wird ein „Märchen". Die Regierung der Vereinigten Staaten wirft sich zum Richter der ganzen Erde auf und nimmt sich das Recht der Einmischung in alle Angelegenheiten aller Völker und aller Räume. In unmittelbarem Selbstwiderspruch schlägt die extrem-defensive Selbstisolierung in einen ebenso extremen, räum- und grenzenlosen Pan-Interventionismus um. Alles, was die Regierung der Vereinigten Staaten seit 40 Jahren getan hat, steht unter dem Zwang dieses Dilemmas von Selbstisolierung und Pan-Interventionismus. Der Zwang ist ebenso mächtig und unwiderstehlich, wie die räumlichen und politischen Maße eines solchen globalen Liniendenkens riesig und gewaltig sind. In dem ungeheuerlichen Dilemma taumelt die westliche Hemisphäre seit dem Beginn der sogenannten imperialistischen Ära, also seit dem Ende des 19. und dem
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Beginn des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich hier nicht etwa nur um gegensätzliche Tendenzen, um Kontraste und innere Spannungen, wie sie zu jedem starken Leben und erst recht zu jedem großen Reich gehören. Der innere Widerspruch von Isolation und Intervention ist etwas anderes. Es ist eine ungelöste Problematik, die den gefahrlichen, für die westliche Hemisphäre selbst wie die übrige Welt unheilvollen Zwang enthält, den bisherigen zwischenstaatlichen Krieg des europäischen Völkerrechts in einen Weltkrieg zu verwandeln. Indem die Regierung von Washington den Anspruch erhebt, jeden politischen Gegner nicht nur abzuwehren, sondern auch völkerrechtlich zu disqualifizieren und zu diffamieren, erhebt sie den Anspruch, die Menschheit mit einer völkerrechtlich neuen Art von Krieg zu überziehen. Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit wird ein globaler Weltkrieg geführt. Schon während des ersten Weltkrieges 1914 - 1918 hat die Politik des Präsidenten Wilson unvermittelt zwischen den beiden Extremen geschwankt, bis sie, im Frühjahr 1917, mit ungeheurer Wucht auf die Seite des Interventionismus und des Weltkrieges stürzte. Während des gegenwärtigen Weltkrieges hat sich derselbe Umschwung von feierlich beschworener Neutralität zum Pan-Interventionismus in einer oft wörtlichen Übereinstimmung genau wiederholt. Der Mythos der westlichen Hemisphäre endete in einer völlig grenzenlosen Einmischung. Die Aufhebung aller Maße und Grenzen, die den amerikanischen Pan-Interventionismus kennzeichnet, ist nicht nur global, sondern auch total. Sie betrifft auch die inneren Angelegenheiten, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verhältnisse und geht mitten durch die Völker und Staaten hindurch. Sobald die Diskriminierung anderer Regierungen in der Hand der Regierung der Vereinigten Staaten liegt, haben diese das Recht, die Völker gegen ihre Regierungen anzurufen und den Staatenkrieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln. So wird der diskriminierende Weltkrieg amerikanischen Stils zum totalen und globalen Welt-Bürgerkrieg. Hier liegt das Geheimnis der auf den ersten Blick so unwahrscheinlichen Verbindung des westlichen Kapitalismus mit dem östlichen Bolschewismus. Von beiden Seiten her wird der Krieg, indem er global und total wird, aus dem zwischenstaatlichen Krieg des bisherigen europäischen Völkerrechts in einen Welt-Bürgerkrieg verwandelt. 1 Hier offenbart sich auch der tiefere Sinn dessen, was Lenin zum Problem des totalen Krieges geäußert hat, indem er betonte, daß es im heutigen Zustand der Erde nur noch eine Art des gerechten Krieges, nämlich den Bürgerkrieg gebe. [15] Erst in solchen globalen Dimensionen gesehen wird erkennbar, was das haltlose Schwanken der westlichen Hemisphäre für die übrige Welt bedeutet. Die Tendenz zur Isolierung gehörte zur traditionellen und konservativen Substanz der Vereinigten Staaten. In dem Augenblick, in dem sie beseitigt und zu einem „Märchen" wird, treibt der Weltherrschaftsanspruch eines diskriminierenden Weltkrieges die Vereinigten
1 Darüber der am 29. Oktober 1937 der Akademie für Deutsches Recht vorgelegte Bericht von Carl Schmitt, „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff" (Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr. 5, München 1938), S. 45 f.
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Staaten zur bewaffneten Intervention nicht nur in alle politischen Räume, sondern auch in alle sozialen Verhältnisse des Planeten. Die widerspruchsvolle und scheinbar rätselhafte Geschichte der amerikanischen Neutralität von 1914-1941 ist nur die Geschichte dieses inneren Selbstwiderspruchs von Selbstisolierung und Weltdiskriminierung. Heute, 1943, suchen die Vereinigten Staaten sich in Afrika und im Nahen Orient einzurichten; auf der anderen Seite des Globus greifen sie bis nach China und Mittelasien hinein. Sie überziehen die ganze Erde mit einem System von Luftstützpunkten und Luftfähren und proklamieren ein „amerikanisches Jahrhundert" unseres Planeten. Damit sind alle denkbaren Grenzen beseitigt, mag man sie im übrigen noch so großzügig bestimmen. Der politische Mythos der westlichen Hemisphäre hat also sein Ende gefunden. Sein Ende ist aber zugleich das Ende eines ganzen Zeitalters und eines bestimmten Stadiums der völkerrechtlichen Entwicklung, das Ende nämlich des Zeitalters des globalen Liniendenkens überhaupt und der ihm zugeordneten Struktur des Völkerrechts. In den verschiedenen Typen der bisherigen globalen Linien - der spanisch-portugiesischen „Raya", der englischen „amity-line" und der amerikanischen Selbstisolierungslinie der westlichen Hemisphäre - äußerte sich das Bestreben, eine Raumordnung der ganzen Erde, ein Raumgesetz des Planeten zu finden. Alle diese Bemühungen sind heute geschichtlich überholt. Nachdem die letzte dieser globalen Linien, die Linie der westlichen Hemisphäre, in einen grenzenlosen, globalen Interventionismus umgeschlagen ist, hat sich eine völlig neue Situation ergeben. Gegen die Ansprüche einer universalen, planetarischen Weltkontrolle und Weltherrschaft verteidigt sich ein anderer Nomos der Erde, dessen Grundidee die Einteilung der Erde in mehrere, durch ihre geschichtliche, wirtschaftliche und kulturelle Substanz erfüllte Großräume ist. Die globalen Linien bezeichneten das erste Stadium des Kampfes um den Nomos der Erde und die Struktur des Völkerrechts. Ihre Teilungen der Erde waren aber abstrakt und in jedem Sinne des Wortes oberflächenhaft. Sie lösten alle Probleme der Geometrie auf. Ebenso abstrakt und oberflächenhaft global sind die räum- und grenzenlosen Imperialismen des kapitalistischen Westens und des bolschewistischen Ostens. Zwischen beiden verteidigt sich heute die Substanz Europas. Der globalen Einheit eines planetarischen Imperialismus - mag er nun kapitalistisch oder bolschewistisch sein - steht eine Mehrheit sinnerfüllter, konkreter Großräume gegenüber. Ihr Kampf ist zugleich ein Kampf um die Struktur des kommenden Völkerrechts, ja, um die Frage, ob es überhaupt noch eine Koexistenz mehrerer selbständiger Gebilde auf unserem Planeten geben soll oder nur noch die von einem einzigen „Herrn der Welt" konzedierten dezentralisierten Filialen regionaler oder lokaler Art. Nicht die lokale oder regionale Idylle ist auf der heutigen Erde dem globalen Imperialismus gewachsen. Nur echte, sinnerfüllte Großräume kommen hier als Gegenfront in Betracht. Der Großraum enthält das Maß und den Nomos der neuen Erde. Das ist sein weltgeschichtlicher und sein völkerrechtlicher Sinn.
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Der Staatssekretär Henry L. Stimson, dem die oben erwähnte paninterventionistische Stimsondoktrin ihren Namen verdankt, hat seinen globalen Standpunkt präzisiert, als er in einem Vortrag am 9. Juni 1941 sagte, die Erde sei heute nicht größer als i m Jahre 1861 die Vereinigten Staaten von Amerika, die damals schon zu klein waren für den Gegensatz der Nord- und Südstaaten. „ D i e Erde", fügte er hinzu, „ist heute zu klein für zwei entgegengesetzte Systeme."[16] W i r aber erwidern ihm, daß die Erde immer größer bleiben wird als die Vereinigten Staaten von Amerika und daß sie auch heute noch groß genug ist für mehrere Großräume, in denen freiheitsliebende Menschen ihre geschichtliche, wirtschaftliche und geistige Substanz und Eigenart zu wahren und zu verteidigen wissen.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Zur „Raya" vgl. bes.: E. Staedtler, Die westindischen Investituredikte Alexanders VI., Niemeyers Zeitschrift, 1935, S. 315 ff.; ders.,Versus occidentem et meridiem, PM, 1937, S. 241 - 44, 281 - 84; ders., Die westindische Raya von 1493 und ihr völkerrechtliches Schicksal, ZVR, 1938, S. 165 ff.; ders., Zur Vorgeschichte der Raya von 1493, ebd., 1941, S. 57 ff.; ders., Hugo Grotius über die „donati Alexandri" von 1493 und der Metellus-Bericht, ebd., 1941, S. 257 ff.; Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 57 ff.; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 273 - 294. - Die Geschichte der Bullen von Papst Alexander VI. und die Konflikte um ihre Interpretation schildern: P. Leturia, Las grandes bulas misionales de Alejandro VI: 1493, in: Bibliotheca Hispana Missionum, I, Barcelona 1930, S. 209 - 251; M. Gimenez Fernandez, Las bulas Alejandrinas de 1493 referentes a las Indias, Anuario de Estudios Americanos, 1 / 1944, S. 315 - 429; L. Weckmann, Las bulas Alejandrinas de 1493 y la teoria politica del papado medieval, Mexiko 1949; A. Garcia Gallo, Las bulas de Alejandro V I y el ordenamiento juridico de la expansion portuguesa y castellana en Africa y Indias, Anuario de historia de derecho espanol, 27 / 28 (1957 / 58), S. 461 - 829. Einen guten Literaturüberblick bietet S. Zavalas, Las instituciones juridicas en la conquista de America, Mexiko 1971, 2. Aufl., S. 346 - 389; die gesamte Problematik findet sich erschöpfend behandelt in dem zweibändigen Sammelwerk „El tratado de Tordesillas y su proyecciön", Valladolid 1973 / 74; vgl. jetzt auch: A. Rumeu de Armas, El tratado de Tordesillas, Madrid 1992, bes. S. 141 - 168. [2] Vgl. vorl. Bd., Raum und Großraum im Völkerrecht, FN [8], S. 264. [3] Vgl. vorl. Bd., Völkerrechtliche Großraumordnung, FN [7], S. 324. [4] Zu den „special interests": L. L. Lowell, The frontiers of the United States, Foreign Affairs, 4/1939, S. 663-669. [5] Dazu Ph. Jessup, The Monroe Doctrine in 1940, AJIL 1940, S. 704 - 711 (709 f.); Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 259 f. [6] Jessup, a. a. O., S. 710 f. [7] S. vorl. Bd., Raum u. Großraum im Völkerrecht, FN [15], S. 266. [8] Diese Stellungnahme des brasilianischen Präsidenten Getulio Vargas konnte nicht verifiziert werden. Sie steht aber im Zusammenhang mit der Übergabe Martiniques am 2. 7. 1943 an die USA und die „Freien Franzosen" de Gaulies. Bereits auf der panamerikani-
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sehen Konferenz von Havanna (Juli 1940) wurde festgelegt, daß die französischen Kolonialbesitzungen in Mittelamerika notfalls von den USA zu besetzen seien, falls die Gefahr auftauchen sollte, daß sie unter die Kontrolle einer nichtamerikanischen Macht geraten könnten; vgl.: B. Sugg-Bellini, Martinique, Auswärtige Politik, 10 / 1943, S. 647 - 51. - Die Dokumente u. Materialien zu dieser „Havanna-Akte über die vorläufige Verwaltung der europäischen Kolonien und Besitzungen in Europa" u. zu der diese Akte weiterführenden Konvention v. 30. Juli 1941 in: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, III/2, 1942, S. 1215 1241. [9] So A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven in s. monatlichen Kommentaren „Politik und Recht", Europäische Revue, Nov. 1939, S. 355 - 358; ebd., Jan. 1940, S. 3. [10] F. Ratzel, Das Meer als Quelle der Völkergröße, Berlin 1911, S. 5: „Das Meer bringt als größere einheitliche Erscheinung der Erde die Raumverhältnisse viel reiner zum Ausdruck als das Land". [11] So ein häufig geäußerter Gedanke Raoul Castex', sich z. T. aus dessem Interesse für das Zusammenwirken der Waffengattungen im Seekrieg erklärend, vgl. bes.: Mer-terre-air, Revue Militaire Generale, Juli 1937, S. 13 - 28. [12] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 262 f.; auch T. R. Schellenberg, Jeffersonian Origins of the Monroe Doctrine, Hispanic American Historical Review, 1934, S. 1 31. [13] So das gleichnamige Buch v. H. Graf Keyserlingk. [14] A. Alvarez, Le Droit international americain. Son fondement - sa nature d'apres l'Histoire diplomatique des Etats de Noveau Monde et leur Vie Politique et Economique, Paris 1910, bes. S. 133 - 45, betrachtet die Doktrin als Satz eines partikulären, amerikanischen Völkerrechts; ähnlich schon Präsident Cleveland, Botschaft v. 17. 12. 1895 zum Grenzstreit zw. England und Venezuela; vgl. H. Kruse, Monroe-Doktrin, Strupp / Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, II, 1961, S. 548 ff. - Im Gegensatz dazu: H. Kraus, Die Monroe-Doktrin, 1912, für den sie lediglich eine politische Maxime darstellt. Vgl. auch vorl. Bd., Volkerrechtliche Großraumordnung, FN 21, S. 278; Die Auflösung d. europ. Ordnung, FN [9], S. 384 f. [15] Vgl. v. Lenin bes.: Sozialismus und Krieg, in: Werke, XXI, 1972, S. 299 ff. Zum Thema: H. Kesting, Lenins Lehre vom gerechten Krieg, Epirrhosis, FS f. C. Schmitt z. 65. Geburtstag, 11. 7. 1953, Typoskript, 20 S.; G. Kießling / W. Scheler, Friedenskampfund politisch-moralische Wertung des Krieges, Dt. Zeitschrift f. Philosophie, 1 / 1976, S. 37 - 49 (kommunist. Standpunkt); E. Jahn, Eine Kritik der sowjet-marxistischen Lehre vom „gerechten Krieg", in: Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus, Red. R. Steinweg, 1980, S. 163 - 85; vgl. a.: P. Kondylis, Theorie des Krieges. Clausewitz-Marx-Engels-Lenin, 1988, S. 270 ff. [16] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 284. - Dies ist wohl eine nur logische Konsequenz aus der Stimson-Doktrin, die zunächst nur eine Reaktion auf den Japanischmandschurischen Konflikt v. 1931 / 32 darstellte, bald aber als „Instrument der Verwirklichung universaler Moral" (Krakau) dienen sollte. Stimson, 1867 - 1950, in den Jahren 1929 33 Außenminister unter Hoover (1911 - 13 Kriegsminister u. Taft, 1928 - 29 Generalgouverneur der Philippinen, 1940 - 45 Kriegsminister unter Roosevelt), richtete am 7. 1. 1932 „eine Note an China und Japan, in der Japans Einfall in die Mandschurei verurteilt wurde und die „ legality " einer jeden Beeinträchtigung der besonderen Vertragsrechte der Vereinigten Staa29 Staat, Großraum, Nomos
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
ten und ihrer Bürger in China, wie überhaupt der sog. „Politik der offenen Tür" bestritten und dann weiterhin ausgeführt wurde, daß die Vereinigten Staaten nicht beabsichtigten, einen Vertrag oder eine Vereinbarung anzuerkennen, die durch Mittel herbeigeführt worden seien, die den Vereinbarungen und Verpflichtungen des Pariser Paktes [= des Kellogg-Paktes, G. M.] vom 27. August entgegen seien. Ein unter Stimmenthaltung Japans am 11. März 1932 gefaßter Beschluß der Völkerbundsversammlung nahm diese Doktrin . . . an" (Schmitt, Das politische Problem der Friedenssicherung, 1934, Ndr. 1993, S. 47 f.). Der Text d. betr. Note in: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, 1936, I, S. 325; sowie in: Grewe, Fontes Historiae Juris Gentium, 1992, III, 2, S. 970 f. - Mit der Stimson-Doktrin erhoben die USA den Anspruch „über Recht oder Unrecht jeder Gebietsänderung auf der ganzen Erde zu entscheiden. Ein solcher Anspruch betrifft die Raumordnung der Erde" (Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 284). Im Gegensatz zur Monroe-Doktrin ist die Stimson-Doktrin als „Verbot" der Annexion heute ein Bestandteil des Völkerrechts geworden, mit freilich fragwürdigen Konsequenzen. Zur Doktrin, zeitweise auch „Hoover-Doktrin" o. „Hoover-Stimson-Doktrin" genannt, u. a.: Q. Wright, The Stimson Note of January, 7, 1932, AJIL, 1932, S. 342 ff.; J. Fischer Williams, La Doctrine de la reconnaissance en droit international et ses developpements recents, RdC, 44, 1933/11, S. 203 ff.; A. Mc Nair, The Stimson Doctrine of Non-Recognition, A Note on its legal aspects, BYIL, 1933, S. 65 - 74; Qu. Wright, The legal foundation of the Stimson Doctrine, Pacific Affairs, 8 / 1935, S. 439 ff.; K. Yokota, The recent development of the Stimson Doctrine, ebd., S. 133 ff.; Stimson, The Far Eastern Crisis, New York / London 1936; C. Bilfinger, Die Stimson-Doktrin, 1943; R. Langer, Seizure of territory. The Stimson Doctrine and related principles in legal theory and diplomatic practice, Princeton 1947, Ndr. 1967; U. Scheuner, Die Annexion im modernen Völkerrecht, Friedens-Warte 1949, S. 81 - 93; H. Wehberg, Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts, 1953, S. 88 - 115; R. N. Current, The Stimson Doctrine and the Hoover Doctrine, American Historical Review, 3 / 1954, S. 513 - 542 (ü. die Differenzen zw. St. u. H.); Krakau, Missionsbewußtsein und VÖlkerrechtsdoktrin i. d. Vereinigten Staaten v. Amerika, 1967, bes. S. 294 313; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 706 ff.; vgl. auch die Materialien bei: R. E. Shaffer, Toward Pearl Harbor, Princeton 1991, bes. S. 34 ff. - Vgl. auch: G. Wirsing, Der maßlose Kontinent. Roosevelts Kampf um die Weltherrschaft, 1942, bes. S. 250 ff. (zur Person Stimsons); R. H. Ferrel, American diplomacy in the great depression. HooverStimson foreign policy, 1929 - 1933, New Haven 1957; A. Rappaport, Henry L. Stimson and Japan 1931 - 33, Chicago 1963; C. Thorne, The limits of foreign policy. The West, the League and the Far Eastern Crisis of 1931 - 33, London 1973; G. Hodgson, The colonel. The life and wars of Henry L. Stimson, New York 1990; vgl. auch das Standardwerk ü. den historischen Anlaß: Sara R. Smith, The Manchurian Crisis, 1931 - 1932. A Tragedy in International Relations, New York 1948. - Zur Verknüpfung der Stimson-Doktrin mit dem KelloggPakt vgl. a. Stimsons Rede v. 8. 8. 1932 vor dem Council on Foreign Relations, in: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, 1936,1, S. 257 - 268; dazu u. a.: A. Graf v. Mandelsloh, Die Auslegung des Kelloggpaktes durch den amerikanischen Staatssekretär Stimson, ZaöRV, 1933,1, 617 - 627. Vgl. auch die Bezugnahme Schmitts in: Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges (August 1945), hrsg. v. H. Quaritsch, 1994, S. 46 f. - Eine bes. überraschende Deutung der Stimson- (bzw. Hoover-) Doktrin stammt von H. Jahrreiß, Die Hoover-Doktrin und die Heiligkeit der „Verträge", Leipzig 1933. J. erklärt hier, daß diktierte Verträge, weil Befehle, im Völkerrecht keine rechtliche, normsetzende Geltung haben können. Die Hoover-Doktrin impliziere die Unmöglichkeit der Geltung erzwungener Verträge; folglich sei das Versailler Diktat mittels der Doktrin Hoovers bzw. Stimsons abzulehnen u. ungültig!
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Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien zuerst in: Marine-Rundschau, 8 / 1943, S. 521 - 527 und wurde in unveränderter Form nachgedruckt in: Egmont Zechlin (Hrsg.), Völker und Meere - Aufsätze und Vorträge, Leipzig 1944, Verlag Otto Harrassowitz, S. 342 - 349. Er geht auf einen Vortrag zurück, den Schmitt i. Winter 1942/43 i. Berlin hielt. Aufgrund einer Einladung des „Reichsinstituts für Seegeltungsforschung im Deutschen Seegeltungswerk", dessen Direktor damals Egmont Zechlin war, hat Schmitt den Vortrag im Wintersemester 1943/44 wiederholt; vgl. die Einladung Zechlins v. 20. 11. 1943, Schmitt-Nachlaß Düsseldorf, HSTAD-RW 265, 8. Der hier vorliegende Text ist mehr oder minder in den „Nomos der Erde", 1950, S. 256 270, eingearbeitet worden. - Den vorl. Text vorwegnehmend, aber noch weitere Motive erörternd: Cambio de estructura del Derecho Internacional, Revista de Estudios Politicos, Vol. V, Madrid, Juni 1943 (Anexos), S. 3 - 36. Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den Schmitt am 1.6. 1943 im Madrider Instituto de Estudios Politicos hielt. Dazu drahtete die Deutsche Botschaft in Madrid am 2. 6. 1943 an das Auswärtige Amt: „Vortrag Staatsrat Prof. Schmitt im Instituto de Estudios Politicos über Strukturwandel des Völkerrechts, dessen Inhalt mit dem im vergangenen Winter in Berlin gehaltenen Vortrag übereinstimmt und dort bekannt ist, stattfand gestern im Vortragssaal alten Senats vor etwa 500 Zuhörern, darunter Präsident Cortes, Esteban Bibao, früherer spanischer Botschafter im Vatikan, Yanguas Messia, Philosoph Eugenio d'Ors, spanischer Vertreter in internationaler Rechtskammer, Professor Vasso, Bischof von Tenerife, sowie zahlreiche Professoren und führende politische Persönlichkeiten. Der Direktor des genannten Instituts, Castiella, würdigte Schmitt in sehr herzlichen Einführungsworten als einen der bedeutendsten Vertreter des europäischen Staatsrechts und hinwies auf Schmitts Verdienst um die Wiederentdeckung von Donoso Cortes als Vorläufer der modernen autoritären Staatslehre. Unter Anknüpfung an Donoso aufzeigt Castiella die gefährliche Verbindung des Slaventums mit dem Sozialismus und bezeichnete die Kämpfer der blauen Division als Verfechter des mit Donoso verbundenen spanischen Traditionalismus. Die Ausführungen von Schmitt, die in fliessendem Spanisch vorgetragen wurden, fanden aussergewöhnlich starken Beifall und werden heute in der Tagespresse sehr ausführlich wiedergegeben. Wirkung Vortrags, der durch seine streng wissenschaftliche Darstellung des nordamerikanischen Imperialismus in seiner Auswirkung auf die Theorie des Völkerrechts propagandistisch besonders wertvoll ist, wird durch Verbreitung der vom Institut für politische Studien als erstes Heft einer eigenen Reihe herausgegebenen Volltextes erhöht, der bereits gestern an Zuhörer verteilt wurde." (Eine Abschrift dieses Fernschreibens befindet sich im Nachlaß Schmitts, HSTAD-RW 265, Nr. 53; nach dieser wurde, ohne Veränderung der Schreibweise, zitiert.) Schmitt reiste nach diesem Vortrag nach Salamanca weiter, wo er am 8. 6. über Vitoria sprach; er berichtete über seine Spanienreise (28. 5. - 11. 6. 1943) am 7. 7. 1943 in einem vierseitigen, an die Universitätsleitung gerichteten Schreiben (Universitätsarchiv Humboldt-Universität, Bestand Kurator S 159 a) und kommt dort zu dem Schluß: „Erwähnen möchte ich schliesslich noch besonders, daß ich in Salamanca an Ort und Stelle einen tiefen Eindruck von der sublimen Kulturpropaganda erhielt, die von amerikanischer Seite seit Jahrzehnten mit dem Namen des spanischen Volkerrechtslehrers Vitoria betrieben wird. Die Carnegie-Stiftung steht mit ihren ungeheuren Hilfsmitteln im Dienst dieser Tendenz. James Brown Scott, der Sekretär des Carnegie Endowment for International Peace, und Direktor der Abteilung International Law, ist persönlich in den Jahren 1928 oder 29 in Salamanca gewesen und hat dort, wie man mir sagte, in spanischer Sprache, einen Vortrag über Vitoria gehalten. Politis, Georges Scelle und andere Volkerrechtslehrer gleicher Richtung haben an derselben Stelle mit gleicher Tendenz gesprochen. Ich" darf mich rühmen, als 29*
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
erster deutscher Völkerrechtslehrer an diesem wichtigen Punkt gestanden und den Ring eines freimaurerischen Pazifismus durchbrochen zu haben." - Mit dem Historiker Egmont Zechlin (1896 - 1992) pflegte Schmitt seit 1929 Kontakte; so bedankte sich Z. in einem Brief v. 20. 7. 1929 (HSTAD-RW 265, Nr. 196) für Schmitts Rezension seines Buches „Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms II. 1890 - 1894", Stuttgart u. Berlin 1929, Cotta; Schmitts Text in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 10. 7. 1929, Ndr. in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 29 - 33. Ab 1935 befaßte sich Zechlin zunehmend mit der Geschichte der Entdeckungsreisen, der Kolumbusforschung u. ä., vgl.: Europa und Übersee - Festschrift f. Egmont Zechlin, hrsg. v. O. Brunner u. D. Gerhard, 1961, u. Zechlin, Überseegeschichte Aufsätze aus den Jahren 1935 - 1964, 1986. Stark mit Gedankengängen Schmitts berühren sich Zechlins Vorträge von 1942: Die europäische Ordnung und die Ozeane, ZfP, 1942, S. 153 -174; Das europäische Weltbild und die Entdeckung Amerikas, ebd., S. 745 - 761. Vgl. auch Schmitts Rezension zu Zechlins „Maritimer Weltgeschichte", vorl. Bd., S. 478 ff. - Zur grundsätzlichen, universalhistorischen Bedeutung von Raya und amity-line wie des „Liniendenkens" überhaupt und zu dessen Relation zu den Fragen „mare liberum" und „mare clausuni" vgl. bes. verschiedene Schriften von (Gustav) Adolf Rein: Über die Bedeutung der überseeischen Ausdehnung für das europäische Staaaten-System, HZ, 137/1937, S. 28 - 90 (Ndr. Darmstadt 1953); Die europäische Ausbreitung über die Erde, Potsdam 1931, bes. S. 85 - 90, 202 - 208; Europa und Übersee - Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1961, bes. die Arbeiten S. 49 - 147. Bes. gründlich u. systematisch behandelt Rein diese Fragen in: Der Kampf Westeuropas um Nordamerika im 15. und 16. Jahrhundert, Stuttgart/Gotha 1925, S. 26 - 55 (über die „Raya"), S. 195 ff. (über die Umwandlung der „Raya" in die „amity-line" während der spanisch-französischen Kolonialkonflikte ab 1555). Rein und Schmitt korrespondierten i. d. Jahren 1933-58 öfters miteinander.
Antwort an Kempner Nürnberg, den 18. April 1947 Herrn Prof. Dr. Robert M. W. Kempner Beantwortung der Frage: Wieweit haben Sie die Hitlersche Großraumpolitik gefördert? Wieweit haben Sie die theoretische Untermauerung der Hitlerschen Großraumpolitik gefördert? *
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Ich schicke voraus, daß das Wort „Großraum" nicht von mir erfunden ist. Es ist seit 1923 in den deutschen Sprachgebrauch eingedrungen und keineswegs mein Monopol.[l] Es ist ein überaus vieldeutiges Schlagwort geblieben. Ich habe mich bemüht, die Klärung eines modernen Raum-Begriffes mit den Mitteln und Methoden meiner Fachwissenschaft zu fördern und zu formulieren. Meine Tätigkeit war wissenschaftliche Forschungsarbeit, die bei keinem Ergebnis stehen blieb, sondern jede gewonnene Erkenntnis als Antrieb zu weiterer Erkenntnis benutzte. Ich habe diesen Standpunkt unbeirrten wissenschaftlichen Weiter-Denkens in aller Schärfe und an auffälliger Stelle, nämlich in einem Vorwort zu meiner Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung", ausgesprochen und von mir selbst und von dieser meiner Schrift gesagt: „Wir sind Seefahrer auf hoher See und jedes Buch kann nicht mehr als ein Logbuch sein."[la] Damit habe ich meinen Abstand zu jeder politischen Festlegung und zu jedem Regime präzisiert, und zwar gerade auch mit Bezug auf das Raum- und Großraumproblem in der Völkerrechtswissenschaft. Darüber, daß ich mich als wissenschaftlich ernst zu nehmenden Gelehrten meines Faches legitimiert habe, brauche ich mich hier wohl nicht zu verbreiten. Ich bin den Weg unbeirrter wissenschaftlicher Beobachtung gegangen, gleichgültig, ob die Lautsprecher der jeweiligen Tagespolitik mir Beifall spendeten oder mich diffamierten, ob sie meine Formulierungen annektierten oder ignorierten. Das politische Interesse, das die wechselnden Machthaber und Regime an wissenschaftlichen Theorien nehmen, ändert sich fortwährend. Der wissenschaftliche Forscher kommt dadurch mit den entgegengesetztesten Fronten in Berührung. Er wird unnötige Kollisionen vermeiden und seinen Mördern nicht ins Messer laufen. Im übrigen aber muß er darauf vertrauen, daß der denkerische Impuls und die methodische Durchführung seiner Argumente ihn und seine wissenschaftlichen Intentionen vor der Gleichstellung mit politischer Propaganda schützt.
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
Zur Beantwortung der Frage, wie weit ich durch meine Arbeit die theoretische Untermauerung der Hitlerschen Großraumpolitik gefördert habe, darf ich zunächst einiges über meine persönlichen Beziehungen zur Praxis des Hitler-Regimes und seiner Eroberungspolitik sagen. I. Meine persönlichen Beziehungen zur Praxis der Hitlerschen Eroberungspolitik 1. Ich habe niemals in meinem Leben auch nur ein Wort mit Hitler gesprochen. Ich bin ihm auch in den 12 Jahren seiner politischen Macht niemals vorgestellt worden und habe ihm niemals die Hand gegeben. Ich habe auch niemals den Versuch dazu gemacht oder den Wunsch dazu empfunden und niemals jemand in dieser Hinsicht bemüht. Ebenso habe ich Himmler, Goebbels, Rosenberg, Bormann, Hess, Bohle[2] und die meisten andern einflußreichen Männer des Regimes niemals in meinem Leben gesprochen oder mich darum bemüht, sie zu sprechen. Bei keinem habe ich auch nur eine Sekunde antichambriert. Göring habe ich seit 1936 nicht mehr gesehen; ich habe mich auch nicht darum bemüht, ihn zu sehen oder zu sprechen. Ribbentrop habe ich ein einziges Mal im Jahre 1936 gesehen und einige belanglose Worte mit ihm gewechselt. Sonst habe ich ihn nie gesprochen und auch nicht um eine Besprechung gebeten. Frank habe ich seit meiner öffentlichen Diffamierung vom Dezember 1936 nur noch einige Male gesehen, zwei- oder dreimal in den Jahren 1937/38 in Angelegenheiten der Akademie für Deutsches Recht, einmal mit Richard Strauß zusammen und zweimal während des Krieges bei zufälligen, durch Frau Frank veranlaßten Besuchen. [3] Über Großraumfragen habe ich niemals mit ihm gesprochen. Ich habe ihn auch niemals in seiner Eigenschaft als Generalgouverneur von Polen aufgesucht, war niemals in Krakau oder einem anderen polnischen Ort und habe während der 5 Jahre deutscher Besatzung den Boden des besetzten Polen nicht betreten. 2. Ich bin seit 1936 von niemand, weder von einer Stelle noch von einer Person, weder amtlich noch privat, um ein Gutachten gebeten worden und habe auch kein solches Gutachten gemacht, weder für das Auswärtige Amt, noch für eine ParteiStelle, noch für die Wehrmacht, die Wirtschaft oder die Industrie. Ich habe auch keinen Rat erteilt, der irgendwie auch nur entfernt mit Hitlers Eroberungs- oder Besatzungspolitik im Zusammenhang stände. Ich habe an keiner einzigen Pressekonferenz oder dergleichen teilgenommen und keinerlei besondere Informationen oder Instruktionen erhalten. Zu der Zusammenkunft von Intellektuellen, die Ribbentrop, wenn ich nicht irre, im August 1939 in seinem Landhaus in Fuschl veranstaltet hat, bin ich nicht eingeladen worden. [4] Ich habe mich auch nicht darum bemüht. Ich habe, wie viele andere Rechtslehrer, an mehreren Sitzungen des von Prof. Viktor Bruns[5] geleiteten Ausschusses für Völkerrecht der Akademie für Deutsches Recht teilgenommen, habe mich aber dort auch in Diskussionen ganz zurückgehalten und nicht den geringsten Einfluß gehabt oder gesucht.
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3. Ich habe während des Krieges kein Amt und keine Stellung übernommen, weder als Kriegsgerichtsrat, noch als Kriegsverwaltungsrat im besetzten Gebiet, noch als Mitglied eines Prisenhofes oder irgend etwas ähnliches. Es ist mir auch keine solche Stellung angeboten worden, noch habe ich mich darum bemüht. Ich bin nicht einmal Nachfolger von Prof. Bruns in der Leitung des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft) geworden, als Prof. Bruns im September 1943 gestorben war. 4. Die Möglichkeit zu Vorträgen im Ausland hatte ich seit meiner öffentlichen Diffamierung vom Dezember 1936 erst wieder im Januar 1942, als Himmler und seine Umgebung anfingen, gegenüber dem Ausland unsicher zu werden und es für richtiger hielten, die dringenden Einladungen ausländischer juristischer Fakultäten und Akademien, die Vorträge von mir wünschten, nicht mehr wie bisher einfach zu ignorieren. Alle meine Vortragsreisen ins Ausland hatten wissenschaftlichen Charakter und unterschieden sich darin nicht von den Auslandsreisen anderer deutscher Gelehrter, z. B. des Romanisten Karl Vossler, der um die gleiche Zeit wie ich im Frühjahr 1944 in Spanien und Portugal Vorträge hielt.[6] Anerkannte ausländische Gelehrte, die meine Vorträge an Ort und Stelle gehört haben, werden das gern bezeugen. Besondere Instruktionen oder Aufträge habe ich für diese Reisen nicht erhalten. Angesichts der scharfen und eifersüchtigen Kontrolle des deutschen SD habe ich mich vorsichtig verhalten, wie das jeder andere Kollege wohl auch getan hat. 5. Ich habe weder von der Hitler-Regierung noch von einer ausländischen Regierung Orden erhalten, auch keines der zahlreichen, aus Anlaß jeden außenpolitischen Erfolges so freigebig verliehenen Abzeichen (Ostmark-, Sudetenland-, Generalgouvernement-, usw. Abzeichen). Ich hatte nicht einmal das einfache Kriegsverdienstkreuz, das schließlich sogar der Pedell hatte, während höhere Ränge das Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes erhielten. Ich habe auch von der italienischen und von der ungarischen Regierung keinen der seit 1938 in solchen Mengen verteilten hohen oder niedrigen Orden erhalten. Im Winter 1943 / 44 hatte die rumänische Regierung beabsichtigt, mir, wie zahlreichen anderen deutschen Gelehrten (Gamillscheg, Butenandt u. a.), die in Rumänien Vorträge gehalten hatten, einen Orden zu verleihen. [7] Es ist aber bei mir nicht zur Ausfertigung der Verleihungsurkunde gekommen. Ich habe es auch vermieden, in dieser Hinsicht etwas zu tun und habe keinen meiner zahlreichen Freunde und Schüler bemüht. Auch einen spanischen Orden habe ich trotz meiner vielen spanischen Freunde und Verehrer nicht erhalten. Im Jahre 1938 wollte die Regierung Franco mich zum Mitglied der Königlich-Spanischen Akademie ernennen; sie hatte die Ernennung auch schon in der Presse mitgeteilt. Die deutsche Regierung hat aber das Agrement für mich ausdrücklich verweigert und verlangt, daß statt meiner Prof. Bruns zum Mitglied ernannt wurde, dem ich diese Auszeichnung gern überlassen habe. 6. Ich habe kein Institut gehabt, bin niemals Rektor oder Dekan geworden, habe niemals ein Auto besessen, weder einen Dienstwagen noch privat, war niemals
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
Eigentümer eines Hauses oder Grundstücks und habe außer meiner Bibliothek kein Vermögen gehabt. Mein Einkommen nach 1933 war erheblich geringer als das vor 1933. Die Staatsratsbezüge von 6 000 Mark jährlich haben bei weitem nicht den Ausfall an Honoraren für juristische Gutachten und literarische Publikationen ausgeglichen, die sich vor 1933 auf jährlich 10 -15 000 Mark beliefen. Das Gesamthonorar für meine Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung" hat für alle Auflagen zusammen noch keine 1 000 Mark betragen. [8] Die Auflage war so gering, wie es nur bei rein wissenschaftlichen Abhandlungen der Fall ist. Dieses Fehlen jeder privaten Bereicherung erwähne ich hier nicht, um mich gegen den Vorwurf der Gewinnsucht oder des Eigennutzes zu verteidigen. Einen solchen Vorwurf hat mir bisher noch niemand gemacht. Ich spreche hier nur deshalb von meiner Vermögenslage, weil sie einen Schlüssel bietet zum Verständnis meiner wirklichen Situation in einem ganz auf schnelle Bereicherung und Ordensjägerei eingestellten System. Daß ich ein Jahrzehnt öffentlicher Verleumdung und geheimer Bespitzelung lebendig überstanden habe, erklärt sich nicht zum kleinsten Teil aus der Tatsache, daß ich einen seltenen und auch seltsamen Fall eines Staatsrats darstellte. Ich war ein Staatsrat, bei dem nichts zu plündern war. Das ist ein Faktum, das bei einer Beurteilung meiner persönlichen Beziehungen zur Praxis der Hitlerschen Machtund Beutepolitik nicht ganz außer Betracht bleiben darf und für die Beurteilung meiner Motive und Intentionen von Bedeutung ist.
II. Die theoretische Untermauerung der Hitlerschen Eroberungspolitik Das meiste, was in Zeitungen und Zeitschriften über Großraum geschrieben worden ist, stammt von Praktikern der Wirtschaft oder Verwaltung, die einen horizontlosen Ressort- oder oft auch Privat-Imperialismus betrieben, so daß man für ihre diesbezüglichen Enuntiationen das Wort „theoretisch" nicht gut verwenden kann. Das, was man mit einigem Recht als theoretische Untermauerung der Hitlerschen Eroberungspolitik bezeichnen darf, war ein heterogenes Gemisch, das sich in der Hauptsache aus drei verschiedenen Komponenten zusammensetzte: 1. aus der Partei-Doktrin, nämlich Hitlers Äußerungen in seinem Buch „Mein Kampf' und der von Rosenberg und seinen Beauftragen sowie von anderen Parteistellen vertretenen spezifisch biologischen Theorie vom Lebensraum und von der Rasse;[9] 2. den mehr advokatenhaften, apologetisch-völkerrechtlichen Aufsätzen und Abhandlungen, die in Zeitschriften und Broschüren erschienen und zu den einzelnen Vorgängen und Streitfragen (Einmarsch in Polen und andere Länder, Fragen des Land-, See- und Luftkriegsrechts, der militärischen Okkupation, der Neutralität usw.) im Sinne des damaligen amtlichen Standpunktes der deutschen Regierung juristisch argumentierend Stellung nahmen;[ 10]
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3. aus der von einer Gruppe der SS geführten Richtung, die sich seit etwa 1941 in der Zeitschrift „Reich, Großmacht, Lebensraum" (oder ähnlich) ihr Organ geschaffen hatte.[ll] Zu diesen drei Arten der theoretischen Untermauerung hat sich meine wissenschaftliche Theorie vom völkerrechtlichen Großraum folgendermaßen verhalten: ad 1) Zu der Parteidoktrin stand meine aus rationalen Begriffen konstruierte Theorie vom Raum und Großraum von Anfang an in Gegensatz. Ich ging vom Raumbegriff aus und lehnte biologische Gesichtspunkte und Argumente ab. Ebenso vermied ich es, von Rasse zu sprechen, weil dieses vieldeutige Wort damals bereits ganz von Hitler okkupiert war. Alle mit der Kontrolle des Schrifttums befaßten Stellen standen mir deshalb mit offenem Mißtrauen und Feindschaft gegenüber, auch wenn sie mich, unsicher geworden, tolerierten. Der Völkische Beobachter hat meine Schrift und meinen Namen nie genannt, obwohl es doch sonst zum Stil des Regime gehörte, alles, was als „nationalsozialistisch" galt oder irgendwie erwünscht war, der ganzen Welt mit lautem Lärm anzupreisen. Keine Stelle hat die Schrift zu Propagandazwecken aufgekauft oder verbreitet, während doch sonst die jämmerlichsten Broschüren der Welt in Massen aufgedrängt wurden. Die Schrift stand auch nicht auf der Liste der weltanschaulich approbierten Schriften. Die vom Rosenbergschen Weltanschauungsamt geleiteten oder beeinflußten Stellen[12] haben die Schrift stets als nichtnationalsozialistisch gekennzeichnet und in Schulungsbriefen und ähnlichen Anweisungen vor mir gewarnt, weil ich Katholik war. In den NS-Monatsheften erschien eine Besprechung, in der die Schrift tatsächlich als „vatikanisch" verdächtigt wurde.[13] Die authentischen Hitler-Anhänger erklärten meine Schrift für überflüssig und schädlich mit der Begründung, daß der wirkliche Nationalsozialist überhaupt nur eine einzige maßgebende Schrift kenne, Hitlers Buch „Mein Kampf 4 , und daß in diesem Buch wohl ein Programm der Eroberung russischen Bodens und der Vernichtung Frankreichs, aber kein Wort von „Großraum" stehe. Der Originalitäts-Wahn Hitlers und seiner Leute war unglaublich und ihre Ich-Verpanzerung entsetzlich. An sich sagte ihnen ein Wort wie „Großraum" wohl zu, weil sie in ihrer Großmannssucht jedes mit „groß" zusammengesetzte Wort auf sich selbst bezogen. Aber in ihrem Glauben an die Beispiellosigkeit und Unvergleichlichkeit alles dessen, was sie taten, besaßen sie doch genug politischen Instinkt, um den tiefen Gegensatz von „Großraum" und „Lebensraum" zu fühlen und die ideologische Gefahr zu wittern, die ihrem berühmten „Lebensraum" von einem kritisch-wissenschaftlichen Raumbegriff her drohte. [14] Ich habe mich solchen Gegnern gegenüber vorsichtig verhalten und polemische Erwiderungen vermieden, gemäß der Weisheit des antiken Satzes: non possum scribere in eum, qui potest proscribere. Im übrigen bedarf es noch einer Erklärung dafür, daß meine Schrift über den völkerrechtlichen Großraum im Verlag des NS- Rechtswahrerbundes erschienen ist. Meine Abhand-
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lung über den völkerrechtlichen Großraum ist einer der Vorträge, die Anfang April 1939 auf einer Tagung des Kieler völkerrechtlichen Instituts zu dessen 25jährigem Bestehen von mehreren Völkerrechtslehrern, darunter auch einem polnischen Universitätsprofessor, über völkerrechtliche Fragen gehalten wurden. Die Vorträge sind von dem Leiter der Veranstaltung, Prof. Ritterbusch, in einem Sammelwerk im Deutschen Rechtsverlag veröffentlicht worden. Mein Vortrag wurde, ohne jedes Zutun von meiner Seite und wohl auch zur allgemeinen Überraschung in Deutschland Mitte April plötzlich berühmt, weil die „Times" und der „Daily Mail" eingehende Berichte über ihn brachten.[15] Infolgedessen erschien der Vortrag auch als Sonderdruck, während er sonst wohl mit den andern Vorträgen der Tagung in dem Sammelwerk begraben geblieben wäre. Für mich hatte diese Art der Veröffentlichung den Vorteil, daß die Schrift der Zensur der Partei, insbesondere Rosenbergs, entging. Das war mir sehr recht. Es war ein dem Leviathan gespielter Streich, und das Vergnügen, das ich daran hatte, wird mir jeder Autor nachempfinden, der den Druck einer geistlosen Zensur aus eigener Erfahrung kennt. ad 2) Es handelt sich bei dieser Kategorie um juristisch-völkerrechtliche Argumentationen, wie sie bei den meisten außenpolitischen Konflikten auftreten, bei denen jede Seite, mehr oder weniger elegant, das Recht ihrer Sache und das Unrecht des Gegners darzutun sucht. Angesichts der Methoden Hitlers war es schwierig, in dieser Weise für die deutsche Seite zu argumentieren. Doch gab es eine Reihe von völkerrechtlichen Kontroversen zu zahlreichen Einzelfragen. Ich habe mich jeder advokatenhaften oder apologetischen Äußerung dieser Art enthalten und mich zu keinem konkreten Faktum (wie Einmarsch in ein fremdes Land) und zu keiner der vielen Kontroversen über Fragen des Kriegsrechts, des Neutralitätsrechts usw. geäußert. Die bedeutendste rechtswissenschaftliche Zeitschrift, die in diesen Jahren (1939 - 45) völkerrechtliche Fragen vom deutschen Standpunkt aus behandelte, war die „Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht", herausgegeben von Prof. Viktor Bruns, dem Direktor des „Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht" der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Bruns, der auch den Völkerrechts-Ausschuß der Akademie für Deutsches Recht leitete, war ein Völkerrechtler von internationalem Ansehen und großer persönlicher Vornehmheit. Als er im Herbst 1943 starb, hat ihm das „American Journal of International Law" einen respektvollen Nachruf gewidmet. [16] Einer der Mitherausgeber der Zeitschrift war Graf Stauffenberg, ein Bruder, Mitarbeiter und Schicksalsgenosse des Grafen Stauffenberg, der das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 unternommen hat. Mein Name stand neben dem Namen von Heinrich Triepel auf der Zeitschrift als „unter Mitwirkung von" Triepel und mir herausgegeben. [16a] Ich habe jedoch seit 1936 keinen Einfluß mehr auf die Zeitschrift genommen und auch keinen Aufsatz mehr veröffentlicht. [17] Die Zeitschrift hat wertvolle Aufsätze ge-
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bracht und gutes Material veröffentlicht, das sie von staatlichen deutschen Stellen erhielt. Wie sich ihre Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und anderen Behörden abspielte, weiß ich nicht. Ich habe mich nicht darum gekümmert und Prof. Bruns hätte mich in dieses von ihm streng gehütete Arcanum seiner Zeitschrift wohl auch keinen Einblick tun lassen. An zweiter Stelle sind die „Monatshefte für auswärtige Politik" zu nennen, die von Prof. Fritz Berber herausgegeben wurden. Sie veröffentlichten kleinere Aufsätze und völkerrechtliche Glossen zu den laufenden Ereignissen. Ob ich in dieser Zeitschrift während des Krieges einen Aufsatz veröffentlicht habe, weiß ich nicht mehr; es kann sich dabei nur um ein Parergon zu meiner „Völkerrechtlichen Großraumordnung" handeln, jedenfalls nicht um eine advokatorische oder apologetische Stellungnahme zu einem konkreten Vorgang oder einer aktuellen Streitfrage. [18] Im Zusammenhang mit diesen „Monatsheften" stand eine Broschürenreihe, in der aktuelle völkerrechtliche Fragen behandelt wurden. Ich habe mich nicht daran beteiligt und keine derartige Broschüre veröffentlicht. [19] Die alte, von Josef Köhler begründete „Zeitschrift für Völkerrecht" wurde in diesen Jahren von Prof. Gustav Adolf Walz[ 19a] herausgegeben und verhältnismäßig auf wissenschaftlichem Niveau gehalten. Sie hatte, soviel ich weiß, keine feste Verbindung mit einer amtlichen Stelle der Außenpolitik, wenigstens nicht in der Art der beiden eben genannten völkerrechtlichen Zeitschriften. Ich war einer der Mitherausgeber und habe dort 1940 einen größeren Aufsatz „Raum und Großraum im Völkerrecht" veröffentlicht, der das Raum-Problem weiterführt und auf den Gegensatz der beiden völkerrechtlichen Raumordnungen (des Landes und des Meeres) stößt [20] (vgl. das Vorwort zur 4. Auflage der Völkerrechtlichen Großraumordnung). In der „Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht" erschienen öfters advokatorisch-apologetische Aufsätze zu völkerrechtlichen Streitfragen der Kriegszeit. Ich habe keinen derartigen Aufsatz veröffentlicht, dagegen einen oder zwei kleinere Aufsätze, die ich in der 2. - 4. Auflage meiner Schrift über die „Völkerrechtliche Großraumordnung" aufgenommen habe. [21] Ferner ist von mir ein rechtswissenschaftlicher Aufsatz über den Raumbegriff in einer Zeitschrift für Raumforschung veröffentlicht worden. [22] Die Zeitschrift befaßte sich nicht mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Fragen. Der Aufsatz betraf, in absichtlicher Begrifflichkeit, nur die besonders schwierige Frage des Staatsgebiets. Ich habe ihn als Schlußkapitel in die 4. Auflage meiner „Völkerrechtlichen Großraumordnung" übernommen, um den rein wissenschaftlichen Sinn meiner Arbeit nochmals außer Zweifel zu stellen und mich von den Schlagworten der Propaganda zu distanzieren. Die Zeitschrift „Deutsche Rechtswissenschaft" gehört an sich nicht in diese Kategorie völkerrechtlicher Veröffentlichungen. Doch habe ich in ihr einen wichtigen Aufsatz über „Die Auflösung des europäischen Völkerrechts in
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ein allgemeines internationales Recht" veröffentlicht (etwa 1941).[23] Dieser Aufsatz hat ebenfalls keinen advokatorisch-apologetischen Charakter. Er ist für meine diagnostizierende Art völkerrechtswissenschaftlicher Problemstellung von besonderem Interesse und hat den bekannten Völkerrechtslehrer und Pazifisten Prof. Hans Wehberg in Genf, den Herausgeber der „Friedenswarte", veranlaßt, in einem längeren Aufsatz seiner Zeitschrift (im Jahre 1943) zu meinen völkerrechtlichen Theorien Stellung zu nehmen. Prof. Wehberg bezeichnet seinen Aufsatz im Untertitel ausdrücklich als „Auseinandersetzung mit Carl Schmitt". Wehberg ist einer der bedeutenden Vorkämpfer der Kriminalisierung des Angriffskrieges. Er hat wohl als erster europäischer Völkerrechtsjurist (1930) eine kriminelle Bestrafung der für einen Angriffskrieg schuldigen Staatsmänner gefordert. [24] Damals, im Jahre 1943, lagen meine Veröffentlichungen zum Raum- und Großraumproblem sämtlich vor und waren Prof. Wehberg auch gut bekannt. Trotzdem enthält seine „Auseinandersetzung mit Carl Schmitt" nicht die leiseste Andeutung in der Richtung, daß meine Theorie mit dem Verbrechen des Angriffskrieges in Verbindung gebracht werden könnte. Die Auseinandersetzung ist vielmehr im Inhalt und in der Form so gehalten wie es unter Gelehrten üblich ist. Kein Leser des Wehbergschen Aufsatzes wird auf die Idee verfallen, daß ich für den berühmten Pazifisten wegen meiner Schriften als der Täter oder Teilnehmer des neuen, von Wehberg selbst inaugurierten kriminellen Delikts in Betracht kommen könnte und daß seine Auseinandersetzung mit mir als Auseinandersetzung mit einem Verbrecher gemeint war, statt mit einem wissenschaftlich ernst zu nehmenden Gelehrten. ad 3) Von der SS-Seite wurde das Thema „Großraum" erst seit 1940 aufgegriffen, vermutlich auf Betreiben von Best,[25] der in Frankreich und später in Dänemark darauf gestoßen war und sich nun dieses interessanten Objekts im SS-Stil zu bemächtigen suchte. Herausgeber der neuen Zeitschrift waren außer Best einige andere SS-Führer, deren Namen mir nicht mehr gegenwärtig sind und Prof. Reinhard Höhn, der Leiter des „Instituts für Staatsforschung" und Nachfolger auf den Lehrstuhl von Prof. Rudolf Smend in der juristischen Fakultät der Berliner Universität. [26] Er hatte die eigentliche Redaktionsarbeit und leitete die Herausgabe von Publikationen über ausländisches Verwaltungsrecht. Höhn war ungeheuer fleißig und auch begabt. In andern, normaleren Zeiten hätte er ein guter Lehrer und Forscher seines Faches werden können. So aber verkrampfte er sich in Zielstrebigkeit und einen billigen, im Grunde nur reaktiven Dogmatismus. Diese Gruppe hatte den Ehrgeiz, eine intellektuelle Elite darzustellen und für ihren Bereich eine Art deutschen „Braintrust" zu bilden. Sie war aber zu gleicher Zeit gezwungen, sich als Ausdruck wahren Hitlertums zu gerieren. Das war mit Intellekt und „brain-trust" schwer vereinbar. So entstand ein innerer Widerspruch, der an dem Begriff „Großraum" wie an einem Prüfstein sichtbar wurde. Auf der einen Seite suchte man das interessante neue
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Thema für sich zu annektieren, auf der anderen Seite behielt man den authentisch hitlerischen „Lebensraum" bei und steigerte ihn womöglich noch mit schärfstem, rassenzüchterischem Biologismus. Seit dem Winter 1941/42 wurde eine wachsende innere Unsicherheit erkennbar und damit das Bedürfnis nach besseren ideologischen Abstützungen, als sie der hinterwälderische, orthodoxe Hitlerismus und der literatenhafte, offensichtlich im 19. Jahrhundert steckengebliebene Rosenbergianismus zu bieten vermochten. Der innere Widerspruch spiegelte sich in der Taktik gegenüber meiner völkerrechtlichen Lehre vom „Großraum". Auf der einen Seite war sie schon zu bekannt geworden, als daß man sie im Rosenberg-Stil behandeln wollte, auf der anderen Seite konnte man sie nicht gut ohne Quellenangabe einfach vereinnahmen, sondern mußte sich, schon der Originalität und Unvergleichbarkeit halber, scharf von ihr absetzen. Best veröffentlichte in der »Juristischen Wochenschrift" einen Aufsatz gegen meine Großraumtheorie, die er als unvölkisch ablehnte. [27] Er verlangte, daß man nicht mehr von einer „Völkerrechtsordnung", sondern nur noch von „Völkerordnung" spreche und das Wort „Recht" vermeide. Höhn schrieb in der neuen Zeitschrift einen langen, einleitenden Aufsatz, den er ausdrücklich eine „Auseinandersetzung mit Carl Schmitt" nannte. [28] Es ist also in diesen Jahren nicht etwa nur von pazifistischer, sondern auch von SS-Seite eine große „Auseinandersetzung mit Carl Schmitt" erschienen, wozu übrigens noch mehrere andere Aufsätze aus wissenschaftlichen Zeitschriften hinzukommen, so daß vielleicht ein halbes Dutzend „Auseinandersetzungen mit Carl Schmitt" in diese Zeit des Krieges fallen. [29] Der Aufsatz Hohns war mit vieler Mühe gearbeitet, scheiterte aber an der tiefen Unvereinbarkeit von biologisch-rassischem „Lebensraum" und rational konstruiertem „Großraum". Ich war mir theoretisch sofort im Klaren, als ich sah, daß Höhn den Ausgangspunkt, nämlich einen modernen Raumbegriff, nicht bemerkte, sondern sofort von „Großraum" sprach, ohne das schwierigste aller Probleme, eben den Raumbegriff, auch nur zu ahnen. Das Problembewußtsein hinsichtlich des Raumbegriffs ist für mich stets das Kriterium für eine wissenschaftliche Erörterung des Großraumproblems gewesen. Sonst bleibt der Dunstkreis, der sich um ein lärmendes Schlagwort wie „Großraum" legt, ganz undurchdringlich. Ich empfand dieses plötzliche Interesse, das eine einflußreiche SS-Gruppe an meinen Theorien nahm, als einen Grund zu größter Vorsicht. Wer mich und mein Lebenswerk kennt, wird nicht auf den Gedanken kommen, daß ich mich auf SS-Ideen oder -Tendenzen einlassen könnte. Ich war im Jahre 1936 durch die SS öffentlich diffamiert worden.[30] Ich wußte einiges von den legalen, paralegalen und illegalen Machtmitteln der SS und der Umgebung Himmlers und hatten allen Anlaß, mich vor dem Interesse der neuen Elite zu fürchten. Deshalb hielt ich mich mit aller gebotenen Vorsicht fern. Dem politischen Haupt der Gruppe, Best, ging ich aus dem Wege. Ich habe
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niemals ein Wort mit ihm gesprochen oder ihm die Hand gegeben. Prof. Höhn sah ich öfters als Kollegen der juristischen Fakultät der Berliner Universität. [31] Ihm gegenüber verhielt ich mich höflich und korrekt, wie man sich gegenüber einem Mitglied oder Verbündeten der Geheimen Polizei vernünftigerweise verhält, wenn man weiß, daß diese Polizei einen beobachtet und im Auge hat. Auf eine öffentliche Diskussion habe ich mich nicht eingelassen, auch hier gemäß dem alten Satz: non possum scribere in eum qui potest proscribere. *
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Diese Übersicht über die verschiedenen Versuche einer theoretischen Untermauerung der Hitlerschen Eroberungspolitik enthält die wesentlichen Arten und Erscheinungsformen solcher Versuche und läßt erkennen, daß meine Stellung nicht nur singulär und isoliert, sondern vor allem, infolge meiner durchaus theoretischen Haltung, ganz distanziert war. Es ist nicht leicht, Vorgänge und Situationen innerhalb eines totalitären Systems von außen und ex post zu verstehen. Besonders schwierig ist das für Situationen, in die ein echter Theoretiker unter einem solchen System hineingeraten kann, und das noch dazu während eines totalen Krieges, wo schließlich selbst die Situation des nächsten Nachbars und Freundes oft ganz undurchsichtig wird. Es gibt auch keinen Schutz gegen Verwertungen des Ergebnisses wissenschaftlicher Forschung. Ganz besonders, spezifisch schwierig aber wird die Beurteilung der wissenschaftlichen Erörterung von Fragen des Völkerrechts. Hier ist der gegebene Stoff in sich selbst politischer Natur, die Situationen wechseln schnell, und völkerrechtlich relevante Vorgänge und Tatsachen, wie die Unbestreitbarkeit einer de jure allgemein anerkannten Regierung oder ratifizierter Verträge müssen von dem Juristen des positiven Völkerrechts einfach hingenommen werden. Entscheidend ist, von der objektiven Seite her gesehen, der Unterschied einer wissenschaftlich ernst zu nehmenden Theorie von einem propagandistisch verwerteten Schlagwort; von der subjektiven Seite her gesehen der Unterschied der Intention, der das beobachtende und forschende Interesse an einer Erkenntnis von dem handelnden Interesse an praktischen Zielen und Erfolgen trennt. Vergleicht man die oben genannten Versuche einer theoretischen Untermauerung der Hitlerschen Politik mit dem geistigen Habitus meiner Arbeiten, so ergibt sich die Beantwortung der gestellten Frage. Meine Lehre vom völkerrechtlichen Großraum ist eine in großen wissenschaftlichen Zusammenhängen stehende, aus wissenschaftlicher Forschung entstandene, wissenschaftlich ernst zu nehmende und wissenschaftlich auch ernst genommene Theorie. Hitler hat nicht Großraumpolitik im Sinne dieser Theorie, sondern nur eine geist- und prinzipienfeindliche Eroberungspolitik betrieben, die man nur dann Großraumpolitik nennen kann, wenn man aus dem Wort „Großraum" seine spezifische Bedeutung nimmt und daraus ein leeres Schlagwort für jede Art von Expansion macht. Die Expansionspolitik Hitlers war so primitiv, daß ihr jede wissenschaftliche Analyse gefährlich werden mußte. In
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einer weltumfassenden Auseinandersetzung, die mit einem Aufgebot aller Mittel des occidentalen Rationalismus geführt wurde, bedeutete die Berührung mit einem echten wissenschaftlichen Begriff für Hitlers Politik keine Untermauerung, sondern eine Entlarvung. Das gilt vielleicht sogar für eine biologische Theorie, wenn sie echt wissenschaftlich ist, jedenfalls aber für eine gegen den Biologismus der Hitlerschen Weltanschaung gerichtete, nach allen Seiten durchdachte, völkerrechtswissenschaftliche Konstruktion. Hitler selbst und jeder seiner Anhänger hat das wohl gewußt. Deshalb hat mich die gesamte Parteipresse folgerichtig totgeschwiegen. Wenn daneben von einigen Stellen toleriert wurde, daß Journalisten und Propagandisten meinen Namen als Aushängeschild verwerteten, so war das keine theoretische Untermauerung. Es gehörte vielmehr ebenso wie die Verwerfung der Namen zahlreicher anderer Gelehrter zum allgemeinen Stil eines totalitären Systems, das ausrottet, was es nicht verwerten kann, und zu verwerten sucht, was es nicht ausrotten kann. Es wäre demnach nur eine ungerechtfertigte, einem geistwidrigen System unverdient zugutekommende, ideelle Bereicherung für Hitler, wenn eine wissenschaftlich wohl durchdachte Konstruktion mit der Hitlerschen Eroberungspolitik unter einen Begriff gebracht würde. Eine inferiore, im Grunde völlig verzweifelte Art von Macht- und Expansionspolitik würde dadurch noch posthum eine geistige Aufwertung erfahren, auf die sie wirklich keinen Anspruch hat.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. Schmitts Hinweise in: Völkerrechtliche Großraumordnung, vorl. Bd., S. 270 f. [la] Vgl. vorl. Bd., S. 270 - Nach E. Jünger, Das abenteuerliche Herz, 1929, S. 201: „Wir gleichen Seeleuten auf ununterbrochener Fahrt; werten heißt, das Besteck aufnehmen; und jedes Buch kann nicht mehr als ein Logbuch sein." [2] Ernst Wilhelm Bohle, 1903 - 1960, war Gauleiter u. Führer der Auslandsorganisation d. NSDAP. In Bradford / England als Sohn eines College-Lehrers geboren, wuchs er ab 1906 in Kapstadt auf. 1923 beendete er sein Studium der Staats- und Wirtschaftswirtschaften als Diplom-Kaufmann. 1937 zum Staatssekretär im Ausw. Amt unter v. Neurath ernannt, wurde er später in seinem weiteren Aufstieg durch v. Ribbentrop gebremst. Im Wilhelmstraßen-Prozeß wurde er am 14. 4. 1949 zu fünf Jahren Haft verurteilt, jedoch bereits am 21. 12. 1949 begnadigt. Über ihn: D. M. Mc Kale, in: R. Smelser u. a. (Hrsg.), Die braune Elite, II, 1993, S. 26 - 38. [3] Schmitt bezieht sich auf die (wohl von Gunter d'Alquen verfaßten) Angriffe im „Schwarzen Korps" vom 3. 12. 1936 („Eine peinliche Ehrenrettung") und vom 10. 12. 1936 („Es wird immer noch peinlicher!"); Anlaß dazu bot der nicht für den Druck bestimmte, jedoch veröffentlichte Artikel von Günther Krauß, Zum Neubau deutscher Staatslehre - Die Forschungen Carl Schmitts, in: Jugend und Recht, 10. 11. 1936, S. 252 f.; kurz darauf erfolgten die Attacken des Amtes Rosenberg in den „Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage" v. 8. 1. 1937, veröffentlicht in: Zweite Etappe, Bonn, Okt. 1988, S. 96 - 111, mit Hinweisen u. Kommentaren von G. Maschke, dazu auch H. Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl
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Schmitts, 2. Aufl. 1991, S. 14 ff. - Vor diesen, seine Karriere im NS beendenden Angriffen arbeitete Schmitt z. T. eng mit Frank als dem Leiter des Reichsrechtsamts zusammen; noch am 15. 9. 1936 überreichte er der Wissenschaftlichen Abteilung des NS-Rechtswahrer-Bundes im Auftrage Franks eine Stellungnahme zu den vom Reichsjustizministerium geplanten Reformen der Strafverfahrensordnung, dazu: L. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933 1940 - Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 1988, S. 994 - 1107; H. Quaritsch, a. a. O., S. 108 f. - Im Sommer 1936 gab es Überlegungen, Gürtner als Justizminister durch Frank abzulösen, wobei Schmitt sich Hoffnungen machte, Schlegelberger als Staatssekretär zu ersetzen; Höhn, damals SS-Sturmbannführer, schrieb dazu am 26. 8. 1936 an Heydrich, sich auf eine Mitteilung Staatssekretär Stuckarts beziehend: „Im Stab des Stellvertreters des Führers wird stark erwogen, ob nicht nach dem Parteitag Gürtner abtreten und an seine Stelle der Reichsminister Frank treten soll . . . Die größte Gefahr besteht darin, daß der Staatsrat Schmitt dann Staatssekretär anstelle von Schlegelberger wird. Stuckart macht folgenden Vorschlag: 1) Er, Stuckart, wird persönlich mit Bormann sprechen und ihn darauf hinweisen, daß Frank die Auflage gemacht werden müßte, den Schmitt keinesfalls in keinerlei Form mitzunehmen, da sonst Auslieferung an den politischen Katholizismus erfolgt. 2) Der Reichsführer-SS möge seinerseits sich sofort mit Bormann bzw. dem Stellvertreter des Führers in Verbindung setzen und ebenfalls seinen Einspruch anmelden." Höhn fügte eine „Eigene Stellungnahme" hinzu, in der es u. a. heißt: „Die Lage ist in der Tat so, daß Schmitt mit allen Mitteln versucht, jetzt zum Zug zu kommen . . . Er klammert sich fest an Frank und will unter allen Umständen mitgenommen werden. Das ist bei der Mentalität Franks und der starken Stützung, die Schmitt durch Frau Frank erfährt, leicht möglich. Zudem sind maßgebende Parteikreise über die Gefährlichkeit Carl Schmitts nicht aufgeklärt. Daß eines der Eisen, die Carl Schmitt im Feuer hat, die Angelegenheit, Staatsminister beim Justizminister zu werden, ist, wurde schon verschiedentlich gemeldet. Es wird deshalb dem Vorschlag Stuckarts zugestimmt. Bericht über Carl Schmitt ist in Vorbereitung." (SD-Akte Schmitt, SS-Reichssicherheitshauptamt, Institut für Zeitgeschichte, München, Archiv, Fa 503, 1 - 2, S. 42 f.; vgl. dazu und zum allgemeinen Hintergrund der damaligen Situation Schmitts: G. Maschke, Nachwort zum Ndr. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1982, S. 181 ff.; J. W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983, S. 231 ff.) - Frank entband Schmitt von seinen Funktionen im NS-Rechtswahrerbund zum 1.1. 1937, wobei gesundheitliche Gründe vorgeschützt wurden. Frank teilte in einem Schreiben an Himmler bereits am 11. 12. 1936 mit: „Ich habe Staatsrat Schmitt ohnedies zum 1. Januar aller Ämter enthoben!" (SD-Akte, S. 127); Himmler schrieb am 5. 1. an Frank u. a.: „Ich muss Ihnen leider bekennen, dass ich der Ansicht des »Schwarzen Korps' bin und freue mich um so mehr, dass Sie wohl aus ähnlichen Erwägungen heraus Schmitt seiner Ämter enthoben haben; wobei ich sehr wohl zu würdigen weiss, dass Sie einen langjährigen engen Mitarbeiter in der Öffentlichkeit nicht angreifen lassen wollen." (SD-Akte, S. 239). Schmitt verdankt seine Schonung evtl. Göring, der am 21. 12. 1936 an Gunter d'Alquen als dem Hauptschriftleiter des „Schwarzen Korps" schrieb: „Ich kann aber nicht dulden, daß gegen Mitglieder des Preußischen Staatsrates in der von Ihnen beliebten Weise vorgegangen wird." (SD-Akte, S. 237.) [4] Über diese Zusammenkunft kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde nichts gefunden; weder in der dem Herausgeber bekannten Ribbentrop-Literatur noch in den posthum erschienenen Memoiren Friedrich Berbers, Zwischen Macht und Gewissen, 1986, ebensowenig in der zweibändigen Dokumentation H. A. Jacobsens, Karl Haushofer - Leben und Werk, 1979. Berber u. Haushofer wären wohl prädestiniert für eine derartige Einladung gewesen.
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[5] Viktor Bruns, 1884 - 1943, gründete 1925 in Berlin das Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Kaiser-Wilhelm-Institut) u. war Verfechter einer gemäßigten, doch deutlich formulierten Revisionspolitik, vgl. M. Messerschmidt, Revision, Neue Ordnung, Krieg - Akzente der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland 1933 - 1945, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 1 / 1971, S. 61 - 95, hier S. 69 ff. Bruns gab auch die „Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht" (ZaöRV) heraus. Vgl. von ihm: Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV, 1929, S., 29 ff.; Hrsg. Fontes Iuris Gentium, Series b., Sectio I, Handbuch der diplomatischen Korrespondenz der europäischen Staaten, I - II, bearb. v. A. Makarov / E. Schmitz, 1932 / 38; Die Völksabstimmung im Saargebiet, 1934; Deutschlands Gleichberechtigung als Rechtsproblem, 1934; Die politische Bedeutung des Völkerrechts, ZAkDR, 1935, S. 342 ff.; Bund oder Bündnis? - Zur Reform des Völkerbundes, ZaöRV, 1937, S. 295 ff.; Hrsg. Politische Verträge, bearb. v. G. v. Gretschaninow, I - III (in 5 Bänden), 1936 / 42; Der britische Wirtschaftskrieg und das geltende Seekriegsrecht, 1940; Die britische Seesperre und die Neutralen, ZaöRV, 1943, S. 477 ff. - Zu Bruns vgl. den Nachruf seines ihn überlebenden Lehrers Heinrich Triepel in: ZaöRV, 1943, S. 324 a - d; Fr. Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Reichen, 1964, S. 327 ff.; J. v. Elbe, Unter Preußenadler und Sternenbanner. Ein Leben für Deutschland und Amerika, 1983, S. 117 ff.; ü. Bruns' Zusammenarbeit mit Schmitt: Chr. Tilitzki, Carl Schmitt, Staatsrechtslehrer in Berlin, Siebte Etappe, Bonn, Okt. 1991, S. 62 ff. [6] Schmitt hatte am 11. 5. 1944 in Madrid, am 16. 5. in Coimbra / Portugal und am 7. 6. in Barcelona über „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft" gesprochen; vgl. seine Hinweise zum Nachdruck der (erstmals 1950 in Tübingen publizierten) Schrift in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 426 f. [7] Ernst Gamillschegg (1887 - 1971) leitete in Bukarest das Deutsche Institut, als Schmitt, eingeladen durch den Historiker G. I. Bratianu (1898 - 1953), dort am 16. 2. 1943 über „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft" referierte. [8] Für die 1. Aufl. 1939 bot der Deutsche Rechtsverlag Berlin lt. Schreiben vom 6. 4. 1939 Schmitt „einen nicht rückforderbaren Vorschuss von RM 400,- (an), um Ihnen die Möglichkeit einer Umsatzbeteiligung von 12 % offen zu halten, falls der Verkauf des Werkes eine höhere Tantieme abwerfen sollte." (RW-HSTAD 265, Nr. 33.) [9] Schmitt bezieht sich hier auf die expansionistische und rassistische Deutung des Lebensraums, der - angeblich zum Überleben Deutschlands unbedingt notwendig - im Osten erobert werden müsse; zu diesem Konzept gehörten „Endlösung" und rücksichtslose Germanisierung dazu; vgl. u. a.: J. Kamenetsky, Secret Nazi Plans for Eastern Europe - A Study of Lebensraum Policies, New York 1961; H. Harke, Die Legende vom mangelnden Lebensraum, in: Auf den Spuren der „Ostforschung", Gesamtredaktion C. Remer, Leipzig 1962, S. 59 - 105; K. Lange, Der Terminus ,Lebensraum" in Hitlers ,Mein Kampf", VfZ, 1965, S. 426 - 437; A. Hillgruber, Hitlers Strategie, 1965, S. 207 ff.; Chr. Kiessmann, Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich, in: P. Lundgreen (Hrsg.), Wissenschaft im Dritten Reich, 1985, S. 350 - 83; M. Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum" - Geographische Ortsforschung im Nationalsozialismus, 1990. - Vermutlich denkt Schmitt auch an die Theorien des Lübecker Chemieindustriellen u. Erfinders Werner Daitz (* 1884), der als Vorsitzender der „Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft" (deren Mitglied Schmitt war), während der Kriegsjahre eine bedeutende Aktivität entfaltete u. auch mit Schmitt korrespondierte; über ihn: H. W. Neulen, Europa und das Dritte Reich Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939 - 1945, 1987, S. 25, 31, 39, 52 f., 30 Staat, Großraum, Nomos
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72 ff. (Denkschrift Daitz' v. 31. 5. 1940 „zur Errichtung eines Reichskommissariats für Großraumwirtschaft"); vgl. auch: R. Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900 1945, 1977, S. 629 ff., 668 ff. Daitz, der bereits 1916 den Begriff „Großraumwirtschaft" prägte, verband seine ökonomischen Konzepte mit einer „biologischen Monroe-Doktrin": Großräume waren für ihn Großlebensräume, in denen eine Völkerfamilie o. Rasse überwiegend eine auf Autarkie beruhende Planwirtschaft betrieb. In diesen „Großlebensräumen" (lt. Daitz Ostasien, indisch-malayischer Kreis, Nordamerika, Südamerika, Europa bis zum Ural und bis zum Nordkap, Afrika) sollte es ein Völkerfamilienrecht geben, nach außen ein Zwischengroßraumrecht; der jeweils nördliche Kontinent bzw. Halbkontinent sollte dabei den jeweils südlichen führen; vgl. Daitz, Echte und unechte Lebensräume, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum, II, 1942, S. 75 - 96. Der Bedeutung Daitz' ist es wohl zuzuschreiben, daß Achim Bay, Der nationalsozialistische Gedanke der Großraumwirtschaft und seine ideologischen Grundlagen, Diss. Erlangen 1962, den Gedanken der Großraumwirtschaft einfach mit dem des Lebensraumes ineinssetzt u. letzteren dann als „Imperialismus" denkt. Vgl. von Daitz selbst: Der Weg zur völkischen Wirtschaft und zur europäischen Großraumwirtschaft, Dresden 1938 (Sammelbd.); Neuordnung Europas aus Rasse und Raum, Nationalsozialistische Monatshefte, Sept. 1940, S. 529 - 34; Europäische Großraumwirtschaft und amerikanischer Großraum, Arbeit und Wirtschaft, Nov. 1940, 4seitiger Sonderdruck; Autarkie als Lebens- und Wirtschaftsordnung, Nationalsozialistische Monatshefte, Dez. 1940, S. 739 - 46; Das europäische Sittengesetz als Strukturgesetz d. europ. Großraumwirtschaft, ebd., Mai 1942, S. 270 - 78; Der Weg zur Volkswirtschaft, Großraumwirtschaft und Großraumpolitik, Dresden 1943 (Sammelbd.); Lebensraum und gerechte Weltordnung - Anti-Atlantikcharta, Amsterdam 1943; Wiedergeburt Europas durch europäischen Sozialismus - Europa-Charta, ebd., 1944. - Demgegenüber läßt sich in der damaligen deutschen Geopolitik ein gewisses Desinteresse an Rasse- und völkischen Fragen finden (u. a. zum Ausdruck kommend in der geographisch begründeten Russophilie und im Affekt gg. das rasseverwandte England), was häufig stark kritisiert wurde, vgl.: M. Bassin, Race contra space: The conflict between German Geopolitik and National socialism, in: Political Geography Quarterly, April 1987, S. 11534; dennoch brachte die angelsächsische Propaganda, die K. Haushofer gerne zum wichtigsten Ratgeber Hitlers stilisierte, den „Lebensraum" der deutschen Geopolitik oft mit Hitlers ,3iologismus" zusammen; vgl. u. a.: A Dorpalen, The world of General Haushofer - Geopolitics in action, Washington 1942; H. W. Weigert, Generals and geographers - The twilight of geopolitics, New York 1942; zum tatsächlichen, eher geringen Einfluß H's: H. A. Jacobsen, Karl Haushofer - Leben und Werk, I, 1979, S. 332 - 90; ders., „Kampf um Lebensraum". Karl Haushofers „Geopolitik" und der Nationalsozialismus, Aus Politik u. Zeitgeschichte, 1979, B 34/35, S. 17 - 29. - Teilw. wurde auch Schmitts „Großraum" mit einem biologistischen Lebensraum identifiziert, tendenziell etwa bei: Ch. Kruszewski, Germany's Lebensraum, American Political Science Review, Okt. 1940, 1940, S. 964 ff., bes. S. 974 f.; vgl. auch: A. Messineo SJ, Spazio vitale e grande spazio, Rom 1942, La Civiltä Cattolica. Für Dr. G. W. (= Giselher Wirsing), Ist der liebe Gott Engländer? - Lebensraum gegen „Gleichgewicht" und Einkreisung, Münchner Neueste Nachrichten, 27. - 29. 5. 1939, sind Lebensraum und Schmitt'scher Großraum ein und dasselbe; verwiesen wird auf den dt.-ital. Bündnisvertrag v. 22. 5. 1939, in dem es u. a. heißt, daß „das deutsche und das italienische Volk entschlossen (sind), . . . mit vereinten Kräften für die Sicherung ihres Lebensraumes . . . einzutreten (per la sicurezza del loro spazio vitale)"; vgl. d. Text in: Bruns / v. Gretschaninow, Polit. Verträge, III / 2, 1942, S. 1059. Bei Lode Claes, Levensruimte en ruimteordening bij Karl Haushofer en Carl Schmitt, Rechtskundig Weekblad (Antwerpen), 29.10.1939, Sp. 225 32, erscheint der Schmitt'sehe Großraum mit seinem Interventions verbot als Präzisierung des
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vagen Haushofer'sehen Rechtes auf Lebensraum; Jürgen v. Kempski, Das Deutsche Buch und die europäische Zukunft, in: EUROPA-Handbuch, hrsg. v. Deutschen Institut f. Außenpolit. Forschung, mit e. Geleitwort v. J. v. Ribbentrop, 1943, S. 219, fragt hingegen, „ob der dynamische Begriff des Lebensraumes . . . nicht den Vorzug vor dem etwas vagen Großraumbegriff verdient"; vgl. von diesem Autor auch: Der Großraum als rechtsphilosophisches Problem, Mitt. d. Zentralforschungsinstituts für Nationale Wirtschaftsordnung u. Großraumwirtschaft, 1943, S. 149 - 153. - In die internationale politische Terminologie wurde „Lebensraum" durch Reden v. Chamberlain (17. 3. 1939) u. Lord Halifax (29. 6. 1939, diese Rede in: Berber (Hrsg.), Deutschland-England. 1933 - 1939. Die Dokumente des deutschen Friedenswillens, 1940, S. 215 - 17, hier S. 216 f.) eingeführt u. fast stets als Synonym für Hitlers Expansionspolitik verwendet. Der auf Goethe zurückgehende Begriff (vgl.: Gebrüder Grimm, Deutsches Wörterbuch, VI, 1885, S. 451) wurde von Ratzel (bes. in: Der Lebensraum - Eine biogeographische Studie, Festgaben f. A. Schäffle, 1901, S. 101 - 89) in die Wissenschaften eingeführt, wobei R. auf den „Kampf um Raum" zw. Tier- und Pflanzenarten abhob; vgl. W. D. Smith, Friedrich Ratzel and the Origins of Lebensraum, German Studies Review, 3/1980, S. 51 - 68. Die von R. gewagten Analogien zur polit.-geschichtl. Welt, verbunden mit seiner Auffassung vom sich bewegenden Staats-,Organismus' u. der dem Staat eingeborenen Wachstumstendenz („Gesetz der wachsenden Räume") bedingten freilich einen gewissen polit. Darwinismus, der sich in den Schriften von Rudolf Kjellen u. K. Haushofer verschärfte; Parallelen zu Hitler sind dennoch unerlaubt, es sei denn, man rückt jedwedes imperialistische Theorem in dessen Nähe. - Für die deutsche Geopolitik bildete gemeinhin Mittel- u. Südosteuropa den deutschen Lebensraum, z. T. hielt man „koloniale Ergänzungsräume" i. Afrika für erforderlich, vgl. u. a.: E. Obst, Die Lebensräume der Weltvölker, ZfP, 1939, S. 1 - 10. Vielen Beobachtern aber galt Deutschland nach dem Münchner Abkommen v. 29. - 30. 9. 1938 als saturiert, während der französ. Botschafter Robert Coulondre am 15. 12. 1938 s. Regierung mitteilte: „La premiere partie du programme de Mr. Hitler - integration du Deutschtum dans le Reich - est executee dans son ensemble: e'est maintenant l'heure du ,Lebensraum' qui sonne". - „Lebensraum" wurde z. T. sogar als Gegenbegriff zu „Imperialismus" gebraucht: „Der Imperialismus kennt keine Beschränkung auf das wirtschaftlich Notwendige, räumlich Nahe und organisch Verbundene. Über die eigenen Lebensräume hinaus tastet er die Welt nach schwachen Stellen ab, um ohne Rücksicht auf räumliche Entfernung o. organische Bindung Interessensphären zu sammeln o. Kolonien zu raffen. So beanspruchten Frankreich u. England auch im Südostraum Einmischungs- u. Kontrollrechte . . . Bekenntnis zu einem Lebensraum schließt in sich die Anerkennung von Pflichten und Beschränkungen. Die Tschecho-Slowakei und Polen gehörten niemals zum englischen Lebensraum. Ihre Regierungen paktierten trotzdem mit England - und verloren dabei Land und Volk", so W. H., Lebensraum - nicht Imperialismus, Monatshefte f. Ausw. Politik, 11 / 1940, S. 860 ff.; vgl. auch die 1940 von der Dt. Informationsstelle herausgegebene Broschüre dieses Autors, Walter Hoffmann, mit dem Titel „Lebensraum oder Imperialismus"; ähnlich G. Jentsch, Lebensraum, ebd., S. 79 ff.; den „Lebensraum" mit „Hegemonialimperialismus" konfrontiert Ulrich v. Hasseil, Lebensraum oder Imperialismus?, im o. a. EUROPA-Handbuch, S. 27 ff., der den kolonialen Gedanken für unvereinbar mit dem des Lebensraumes hält, doch schon betont, daß, „soll der Begriff,Lebensraum' . . . einen Sinn haben und vor allem eine praktische Gestalt gewinnen, (es) von vornherein klar sein (muß), daß der gemeinsame Raum dem Leben aller seiner Teilhaber gleichmäßig zu dienen hat . . . Ein ,Lebensraum' muß allen . . . wirtschaftliches Gedeihen verbürgen, aber er soll ihnen vor allem auch die freie Entfaltung ihrer geistigen, völkischen Eigenart gewähren" (S. 32 f.). Die Spannweite des Begriffes, der fast nach Belieben biologisch, rassisch, völkisch, ökonomisch (mit starker 30*
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
Tendenz zur Autarkie), kulturell o. geographisch zentriert werden konnte, zeigt sich an einigen Deutungsversuchen. K. Vowinckel, Zum Begriff Lebensraum, Zeitschrift f. Geopolitik, 1939, S. 638 f., argumentiert biologisch: der Lebensraum ist der Schauplatz der Lebensvorgänge von Rasse und Volkskörper; M. Durach, Zum Begriff Lebensraum, Geograph. Anzeiger, 1939, S. 288 ff., weist starre Lebensraumvorstellung und Lebensraum-Fatalismus zurück und betont Veränderlichkeit und Änderbarkeit des Lebensraumes; E. F. Flohr, Versuch einer Klärung des Begriffs Lebensraum? Geograph. Zeitschrift, 1942, S. 393 ff., glaubt, daß Raum und Volk ein organisches „Raumvolkwesen" bilden; usw. Vgl. auch: H. Schrepfer, Was heißt Lebensraum?, Geograph. Zeitschrift, 1942, S. 417 ff., o. das von K. H. Dietzel u. a. herausgegebene 3-bändige Monumentalwerk „Lebensraumfragen", Leipzig 1940 - 43, mit seinen agrar-, wirtschafts- u. verkehrsgeographischen Einzelanalysen der Länder Europas, Afrikas u. Nordamerikas; einen bes. ehrgeizigen Versuch zur Klärung stellt Albrecht Haushofers aus dem Nachlaß herausgegebenes Werk „Allgemeine Politische Geographie und Geopolitik", 1951, dar; während die Beiträge der Zeitschrift „Deutscher Lebensraum - Zeitschrift für neue deutsche Raum- und Bevölkerungspolitik" (ab 1934) vorwiegend im Bereich der Anschauung bleiben. Schmitt selbst interessierte sich wohl am meisten für den Ansatz des Geographen Heinrich Schmitthenner (1887 - 1957), der „Lebensraum" und „Lebensspielraum" unterschied u. tendenziell gg. den Autarkiegedanken Stellung nahm. Dessen Schrift „Großraumbildungen, eine politische und wirtschaftsgeographische Betrachtung" lag 1941 in den Fahnen vor, wurde jedoch von der Reichsschrifttumskammer unterdrückt. Ein Druckfahnenexemplar, versehen mit stark zustimmenden Bemerkungen Schmitts, findet sich in dessen Nachlaß; danach haben Großraumbildungen den Zweck, zusammenwirkenden Völkern den „außenbürtigen" Lebensraum zu sichern, wobei ihre Einheit nicht auf völkischen, sondern nur auf übervölkisch-kulturellen Prinzipien beruhen kann; vgl. auch Schmitthenners Skizze: Zum Begriff „Lebensraum", Geograph. Zeitschrift, 1942, S. 405 ff. sowie s. Buch: Lebensräume im Kampf der Kulturen, 1951, mit seiner Verteidigung des Begriffs. Weitere Hinweise bei: H. Hornbogen, Politisches Lebensraumdenken im Deutschen Reich und seine Rezeption durch erdkundliche Schulbücher bis 1945, Diss. PH Ruhr, 1973, bes. S. 105 ff. u. K. Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945, 1988, bes. S. 236 ff. Vgl. auch die knappe Übersicht z. Geschichte des Begriffs in: Histor. Wörterbuch d. Philosophie, V, 1980, Sp. 143 - 147. - Zusammenfassend darf gesagt werden, daß sowohl „Lebensraum" als auch „Großraum" expansionistischimperialistisch als auch gemäß einem (deutbaren) suum-cuique-Prinzip verstanden wurden u. werden konnten; von beiden Seiten waren sowohl diesbezügliche Polemiken möglich als auch Vorwürfe, es handele sich beim Gegenpart um einen „vagen" Begriff. Daß Schmitt in seinen Schriften das Wort „Lebensraum" geradezu ängstlich vermied, kann nur damit erklärt werden, daß es ihm ganz auf juridische Konstruktion und politologisches Konstatieren ankam. [10] Ein beträchtlicher Teil dieser oft interessanten Literatur wurde unter der Ägide Friedrich Berbers, in den verschiedenen Schriftenreihen des von ihm geleiteten Deutschen Instituts für Außenpolitische Forschung veröffentlicht; vgl. dazu die Hinweise bei: H. Weber, Rechtswissenschaft im Dienst der NS-Propaganda. Das Hamburger Institut für Auswärtige Politik und die deutsche Völkerrechtsdoktrin in den Jahren 1933 bis 1945, in: K. J. Gantzel (Hrsg.), Wissenschaftliche Verantwortung und politische Macht, 1986, bes. S. 298 - 325. Von Bedeutung sind hier die regelmäßig während des Krieges erscheinenden, völkerrechtlichen Kommentare zur politischen u. militärischen Lage von Axel Frhr. v. Freytagh-Loringhoven
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(in der Europäischen Revue), von Helmut Rogge (in „Geist der Zeit") und von Wilhelm G. Grewe in den Monatsheften für Ausw. Politik. [11] Gemeint ist die von W. Stuckart, W. Best, K. Klopfer, R. Lehmann u. R. Höhn herausgegebene Zeitschrift „Reich, Volksordnung, Lebensraum - Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung", die ab 1941 im Verlag L. C. Wittich, Darmstadt, erschien und die 1943 ihr Erscheinen einstellte; zur Linie dieser Zeitschrift vgl.: P. Kluke, Nationalsozialistische Europaideologie, VZG, 3 / 1955, S. 240 - 275, bes. S. 270 ff. Zu den in bezug auf Schmitts Denken bedeutenderen Beiträgen gehörte, neben der von Schmitt erwähnten Polemik Hohns, Großraumordnung und völkisches Rechtsdenken, I, 1941, S. 256 - 288: W. Stuckart, Die Neuordnung der Kontinente und die Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Verwaltung, I, 1941, S. 3 - 28; H. Krüger, Der Raum als Gestalter der Innen- und Außenpolitik, I, 1941, S. 77 - 176; W. Daitz, Echte und unechte Lebensräume. Gesetze des Lebensraumes, II, 1942, S. 75 - 96; Fr. Berber, Wandlungen der amerikanischen Neutralität, VI, 1943, S. 9 - 44; R. Diener, Das Reich im Weltanschauungskampf und Theorienstreit, VI, 1943, S. 216 - 352. [12] Schmitt geriet bereits 1932 ins Fadenkreuz von Rosenberg; am 26. 8. 1932 schrieb diesem einer seiner Informanten, ein Dr. Erich Zwade aus Berlin NW 87 u. a.: „Die ReichsRegierung hat bekanntlich bei dem Staatsrechtslehrer Prof. Carl Schmitt ein Gutachten darüber eingefordert, ob sie zurücktreten müsse, falls sie seitens des Reichstages ein Misstrauensvotum erhält. Soviel ich weiss, hat Prof. Schmitt das Verbleiben im Amte trotz des Misstrauensvotums mit der Verfassung vereinbar erklärt. - Ich versuchte heute durch einen Gewährsmann den Wortlaut des Gutachtens zu erhalten. Im Innenministerium lehnte man jedoch die Herausgabe des Textes ab. Ich erneuere meinen Versuch morgen bei der Reichskanzlei. Haben Sie Interesse an dem Gutachten, falls es mir gelingen sollte, es zu erhalten? Ich halte ein Gutachten unsererseits in der Angelegenheit ebenfalls für notwendig und versuche aus diesem Grunde in den Besitz der Schmitt'schen Stellungnahme zu kommen." (Institut f. Zeitgeschichte, MA 251). Ein schriftliches Gutachten Schmitts ist bisher nicht entdeckt worden; Zwade mag sich auf die Ratschläge Schmitts zu den Staatsnotstandsplänen der Regierung v. Papen nach den Wahlen v. 31. 7. 1932 beziehen, bei denen die NSDAP 37,3 % der Stimmen und 230 Mandate gewann; vgl. u. a.: E. R. Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: H. Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988, S. 35 - 50; vorher schon Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, VII, 1984, bes. S. 1076 ff.; vgl. a.: E. Kolb/W. Pyta, Die Staatsnotstandsplanung unter d. Regierungen Papen u. Schleicher, in: H. A. Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 1930 1933, 1992, S. 155 ff. u. D. Grimm, Verfassungserfüllung - Verfassungsbewahrung - Verfassungsauflösung. Positionen der Staatsrechtslehre in der Staatskrise der Weimarer Republik, ebd., S. 183 ff. - Am 12. 6. und am 2. 10. 1934 widersetzte sich Rosenberg in Briefen an Bormann bzw. Heß Plänen, Schmitt zu einem der Referenten für die geplante Hochschulkommission zu ernennen, da dieser für die Weimarer Verfassung eingetreten, „dann rein staatsrechtlich auf den totalen Staat hinsteuerte" u. Berater von Brüning gewesen sei; vgl.: Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, München 1983, Microfiche, S. 137, 189, 201; dazu auch Quaritsch, wie FN [3], S. 53; zu den Angriffen 1937 vgl. Rosenbergs „Mitteilungen", FN [3]. - Zur Großraumtheorie Schmitts hatte das Amt Rosenberg 1940/41 ein Gutachten bei dem damals in Innsbruck lehrenden Verwaltungsrechtler Erich Becker angefordert; ein Schreiben von Rosenbergs „Hauptstelle I. Zentrallektorat" v. 16. 4. 1941 an Becker lautet: „Sie,erstellten uns seiner Zeit ein positives Gutachten zu Carl Schmitt, „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte". Das Reichsrechtsamt beurteilt diese Schrift bedingt positiv, weil sie den Begriff „Reich"
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
für die vorgesehene deutsche Großraumordnung verwendet. Es ist schwer genug gewesen, diesen Begriff verfassungsrechtlich einwandfrei zu bestimmen. Eine Ausweitung und Ausdehnung auf die vom Reiche geführte politische Ordnung birgt die Gefahr in sich, daß dieser Begriff vom deutschen Volke gelöst und zu einer Abstrahierung führen würde, die knapp genug überwunden ist. - Wir bitten Sie um Ihre Äußerung hierzu." (Institut f. Zeitgeschichte, MA 129/3). Eine Antwort Beckers ist nicht bekannt; die Meinung des Amtes Rosenberg ist wohl auch irrig, da Schmitt bereits in d. 1. Aufl. s. Schrift, 1939, S. 69 u. a. ausführte: „Eine Großraumordnung gehört zum Begriff des Reiches ... Der Großraum ist natürlich nicht identisch mit dem Reich in dem Sinne, daß das Reich der von ihm vor Interventionen bewahrte Großraum selber wäre ... Wohl aber hat jedes Reich einen Großraum, in dem seine politische Idee ausstrahlt ..." (vorl. Bd., Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 295 f.). - Rosenberg selber schrieb u. a. über den „Lebensraum": „Die Schicksalsfrage nach Lebensraum und Brot wurde früher durch die Niedersachsen mit dem Schwert gelöst,..aber die später internationalisierten Nachkommen dieser Ritter und Bauern vergaßen bei der Predigt der „wirtschaftsfriedlichen Durchdringung" der Welt, daß sie selbst nicht wären, wären sie nicht die Nutznießer des deutschen Schwertes gewesen. Heute hilft kein Versteckspielen mehr, kein schwächlicher Hinweis auf „innere Siedlung" . .., heute hilft nur der in zielbewußte Tat umzusetzende Wille, Raum zu schaffen für Millionen kommender Deutscher." (Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 11. Aufl. 1943, zuerst 1930, S. 637 f.) R's Konzept vom deutschen Lebensraum im Osten beschränkte sich darauf, die UdSSR aufzulösen, einen cordon sanitaire aus Satellitenstaaten (Ukraine, Kaukasien, Turkestan u. a.) zu bilden u. den „moskowitischen" Staat auf sein ursprüngliches Territorium zurückzudrängen; vgl. H. Hornbogen, Politisches Lebensraumdenken im Deutschen Reich u. seine Rezeption durch erdkundliche Schulbücher bis 1945, Diss. PH Ruhr 1973, S. 117 f. Innerhalb seines machtlos bleibenden Ministeriums für die besetzten Ostgebiete schuf R. die Abteilung „Luftraumforschung", die dem Georgier A. Nikuradse unterstellt war. („Die Beherrschung der Lufträume wird in Zukunft die Grundvoraussetzung einer politischen Ordnung sein. Eine ausschlaggebende Rolle werden dabei die Erkenntnisse spielen, die bei der Erforschung der Atmosphäre als eines neuen Lebensraumes gewonnen werden"; zit. nach M. Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum" - Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus, 1990, S. 101.) Unter dem Pseudonym A. Sanders veröffentlichte Nikuradse u. a.: Um die Gestaltung Europas - Kontinentaleuropa vom Mythus bis zur Gegenwart, 1938; Um das Erbe Großbritanniens - Zur Wandlung der politischen Struktur der Übersee, 1941 (Roosevelt-USA als Erbe); Die Stunden der Entscheidung Kampf um Europa, 1943 (das Buch ist Rosenberg gewidmet, erörtert u. a. die angelsächsischen Fusionspläne u. die „Ausweitung" der Monroe-Doktrin u. enthält neben einem reichen geopolit. Kartenmaterial auch umfangreiche Statistiken über Rohstoffe); Osteuropa in kontinentaleuropäischer Schau, 1943. In keinem dieser Bücher geht Nikuradse auf die Großraumtheorien Schmitts o. a. Autoren ein u. spricht nur im zuerst genannten von Europa als „ArierGroßraum", S. 62 f. [13] In der von Schmitt erwähnten Kritik der Erstauflage seiner „Großraumordnung" hieß es: „Die Arbeit enthält eine Fülle guter Beobachtungen und scharfsinniger Überlegungen, aber sie behandelt das gestellte Thema zu einseitig und läßt allzu deutlich erkennen, daß Verfasser aus einer Denkschule ganz bestimmter Art kommt. Seine Meinungen, seine Vorstellungen sind erdacht, am Schreibtisch erklügelt, aber nie erlebt. Sie lassen eine Generation kalt, die eben mit Feuer und Blut das wahre Reich aufbaut. Der Vatikan könnte auf der Grundlage der Schmittschen Überlegungen genauso gut sein „Reich" über einen „Großraum" ausdehnen, wie Deutschland über Mitteleuropa und Italien über den Mittelmeerraum. Schmitt ent-
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geht nicht der Gefahr des Völkerrechtlers, letzten Endes beim Pazifismus zu landen und alles über einen Kamm zu scheren . . . man kann die Geistesschärfe und die Ideenfülle der Ausführungen nicht leugnen . . a b e r sie können doch dem nationalsozialistischen Rechtsdenken nicht weiter helfen." (Nationalsozialistische Monatshefte, 11 / 1940, S. 91.) Der Verfasser dieser Kritik war Herbert Lemmel (nicht Lemme, wie in den NS-Monatsheften durch einen Druckfehler), geb. 1911, der am 1. 1. 1936 in die SS eintrat und im Februar 1936 Schmitt auf dem Reichsfachschaftslager der Juristen in Berlin-Westend kennenlernte, als dieser über „Walther Jellinek als Jude" referierte. Dabei kam es zu lebhaften Polemiken gg. Schmitt wg. dessen Katholizismus; Schmitt wurde auch vorgeworfen, daß er die Bedeutung der Partei abschwäche und daß „die Formulierung Staat, Bewegung, Volk geeignet sei, den eigentlichen Charakter der Partei durch die Gegenüberstellung der Begriffe Volk und Bewegung zu verfälschen". In der SD-Akte Schmitt (wie FN [3], S. 24) heißt es dann weiter: „Prof. Schmitt machte darauf aufmerksam, dass die Formulierung von ihm stamme und zum ersten Mal auf dem Juristentag 1933 vorgetragen worden sei. Kamerad Lemmel antwortete, dass man heute über den Wert des dort Vorgetragenen geteilter Meinung sei. Prof. Schmitt seinerseits äusserte, dass diese Gedanken die volle Billigung des Herrn Reichsministers Dr. Frank und Dr. Frick (sie!) erhalten habe. Die Diskussion wurde daraufhin aus technischen Gründen unterbrochen. Bei der späteren Fortsetzung wurde bei diesen Fragen nicht wieder angeknüpft, da diese in persönlicher Aussprache zwischen Prof. Schmitt und Kamerad Lemmel inzwischen ihre Erledigung gefunden hatten." Lemmel habilitierte sich am 14. 7. 1939 an der Berliner Juristischen Fakultät mit einer Arbeit „Die Erfassung der Gemeinschaft im lebensgesetzlichen Recht - Ein rechtstheoretischer und rechtsphilosophischer Versuch", als Buch erschienen u. d. T. „Die Volksgemeinschaft - Ihre Erfassung im geltenden Recht", Stuttgart / Berlin 1941. Referenten waren Höhn, Ruttke und Schmitt, wobei es bei dieser Gelegenheit wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Schmitt und Lemmel kam, vgl. Chr. Tilitzki, wie FN [5], S. 72 f.; zu Lemmels Habilitation vgl. a. Schmitt, Glossarium, 1991, S. 4 f., 28. 8. 47. Lemmel, der 1942 Hauptsturmführer im SD-RFSS wurde, korrespondierte mit Schmitt in den Jahren 1948-78. [14] Interessant in diesem Zusammenhang die kritischen Bemerkungen des freilich wie stets fair-zurückhaltenden Heinrich Rogge: „Das internationale Gespräch über die Neuordnung der Welt hat fruchtbar an die Begriffe „Lebensraum", „Großraum" angeknüpft. In letzter Zeit nahm die Erörterung, namentlich seit sie in den Bereich der Rechtswissenschaft hinüberspielte, eine eigenartige Wendung, in welcher der völkische Sinn dieser Begriffe „Lebensraum", „Großraum" mehr und mehr in den Hintergrund tritt oder ganz übersehen wird. Man vergißt vielfach: daß aus dem deutschen Problem des „ Volks ohne Raum" erst sich der deutsche Begriff des „Lebensraumes" entwickelte, und aus diesem der aktuelle Begriff des „Großraumes", in dem mehrere Volker ihren Lebensraum haben . . . In letzter Zeit hat die internationale Diskussion zur Weltordnung vielfach diesen aus völkischem Denken sich ergebenden Zusammenhang zwischen den Begriffen „Lebensraum" und „Großraum" zerschnitten. Namentlich in rechtswissenschaftlichen Erörterungen neigt man dazu, das Problem des „Großraumes" getrennt von dem des „Lebensraumes" zu erörtern, ja, geradezu aus dem Begriff des Großraumes seinen völkischen Gehalt wegzudenken." (H. R., „Lebensraum" und „Großraum" als völkische Begriffe, Geist der Zeit, Februar 1941, S. 116 - 121, hier S. 116 f.). [15] Die „Times" brachte am 5. 4. 1939 unter der Überschrift „German Press Attacks" British Policy denounced - „Evil Intervention" " einen Bericht ihres Berliner Korrespondenten v. 4. 4., in dem es unter der Zwischenüberschrift „Germany's Goal" u. a. hieß: „Hitherto no German statesman has given a precise definition of his aims in Eastern Europe, but per-
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haps a recent statement by Professor Carl Schmitt, a Nazi expert on constitutional law, may be taken as a trustworthy guide." Der kurzen Inhaltsangabe der „Großraumordnung" folgte als Konklusion des Korrespondenten: „In the light of these principles we can envisage Eastern Europe an area under German domination, with what Herr Funk, the Minister of Economics, recently described as a compound economy from the North Sea to the Black Sea." Der kürzere Bericht des „Daily Mail" vom gl. Tage, betitelt mit „Germany to establish a Monroe Plan, Policy against Interference in Central Europe" bezeichnete Schmitt als „Herr Hitler's ,key' man in this policy . . middl-aged and handsome, who is the leading international lawyer in Germany." Vgl. dazu auch J. H. Kaiser, Europäisches Großraumdenken. Die Steigerung geschichtlicher Größen als Rechtsproblem, in: Epirrhosis. Festgabe f. Carl Schmitt, II, 1968, S. 529 ff., hier S. 537 f. - Der mit Schmitt in Kontakt stehende Völkerrechtler E. H. Bockhoff war einer der wenigen deutschen Beobachter, die auf die britische Presse eingingen. Er behauptete, ob aus momentaner Konfusion oder aus taktischer Absicht, Schmitt hätte mit seinem Kieler „Großraum"-Vortrag v. 1.4. 1939 den Begriff „Le&myraum" „zum ersten Male geprägt, seine Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des Völkerrechts dargelegt und begründet." BockhofT folgerte: „Wir haben damals diese Attacken, besonders in der britischen Presse, vorab der „Times" verfolgt und dann sehr wohl begriffen, weshalb die wissenschaftliche Proklamierung dieses Begriffes von dort her als eine politische Tat ersten Ranges, ... als eine gewonnene Schlacht im Kampf der jungen Völker um den ihnen zustehenden Platz in der Völkergemeinschaft empfunden wurde!" (E. H. B., Die kontinentale Wohlstandssphäre als Rechtsbegriff - Vom horizontalen Weltrecht zum vertikalen Völkerrecht, in: Nationalsozialistische Monatshefte, 1942, S. 773 - 786, hier S. 777 f.). [16] Edwin Borchard, Death of Dr. Viktor Bruns, AJIL, Okt. 1943, S. 658 - 660. Der letzte Satz dieses Nachrufes lautete: „In the passing of Professor Bruns the world has lost one of its most constructive thinkers und doers." [16a] Genau: „In Gemeinschaft mit Carl Schmitt und Heinrich Triepel". [17] Lediglich im 8. Jg., 1938, S. 588 - 591, erschien eine Selbstanzeige Schmitts zu seiner Schrift „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff'. [18] Während des Krieges publizierte Schmitt in dieser Zeitschrift keinen Beitrag; zuvor lediglich: Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität, Juli 1938, S. 613 - 618, Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 255 - 260. - Friedrich Berber (1898 - 1984), 1935 Dozent für Völkerrecht an der Deutschen Hochschule für Politik, wurde später Leiter des Hamburger Instituts für Ausw. Politik, das 1937 im Berliner Institut für Außenpolitische Forschung aufging; in Berlin war Berber v. Ribbentrop unterstellt. Als dessen völkerrechtlicher u. auslandswissenschaftlicher „Chefpropagandist" gab er mehrere Buchreihen heraus u. redigierte die „Monatshefte für Ausw. Politik"; Berbers Rolle und Verhalten im Dritten Reich schildert detailliert H. Weber, wie FN [10]. Eine wesentlich sich unterscheidende, doch wenig überzeugende Darstellung stammt von Berber selbst, vgl. FN [4]. B. stuft sich hier beinahe als Widerstandskämpfer ein. - Berber selbst hat in s. Autobiographie aus s. Abneigung gg. Schmitt kein Hehl gemacht u. schreibt dort auf S. 68, ausgehend von der Röhm-Affaire: „Die NS (? - G. M.) rechtfertigte die tausendfachen (! - G. M.) Mordtaten mit der - dem geltenden Recht unbekannten - obersten Gerichtsgewalt des Führers. Ich verwies stattdessen auf das Vorbild des englischen Amnestiegesetzes. Daraufhin schickte mir der zur Gleichschaltung der Hochschule (für Politik - G. M.) beauftragte Staatsrat Carl Schmitt seinen Assistenten mit der finsteren Androhung von Maßnahmen, falls ich weiterhin solche zersetzenden Meinungen vertrete." Berber bleibt freilich jeden Beweis für die Drohung Schmitts wie für dessen „ A u f t r a g " schuldig. - Berbers Anti-Schmitt-Affekt könnte auf ein Gutachten zurück-
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zuführen sein, das Schmitt für das Reichswissenschaftsministerium schrieb und auf dessen Grundlage die Bewerbung Berbers für einen Lehrstuhl für Völkerrecht an der Universität Hamburg am 18. 1. 1935 abgelehnt wurde; Schmitt hielt Berber „einstweilen nicht für hinreichend wissenschaftlich qualifiziert" (dazu Weber, a. a. O., S. 253 f.). Schmitt könnte so an Berbers Aufstieg im Dritten Reich - den B. stets sehr merkwürdig „interpretierte" - ungewollt mitgewirkt haben. - Am 1. 6. 1936 zum stellvertretenden Direktor d. Hamburger Instituts f. Auswärtige Politik ernannt, arrangierte Berber einen Vortrag Toynbees in Berlin (29. 2. 1936) über Kollektive Sicherheit (vgl. vorl. Bd., Die Einheit der Welt, FN [16], S. 509); tags zuvor fand ein öffentl. Vortrag Toynbees statt; am 3. 3. 1936 sprach T., unter dem Vorsitz G. A. Reins, im Hamburger Hotel Atlantik über „Koloniale Revision" (Text in: Hamburger Monatshefte f. Ausw. Politik, 1936, S. 81 ff.). Während dieses Aufenthaltes in Deutschland wurden T. u. Berber auch von Hitler empfangen, vgl. die Berichte v. Berber, a. a. O., S. 78 ff. u. von Toynbee, Acquaintances, London 1967, S. 276 - 95. T. schildert dabei B. als „a mystery man for me" und als „sly ... and double-faced" (S. 277). - Ende 1943 bat Carl J. Burckhardt (1891 - 1974), damals Vertreter des Schweizer Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) v. Ribbentrop, Berber „für wissenschaftliche Arbeiten" für das Rote Kreuz in Genf zu beurlauben, dazu a. Weber, S. 393 ff. u. Berber in s. o. a. Autobiographie, S. 120 ff. Inwieweit B. dabei humanitäre Aktionen, etwa die Rettung ungarischer Juden vor der Deportation, unterstützte, bleibt unklar; vgl. J. Cl. Favez, Das Internationale Rote Kreuz u. das Dritte Reich. War der Holocaust aufzuhalten?, 1989, bes. S. 479 f. v. Ribbentrop selbst dachte vor allem daran, B. als diplomatischen Horchposten für einen erhofften Sonderfrieden mit England einzusetzen. - Zu Berbers Kritik an Schmitts Großraumtheorie vgl. vorl. Bd., Völkerrechtliche Großraumordnung, Anhang, S. 361 f. [19] Schmitt meint wohl die von Berber verantworteten Schriftenreihen „Schriften des Deutschen Instituts für aussenpolitische Forschung" (ab 1937 bei Junker u. Dünnhaupt, Berlin) u. „Probleme amerikanischer Außenpolitik" (ab 1942 in d. Essener Verlagsanstalt). In der erstgenannten Reihe erschienen u. a.: F. Berber, Prinzipien der britischen Außenpolitik; Bilfinger, Der Völkerbund als Instrument britischer Machtpolitik; J. v. Kempski, Griechenlands Weg in den Weltkrieg; G. Jentsch, Das Kabinett Chamberlain u. der Ausbruch des Krieges 1939; O. Bühler, Neutralität, Blockade u. U-Boot-Krieg in der Entwicklung des modernen Völkerrechts; in der zweitgenannten: Berber, Der Mythos der Monroe-Doktrin; Bilfinger, Das wahre Gesicht des Kellogg-Paktes; ders., Die Stimson-Doktrin; A. Kolb, USA u. die Philippinen; H. Rumpf, Die zweite Eroberung Ibero-Amerikas; H. Roemer, Die Einmischungen der USA in die Revolutionen und Bürgerkriege der westindischen u. zentralamerikanischen Republiken; O. Schäfer, Imperium Americanum; R. Walter, Die Politik d. Offenen Tür in Ostasien; M. Andrade, Der Einbruch d. Vereinigten Staaten in die ibero-amerikanische Welt. [19a] Gustav Adolf Walz, 1897 - 1948, lehrte 1933 - 38 in Breslau, bis Ende 1939 in Köln, danach Kommissar für die Universität Brüssel, ab 1941 Hauptmann in Zagreb (vgl. s. Brief an Schmitt, vorl. Bd., S.429 f.); 1943 Präsident der dortigen Deutschen Akademie. Walz übernahm 1933, gemeinsam mit C. Rühland und E. Wolgast, die Leitung der „Zeitschrift für Völkerrecht"; nach dem Tode von Fritz Stier-Somlo (1873 - 1932) gab Walz das „Handbuch für Völkerrecht" heraus. Seine völkerrechtlichen Auffassungen berühren sich z. T. sehr stark mit denen Schmitts, etwa in der Kritik des Genfer Volkerrechts-"Betriebes" (vgl. v. Walz: Inflation im Völkerrecht der Nachkriegszeit, 1939) oder in seiner Bejahung der Großraumidee (vgl.: Völkerrechtsordnung und Nationalsozialismus, 1942). Als sein Hauptwerk darf das Heinrich Triepels „dualistische" Lehre vom „Völkerrecht und Landesrecht" (so Trie-
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
pels Werk v. 1899) weiterführende, einen „Pluralismus" begründende Buch „Völkerrecht und staatliches Recht", 1933, gelten. Sonstige Schriften Walz': Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes, 1928; Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner, 1930; Das Ende der Zwischenverfassung, 1933; Artgleichheit gegen Gleichartigkeit. Die beiden Grundprobleme des Rechts, 1938; Nationalboykott und Völkerrecht, 1939; Der Begriff der Verfassung, 1942. Zu Walz' Tod vgl. Schmitts Eintragung v. 20. 12. 1948, in: Glossarium, 1991, S. 211. [20] Vorl. Bd., S. 234 ff. [21] Gemeint ist: Reich und Raum. Elemente eines neuen Völkerrechts, ZAkDR, 1. 7. 1940, H. 13, S. 201 - 203; Ndr. in: Völkerrechtliche Großraumordnung, 3. Aufl. 1941, S. 49 - 58; 4. Aufl. 1941, S. 50 - 59; Ausg. 1991, S. 64 - 73; vorl. Bd., S. 307 - 14. [22] Gemeint ist: Der neue Raumbegriff in der Rechtswissenschaft, in: Raumforschung und Raumordnung - Monatsschrift der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, 1940, H. 11 / 12, S. 440 - 442; Ndr. in: Völkerrechtliche Großraumordnung, 4. Aufl. 1941, S. 59 67; Ausg. 1991, S. 74 - 82; vorl. Bd., S. 314 - 20. [23] Vorl. Bd., S. 372 ff. - In der gleichen Zeitschrift erschien auch „Der Reichsbegriff im Völkerrecht", 11 / 1939, S. 341 - 44, Textstück V der „Großraumordnung", vorl. Bd., S. 295 ff., auch Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 303 - 312. [24] H. Wehberg, Universales oder Europäisches Völkerrecht? - Eine Auseinandersetzung mit Professor Carl Schmitt, in: Die Friedens-Warte, 4 / 1941, S. 157 - 166. Wehbergs Aufsatz richtete sich gg. Schmitts „Die Auflösung der europäischen Ordnung", vgl. vorl. Bd., S. 372 ff. Vgl. auch Wehbergs Rezension der „Großraumordnung", ebd., H. 1 - 2 / 1940, S. 134 f. - Die Forderung nach Bestrafung der Schuldigen für einen „Angriffskrieg" erhob Wehberg in s. Schrift „Die Ächtung des Krieges", Berlin 1930; zuerst französisch u. d. T. „Le Probleme de la mise de la guerre hors la loi", in: Recueil des Cours, 1928 / IV, S. 149 - 306, dort bes. S. 281 ff.; dazu auch Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938, S. 45 f. (sich auf den dt. Text beziehend). Wehberg wiederholte seine Forderung nach Bestrafung des Angreifers in: Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts, 1953, bes. S. 112, 116. Zu diesem Problemzusammenhang vgl.: C. Schmitt, Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz „Nullum crimen, nulla poena sine lege" (Gutachten v. August 1945), jetzt hrsg. von Helmut Quaritsch, Berlin 1994. [25] Werner Best, 1903 - 1989; zu seiner Biographie: R. Wistrich, Wer war wer im Dritten Reich, 1983, S. 21 f. Best erregte am 25. 11. 1931 Aufsehen, als die von ihm verfaßten ,3oxheimer Dokumente" (nach einem Gasthof in Bürstadt) entdeckt wurden; darin wurden detaillierte Pläne für eine nationalsozialistische Machtübernahme nach einem angenommenen kommunistischen Revolutionsversuch entwickelt u. die Liquidierung politischer Feinde gefordert; das betr. Dokument stand in krassem Widerspruch zu Hitlers „Legalitätskurs"; dazu u. a.: Best, „ . . . wird erschossen". Die Wahrheit über die Boxheimer Dokumente, Mainz 1932; K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Ndr. 1978 d. 5. Aufl. 1971, S. 381 - 84; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, VII, 1984, S. 895 - 98; auch R. M. W. Kempner, Ankläger einer Epoche - Lebenserinnerungen, 1983, S. 79, 81. Zur Großraumfrage von Best (neben seiner Kritik an Schmitts Theorie, vgl. FN [27]) u. a.: Grundfragen einer deutschen Großraum-Verwaltung, in: Festgabe für H. Himmler, Darmstadt 1940, S. 33 - 60; damals war Best Kriegsverwaltungschef in Frankreich. Obgleich einer der engsten Mitarbeiter Heydrichs (mit dem er sich aber bald überwarf) beim Aufbau der Gestapo und des SD, blieb sein Verhalten oft mehrdeutig; als Reichsbevollmächtigter in Dänemark
Antwort an Kempner
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ermöglichte er durch Sabotage der Befehle Hitlers mehreren tausend Juden die Flucht ins neutrale Schweden; dazu: Kempner, Eichmann und Komplizen, 1961, S. 373 - 80; auch: H. Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf - Die Geschichte der SS, Ausg. d. Magnus-Verlages Essen, o. J., S. 18 f., 366 ff., 460 ff. In dem anonym erschienenen Aufsatz „Herrenschicht oder Führungsvolk?", Reich, Volksordnung, Lebensraum, III, 1942, S. 122 ff., erklärte Best, daß, „wenn die völkische Großraumordnung Bestand haben soll", die „Führung auf die Dauer nie ohne oder gegen den Willen der Geführten ausgeübt werden kann"; zu diesen u. anderen Artikeln in der Zeitschrift notiert D. Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg - Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939 - 1945, 1989, S. 110, daß sie „Beispiele einer fundamentalen, durch ideologiekonformes Vokabular nur notdürftig verkleideten „Systemkritik", die bei konsequenter Weiterverfolgung von der Herrschaft Hitlers und seiner Paladine wegführen mußte" darstellten; vgl. auch H. Taege, NS-Perestroika? Reformziele nationalsozialistischer Führungskräfte, I, Lindthorst 1988, S. 91 - 166, „Dr. Werner Best: Völkischer Anti-Imperialist"; sowie S. Werner, Werner Best - Der völkische Ideologe, in: R. Smelser u. a. (Hrsg.), Die braune Elite, II, 1993, S. 13 - 25. - Die Verwirrung um die Begriffe „Lebensraum" und „Großraum" zeigt sich bes. deutlich, wenn J. L. Brierly, Die Zukunft des Völkerrechts, Zürch 1947 (aus dem Engl.), S. 106 f., die Konzeptionen von Schmitt und Best einfach ineinssetzt, beiden Autoren eine „Ausarbeitung der nazistischen Doktrin des Lebensraums" unterschiebt und eine Aufteilung der Welt in Großräume als katastrophal ansieht, da sie zu „Kollisionen" zwischen den „Giganten" führen müßten: „Eine der beunruhigendsten Tatsachen der Nachkriegssituation ist die Erkenntnis, dass Pläne wie diese nicht lediglich verantwortungslose Phantastereien einiger weniger überspannter Individuen waren... ". Brierly behauptete dann, daß nur „kollektive Sicherheit" die Lösung sein könne. [26] Höhn, geb. 1904, kam aus dem „Jungdeutschen Orden" Arthur Mahrauns; vgl. A. Möhler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 - 1932, 2. Aufl. 1972, S. 454. 1933 trat er in die NSDAP, 1934 in die SS ein; 1935 wurde er Hauptabteilungsleiter im Berliner SD-Hauptamt Heydrichs und organisierte die „Lebensgebiet"-Forschung, dazu H. Höhne, wie FN [25], S. 216 ff.; zu Hohns Rolle im Dritten Reich vgl. auch Wistrich, wie FN [25], S. 139 f. Als Staatsrechtler anfänglich von Schmitt gefördert (vgl. Hohns Broschüren „Die Wandlung im staatsrechtlichen Denken", 1934, u. „Rechtsgemeinschaft und Volksgemeinschaft", 1935, beide in der von Schmitt herausgegebenen Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart" erschienen), lehnte er die Theorie von der juristischen Staatsperson ab und betonte die Bedeutung von Volk und Gemeinschaft ggü. dem Staat als bloßen „Apparat" in der Hand des Führers; nach dem Kriege leitete H. die Bad Harzburger Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft (ab 1956), 1971 deckte der „Vorwärts" seine Vergangenheit auf. Vgl. R. Hikkel, Eine Kaderschmiede bundesrepublikanischer Restauration. Ideologie und Praxis der Harzburger Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft, in: M. Greiffenhagen (Hrsg.), Der neue Konservatismus der siebziger Jahre, 1974, S. 108 - 154, 218 - 225. - Höhn wurde 1939 zum Direktor des Instituts für Staatsforschung in Berlin ernannt u. Schmitt mußte notgedrungen, bei Dissertations- und Habilitationsgutachten, mit ihm zusammenarbeiten, vgl. dazu: Chr. Tilitzki, wie FN [5]. Sein Werk ist äußerst umfangreich und entbehrt, sieht man von dem großen Anteil rein aktualistischer NS-Propaganda ab, nicht der Bedeutung; das gilt auch für die militärhistorischen Schriften gg. Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg; vgl. u. a.: Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front, 1929; Der individualistische Staatsbegriff und die juristische Staatsperson, 1935; Otto v. Gierkes Staatslehre und unsere Zeit, 1936; Verfassungskampf und Heereseid. Der Kampf des Bürgertums um das Heer (1815 - 1850), 1938; Das ausländische Verwaltungsrecht der Gegenwart, 1939; Frankreichs Demokratie und ihr geistiger Zusammenbruch, 1940; Der Soldat und das Vaterland während u. nach d. Siebenjäh-
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Dritter Teil: Großraum und Vlkerrecht
rigen Krieg, 1940; Frankreichs demokratische Mission in Europa und ihr Ende, 1941; Verfassungs-, Verwaltungs- u. Wirtschaftsgesetze Norwegens I, 1942 (zus. mit Wilhelm Stuckart u. Herbert Schneider); Reich-Großraum-Großmacht, 1942 (hier wurde die Kritik an Schmitts „Großraumordnung" z. T. weitergeführt); Revolution-Heer-Kriegsbild, 1944; Scharnhorsts Vermächtnis, 1952; Sozialismus und Heer, 3 Bde., 1959 / 69; Die Armee als Erziehungsschule der Nation, 1963. [27] Der Artikel Bests, Völkische Großraumordnung, erschien in der mit der Juristischen Wochenschrift vereinigten Zeitschrift „Deutsches Recht", H. 25, 1940, S. 1006 f. Nachdem Schmitt in der 3. Aufl. seiner „Großraumordnung" auf Best eingegangen war (dort S. 47), replizierte Best: Nochmals: Völkische Großraumordnung statt: „Völkerrechtliche" Großraumordnung!, Deutsches Recht, H. 29, 1941, S. 1533 f. U. a. warf er Schmitt vor: „Schmitt hatte als der erste juristische' Programmatiker der Großraumordnung die einmalige Gelegenheit, gleichzeitig mit der Schöpfung des Rechtsbegriffes der Großraumordnung dem Begriff des Völkerrechts ein theoretisches Staats- (ja Welt-)begräbnis erster Klasse zu bereiten. Er hat diese Gelegenheit versäumt. . . ". B. monierte, daß durch den „völkerrechtlichen" Charakter der Schmittschen Großraumordnung bisherige Subjekte des bisherigen Völkerrechts sich einbilden könnten, mit dem Führungsvolk des Großraums kündbare Verträge zu schließen; Schmitt begreife nicht, daß die Großraumordnung bereits das Völkerrecht ersetze und daß die Programmatik über das negative Ziel des Interventionsverbots für raumfremde Mächte hinausgeführt werden müsse. In seinem Aufsatz „Rechtsbegriff und Völkerrecht", Deutsches Recht, H. 26 / 1939, S. 1345 - 1348, hatte B. bereits betont, daß jede Bindung, die nicht von den eigenen völkischen Lebensnotwendigkeiten ausgehe, „lebensfeindlich und lebenszerstörend" sei. [28] Im Aufsatz Hohns, Großraumordnung und völkisches Rechtsdenken, RVL, I, 1941, S. 256 - 288, wurde in der Fußnote 1, S. 256, erklärt: „Zugleich eine Auseinandersetzung mit der nunmehr in dritter Ausgabe vorliegenden Schrift von Carl Schmitt . . . ", usw. Höhn lehnte darin u. a. Schmitts Freund / Feind-Kriterium ab: ,Je stärker das Volk zur Volksgemeinschaft wuchs, um so mehr mußte der Begriff des Politischen als Ausdruck der FreundFeind-Gruppierung als lebensfremd empfunden werden." H. wies auf die „Gefahr" hin, daß „eine allgemeine Großraumlehre die Funktionen einnimmt, die früher die allgemeine Staatslehre innehatte" (S. 284) und daß nach „Grundrechten der Staaten gegenüber dem Großraum" (S. 285) gefragt werden könne und so diesem ein „ihm wesensfremdes System" aufgestülpt werde. In seinem Buch „Reich-Großraum-Großmacht", Darmstadt 1942, 143 S., abgeschlossen im Dez. 1941, führte H. seine Thesen weiter aus. Eine Gegenüberstellung der Großraumtheorien Schmitts u. Hohns leistete Schmitts Schüler R. Suthoff-Groß, Deutsche Großraum-Lehre und -Politik, in: Deutsches Recht - Zentralorgan des NS-Rechtswahrerbundes, 5. - 12. 6. 1943, S. 625 - 28. Suthoff-Groß gelangte zu einer bemerkenswert positiven Einschätzung der Thesen Hohns und spielte die Differenzen herunter: „Schmitt hat einen allumfassenden Rahmenbegriff des heutigen Großraums überhaupt geprägt und entwickelt und ihm seine äußere Abgrenzung gegeben, Höhn hat den konkret vorhandenen europäischen Großraum von innen her erfaßt und mit lebensvollem Inhalt erfüllt" (S. 628); ggü. Höhn kritischer: W. Mallmann, Völkisches Denken und Raumdenken in der Staatslehre, in: Geistige Arbeit, 5. 9. 1940, S. 1 f. [29] So neben dem Aufsatz von Wehberg, FN [24] etwa: Huber, Positionen und Begriffe - Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, ZgStW, 1941, S. 1 - 44; H. Jahrreiß, Wandel der Weltordnung - Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Völkerrechtslehre von Carl Schmitt, ZöR, 5 / 1942, S. 513 - 536.
Antwort an Kempner
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[30] Vgl. FN [3]. [31] Vgl. die Hinweise bei Tilitzki, FN [5].
Anhang des Herausgebers Der vorl. Text entstand während Schmitts Inhaftierung im Nürnberger Justizgefängnis (29. 3. - 6. 5. 1947) und ist eine der vier schriftlich ausgearbeiteten Antworten Schmitts auf Fragen Robert M. W. Kempners (1899 - 1993), des Stellvertretenden Hauptanklägers d. Nürnberger Prozesses; er wurde am 18. 4. 1947 abgeschlossen u. am 21. 4. Kempner überreicht. Unser Abdruck beruht auf einem maschinenschriftl., 11-seitigen Durchschlag aus Schmitts Privatarchiv; eine englische Version erschien u. d. T. „Response to the question: „To what extent did you provide the theoretical foundation for Hitler's Grossraum policy?", in: Telos (New York), Number 72, Summer 1987, Special Issue - Carl Schmitt: Enemy or Foe?, S. 107 - 116. Die drei übrigen während dieser Zeit in Nürnberg entstandenen Texte Schmitts sind: 1) „Staatsrechtliche Bemerkungen zu der von mir gestellten Frage: Die Stellung des Reichsministers und Chefs der Reichkanzlei" (überreicht am 29. 4. 1947). In veränderter Form erschien dieser Text u. d. T. „Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem", in: Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 429 - 437, mit Zusätzen auf den S. 437 - 439. In seiner Schrift „Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber", Pfullingen 1954, Verlag Neske, hat Schmitt die Problematik auf eine freiere, literarische Weise weiter erörtert; inzw. Ndr., Berlin 1994. 2) „Beantwortung des Vorwurfs: Sie haben an der Vorbereitung des Angriffskrieges und der damit verbundenen Straftaten an entscheidender Stelle mitgewirkt", 7 maschinenschriftliche Seiten, abgeschlossen am 28. 4. 1947, in engl. Sprache in: Telos, a. a. O., S. 124 - 129. 3) Eine Antwort Schmitts auf die Frage: Warum sind die Staatssekretäre Hitler gefolgt?, überreicht am 13. 5. 1947; in veränderter Form u. d. T. „Das Problem der Legalität", in: Die Neue Ordnung, 3 / 1950, S. 270 - 275, wiederabgedruckt u. mit Kommentaren versehen in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 440 - 451. Alle vier Nürnberger Texte Schmitts werden in ihrem ursprünglichen Wortlaut in Helmut Quaritschs in Vorbereitung befindlichen Buche „Carl Schmitt in Nürnberg" (Arbeitstitel) abgedruckt werden. - Zur Entstehung des vorl. und der erwähnten Texte vgl.: Robert M. W. Kempner, Das Dritte Reich im Kreuzverhör, München / Esslingen, 1969, Bechtle, S. 293 - 300 (Hat Professor Carl Schmitt die Jugend vergiftet? - Jch fühlte mich Hitler geistig überlegen"); hier handelt es sich um eine sehr schlampige ,Synopse' der drei Verhöre Schmitts durch Kempner. Sorgfältiger: Claus-Dietrich Wieland, Carl Schmitt in Nürnberg (1947), in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Januar 1987, S. 96 - 122 (enthält u. a. den vollständigen Text der drei Verhöre). Vgl. von Kempner über Schmitt: Ein intellektueller Abenteurer, in: Aufbau (New York), 24. 8. 1973, Ndr. in: Die Mahnung, 1. 10. 1973; Ankläger einer Epoche - Lebenserinnerungen. In Zusammenarbeit mit Jörg Friedrich, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1983, Ullstein, S. 129 - 131, 263; Zum Tode von Professor Carl Schmitt (Nachruf), in: Die Mahnung, 1. 5. 1985. Von Schmitt zu Kempner vgl.: Glossarium, 1991, S. 205, 259, 314 (aus den Jahren 1948 - 51). Vgl. auch: Gegen Barbarei. Essays Robert M. W. Kempner zu Ehren - Herausgegeben von Rainer Eisfeld und Ingo Müller, Frankfurt a. M. 1989, Athenäum. - Zum Zusammenhang vgl. auch Schmitts Ausführungen ü. „Weltverbrecher", „Kriegsverbrecher" u. den Nürnberger Prozeß in: Schmitt (anon.), Völkerrecht. Jurist. Repetitorium, Salzgitter 1948/50, S. 66 - 72.
Maritime Weltpolitik
Zweifellos wäre es Goethe übel ergangen, wenn er nach 1815 in ein Säuberungsverfahren hineingeraten wäre. Bestenfalls hätte man ihn als Mitläufer davonkommen lassen.[l] Ganz besonders belastend und kaum noch entschuldbar wäre ein Hymnus aus dem Juli 1812 gewesen, den er an „Ihro der Kaiserin von Frankreich Majestät" gerichtet hatte, an die Gemahlin des Korsen und mittelbar an diesen selbst. Dieser Hymnus mußte einen Sturm moralischer Entrüstung gegen den „Fürstenknecht" entfesseln. Heute dürfen wir das merkwürdige Gedicht unbefangen lesen. Heute ist es uns gestattet, die erstaunliche Strophe zu bewundern, in der sich die elementare Witterung eines großen Dichters bekundet. Im Juli 1812, als Napoleon den Krieg gegen England und Rußland zugleich aufnahm und seine Armee auf Moskau marschierte, erkannte der Dichter die Weltgeschichte als einen Kampf der Elemente Land und Meer und sang: „Das Kleinliche ist alles weggeronnen, nur Meer und Erde haben hier Gewicht." Diese Verse und die ganze Strophe, in der sie stehen, treffen uns in den Tagen des Atlantikpaktes von neuem. [2] Der Raum des Atlantischen Ozeans tritt den kontinentalen Landmassen eines russisch-asiatischen Raumes gegenüber. Wiederum entfaltet sich der Gegensatz von Land und Meer, in uralter, ursprünglicher Einfachheit, aber jetzt zugleich in dem Aspekt eines übersichtlich-globalen Planeten. Immer, wenn die Weltgeschichte sich zur höchsten Spannung steigert, drängt sich die elementare Betrachtungsweise von selber auf. Die vor kurzem mit ihrem ersten Band erschienene „Maritime Weltgeschichte" des ausgezeichneten deutschen Historikers Egmont Zechlin (Hamburg, Hoffmann und Campe-Verlag), lehnt die elementare Betrachtung als einseitig ab.[3] Die Weltgeschichte ist tatsächlich sehr komplex. Sie ist eine Geschichte von Staaten und Völkern, Klassen und Rassen und Massen, großen Persönlichkeiten und wechselnden Eliten, und sie ist dieses alles zugleich. Vom Standpunkt des vorsichtigen Historikers aus ist es deshalb nicht mehr als klug, auch andere Kräfte zu beachten und die Einflüsse der Elemente Land und Meer sorgfältig zu dosieren. Trotzdem überwältigt uns der Anblick der Elemente, und der vorsichtige deutsche Historiker bringt sich selbst um die stärksten Wirkungen seines großen geschichtlichen Materials. Seiner maritimen Weltgeschichte fehlt der Salzgeruch des Meeres, der andere große Darstellungen wie die des amerikanischen Admirals Mahan und die des französischen Admirals Castex erfüllt. Das Elementare erscheint uns heute noch weit stärker als das Dämonische. Im Vergleich zum Juli 1812 ist
Maritime Weltpolitik
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der Planet, den wir Erde nennen, sehr klein geworden. Die moderne Technik scheint der Menschheit die ganze Erde in die Hand zu geben wie eine kleine Kugel, und es fragt sich nur noch, welche Gruppe von Menschen diese kleine Kugel handhaben wird als einen Spielraum ihrer Planungen. Die Erde ist heute kleiner als der Turm von Babel. Dieser Satz steht in dem genialen Buch Homer Leas, eines amerikanischen Schriftstellers, „The Day of the Saxon", das 1912 veröffentlicht wurde. [4] Homer Lea spricht es in aller Sachlichkeit aus, daß das Problem der Herrschaft im pazifischen Raum dem Problem des atlantischen Raumes folgen muß. Seine erstaunliche Diagnosen und Voraussagen sind aus der Sicht der Elemente gewonnen. Nur Meer und Erde haben hier Gewicht. Die beiden anderen Elemente Luft und Feuer waren damals, vor dem ersten Weltkrieg, noch nicht weltpolitisch aktualisiert. Heute sind sie es in einer so ungeheuerlichen Weise, daß sich die Frage erhoben hat, ob Land und Meer noch das entscheidende Gewicht haben. Die Herrschaft im Luftraum und der Besitz der modernen Vernichtungsmittel könnte die Herrschaft über Land und Meer von selber nach sich ziehen. Unser Planet ist dadurch noch kleiner geworden. Im Vergleich zu dem Gerüst, das die moderne Technik auf ihm errichtet, erscheint der Turm von Babel als ein sehr bescheidenes Unternehmen. Das Meer hat seine Macht als Element verloren, und unsere Erde wird zu einem Flugplatz. Dennoch bleibt es dabei: Nur Meer und Erde haben hier Gewicht. Zwar werden die Menschen vom Machtrausch ihrer Technik betäubt. Sie halten sich für die neuen Herren einer neuen, von ihnen selbst und für sie selbst geschaffenen Welt. Auch kann man oft meinen, daß die alten Elemente tatsächlich ihre alte Kraft und damit ihre alte Freiheit verloren haben. Selbst der Ozean, der Träger der früher so gewaltigen Freiheit der Meere, scheint zu einem bloßen Spielraum menschlicher Betätigung geworden zu sein. Lassen wir uns trotzdem nicht berauschen und ebenso wenig erschrecken. Wiederum ist es ein großer Dichter, der uns ein zeitgemäßes Orakel gibt: „Der Ozean ist frei, und freier noch sind die Quellen!"
Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. das satirische Buch v. Sigmund Graff, Goethe vor der Spruchkammer oder der Herr Geheimrath verteidigt sich - Nach Johann Peter Eckermann's Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Göttingen 1951. [2] Vgl. bes. das Werk von Schmitts Freund Camilo Barcia Trelles, El Pacto del Atläntico. La tierra y el mar, frente a frente, Madrid 1950; dazu: Gespräch über den Neuen Raum, vorl. Bd., S. 552 ff. [3] E. Zechlin, Maritime Weltgeschichte - Altertum und Mittelalter, Hamburg 1947, [499 S., mit Kt.], S. 21 - 24. [4] Homer Lea, The Day of the Saxon, New York / London 1912, Harper & Brother. Deutsche Übersetzungen: Des Britischen Reiches Schicksalsstunde. Mahnworte eines Angelsach-
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Dritter Teil: Großraum und Völkerrecht
sen, aus dem Englischen und mit einer Einführung von Graf E. Reventlow, Berlin 1913, Mittler & Sohn; Vergessene weltpolitische Einsichten, aus dem Englischen von Margarita S. de Planelles, Bern 1946; photomechan. Nachdruck, Zürich 1980, Hecht-Verlag. Das Buch ist dem Sieger im Burenkriege, Feldmarschall Lord Roberts gewidmet. Homer Lea legte die Gefährdetheit des Britischen Reiches durch Rußland (in Afghanistan und Indien) und durch Deutschland dar und verlangte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im gesamten Empire. Ähnlich wie Mackinder wies er auf die abnehmende Bedeutung der Seemacht angesichts moderner Eisenbahnen hin u. betonte, daß angesichts der technischen Entwicklung nicht nur die Erde, sondern hauptsächlich das Meer kleiner geworden sei. - Auf Homer Leas Warnung vor einem deutsch-russisch-japanischen Bündnis, also der Schaffung des „Kontinentalblocks" gegen die Angelsachsen, geht K. Haushofer ein in: Der Kontinentalblock. Mitteleuropa-Eurasien-Japan, 1941, 2. Aufl., S. 4 f., 35,47; Ndr. in: H. A. Jacobsen (Hrsg.), Karl Haushofer. Leben und Werk, 1979, I, S. 606 - 634, hier S. 607, 623, 630; dazu auch: H. Gollwitzer, Geschichte d. weltpolitischen Denkens, 1982, II, S. 561. Von Jean-Jacques Langendorf erscheint demnächst eine größere Studie ü. das militärische und geopolitische Denken Homer Leas. Homer Lea, 1876 in San Francisco geboren, starb 1913 als Militärberater von Sun Yat Sen in China. In seinem ersten, 1909 erschienenen Buche „The valor of ignorance", sah er den Japanisch-Amerikanischen Krieg voraus und bezeichnete Pearl Harbour als Angriffspunkt. Der Satz „Die Erde ist heute kleiner als der Turm von Babel" i. d. Ausgabe von M. S. de Planelles, S. 100. Im Original: „It (= the world) is now a hundred cubits less in size than the Tower of Babel" (S. 101). Dazu Schmitt, Glossarium, 1991, S. 249, Eintragung v. 17. 6. 1949.
Anhang des Herausgebers Der Artikel erschien am 6. 10. 1949 in „Christ und Welt", gezeichnet mit „st.". Zu Zechlin vgl. vorl. Bd., Die letzte globale Linie, S. 451.
Vierter
Teil
Um den Nomos der Erde
31 Staat, Großraum, Nomos
Illyrien - Notizen von einer dalmatinischen Reise
Das Wort Illyrien ist heute aus der Politik verschwunden. Die Serben scheinen es nicht zu lieben und sogar mit einigem Mißtrauen zu hören, obwohl die südslawische Bewegung als „illyrische Bewegung" begann und die österreichische Polizei diesen Namen verbot. Vielleicht erscheint ihnen das Wort antiquiert; vielleicht erinnert es zu sehr an die dalmatinische Küste und zu wenig an Altserbien, das zwar auch ein Teil von Illyrien ist, für die Serben aber wichtiger als solche historischen Gesamtkomplexe. Man kann es begreifen, daß ein Volk den Staat, den es erkämpft hat, auch nach seinem Namen benennen will. Die echten Preußen verzichten auch nicht gern auf ihren Namen. Überdies hat ein Bauernvolk wie die Serben wenig Interesse an schönen Bezeichnungen. Das Königreich Illyrien, 1809 von Napoleon gegründet, dauerte nur fünf Jahre und hinterließ seinen Namen einigen österreichischen Provinzen, bis 1849 auch diese Erinnerung versank. Napoleon, das letzte Beispiel klassischen Geistes in der Politik, hat auch hier etwas Großes zu retten versucht und nicht nur gute Chausseen gebaut, die man heute noch dankbar benutzt. Sein Kaisertum war der letzte Versuch einer Repräsentation großen Stils. Nicht seine legitimistischen Gegner, sondern dieser Sohn einer italienischen Insel war der Träger einer großen Überlieferung. Daran ist er gescheitert. Hanotaux hat ihm jetzt ausführlich nachgewiesen und bescheinigt, daß er dem kommenden ökonomischen und industriellen Zeitalter ahnungslos gegenüberstand und sich bemühte, die alte europäische Gesellschaftsordnung mit einem Aufgebot politischer Mittel am Leben zu erhalten.[l] Als die Zeit der modernen Demokratie begonnen hatte und der alte Adel aufgehoben war, konnte die Idee des Adels nur durch einen neuen Adel gerettet werden. Napoleon versuchte, den neuen Adel zu schaffen. Ohne Erfolg; aber in seinem Bemühungen lag mehr Sinn für die überlieferte europäische Ordnung, mehr Sinn für Tradition, als in dem Konservatismus des mit England verbündeten alten Adels, der sich einfach an seine Legitimität klammerte, bis das industrielle Zeitalter ihn samt seiner Legitimität in den Fluten der Demokratie ertränkte. Napoleon also, der Kaiser, dessen europäischer Sinn auf das Reich Karls des Großen gerichtet war, traf mit derselben Sicherheit eines klassischen Geistes an der Adria den alten Begriff Illyrien. Heute gehören Triest und Istrien zu Italien; ein Fetzen ist aus Gründen der hohen Politik ein besonderer Staat Albanien geworden; das übrige gehört, wenn man nicht Teile von Pannonien hinzurechnen will, zum ,Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen'. Dieser offizielle Name klingt nach einem nicht recht gelungenen Kompromiß. Man konnte von den Serben nicht verlangen, daß sie ihren Namen aufgaben, und konnte andererseits den Kroaten und Slowenen nicht zumuten, 31*
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
Serben zu heißen. So half man sich und stellte die drei Stämme nebeneinander. Die Abkürzung S. H. S. ist häßlich wie eine moderne Firmenbezeichnung, und ein Volk mit großer Geschichte verdiente wohl einen besseren Namen. Andere sagen Südslawien oder Jugoslawien. Auch das ist kein Name, sondern eine aus dem Politischen ins Geographische ausweichende Etikettierung. Den Mut, vom Königreich Illyrien zu sprechen, hat heute niemand mehr. Ich glaube aber, der alte König Peter, diese fast legendäre Figur eines wirklichen Bauernkönigs, eines Königs aus dem Blut seines Volkes, hätte es wohl verdient, König von Illyrien zu heißen. *
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Illyrien ist seit anderthalb Jahrtausenden Objekt der Politik. Rom, Byzanz, Goten, Serben, Avaren, Normannen, Venezianer, Türken, Ungarn, Franzosen und Österreicher haben hier geherrscht. So entstand eine ungeheuerliche Verbindung verschiedenster Rassen, illyrische Urbevölkerung, Griechen, Kelten, Römer, Germanen, Slawen und Mongolen, eine phantastische Mischung von Sprachen und Religionen, eine Luft voll von Dämonen, heidnische Antike, römisches und griechisches Christentum, Gnosis und Islam. Aber das Land ist nur der Schauplatz dieser historischen Phantasmagorie. Das Land, das Gebirge, das Meer und die Sonne scheinen alle diese Vorgänge zu ignorieren. In seiner Verbindung von herrlichem Meer, großartigem Gebirge und einer Sonne, die den Kult des Sol invictus begreiflich macht, ist seine Eigenart so fest, daß die geschichtlichen Ereignisse wie ein bunter Schatten zwischen Himmel, Meer und Erde dahinschweben. Die Erde, nicht das Blut, gibt dem Menschen, dem Sohn der Erde, seine Gestalt und sein Antlitz. Alle Rassen, die sich in Illyrien festsetzten, erhielten von diesem Lande etwas Neues und wurden Träger eines besonderen illyrischen Geistes. *
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Ich glaube nicht, daß Venedig schon zu Illyrien gehört. Ein Jahrtausend lang war es die Herrin der illyrischen Küste. Die große Architektur der dalmatinischen Städte ist das Zeichen seiner Herrschaft. Große Architektur ist immer der untrügliche und anscheinend doch unentbehrliche Ausdruck eines wirklichen Staates. Weder ein Bauerndorf noch der Weltmarkt vermögen derartiges hervorzubringen. Auch mit dieser Architektur ist Venedig das Beispiel eines wirklichen Staates, dessen Wesen ja nicht Freiheit ist, sondern Dauer. Das hat Macchiavelli, der berühmte Lehrer venezianischer Staatskunst, mit klassischer Simplizität ausgesprochen. [2] Ob die ältesten venezianischen Geschlechter illyrischen Ursprungs waren, wird man schwerlich wissen können. Seit dem 12. Jahrhundert hat die Stadt jedenfalls italienischen und nicht mehr illyrischen Charakter. In ihrer Buntheit behält sie allerdings etwas Illyrisches. Die Menge und die Pracht ihrer Farben ist ja so groß, daß in dem größten Drama, dessen Schauplatz oder Hintergrund Venedig ist, der
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Held ein Mohr sein mußte, weil ein weißes Gesicht im Mittelpunkt von soviel Farbe blaß und schwächlich erschienen wäre. Die fabelhafte Figur Othello, der schwarze Gatte der weißen Desdemona, ,der gelben Wüste brauner Sohn', der Krieger ohne Heimat und ohne soziales Milieu, dessen Eifersucht nur der giftgrüne Schleier ist, in dem sich die Konsequenz eines Heimatlosen-Schicksals psychologisch verhüllt, der seine Frau nicht erschlägt oder ersticht, sondern erwürgt, um ihre weiße Reinheit nicht mit rotem Blute zu entweihen, der dunkle Held eines farbenbunten Schauspiels, der Mohr mit dem germanischen Namen Otto, dem man ein italienisches Diminuitiv angehängt hat, das ihn wie eine Schelle lächerlich macht, der edle General Othello, der arme, einsame Othello mit seinem germanischen Schicksal - er gehört vielleicht symbolisch nach Illyrien. Die Venezianer aber sind Italiener und keine Illyrer. *
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Illyrien ist nicht romantisiert wie Venedig. Wer sich in Dalmatien aufhält und an Venedig denkt, empfindet es vielleicht als große Wohltat, nicht auf den Spuren von Byron, Musset und Richard Wagner wandeln zu müssen wie in Venedig, das schließlich von Maurice Barres in vierter Garnitur noch einmal romantisiert worden ist, sehr hübsch, aber jetzt müßte doch das Maß bald voll sein. [3] Wir sehen heute zu deutlich, worin die geschichtliche Wirklichkeit der Romantik besteht. Hier wie überall, in Italien und am Rhein, waren die Romantiker der Vortrupp des bürgerlichen Zeitalters, die Spitze jener Scharen von Reisenden, die schließlich zu einer von Hoteliers organisierten Völkerwanderung wurden. Wie peinlich, heute die Gefühle jener romantischen Genies noch einmal zu fühlen! Wie fern und fremd ist uns ihr knabenhafter Subjektivismus, wie komödienhaft der Krampf des privaten Priestertums, komisch dieses Theater von der Liebe eines Genies zu Frau oder Fräulein Soundso. Die Romantik mag unter anderm auch für Tradition schwärmen, aber sie vermag keine Tradition zu begründen. Der Weg, den Dante gegangen ist, bleibt geweiht. Dem Weg, den ein Romantiker ging, weicht man besser aus. Der letzte, vielleicht schon problematische, aber immerhin der letzte Dichter, der eine Weihe zu geben vermochte, war Goethe. Vielleicht hat er diese Kraft (die ihn übrigens in Venedig verließ) mit allzuviel Bewußtsein ausgeübt. Doch war ihm der Begriff der Repräsentation noch lebendig und die menschliche Würde noch nicht in Traum und Rausch vergangen. Die Romantik also hat Illyrien verschont. Dabei ist das Land in einem dilettantischen Sinne hochromantisch. Die Landschaft, die blaue Adria, Ragusa und Cattaro, die Einwohner mit ihren malerischen Trachten und Haltungen und ihrer Neigung zu einer überaus romantischen Faulenzerei, alles erregt das Entzücken der Reisenden, die beim Anblick der bettelarmen Dalmatiner und Herzogewiner in ätherischen Kategorien schwelgen. Auch müßte für eine sublime, auf das Akustische gerichtete romantische Sensibilität der Name Illyrien eigentlich einen bezau-
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bernden, geheimnisvollen Klang haben und ein Land wie Orplid auftauchen lassen. Und schließlich, wenn das Romantische auf einer Mischung beruht, wie manche Romantiker versichern, so ist Illyrien der äußerste Grad einer Mischung von Rassen und Schicksalen. Aber in dem Begriff Illyrien steckt etwas Echtes, das jeder Romantik unzugänglich bleibt, und die großen Illyrer machen nicht romantische Musik, sondern haben eine Sprache. Sie sprechen freilich in vielen Zungen. Es scheint, als wären ihnen alle europäischen Sprachen vertraut und als läge im illyrischen Geist eine besondere, höchst merkwürdige Art von Vielsprachigkeit.
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Es kann doch nicht nebensächlich sein und muß eine providentielle Bedeutung haben, daß der heilige Hieronymus ein Illyrer war. Der Übersetzer der Heiligen Schrift, der Autor der Vulgata, muß in einem höheren Sinne Übersetzer sein als irgendein anderer, der ein noch so schönes Werk von einer Sprache in die andere überträgt. Wenn die Bibel das Buch ist, so ist die Vulgata die Übersetzung. Auch menschlich gesprochen ist sie ein Wunder der Sprache, und wir alle empfinden die Begeisterung, mit der Peguy von ihr spricht. Luther hat die Heilige Schrift verdeutscht, d. h. der deutschen Sprache einverleibt. Das ist etwas anderes als die Übersetzung des Heiligen. Die deutsche Bibel hat ihre besonderen Vorzüge und ihre besondere Kraft, aber ihrem Autor fehlt doch die Vielsprachigkeit des Illyrers und das sichere Schweben über den Sprachen. Es ist nicht die Gewandtheit und überlegene Virtuosität, mit der etwa Irländer Englisch sprechen können. Vielmehr gehört ein slawisches Element zum Illyrischen und bewirkt eine Kraft der Weichheit und die Gewalt einer nicht analysierenden, aber durchdringenden Psychologie, die sich mit dem Fremden vereinigt, ohne sich selbst aufzugeben. Wir Deutsche fühlen das besonders stark, weil wir immer in Gefahr sind, uns entweder hart zu verschließen oder widerstandslos wegzuwerfen und zu verlieren. Doch reicht auch die slawische Weichheit und ihre psychologische Intuition nicht aus, um die Eigenarten dieser Vielsprachigkeit zu begründen. Jede Sympathie mit anderen Menschen könnte schließlich zu solcher Psychologie führen. Hinzu kommt die schicksalsmächtige Verbindung mit vielen Volkern und Sprachen, deren großer Schauplatz Illyrien ist, das Land des Diokletian, des heiligen Hieronymus, des evangelischen Theologen Flacius Illyricus, des Bischofs Stroßmayr, des großen, vielsprachigen Juristen Bogisic, des Bildhauers Mestrovic, des deutschen Dichters Theodor Däubler oder des jungen, im Krieg gestorbenen Serben Bojic, des einzigen großen heroischen Dichters, den der Weltkrieg hervorgebracht hat. Es scheint, daß aus diesem Lande die Stimmen immer gleichzeitig in vielen Sprachen sich erheben. Die Vielsprachigkeit Illyriens ist keine Polyglossie und nicht die Routine zusammengewürfelter Völker mit regem, internationalem Verkehr. Sie ist auch nicht die Dreisprachigkeit der Schweiz, die überhaupt keine Vielsprachigkeit ist; denn dadurch, daß ein Land aus drei Sprachstük-
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ken besteht, wird es noch nicht vielsprachig, und ich wüßte niemand, der französischem Sprachsinn und Sprachlaut ferner wäre als ein deutschsprechender Schweizer, und keinen, der dem Geist der deutschen Sprache so fremd gegenüberstände wie ein französischer Westschweizer. Genf ist keine vielsprachige Stadt, auch wenn man alle Diplomaten und alle Dolmetscher der Welt dort zusammentreibt. Es ist nicht sein Schicksal, vielsprachig zu sein. Die Zweisprachigkeit der Elsaß-Lothringer ist ein Unglück und eine Entwurzelung. Die illyrische Vielsprachigkeit ist etwas anderes als alles dies. Ihre moralische Voraussetzung ist eine besondere Bereitwilligkeit des Geistes, ein Verzicht auf den Utilismus nur praktischer Verständigung, eine Fähigkeit, die andere Sprache wie einen Begleiter neben sich hergehen zu lassen und mit ihr zu sprechen wie mit einem Menschen,sie aber nicht wie ein Werkzeug in die Hand zu nehmen. Das ist nur möglich in einem Lande der Grenzen, wo den Menschen die Gemeinsamkeit eines umfassenden Schicksals aus vielen Erfahrungen und insbesondere einem halben Jahrhundert des Kampfes mit dem Islam gegenwärtig geblieben ist. In einem viel intensiveren Sinne als Rußland ist der Balkan die Grenze zwischen Asien und Europa.
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In Spalato, slawisch Split, lebt in dem großartigen, wahrhaft kaiserlichen Palast, den der alte Diokletian für seine quies Augustorum bauen ließ, heute eine ganze Stadt, deren Bewohner sich in die Mauern und Ruinen eingenistet haben, mit einer Kirche, einem Kloster, mit Kaffeehäusern, Läden und Spelunken. Das Leben von tausend Menschen krabbelt in den Resten der Wohnung eines Kaisers. Auch hier zeigt eine große Architektur den großen Staat, den größten, den wir Europäer kennen, die Respublica Romana. Dieser Staat war heidnisch und nicht christlich, wenn auch die Christen beteten: Deus noster propitius esto reipublicae Romanae. Das Mausoleum Diokletians hat man in eine christliche Kathedrale verwandelt. Aber die heidnischen Friese an den Decken bestimmen immer noch den genius loci und wollen über den christlichen Exorxismus triumphieren. Unsichtbar scheint das Christentum mit heidnischen Naturgottheiten und Dämonen aller Religionen immer noch zu kämpfen, obwohl es längst zum Waffenstillstand kam. Das Land ist weit entfernt von der milden Humanität einer französischen oder westdeutschen Landschaft. Die Glocke, die den Angelus läutet, klingt anders als am Rhein oder an der Mosel, wo sie der Landschaft eine Stimme und damit erst ihre Menschlichkeit gibt. In Dalmatien klingt die Glocke wie ein Hilferuf vor den Dämonen der Luft. Dieses illyrische Wissen um viele Schicksale, viele Völker und viele Sprachen hat der junge Serbe Bojic gehabt. [4] Es ist aus den Versen zu vernehmen, die er während des Krieges schrieb, am stärksten aus dem Gedicht ,Bes Uswika', das 1915 entstand, als er mit dem serbischen Heer die Heimat verlassen hatte, in der schauerlichen Flucht über die albanischen Berge. Der Titel ist schwer zu überset-
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zen. Bes Uswika kann heißen: Ohne Ausdruck oder ohne Verwunderung, ein nil admirari, wenn man es nicht allzu platt und verstandesmäßig nimmt. Es entsteht aus einer universalen Erinnerung, die sich an keine Sensation der Überraschung verliert und das Gefühl der ewigen Kontinuität bewahrt. Eine römisch-stoische dx apa^ta und aequanimitas, auch eine orientalisch wissende Gleichgültigkeit, aber heroisch und aktiv, und ganz an die Erde gebunden. So verstehe ich dieses Gedicht, dessen Motto der Vers des Corneille sein könnte, der über der ganzen Sammlung steht: Rome n'est plus dans Rome, Elle est toute oü je suis; dessen Zeilen in wunderbaren Reimen geformt sind, wie sie nur in europäischen Sprachen vorkommen, und dessen Inhalt besagt : Nichts Sonderbares, nichts Neues gibt es für uns, Alle Länder sind uns nah und vertraut. Im hellen Glanz und wenn die Stürme sich über uns sammeln, Bleiben wir ruhig, wie mitten in der Heimat. Unser Vaterland ist berühmt durch sein Unglück. Wandelnd tragen wir es in uns. Es ist im Blut unserer ewigen Wunden, Und (jetzt versuche ich dich, Schicksal!) wir könnten es auch einmal begraben. Die Ozeane sind uns nicht fremd, Auch nicht die Gräber der toten Jahrhunderte. Ruhig stehen wir in den glänzenden Festen der Welthalle Und ruhig, wenn der Feind den Duft unserer Blumen trinkt. Oft ziehen wir wie eine Prozession mit Trompeten Von Stadt zu Stadt und Land zu Land, Und oft allein, oft mit den Herden, den Kindern und den Frauen; Tragend die Fahne der Macht und des Sturzes. Eine früh gekannte Skala der Schicksale durchlaufen wir schnell, Über die Andere kaum dahinkriechen. Darum ist uns heute nichts fremd. Es scheint uns, Als wären wir überall einstmals schon gewesen.
Und nun dieser Schluß von antiker Ruhe und Serenität: Und wenn wir uns aus der zerstreuten Asche von neuem unsern Herd errichten, Dann werden wir nebenbei auch der früheren Tage gedenken. Wir werden auf das Feuer und seine Munterkeit lauschen, Und fröhlich sein, wie der Hausvater, der von der Jagd zurückkehrt, Singend, wie er morgens singend ins Gebirge ging.
Mir scheint, daß dieser Schluß die Größe eines Dichters beweist, denn er vermeidet die naheliegende Gefahr, in philosophischer Tiefe unterzugehen oder sich zu einem rhetorischen Effekt zu steigern. Statt dessen zeigt er an dem Bild einer freundlichen Idylle noch einmal, wovon das Gedicht spricht, nämlich die affektlose Gewißheit unendlicher Dauer. Besser als durch jede Steigerung oder Konklusion des Gedankens wird sie durch diesen Ausblick, gleichmütig, sozusagen ,ohne Ausdruck 4, wirklich zum Ausdruck gebracht.
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Vermutlich sich auf zwei Essays v. G. Hanotaux beziehend: „Du Consulat ä 1'Empire; issue napoleonienne de la Revolution", Revue des Deux Mondes, 1925, S. 66 - 106 u. „Comment se fit l'Empire", ebd., S. 344 - 377, S. 573 - 609, S. 774 - 807. [2] Schmitt denkt hier wohl an den „Machiavellismus" in der venezianischen Diplomatie, vgl. A. v. Schleinitz, Staatsauffassung und Menschendarstellung der Venetianer in den Relazionen des 17. Jahrhunderts, Diss. phil. Rostock 1921, u. W. Andreas, Staatskunst und Diplomatie der Venezianer im Spiegel ihrer Gesandtschaftsberichte, Leipzig 1943. Den starken Einfluß Machiavellis auf das venezianische Denken, bes. auf Paolo Paruta (1540 - 98), belegt die Anthologie v. G. Benzoni / T. Zanato, Storici e politici veneti del Cinquecento e del Seicento, Mailand / Neapel 1982, Riccardo Ricciardi Editore, S. 3 - 132 (Auszüge aus Parutas „Deila Istoria vineziana") u. S. 491 - 642 (aus s. „Deila perfezione della vita politica"). Grundlegend: M. Maulde La Claviere, La diplomatic au temps de Machiavell, Paris 1892/93, 3 Bde., Ndr. Genf 1970. [3] M. Barres, Une Enquete aux pays du Levant, Paris 1923, Plon-Nourrit, 2 Bde. (Prosasammlung). [4] Milutin Bojic, geb. 1892 in Belgrad, gestorben 1917 in Saloniki. Nach Werken voll epikuräischer Lebensfreude wandte er sich der patriotischen Lyrik zu.
Anhang des Herausgebers Der Artikel erschien in der Zeitschrift Hochland, 23. Jg., H. 3, Dezember 1925, S. 293 298. Schmitt hatte im Sommer 1925 mit seiner späteren zweiten Frau Duska Todorovic (1903 - 1950) deren Vater Vaso Todorovic in Podrawska (Slatina) besucht. Das Gedicht von Bojic hat Schmitt, vermutlich gemeinsam mit seiner späteren Frau, übersetzt. Friedrich Fuchs, der stellvertretende Chefredakteur des „Hochland", schrieb am 9. 6. 1926 an Schmitt: „ . . . vielen Dank, auch von meiner Frau, für das übersandte Bildnis des serbischen Dichters, wir würden uns freuen, wenn Sie sich noch an die Uebersetzung des einen oder anderen Gedichtes von Bojic machten und sie uns zugänglich machten" (HSTAD-RW 265 - 460, Nr. 42). Wie lange und wie stark Bojics Gedicht ,3es Uswika" (bzw. „Bes oswika") und die darin ausgedrückte Stimmung Schmitt beschäftigten, belegt seine Notiz v. 16. 10. 1948: „Bes oswika. Wortlos", in: Glossarium, 1991, S. 203. - Vgl. zu diesem Text: A. Möhler, Carl Schmitt und die „Konservative Revolution", in: H. Quaritsch (Hrsg.), Carl Schmitt - Complexio Oppositorum, 1988, S. 129 - 151, hier S. 134 f. u. G. Meuter, Der Katechon - Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, 1994, S. 275 - 277. Schmitts Interesse an den Problemen Jugoslawiens wie Serbiens blieb auch später sehr rege. So wurden ihm vom SD Verbindungen zur „groß-jugoslawischen Bewegung" nachgesagt, der es um die Einverleibung Bulgariens ginge, vgl. SD-Akte Carl Schmitt, Institut f. Zeitgeschichte, Fa 503 1 - 2, Blatt 31, Bericht v. 15. 8. 1936. - Schmitt war auch erster Referent der Dissertation von Karl Schilling, Ist das Königreich Jugoslawien mit dem früheren Königreich Serbien völkerrechtlich identisch? (als Buch u. d. T. Die Entstehung des jugoslawischen Staates. Eine völkerrechtliche Studie, Dresden 1939); zweiter Referent der Dissertationen v. Mladen Lorkovic Die Entstehung des Staates der Serben, Kroaten und Slowenen,
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Berlin 1937 u. von Karl Barte, Jugoslawien im Paktsystem der Nachkriegszeit, Berlin 1941. Der andere Referent war jeweils Viktor Bruns. Dazu: Chr. Tilitzki, Carl Schmitt - Staatsrechtslehrer in Berlin. Einblicke in seinen Wirkungskreis anhand der Fakultätsakten 1934 1944, in: Siebte Etappe, Bonn, Oktober 1991, S. 62 - 117 (S. 86 f., 91, 98). Schmitts Interesse an jugoslawischen u. serbischen Fragen wurde auch wachgehalten durch die Freundschaft zu s. Schüler Sava S. Klickovic (1916 - 1990), der 1940 bei Schmitt promovierte (Der Begriff der Enteignung, Auszug in: Deutsche Rechtswissenschaft, 6 / 1940, S. 137 - 153); s. a. Klickovics Beitrag „Benito Cereno - Ein moderner Mythos", Epirrhosis. Festgabe f. Carl Schmitt, I, S. 265 - 273; Ndr. in: Melville, Benito Cereno, hrsg. v. Marianne Kesting, 1983, S. 279 - 88. Schmitt unterhielt auch freundschaftl. Kontakte zu dem serbischen Schriftsteller Ivo Andric (1892 - 1975, Nobelpreis f. Literatur 1961), der zum Anfang des II. Weltkriegs jugoslaw. Gesandter in Berlin war; vgl. zu Andric auch von Schmitt: Ex captivitate salus, 1950, S. 32 f., sowie: P. Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, 1993, S. 134, 222. Vgl. auch den Brief Schmitts v. 6. 11. 1960 an Julien Freund in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana II, Brüssel 1990, S. 48 ff. über Andrics Roman „Die Brücke über die Drina" (dt. 1953, u. ö.).
Raum und Rom - Z u r Phonetik des Wortes Raum Raum ist ein Wort, an dem eine Sprache sich als eine Ursprache erweist. Es ist ein Urwort der Ursprache. Wortgeschichtliche und etymologische Erklärungen eines Urwortes enthalten Anknüpfungen und Bezugnahmen von ungleicher Beweiskraft. Überzeugendes und Absurdes schwingt in ihnen nebeneinander. Sie liefern selten restlos zwingende Beweise und wollen es vernünftigerweise auch nicht. Das gilt auch für den Artikel Raum im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm.[l] Dennoch verdient auch dieser Artikel unsere Beachtung und bleibt er eine Fundgrube von Erkenntnissen aller Art. Nach ihm ist Raum einen allen germanischen Sprachen gemeinsames Wort, mit einer altnordischen Wurzel rum , die in slavischen Wörtern wie ruvati und im lateinischen e-ru-ere wiederkehrt. Inhaltlich soll rum , als Gegensatz zu rauh, eine ausgerodete, urbar gemachte Stätte bedeuten. Raum ist demnach in germanischer Sprache ein uralter Ausdruck, der einen durch Urbarmachen einer Wildnis geschaffenen Bereich menschlichen Daseins benennen soll. Ich bin sicher, daß Raum und Rom dasselbe Wort ist 1 . Von dort entwickeln sich weitere, teils sachlich-nüchterne, oft aber auch gesteigert-herrliche Bedeutungen. Den Höhe- und Wendepunkt zugleich bildet auch hier die Sprache Luthers Sie klingt in der sachlichen Verwendung gerade dieses Wortes oft sehr modern. Die diphtongale Verbindung von A und U erscheint nicht unklar, sondern fast technisch und sachlich. In der lutherischen Bibelübersetzung sagt ein Volk zum andern: „Der Raum ist mir zu enge; rücke hin, daß ich bei dir wohnen möge". Von besonderer Stärke wird die technische Sachlichkeit des Wortes, wenn Luther die leibliche Gegenwart des menschgewordenen Gottes erklärt: Gott wurde Mensch, leibhaftig und körperlich, indem er „Raum nahm und Raum gab". Isoliert genommen klingen Formulierungen wie „Raum nehmen" und „Raum geben" heute vielleicht wie Redewendungen aus einer abstrakten Erörterung des Raumproblems. Es sind aber bei Luther keine beiläufig einfließenden Ausdrücke. Sie stehen prägnant in der Abendmahlschrift von 1528 und betreffen das Geheimnis der Realpräsenz des menschgewordenen Gottes in den Gestalten von Brot und Wein. Er nahm und gab Raum. Schließlich ist das überhaupt alles, was man vom irdischen Leben und von den Taten eines Menschen sagen kann. Die Sprache Luthers ist auch hier die eigentliche Sprache der Deutschen geworden und in wesenhaften Worten eine heilige Sprache.
i Albert Blumenthal, Roma quadrata, Klio 35 (1942), S. 184/5.
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Das Geheimnis eines Urwortes geht aber weit hinaus über jede noch so bedeutungvolle Wortgeschichte und über jede noch so geistvolle Etymologie. Seine Transzendenz hängt mit der unmittelbaren Phonetik seiner Laute und seines Klanges zusammen. Zwar findet man gerade in phonetischen Erklärungs- und Deutungsversuchen tiefste Wahrheiten und irreführende Zufälligkeiten oft unmittelbar nebeneinander. Die Gefahr des Irrtums und der Willkür droht allgemein und überall, sie gehört zur Menschlichkeit unseres Geistes und unserer Sprache, und es scheint sogar ein Gesetz zu sein, daß sich die Möglichkeit von Irrtum, Lüge und Betrug in demselben Maße steigern, in dem eine Annäherung an die innerste, geheimste Wahrheit eintritt. Trotzdem ist der Versuch einer rein phonetischen Deutung nicht sinnlos. Denn es bleibt nun einmal dabei, daß ein Wort nur durch seinen Laut körperliche und leibliche Wirklichkeit erlangt. Ein Wort hat seinen ersten sinnfälligen Raum in Laut und Klang und Ton, und erst seine weiteren „Räume" sind seelischer und gedanklicher Art. Das Wort gehört primär zu einem akustischen Raum. Dieser tritt hier nicht, wie bei einem Tonfilm, raum-illusionistisch zu einem Seh-Raum oder zu anderen Räumen hinzu, sondern ist ein Teil der Kraft des Wortes selbst. Darum bedarf es einer Besinnung auch auf die Phonetik unseres heutigen Wortes Raum. Raum enthält in seiner einsilbigen Einfachheit die Welt der Vokale zwischen zwei besonderen Konsonanten. Es faßt zwei verschiedene Bestandteile in zwei verschiedenen Laut-Elementen zusammen. Die vokalische Mitte des Wortes wird von einem aus A und U gebildeten Diphthong getragen. Unabhängig von der geschichtlichen Frage, wann die Diphthonge in unsere Sprache gekommen sind und was sie allgemein bedeuten, wirken hier, durch A und U, der erste und der letzte Vokal unserer Vokalreihe zusammen und umfassen die Spannung des gesamten Bereichs der Vokale überhaupt. Die griechische Sprache hat ein anderes, von Vokalen getragenes Urwort: AION, in dem die Vokale A, I und O nacheinander erklingen. Das sind der Reihe nach sämtliche Vokale, weil I und E, und O und U ineinander übergehen. Aus der Aufeinanderfolge der ganzen Vokalreihe entsteht hier ein Laut, der dem Ablauf der ganzen, in sich geschlossenen Zeitfolge, also dem Sinn Aeon wunderbar entspricht. Mit dem deutschen Wort „Raum" verhält es sich aber so: die vokalische Mitte von RAUM gibt diphthongisch den ersten und den letzten Vokal, A und U, und schlägt dadurch den Bogen von Alpha bis Omega, Anfang und Ende. Diese Welt der Vokale ist umgeben von den beiden Liquiden R und M. Sie stellen die innere und äußere Spannung zweier Elemente her. Sie umfließen die vokalische Mitte, wie nach antikem Glauben der Ozean die von Menschen bewohnte, feste Erde umfließt. Aber sie beginnen und beenden den Raum, ohne daß sie stechende und einschneidende Grenzziehungen wären. Solche Liquiden sind nicht Anfangs- und Schlußpunkte, keine Striche und keine Demarkationslinien. Sie errichten auch keine Mauern, keine Gebäude für jenen sicherheitsbedürftigen Mann, für den der Vers gilt: „Er schließt sich ein und Gott aus". Das R bildet vielmehr den aktiven Ansatz, und M ist ein am Horizont sich zusammenfügendes, in den Horizont übergehendes Ende. Raum ist also kein geschlossener Kreis und kein Be-
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zirk, sondern eine Welt, und diese Welt ist kein leerer Raum und ist auch nicht in einem leeren Raum, sondern unser Raum ist eine mit der Spannung verschiedener Elemente erfüllte Welt. Die oben erwähnte etymologische Deutung im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm steht damit nicht im Widerspruch. Eher enthält sie eine Bestätigung des phonetischen Sachverhalts, der auf der Spannung zweier Elemente beruht. Die ausgerodete Lichtung im Urwald ist der von Menschen bewohnte und gestaltete, von einem unendlichen Nicht- oder Noch-Nicht-Gestalteten umwogte Raum. Der umgebende Urwald entspricht hier dem unabsehbaren Ozean, der die von Menschen bewohnte Erde umfließt, wie in dem eben genannten antiken Weltbild. Nur ist eine Deutung, die Wald und Rodung im Auge hat, zu sehr terran, zu sehr auf das Land bezogen. Für das vom Meer umflutete Land trifft die zugrundeliegende Vorstellung einer sicheren, von Menschen bewohnten oder bearbeiteten, von einem wogenden Element umgebenen Stätte ebenso gut, vielleicht noch besser zu. Außerdem enthält die Phonetik des Wortes „Meer" - worauf mich in einem Gespräch Wilhelm Ahlmann aufmerksam gemacht hat - ein einleuchtendes Gegenbild zu der oben entwickelten, von elementarischen Spannungen getragenen Phonetik des Wortes RAUM; MEER hat die umgekehrte Stellung der Liquiden M und R und infolge des Vokales E keine volle, sondern eine leere Mitte. Ein Vergleich mit dem lateinischen Wort spatium (espace im Französischen, spazio im Italienischen, espacio im Spanischen) macht die numinose Kraft des deutschen Urwortes noch stärker erkennbar. Spatium ist kein einfaches, sondern ein zusammengesetztes Wort. Der Buchstabe S in s-patium ist nicht ein beliebiger Konsonant. S hat die Funktion einer Vorsilbe, und zwar einer einschneidenden, stechenden und trennenden Vorsilbe, wie in se-care, se-parare, se-cernere, se-gregare, se-lectio. Für die Erkenntnis der Silbenbedeutung von Konsonanten im allgemeinen wie des Buchstabens S im besonderen bin ich meinem alten, verehrten Lateinlehrer Prof. Hiltenkamp zu besonderem Dank verpflichtet. Ein solches S tritt nun hier in spezifischer Weise verändernd und bestimmend zu „patium" (vielleicht in der Bedeutung von patere, offen liegen) hinzu. Spatium enthält daher immer zugleich etwas wie Einschnitt, Abschnitt, Ausschnitt.[la] Unter den verschiedenen etymologischen Erklärungen entspricht dem auch die Auffassung, die spatium für ursprünglich gleichbedeutend mit stadium, Stadion hält. Das ist ein anderer Horizont und eine andere Welt als die weite, im Raum zu Wort kommende Spannung von Land und Meer. Die Schwierigkeit einer Übersetzung von „Raum" in romanische Sprachen ist infolgedessen außerordentlich, sobald es sich nicht mehr nur um den leeren, mathematisch abstrakten Raum handelt. Eine Formulierung wie Großräum im Sinne einer Großraumordnung, die in deutscher Sprache ohne weiteres verständlich ist, läßt sich in romanischen Sprachen nur durch Umschreibungen, nicht durch einfache Übersetzung richtig wiedergeben. Julius Evola hat das deutsche Wort „Großraum" im Italienischen mit spazio imperiale auf eine andere Ebene überführt. [2] In slavischen Sprachen gibt Pro-stor den Sinn eines unendli-
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chen Ausblicks und damit eine wiederum anders geartete Verbindung von Laut und Sinn. Es mag sein, daß die Beliebtheit des Wortes Raum heute zu groß und seine Verwendbarkeit ganz unabsehbar ist. Die Antithese Raum-Zeit ermöglicht zahllose Spekulationen, in denen bald der Raum als die Hölle und die Zeit als das Paradies, bald die Zeit als die Hölle und der Raum als das Paradies erscheint. Für Otto Weininger war der Raum das Paradies und die Zeit die Hölle. [3] Kein Wunder, daß mancher Kritiker schon Anstoß daran nimmt und das Wort unter Quarantäne legen möchte. Erst recht ist es kein Wunder, daß mancher Gebildete sich von geräuschvollen Banalisierungen abwendet. Solange der „Raum" nur in schönen Versen Rilkes metaphorisch und metaphysisch ertönte, und Räume aus Wesen in der Lyrik entstanden („Siehe, Engel fiihlen durch den Raum"), solange empfand es auch der sensible Geschmack als sympathisch, daß der Raum die neutrale Sphäre mathematisch-physikalischer Abstraktheit verließ und konkrete Eroberungen machte. Heute aber schallt er uns als ein Modewort von allen Seiten praktischer Aktivität entgegen. Wir brauchen uns deshalb nicht zu sorgen und wollen uns darüber nicht ärgern. Das deutsche Wort Raum ist unzerstörbar 2. Es war vorhanden, als noch niemand darüber sprach, und es behielt seine Kraft, obwohl es, vor etwa fünfzig Jahren, in der damals hochmodernen Lebensphilosophie Bergsons zugunsten der Zeit und der Dauer entthront und zum Inbegriff alles Leblosen und Mechanischen herabgesetzt worden war. An seiner allzu großen Beliebtheit wird es nicht sterben. Das Wort wird seinen Kern bewahren. Auch wenn man es auf den Jahrmärkten des Lebens laut ausruft und auf Schallplatten um den Erdball jagt, wird es sein Asyl zu finden wissen. Dum clamant tacet. Beliebt oder unbeliebt, modern oder unmodern, aufgewertet oder abgewertet, bleibt es ein Urwort und in seinem innersten Wesen unversehrbar. Auch unsere Besinnung auf seine phonetische Eigenheit kann seine Kraft nur schüren und wird doch sein Arcanum wahren.
Anmerkungen des Herausgebers [1] J. u. W. Grimm, Dt. Wörterbuch, VIII, 1883, S. 275 - 84. [la] In seinem Werk „Tratado general de geopoh'tica", 2. Aufl., Barcelona 1956 (zuerst 1950, Editorial Teide), stellt Jaime Vicens Vives die These auf, daß das Grenzziehungssystem im alten Ägypten, aufgrund der fortgeschrittenen Agrikultur, bes. entwickelt gewesen sei. In der damaligen Sprache Ägyptens wäre die „Basis" des Delimitationssystems spat genannt worden; die Wurzel von spat sei sp, was „teilen" bedeute; spat sei in etwa identisch mit dem griechischen Nomos (S. 158 f.). Ansonsten befaßt sich Vicens Vives' Werk ausführ2 Unzerstörbar ist auch der (selbst im Rahmen der Sprache Nietzsches erstaunliche) Satz: Mit festen Schultern steht der Raum getrennt gegen das Nichts. Wo Raum ist, da ist Sein. (Ausgabe Kröner, Bd. 7, II, S. 58.)
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lieh mit dem Kampf zwischen Land- und Seemächten zwecks Herbeiführung der „Einheit der Welt". Zu Vicens Vives vgl. auch: A. Truyol y Serra, Las fronteras y las marcas. Factores geogräfico-politicos de las relaciones internacionales, Revista Espanola de Derecho international, 1 - 2 / 1957, S. 105 - 123, hier S. 107 f.; C. Barcia Trelles, El problema de la unidad del mundo posbelico, Sao Paulo 1953, S. 354 ff. [2] So in: II problema dei futuri „spazi imperiali" e il contributo romano-germanico, La Vita Italiana, 1940, S. 491 - 96. - Vgl. hingegen die überwiegend gg. Schmitt sich richtende Schrift von A. Messineo SJ, Spazio vitale e Grande Spazio, Rom 1942, La Civilta Cattolicä; hervorgegangen aus einer Aufsatzserie in der gleichnamigen Zeitschrift v. 1941. [3] Otto Weiningers Überlegungen zum Raum in: Taschenbuch und Briefe an einen Freund, Leipzig / Wien 1919, u. in: Über die letzten Dinge, Ausg. 1980, bes. S. 116 ff. Vgl. auch Schmitt, Glossarium, 1991, die Eintragungen v. 21. 12. 1947,17. 5. 1948 u. 18. 12. 1948.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien zuerst unter d. Titel „Zur Phonetik des Wortes Raum" in: Tymbos für Wilhelm Ahlmann. Ein Gedenkbuch. Herausgegeben von seinen Freunden. Berlin 1951, de Gruyter, S. 241 - 44. Im Anhang dazu druckte Schmitt sein Corollarium „Das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung" (zuvor in: Der Nomos der Erde, 1950, S. 13 - 20) ab; beide Texte wurden mit der Überschrift „Raum und Recht" versehen. Der Aufsatz wurde nachgedruckt in: Universitas, September 1951, S. 963 - 67, unter dem Titel „Raum und Rom - Zur Phonetik des Wortes Raum". Zu den Überlegungen Schmitts vgl. auch: Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin 1933 - 1943, München 1984, S. 251 f.; Tb-Ausgabe Frankfurt / M. 1991, S. 252. Mit dem Aufsatz befassen sich auch: G. Raciti, Dello spazio, Catania 1990, S. 59 ff. sowie: Th. Schestag, Parerga, 1991, ö. (im Zusammenhang mit anderen Arbeiten Schmitts zum Nomos); sowie: Mathias Eichhorn, Es wird regiert! Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts i. d. Jahren 1919 bis 1938, 1994, S. 72 - 79. Vgl. auch die von Schmitt geschätzten Arbeiten zur Frage Raum / Rom von: J. Vogts, Orbis Romanus. Ein Beitrag zum Sprachgebrauch und zur Vorstellungswelt des römischen Imperiums, Tübingen 1929 u. auch den mit dem gl. Titel versehenen Aufsatz Vogts in: Orbis, Freiburg 1960, 5. 151 - 71; sowie von Manuel Garcia Pelayo, La lucha por Roma (Sobre las razones de un mito politico), in: Revista de Estudios Politicos, 111 / 1960, S. 43 - 83, Ndr. in: ders., Los mitos politicos, Madrid 1981, S. 111 - 152, bes. S. 144 ff. („Espacio y nombre mfticos"); vgl. a.: B. Kytzler (Hrsg.), Rom als Idee, 1993 (mit guter Bibliographie), sowie v. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 28 f., FN 1, ü. „Roma Aeterna"; ders., Glossarium, 1991, S. 317, 6. 7.51. Wilhelm Ahlmann, 1895 - 1944, geboren in Kiel als Sohn des Bankiers Ludwig Ahlmann, lebte in Berlin u. arbeitete zeitweise (bis Ende 1933) als Referent in d. Hochschulabteilung des Preuß. Kultusministeriums. Obgleich er aufgrund einer Kriegsverletzung 1916 erblindete, promovierte er 1918 zum Dr. iur. und 1923 zum Dr. phil. Er pflegte enge Freundschaft mit Hans Freyer und Carl Schmitt. Eingeweiht in die Pläne z. 20. Juli 1944 erschoß er sich am 7. 12. 1944, um, „ein spätgeborener Stoiker, die eigene Freiheit zu retten und um die Verschwiegenheit für seine Freunde zu wahren" (Tymbos, S. XII). Schmitt hatte die hier abgedruckten Überlegungen „Wilhelm Ahlmann im Herbst 1942 vorgetragen und mit ihm in vielen Gesprächen erörtert" (Tymbos, S. 241). Vgl. auch Schmitts Widmung f. Ahlmann in „Ex captivitate salus", 1950, u. s. Glossarium, 30. 3. 48, S. 118.
Die Einheit der Welt
I.
Die Einheit der Welt, von der ich hier spreche, ist nicht die allgemeine biologische Einheit des Menschengeschlechts, auch nicht die Art Ökumene, die sich von selbst versteht und die trotz aller Gegensätze unter den Menschen in irgendeiner Form zu allen Zeiten irgendwie vorhanden war. Es ist auch nicht die Einheit des Weltverkehrs, des Welthandels, des Weltpostvereins oder ähnliches, sondern etwas Schwierigeres und Härteres. Es handelt sich um die Einheit der Organisation menschlicher Macht, die die ganze Erde und die ganze Menschheit planen, lenken und beherrschen soll. Es handelt sich um das große Problem, ob die Erde heute schon reif ist für ein einziges Zentrum politischer Macht.[l] Die Eins und die Einheit sind ein schwieriges Problem bis in die Mathematik hinein. In der Theologie, der Philosophie, der Moral und der Politik wächst dieses Problem der Einheit zu ungeheuerlichen Proportionen auf. Es ist nicht sinnlos, an die vielen schwierigen Seiten des Problems der Einheit zu erinnern, angesichts der Oberflächlichkeit der Schlagworte, die heute üblich sind. Alle Fragen, selbst die der reinen Physik, verwandeln sich heute unerwartet schnell in grundsätzliche Probleme. In Fragen der menschlichen Ordnung aber tritt uns die Einheit oft als ein absoluter Wert entgegen. Wir stellen uns die Einheit als Einmütigkeit und Einstimmigkeit vor, als Frieden und gute Ordnung. Wir denken an das Evangelium von dem Einen Hirten und dem Einen Schafstall und sprechen von der Una Sancta. Dürfen wir infolgedessen abstrakt und allgemein behaupten, daß die Einheit besser ist als die Vielheit? Auf keinen Fall. Die Einheit, abstrakt gesprochen, kann ebensosehr eine Steigerung des Bösen wie des Guten sein. Nicht jeder Hirt ist ein guter Hirt und nicht jede Einheit eine Una Sancta. Nicht jede gut funktionierende, zentralistische Organisation entspricht schon als bloße Einheit dem Vorbild menschlicher Ordnung. Auch das Reich Satans ist eine Einheit, [2] und Christus selbst ging von diesem einheitlichen Reich des Bösen aus, als er vom Teufel und Beelzebub sprach. Auch der Versuch eines Turmbaues von Babel war der Versuch einer Einheit. [3] Angesichts mancher modernen Formen organisierter Einheit dürfen wir sogar sagen, daß die babylonische Verwirrung besser sein kann als eine babylonische Einheit. Der Wunsch nach einer gut funktionierenden globalen Einheit der Welt entspricht dem heute herrschenden, technisch-industriellen Weltbild. Die technische Entwicklung führt unwiderstehlich zu neuen Organisationen und Zentralisationen.
Die Einheit der Welt
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Wenn wirklich die Technik und nicht die Politik das Schicksal der Menschheit ist, dann kann man das Problem der Einheit als gelöst betrachten. Seit über hundert Jahren haben alle guten Beobachter bemerkt, daß die moderne Technik von sich aus eine Einheit der Welt bewirkt. Schon 1848, im ersten europäischen Bürgerkrieg, stand das fest. Die marxistische Doktrin lebt von dieser Erkenntnis. Doch handelt es sich hier nicht um eine spezifisch marxistische Beobachtung. Wir könnten hier auch Donoso Cortes zitieren, der unter dem Eindruck derselben Erfahrung stand. In seiner Rede vom 4. Januar 1849 beschreibt er die ungeheure Machtmaschine, die unwiderstehlich, ohne Rücksicht auf Gut und Böse, jeden Machthaber immer noch mächtiger macht. Donoso entwirft hier das Bild eines alles verschlingenden Leviathan, dem die moderne Technik tausend neue Hände, Augen und Ohren verschafft und gegen dessen durch die Technik vertausendfachte Macht jeder Versuch einer Kontrolle oder eines Gegengewichtes hilflos und absurd erscheint. [4] Die Denker und Beobachter von 1848 standen unter dem Eindruck der Eisenbahn, des Dampfschiffes und des Telegraphen.[5] Sie hatten eine Technik vor Augen, die noch an Schienen und Drähte gebunden war, eine Technik, die heute jedem Kinde primitiv und kümmerlich erscheint. Was war die Technik von 1848 im Vergleich mit den Möglichkeiten des heutigen Flugzeuges, der elektrischen Wellen und der Atomenergie? Für die Denkweise eines Technikers ist die Erde im Vergleich zum Jahre 1848 ihrer Einheit heute um ebensoviel näher, wie Verkehrs- und Transportmittel heute schneller sind als damals, oder wie die Durchschlagskraft der Vernichtungsmittel heute diejenige von damals übersteigt. Infolgedessen ist die Erde in gleichem Maße kleiner geworden. Der Planet schrumpft ein, und für den Technokraten wäre die Herstellung der Einheit der Welt eine Kleinigkeit, der sich heute nur noch einige altmodische Reaktionäre widersetzen. Für Millionen Menschen ist das heute absolut selbstverständlich. Es ist für sie aber nicht nur selbstverständlich, sondern gleichzeitig der Kern eines bestimmten Weltbildes und damit auch einer bestimmten Vorstellung von der Einheit der Welt, ein echter Glaube und ein echter Mythos. Dabei handelt es sich nicht nur um die Pseudo-Religion der großen Massen industrialisierter Länder. Auch herrschende Schichten, in deren Hand die Entscheidungen der Weltpolitik liegen, sind von diesem Bild einer technisch-industriellen Einheit der Welt beherrscht. Wir brauchen uns nur der wichtigen, im Jahre 1932 verkündeten Doktrin des damaligen Außenministers der Vereinigten Staaten von Amerika, Henry L. Stimson, zu erinnern. Stimson erläuterte den Sinn seiner Doktrin in einer Rede vom 11. Juni 1941. Seine Argumentation enthält ein echtes Glaubensbekenntnis. Er sagt, die Erde sei heute nicht größer als im Jahre 1861, bei Ausbruch des Sezessionskrieges, die Vereinigten Staaten von Amerika, die damals schon zu klein waren für den Gegensatz zwischen Nord- und Südstaaten. Die Erde, versicherte Stimson 1941, ist heute zu klein für zwei entgegengesetzte Systeme. [6] 32 Staat, Großraum, Nomos
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
Verweilen wir einen Augenblick bei dieser wichtigen Erklärung des berühmten Urhebers der Stimson-Doktrin. Sie ist nicht nur von praktischer Bedeutung als Ausdruck der Überzeugung eines führenden Politikers der stärksten Weltmacht. Sie ist auch unter philosophischen und metaphysischen Gesichtspunkten überraschend. Natürlich will sie nicht philosophisch oder metaphysisch sein. Wahrscheinlich ist sie in einem rein positiv-pragmatischen Sinne gemeint. Aber gerade dadurch wird sie nur um so philosophischer. Ein hervorragender amerikanischer Politiker entscheidet sich, mit einer unfreiwilligen metaphysischen Wucht, für die politische Einheit der Welt, während noch bis vor kurzem ein philosophischer Pluralismus das eigentliche Weltbild Nordamerikas zu bestimmen schien. Denn der Pragmatismus, die Philosophie bis dahin typisch amerikanischer Denker wie William James, war bewußt pluralistisch. Er lehnte den Gedanken einer Einheit der Welt als unmodern ab und sah in der Vielheit möglicher Weltbilder, sogar in der Vielheit der Wahrheiten und der Loyalitäten die wahre moderne Philosophie. [7] Im Laufe von dreißig Jahren, während einer einzigen menschlichen Generation, ist das reichste Land der Welt mit dem stärksten Kriegspotential der Erde vom Pluralismus zur Einheit übergegangen. So scheint die Einheit der Welt die selbstverständlichste Sache der Welt zu sein.
II.
Die politische Wirklichkeit bietet jedoch heute nicht das Bild einer Einheit, sondern das einer Zweiheit, und zwar einer beunruhigenden Zweiheit. Zwei riesige Partner stehen sich feindlich gegenüber und bilden den Gegensatz von Westen und Osten, von Kapitalismus und Kommunismus, widersprechenden Wirtschaftssystemen, widersprechenden Ideologien und völlig verschiedenen, heterogenen Typen herrschender Klassen und Gruppen. Ihre Feindschaft äußert sich in einer Mischung von kaltem und offenem Krieg, von Nerven- und Waffenkrieg, diplomatischem Noten-, Konferenz- und Propagandakrieg. Der Dualismus zweier Fronten tritt hier als klare Unterscheidung von Freund und Feind hervor. Wenn die Einheit an sich etwas Gutes ist, so ist die Zweiheit an sich etwas Böses und Gefährliches. Binarius numerus infamis, sagt Thomas von Aquin.[8] Die Zweiheit der heutigen Welt ist in der Tat in sich böse und gefährlich. Die Spannung wird von jedem als unerträglich empfunden, als ein in sich selbst unhaltbarer Übergangszustand. Die Unerträglichkeit einer solchen dualistischen Spannung drängt von innen heraus zu einer Entscheidung. Vielleicht dauert die Spannung trotzdem länger, als die meisten Menschen erwarten. Das Tempo der geschichtlichen Ereignisse hat ein anderes Maß als die Nerven der menschlichen Individuen, und die Weltpolitik nimmt wenig Rücksicht auf das Glücksbedürfnis der Einzelnen. Dennoch können wir uns der Frage nicht entziehen, wohin die Lösung der dualistischen Spannung geht.
Die Einheit der Welt
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Für die allgemeine Tendenz zur technisch-industriellen Einheit der Welt ist die heutige Zweiheit nur ein Übergang zur Einheit, die letzte Runde in dem großen Kampf um die Einheit der Welt. Das würde bedeuten, daß der Überlebende der heutigen Weltzweiheit morgen der einzige Herr der Welt ist. Der Sieger würde die Einheit der Welt verwirklichen, natürlich unter seinem Gesichtspunkt und nach seinen Ideen. Seine Eliten würden den Typus des neuen Menschen darstellen. Sie würden planen und organisieren nach ihren politischen, wirtschaftlichen und moralischen Ideen und Zielen. Wer an eine heute bereits selbstverständliche, technischindustrielle Einheit der Welt glaubt, sollte sich dieser Konsequenz bewußt bleiben und sich das Bild des Einen Herrn der Welt recht konkret vor Augen führen. [9] Aber die endgültige globale Einheit, die durch einen restlosen Sieg des einen Partners über den anderen eintreten würde, ist keineswegs die einzig denkbare Möglichkeit, um die Spannung der heutigen Zweiheit zu beenden. Die Fronten des heutigen Westens und des heutigen Ostens bilden ein Dilemma, in dem sich die ganze heutige Welt durchaus nicht erschöpft. Das Entweder-Oder der heutigen Zweiheit der Welt ist viel zu eng, als daß die ganze Menschheit darin aufgehen könnte. Beide feindliche Lager des heutigen Westens und des heutigen Ostens zusammengenommen sind noch lange nicht die ganze Menschheit. Wir zitierten eben den Ausspruch des amerikanischen Staatssekretärs Stimson vom Jahre 1941, wonach die ganze Erde heute nicht größer ist, als die Vereinigten Staaten von Amerika bei Ausbruch des Sezessionskrieges 1861. Auf diesen Ausspruch hat man schon vor Jahren erwidert, daß die ganze Erde immer größer sein wird als die Vereinigten Staaten von Amerika. [10] Fügen wir hinzu, daß sie erst recht immer größer sein wird als der heutige kommunistische Osten und auch als beide zusammen. Die Erde mag noch so klein geworden sein, sie wird immer viel mehr darstellen, als die Summe der Gesichtspunkte und Horizonte, unter denen sich die Alternative des heutigen Weltdualismus stellt. Mit anderen Woren: Es gibt immer noch einen dritten Faktor, und wahrscheinlich nicht nur einen, sondern mehrere solcher dritten Faktoren. Hier sollen nicht die vielen verschiedenen Möglichkeiten erörtert werden, die denkbar sind und praktisch in Betracht kommen. Das ergäbe eine politische Diskussion über Fragen, wie z. B. die Lage und die Bedeutung Chinas oder Indiens oder Europas, des Britischen Commonwealth, der Hispano-Lusitanischen Welt, des Arabischen Blocks und vielleicht noch anderer, unerwarteter Ansätze zu einer Pluralität von Großräumen. Sobald eine dritte Kraft erscheint, öffnet sich sehr schnell der Weg zu einer Mehrheit von dritten Kräften, und es bleibt nicht bei der einfachen Dreizahl. Denn hier zeigt sich die Dialektik aller menschlichen Macht, die niemals grenzenlos ist, sondern unfreiwillig die Kräfte fördert, die ihr eines Tages die Grenze setzen werden. Jeder der beiden Gegner des primitiven Weltdualismus hat ein Interesse daran, andere auf seine Seite zu ziehen, Schwächere zu schützen und gegen den andern zu fördern, womit er sie möglicherweise auch gegen sich selbst fördert. Auch hier liegt es im Wesen dieser mannigfachen Träger 32*
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
einer dritten Kraft, daß sie die Gegensätze der beiden großen Partner fiir sich ausnutzen und selber nicht überwältigend stark zu sein brauchen, um sich zu halten. Ich spreche hier nicht von Neutralität oder Neutralismus. Es ist irreführend, das Problem der dritten Kraft mit dem der Neutralität oder des Neutralismus zu verwechseln, mögen sie sich noch so stark berühren und gelegentlich überschneiden. Die Möglichkeit einer dritten Kraft bedeutet zahlenmäßig nicht eine simple Dreiheit, sondern eine Vielheit, das Aufbrechen eines echten Pluralismus.[ll] Damit ist zugleich die Möglichkeit eines Gleichgewichts der Kräfte gegeben, eines Gleichgewichts mehrerer Großräume, die unter sich ein neues Völkerrecht schaffen, auf neuer Ebene und mit neuen Dimensionen, aber doch auch mit manchen Analogien zu dem europäischen Völkerrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, das ebenfalls auf einem Gleichgewicht mehrerer Mächte beruhte und dadurch seine Struktur erhielt. Auch im Jus Publicum Europaeum gab es eine Einheit der Welt. Sie war europazentrisch, aber sie war nicht die zentrale Macht eines einzigen Herrn der Welt. Ihr Gefüge war pluralistisch und ermöglichte eine Koexistenz mehrerer politischer Größen, die sich gegenseitig nicht als Verbrecher, sondern als Träger autonomer Ordnungen betrachten konnten. Die feindliche Zweiheit der Welt ist demnach einer Dreiheit und damit einer Vielheit ebenso nahe wie einer endgültigen Einheit. Die ungeraden Zahlen - Drei, Fünf usw. - haben hier den Vorzug, weil sie ein Gleichgewicht eher ermöglichen als die geraden Zahlen. Das bedeutet zugleich, daß sie den Frieden eher ermöglichen. Es ist durchaus denkbar, daß die heutige Zweiheit einer solchen Vielheit näher ist als einer endgültigen Einheit und daß die meisten Kombinationen der „one world " sich als übereilt erweisen.
III.
Die feindliche Spannung, die zur Zweiheit gehört, setzt dialektisch eine Gemeinsamkeit und damit wieder eine Einheit voraus. Der Eiserne Vorhang wäre sinnlos und keiner würde sich die Mühe geben, ihn zu organisieren, wenn er nur innerlich beziehungslose Räume voneinander trennen sollte. Die Deutung des Eisernen Vorhanges, die Rudolf Kaßner (Merkur, April 1951) gegeben hat, meint die Trennung von Existenz und Nicht-Existenz, von Existenz und Idee. [12] Sie setzt jedoch voraus, daß auf der horizontalen, der politischen Ebene die Trennung sich innerhalb einer gemeinsamen Ideologie vollzieht. Die Gemeinsamkeit liegt im Welt- und Geschichtsbild beider Partner des Welt-Dualismus. Wie der Weltkampf zwischen Katholizismus und Protestantismus, zwischen Jesuitismus und Calvinismus im 16. und 17. Jahrhundert die Gemeinsamkeit des Christentums voraussetzte und erst diese Einheit die furchtbare Feindschaft hervorbrachte, ebenso liegt heute der Zweiheit die Einheit einer geschichtsphilosophischen Selbst-Interpretation zugrunde.
Die Einheit der Welt
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Unsere Diagnose der gegenwärtigen Weltlage wäre unvollständig, wenn sie die geschichtliche Selbst-Interpretation der Partner des Welt-Dualismus außer acht ließe. Nur dort ist die Einheit zu finden, die ihre Zweiheit dialektisch ermöglicht. Mehr als jede andere Größe ist die Selbst-Interpretation ein Element der heutigen Weltsituation. Angesichts des Problems der Einheit der Welt ist jeder geschichtlich handelnde Mensch gezwungen, sowohl eine Diagnose wie eine Prognose zu stellen, die nicht nur bloße Tatsachen betrifft. Auch der nüchternste politische Rechner interpretiert die statistischen Informationen, die er erhält, und zwar interpretiert er sie in einem geschichtsphilophischen Sinne. Alle Menschen, die heute planen und große Massen hinter ihre Planungen zu bringen suchen, treiben in irgendeiner Form Geschichtsphilosophie. Das Problem der Einheit der Erde und das des heutigen Welt-Dualismus wird dadurch zu einem Problem geschichtsphilosophischer Weltdeutung. Zu allen Zeiten haben sich die Menschen irgendwie durch religiöse, moralische oder wissenschaftliche Überzeugungen bestimmen lassen, die auch gewisse Vorstellungen vom Gang der Geschichte enthielten. Aber das Zeitalter der Planung ist in einem besonderen Sinne das der Geschichtsphilosophie. Wer heute plant, muß den Menschen, die er hinter seine Planung zu bringen sucht, gleich eine handfeste Geschichtsphilosophie mitliefern. Insofern hat Geschichtsphilosophie heute einen überaus praktischen und effektiven Sinn. Sie ist nämlich ein unabdingbarer Bestandteil der Planung.[ 13] Das gilt ohne weiteres und offensichtlich mit Bezug auf den heutigen kommunistischen Osten. Der Osten hat ein festes Ziel, das auf die Einheit der Erde und ihre Unterwerfung unter den weltgeschichtlich legitimierten Herrn dieser Erde gerichtet ist. [14] Sein Gedanke der Einheit beruht auf der Doktrin des dialektischen Materialismus, die in aller Form zu einem kollektivistischen Credo erhoben worden ist. Der dialektische Materialismus, das Kernstück des Marxismus, ist - in einer spezifischen und sogar ausschließlichen Weise - Philosophie der Geschichte. Er bewahrt die Struktur der Philosophie Hegels, d. h. des einzigen ausgebauten geschichtsphilosophischen Systems der bisherigen Weltgeschichte. Nun ist diese Hegelsche Philosophie scheinbar idealistisch; sie erblickt das Ziel der Menschheit in der Einheit des zu sich selbst zurückkehrenden Geistes und der absoluten Idee, nicht in der materiellen Einheit einer elektrifizierten Erde. Aber das methodische Kernstück, die dialektische Bewegung der Weltgeschichte, läßt sich auch in den Dienst einer materialistischen Weltauffassung stellen. Der Gegensatz von Materialismus und Idealismus wird unwesentlich, wenn alle Materie Strahlung und alle Strahlung Materie wird. Alle die vielen Planungen des Ostens, angefangen von dem ersten berühmten Fünf-Jahres-Plan, der schon fast mythischen Piatiletka von 1928, haben ihre Überlegenheit über andere Planungen darin, daß sie in eine dialektische Bewegung hineinkonstruiert werden, die zur Einheit der Welt führen soll. [15] Es handelt sich hier weder um Ontologie noch um Moral-Philosophie, sondern um die Behauptung
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
des richtig erkannten, ganz konkreten Ablaufs der geschichtlichen Entwicklung, in der wir heute stehen. Der Marxismus - und mit ihm das ganze offizielle Credo des kommunistischen Ostens - ist in intensivstem Grade Geschichtsphilosophie. Darauf beruht seine faszinierende Wirkung, die auch den Gegner dieses Systems zwingt, sich auf seine eigene geschichtliche Situation und sein eigenes Geschichtsbild zu besinnen, wenn er mit diesem gefährlichen Feind in Kontakt gerät. Hier, im Osten, ist der Zusammenhang von Einheit der Welt und konkreter Geschichtsphilosophie mit Händen zu greifen. Was hat der heutige, von den Vereinigten Staaten von Amerika geführte Westen dieser Geschichtsphilosophie entgegenzusetzen? Er hat jedenfalls kein derart geschlossenes, einheitliches Weltbild. Heute dürfte Arnold Toynbee, der bei der UNO aggregierte wissenschaftliche Berater, der bekannteste Geschichtsphilosoph des Westens sein.[16] Seine Theorie ist natürlich kein offizielles Credo, aber seine Auffassung und vielleicht noch mehr seine Stimmung sind doch in hohem Maße symptomatisch für die weltgeschichtliche Selbst-Interpretation führender Schichten und Eliten des angelsächsischen Westen. Das ist auf jeden Fall beachtlich, angesichts der großen Bedeutung, die dem Geschichtsbild führender Gruppen zukommt. Und was ist das geschichtliche Bild, das sich aus dem Werk des berühmten englischen Historikers ergibt? Wir brauchen hier den oftmals dargestellten Inhalt seines Werkes nicht zu wiederholen. Das Entscheidende ist, daß nach Toynbee eine Anzahl von Hochkulturen (Zivilisationen) der Menschheit entsteht, wächst, umbricht und vergeht und daß wir uns in unserer gegenwärtigen Zivilisation damit trösten dürfen, wieder christlich werden zu können und eigentlich doch noch viel Zeit vor uns zu haben, angesichts der riesigen Zeiträume, mit denen die Geschichte, wie Toynbee sie auffaßt, zu arbeiten pflegt. Das ist ein schwacher Trost, der nicht einmal ein spezifisch christliches Geschichtsbild gibt. Nimmt man dann noch hinzu, daß viele angelsächsische Gelehrte in der rapiden Bevölkerungszunahme der östlichen Welt die eigentliche Kriegsursache sehen und als Heilmittel nichts anderes als Geburtenkontrolle zu bieten haben, so erscheint die geschichtliche Selbst-Interpretation des Westens schwach und kraftlos. Denn schließlich wäre es doch schlimm, wenn hinter dem Dualismus der heutigen Welt nichts anderes stände als der Gegensatz von birthcontrol und animus procreandi, so daß jedes neugeborene Kind gleich als Aggressor zur Welt käme und in das System moderner Kriminalisierungen einbezogen würde. Ich möchte keinen Verehrer Toynbees oder Julian Huxleys[17] kränken, wenn ich das ausspreche. Auch kenne ich die Kritik und die Zweifel an der Ideologie des Fortschritts, die von führenden angelsächsischen Autoren geäußert worden sind. Aber das alles ändert nichts an dem ideologischen Gesamtbild eines Westens, dessen Kern, soweit er noch weltgeschichtliche Kraft hat, ebenfalls geschichtsphilosophisch ist, nämlich die Saint-Simonistische Geschichtsphilosophie des industriellen Fortschritts und der geplanten Menschheit, mit allen ihren zahlreichen Varia-
Die Einheit der Welt
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tionen und Popularisierungen von Auguste Comte und Herbert Spencer bis zu den vielleicht etwas skeptischer gewordenen Schriftstellern des heutigen Tages. Die großen Massen des industrialisierten Westens und namentlich der Vereinigten Staaten von Amerika haben eine unendlich einfache und massive Geschichtsphilosophie. Sie führen den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts in einer groben Form weiter, ohne sich um die Finessen kultivierter Engländer zu kümmern. Diese Massen haben eine Religion der Technizität, und jeder technische Fortschritt erscheint ihnen zugleich als eine Vervollkommnung des Menschen selbst, als ein direkter Schritt zu dem irdischen Paradies der one world.[ 18] Ihr evolutionistisches Credo konstruiert eine grade Linie des Aufstiegs der Menschheit. Der Mensch, biologisch und von Natur ein überaus schwaches und hilfsbedürftiges Wesen, schafft sich durch die Technik eine neue Welt, in der er das stärkste, ja sogar das alleinige Wesen ist. Die gefährliche Frage, bei welchen Menschen sich die ungeheuerliche Macht über andere Menschen konzentriert, die mit dieser Steigerung technischer Mittel notwendig verbunden ist, darf nicht gestellt werden. Das ist unverändert der alte, aber durch die moderne Technik gesteigerte Glaube an den Fortschritt und die unendliche Perfektibilität. Er wurde in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts geboren. Damals, im 18. Jahrhundert, war er noch die philosophische Überzeugung einiger führender Gruppen und Eliten. Im 19. Jahrhundert wurde er das Credo des westlichen Positivismus und Scientismus. Seine ersten Propheten waren Saint-Simon und Auguste Comte, sein erfolgreichster Missionar für die angelsächsische Welt Herbert Spencer. Heute, im 20. Jahrhundert, hat sich bei der Intelligenz längst ein Zweifel eingenistet, der Zweifel, ob technischer, moralischer und sonstiger Fortschritt überhaupt noch eine Einheit bilden. Die Intelligenz ist von der lähmenden Erkenntnis erfaßt, daß die Menschen durch die neuen technischen Mittel zwar mächtiger, aber keineswegs moralisch besser geworden sind. Es ist die Erkenntnis einer Diskrepanz des technischen und moralischen Fortschritts. Goethe hat das sehr einfach in dem Satze ausgesprochen: Nichts zerstört den Menschen so wie eine Vermehrung seiner Macht, die nicht mit einer Vermehrung seiner Güte verbunden ist. Aber die Massen fragen nicht nach solchen Zweifeln und empfinden die Aufsplitterung des Fortschrittsbegriffs wahrscheinlich nur als sophistische Zerredungen einer dekadenten Intelligenz. Sie bleiben bei ihrem Ideal einer technisierten Welt. Das ist dasselbe Ideal einer Einheit der Welt, das Lenin verkündet hat, als er von der Einheit der elektrifizierten Erde sprach.[19] Östlicher und westlicher Glaube fließen hier zusammen. Beide behaupten die wahre Menschheit, die wahre Demokratie zu sein. Sie stammen ja auch beide aus derselben Quelle, aus der Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Einheit, die der Zweiheit zugrunde liegt, wird hier sichtbar. Westen und Osten sind heute durch einen Eisernen Vorhang getrennt. Aber die Wellen und Korpuskeln einer gemeinsamen Geschichtsphilosophie dringen durch den Vorhang hindurch und bilden die unfaßbare Einheit, durch welche die heutige
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
Weltzweiheit dialektisch erst ermöglicht wird. Die Feinde begegnen sich in einer Selbst-Deutung ihrer weltgeschichtlichen Lage.
IV. Folgt aus dieser unsichtbaren, den Eisernen Vorhang durchdringenden Gemeinsamkeit eines geschichtsphilosophischen Weltbildes, daß der heutige Dualismus der endgültigen Einheit der Welt näher ist als einer neuen Vielheit? Wenn es für uns heute kein anderes Geschichtsbild gäbe als das philosophische Programm der letzten zwei Jahrhunderte, so wäre die Frage nach der Einheit der Welt in der Tat längst entschieden. Dann könnte auch die Zweiheit der heutigen Weltlage nichts anderes sein als der Übergang zur planetarischen Einheit der reinen Technizität. Das wäre die Einheit, die zwar den großen Massen als eine Art irdischen Paradieses einleuchtet, vor der aber heute selbst schon manchem angelsächsischen Intellektuellen schaudert, weil er die eben erwähnte Aufsplitterung des Fortschrittbegriffes und die Diskrepanz von technischem und moralischem Fortschritt erkennt oder wenigstens wittert. Jeder sieht, daß der moralische Fortschritt andere Wege geht als der technische Fortschritt, sowohl bei den Machthabern, die planen und sich dabei der modernen Wissenschaft bedienen, wie bei den Eliten und den Massen, die auf das große Erntefest der Planung hoffen. Die planetarische Einheit einer derartig organisierten Menschheit wurde schon vor über hundert Jahren als Alpdruck empfunden. Der Alpdruck hat sich inzwischen in gleichem Maße gesteigert, wie die technischen Mittel menschlicher Macht sich gesteigert haben. Um so schwerer wird die Frage, die wir eben gestellt haben und die wir wiederholen: Folgt aus der Einheit des geschichtsphilosophischen Weltbildes die bevorstehende politische Einheit der Welt? Folgt aus ihr, daß die gegenwärtige Zweiheit nur das letzte Stadium vor der Einheit ist? Ich glaube es nicht, weil ich nicht an die Wahrheit dieses geschichtsphilosophischen Weltbildes glaube. Wenn wir feststellen, daß sowohl der heutige Osten wie der heutige Westen von einer Geschichtsphilosophie bestimmt wird und daß sowohl die leitenden und planenden Eliten wie auch die von ihnen eingesetzten Massen vor allem auf der Seite der kommenden Dinge liegen wollen, so müssen wir hinzufügen, daß das Wort „Geschichtsphilosophie" hier einen überaus prägnanten und spezifischen Sinn hat. Diese Geschichtsphilosophie nämlich, deren Gemeinsamkeit den Eisernen Vorhang durchdringt, ist mehr Philosophie als Geschichte. Das bedarf noch eines Wortes der Klärung. In einem vagen und allgemeinen Sinne kann man jede allgemeine Vorstellung von der Geschichte, jedes Geschichtsbild, jede große Deutung der Vergangenheit und jede große Erwartung einer Zukunft als „Philosophie der Geschichte" bezeichnen. In diesem ungenauen Sinne wäre z. B. die heidnische Vorstellung eines ewigen, sich unendlich wiederholenden Kreislaufs der Elemente, einer kyklischen
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Wiederkehr alles Geschehens, ebenfalls Geschichtsphilosophie. Auch ein religiöses Geschichtsbild würde Geschichtsphilosophie sein, und selbst die Juden, die den Messias erwarten, oder die Christen, die der Wiederkunft des triumphierenden Christus harren, würden dann Geschichtsphilosophie treiben. Das wäre eine Neutralisierung der Begriffe, eine schlimme Verwirrung und im letzten Ergebnis geradezu eine Fälschung. Die Geschichtsphilosophie, um die es hier geht und die wir als die gemeinsame Basis der heutigen Zweiheit diagnostiziert haben, ist ein Bestandeil menschlicher Planung, und zwar einer Planung, die auf einer typisch philosophischen Deutung der Geschichte beruht. Sie ist philosophisch in dem ganz konkreten Sinne, den das Wort Philosophie durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts erhalten hat. Sie wird dadurch konkret, daß eine bestimmte Intelligenzschicht die Führungsansprüche anderer Eliten verneint. Diese Philosophie nimmt das Monopol der Intelligenz und der Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch. In dem Wort „Geschichtsphilosophie" hegt der Akzent auf Philosophie, und zwar einer geschichtlich und soziologisch ganz bestimmten Erscheinungsform der Philosophie, die ihre eigenen Fragen stellt und beantwortet, fremde Fragestellungen ablehnt und alle von anderer Seite gestellten Fragen als unphilosophisch, unwissenschaftlich, unmodern und geschichtlich überholt bezeichnet. Geschichtsphilosophie bedeutet demnach nicht nur den Gegensatz zu jeder Geschichtstheologie, sondern weiterhin auch den Gegensatz zu jedem Geschichtsbild, das sich ihrem Monopol der Wissenschaftlichkeit nicht unterwirft. In diesem Sinne war Voltaire der erste Geschichtsphilosoph. [20] Seine Geschichtsphilosophie machte die Geschichtstheologie Bossuets unmodern. Mit der französischen Revolution setzt die große Effektivität der spezifisch philosophischen Geschichtsphilosophie ein. Recht ist jetzt, was dem Fortschritt dient, Verbrechen, was ihn aufhält. Die Geschichtsphilosophie wird geschichtsmächtig. Sie glorifiziert den, der in ihrem Sinne richtig liegt, und kriminalisiert den, der zurückbleibt. Sie gibt den Mut zur globalen Planung. Allerdings stellt sich dann bald heraus, daß es nicht die Philosophen sind, die planen, sondern die Planer, die sich der Wissenschaft und der Intelligenz bedienen. Der Osten insbesondere hat sich der Geschichtsphilosophie Hegels nicht anders bemächtigt, wie er sich der Atombombe und anderer Erzeugnisse der westlichen Intelligenz bemächtigt hat, um die Einheit der Welt im Sinne seiner Planungen zu verwirklichen. Aber wie die Erde größer bleibt als das Dilemma der dualistischen Fragestellung, ebenso bleibt die Geschichte stärker als jede Geschichtsphilosophie, und deshalb halte ich die heutige Zweiheit der Welt nicht für eine Vorstufe ihrer Einheit, sondern für einen Durchgang zu einer neuen Vielheit.
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Anmerkungen des Herausgebers [1] Der schon im Genfer Völkerbund wirksame „Universalismus", die Idee einer endgültig den Frieden sichernden Welteinheit, einer Weltregierung, usw. wurden schon vor der Gründung der UNO (26. 6. 1945) neu propagiert. Ein Panorama der verschiedenen, über das UNO-Konzept oft weit hinausgehenden Pläne zeichnet: R. A. Divine, Second chance. The Triumph of Internationalism in America during World war II, New York 1971 (zuerst 1967), bes. S. 98 - 135; zu den UNO-Plänen vgl. auch die scharfe Kritik von W. G. Grewe, Von den „ A l l i i e r t e n und Assoziierten Mächten" zu den „Vereinigten Nationen", ZfP, 4 - 5/1943, S. 262 - 66; ders., Die Völkerbundspläne der Alliierten, ZfP, 7 - 8 / 1944, S. 265 - 286. Besonderes Aufsehen erregte jedoch das in zahlreiche Sprachen übersetzte Buch von Emery Reves, The Anatomy of Peace, New York 1947; dt., Die Anatomie des Friedens, Zürich 1947, in dem die völlige Preisgabe des Souveränitätsbegriffs gefordert und die Souveränität als das „Virus" aller bisherigen Kriege bezeichnet wurde; heute bleibe der Menschheit nur die Wahl zwischen „der Errichtung einer Weltregierung durch Vereinigung oder durch Eroberung"; vgl. zu diesem Buch: H. P. (= Hans Paeschke), Zur Frage einer Weltregierung, Merkur 4 / 1947, S. 600 - 605, mit Bezugnahmen auf Schmitts Tocqueville-Deutung, sowie Schmitt, Glossarium, 1991, S. 238 (Eintragung vom 1. 5. 1949); ausführlich zu Reves: G. Siemens, Leviathan. Die Wege zum totalen Staat, 1949, S. 186 - 205; vgl. in Deutschland auch die Debatte in „Der Monat", 7 / 1949, mit Beiträgen von G. A. Borgese, J. Burnham, H. Kohn u. B. Russell. Völkerrechtliche Überlegungen angelsächsischer Provenienz, in denen sich politische Naivität, Missionsdrang und welthegemonialer Anspruch oft seltsam mischen: N. Doman, The coming age of world control, New York 1942 (dort u. a. S. 174: „ . . . it is a painful, paradoxical truth that world peace and the instrumentalities of world democracy must be imposed" und daß „this process cannot, of course, be expected by purely democracy"); H. Bonnet, The United Nations on the way, Chicago 1942, hrsg. von d. „World Citizens Association"; R. B. Perry, One world in the making, New York 1945; F. Rider, The great dilemma of world organization, New York 1946; Ph. M. Brown, World Law, AJIL, 1946, S. 159 ff.; CI. Eagleton, The demand for world government, ebd., S. 39 ff.; ders., International Government, New York 1948 ; G. J. Mangone, The idea and practice of world government, New York 1951; F. L. Schuman, The commonwealth of man, 1952; G. Clark / L. B. Sohn, World peace through world law, Cambridge, Mass., 1958; M. S. Dougal and associates, Studies in world public order, New Haven 1960. Zur Kritik an solchen Konzeptionen: Reinhold Niebuhr, Die Illusion einer Weltregierung, zuerst engl. 1949, in: ders., Christlicher Realismus und politische Probleme, Wien o. J., S. 22 - 35 (machtrealistische Schule); seitens des Marxismus: G. I. Tunkin, Volkerrechtstheorie, 1972, aus dem Russ., S. 403 - 14; R. Meister, Ideen vom Weltstaat und der Weltgemeinschaft im Wandel imperialistischer Herrschaftsstrategien, 1973; der Autor wirft freilich Schmitts Konzept mit Weltstaatsideen ä la Ernst Jünger in einen Topf (S. 77) u. neigt dazu, den Großraum als Vorstufe zu einer vom u.s.-amerikanischen Imperialismus beherrschten Einheit der Welt zu deuten. - Klassisch vom Standpunkt des „Power realism" der USA aus: H. J. Morgenthau, Politicis among nations, zuerst 1948; dt. Ausgabe, Macht und Frieden, 1963, S. 416 - 433, der den Weltstaat davon abhängig macht, ob zuvor eine Welt-Gemeinschaft besteht. [2] Vgl. u. a. Ph. Dessauer, Die Politik des Antichrist, Wort u. Wahrheit, 1951, S. 405 ff. Dem Ziel des Antichrist, die Einheit der Welt nicht in Adam und Christus herzustellen, sondern sie insgesamt „incapax Jesu Christi zu machen", diene die „Vorstufe" ihrer Zweiteilung in „1. das völlig glaubenslose, ideologielose, einzig vom Erwerb, vom rücksichtslosen Genuß her geprägte Dasein; 2 . . . . das andere, von einem Glauben besessene, armgehaltene, proleta-
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risch-technisch-asketische, fanatisierte, sich politisch verstehende Massendasein" (ebd., S. 411). - Die Einheit der Welt im Zeichen von „pax et securitas" ist wohl der gemeinsame Nenner der Vorstellungen vom Antichrist, vgl. W. Solowjew, Drei Gespräche, zuerst russisch 1900, 1954; zur Deutung dieser Einheit durch Solowjew auch: A. Maceina, Das Geheimnis der Bosheit, 1955, S. 140 ff., 156 ff. Die Bedeutung der Vorstellung vom Antichrist für das Werk Schmitts wird deutlich in den Schriften seines Schülers und Freundes William (bzw. Guillermo) Gueydan de Roussel, Verdad y mitos, Buenos Aires 1987; El Verbo y el Anticristo, ebd., 1993. [3] Über das „demokratische Babel" u. seinen Willen zur Vereinheitlichung der Welt: J. Donoso Cortes, Verschiedene Gedanken, in: ders., Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus (1851), Weinheim 1989, S. 342 ff. [4] J. Donoso Cortes, Discurso sobre la Dictadura, in: ders., Obras completas, II, Madrid 1970, S. 305 ff.; dt. in: ders., Drei Reden, Zürich 1948, S. 17 ff. - Hier, im berühmten „Thermometer-Gleichnis", geht es darum, daß die politische Repression (als Kontrolle) immer intensiver werden muß, je tiefer das „religiöse Thermometer" fällt. Das Wachsen der Staatsgewalt korreliert stets mit dem Glaubensverfall, der die Bosheit der Einzelnen steigert. Dazu: Schmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation, Köln 1950; ders., Glossarium, 1991, S. 40: „Ich scheue mich nicht, . . . in aller Ruhe zu behaupten, daß die große Rede Donosos vom 4. Januar 1849 die großartigste Rede der Weltliteratur ist . . . ". (Aus einem Brief an E. Jünger v. 13. 11. 1947.) - Bei Donoso jedoch scheitert dieser „Leviathan" an der völligen Glaubenslosigkeit und Bosheit der Massen. [5] So Donoso in der o. a. Rede: „Die Regierungen sagten: „Zur Unterdrückung genügen mir eine Million Arme nicht; zur Unterdrückung genügen mir eine Million Augen nicht; zur Unterdrückung genügen wir eine Million Ohren nicht; wir benötigen mehr: wir benötigen das Privileg, uns zu ein und derselben Zeit an allen Orten zu befinden." Und sie bekamen es. Und man erfand den Telegraphen". - Ähnliche Ideen in den Schriften des eng mit Donoso befreundeten franz. Theologen J. J. Gaume (1802 - 1879), bei v. Radowitz („Vereisenbahnung"), J. Burckhardt u. Kierkegaard. Letzterer schrieb: „Die Eisenbahnmanie ist durchaus ein Versuch ä la Babel. Es hängt auch zusammen mit dem Ende einer Kulturperiode, es ist die Schlußgeschwindigkeit. Unglücklicherweise begann so nahezu gleichzeitig das Neue, 1848. Die Eisenbahnen verhalten sich als Potensiation zu der Idee der Zentralisation. Und das Neue hat Bezug auf die Zersplitterung in ,disjecta membra4 (Kierkegaard, Tagebücher 1834 - 1855, München 1953, S. 452). Vgl. auch, mehr auf die schöne Literatur eingehend: D. Hoeges, Alles veloziferisch, 1985. - Zur „Beschleunigung der Geschichte": E. Halevy, Essai sur l'acceleration de l'histoire, Paris 1948; R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, bes. S. 63 ff., 199 ff. Schmitts Überlegungen zur „Beschleunigung der Geschichte" gehen z. T. auf seine Beschäftigung mit der Autobiographie v. Henry Adams (1838 - 1918), The Education of Henry Adams (zuerst 1907), dt., Die Erziehung des Henry Adams, 1953, zurück. A. entwirft dort (dt. Ausg., S. 765 ff.) eine vom Entropiesatz d. Thermodynamik ausgehende, pessimist. Geschichtsphilosophie: auch die geistige Energie verringere sich durch Dispersion ständig, so daß der menschliche Geist nach dem zwischen 1150 u. 1250 erreichten Punkte vollkommener Einheit und Ordnung sich immer mehr zerstreue und während des 20. Jahrhunderts ein Stadium völligen Chaos erreiche; Henry Adams' Ideen fußten auf dem Werk seines Bruders Brook Adams (1848 - 1927), The law of civilisation and decay, 1895; dt. Ausg., Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalles, 1907, mit einem Vorwort von Theodore Roosevelt. - Henry Adams als den Kritiker des u.s.- amerikanischen Maschinismus und Imperialismus,
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der die alte Kultur eines patrizischen Liberalismus zerstört, untersucht J. L. Orozco, Henry Adams y la tragedia del poder norteamericano, Mexiko 1985. [6] Vgl. Schmitt, Die letzte globale Linie, vorl. Bd., S. 448. [7] W. James, 1842 - 1910, hörte u. a. 1867 / 68 bei E. du Bois-Reymond in Berlin und war von W. Wundt beeinflußt; Schmitt bezieht sich hier auf James' Hauptwerke: The varieties of religious experience, New York 1902; dt. Ausgabe: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, hrsg. v. E. Herms, 1979; A pluralistic universe, London 1909. - Zu James in bezug auf eine Staatstheorie des Pluralismus vgl. Schmitt, Positionen und Begriffe, 1940, S. 135, 142. [8] Dieser Ausspruch des hl. Thomas v. Aquin konnte leider nicht gefunden werden. Vermutlich bezieht er sich auf die manichäische Lehre von der Gleichursprünglichkeit des Guten und des Bösen. Jede Auffassung aber, „in der die Tatsache des Übels als ein Widerspruch zum Begriff eines guten Gottes erscheint, ist. . . im Grunde Atheismus" (A. D. Sertillanges, Der heilige Thomas von Aquin, aus dem Französ. v. R. Grosche, Hellerau 1928, S. 402); vgl. a. Thomas, Summa contra gentiles, I, XLII, „Quod Deus est unus". [9] Vgl. den Schmitt tief beeindruckenden Antichrist-Roman des zum Katholizismus konvertierten anglikanischen Priesters Robert Hugh Benson (1871 - 1914), Lord of the World, London 1907; dt. Der Herr der Welt, Würzburg 1990; über ihn O. Knapp, Robert Hugh Benson, Hochland, März 1930, S. 542 - 49. [10] Vgl. Schmitt, Die letzte globale Linie, im vorl. Bd., S. 441 ff. [11] Eine von Schmitt beeinflußte Darstellung solcher Prognosen bei H. Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg - Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959, S. 304 ff. [12] R. Kaßner, Der Eiserne Vorhang - Versuch einer Deutung, Merkur, April 1951, S. 305 ff. [13] Vgl. Schmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation, 1950, S. 11 ff. Zum Problem der Planung seitens von Schmitt geprägter Autoren: J. H. Kaiser (Hrsg.), Begriff und Institut des Plans, 1966; H. J. Arndt, Die Figur des Plans als Utopie des Bewahrens, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 119 ff; B. Willms, Zur Dialektik der Planung. Fichte als Theoretiker einer geplanten Gesellschaft, ebd., S. 155 ff. [14] Vgl. dazu d. Werk v. Schmitts Freund Hugo Fischer (1897 - 1975), Wer soll der Herr der Erde sein? - Eine politische Philosophie, 1962. (Stark veränderte Fassung des 1933 aus polit. Gründen nicht mehr ausgelieferten Buches „Lenin, der Machiavell des Ostens".) [15] Hierzu Schmitts Schüler und späterer scharfer Kritiker Waldemar Gurian (1902 1954), Der Bolschewismus, 1931, S. 110 ff., 247 ff.; das Standardwerk jedoch v. F. Pollock, Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917 - 1927, Leipzig 1929, S. 75 - 78, „Der Elektrifizierungsplan". Dieser wurde auf dem VIII. Gesamtrussischen Sowjetkongreß, 22. - 29. 12. 1920, erörtert. Man ging davon aus, daß die systematische Anwendung der produktionssteigernden Elektrizität an den privaten Produktionsmitteln ihre Schranke finde, die sozialistische Wirtschaft aber durch die Entwicklung d. Elektrizität alle Krisen überwinden werde. Vgl. a.: G. Grinko, Der FünQahrplan der UdSSR, 1930, S. 54 - 62 („Die staatliche Elektrifizierung").
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[16] Direkte oder kaschierte Hinweise auf Toynbee finden sich ab 1950 in Schmitts Texten öfter; vgl. vorl. Bd., Die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, S. 592 ff.; auch in Vorträgen Schmitts, in denen Toynbees These von der Technik als wichtigstem Vehikel zur Globalisierung der Krise bezweifelt wird, vgl. dazu die Berichte: - mp., Neue Deutung moderner Technik - Prof. Carl Schmidt (sie! - G. M.) sprach in VHS-Sonderveranstaltung, Iserlohner Zeitung, 17. 10. 1953 (auch am gleichen Tage in der „Westfalenpost"); Anonymus, Um eine Angst ärmer - Professor Carl Schmitt: „Diskussion über Wert und Unwert der modernen Technik", Iserlohner Kreisanzeiger, 17. / 18. 10. 1953. Bes. provozierend war für Schmitt Toynbees These von der unaufhaltsamen politischen Einigung der Welt u. dessen Affekt gegen eine Einigung Europas, die mit einer Wiedererstarkung Deutschlands verbunden wäre, vgl.: Toynbee, Die internationale Lage, in: ders., Kultur am Scheidewege, 1949, S. 134 - 157, sowie Schmitts Kommentar in: Glossarium, 1991, S. 124 f. (Eintragung v. 9. 4. 1948), vgl. auch ebd. die S. 126 f., 136, 164, 166, 212, 237. Erstaunlicherweise hat sich Schmitt nicht geäußert zu Toynbees Vorstellung von einer durch die raumüberwindende Technik (welche die „Religionskarte" ändere) herbeigeführten Verschmelzung der Weltreligionen, vgl. Toynbee, Weltreligonen und Welteinheit, Merkur, Sept. 1954, S. 801 - 810. Vom ungewöhnlich großen Umfang der Toynbee-Diskussion in den 50er Jahren geben eine Vorstellung: G. Stadtmüller, Toynbees Bild der Menschheitsgeschichte, Saeculum, 2 / 1950, S. 165 - 195; K. D. Erdmann, Toynbee - eine Zwischenbilanz, AKG, 2 / 1951, S. 174 - 250; O. F. Änderte, Die Toynbee-Kritik, Saeculum, 2 / 1958, S. 189 - 259; allgem. zu Toynbee: M. Henningsen, Menschheit u. Geschichte, 1962. - Schmitt lernte Toynbee am 29. 2. 1936 in Berlin kennen, als dieser einen Vortrag über „Kollektive Sicherheit" hielt; vermutlich war er auch anwesend bei Toynbees Berliner Vortrag vor der Akademie für Deutsches Recht am 28. 2. 1938 über „Friedliche Änderung" (Peaceful change). [17] Julian S. Huxley (1887 - 1975), Biologe, von 1946 - 48 Generaldirektor der UNESCO, befaßte sich vor allem mit dem Problem der angeblichen „Überbevölkerung", worauf Schmitt hier anspielt; dazu auch: Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, vorl. Bd., S. 274 f.; zur „birth rate" auch: Glossarium, 1991, S. 20, 28. 9. 47. [18] Im angelsächsischen Sprachraum wurde der Begriff berühmt durch: Wendell Willkie, One world, New York u. London 1943. Willkie (1892 - 1944), republikanischer Politiker, unterlag 1940 Roosevelt in den Präsidentschaftswahlen, ließ sich jedoch von diesem 1942 auf eine Good-will-Tour rund um die Erde schicken; bei den Wahlen 1944 resignierte er vorzeitig. Das Buch, das einen ungeheuren Erfolg hatte (vgl. dazu Divine, wie FN [1], S. 104 f., 119 f. u. ö.) hatte als zentrales Motto „One world or none", eine der Hauptthesen lautete: „There are no distant points in the world any longer" (S. 2). Willkie plädierte für enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, forderte einen Frieden „planned on a world basis" and kam zu Schlüssen wie: „Continents and oceans are plainly only parts of a whole, . . . , as I have seen them, from the air" (S. 177) und: „ . . . it is inescapable that there can be no peace for any part of the world unless the foundation of peace are made secure throughout all parts of the world" (S. 203). Zur Bedeutung v. Willkies Reise vgl. auch: H. Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, II, 1982, S. 385 - 388. [19] M. E. findet sich eine solche Stelle bei Lenin nicht. Seine proverbiale Formel lautete vielmehr „Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes". Schmitts Formulierung trifft aber wohl Lenins Endziel einer entpolitisierten Welt-Einheit. Zur Bedeutung der Elektrifizierung sonst bei Lenin vergl.: Ausgewählte Werke, III, Berlin 1970, S. 560 ff. (VIII. Gesamtrussischer Sowjetkongreß, 22. - 29. Dezember 1920), bes. S. 587 ff; vgl. FN [15]; auch Schmitt, Glossarium, 1991, S. 273,1. 10. 49.
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[20] Vgl. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 1953 (zuerst engl. u. d. T. „Meaning in History", 1949), S. 99 ff. - Zu diesem Buch: Schmitt, Drei Stufen historischer Sinngebung, Universitas, H. 8 / 1950, S. 927 - 931.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Merkur, VI. Jahrgang, 1. Heft, Januar 1952, S. 1 - 11. - Der mit Schmitt in freundschaftlichem Kontakt stehende Schriftsteller Rolf Schroers (1918 - 81) schrieb als Kommentar zum Wiederabdruck s. Artikels „In der Landschaft des Verrats - Zum 90. Geburtstag von Carl Schmitt (11. VII. 1978)" (zuerst in: Merkur, 7 / 1978, S. 735 - 38): „Das Gedenkblatt zu Carl Schmitts Geburstag erschien 1978 im „Merkur". Hans Paeschke [der damalige Leiter des „Merkur"] hatte im Januar 1952 gewagt, einen ersten Nachkriegsbeitrag von C. S. im „Merkur" zu drucken. Daraufhin unterzeichneten 80 seiner Autoren einen Brief, mit dem sie für den Fall der Wiederholung ihre Mitarbeit kündigten. Sie kündigten damit aber die stringente Auseinandersetzung mit der deutschen Geistesgeschichte und mehrten den Schaden". (Schroers, Meine Deutsche Frage. Politische und literarische Vermessungen 1961 - 1979, Stuttgart 1979, S. 174.) Genaueres über diese Affaire konnte bisher nicht in Erfahrung gebracht werden; vgl.: D. van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 1993, S. 150. - Eine auf weiten Strecken identische Fassung u. d. T. „Der verplante Planet" druckte die Zeitschrift „Der Fortschritt" (Essen) am 11. 4. 1952 ab. Mit dem vorliegenden Aufsatz überschneidet sich stark der Vortrag „Die Einheit der Welt", den Schmitt am 21. 4. 1952 im Rahmen der „Vierten Niederrheinischen Universitätswoche" in Duisburg im Festsaal des Duisburger Hofes hielt. Diese „Universitätswoche" stand unter dem Thema „Vereinzelung und Gemeinschaft"; in ihrem Rahmen sprachen u. a. noch Georg Stadtmüller, Alois Dempf, Karl Valentin Müller, Hans Schomerus und Waither Rehm. Schmitts Beitrag erschien in der von Dr. Werner Lottmann hrsg. u. redaktionell bearbeiteten Broschüre „Niederrheinische Universitätswoche Duisburg", Duisburg 1952, 63 S., auf den S. 16 - 19. In diesem vom Herausgeber gekürzten Referat heißt es u. a.: „Im Atlantikpakt haben sich die Mächte rings um den Ozean unter der Führung der USA gesammelt gegen die Landmächte UdSSR und China. Ein alter, nunmehr endgültiger Kampf scheint in die Entscheidungsphase gekommen zu sein, ein Gegensatz der bereits das Gegeneinander von Athen und Sparta, von England und Kontinent beherrscht hat. Diese Entwicklung ist angebahnt seit dem 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der Entdeckung der großen Ozeane, dem Zeitalter, in dem sich ein Volk zur maritimen Existenz entschied. Die Entscheidung Englands ... war ein Novum in der europäischen Geschichte. Es war ein Neues, seine Existenz vom Schiff her zu sehen und nicht vom Haus aus. Diese Sicht vom Schiff her, dem technischen Vehikel, mußte zu einer ganz anders gearteten Begrifflichkeit führen, als sie der terranen Existenz eigen ist. Die Erde wird eigentlich zum Ozean mit Küsten und Hinterland. Wie terran z. B. auch das deutsche Denken gebunden ist, zeigt sich in Clausewitz' Werk „Vom Kriege", in dem sich kein Wort über die Seekriegsführung findet, obwohl es auf den Erfahrungen der napoleonischen Kriege fußt, die zur See entschieden worden sind [Vgl. dazu bes.: H. J. Arndt, Clausewitz und der Einfluß der Seemacht, in: Clausewitz-Gesellschaft (Hrsg.), Freiheit ohne Krieg?, 1980, S. 203 -219.] ... England, das seit dem 16. Jhdt. global- ozeanisch zu denken beginnt, wird gleichzeitig industriell führend aus seinem maritimen Aspekt. Die USA gehen heute diesen Weg bewußt weiter von der Beherrschung der Meere zur Beherrschung der Luft (Raumschiffe
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usw.)." (S. 17). S. 18: „In Europa hat man wieder die Geschichte als den Bereich der verborgenen Notwendigkeit sehen gelernt... Geschichte vollzieht sich in Freiheit und nicht in berechenbarer Kausalität. Alle berechnenden Anstrengungen Roosevelts haben so zum Gegenteil des Beabsichtigten geführt; er wurde zum Beschleuniger wider Willen. Es bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß die Zweiheit die ganze Welt nicht erfassen kann und daß die Menschheit immer noch größer bleibt als die USA und die UdSSR zusammen ... Wer die neue Kraft ist und wie sie gestaltet ist, ist politisch noch nicht sichtbar. Sie wird aber erscheinen. Alles scheint auf eine neue Vielheit hin angelegt zu sein. Wir aber hoffen, daß uns ein Gleichgewicht von Großräumen den ersehnten Frieden schenkt." Eine französische Fassung u. d. T. ,,L' unite du monde", übertragen von J. L. Pesteil, erschien in: Schmitt, Du Politique. „Legalite et legitimite" et autres essais, hrsg. v. A. de Benoist, Puiseaux 1990, Pardes, S. 225 - 236. Die Broschüre „La Unidad del Mundo", Madrid 1951, Ateneo, Coleccion „O crece, o muere", 37 S., geht auf einen Vortrag Schmitts im Madrider Ateneo v. 11. 5. 1951 zurück (mit einer Einleitung v. F. Perez Embid, S. 9 - 14). Der Text überschneidet sich sehr stark mit dem des vorl. Aufsatzes, geht aber darüber hinaus und verarbeitet einige andere Motive, so aus „Drei Stufen historischer Sinngebung", Universitas, H. 8 / 1950, S. 927 - 31. Ohne Vorwort und mit leichten Veränderungen erschien dieser Text auch in: Anales de la Universidad de Murcia. Tercer trimestre de 1950 - 51, S. 341 - 55, auch als Sonderdruck; ein Auszug mit dem gl. Titel in: Dinämica social. Centro de Estudios Ecönomicos-Sociales, Buenos Aires, 21 / 1951, S. 5 - 9. Italienisch erschien der vollständige Text u. d. T. „L'Unitä del mondo", Trasgressioni, Florenz, 1 / 1986, S. 117 - 28, sowie in: Schmitt, L'unitä del mondo e altri saggi, Rom 1994, S. 303 - 319; französisch u. d. T. „L'Unite du monde" i. o. a. Sammelband „Du Politique", S. 237 - 49. Den Madrider Vortrag hat Schmitt während seines Spanienaufenthaltes im Sommer 1951 mindestens dreimal an anderer Stelle wiederholt, u. a. an der Universität Sevilla und im dortigen Club „La Räbida"; zu diesen Vorträgen vgl. die z. T. sehr detaillierten Presseberichte in: Arriba, 12. 5. 1951; ABC, 12. 5. u. 30. 5. 1951; La Vanguardia, 29. 5. 1951. - C. Barcia Trelles, El Problema de la Unidad del Mundo posbelico, Sao Paulo, 1953, geht mehrfach auf Schmitts Vorstellungen ein, bes. S. 65 ff., 78 ff. - Offensichtlich stark von Schmitt beeinflußt: G. Wirsing, Schritt aus dem Nichts. Perspektiven am Ende der Revolutionen, 1951, bes. S. 33 - 43 („Der Traum vom Weltstaat"). Schmitts Motive werden auf originelle Weise variiert und weitergeführt von seinem langjährigen Freund Jesus Fueyo in: La vuelta de los Budas. Ensayo-ficciön sobre la ultima historia del pensamiento y de la politica, Madrid 1973 (Sala), S. 289 - 310 („La republica del mundo"). Der oben aufgeführte Aufsatz „Der geplante Planet" wurde von Schmitt mit einigen einleitenden Worten versehen, die mitteilenswert scheinen: „Die Deutschen, meinte Dostojewski, seien ewige Protestanten. Im Teutoburger Wald hätten sie zum ersten, durch Luther zum zweitenmal gegen die totale Ausbreitung der römischen Zivilisation protestiert. 1914, fügte ein Kommentator Dostojewskijs, Thomas Mann, hinzu, hätten sie zum dritten Male widersprochen, dieses Mal gegen die westliche Zivilisation und ihre Fortschrittsphilosophie. Nach dem letzten Kriege warf ihnen der Engländer Vansittard mit besonderer Erbitterung vor, die Deutschen hätten den Glauben an den Aufstieg der Menschheit, den ewigen moralischen und materiellen Fortschritt, angenagt, ausgehöhlt, zerstört. Gleichwohl sagt der äußere Anschein der Weltgegebenheiten heute, daß Ost wie West ihm uneingeschränkt huldigen. Er scheint auf dem besten Wege, die Einheit der Welt in einem Glauben herzustellen. Ist das so? Gibt es
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noch einen deutschen Vorbehalt? Es gibt ihn. Er entspringt freilich nicht der deutschen Boshaftigkeit, sondern einer tiefer gegründeten Weltansicht, die mit ihren Denkgesetzen über den guten Willen hinaus wieder in die Schicksalssphäre der Menschheit reicht. Daß diese Position in dem so tief abhängigen, in seinem Leben bedrohten Deutschland hervortritt, ist nicht eine Schuld, wohl aber ein Zeichen, daß der deutsche Geist seine Souveränität nicht verloren hat. Im folgenden Aufsatz Carl Schmitts (Auszüge aus einem Vortrag) wird diese Position außer- und oberhalb der heutigen Weltanalyse angedeutet."
Welt großartigster Spannung An einem verregneten Ferientag des Sommers 1940 quälte mich meine zehnjährige Tochter, ihr etwas zu erzählen. Ich bin kein guter Erzähler. Die juristische Denk- und Sprechweise, die mir in Fleisch und Blut übergegangen ist, stört das unbedenkliche Fabulieren und verwandelt jede schöne Geschichte in einen Tatbestand oder Sachverhalt, in einen Fall, und wenn es besonders spannend zugeht, in einen Kriminalfall. Damals beschäftigten mich Fragen aus dem Völkerrecht des Meeres. Um nun in dem Bereich meines völkerrechtlichen Themas zu verbleiben und zugleich dem Kinde seinen Willen zu tun, fing ich an, von Piraten und Waljägern zu sprechen. Unversehens geriet ich in das Element des Meeres, das mir bis dahin fremd war. Die ganze Weltgeschichte öffnete sich plötzlich unter dem neuen Aspekt des Gegensatzes der Elemente Land und Meer. Daraus ergaben sich überraschende Einblicke und Erkenntnisse. So entstand die kleine Schrift Land und Meer, eine weltgeschichtliche Betrachtung, die in Reclams-Universal-Bibliothek erschienen ist und dort in kurzem wieder neu gedruckt wird.[l] Es gibt weltgeschichtliche Darstellungen, deren Verfasser die Menschheit und ihre Geschichte ganz vom Meere aus sehen. Das können eigentlich nur Engländer und anglisierte Amerikaner, und auch sie konnten es erst, nachdem England den Schritt zu einer rein maritimen Existenz getan hatte und das feste Land vom Meere her kontrollierte. Im übrigen ist die Weltgeschichte bisher meistens von Landratten geschrieben worden, auch wenn es sich um den Kampf zwischen Land- und Seemächten handelte. Clausewitz spricht in seinem berühmten Buch Vom Kriege in Wirklichkeit nur vom Landkrieg.[2] Ein bedeutendes geschichtliches und strategisches Werk des französischen Admirals Castex trägt den Titel: Das Meer gegen das Land, La mer contre la terre. Es behandelt vor allem den mehr als hundertjährigen Seekrieg, den europäische Mächte um die Herrschaft der Meere geführt haben, einen Seekrieg, den insbesondere Frankreich gewagt und verloren hat.[3] Nur der Besiegte eines solchen Krieges konnte ein Buch mit dem Titel schreiben, den der französische Admiral gewählt hat. Man darf sagen: Immer wenn die Weltgeschichte sich einem Höhepunkt nähert, erscheint der Krieg der Völker als eine Auseinandersetzung der Elemente Land und Meer. Auf einem dieser Höhepunkte hat Goethe einen Hymnus auf Napoleon gedichtet, als der Kaiser der Franzosen im Kriege mit England in Rußland einfiel und auf Moskau marschierte. Damals, im Juli 1812, erblickte der große deutsche Dichter das weltpolitische Geschehen seiner Zeit als einen Kampf der Elemente Meer und Erde: Was Tausende verwirrten
löst der Eine. (nämlich Napoleon) Nur Meer und Erde haben hier Gewicht. 33 Staat, Großraum, Nomos
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Durch die kleine Schrift Land und Meer gewann ich zum erstenmal einen Begriff von der Bedeutung der Elemente als Kräfte weltgeschichtlicher Auseinandersetzungen. Was aber auch immer die Menschen zustandebringen, wenn sie sich mit Feuer, Wasser, Luft und Erde verbünden oder gegen sie kämpfen, der Mensch ist und bleibt ein Sohn der Erde. Auch jede geistige Erfahrung hat einen irdischen Geburtsort. Eine konkrete Wahrheit ist niemals utopisch; sie hat ein Stück Erde unter sich, einen Boden, aus dem sie entspringt; sie ist verortet im vollen Sinne des Wortes. Heute weiß ich, daß ich persönlich den Einblick in die elementare Geschichtlichkeit des Gegensatzes von Land und Meer nur hier im Sauerland gewinnen konnte, in einer Zone spannenden klimatischen und atmosphärischen Gegensatzes von Meer und Erde. Das Sauerland ist nämlich ein stark ausgeprägtes Stück festen Landes, ein Gebirge mit vulkanischen Durchbrüchen von Basalt und Granit. [4] Als Gebirge ist es besonders erdhaft im Sinne des Gegensatzes von Erde und Meer. Es ist festes Land mit intensiven Erdstrahlungen, terran und nicht maritim. Aber zugleich wird es fortwährend vom Meere überflutet. Der Atlantische Ozean erscheint vom Nordwesten her in Wolken und Nebel, Regen und Schnee. Atlantisch-ozeanische Feuchtigkeit hüllt das ausgeprägt erdhafte Land ein, überspült es, irritiert seine Erdstrahlungen und bewirkt, daß die Luft mit dauernden Spannungen des Gegensatzes von Land und Meer geladen ist. Das atmosphärische Schauspiel der Spannungen erdhafter und maritimer Kräfte ist hier ganz unvergleichlich. Oft wechselt das Bild von Stunde zu Stunde, ja von Augenblick zu Augenblick. Ich weiß nicht, auf welchem Stück Erde es in ähnlicher Weise in der Atmosphäre so spannend zugeht. Ich finde das sauerländische Siebengebirge bei Stockum in dieser Hinsicht viel aufregender als das rheinische Siebengebirge bei Königswinter. Vielleicht gibt es in den Nord- und Westpyrenäen ähnliche Spannungen, in der Gegend von Bilbao, wo ein starkes Gebirge dem täglichen atmosphärischen Einbruch des Atlantischen Ozeans unterliegt und die Industrialisierung die Spannung der Elemente noch zu steigern scheint. Viele, die durch das das Lennetal und andere kleine Täler des Sauerlandes fahren, schimpfen auf die Kleineisenindustrie, die große Teile des Landes verunstaltet hat. Die Verunstaltung ist traurig genug, und man sollte sie zu bessern suchen. Doch sollte man nicht deshalb das Sauerland in eine Schönheitskonkurrenz mit idyllischen Landschaften hineinzerren. Man kann im Sauerland herrlich wandern, wie in wenig anderen Gebirgen. Dennoch ist diese Landschaft, trotz vieler idyllischer Gegenden, die es auch hier gibt, im Ganzen weder ein Garten zum Spazierengehen, noch ein Park zum Lustwandeln. Sie ist auch - trotz vieler Talsperren kein Grüngürtel der Montan-Union. Vor über hundert Jahren hat der Freiherr von Vincke, Oberpräsident der preußischen Provinz Westfalen, ein trefflicher und hochgebildeter Mann, den Ausblick, den man lenneaufwärts vom Sundern bei Ohle hat, für eine der schönsten Aussichten der Erde erklärt. [5] Heute ist der Blick durch Fabrikanlagen unterbrochen. Sol-
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len wir uns darüber ärgern? Auch der berühmte Blick auf den Golf von Neapel oder die Tajo-Mündung bei Lissabon ist nicht mehr derselbe wie zur Zeit des alten Goethe oder Alexander von Humboldts. Der Kulturfilm zerstört auf seine Weise den Bildungsgenuß, den der Freiherr von Vincke meinte, ebenso gründlich wie die Kleineisenindustrie auf ihre Weise. Was uns heute an einem nebligen Morgen des Sauerlandes ergreift, wenn die Sonne durchdringt und der Nebel fällt, ist nicht das Vergnügen des Anblicks einer schönen Landschaft, die uns anlacht. Wir werden in ein elementares Geschehen hineingezogen und an einem Schöpfungs-Vorgang beteiligt. Wir sehen nicht den ersten, wohl aber den zweiten Schöpfungstag. Das feste Land taucht aus dem Meere auf. Jede Bergkuppe erhebt sich langsam, in würdevoller Schönheit, wie eine Venus Anadyomene aus dem Wasser. Es ereignet sich die Scheidung der Feste des Himmels und des Trockenen der Erde, so, wie es für den zweiten Schöpfungstag im ersten Kapitel der Bibel beschrieben ist. „Und Gott nannte das Trockene Erde und die Sammlung der Wasser nannte er Meer, und Gott sah, daß es gut war." Die Erde ist auch hier im Sauerland wohlgegründet und beständig, aber stets in der Spannung zum andern Element. Ein erfahrener Bauer, der es wissen mußte, Karl Werdes aus Leinschede an der Lenne, hat den Ausspruch getan: Ich will nicht sagen, daß es bei uns im Sauerland immer regnet, aber wenn es nicht regnet, dann hat es doch immer Lust zu regnen. Das ist es. Die Berge liegen erdhaft fest, aber sie sind eingehüllt, oft in Regen, Nebel oder Schnee, oft in einen Sonnenschein von gläserner Klarheit. In manchen Stunden liegen sie wie Schildkröten da, in massiver Wucht; in andern Stunden werden sie blaß, als wären sie ein Traum des Meeres. Oft verwandelt sich ihr schweres Massiv in Silber-Blau oder in ein unirdisch tiefes Patinir-Blau. Doch ist alles mehr Strahlung als Farbe. Immer bleibt die Landschaft verhalten und in sich gekehrt. Die Berge schlafen oder warten und lassen sich auch durch die Sonne nicht so leicht aus ihrer Verschlossenheit herauslokken. Dieses Wartende, Abwartende und Erwartende der sauerländischen Landschaft hat ein deutscher Dichter, Konrad Weiß, als „adventistisch" bezeichnet. Konrad Weiß war in den letzten Jahren seines Lebens, 1932 bis 1939, oft bei seinen westfälischen Freunden im Hochsauerlande zu Besuch und hat seinen Dank für diese Gastfreundschaft mit einem herrlichen Buch über die deutschen Landschaften erstattet. In diesem Buch, das den Titel „Deutschlands Morgenspiegel" trägt und 1950 bei Kösel in München erschienen ist, spricht er vom Sauerland als einer „der schönsten deutschen Landschaften, deren Name für viele nicht über einen stummen Begriff hinausgeht". [6] Wirklich: der Name Sauerland ist für viele ein „stummer Begriff 4 . Seit meiner Jugend streite ich mich mit den Leuten, die den Namen Sauerland durch Süderland ersetzen wollen. Vielleicht klingt ihnen Sauerland nicht schön genug, vielleicht sogar nach Rheumatismus, Ischias und Asthma. Süderland klingt südlicher und süßer. Sauerland heißt tatsächlich: nasses Land. Sauer ist hier nicht das Gegenteil von Süß, sondern von Trocken, und auch das Wort Trocken kann einen Gegensatz 33*
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zu Süß bezeichnen, wie man das an der Unterscheidung von süßen und trocknen Weinen schmecken kann. Das Wort Sauer ist hier dasselbe wie in dem luxemburgischen Fluß Sauer, oder in Saar, oder in dem irischen Ruß Suir. Man darf hier aber nicht nur an Regen und Niederschläge denken, sondern muß sich der vielen Bäche und Quellen erinnern und der Feuchtigkeit der Erde und der Luft, die das unerschöpfliche Grün unserer Wiesen und Wälder hervortreibt, ein Grün aller Schattierungen, vom Frühlings-Grün junger Eichen bis zum WinterSchwarz alter Tannen, eine unwahrscheinliche Fülle des Grüns, dessen Anblick einen berauscht, wenn man aus Italien oder Spanien hierher zurückkehrt. Das Land der tausend Berge ist auch ein Land der tausend Quellen. Mögen die Süderländer bei ihrem schönen Süden bleiben, ich bleibe beim Sauerland und finde den Namen wesensgemäß, richtig und schön.[7] Die Geographen und Geologen, die Geschichtsforscher und Heimatkundler werden zu dem Thema Sauerland unendlich mehr sagen können als ich. Für mich bleibt dieses ernste, in sich gekehrte Land eine Welt großartigster Spannung von Land und Meer, erfüllt von ungeahnten kosmischen und tellurischen Strahlungen, ein Land der vielen Quellen, das einen der erstaunlichsten Verse der Weltliteratur auf sich zu beziehen vermag: Der Ozean ist frei und freier noch sind Quellen.
Es handelt sich um die Freiheit des quellenhaften Anfangs, des stets sich erneuernden Ursprungs. Das ist die Freiheit, der wir uns noch lange erfreuen wollen.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Die erste Aufl. erschien 1942 bei Reclam i. Leipzig, 76 S.; die zweite 1954 b. Reclam i. Stuttgart, 63 S. (leicht verändert); die dritte 1981 bei Edition Maschke, Hohenheim-Verlag, in Köln-Lövenich, 107 S. [2] Zur „maritimen Lücke" bei Clausewitz vgl.: H. J. Arndt, Clausewitz und der Einfluß der Seemacht, in: Clausewitz- Gesellschaft (Hrsg.), Freiheit ohne Krieg? Beiträge zur Strategie-Diskussion im Spiegel der Theorie von Carl von Clausewitz, Bonn 1980, S. 203 - 219. [3] Zu Castex vgl. vorl. Bd., S. 425; sonst die umfangreichen Erörterungen bei Mahan: The influence of sea power upon history, 1660 - 1783, New York 1890 (dt. Ausg. 1898) u. The influence of sea power upon the French Revolution and Empire, 1793 - 1812, ebd., 1892. Zur Ideengeschichte des entscheidenden Schlußabschnittes dieses Ringens: R. Schnur, Land und Meer - Napoleon gegen England, ZfP, 1961, S. 11 ff., Ndr. in: ders., Revolution und Weltbürgerkrieg - Studien zur Ouverture nach 1789, 1983, S. 33 ff. [4] Dazu die Beiträge v. F. Lotze („Der erdgeschichtliche Werdegang", „Die Höhlen") u. von L. Maasjost („Die Formenwelt") in: H. Luhmann, Das Sauerland. Raum - Kultur - Wirtschaft, Essen 1960, S. 17 - 40. [5] Ludwig Frhr. v. Vincke (1774 - 1844) gehörte zur preuß. Reformpartei um Stein u. Hardenberg, wurde 1813 Zivilgouverneur für die befreiten Gebiete zw. Weser u. Rhein, ab
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1816 bis 1844 Oberpräsident der Provinz Westfalen. Vgl. über ihn: M. Lehmann, Freiherr vom Stein, 3. Aufl. 1928, S. 40, 91, 116, 191, 265, 289 u. ö.; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 2. Aufl. 1975, S. 168 f., 177 f., 221 ff., 231 ff., u. ö. [6] K. Weiß, Deutschlands Morgenspiegel. Ein Reisebuch in zwei Teilen. Erster Teil, München 1950, S. 34: „ . . . geht uns, wie man erproben kann, dieser Name einer der schönsten deutschen Landschaften, über einen stummen Begriff nicht sehr hinaus." [7] Zu den Namen „Süderland" und „Sauerland" vgl.: K. Weiß, o. a., S. 34; H. Luhmann im o. a. Bd. (FN [4], S. 7 f.
Anhang des Herausgebers Dieser Aufsatz Schmitts über seine Heimat erschien zuerst im „Sauerland"-Heft der Zeitschrift „Merian", H. 9, 1954, S. 3 - 9 (mit Fotos); jedoch nur in der 1. Auflage dieses Heftes. Nachdrucke in: Heimatbuch der Stadt Neuenrade 1355 - 1955, im Auftrag d. Stadt hrsg. von K. Junker, 1955, S. 5 - 8, sowie in: Sauerländischer Gebirgsbote - Zeitschrift des Sauerländischen Gebirgs-Vereins, Juli / August 1958, S. 83 - 85. Über Schmitts Beziehung zu seiner Heimat vgl. auch: Verortung des Politischen. Carl Schmitt in Plettenberg. Hrsg. von der Stadt Plettenberg mit Unterstützung des Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchivs Düsseldorf. Bearbeitet von Ingeborg Villinger, 1990. - In einem Interview mit der Zeitung „La Noche", Santiago de Compostela, 7. 4. 1962, erklärte Schmitt auf die Frage, was ihn am meisten in Galizien beeindruckt habe: „Ohne Zweifel gibt es viele Dinge ... vor allem aber die machtvolle Interpenetration von Land und Meer. Es ist wirklich überwältigend zu sehen, wie ein so gebirgiges Land vom Ozean invadiert wird. Es würde mir gefallen, längere Zeit hier zu bleiben, um seine Großartigkeit verstehen zu können. Auf eine gewisse Weise ist Westfalen Galizien sehr ähnlich. Vor einiger Zeit schrieb ich ein Buch, betitelt „Land und Meer"; darin habe ich mich auf dieses tief in mir wurzelnde Interesse bezogen. Galizien ist „unheimlich"." (Das letzte Wort im span. Original des Interviews auf deutsch.)
Der neue Nomos der Erde Von einem Nomos der Erde ist die Rede. Das bedeutet: Ich betrachte die Erde das Gestirn auf dem wir leben - als ein Ganzes, als einen Globus und suche ihre globale Einteilung und Ordnung. Das griechische Wort Nomos, das ich für diese Einteilung und Grundordnung gebrauche, stammt von dem griechischen Tätigkeitswort VETJEIU. Nerjeiu ist dasselbe Wort wie das deutsche Wort: Nehmen. Nomos bedeutet also erstens: die Nähme. Es bedeutet außerdem zweitens: die Teilung und Einteilung des Genommenen, und drittens: die Verwertung, Bewirtschaftung und Nutzung des bei der Teilung Erhaltenen, also Produzieren und Konsumieren. Nehmen, Teilen, Weiden sind Urvorgänge der Menschheitsgeschichte, drei Akte eines Urdramas. Jeder dieser drei Akte hat seine eigene Struktur und sein Verfahren. Der Teilung z. B. geht das Messen, Zählen und Abwägen des zu Teilenden voraus. Die prophetischen Worte: Gezählt, Gewogen, Geteilt - Mene, Tekel, Upharsin im 5. Daniel des Alten Testamentes - beziehen sich auf den zweiten Akt des dreiaktigen Urdramas: Nomos der Erde. 1 Irgend einen Nomos der Erde hat es immer gegeben. Zu allen Zeiten wurde die Erde von Menschen genommen, geteilt und bewirtschaftet. Aber vor dem Zeitalter der großen Entdeckungen, also bis zum 16. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, hatten die Menschen keine globale Vorstellung von dem Gestirn, auf dem sie lebten. Sie hatten zwar ein mythisches Bild von Himmel und Erde, Land und Meer, aber die Erde war noch nicht als Globus vermessen, und auf die großen Ozeane wagten sie sich noch nicht hinaus. Ihre Welt war rein terran. Jedes mächtige Volk hielt sich für den Mittelpunkt der Erde und seinen Herrschaftsbereich für das Haus des Friedens, außerhalb dessen Krieg, Barbarei und Chaos herrschten. Das bedeutete praktisch, daß sie draußen mit gutem Gewissen erobern und Beute machen konnten, bis sie auf eine Grenze stießen. Dann bauten sie einen Grenzwall, einen Limes, eine chinesische Mauer oder hielten die Säulen des Herkules und den Ozean für das Ende der Welt. Unter der von Menschen bewohnten Erde - der im Griechischen sogenannten Ökumene - verstanden sie nur ihr eigenes Reich. Das war der Nomos der Erde im ersten Stadium, als die Menschen noch keine globale Vorstellung von ihren Planeten hatten und die großen Welt-Ozeane menschlicher Macht noch nicht zugänglich waren. 1 Vgl. Schmitt, Nehmen-Teilen-Weiden. Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom NOMOS her richtig zu stellen, in: Gemeinschaft und Politik, H. 2/ 1953, S. 18 - 27; Ndr. u. a. in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 489 - 504 (mit Ergänzungen) u.: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 95 - 113.
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Dieser erste Nomos der Erde wurde vor etwa 500 Jahren zerstört, als sich die großen Weltozeane öffneten. Die Erde wurde umsegelt, Amerika, ein völlig neuer, bisher ganz unbekannter, ja nicht einmal geahnter Kontinent wurde entdeckt. Ein zweiter Nomos der Erde entstand aus solchen Entdeckungen von Land und Meer. Die Entdeckten wurde nicht gefragt. Entdeckungen werden ja immer ohne das Visum des Entdeckten gemacht. Die Entdecker waren europäische Völker, die den Planeten nahmen, ihn unter sich teilten und nutzten. So kam es, daß dieser zweite Nomos europazentrisch wurde. Der neuentdeckte Kontinent Amerika wurde zunächst in der Form von Kolonien genutzt. Die Ländermassen Asiens konnten nicht in gleicher Weise genommen werden. Hier äußerte sich die europazentrische Struktur des Nomos nur teilweise als offene Landnahme und im übrigen in der Form von Protektoraten, Pachtung von Land, Handelsverträgen und Interessensphären, kurz in mehr elastischen Formen der Nutzung. Afrika haben die landnehmenden europäischen Mächte erst im 19. Jahrhundert unter sich verteilt. Die Besonderheit dieses zweiten Nomos der Erde lag einmal in seiner europäischen Struktur und zweitens darin, daß er - zum Unterschied von dem ersten, noch mythischen Weltbild - die Ozeane mit umfaßte. Er war also bereits global, aber er unterschied noch Land und Meer. Das feste Land war in Staatsgebiete, Kolonien, Protektorate und Interessensphären aufgeteilt. Das Meer dagegen war frei. Es sollte allen Staaten zur freien Nutzung (durch Fischerei, Salzgewinnung, Perlenfischerei usw.) und zur freien Benutzung (durch friedliche Schiffahrt und Kriegführung) ohne eingeteilte Grenzen offenstehen. Entscheidend war natürlich, daß auch die freie Kriegführung zur Freiheit des Meeres gehörte. Infolgedessen hat die stärkste Seemacht die Ozeane der Welt genommen. Zur großen Landnahme kam eine große Seenahme hinzu. England besiegte der Reihe nach alle seine europäischen Rivalen zur See: Spanien, Holland, Frankreich und Deutschland. Der europazentrische Nomos der Erde bestand bis zum Ersten Weltkrieg 1914 1918. Er beruhte auf einem doppelten Gleichgewicht. Erstens dem Gleichgewicht von Land und Meer. England allein beherrschte das Meer und ließ kein Gleichgewicht der Seemächte zu. Auf dem europäischen Festland dagegen herrschte das Gleichgewicht, das keine Hegemonie einer Landmacht duldete. Sein Garant war die Seemacht England. Das Gleichgewicht von Land und Meer bildete die Grundlage, auf der das Land wiederum durch ein weiteres besonderes Gleichgewicht in sich ausbalanciert war. Land und Meer waren hier völlig verschiedene Ordnungen. Es gab ein Völkerrecht des Landes und ein davon verschiedenes Völkerrecht des Meeres. Der Landkrieg war völkerrechtlich etwas ganz anderes als der Seekrieg. Im Landkrieg galt nur die feindliche Armee, nicht die Zivilbevölkerung als Feind. Der Landkrieg spielte sich nicht zwischen den Völkern, sondern nur zwischen den Armeen der europäischen Staaten ab. Das Privateigentum der Zivilbevölkerung war völkerrechtlich keine Beute. Der Seekrieg war Handelskrieg. In ihm war jeder Feind, der mit dem Gegner Handel trieb. Das Privateigentum der Angehörigen des kriegfüh-
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renden Staates und sogar das der Neutralen, die mit ihm Handel führten, war gute Beute nach Maßgabe des Blockade- und des Prisenrechts. Land und Meer treten hier mit völlig verschiedenen Begriffen von Krieg, Feind und Beute einander gegenüber als zwei getrennte Welten. Dieser europazentrische Nomos der Erde ist in der Folge des Ersten Weltkrieges 1914-1918 zerstört worden. Heute, 1954, zerfällt die Erde - das Gestirn, auf dem wir leben - in zwei Teile, in eine östliche und eine westliche Hälfte, die einander in einem kalten und gelegentlich auch heißen Kriege feindlich gegenüberstehen. Das ist die heutige Teilung der Erde. Osten und Westen sind zunächst nur geographische Begriffe und außerdem für unsere Erdkugel fließend und unbestimmt. Die Erdkugel hat zwei Pole, einen Nord- und einen Südpol; sie hat keinen Ost- und keinen Westpol. Im Verhältnis zu Europa ist Amerika der Westen; im Verhältnis zu Amerika sind China und Rußland der Westen; im Verhältnis zu China und Rußland ist wiederum Europa der Westen. Rein geographisch ist hier also weder eine sichere Grenze noch eine Erklärung des feindlichen Gegensatzes zu finden. Aber hinter dem rein geographischen Gegensatz wird ein tieferer, elementarer Gegensatz sichtbar. Es genügt ein Blick auf den Globus, um zu sehen, daß das, was wir heute den Osten nennen, eine ungeheure Masse festen Landes ist. Dagegen sind die riesigen Flächen der westlichen Erdhälfte von großen Weltmeeren, dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean bedeckt. Hinter dem Gegensatz von Ost und West steht demnach der tiefere Gegensatz einer kontinentalen und einer maritimen Welt, der Gegensatz der Elemente Land und Meer. In Augenblicken höchster Spannung steigert sich die Geschichte der Menschheit zu einem reinen Gegensatz der Elemente. Für einen solchen weltgeschichtlichen Augenblick hat ein großer deutscher Dichter erstaunliche Verse gedichtet. Das war im Sommer 1812, als Napoleon I., der Kaiser der Franzosen, auf dem Höhepunkt seiner militärischen und politischen Macht in Rußland einfiel und auf Moskau marschierte. Damals verfaßte Goethe ein panegyrisches Gedicht, in dem er von Napoleon folgendes sagt: Worüber trüb Jahrhunderte gesonnen, Er übersieht's in hellem Geisteslicht, Das Kleinliche ist alles weggeronnen, Nur Meer und Erde haben hier Gewicht.
Goethe stand auf der Seite Napoleons und gab der Hoffnung Ausdruck, durch die Macht und Weisheit Napoleons werde England besiegt und das feste Land wieder „in alle seine Rechte treten". Wir wissen, daß Napoleon nicht von England besiegt wurde, sondern den Landmächten Rußland, Österreich und Preußen erlegen ist. Darin zeigt sich, daß der Nomos der Erde damals noch auf einem Gleichgewicht von Land und Meer beruhte. *
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Wie steht es nun heute? Das frühere, auf der Trennung von Land und Meer beruhende Gleichgewicht ist heute zerstört. Die Entwicklung der modernen Technik hat dem Meere seinen elementaren Charakter genommen. Eine neue, dritte Dimension, der Luftraum, ist als Kraftfeld menschlicher Macht und Betätigung hinzu getreten. Viele glauben heute schon, die ganze Erde, unser Planet, sei jetzt nur noch ein Rug- oder Landeplatz, ein Rohstofflager und ein Mutterschiff für Weltraumfahrten. Das ist zwar phantastisch, aber es zeigt doch, mit welcher Kraft die Frage eines neuen Nomos der Erde sich heute stellt. Was könnte die Gestalt dieses neuen Nomos sein? Drei Möglichkeiten sind hier erkennbar. Die erste und scheinbar einfachste Möglichkeit wäre, daß einer der beiden Partner des heutigen Weltgegensatzes den andern besiegt. Die heutige Zweiheit von Osten und Westen wäre dann nur das letzte Durchgangsstadium zu einer endgültigen, geschlossenen Einheit der Welt, die letzte Runde, der Endspurt sozusagen in dem furchtbaren Ringen um einen neuen Nomos der Erde. Der Sieger wäre dann der einzige Herr der Welt. Er würde die ganze Erde, Land und Meer und Luft nehmen, teilen und bewirtschaften nach seinen Plänen und Ideen. Eine weitverbreitete, rein technische Denkweise kennt heute keine andere Möglichkeit. Für sie ist die Erde schon so klein geworden, daß man sie mühelos übersehen und in die Hand nehmen kann. Aus der Wirkung der Mittel moderner Technik scheint sich die geschlossene Einheit der Welt automatisch von selbst zu erklären. Aber so ungeheuerlich die Wirkung moderner technischer Mittel auch sein mag, sie können weder die Natur des Menschen, noch die Gewalt von Land und Meer restlos vernichten, ohne sich gleichzeitig selbst zu vernichten. Die Tatsache der modernen technischen Mittel braucht uns weder zu berauschen noch zur Verzweiflung zu bringen. Wir brauchen nicht auf unsere menschliche Vernunft zu verzichten und dürfen nicht aufhören, alle Möglichkeiten eines neuen Nomos der Erde rational zu erwägen. Eine zweite Möglichkeit bestände darin, daß der Versuch gemacht wird, die Gleichgewichtsstruktur des bisherigen Nomos festzuhalten und in einer modernen, den heutigen technischen Mitteln und Dimensionen angepaßten Weise weiterzuführen. Das würde bedeuten, daß die bisherige Seeherrschaft Englands zu einer Verbindung von See- und Luftherrschaft gesteigert würde. Dafür kommen nur die Vereinigten Staaten von Amerika in Betracht. Sie sind sozusagen die größere Insel, die das Gleichgewicht der übrigen Welt halten und gewährleisten könnte. Die dritte Möglichkeit beruht ebenfalls auf der Idee eines Gleichgewichts, aber nicht des Gleichgewichts, das von einer hegemonischen Kombination globaler See- und Luftherrschaft getragen und kontrolliert wird. Es könnte sein, daß sich mehrere selbständige Großräume oder Blocks bilden, die unter sich ein Gleichgewicht und damit eine Ordnung der Erde zustande bringen.
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Es wäre schon viel gewonnen, wenn das globale Bild dieser drei Möglichkeiten allgemein zum Bewußtsein käme. Denn die meisten Betrachter dieses furchtbaren Problems stürzen blindlings in die Forderung eines einzigen Herrn der Welt. Das ist zwar von einer primitiven Einfachheit, darf aber den Blick für die andern Möglichkeiten nicht verstellen. Die zweite Möglichkeit - Weitelführung der früheren hegemonischen Gleichgewichts-Struktur - hat die große Chance überkommener Tradition und Gewohnheiten auf ihrer Seite. Die dritte Möglichkeit - Gleichgewicht mehrerer selbständiger Großräume - ist rational, wenn die Großräume sinnvoll abgegrenzt und in sich homogen sind. Unaufhaltsam wächst der neue Nomos unseres Planeten. Viele sehen darin nur Tod und Zerstörung. Manche glauben das Ende der Welt zu erleben. In Wirklichkeit erleben wir nur das Ende des bisherigen Verhältnisses von Land und Meer. Der alte Nomos freilich entfällt und mit ihm ein ganzes System überkommener Maße, Begriffe und Gewohnheiten. Aber das Kommende ist darum doch nicht nur Maßlosigkeit oder ein nomosfeindliches Nichts. Auch in dem grausamen Ringen alter und neuer Kräfte können gerechte Maße entstehen und sinnvolle Proportionen sich bilden. Auch hier sind Götter und walten, Groß ist ihr Maß.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Gemeinschaft und Politik, H. 1 / 1955, S. 7 - 10. Bis auf unwesentliche Abweichungen sind mit ihm identisch: Behält die Erde ihr Gleichgewicht?, in: Rheinisch-Westfälische Nachrichten, 22. 1. 1955, S. 7, u.: Der Nomos der Erde, in: Heinz Friedrich (Hrsg.), Lebendiges Wissen. Aus Natur und Geisteswelt, Stuttgart 1955, Alfred Kröner-Verlag, S. 281 - 288. Eine französische Fassung, übersetzt von Christian Roy, erschien u. d. T. „Le nouveau „nomos" de la Terre" in: Krisis (Paris), Nr. 10 - 11/1992, „Strategies?", S. 165 - 169.
Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift: „Der Gordische Knoten" Unter dem Titel „Der Gordische Knoten" hat Ernst Jünger den gegenwärtigen Welt-Gegensatz von Ost und West behandelt. Aber er betont, daß er von dem Titel „Ost und West" bewußt abgesehen habe, weil die geographische Aufteilung der Zeitfragen sekundär sei. Der Gordische Knoten ist nach Jünger als eine Schicksalsfrage aufzufassen, die sich stets von neuem stellt und immer wieder durch ein neues Licht, durch Aufklärung und geistige Macht beantwortet wird.
Jüngers Thema wird dadurch aus der tagespolitischen Aktualität in eine andere Sphäre erhoben. Unter dem Gordischen Knoten denkt man sich meistens ein wirres Knäuel. Die Tat Alexanders des Großen soll darin bestehen, daß er das Knäuel entwirrt, und zwar auf eine einfache, gefährlich einfache, dezisionistische Weise, nämlich durch einen Schwertstreich. Gegenüber dieser diktatorisch-dezisionistischen Deutung hat Frau Margret Boveri in einem besonders schönen und verständnisvollen Aufsatz (der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Oktober 1953) daran erinnert, daß es vielleicht auch möglich ist, den Knoten mit der bloßen Hand zu lösen, mit Geduld und mit Hilfe der Zeit. Sie meint, die Tugenden des Ostens - Einkehr und Geduld - seien neben der Lösung durch Schwertstreich mitzubeachten.[l] Ich habe daraufhin die Erzählung vom Gordischen Knoten noch einmal nachgelesen und fand in der besten historischen Quelle für das Leben Alexanders des Großen, in der Anabasis des Aman, daß es sich dort weniger um die Lösung eines Knotens als die eines Riemens handelt. [2] Der Riemen gehörte zu einem alten, von einem Ochsenpaar gezogenen Wagen und verband das Ochsenjoch mit der Deichsel. Der Wagen stammte von einem bescheidenen Bauern, dem Vater des phrygischen Königs Midas, und wurde aus Pietät verwahrt. Am Riemen, der aus dem Bast eines Kirschenbaumes geflochten war, sah man keinen Anfang und kein Ende, weil die Nahtstelle oder der Knoten des Riemens in der Deichsel steckte. Alexander, am Beginn seines Asienfeldzuges, wollte sich nicht lange mit der Lösung des Riemens aufhalten, wollte andererseits aber auch nicht einfach vorbeigehen, weil ein altes Orakel demjenigen, der den Riemen löste, die Herrschaft über ganz Asien verhieß. So soll er denn den Riemen mit seinem Schwerte durchhauen und das Orakel für erfüllt erklärt haben. Aristobulos aber, ein Mann aus Alexanders Umgebung, der vieles selber gesehen und aufgeschrieben hat, erzählt, Alexander
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habe nur den Pflock, der den Riemen zusammenhielt, aus der Deichsel gezogen und das Joch von der Deichsel gelöst. Das wäre etwas anderes als der diktatorischdezisionistische Schwertstreich. Wir wollen uns nicht weiter in die Lesarten der Erzählung vom Gordischen Knoten vertiefen. Sonst geraten wir womöglich noch in die Knäuel, Knoten oder Riemen philologischer Kontroversen. Auch spottet alles Mythische der armen historischen Echtheit, die sich aus solchen Kontroversen ergibt. Jedenfalls enthält schon die geschichtliche Überlieferung jener Erzählung ein Nebeneinander von dezisionistischem Schwertstreich und harmlos milderen Lösungen. Ernst Jüngers Intuition für mythische Bilder erkennt hier einen Zusammenhang mit den Schlangenknoten der Gorgo und des Medusenhauptes und mit der Beseitigung chthonischer Ungeheuer. Doch ist es keineswegs so, als habe Jünger die Erledigung durch einen Schwertstreich verherrlicht. Die übliche, diktatorisch-dezisionistische Deutung legt allerdings solche Mißverständnisse nahe, und die verbreiteten, aber durchaus falschen Mythisierungen, die aus Ernst Jünger einen Militaristen machen, werden sich jener Schwertstreich-Deutung gern bedienen. In Wirklichkeit spricht Jüngers Buch immer wieder von Polarität und Übergang. Sein letztes Wort ist nicht ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als auch, gegenseitige Begegnung, Anpochen, Austausch und Gleichgewicht, Wiederkehr des Ewigen in der Zeit und ein Hinweis auf „verborgene Antworten, die der Osten zu geben hat."
I.
Die dringendste Frage richtet sich heute auf den Kern des Welt-Gegensatzes von Ost und West, der uns gegenwärtig in Atem hält. Was ist der letzte, innerste Gegensatz, der hier wirksam wird und in einer globalen Spannung zu Tage tritt? Sind es ökonomische oder soziologische Verschiedenheiten; ist es die Gegensätzlichkeit moralischer Begriffe oder geschichtsphilosophischer Interpretationen der eigenen Lage und der des Andern? Alles, was es heute an geschichtlichen Deutungen, an Diagnosen oder Prognosen gibt, auch jede praktische Entscheidung eines handelnden Politikers und jeder Vorschlag eines politischen Beraters, bestimmt sich schließlich nach der Antwort, die er sich - bewußt oder halbbewußt, offen oder verdeckt - auf die Frage nach dem Kern des weltbeherrschenden Gegensatzes gibt. Offensichtlich mischen sich hier ökonomische Interessengegensätze und geistige Feindschaft, die sich beide gegenseitig steigern. Das ist zu allen Zeiten der Menschengeschichte so gewesen. Aber seitdem die Erde auch für unser praktisches Raumverhalten zu einem übersehbaren Globus geworden ist, steigern sich die mannigfachen Rivalitäten und Kollisionen der großen Mächte für einen Augenblick zu einem einfachen, globalen Dualismus. Um so mehr beherrscht die Frage nach dem Kern und der Struktur dieser dualistischen Spannung jede weitere Erörterung.
Die geschichtliche Struktur des Gegensatzes von Ost und West
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Indem wir von Ost und West sprechen, scheint zunächst ein rein geographischer Gesichtspunkt maßgebend zu werden. Ernst Jünger bezeichnet ihn mit Recht als sekundär. Wenn wir den globalen Charakter des Gegensatzes bedenken und einen konkreten Globus vor Augen haben, erscheint uns der Gegensatz als die Spannung einer Polarität. Globus und Polarität gehören nun einmal zusammen. Aber für unsere Erdkugel ist der geographische Gegensatz von Ost und West fließend und unbestimmt. Er ist nur das „entgegengesetzt Rießende von einem Weniger an Nacht und Licht." 1 Unsere Erde hat einen Nord- und einen Südpol, aber keinen Ost- und Westpol. Im geographischen Verhältnis zu Europa ist Amerika der Westen; im Verhältnis zu Amerika sind China und Rußland der Westen; und im Verhältnis zu China und Rußland ist wiederum Europa der Westen. Rein geographisch ergibt sich hier nicht einmal eine Polarität, viel weniger die sinnvolle Erklärung einer Feindschaft und die Möglichkeit einer Erkenntnis ihrer besonderen Struktur. Der Kern des heutigen Gegensatzes von Ost und West läßt sich auch nicht in der Weise finden, daß man eine geschichtliche, moralische, kulturelle und ökonomische Bestandsaufnahme des heutigen Ostens und des heutigen Westens vornimmt und die beiderseitigen Ergebnisse konfrontiert. Religiöse, soziale und ökonomische Besonderheiten jedes der beiden heutigen Partner des Welt-Dualismus führen selbstverständlich zu zahlreichen und oft auch treffenden Antithesen. Ernst Jüngers Meisterschaft der treffenden Beobachtung und Gruppierung bewährt sich auch hier: die Verschiedenheit von Ost und West, Morgenland und Abendland, Okzident und Orient verbindet sich bei ihm mit den Gegensätzen von Materie und Geist, Erdmacht oder Erdzwang und freiem Licht, Weite und Maß, Willkür und Freiheit. Aber das ist alles nur als Gleichnis polarer Grundhaltungen gemeint. Zwar wird die Möglichkeit endgültiger apokalyptischer Abrechnungen und eines daraus entstehenden „Weltstaates" am Schluß des Buches ausgesprochen. „Die Notwendigkeit eines Weltstaates kündigt sich immer dringender an." Doch müssen wir hinzufügen, daß auch dieser Weltstaat die Polaritäten und ihre ewige Wiederkehr nicht beendigen, sondern nur verlagern würde. Jeder bestimmten Spannung folgt eine Entspannung. Aber dafür treten dann eben andere Spannungen in Kraft, weil das polare Weltbild nicht anders gedacht werden kann und gerade hier jede Lösung - gleichgültig, ob sie durch Schwertstreich oder geduldige Entwirrung geschieht - nur eine Ablösung bedeutet: Zirkulation und Ablösung der Probleme, Zirkulation und Ablösung der Eliten.
II. Dieser Reihe von Lösungen durch Ablösung hat ein Geograph vor kurzem noch ein weiteres Glied hinzugefügt. In seinem glänzenden Buch „La politique des Etats et leur Geographie" führt Jean Gottmann einen für unsern Zusammenhang i Der Nomos der Erde, 1950, Köln, S. 160 f.
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besonders treffenden und anschaulichen neuen Begriff ein: die iconographie regionale. 2 Die verschiedenen Weltbilder und -Vorstellungen, die aus den verschiedenen Religionen, Traditionen, geschichtlichen Vergangenheiten und sozialen Organisationen entstanden sind, bilden eigene Räume. Geschichtliche Erinnerungen, Sagen, Mythen und Legenden, Symbole und Tabus, Abbreviaturen und Signale des Fühlens, Denkens und Sprechens, alles das zusammen macht die Ikonographie eines bestimmten Raumes aus. Dieses Wort Ikonographie scheint mir vollständiger und unsern heutigen Einsichten besser angepaßt als das völlig zerredete Wort Ideologie. Indem diese Ikonographie in ihrer geographischen Raumhaftigkeit erkannt wird, erscheint sie verortet und geschichtlich konkret. Gottmann spricht hier auch vom Gordischen Knoten und sagt: Die Ikonographie ist der Gordische Knoten der nationalen Gemeinschaft. Er spricht sogar von einer Zirkulation der Ikonographien, wodurch dem Kreislauf und der Ablösung der Probleme und der Eliten ein neuer Kreislauf mit neuen Ablösungen zur Seite tritt. Wenn die Ikonographie der Gordische Knoten der nationalen Gemeinschaft ist, wie Jean Gottmann sagt, dann ist sie auch dem Schicksal dieses Knotens verfallen. Sie wird eines Tages zerhauen oder gelöst oder abgelöst werden. Es liegt nahe, sich zu fragen, wer heute der Alexander sein wird, der den Knoten zerhaut oder den Riemen löst. Offensichtlich erleben wir heute als Auswirkung der industriellen Technisierung fortwährende Infragestellungen - mögen sie sich nun dezisionistisch oder analysierend geben - und immer neue Entwährungen der überkommenen Ikonographien, sowohl in ihren einzelnen Teilen wie auch im Ganzen. Offensichtlich ist die Psychoanalyse ein ikonoklastischer Einbruch in eine bisherige alte Ikonographie. Offensichtlich verbindet die moderne Malerei - mag sie nun wirklich abstrakt sein oder noch Reste von Gegenständlichkeit aufweisen - mit der Zerstörung einer alten Bilderwelt und Vörstellungsweise den Versuch einer Neuschöpfung. Und schließlich stehen diese beiden, untereinander keineswegs identischen Einbrüche mit den Zerstörungen, die eine unwiderstehliche Technisierung im Osten und im Westen anrichtet, offensichtlich in einem Zusammenhang. Die drei Einbrüche - industrielle Technisierung, Psychoanalyse und moderne Malerei kann man sich hier verschieden vorstellen: die Technisierung als das Schwert, das die Knäuel alter Bilder und Tabus durchschneidet, die Psychoanalyse als Lösung des Riemens und die moderne Malerei als eine Ablösung durch Überholung.3 Wenn von Bildersturm und Ikonoklasmus die Rede ist, erinnern wir uns zunächst an Vorgänge aus der Geschichte von Byzanz, an den Bilderstreit unter Kaiser Leo, an die Bilderfeindlichkeit des Alten Testamentes und des Islam und die
2 Paris 1952, Librairie Armand Colin, p. 220. 3 Wir deuten dieses Problem hier nur an und verweisen auf zwei bedeutende Veröffentlichungen von Walter Warnach: „Das Andere und die Zeiten, Versuch über die abstrakte Malerei", in der Zeitschrift „Wort und Wahrheit", Wien (Herder-Verlag) 1951, und den Vortrag „Abstrakte Kunst als Zeitausdruck" in den Salzburger Hochschulwochen 1953 (bei Otto Müller, Salzburg).
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ihr entgegengesetzte Anerkennung der Bilderverehrung durch Karl den Großen.[3] Das ergibt einen Gegensatz von Osten und Westen, bei dem der Osten wesentlich bilderfeindlich und der Westen als Hort der Bilderverehrung erscheint. Dieser Antithese scheint auch Ernst Jünger zuzuneigen. Doch geht er nicht so weit wie andere, die den Gegensatz zu einem Urgegensatz von Wort und Bild, Gehör und Gesicht vertiefen, wobei Wort und Gehör dem Osten, Bild und Gesicht dem Westen zugeordnet werden. Das Wort Ikonographie in dem eben genannten, umfassenden, geschichtlich-geographischen Sinne gebraucht, ist geeignet, uns vor solchen Vereinfachungen zu bewahren. [4] Jede konkrete Verortung ist schon eine Art von Sichtbarkeit. Überall gibt es deshalb Ikone und Ikonographie und überall infolgedessen auch die Möglichkeit eines Ikonoklasmus. Dergleichen beschränkt sich keineswegs auf Byzanz oder den Islam. Auch der Westen kennt mannigfache und sehr intensive Arten und Erscheinungsformen von Bilderfeindlichkeit und Bildersturm. Wiklifiten und Hussiten, täuferische Sektierer und Puritaner, religiöse Erneuerer und rationalistische Vereinfacher haben sich gerade im Westen ikonoklastisch betätigt. Der große weltpolitische Kampf, der im Zeitalter der Entdeckungen und der Landnahme einer damals Neuen Welt entbrannte, also die erste globale Auseinandersetzung der Weltgeschichte, erscheint in der üblichen Darstellung als ein Streit konfessioneller Dogmen, ein Kampf zwischen römischem Katholizismus und nordischem Protestantismus, genauer: zwischen Jesuitismus und Calvinismus. Der ikonographische Aspekt führt uns hier zu tieferen Einsichten, die wir hier wenigstens mit einem Wort andeuten möchten. Die konfessionellen Bürgerkriege des europäischen 16. und 17. Jahrhunderts, einschließlich des dreißigjährigen Interventionskrieges auf deutschem Boden 1618 - 1648, waren nämlich in Wirklichkeit Kämpfe für oder gegen die katholische Marienverehrung des Mittelalters, für oder gegen das Marienbild. Soll man nun etwa die Bilderfeindlichkeit der englischen Puritaner für etwas spezifisch Östliches halten, angesichts der Bilderverehrung des katholischen Bayern, Spanien oder Polen? Der Bilderstreit in Byzanz betraf in seinem theologischen Vordergrund das christliche Dogma von der Trinität, in seiner seelischen Wirklichkeit den tiefen ikonographischen Unterschied von unentfalteter Einheit und göttlicher Dreifaltigkeit. Auch hier kann man nicht sagen, daß das Dogma von der Trinität eine wesentlich westliche und der abstrakte Monotheismus eine wesentlich östliche Angelegenheit wäre. Freilich konnte es in bestimmten geschichtlichen Augenblicken so scheinen. Fränkische Mönche haben die Formel, nach welcher der Geist nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohne ausgeht, im christlichen Credo des Westens durchgesetzt, und der Widerstand des griechischen Patriarchen in Konstantinopel gegen dieses filioque hat zu dem großen Schisma von Ost- und Westkirche geführt.[5] So liegt es nahe, das filioque für eine Sache des Westens gegenüber dem Osten zu halten. Aber demgegenüber haben syrische Kirchenväter in der Lehre von der Trinität und der Geburt von der Jungfrau Ansichten vertreten, die nicht in diese Aufteilung passen, und auf der anderen Seite waren gerade germanische Stämme Arianer und leugneten die Gottheit Christi überhaupt. So entfällt
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auch dieses, der Lehre von der Trinität entnommene und in mancher Hinsicht frappante Kriterium einer ikonographischen Unterscheidung von Ost und West.
III. Über alle die vielen Besonderheiten hinweg, die bei einer Konfrontierung von Ost und West im Laufe der Weltgeschichte in bunter Fülle zu Tage treten, wird heute eine einfache, elementare Verschiedenheit sichtbar: der Gegensatz von Land und Meer. Das, was wir heute den Osten nennen, ist eine zusammenhängende Masse festen Landes: Rußland, China, Indien, die gewaltigste Erdeninsel, das Herzland der Erde, wie es der große englische Geograph Sir Haiford Mackinder genannt hat. [6] Und was wir heute den Westen nennen, ist eine von den Weltmeeren, dem atlantischen und dem pazifischen Ozean bedeckte Hemisphäre. Der Gegensatz einer kontinentalen und einer maritimen Welt ist die gegebene globale Wirklichkeit, von der wir ausgehen müssen, um die Frage nach der geschichtlichen Struktur der Spannungen des heutigen Welt-Dualismus überhaupt erst richtig zustellen. Es wäre verwunderlich, wenn dieser Gegensatz der Elemente einem Beobachter wie Ernst Jünger entgangen wäre. Zwar finden wir in seiner Schrift, wenn von der Erdmacht oder Erdkraft des Ostens gesprochen wird, als Gegensatz dazu das „freie Licht" oder den Gegensatz von Materie und Geist, während die Seemacht oder Meereskraft des Westens nicht mit dieser Bestimmtheit der Erdkraft entgegengesetzt wird. Aber das Meer scheint bei Jünger der Freiheit des Westens in besonderer Weise zugeordnet zu sein. So macht er die Bemerkung, daß „bei der Begegnung zwischen dem Osten und dem Westen oft die Seeschlacht die Entscheidung bringt", und daß die Besatzung von See- und Luftflotten - schon dieses Wort Luftflotte ist eine symptomatische Analogie aus der maritimen Sicht - in ihrem Typus, nach ihrer Zahl und Eignung, dem Verhältnis entspreche, in welchem ein Land oder ein Erdteil zu seiner Oberfläche Küsten besitze. „Und dieses Verhältnis steht wiederum zu dem, was wir als Freiheit bezeichnen, in einem inneren Zusammenhange". Das ist ein Satz, der sich im Sinne des maritimen Geschichtsbildes von Mackinder deuten läßt. Für Mackinder - Democratic ideals and reality , 1919 - wird nämlich der Gegensatz von Land und Meer zu einem Gegensatz von Barbarei und Zivilisation und besteht die Weltgeschichte darin, daß die gewaltigen Massen der barbarischen Bevölkerung des Herzlandes immer wieder die Küsten und ihre Zivilisation zu überrennen suchen, während es die geschichtliche Aufgabe der Insel-Bewohner, der World-Islanders, ist, das feste Land mit ozeanischer Freiheit oceanic freedom - zu durchdringen. Aber Jünger geht nicht soweit, das auszusprechen. Ebensowenig stellt er, wie Serge Maiwald das in einem großartigen Anlauf versucht hat, die Lebensordnung der freien maritimen Gesellschaft den festen Bindungen der staatlichen Ordnungswelt des Landes gegenüber4, oder wie neuerdings 4
Serge Maiwald in mehreren Aufsätzen der damals von ihm herausgegebenen Zeitschrift ,Universitas", Tübingen 1949 - 1951, insbesondere in dem Aufsatz „Das Atlantische System
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der bedeutende spanische Völkerrechtslehrer Camilo Barcia Trelles die heutigen Fronten der freien Welt dem kommunistischen Block gegenüberstellt, eine Gegenüberstellung, durch welche Mackinder zu einem Ahnen des Atlantikpaktes wird 5 . Als elementar im eigentlichen Sinne erkennt Jünger nur den Gegensatz von Nord und Süd an, den er auf den Eiszeitwechsel zurückführt, während der Gegensatz von Ost und West „vom sittlichen Charakter des Menschen geformt" sein soll. Aber schließlich wird doch wieder betont, daß die Grenzen von innen heraus gezogen werden, „nicht durch Ströme, Meere oder Gebirge, sondern durch eine geistige Macht." Jüngers letztes Wort ist auch in dieser Hinsicht: Ausgleich und Wiederkehr. Im Kern des Weltbildes, das er uns zeigt, steckt die Vorstellung von einer Polarität. Auch die Spannung der „geistigen" Macht ist bei ihm polar. Wie kommt es aber, daß gerade Seeschlachten für die großen weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen eine solche entscheidende Bedeutung hatten? Das Faktum ist unbestreitbar. Wenn der weltgeschichtliche Kampf sich seinem Höhepunkt nähert und auf beiden Seien die materiellen, seelischen und geistigen Kräfte bis zum äußersten eingesetzt werden, dann erstreckt sich die Feindschaft auf die gesamte Umwelt der kämpfenden Völker und bezieht den Gegensatz der Elemente Land und Meer in die Auseinandersetzung ein. Der Krieg erscheint dann als ein Krieg des Landes gegen das Meer, oder des Meeres gegen das Land, als ein Krieg der Elemente selbst. So haben es schon die Geschichtsschreiber der Kriege zwischen Sparta und Athen oder Rom und Karthago gesehen, obwohl sie dabei nur die thalassische Welt des Mittelmeeres und noch nicht die wesentlich andersräumige Welt einer globalen Auseinandersetzung im Auge hatten. Zahlreiche weltgeschichtliche Parallelen der hellenistischen Zeit mit unserer heutigen Gegenwart bleiben treffend und lehrreich. Ich erwähne als erstaunliches Beispiel die Stelle aus der ersten Philippika des Demosthenes (38.41), die gerade in diesen letzten Jahren - 1952 / 54 - und zwar von einem indischen Botschafter, von einem Außenminister der USA, einem General der USA und einem spanischen Völkerrechtslehrer hervorgehoben und erörtert worden ist und die schon bei Mackinder vorkommt 6. im permanenten Ausnahmezustand"; außerdem in der „Zeitschrift für Geopolitik", Hamburg, Dezember 1951. 5 Camilo Barcia Trelles, „El pacto del Atläntico, la Tierra y el Mar frente a frente", Madrid, Instituto de Estudios Politicos, 1950; „El Problema de la Unidad del Mundo PosbSlico", herausgegeben von der Rechts wissenschaftlichen Fakultät der Universität von Sao Paulo, 1953. 6 Mackinders Hinweis auf die Stelle 38.41 der ersten Philippika betrifft die politische Zerrissenheit der hellenischen Welt gegenüber der kompakten Geschlossenheit Mazedoniens, eine Zerrissenheit, die es bewirkte, daß die Hellenen trotz ihrer intellektuellen und technischen Überlegenheit und trotz ihrer großartigen Flotte schließlich doch unterlagen. Als geschichtliche Parallele zu der heutigen Weltlage eines politisch in sich uneinigen Westens wurde diese Stelle zitiert: zuerst von dem indischen Botschafter Massani, dann in einem Aufsatz der amerikanischen Revue „Life" von John Foster Dulles und in einem Aufsatz des amerikanischen Generals Albert Wedemeyer, schließlich in einer lehrreichen Chronik des oben genannten spanischen Völkerrechtslehrers, Camilo Barcia Trelles, in der Revista de Estudios Politicos, Nr. 74, 1954 [S. 161 - 174, hier 164 ff.]. Ich darf bei diesem Anlaß daran erinnern, 34 Staat, Großraum, Nomos
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Aber trotz des heuristischen Wertes solcher geschichtlichen Parallelen aus dem thalassischen Horizont müssen wir die strukturelle Verschiedenheit im Auge behalten, die eine bloße Binnenmeerkultur von dem ozeanisch-globalen Horizont der Gegenwart trennt. Der heutige Welt-Dualismus und sein Gegensatz von Land und Meer hat in seinem strukturellen Kern keine geschichtliche Parallele. Ein globales Ausmaß des Kampfes zwischen Land und Meer ist zum erstenmal in der Auseinandersetzung Englands mit dem revolutionären Frankreich und mit Napoleon erreicht worden. [7] Doch war damals weder die Aufteilung nach Land und Meer, noch die nach Ost und West so deutlich wie heute. Die großen Seeschlachten von Abukir (1798) und Trafalgar (1805) fallen noch nicht in das letzte entscheidende Stadium der großen Auseinandersetzung. Napoleon wurde schließlich nicht von England besiegt, sondern von den Landmächten Rußland, Österreich und Preußen. Der Nomos der Erde bestand noch in einem Gleichgewicht von Land und Meer, und das Meer konnte für sich allein keine Entscheidung erzwingen. Im Jahre 1812, in dem die Auseinandersetzung ihren Höhepunkt erreichte, haben die Vereinigten Staaten von Amerika nicht an Napoleon, sondern an England den Krieg erklärt. Damals trat eine Annäherung zwischen Amerika und Rußland ein, wobei diese beiden jüngeren Mächte hoffen konnten, sich sowohl von Napoleon wie von England, diesen „beiden Rasenden zu Lande und zur See", zu distanzieren 7. Die Gegensätze von Land und Meer und von Ost und West hatten sich also noch nicht zu der klaren Gegnerschaft der Elemente kristallisiert, die im Atlantikpakt von 1949 hervortrat. Aber der globale Horizont war bereits vorhanden. Er rief das Bewußtsein einer durch den Gegensatz der Elemente bestimmten Weltsituation hervor, in der man zwischen Land und Meer optieren mußte und nach einer Lösung des Gordischen Knotens suchte. Im Juli 1812, während Napoleon auf Moskau marschierte, hat Goethe ein panegyrisches Gedicht an die Kaiserin Marie Luise gerichtet, in Wahrheit einen Hymnus auf ihren Gatten, den Kaiser der Franzosen, den der deutsche Dichter als den Löser des Gordischen Knotens feiert: Was Tausende verwirrten,
löst der Eine (Napoleon).
In dem globalen Aspekt von Land und Meer fährt der Dichter fort: Worüber trüb Er (Napoleon) Das Kleinliche Nur Meer und
Jahrhunderte gesonnen übersieht's im hellsten Geisteslicht. ist alles weggeronnen, Erde haben hier Gewicht
daß Geographen und Strategen bisher die interessantesten politischen Prognosen gefunden haben, deren ungewöhnlichste wohl die von Homer Lea bleibt, der in seinem Buch „The Day of the Saxon" im Jahre 1912 das Ereignis von Pearl Harbour vorausgesagt hat. Eine Zusammenstellung und methodische Erörterung dieser Art von sachlichen, auf richtigen Diagnosen beruhenden Prognosen wäre wohl der Mühe wert. 7 Erwin Hölzle, Rußland und Amerika, Aufbruch und Begegnung zweier Weltmächte; München (Oldenbourg) 1953, S. 69.
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Goethe stand auf der Seite Napoleons, die er als die Seite des Landes und der Erde empfand. Napoleon war damals der Westen. Der deusche Dichter hoffte, der Westen werde terran bleiben und Napoleon werde als ein neuer Alexander dem Meere das Ufer abgewinnen; dann träte Das feste Land in alle seine Rechte.
So optierte Goethe, ein typischer Repräsentant des Westens, im Sommer 1812 für das Land und gegen das Meer. Aber seiner geistigen Haltung gemäß dachte er sich diese Gegenüberstellung von Land und Meer wohl nur als eine Polarität. Er meinte sie nicht als die dialektische Spannung eines einmaligen, unwiederholbaren, geschichtlichen Vorganges. An diesem Punkt läßt sich eine fundamentale Verschiedenheit am besten präzisieren. Das Denken in Polaritäten - seien es die Polaritäten Goethes, oder Schellings, oder Ernst Jüngers - setzt sich von dem konkret-geschichtlichen Denken so deutlich ab, daß wir, ohne Polemik oder Eristik, der polaren Deutung das konkretgeschichtliche Bild an die Seite stellen können. Die polare Spannung enthält eine Gleichzeitigkeit der sich bildenden Gegensätze, eine Gleichzeitigkeit, die sich in der Struktur immer von neuem und immer gleich wiederholt. Das konkret-geschichtliche Bild dagegen enthält eine dialektische Spannung, nämlich die Aufeinanderfolge einer konkreten Frage und einer ebenso konkreten Antwort. Diese Dialektik des geschichtlich-Konkreten bestimmt die Struktur einmaliger, geschichtlicher Situationen und Epochen. Wir werden später noch zeigen, daß diese geschichtliche Dialektik, wie sie hier gemeint ist, weder als eine allgemeine Begriffslogik noch als eine allgemeine Gesetzlichkeit zeitlicher Abläufe verstanden werden darf. Hier, an diesem Punkt unserer Erörterung, soll die fundamentale Verschiedenheit zunächst nur thesenhaft präzisiert werden. Es kommt uns ja auf die Erkenntnis der geschichtlichen Struktur des heutigen Welt-Dualismus an, und nicht auf eine allgemeine Theorie der Geschichte. Das geschichtliche Denken ist Denken einmaliger Situationen und damit einmaliger Wahrheiten. Auch alle geschichtlichen Parallelen dienen vernünftigerweise nur der schärferen Erfassung dieser Einmaligkeit; sonst werden sie hoffnungslos zu Ansätzen einer allgemeinen Gesetzlichkeit, eines funktionellen Ablaufs, den es in der Geschichte nicht gibt. Auch die Absurdität irrealer Bedingungssätze, mit deren Hilfe einer sich vermißt zu sagen, was gesehen wäre, wenn dieses oder jenes Ereignis anders verlaufen wäre, wenn z. B. die Sarazenen bei Tours und Poitiers gesiegt hätten oder Napoleon die Schlacht bei Waterloo nicht verloren hätte oder wenn der Winter 1941/42 nicht so furchtbar kalt gewesen wäre - auch solche Absurditäten, denen man selbst bei berühmten Historikern begegnet, sind Absurdidäten nur deshalb, weil sie die Einmaligkeit und Unwiderruflichkeit des geschichtlichen Geschehens vergessen möchten.[8] Die Wahrheit polarer Gegensätzlichkeiten ist ewig wahr, ewig im Sinne einer ewigen Wiederkehr. Eine geschichtliche Wahrheit dagegen ist nur einmal wahr. Wie oft sollte sie denn auch wahr sein, da sie nicht ewig wahr sein kann, weil das ihrer Ge34*
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schichtlichkeit widerspräche? Die Einmaligkeit der geschichtlichen Wahrheit ist das uralte Arcanum der Ontologie, wie Walter Warnach es genannt hat8. Die dialektische Struktur der konkreten Frage und Antwort, von der wir hier zur Erklärung des Geschichtlichen sprechen, soll die Einmaligkeit nicht abschwächen oder aufheben, sondern nur noch steigern, weil eine geschichtliche Situation erst dann begriffen ist, wenn wir sie als einmalige konkrete Antwort auf den Anruf einer ebenso einmaligen konkreten Situation begriffen haben. Wären Land und Meer im heutigen Welt-Dualismus nur eine polare, auf Ausgleich und Wiederkehr angelegte Verschiedenheit, dann müßten wir die beiden Elemente als ein Stück Natur ansehen. Die Elemente im Sinne der Natur trennen und verbinden, mischen und entmischen sich. Sie verdrängen und verwandeln sich gegenseitig in dem unaufhörlichen Kreislauf der Metamorphosen. Der Kreislauf wirft immer neue Gestaltungen und Erscheinungsformen der im Kern immer gleichen polaren Spannung auf. Der Gegensatz von Ost und West wird dann die Erscheinungsform einer ewigen Zirkulation der Eliten, der Probleme und der Ikonographien. Das Schauspiel ewiger Wandlung und ewiger Wiederkehr des Gleichen kennt keine spezifische Wahrheit der einmaligen Situation und der geschichtlichen Verortung. Der heutige Gegensatz von Ost und West wäre im Kern dasselbe wie zahlreiche entsprechende Gegensätze früherer Zeiten, Gegensätze von Barbaren und Hellenen, Römern und Germanen, Sarazenen und Franken, Mongolen und Europäern, Nacht und Tag, Dunkel und Licht. In der geschichtlichen Wirklichkeit aber treten zu bestimmten Zeiten handlungsfähige und geschichtsmächtige Völker und Gruppen auf, die in geschichtlicher Freundschaft oder Feindschaft die Erde nehmen und teilen und zu ihrem Teil auf ihr weiden und wirtschaften. So entsteht durch geschichtliche Verortungen der Nomos der Erde. Er wird seines eigentlichen Heute und Hier beraubt, wenn die Elemente Land und Meer, von denen hier die Rede ist, nur ein Stück Natur und natürliche Spannung bedeuten sollen. Als Natur sind weder diese Elemente selbst, noch die ihnen zugehörigen Lebewesen einer Spannung im Sinne der geschichtlichen Feindschaft fähig. Die Lebewesen des Landes sind nicht von Natur Feinde der Lebewesen des Meeres oder umgekehrt. Es kommt vor, daß Landtiere sich von Fischen ernähren und daß ein Fisch ein Landtier frißt, aber es wäre kindlich, hier von Feindschaft zu sprechen. Die Fische fressen sich gegenseitig, insbesondere bekanntlich die großen die kleinen, und die Landtiere machen es untereinander nicht viel besser. Man kann also wirklich nicht sagen, daß zwischen Land und Meer eine natürliche Feindschaft bestehe. Eher könnte man sagen, daß beide einander fremd, sogar beziehungslos bleiben, so beziehungslos, daß der Gedanke einer derartig intensiven Beziehung wie der einer Feindschaft hier unsinnig wäre. Natürlich ist es, daß jedes Lebewesen in seinem Elemente, d. h. in seiner Umwelt bleibt. Der Bär wird sich nicht in einen Krieg mit dem Walfisch einlassen, und der Wal sucht keinen Krieg mit dem Bären. 8
Walter Warnach, Abstrakte Kunst als Zeitausdruck, Vortrag in den Salzburger Hochschulwochen 1953 (Otto Müller, Salzburg).
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Selbst Raubtiere desselben Elements wissen ihre natürlichen Grenzen und Reviere zu finden. Der Bär kommt dem Löwen oder dem Tiger nicht ins Gehege; sogar diese großen Jäger unter den Landtieren kennen ihren Bereich und gehen überflüssigen Begegnungen aus dem Wege. Wer die Beziehung von Hund und Katze als Beispiel einer natürlichen Feindschaft ansieht, hat damit schon zum Ausdruck gebracht, daß eine Feindschaft unter Tieren etwas anderes bedeutet als unter Menschen. Der Hund stellt die Katze geistig oder moralisch mit ihrem Wesen nicht in Frage, und die Katze nicht den Hund. Indem der Hund die Katze anbellt oder die Katze den Hund anfaucht, machen diese Tiere es nicht wie Menschen, die imstande sind, ihrem Feind die Qualität des Menschen abzusprechen. Es ist allerdings richtig, daß gerade Tierfabeln politische Situationen und politische Beziehungen zwischen den Menschen in einer spezifischen Weise veranschaulichen und verdeutlichen. [9] Doch ist das Problem der Tierfabel ein wichtiges Thema für sich. Durch eine Übertragung auf das Tier lassen sich politische Situationen und Verhaltensweisen des Menschen enthüllen, weil sie dadurch eines ideologischen Schleiers beraubt werden. Gerade weil sich das Verhalten des Tieres von dem des Menschen wesentlich unterscheidet, kann ein besonders wirksamer Kunstgriff darin bestehen, das Verhalten des Menschen verhüllend zu enthüllen, indem man einen Menschen wie ein Tier und ein Tier wie einen Menschen sprechen läßt. Die Verkleidung in das Tier verfremdet, aber diese Methode der Verfremdung macht das Verhalten des Menschen nur um so deutlicher. Darauf beruht der politische Sinn der Tierfabel, auf den wir hier nicht weiter eingehen9. Die Feindschaft zwischen den Menschen enthält eine Spannung, die das Natürliche bei weitem transzendiert. Beim Menschen schlägt das Transzendierende immer durch, gleichgültig, ob man transzendent oder transzendental sagt. Man kann diesen Mehrwert „geistig" nennen, und, wenn man will, mit dem Satz Rimbauds belegen: Le combat spirituel est aussi brutal que la bataille d'hommes.[10] Jedenfalls ist die Feindschaft zwischen Menschen vieler Grade und Steigerungen fähig. Sie erreicht ihren Siedepunkt in Religionskriegen und in Bürgerkriegen mit ihren juristischen, moralischen und ideologischen Verfehmungen, d. h. in der Verabsolutierung des eigenen Rechts und der damit verbundenen Kriminalisierung und horsla-loi-Setzung des Gegners, der nicht mehr als Mensch anerkannt wird, sondern 9 Alle unsere Tierfabeln - angefangen von Hesiods Fabel vom Habicht und der Nachtigall - haben einen politischen Sinn, bleiben aber in die Naturhaftigkeit des Tieres hineinprojiziert und in diesem Sinne naturhaft-allgemein. Die Fabel ist daher ein Mittel der Veranschaulichung politischer Situationen im allgemeinen und nicht der konkreten Einmaligkeit. Infolgedessen wirken alle Tierfabeln uralt und in einem gewissen Sinne ewig. Der Tierroman Orwells ist eine Satire und keine Fabel. Mit Aesop und Lafontaine kommt man im allgemeinen auch heute noch aus. Neue Tierfabeln sind selten. Mir ist im letzten Jahrzehnt nur eine einzige neue begegnet, die aus Jugoslawien stammt und die ich als schönes Beispiel hier erzähle: Zwei kleine Mäuse lebten miteinander in heftiger Feindschaft und taten sich gegenseitig alles Böse an. Eines Tages fraß die Katze die eine der beiden Mäuse. Die andere betrachtete daraufhin die Katze als ihren Freund und Bundesgenossen und fühlte sich bewogen, ihr einen Dankbesuch abzustatten. Dabei wurde sie dann ebenfalls gefressen.
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der als Störer, Schädling oder letztes Hindernis des Weltfriedens beseitigt werden soll.[ll] Hier ruft also nicht die Natur, sondern etwas dem Menschen Spezifisches, seine Naturhaftigkeit Transzendierendes die Spannung und Feindschaft hervor und steigert die bloße Polarität zu einer konkreten Dialektik. Mit dem Wort dialektisch ist hier der Gegensatz zu allen Polaritätsvorstellungen zum Ausdruck gebracht. Das Wort soll die Frage-Antwort-Struktur aller geschichtlichen Situationen und Ereignisse zum Ausdruck bringen. Jede geschichtliche Handlung und Tat eines Menschen ist die Antwort auf eine Frage, die von der Geschichte erhoben wird. Eine geschichtliche Situation ist unverständlich, solange sie nicht als ein von Menschen vernommener Anruf und zugleich als Antwort der Menschen auf diesen Ruf verstanden wird. Jedes menschliche Wort ist eine Antwort. Jede Antwort erhält ihren Sinn durch die Frage, auf die sie antwortet und bleibt sinnlos für jeden, der die Frage nicht kennt. Der Sinn der Frage wiederum liegt in der konkreten Situation, in der sie sich erhebt. Das alles klingt nach der Question-Answer-Logic von R. G. Collingwood und hat auch wirklich vieles damit zu tun. Collingwood suchte mit Hilfe dieses FrageAntwort-Denkens das spezifisch Geschichtliche zu finden. [12] Er hat es in aller Schärfe formuliert, weil es für ihn der Weg war, den er gehen mußte, um seine eigene Herkunft aus der Ungeschichtlichkeit des naturwissenschaftlichen Positivismus zu überwinden 10. Der Ansatz war vortrefflich, doch blieb der englische Philosoph selbst viel zu tief in dem Wissenschaftsbegriff des englischen 19. Jahrhunderts stecken, als daß er über eine psychologisch- individualistische Deutung des Frage-Antwort-Problems hinausgekommen wäre. Sonst wären wohl auch die krankhaften Ausfälle seines affektgeladenen Deutschenhasses, mit denen er sein letztes Werk The New Leviathan verunstaltet hat, undenkbar gewesen. Das große Verdienst seiner Question-Answer-Logic bleibt aber unbestritten. Nur handelt es sich darum zu sehen, daß nicht ein einzelner Mensch oder eine Summe von einzelnen Menschen irgendeine Frage stellt und daß noch viel weniger irgendwelche Geschichtsschreiber ex post mit irgendwelchen Fragen an die Vergangenheit herantreten, sondern daß die Geschichte selbst in konkreten Fragen und Antworten besteht. Die Frage selbst ist ein geschichtliches Ereignis, aus dem durch die konkrete Antwort von Menschen weitere geschichtliche Dispositionen erwachsen. Indem die Menschen die Frage um den Ruf der Geschichte vernehmen und durch ihr Verhalten und ihre Taten zu beantworten suchen, wagen sie sich in die große Probe der Geschichtsmächtigkeit hinein und werden sie geprägt durch ein Gericht. Mit einem Wort: sie treten aus dem Naturzustand in den Stand der Geschichtlichkeit ein. Arnold Toynbee hat die Question-Answer-Logic Collingwoods zu einer Challenge-Response-Struktur der Kulturgeschichte gesteigert.[13] Die Frage wird zur Herausforderung, zum Challenge erhoben, die Antwort zum Response. Das ist zuio R. G. Collingwood, An Autobiography, Oxford University Press, 1939, S. 29 ff. Das weiter unten zitierte Buch Collingwoods, The New Leviathan or Man, Society, Civilization and Barbarism, ist 1942 in Oxford, Clarendon Press erschienen. [Ndr. New York 1971].
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gleich eine bedeutende Steigerung des geschichtlichen Sinnes und macht eine dialektische, nicht nur polare Spannung erkennbar, die alle individualistisch- psychologische Ungeschichtlichkeit des naturwissenschaftlichen Denkens hinter sich läßt. Auf diese Weise entstehen die mehr als zwanzig Kulturen oder Hochzivilisationen Toynbees, bei denen stets nach der konkreten geschichtlichen Herausforderung, dem Anruf zur Geschichte, und nach der ebenso konkreten geschichtlichen Antwort oder Erwiderung der Menschen gefragt werden muß. Im Falle der ägyptischen Kultur zum Beispiel bedeutet die Lage des Niltales mit seiner Abhängigkeit vom Ruß und seiner ständigen Bedrohung durch äußere Feinde die Herausforderung. Die Regierung und Ordnung des Niltales, seine Verteidigung gegen fremde, barbarische Einbrüche und die daraus entstehende ägyptische Zivilisation mit ihren Götterkulten, ihren Dynastien, ihren Pyramiden und ihrer Kunst ist die konkrete Antwort auf jene Herausforderung. Der Erkenntnisgewinn dieser Betrachtungsweise ist ganz außerordentlich, weil er die dialektische Struktur jeder geschichtlichen Situation trifft. Aber auch Toynbee ist einer typischen Gefahr nicht entgangen, die seine spezifisch geschichtliche Denkweise sofort wieder gefährdet. Indem er seine mehr als zwanzig Kulturen oder Hochzivilisationen nacheinander aufmarschieren läßt, verwischt er die kernhafte Einmaligkeit alles Geschichtlichen und damit die Struktur des Geschichtlichen selbst. [14] Uns liegt nicht an allgemeinen Gesetzen der Weltgeschichte. Das wäre schließlich doch wieder nur die Unterwerfung unter die Gesetzlichkeiten oder statistischen Wahrscheinlichkeiten eines funktionalen Ablaufs. Uns liegt an der einmaligen konkreten Situation, nämlich unserer eigenen gegenwärtigen Epoche, in der ein globaler Welt-Dualismus von Ost und West zu Tage getreten ist. Wenn wir hier nach einer dialektischen Spannung fragen, dann suchen wir nicht ein allgemeines Gesetz oder eine statistische Wahrscheinlichkeit und ebensowenig die allgemeine Logik einer Begriffsdialektik im systematischen Sinne. Es ist notwendig, das hier nochmals zu betonen. Wer heute von Dialektik spricht, setzt sich der Gefahr aus, summarisch und automatisch als Hegelianer eingestuft und abgetan zu werden. Nun birgt Hegels Geschichts-Dialektik genug Möglichkeiten, die echte Einmaligkeit des geschichtlichen Geschehens zu erreichen. Das ergibt sich schon aus seinem Satz, daß die Menschwerdung des Gottessohnes die Achse der Weltgeschichte ist. Es kann sich auch daraus ergeben, daß für ihn das geschichtliche Verstehen kein bloßes Urteil, sondern ein Mitfortschreiten ist. Aber in der großen Systematik geht die Einmaligkeit leicht wieder verloren und verwandelt sich das geschichtliche Geschehen in einen bloßen Denkprozeß. Für unsere Darlegung genügt es, mit einem Wort an diese Gefahr zu erinnern, damit unsere Verwendung des Wortes Dialektik nicht sofort in der Art von Automatik untergeht, deren Ablauf eine technisierte Zeit für wissenschaftliches Denken hält. Noch mehr als gegen das hegelianische Mißverständnis einer allgemeinen Begriffs-Dialektik müssen wir uns gegen den Vergesetzlichungs-Wahn des 19. Jahrhunderts verwahren, dem - mit Ausnahme von Alexis de Tocqueville - die größten Soziologen und Gegenwarts-Historiker des Westens verfallen sind. Das Bedürfnis,
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aus jeder konkreten geschichtlichen Einsicht ein allgemeines Gesetz des historischen Ablaufs zu machen, hat selbst die besten und treffendsten Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts in einen dichten Nebel von Generalisierungen gehüllt. Die Aufblähung einer konkreten geschichtlichen Erkenntnis zu einem allgemeinen Gesetz der Menschheit war der Tribut, den man einem Jahrhundert des naturwissenschaftlichen Positivismus schuldig zu sein glaubte. Man war außerstande, eine Wahrheit anders als in der Denkform eines generellen, voraussehbaren und einigermaßen berechenbaren funktionalen Ablaufs zu verstehen und gelten zu lassen. So hat Auguste Comte, ein Gegenwartshistoriker mit genialer Intuition, seine eigene Zeit richtig erkannt, als er ihre Entwicklung in drei Stadien feststellte: von der Theologie über die Metaphysik zum wissenschaftlichen Positivismus. [15] Das war eine überaus richtige Beobachtung und traf den einmaligen, in drei Momenten vollzogenen Schritt, den das europäische Denken vom 13. zum 19. Jahrhundert getan hat. Aber der Positivist und Scientist Auguste Comte hätte sich seine richtige geschichtliche Erkenntnis selber nicht geglaubt, wenn er sie nicht zu einem allgemeinen Drei-Stadien-Gesetz der gesamten Menschheit verabsolutiert hätte. Ähnlich, wenn auch durch seine hegelische Schulung vor einer blinden Naturwissenschaftlichkeit bewahrt, hat Karl Marx die treffende Diagnose der Lage, die sich aus der Technisierung und der industriellen Revolution um die Mitte des 19. Jahrhunders in Westund Mitteleuropa ergab, zu einer allgemeinen, weltgeschichtlichen Notwendigkeit der Konzentration und Zentralisation und zum letzten einfachsten Klassenkampf der Menschheit aufgesteigert, obwohl es sich in Wirklichkeit nur um einen konkret bestimmten, an Schiene und Draht und Dampfmaschine gebundenen Moment der technisch- industriellen Revolution handelte. Noch Oswald Spengler hat die richtige Erkenntnis, die in der großen historischen Parallele zwischen unserer Gegenwart und der Zeit der römischen Bürgerkriege und des Cäsarismus liegt, durch eine allgemeine Kulturkreis-Lehre der ganzen menschlichen Geschichte neutralisiert und ihren eigentlich geschichtlichen Nerv dadurch getötet. [16]
IV. Technisierung und Industrialisierung sind heute das Schicksal unserer Erde. Suchen wir also die einmalige geschichtliche Frage, den großen Challenge, und die konkrete Antwort, aus der die industriell-technische Revolution der letzten Jahrhunderte entstanden ist. Verzichten wir auf die billigen Möglichkeiten, die uns das Verfahren der irrealen Bedingungssätze liefert. Die dialektische Spannung, die wir der polaren entgegenhalten, soll uns weder in hegelianische noch in naturwissenschaftliche noch gar in normativistische Allgemeinheiten hineinführen. Auch Toynbees Formel vom Challenge und Response dient uns nur als Handhabe, um die Frage nach der einmaligen, gegenwärtigen Wirklichkeit des heutigen WeltDualismus von Ost und West richtig zu sehen. Dabei begegnet uns sofort eine Schrift Arnold Toynbees aus dem Jahre 1953, die in einer herausfordernden Weise den Titel führt: The World and the West 11. Die
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Schrift hat eine heftige Kritik und Polemik gegen ihren Verfasser hervorgerufen, an der wir uns nicht beteiligen, weil uns an einem bestimmten Zusammenhang, nämlich dem Gegensatz von Land und Meer gelegen ist. [17] Toynbee spricht von unserer gegenwärtigen Epoche und gibt eine konkrete Diagnose. Ernst Jünger hat, wie wir schon zu Beginn unserer Ausführungen erwähnten, seiner Schrift den Titel „Der Gordische Knoten" gegeben und den Gegensatz von Ost und West im Titel bewußt vermieden. Toynbee dagegen spricht ebenso bewußt und absichtlich vom Westen, den er der ganzen übrigen Welt entgegenstellt. Der Westen ist für ihn der Angreifer, der Aggressor, dessen industrielle Technik den Osten seit viereinhalb Jahrhunderten überfallen hat, in vier Begegnungen: mit Rußland, dem Islam, Indien und Ostasien. Dabei ist es für Toynbee wesentlich, daß der Westen seine Aggressionen mit Hilfe einer von der christlichen Religion losgelösten Technik vorgenommen hat. Indem der Osten sich heute dieser Technik bemächtigt, setzt er sich gegen einen jahrhundertelangen Überfall zur Wehr. Im 17. Jahrhundert allerdings haben die Jesuiten den Versuch gemacht, den Hindus und Chinesen die christliche Religion nicht als eine Religion des Westens, sondern als eine universale, weltumspannende und alle Menschen in gleicher Weise angehende Religion zu predigen. Der Versuch ist, nach Toynbee, deshalb mißlungen, weil unglücklicherweise ein dogmatisches Gezänk zwischen den katholischen Missionsorden eintrat und die großartige Mission der Jesuiten zum Scheitern brachte. [18] Die heutige kommunistische Revolution des Ostens aber besteht darin, daß sich der Osten eine von der christlichen Religiosität abgelösten europäischen Technik bemächtigt. Diese Technik nennt Toynbee einen „gegen Ende des 17. Jahrhunderts von unserer Kultur abgelösten Splitter." Das ist eine wichtige, ja entscheidende Kennzeichnung, die wir uns merken wollen. Sowohl den Polaritäten Ernst Jüngers wie auch der konkreten, die letzten vier Jahrhunderte betreffenden Geschichtskonstruktion Toynbees halten wir ein anderes Geschichtsbild entgegen, das sich ebenfalls konkret auf diese vier Jahrhunderte bezieht und dessen Sinn für uns vor allem darin liegt, daß es ein einleuchtendes Gesamtbild unserer durch die moderne Technik bestimmten geschichtlichen Epoche gibt. Freilich schlägt uns dabei sofort der Lärm einer betäubenden Diskussion über Wert und Unwert der modernen Technik entgegen, mit dem Durcheinander eines teils optimistischen, teils pessimistischen Impressionismus und einem Chaos theologischer, moralischer und ideologischer Verherrlichungen oder Verdammungen. Die Erkenntnis der Question- Answer-Logik kann hier dazu dienen, einige allzu billige Triumphe zu enthüllen, mit denen sich manche Betrachter sofort der Fragestellung zu bemächtigen suchen, um das geschichtliche Phänomen ihren Normativitäten zu unterwerfen und einen gefährlichen, auf Subsumtion und Subjugation gerichteten Streit um Werte und Wertungen zu entfachen, der in Wahrheit und
11 Arnold J. Toynbee, The World and the West, Oxford University Press, 1953. Eine deutsche Übersetzung von Dr. H. J. Alexander ist unter dem Titel „Die Welt und der Westen" im W.-Kohlhammer-Verlag, Stuttgart, erschienen. [1953].
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Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Machtkampf der betreffenden Werter, Abwerter oder Verwerter. Die Techniker selbst bleiben diesem Streite meistens fern, weil sie weder normativistisch-wertend noch dialektisch-geschichtlich denken. Theoretisch entspringt ihr Denken dem naturwissenschaftlichen Positivismus; praktisch ist ihr Tun und Treiben auf Planung und Plan-Vollstreckung gerichtet. Der geschichtlichen Entwicklung, in die er mit seiner ganzen, auch seiner intellektuellen Existenz verwickelt ist, vermag der reine Techniker nicht mehr kontemplativ sehend zu folgen. Doch gehört auch dieser Zustand zu der epochalen Einmaligkeit unserer Situation, die wir besser erst geschichtlich erkennen, ehe wir versuchen, sie uns normativistisch zu unterwerfen oder aber, umgekehrt, uns ihr und ihrem Betrieb fügen und sie als ein blindes Schicksal hinnehmen. Ich behaupte nämlich, daß es ein geschichtliches Gesamtbild der bisherigen Entwicklung unserer durch die industrielle Revolution bestimmten Epoche überhaupt noch nicht gibt und daß dieses Gesamtbild nur in dem Aspekt des Gegensatzes von Land und Meer möglich ist. Wie kann der gegenwärtige Dualismus von Ost und West als ein Gegensatz von Land und Meer erscheinen? Arnold Toynbee nennt, wie wir sahen, die moderne Technik einen „um das Ende des XVII. Jahrhunderts von unserer Kultur abgelösten Splitter." Wir wiederholen hier mit Absicht diese bereits zitierte Formulierung Toynbees, weil ihre kritische Richtigstellung ein guter Ausgangspunkt für die Frage nach der Struktur des heutigen Welt-Dualismus ist. Fragen wir also, einer konkret-geschichtlichen Question-Answer-Logic gemäß, erst einmal nach dem konkreten geschichtlichen Challenge und dem ebenso konkreten Response, der unsere gegenwärtige industriell-technische Epoche geschichtlich erklärt und erkennbar macht.
V. Woher stammt die industrielle Revolution? Was ist ihr Ursprung und ihre Heimat, ihr Ansatz und ihr Antrieb? Sie stammt von der Insel England, und zwar dem England des 18. Jahrhunderts. Die vielen oft genannten und allgemein bekannten Daten - erster Koksofen 1735, Gußstahl 1740, Dampfmaschine 1768, erste moderne Fabrik in Nottingham 1769, Spinnmaschine 1770, mechanischer Webstuhl 1786, Dampflokomotive 1825 - brauchen wir hier nicht zu wiederholen. Die große industrielle Revolution stammt von der Insel England, die durch das 19. Jahrhundert hindurch das führende Industrieland der Erde blieb. Das geschichtliche Phänomen, das wir hier im Auge behalten müssen, hat der erste deutsche Soziologe, Lorenz von Stein, im Jahre 1842 mit folgenden Sätzen gekennzeichnet: Da entstanden plötzlich, und merkwürdigerweise in derselben Zeit, wo die Ideen der Freiheit und Gleichheit in Frankreich Platz griffen, in England die ersten Maschinen. Mit ihnen beginnt für das Güterleben der ganzen Welt, für Produktion, Konsum und Verkehr, eine ganz neue Epoche. Sie sind die wahre revolutionäre Gewalt in dieser ma-
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teriellen Welt; und von dieser, welche sie beherrschen, reichen sie auf allen Punkten tief in die geistige hinein. [19]
Plötzlich und merkwürdigerweise in England! Man hört das erkenntnisträchtige Staunen des jungen Hegelianers, dem das Bewußtsein seiner geschichtlichen Situation aufgeht, der in dem Paris des Bürgerkönigtums von Louis Philippe die politische Revolution, die sich der europäische Kontinent seit dem Jahr 1789 geleistet hat, als ein ideologisches Epiphänomen zu erkennen beginnt, im Vergleich zu dem die industrielle Revolution, die von der Insel England kommt, die wahre revolutionäre Gewalt bedeutet. So schrieb er jene merkwürdigen Sätze, und zwar in einem Kapitel, das die Überschrift trägt: Das Proletariat Damit war das Problem der Scheidung von Arbeitskraft und Besitz zum ersten Male mit wissenschaftlicher Bewußtheit in die europäische Diskussion eingefühlt. Die industrielle Revolution stammt also aus dem England des 18. Jahrhunderts. Was aber war die geschichtliche einmalige Situation dieser Insel im 18. Jahrhundert? England war die Insel, die sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts vom europäischen Kontinent abgelöst und die den Schritt zu einer rein maritimen Existenz getan hatte. Das ist das geschichtlich Wesentliche. Alles andere ist Supra-Struktur. Welches äußerlich sichtbare Ereignis man hier als Datum oder Stichtag für den entscheidenden Moment dieses Schrittes zu einer maritimen Existenz annehmen will - die Besetzung Jamaikas durch Cromwell 1655; oder die endgültige Vertreibung der Stuarts 1688; oder den europäischen Frieden von Utrecht 1713 - wesentlich ist, daß ein europäisches Volk die Insel, die es bewohnt, nicht mehr, wie bisher, als ein abgesprengtes Stück des europäischen Festlandes betrachtet, sondern als die Basis einer rein maritimen Existenz und einer darauf errichteten Herrschaft über die Weltozeane. England hatte sich seit dem 16. Jahrhundert in die großen Entdeckungen und Landnahmen der Portugiesen, Spanier, Franzosen und Holländer eingeschaltet. Es hat alle seine europäischen Rivalen überflügelt, nicht kraft einer moralisch oder physisch höheren Qualität, sondern einzig und allein dadurch, daß es den Schritt vom festen Land zum freien Meer in aller Folgerichtigkeit getan hat. Das war eine einmalige, unwiederholbare, geschichtliche Antwort auf die ebenso einmalige, unwiederholbare, geschichtliche Herausforderung, auf den großen Anruf des Zeitalters der europäischen Entdeckungen. Zum ersten Male in der uns bekannten Geschichte der Menschheit erging eine Herausforderung, die nicht einzelne Flüsse, Küsten oder Binnenmeere betraf. Zum ersten Male war die Herausforderung global. Die Weltozeane öffneten sich und forderten die Völker der Erde zu einer neuen Art geschichtlicher Existenz heraus. Die meisten europäischen Völker haben diesen Anruf kaum verstanden. Sie waren nicht imstande, auch nur den Gedanken zu fassen, daß sie sich von ihrer bisherigen, seit Jahrtausenden überkommenen kontinentalen oder Küsten-Existenz ablösen könnten. Sie blieben dabei, auf den neuen Anruf mit einem Verhalten zu erwidern, das die Antwort auf einen früheren, weit zurückliegenden Anruf gewesen war. Die Spanier blieben terran. Die
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Portugiesen haben sich trotz ihrer erstaunlichen Fahrten kein maritimes Weltbild geschaffen. Auch das Heldenepos ihrer Entdeckerzeit, die Lusiaden des Camöes, spricht vom Indischen Ozean im Grunde nicht anders wie Virgils Aeneis vom Mittelmeer spricht. Die Holländer nahmen einen großartigen Anlauf und lagen zuerst in der Führung. Aber ihre Basis war schließlich doch zu schwach, ihre Verstrikkung mit den Landmächten war zu stark, und nach dem Frieden von Utrecht sind sie verlandet. Die Franzosen wagten einen zweihundertjährigen Krieg mit den Engländern und haben ihn schließlich verloren. Die industrielle Revolution in England und die politische Revolution in Frankreich haben sich getroffen, aber zunächst in einer feindlichen Begegnung von Land und Meer. Goethes Hymnus auf Napoleon vom Juli 1812, den wir oben in die Erinnerung zurückriefen, betraf den letzten, verzweifelten Augenblick und die letzte Chance des Landes. Das Meer siegte über das Land, weil die Insel England die große Herausforderung der sich öffnenden Weltozeane verstanden und angenommen hatte, indem sie ihre Gesamtexistenz auf das freie Meer verlegte. Die Insel hat sich von dem überkommenen, rein terranen Weltbild und von den in diese eingefügten Ordnungen abgelöst und ist dazu übergegangen, die Welt folgerichtig vom freien Meere aus zu sehen. Vom Meere aus wird das feste Land für ein rein maritimes Weltbild zu einer bloßen Küste mit Hinterland, backland. Der Hafen ist keine Tür zu einem Hause, wie nach der romanischen Bezeichnung portus, sondern eine Ausfahrt zum Meer. Spanien ist dann nur noch ein an der Küste Europas gestrandeter Walfisch. [20] Die Insel hört auf, ein abgesprengtes Land zu sein und verwandelt sich in ein Schiff. Die Welt des freien Meeres tritt der staatlichen Welt des festen Landes als eine andere gesellschaftliche Lebensordnung, mit eigenen, gegenüber der Welt des Kontinents verschiedenen Begriffen von Feind und Krieg und Beute. An die Stelle des alten, rein terranen Nomos der Erde tritt ein neuer Nomos, der die Weltmeere in seine Ordnung einbezieht, aber die Welt des freien Meeres von der des festen Landes unterscheidet und beide gegeneinander balanciert, um mit Hilfe dieses Gleichgewichts von Land und Meer innerhalb des Landes wiederum ein weiteres Gleichgewicht der Kräfte und Mächte als Grundlage des Friedens zu konstruieren. Was sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts abgelöst hat, ist also nicht, wie Arnold Toynbee meint, ein „technischer Splitter", sondern etwas anderes. Eine europäische Insel löste sich vom europäischen Kontinent ab und eine neue, von der Insel getragene maritime Welt stellte sich der Welt des festen Landes gegenüber. Sie bildete ein Gegengewicht gegen die terrane Welt und hielt das Gleichgewicht der Erde und damit den Frieden der Welt wie eine Waage in ihrer Hand. Das war das Ergebnis einer konkreten Antwort auf den Anruf der sich öffnenden Weltozeane. Auf dieser Insel England, die dem Ruf der sich öffnenden Ozeane gefolgt war und den Schritt zur maritimen Existenz getan hatte, entstanden plötzlich die ersten Maschinen.
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VI. Im „Waldgang" hat Ernst Jünger das Schiff und den Wald miteinander verglichen: „Und zwar soll hier der Mensch auf dem Schiff an dem im Walde sich das Maß nehmen - das heißt der Mensch der Zivilisation, der Mensch der Bewegung und der historischen Erscheinung an seinem ruhenden und überzeitlichen Wesen, das sich in der Geschichte darstellt und abwandelt."[21] Im Gegensatz zu dieser Relation von Schiff und Wald bringen wir im Folgenden das Schiff in den Zusammenhang unserer elementaren Unterscheidung von maritimer und terraner Existenz. Das ergibt nicht einen Gegensatz von Schiff und Wald, sondern den von Schiff und Haus. Das Schiff ist der Kern der maritimen Existenz des Menschen, wie das Haus der Kern seiner terranen Existenz ist. Schiff und Haus sind keine Antithesen im Sinne einer polaren Spannung, sondern verschiedene Antworten auf einen verschiedenen Anruf der Geschichte. Beide sind mit technischen Mitteln gebaut, aber zum Unterschied vom Haus ist das Schiff in sich selbst ein absolut technisches Vehikel und auf eine unbedingte Herrschaft des Menschen über die Natur angelegt. Denn das Meer ist in einem andern Sinne Natur als das feste Land. Es ist fremder und feindlicher. Bei der Trennung von Land und Meer erhielt der Mensch nach der biblischen Schöpfungsgeschichte das Land als seinen Wohnraum zugewiesen. Das Meer blieb gefährlich und böse. Wir verweisen hier auf den Kommentar zum 1. Kapitel der Genesis, den man in Band 3,1 der Dogmatik von Karl Barth findet[22] und begnügen uns mit der Feststellung, daß die alte, religiöse Scheu des Menschen vor dem Meer eines besonderen Antriebes bedurfte, um überwunden zu werden. Der technische Antrieb, der diese Scheu überwand, war anders als jeder andere technische Antrieb. Der Mensch, der sich auf das Meer wagte - das Wort Pirat bezeichnet den, der dieses Wagnis auf sich nimmt - hatte, wie es beim Dichter heißt, dreifaches Erz um die Brust,
aes triplex circa pectus. Das Zurückweichen der Naturschranke, das der Mensch durch seine Arbeit in Kultur und Zivilisation bewirkt, ist also sehr verschieden, je nachdem es sich im Schiff und durch das Schiff oder als Weiden und Bauen auf dem festen Lande vollzieht. Der Schritt zu einer rein maritimen Existenz bewirkt in sich selbst und in seiner weiteren inneren Folgerichtigkeit die Entfesselung der Technik als einer eigengesetzlichen Kraft. Bei allem, was sich vorher innerhalb einer wesentlich terranen Existenz an Technik entwickelt hatte, gab es keine absolute Technik. Denn es ist zu beachten, daß die bloß thalassische, auf Küste und Binnenmeer beschränkte Kultur noch keinen endgültigen Schritt zur maritimen Existenz bedeutet. Erst auf dem Ozean wird das Schiff zum absoluten Gegenbild des Hauses. Während in einer terranen Ordnung jede technische Erfindung von selbst in feste Lebensordnungen hineinfällt und von diesen erfaßt und eingeordnet wird, erscheint in einer maritimen Existenz jede technische Erfindung als ein Fortschritt im Sinne eines in sich
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selbst absoluten Wertes. Der unbedingte Fortschrittsglaube ist ein Anzeichen dafür, daß der Schritt zur maritimen Existenz getan ist. Die Erfindung des Schießpulvers zum Beispiel führte in den festen Lebensordnungen des chinesischen Daseins nur zu einer Verwertung als Spiel im Feuerwerk. In dem geschichtlich, sozial und moralisch unendlich erscheinenden Raum der maritimen Existenz führte sie zu den Kettenreaktionen uferlosen Weiter-Erfindens. Es handelt sich hier nicht etwa um den Unterschied von seßhaften und Nomadenvölkern, sondern um den Gegensatz von Land und Meer als elementar verschiedener Existenzmöglichkeiten des Menschen. Es ist deshalb auch irreführend, von Schiffs-Nomaden zu sprechen und sie mit den Pferde-, Kamel- oder andern Landnomaden in einer Reihe zu nennen. Das ist nur eine der vielen unrichtigen Übertragungen vom Land auf das Meer. Der Raum, in dem die menschliche Existenz geschichtlich verortet wird, ist sowohl im Horizont wie bis in den tiefsten Grund hinein nach Land und Meer verschieden und - je nachdem er vom Land auf das Meer oder vom Meer auf das Land gesehen wird - ein wesentlich anders geartetes Kraftfeld menschlicher Kultur oder Zivilisation, wobei die Kultur wohl mehr terran und die Zivilisation mehr maritim bestimmt ist. Das Schiff bewegt sich auf der Räche des freien Meeres in einem dadurch gegebenen Horizont. Das terrane Fahrzeug findet die Linie seines Weges oder seiner Straße im Horizont einer bestimmten Landschaft. Wüste und Steppe zeigen manche Analogien mit dem Meere. Das haben strategische Denker öfters ausgesprochen. Homer Lea, dessen Namen wir vorhin erwähnten, stellt die Wüste dem Meere gleich, und der Admiral Castex sagt, im Seekriege verwandle sich die Strategie in Geometrie. Es ist schon eine Übertragung vom kultivierten Land auf das Meer, wenn man das Meer als eine Verkehrsstraße bezeichnet, und es ist eine offensichtliche Naivität, ein Schiff als territoire flottant, als ein schwimmendes Stück Land zu bezeichnen, wie man das in manchen juristischen Argumentationen findet. Vom Schiff her gesehen ergibt sich ein anderer Welthorizont als vom bebauten Lande her. Dabei bleibt immer entscheidend, daß die Keimzelle und der Ursprung aller Ordnungen des konkreten menschlichen Zusammenlebens - Haus oder Schiff - zu entgegengesetzten Folgerungen für das Verhältnis zur Technik und zu neuen technischen Erfindungen führt. Einige wichtige Anwendungsmöglichkeiten dieser Erkenntnis sollen hier als Beispiel skizziert werden, um die Tragweite unserer Unterscheidung von Land und Meer anzudeuten und sie von oberflächlichen psychologischen Spekulationen abzuheben. Indem die industrielle Revolution in dem England des 18. Jahrhunderts entstand, war die Voraussetzung einer entfesselten Technik gegeben. Alles weitere sind nur die immer schneller werdenden Schritte in den Bereich der Uferlosigkeit, den jener ungeheuerliche Start der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts eröffnet hat. Schon die sogenannte klassische Nationalökonomie des späten 18. und des sich anschließenden 19. Jahrhunderts ist nur eine soziologische und gedankliche Supra-Struktur über diesem ersten Stadium einer Technik auf maritimer Existenzgrundlage. Der Marxismus wiederum führt diese klassische Nationalöko-
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nomie weiter. Er wurde das geeignete Begriffsinventarium für eine Elite russischer Berufsrevolutionäre, denen es gelungen ist, sich in der Oktoberrevolution des Jahres 1917 des russischen Reiches zu bemächtigen und das Gerüst jener doppelten Supra-Struktur auf ein agrarisches Land zu übertragen. Geschichtlich handelte es sich dabei um etwas ganz anderes als um die Verwirklichung einer reinen Lehre oder um den Vollzug von Gesetzen des historischen Ablaufs. Es handelte sich darum, daß ein industriell zurückgebliebenes Agrarreich instandgesetzt wurde, sich der industriellen Technik zu bemächtigen, ohne die es in einem modernen Weltkrieg zu einer bequemen Beute jedes industriell bewaffneten Eroberers werden mußte. Der Marxismus verwandelte sich aus einem ideologischen Überbau über dem ersten Stadium der industriellen Revolution in ein praktisches Mittel, einen Zustand industriell-technischer Wehrlosigkeit zu überwinden und eine alte Elite abzulösen, die sich dieser Aufgabe nicht gewachsen zeigte. Doch war die Zu-Endeführung der klassischen Nationalökonomie nur ein Teil der marxistischen Lehre. Ihre Wurzel blieb hegelianisch. In einer Stelle von Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts", in den §§ 243 ff., steckt ihr Keim. Diese Stelle ist berühmt. Sie entwickelt die Dialektik einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet und „innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen" ist. Von dieser bürgerlichen Gesellschaft sagt Hegel, daß sie „bei dem Übermaß des Reichtums nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern." Ausdrücklich verweist er dabei auf das damalige England als das eigentliche Beispiel. Dann folgt der § 246: Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nachsehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen.
Das sind die mit Recht berühmten §§ 243/246 von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, die ihre Entfaltung im Marxismus gefunden haben. Aber ich wüßte nicht, daß bisher der unmittelbar folgende § 247 in seiner ebenso großen Tragweite erkannt worden ist. Er bringt nämlich die Gegenüberstellung von Land und Meer, und seine Entfaltung könnte nicht weniger fruchtbar und nicht weniger folgenreich sein, wie die Entfaltung der vorangehenden §§ 243 / 246 durch den Marxismus. Es handelt sich um die Zuordnung der industriellen Entwicklung zur maritimen Existenz. Dieser § 247 enthält den entscheidenden Satz: Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende natürliche Element das Meer.
Ich breche hier ab und überlasse es dem aufmerksamen Leser, in meinen bisherigen Ausführungen den Anfang eines Versuches zu finden, diesen § 247 in ähn-
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licher Weise zur Entfaltung zu bringen wie die §§ 243/246 im Marxismus zur Entfaltung gebracht worden sind.[23] *
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Wir sind von Ernst Jüngers Schrift „Der Gordische Knoten" ausgegangen und haben seiner Deutung des Dualismus von Ost und West ein anderes Bild entgegengehalten: die geschichtliche Epoche der industriellen Revolution und der entfesselten Technik als Folge des Übergangs zu einer maritimen Existenz, wobei dieser Übergang wiederum nichts anderes war, als die konkrete Antwort auf den geschichtlichen Anruf der damals sich öffnenden Weltozeane. Der heutige Welt-Dualismus ist für uns nicht ein polarer, sondern ein geschichtlich-dialektischer Gegensatz von Land und Meer. Mit unserer Deutung erhebt sich allerdings sofort eine neue Frage und mit dieser Frage sofort eine neue Gefahr. Es fragt sich, was denn nun heute der gegenwärtige, aktuelle Anruf der Geschichte ist. Sicherlich ist der heutige Anruf mit dem des Zeitalters der sich öffnenden Ozeane nicht mehr identisch. Dem heutigen Anruf kann infolgedessen auch nicht mehr mit der Antwort begegnet werden, die damals gegeben wurde. Auch alle Weiterführungen dieser Antwort nützen hier nichts, auch nicht die verzweifelten Weitertreibungen einer entfesselten Technik in den Kosmos hinein, Weitertreibungen, die nur den Sinn haben, aus dem Gestirn, das wir bewohnen, aus der Erde selbst ein Raumschiff zu machen. Leider ist es nur allzu natürlich, daß die Menschen auf den neuen Anruf mit der alten Antwort reagieren, weil diese sich für eine vorangehende Epoche als richtig und erfolgreich erwiesen hat. Dies ist die Gefahr: Indem die Menschen historisch zu sein glauben und sich an das früher einmal Wahre halten, vergessen sie, daß eine geschichtliche Wahrheit nur einmal wahr ist. Sie wollen nicht mehr wissen, daß die Antwort auf einen neuen Anruf der Geschichte vom Menschen her gesehen nur ein Vorgebot sein kann und meistens sogar nur ein blindes Vorgebot ist. So wird gerade die Weiterführung der alten Antwort ungeschichtlich, und es ist deshalb allzu natürlich, daß der Sieger der vergangenen Epoche den neuen Anruf der Geschichte am ehesten verfehlt. Denn wie sollte der Sieger verstehen, daß auch sein Sieg nur einmal wahr ist? Und wer dürfte ihn darüber belehren? Dieses neue Thema kann hier nicht behandelt werden. Uns bleibt zum Schluß unseres Versuches nur noch übrig, diesen Beitrag zu einer Ehrung Ernst Jüngers vor der Mißdeutung zu bewahren, als hätten wir sein Polaritätsdenken zu einer begrifflichen Antithese gegen ein geschichtlich- dialektisches Denken einengen wollen und dem Reichtum seiner Bilder und Gedanken Gewalt angetan. Das liegt uns fern. Wir kennen und bewundern die heraklitische Freiheit, in der sich sowohl die erstaunlichen mythologischen Funde wie auch die treffenden Beobachtungen Jüngers bewegen, und wir fänden es absurd, die Fülle eines solchen Geistes auf das Prokrustes- Bett einer kümmerlichen Schul-Antithese zu spannen. Auch der letzte und tiefste Gegensatz, den unsere Darlegung enthält - ewige Wiederkehr auf der
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einen, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der geschichtlichen Ereignisse und Epochen auf der anderen Seite - legt den heraklitischen Geist nicht fest, sondern hält seinem B i l d nur ein anderes, nicht weniger heraklitisches B i l d entgegen. Heute sieht jeder, der etwas von Jüngers Entwicklung weiß, daß es kleinlich und ungerecht gewesen wäre, sein B i l d von der Technik, wie es sich i m Jahre 1932 aus seinem „Arbeiter" ergab, zu dogmatisieren. In gleicher Weise wäre es heute kleinlich und ungerecht, die Schriften der letzten Jahre, insbesondere den Gordischen Knoten, auf einige Formeln zu fixieren, statt ihre Keimkraft zu erproben. Heute gleichen wir alle, wie Jünger selbst es am besten gesagt hat, „Seeleuten auf ununterbrochener Fahrt, und jedes Buch kann nicht mehr als ein Logbuch sein."[24]
Anmerkungen des Herausgebers [1] M. Boveri, Der Gordische Knoten - Zu dem neuen Buch Ernst Jüngers, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Feuilleton), 17. 10. 1953. - Lt. einem Brief Frau Boverts an Schmitt v. 28. 11. 1955 kannte sie den vorl. Aufsatz Schmitts aus den Druckfahnen. Frau Boveri schreibt u. a.: „An der Festschrift für Ernst Jünger arbeite ich nicht mit, obwohl Möhler mich dazu aufgefordert hat. Es hätte meiner Eitelkeit geschmeichelt, mich in diesem Buch in einer Reihe mit x so bedeutenden Namen zu finden. Aber alle anderen Gründe sprechen dagegen. Ich halte mich zwar für fähig, in der Tagespresse ein Jünger'sches Buch zu besprechen, aber nicht für kompetent, in einer derartigen Festschrift etwas bleibend Gültiges über ihn auszusagen". (Ich danke Herrn Möhler für die Überlassung einer Abschrift dieses Briefes aus s. Privatarchiv - G. M.) [2] Vgl. Aman, Der Alexanderzug / Indische Geschichte, Ausg. G. Wirth / O. v. Hinüber, 1985 (Tusculum), II, 3, S. 108 ff.; Anmerkungen S. 826 f. [3] Vgl. u. a.: K. Schwarzlose, Der Bilderstreit, ein Kampf der griechischen Kirche um ihre Eigenart und um ihre Freiheit, 1890; G. Ostrogorsky, Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, 1929; E. J. Martin, A History of the Iconoclastic Controversy, London 1930; L. Breyer (Hrsg.), Bilderstreit und Arabersturm, 1957; H. G. Thümmel, Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre - Texte und Untersuchungen zur Zeit vor dem Bilderstreit, 1992. [4] Schmitt bezieht sich hier auf die Theorie von der iconographie regionale bzw. nationale des französ. Geographen Jean Gottmann, vgl. dazu dessen Buch: La Politique des Etats et leur geographie, Paris 1952, A. Colin, bes. S. 219 - 225. In seinen Beiträgen „Geography and international relations" und „The political partitionierung of our world - an attempt at analysis", in: W. A. D. Jackson, ed., Politics and geographies relationships - Readings on the nature of political geography, Englewood Cliffs, N. J. 1964, S. 20 - 34, 81 - 85, hat G. seine Thesen noch einmal vorgestellt. Danach besitzt ein bestimmter „national spirit" eine bestimmte Basis, ist „based on some religious creed, some social viewpoint, or some pattern of political memories, and often a combination of all three. Thus regionalism has some iconography as its foundation." Die Geographie hat die Aufgabe, diese Ikonographien zu erforschen und zu demonstrieren, „that the main partitions observed in the space accesible to men are . . . those that are in the minds of the people." Die Zugänglichkeit (accessibility) des geograph. Raumes ist dabei der „determining factor". Aufgrund der menschlichen Aktivität steht 35 Staat, Großraum, Nomos
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jede Region der Erde in einem Netz von inneren und äußeren Beziehungen, keine zwei Lagen sind identisch. Die Beziehungen zwischen den Räumen erfordern Bewegung: „Relations between one compartment of this space and the others cannot exist unless there is movement across the limits of the territory considered . . . The extent of accessibility is determined by an analysis of the existing status of traffic, communications, transportation, and trade". Die hier notwendigen Verbindungen bezeichnet Gottmann als „circulation" bzw. als „movement factor": „Analysis of the movement factor as its applies to a position, whether point or area, helps us to understand easily the motives and imperatives of the policies und political problems focused on or emanating from the position. Movement, however, makes for fluidity and change." Die Kombination von Ikonographie und „circulation" wird gedacht als „an understanding of how iconography and movement combine to shape political authority and limit it in space may perhaps help in the further analysis of the world's partitioning"; vgl. dazu u. zu Gottmanns Einfluß auf die US-amerikanische politische Geographie: D. Herold, „Political Geography" und „Geopolitics", in: Die Erde, 2 / 1974, S. 200 - 213, 206 ff. Schmitt selbst nennt Gottmann in der u., S. 551 erwähnten, stark abweichenden Fassung des vorl. Aufsatzes auf S. 20; erwähnt werden zum Problem der „Ikonographien" und ihrer „Zirkulation" in einem verwandten Zusammenhang noch zwei Bücher spanischer Freunde: L. Diez del Corral, El Rapto de Europa - Una interpretaciön historica de nuestro tiempo, Madrid 1954, bes. S. 205 - 242; Ausg. 1974, S. 245 - 282, „Enajenaciön del Arte"; C. Ollero, Estudios de Ciencia Polftica. Madrid 1955, S. 61 - 86, „La Forma politica". [5] Dazu: B. Capelle, Le Pape Leon et la „filioque", 1054 - 1954. L'Eglise et les Eglises, Chevelogne 1954; C. Riera, Doctrina de los simbolos toledanos sobre el Espiritu Santo, Vieh 1955. [6] Haiford J. Mackinder (1861 - 1947), Geograph an der Universität Oxford und zeitweise Direktor der London School of Economics, trug am 25. 1. 1904 vor der Royal Geographical Society seine Thesen über den „geographischen Drehpunkt der Geschichte" vor („The geographical pivot of history", in: The Geographical Journal, April 1904, S. 421 - 444, mit Diskussionsbeiträgen; dt. in: J. Matznetter (Hrsg.), Politische Geographie, 1977, S. 54 - 66. Die pivot area , in etwa mit Rußland einschließlich Zentralsibiriens deckungsgleich, wird vom inner crescent umgeben, in dem Deutschland die bedeutendste Macht darstellt. Gelingt es Rußland, an die Küste vorzustoßen, eine Flotte aufzubauen und sich mit Deutschland zu verbünden, würde es die bisher zu seinen Ungunsten wirkende balance of power umstoßen und könnte die Welthegemonie erringen. Mackinder taufte später diese pivot aera in heartland area um und wies in seinem Buch „Democratic Ideals and Reality", London / New York 1919, Ndr. 1942, darauf hin, wie nahe Deutschland daran gewesen sei, das „Herzland" zu kontrollieren; künftig müsse eine Barriere zwischen Deutschland und Rußland geschaffen werden, um das Übergreifen der einen o. der anderen Macht bzw. ihr Bündnis zu vereiteln; vgl. ebd., S. 147 - 190. Mackinders sprichwörtlich gewordenes Credo lautete: „Who rules in Eastern Europe commands the Heartland, who rules the Heartland commands the World Island, who rules the World Island commands the World", ebd., S. 194; mit „World Island" war hier die östliche Hemisphäre gemeint. - Vgl. zu diesem Werk: F. J. Teggart, Geography as an aid to statecraft, Geographical Review, 8/1919, S. 227 - 242. Mackinders ursprüngliche Thesen waren beeinflußt von dem Werk des Breslauer Geographen Joseph Partsch, Central Europe, London 1903, W. Heinemann (erst 1904 in deutscher Sprache u. d. T. „Mitteleuropa" bei Perthes in Gotha erschienen); zu ihm: M. Korinman, Quand l'Allemagne pensait le monde - Grandeur et decadence d'une geopolitique, Paris
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1990, S. 112 - 117. Mackinder verbarg jedoch diesen Einfluß u. behauptete, seine Theorie sei ein Ergebnis des Buren-Krieges (1899 - 1902) und des Russisch-japanischen Krieges (1904 05) gewesen; dazu: J. A. Sylvester, Mackinder lernte von den Deutschen. Eine ironische Kritik, Zeitschrift f. Geopolitik, 2 / 1968, S. 55 - 59. Mackinders Überlegungen gewannen einige Plausibilität angesichts der englisch-russischen Rivalität in Asien, der englisch-deutschen Konflikte und der absehbaren Schwäche der englischen Flotte gg. Landmächten mit gut ausgebauten Eisenbahnen, zu letzterem: P. Kennedy, Aufstieg und Verfall der britischen Seemacht, 1978, S. 195 - 224, „Mahan gegen Makkinder". Die von Mackinder befürchtete Mobilisierung des „Herzlandes" wurde von Karl Haushofer befürwortet, um mittels dieses „Kontinentalblockes", der für Haushofer Japan mit einschließen mußte, die Vorherrschaft der angelsächsischen Seemächte zu brechen; vgl. Haushofer, Der Kontinentalblock, Mitteleuropa-Eurasien-Japan, München 1941; zur Beziehung der Theorien Mackinders u. Haushofers vgl. auch: J. Gottmann, La politique des Etats et leur geographie, Paris 1952, S. 57 ff.; M. Korinman, op. cit., S. 228 ff. Eine gewisse Nähe zu Haushofers Konzept eignete v. Ribbentrops außenpolitischem Programm, das sich deutlich von dem Hitlers unterschied und in dem Antikominternpakt (24. 10. 1937) und Dreimächtepakt (27. 9. 1940) nur die Vorstufen bildeten zur Realisierung eines Viererblocks zusammen mit der Sowjetunion, vgl. M. Michalka, Vom Antikominternpakt zum euro-asiatischen Kontinentalblock: Ribbentrops Alternativkonzeption zu Hitlers aussenpolitischem „Programm", in: ders. (Hrsg.), Nationalsozialistische Aussenpolitik, 1978, S. 471 - 92; ders., Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik 1933 - 1940, 1980, bes. S. 247 - 97. - Zur Beziehung d. Theorien Mackinders und Haushofers vgl. auch: Hans W. Weigert, Generals and Geographers. The twilight of geopolitics, 1942, Ndr. 1972, S. 115 - 166, der S. 190 f. schrieb: „Neither Germany nor Japan listened to their would-be mentor. In June 1941 Haushofer's plans were smashed by the other dreamer in the Bavarian mountains." - Zu Mackinder: Troll, Erdkunde, 1952, S. 177 f.; L. Garcia Arias, Mackinder y el „Heartland", Geopolitica y Geoestrategia, Saragossa, 1965, S. 169 - 249, Ndr. in: ders., Estudios sobre relaciones internacionales y derecho de gentes, Madrid 1971, Bd. I, S. 185 - 259; W. H. Parker, Mackinder, Oxford 1982, dort S. 213 - 47 eine Darstellung der Kritik, die u. a. auf die technische Überlegenheit d. inner crescent hinwies und die Kontrolle dieses inner crescent bzw. rimland für wichtiger erachtete als die des Herzlandes (so N. J. Spykman, The geography of the peace, New York 1944) oder die Rolle der Luftwaffe betonte (so A. P. de Seversky, Air Power: key to survive, New York 1950); zu diesen u. a. Ergänzungen u. Kritiken vgl. auch D. Herold, „Political Geography" und „Geopolitics", Die Erde, 2 / 1974, S. 200 - 213; U. Ante, Politische Geographie, 1981, S. 168 ff. Vgl. die zahllosen Bezugnahmen auf Mahan, Mackinder u. Spykman bei: Pierre M. Gallois, Geopolitique - Les voies de la puissance, Paris 1990 (Plön) u. bei: Philippe Moreau Defarges, Introduction ä la geopolitique, Paris 1994 (Seuil), bes. S. 43 - 74. Mackinders Konzept unter heutigen Bedingungen erörtert auch: C. S. Gray, The Geopolitics of the Nuclear Era: Heartland, Rimlands, and the technological revolution, New York 1977, hrsg. vom National Strategy Information Center. Zu den Eigentümlichkeiten des Kalten Krieges gehörte es, daß der Rekurs auf Mackinder u. / o. Haushofer sowohl von russischer Seite dem Westen wie von westlicher Seite der UdSSR vorgeworfen wurde: vgl. K. I. Lukaschew. Imperialistische Konzeptionen der amerikanischen Pseudogeographie, in: Zeitschrift f. Geopolitik, 10 / 1952, S. 592 - 604; J. S. Roucek, La adopciön sovietica de las metas geopoh'ticas nazis, in: Revista de Estudios Politicos, Julio-Agosto 1956, S. 43 - 74. Ü. Mackinder als Politiker: B. W. Blouet, The political career of Sir Halford Mackinder, Political Geography Quarterly, 4/1987, S. 355 - 367, a. ebd., 1/1992, S. 100 -18. 3*
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
[7] Vgl. dazu: E. J. de La Graviere, Guerres maritimes sous la Republique et l'Empire, Paris 1853, 2 Bde., Plön; A. T. Mahan, The influence of sea power on the wars of the French revolution and Empire, Boston 1901, 2 Bde.; E. B. Potter / Ch. W. Nimitz / J. Rohwer, Seemacht - Von der Antike bis zur Gegenwart, 1982, S. 90 - 174. Die Kommentare Napoleons, zusammengestellt von H. Conrad: Napoleons Englandkampf, Stuttgart 1942. R. Schnur, Land und Meer - Napoleon gegen England, in: ders., Revolution und Weltbürgerkrieg, 1983, S. 33 - 58, mit ausführl. Hinweisen, beleuchtet den ideengeschichtlich-ideologischen Hintergrund. Vgl. auch, auf d. Hintergrund der neuerlichen Auseinandersetzung: Graf E. zu Reventlow, Der Vampir des Festlandes. Eine Darstellung der englischen Politik nach ihren Triebkräften, Mitteln und Wirkungen, 1939 (zuerst 1915), 12. Aufl., S. 51 - 64; C. Scarfoglio, England und das Festland, 1941, S. 86 - 105 (zuerst ital., 1939); aus der pro-alliierten Perspektive eines Emigranten: K. Stechert, Dreimal gegen England. Napoleon - Wilhelm II. - Hitler, Stockholm 1945, S. 9 - 57. - Das polit. Denken eines pro-napoleonischen deutschen Außenseiters schildert: W. Gembruch, England und Kontinentaleuropa im polit. Denken v. Friedrich Buchholz. Ein Beitrag zur Diskussion um die Freiheit der Meere u. kolonialer Expansion in d. Napoleonischen Ära, in: ders., Staat und Heer, 1990, S. 277 - 305 (zuerst 1975). [8] Im Sept. 1951 erließ Schmitt einen scherzhafen Aufruf an seine Freunde, ihm „irreale Bedingungssätze bei Historikern" mitzuteilen. Sein Beispiel war: „Wenn die Religionsgesetze der Kaiser Konstantin und Theodosius nicht ergangen wären, würde die römisch-griechische Religion noch bis heute leben" (J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Ausg. Kröner, S. 57; korrekt: „Ohne die Kaisergesetzgebung von Constantin auf Theodisius würde ...".). Zu diesem Steckenpferd Schmitts sein Freund E. Hüsmert, in: I. Villinger, Verortung des Politischen - Carl Schmitt in Plettenberg, 1990, S. 47. [9] Über die Tierfabel „als treffende Illustration der völkerrechtlichen Wirklichkeit" vgl. Schmitt, Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (1928), Ndr. in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 97 - 108, 108; zu Schmitts Interesse an Tierfabeln vgl. auch P. Tommissens Hinweise in der u., S. 551 erwähnten Fassung des vorl. Aufsatzes, S. 42 f. Schmitt korrespondierte 1943 / 44 mit dem Germanisten Gerhard Eggert, der u. a. den Aufsatz publizierte „Die Tierfabel als politisches Gleichnis", in: Geist der Zeit, Nov. 1941, S. 634 - 643, und der Schmitt am 20. 9. 1943 ein 20-seitiges lyposkript „Der politische Sinn der Tierfabeln" zusandte. Vgl. auch: J. L. Feuerbach, Promenade judiciaire chez Jean de la Fontaine, in: Conference du stage 1984, Ordres des Avocats, Maison du Barreau, Straßburg 1985, S. 15 - 26, mit der Widmung „A mon maitre, Carl Schmitt, lafontainien par excellence". Vgl. a.: Francesca Rigotti, Die Macht und ihre Metaphern. Über die sprachlichen Bilder der Politik, 1994, bes. S. 115 160 („Die Tiermetaphern"), dort, ziemlich verständnislos, zu Schmitt u. Julien Freund, S. 72 -75. [10] Rimbaud, Une saison en enfer, in: Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch, Heidelberg 1978, S. 324: „Le combat spirituel est aussi brutal que la bataille d'hommes, mais la vision de la justice est le plaisir de Dieu seul". [11] Über den Störer als Feind vgl. R. Altmann, Der Feind und der Friede, in: Epirrhosis. Festgabe f. C. Schmitt, II, 1968, S. 413 - 421; auch in: ders., Späte Nachricht vom Staat, 1968, S. 61 - 78. [12] Vgl. von R. G. Collingwood (1889 - 1943): The philosophy of history, 1930; An autobiography, 1939; dt., Denken. Eine Autobiographie, 1955; The idea of history, 1946; dt., Philosophie der Geschichte, 1955. Bes. interessierte Schmitt das Buch: The new Leviathan or man, society, civilization and barbarism, Oxford 1942, Ndr. New York 1971, zu dem N. K.
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O'Sullivan, Irrationalism in Politics - A Critique of R. G. Collingwood's „New Leviathan", Political Studies, Juni 1972, S. 141 - 151, schrieb: „The trouble is that Collingwood's understandable hatred of Nazism is so intense that it drives him to treat German history as a pure aberration" (S. 150); auf den S. 375 - 87 (Ausg. 1971) hatte C. den „fourth barbarism" der Weltgeschichte abgehandelt: „the Germans" - nach dem der Sarazenen, Albigenser und Türken (!). Sonst zu C : H. Schneider, Die Geschichtsphilosophie R. G. Collingwoods, Diss. Bonn 1950; A. Shalom, Collingwood. Philosophie et histoire, Paris 1967; N. Rotenstreich, Philosophy, history and dialectic. The philosophy of R. G. Collingwood, Bloomington, Ind. 1969. [13] Vgl. Toynbee, Der Gang der Weltgeschichte, dt. Ausg. 1954, bes. S. 61 ff., 108 ff., 112 ff., 198 ff., 423 ff., u. ö. Der mit Schmitt seit 1928 in Kontakt stehende Historiker Albert Mirgeler (1901 - 1979) behauptete, daß der durch Toynbee populär gewordene Begriff „challenge" seine geschichtliche Wirkkraft „der Anwendung durch den amerikanischen Präsidenten F. D. Roosevelt verdankt" und verwies auf das Buch von W. Besson, Die politische Terminologie des Präsidenten F. D. Roosevelt, Tübingen o. J., S. 114 (A. Mirgeler, Hrsg., Hesiod, Die Lehre von den fünf Weltaltern, Düsseldorf 1958, hier nach: ders., Geschichte und Gegenwart - Elemente europäischer und deutscher Geschichte, 1965, S. 195 - 233, 205, FN 15). [14] Vgl. u. a. den Sammelband „Toynbee and history", Boston 1956; K. W. Thompson, Toynbee's Philosophy of World History and Politics, Baton Rouge 1985 ; W. H. McNeil, Arnold J. Toynbee - A life, New York / Oxford 1989; auch vorl. Bd., Die Einheit der Welt, FN [16], S. 509. [15] Diese „loi des trois etats", von Turgot und Condorcet angeregt, bei Comte zuerst in s. „Prospectus de travaux scientifiques necessaires pour reorganiser la societe"; erstmals 1822 im Anhang zu Saint-Simons „Suite des travaux ayant pour objet de fonder le systeme industriel" abgedruckt. Die Schrift wurde später erweitert u. mit dem Titel „ P l a n des travaux scientifiques . . . " versehen, vgl. d. Ndr. in: Comte, Du pouvoir spirituel, Paris 1978, S. 81 210, dort S. 127 ff., 175 ff.; dazu u. a. L. Levy- Brühl, La Philosophie d'Auguste Comte, 4. ed., Paris o. J., S. 39 - 54 u. H. Gouhier, La jeunesse d'Auguste Comte et la formation du positivisme, Bd. III, Paris 1941, S. 289 ff. Comte nahm später das Thema noch mehrfach auf, u. a. in: Cours de philosophie positive, 5. ed., Paris 1907 / 08,1, S. 2 - 8 (dt. in: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, hrsg. v. F. Blaschke, 1933, S. 2 ff.) u. in: Discours sur 1'Esprit positif, dt.-frz. Ausgabe v. I. Fetscher, 1956, S. 5 ff. Zur Kritik: G. Mosca, Die herrschende Klasse (aus dem Ital.), 1950, S. 81 ff., ders., Storia delle dottrine politiche, Bari 1939, bes. S. 293 - 97; M. Scheler, Über die positivistische Geschichtsphilosophie des Wissens (Dreistadiengesetz), in: Moralia - Schriften zur Soziologie u. Wissenschaftslehre, 1923, 5. 26 - 40; G. Sorel, Les illusions du progres, 4. ed., 1927; K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 1953, S. 58-87; H. Maus, Bemerkungen zu Comte, in: ders., Die Traumhölle des Juste Milieu, 1981 (zuerst 1953), S. 349 ff. Vgl. auch: H. de Lubac, Die Tragödie des Humanismus ohne Gott, aus dem Französ., Salzburg 1950, S. 11 - 19; R. Aron, Hauptströmungen des soziolog. Denkens, I, 1971, S. 73 ff.; O. Massing, Auguste Comte, in: D. Käsler (Hrsg.), Klassiker des soziolog. Denkens, I, Von Comte bis Dürkheim, 1976, S. 19-61, 365 68, 445 - 49, hier S. 37 ff. - Die wohl schärfste Kritik an Comte findet sich bei Vilfredo Pareto, Trattato di Sociologia generale (zuerst 1916), §§ 283 - 295; vgl. auch ders., Les systemes socialistes, 1902/03, Ndr. Genf 1978, ö. - Schmitt schätzte bes. d. Buch v. E. Caird, The social philosophy of religion of Comte, Glasgow 1865.
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
[16] Die Kritik an Spengler wird detailliert dargestellt bei M. Schröter, Metaphysik des Untergangs, 1949, S. 17 - 158. - Die „Große Parallele" - daß man in einer Zeitenwende lebe wie nach der Seeschlacht von Aktium (31 v. Chr.) - wird in der Geschichtsphilosophie und politischen Theorie des 19. Jahrhunderts breit erörtert, wobei die Folgerungen u. Prognosen oft stark differierten. Danach stellen die Slawen die neuen Germanen dar, die das alternde Europa, das für das damalige Rom steht, barbarisch verjüngen (so bes. Herzen), oder die Sozialisten (so Saint-Simon, Weitling) treten an die Stelle der Christen, die Zukunft ist föderalistisch (Proudhon) oder, nach einer alles gleichschaltenden Demokratisierung, cäsaristisch (Bruno Bauer); bei Donoso Cortes können die Slawen die Erneuerung nicht durchsetzen, weil sie selbst schon von der europäischen Dekadenz verseucht sind, usw. Der Topos spielt auch einen bedeutenden Part in den Überlegungen so unterschiedlicher Denker wie Comte, Moses Heß, Danilewsky, Lasaulx, Cieszkowski, Champagny, Vollgraff, Romieu, Ballanche, Burckhardt, Conrad Hermann, Ozanam, Odojewski u. a. Bei Toqueville sind das künftige Element die USA und Rußland. Vgl. u. a.: H. J. Schoeps, Vorläufer Spenglers. Studien zum Geschichtspessismismus im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1955 (bes. ü. Vollgraff und Lasaulx); D. Groh, Rußland und das Selbstverständnis Europas, 1961, passim; V. Christen, Die große Parallele im Geschichtsdenken von Alexander Herzen, Phil. Diss. Münster 1963; J. Freund, La decadence. Histoire sociologique et philosophique d'une categorie de 1'experience humaine, Paris 1984, S. 291 ff. u. ö. Schmitt geht auf die „Große Parallele" ein in seinem Vortrag „Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation", zuerst gehalten am 31. 5. 1944 in Madrid, abgedruckt im gleichnamigen Buch, 1950, S. 80 - 114; des weiteren in: Glossarium, 1991, S. 287, 30. 12. 49; Drei Stufen historischer Sinngebung, Universitas, 8/1950, S. 927 931, 928 f.; La unidad del mundo, Madrid 1951, S. 34 ff.; Brief an Julien Freund v. 31. 1. 1967, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana IV, 1994, S. 67 - 71, 68 f. (mit Hinweisen Tommissens). Der ideologische Kampf des 19. Jahrhunderts ist danach auch ein Kampf um die Interpretation der „Großen Parallele". Vgl. auch: P. Tommissen, Carl Schmitt's theorie van de „Geschichtliche Parallele", Kultuurleven (Löwen), Dez. 1973, S. 1075 ff.: s. a. vorl. Bd., Die Stellung Lorenz von Steins . . . , S.162 f., FN [10]. [17] Vgl. etwa: G. F. Hudson, Professor Toynbee und der Westen, in: Der Monat, Juni 1953, S. 317-21. [18] Toynbee, Die Welt und der Westen, 1953, S. 65 f. [19] Nicht bei Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, Leipzig 1842, sondern in: ders., Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (zuerst 1850), Ausg. Salomon 1921, II, S. 59 f. - Ähnlich Stein bereits in: Der Begriff der Arbeit und die Principien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnisse zum Socialismus und Communismus, ZgStW, 2/1846, S. 233 - 290, 281; Ndr. in: E. Pankoke (Hrsg.), Stein, Blicke auf den Socialismus .. ./Der Begriff der Arbeit..., 1974, S. 111 f.; ders., Proletariat und Gesellschaft (nach d. 2. Aufl. v. „Socialismus u. Communismus d. heutigen Frankreichs", 1948), 1971, hrsg. v. M. Hahn, S. 57 f. [20] Vgl. vorl. Bd., Das Meer gegen das Land, FN [5], S.399. [21] Inbezugsetzungen von „Schiff 4 und „Wald" bei Jünger, in: ders., Der Waldgang (1951), Sämtliche Werke, VII, 1980 (S. 281 - 373): S. 309, 315, 317 f., 336, 371. [22] K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, III, Die Lehre von der Schöpfung. Erster Teil. Zollikon-Zürich 1945, S. 158 ff.
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[23] S. die fast gleichlautende Nachbemerkung Schmitts in: ders., Land und Meer, 3. Aufl. 1981, S. 109. [24] Vgl. vorl. Bd., S. 270, 453,463, FN [la].
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Armin Möhler (Hrsg.), Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburstag, Frankfurt a. M. 1955, Verlag Vittorio Klostermann, S. 133 - 167. Eine italienische Version u. d. T. „La contrapposizione planetaria tra Oriente e Occidente e la sua struttura storica" erschien in: Ernst Jünger / Carl Schmitt, II nodo di Gordio. Dialogo su Oriente e Occidente nella storia del mondo, Bologna 1987, il Mulino, S. 133 - 167, übers, v. Giuseppina Panzieri, mit einer Einführung v. Carlo Galli, S. 7 25. Eine stark abweichende, eine gewisse Eigenständigkeit besitzende Fassung des Aufsatzes u. d. T. „La tension planetaria entre Oriente y Occidente y la oposiciön entre tierra y mar" veröffentlichte Schmitt in der „Revista de Estudios Politicos", 81 / 1955, S. 3 - 2 8 ; deutsch u. d. T. „Die planetarische Spannung zwischen Ost und West und der Gegensatz von Land und Meer", von Piet Tommissen vorgestellt in: ders., Schmittiana III, Brüssel 1991, S. 19 - 44. Ernst Jüngers Buch „Der Gordische Knoten" erschien 1953 im Verlag V. Klostermann, Frankfurt a. M., 153 S.; Ndr. in: Sämtliche Werke, VII, Stuttgart 1980, Klett-Cotta, S. 375 479. Zu diesem Buch Jüngers vgl. auch: A. Andersch, Kann man ein Symbol zerhauen?, in: Texte und Zeichen, 1955, S. 378 - 384, u. M. Meyer, Ernst Jünger, 1990, S. 394 - 400. Homer Lea sagte nicht, wie Schmitt irrtümlich in s. Fußnote 6 meint, „das Ereignis von Pearl Harbour" in seinem Buche „The Day of the Saxon", 1912, voraus, sondern in s. ersten Schrift „The valor of ignorance", 1909. Ernst Jünger beschäftigte sich auch noch später mit dem Thema, vgl. die Beiträge v. L. Schmidt, Der Gordische Knoten und seine Lösung, u. v. D. de Rougemont, Der neu geknüpfte Gordische Knoten, in der v. E. Jünger u. Mircea Eliade hrsg. Zeitschrift „Antaios", 1/4, Nov. 1959, S. 305 - 18, 393 - 96. - Die von Schmitt u., S. 529, FN 6, erwähnte Bezugnahme Camilo Barcia Trelles' auf die 1. Philippika des Demosthenes wird von Trelles noch einmal bekräftigt in: ders., U.S.A.: Del aislacionismo al globalismo, in: FS v. d. Heydte, I, 1977, S. 655 - 73, bes. S. 655 f., 671 f.
Gespräch über den Neuen Raum A. - Wir wollen mit dem Gegensatz von Land und Meer beginnen und zunächst über den Unterschied von terraner und maritimer Existenz sprechen, über den unser verehrter Freund Don Camilo so grundlegende völkerrechtliche Ausführungen gemacht hat. Darf ich mir in diesem Zusammenhang eine indiskrete Frage erlauben, lieber Herr Neumeyer? N. - Wenn sie nicht allzu indiskret ist, verehrter Herr Altmann, meinetwegen! A. - Allzu indiskret ist sie hoffentlich nicht. Ich wollte Sie nämlich nur fragen, ob Sie gelegentlich die Bibel lesen? N. - Meinen Sie das Alte oder das Neue Testament? A. - An so feine Unterschiede hatte ich gar nicht gedacht. Ich meinte ganz allgemein die Bibel, das Buch der Bücher, beides, Altes und Neues Testament. N. - Mit Bezug auf die Bibel will ich Ihnen, Herr Altmann, etwas sagen: ich schätze die Bibel sehr und respektiere sie durchaus. Aber ich bin ein wissenschaftlich denkender Mensch und die Bibel ist - bei aller schuldigen Hochschätzung kein wissenschaftliches Buch. Weder das Alte noch das Neue Testament. Das schließt nicht aus, daß ich sie gelegentlich aufschlage und dort auch mancherlei Erbauliches finde. Aber ich muß doch fragen: was hat das mit unserem Thema Land und Meer zu tun? A. - Die Bibel, Herr Neumeyer, beschäftigt sich von Anfang bis zu Ende mit dem Gegensatz von Land und Meer. Sie ist von diesem Gegensatz geradezu erfüllt. N. - Sehr merkwürdig! A. - Sie brauchen nur den Anfang der Bibel aufzuschlagen und dort nachzulesen, wie Gott die Welt erschaffen hat. Da ist das erste Kapitel der Schöpfungsgeschichte die Genesis, 1. Buch Moses, Kapitel 1. Dort wird erzählt, daß Gott die Welt durch mehrere aufeinanderfolgende Trennungen geschaffen hat: erst trennt er das Licht von der Finsternis; dann trennt er die Feste des Himmels, das Firmament, von den Wassern über und unter dem Firmament; dann trennt er das trockne Land vom Meer und weist das trockne Land dem Menschen als Wohnung zu. N. - Schön. Aber wir wollten uns doch nicht über theologische Dinge unterhalten. A. - Wir wollten uns über den Gegensatz von Land und Meer und den Unterschied von terraner und maritimer Existenz unterhalten, und wir finden hier, in einem der ältesten und heiligsten Bücher der Menschheit, eine sehr entschiedene
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Stellungnahme für eine rein terrane Existenz. Nach der Bibel hat Gott das feste Land dem Menschen als Wohnsitz zugewiesen, während er das Meer an die Grenzen dieses Wohnsitzes zurückgedrängt hat. Dort lauert es als ständige Gefahr und Bedrohung des Menschen. Gottes Güte hält das Meer zurück, damit es uns nicht verschlingt, wie in einer Sündflut. Das Meer ist dem Menschen fremd und feindlich. Es ist kein Lebensraum des Menschen. Lebensraum des Menschen ist nach der Bibel nur das feste Land. N. - Das Wort „Lebensraum", verehrter Herr Altmann, klingt mir in diesem Zusammenhang etwas verdächtig. Es schmeckt nach moderner Geopolitik.[l] Ich möchte eine Wette machen, daß das Wort „Lebensraum" in der Bibel nicht vorkommt. A. - Das wäre eine Frage der Übersetzung. Ich persönlich entnehme das Wort „Lebensraum" einem hervorragenden theologischen Kommentar zur Schöpfungsgeschichte, nämlich dem III. Band der Dogmatik des hochangesehenen, mit Recht weltberühmten Baseler Theologen Prof. Dr. Karl Barth.[2] Aber wir wollen hier nicht um Worte streiten. In der Sache ist klar, daß nach der biblischen Schöpfungsgeschichte nur das feste Land die Wohnung, oder noch deutlicher gesagt: das Haus des Menschen ist. Das Meer dagegen, der Ozean, ist ein unheimliches Ungeheuer am Rande der bewohnten Welt, ein chaotisches Untier, eine große Schlange, ein Drache, ein Leviathan. [3] N. - Hochverehrter Herr Altmann, achten Sie doch bitte einmal auf ihre eigenen Worte und Bezeichnungen, die Sie da gebrauchen: auf der einen Seite nennen Sie die Erde das Haus des Menschen, auf der anderen sprechen Sie vom Meer als einem chaotischen Ungeheuer, einer Schlange, einem Drachen, einem Leviathan. Haus, Schlange, Drache, Leviathan, das sind doch alles handgreiflich mythische Bilder; sie tragen den Stempel der Unwissenschaftlichkeit auf der Stirn. Ich will Ihnen sagen, um was es sich bei dem biblischen Schöpfungsbericht handelt: um das mythische Weltbild einer terranen, d. h. wesentlich vom Lande her bestimmten Kultur. Das Alte Testament hat seinen Schöpfungsbericht von den Babyloniern übernommen, vielleicht auch noch von andern älteren Völkern oder Kulturen. Jedenfalls war deren Weltbild rein terran und nicht maritim. So erklärt sich die Vorstellung vom festen Land als einem Haus des Menschen und vom Meer als einem feindlichen Ungeheuer. Das ist im Grunde doch alles sehr einfach. A. - Jawohl, lieber Herr Neumeyer, das ist gewiß sehr einfach. Aber deshalb braucht es doch nicht falsch oder bedeutungslos zu sein. N. - Nein, aber es ist unwissenschaftlich und völlig überholt. Es ist antiquiert, ein Anachronismus, bestenfalls ein interessantes Museumsstück. Völker einer rein terranen Existenz, wie Viehzüchter oder Ackerbauern, denken in typischer Weise vom Boden her und haben vor dem Meer eine religiöse Scheu. Die meisten uns bekannten alten Kulturen sind terran und nicht maritim. Die alttestamentliche Angst vor dem Meer überrascht mich nicht im geringsten. Es würde mich aber interessieren, wie es in dieser Hinsicht mit dem Neuen Testament bestellt ist. Ich
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vermute, daß die Angst vor dem Meer im Neuen Testament nicht mehr so stark hervortritt. Der Apostel Paulus hat doch, soviel ich weiß, größere Seereisen im Mittelmeer gemacht. A. - Im Neuen Testament wandelt Christus auf dem Meer. Er hat den Leviathan bezwungen. Aber gerade daraus ergibt sich wieder, daß auch für das Neue Testament das Meer etwas Unheimliches und Böses ist. Im letzten Buch, in der Offenbarung des heiligen Johannes, wird am Schluß geschildert, wie die neue Erde aussieht, die von Sünden und Bosheit gereinigt ist. Es heißt im Kapitel 21 dieser Apokalypse des heiligen Johannes: ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde verging und das Meer ist nicht mehr. [4] Haben Sie gehört: das Meer ist nicht mehr! Auf der gereinigten und verklärten Erde gibt es keinen Ozean. Mit der Sünde und der Bosheit verschwindet auch das Meer. Das ist der Schluß des Neuen Testamentes. Vom Schöpfungsbericht des 1. Buches Moses bis zum Schluß der Offenbarung des heiligen Johannes enthält die Bibel den Gegensatz von Land und Meer. N. - Für mich ist auch diese Stelle in der Offenbarung des heiligen Johannes vollkommen klar. Es handelt sich um die alte mythische Angst, die der Landtreter vor dem Meere hat. Viehzüchter und Ackerbauern denken sich die Erde als ein Zelt oder ein Haus, in dem sie wohnen, mit Weideland oder einem Garten ringsherum. Das ist für sie die von Menschen bewohnbare Welt. Am Rande dieser bewohnbaren Welt brandet der Ozean, die furchtbare Weltschlange. Am Ende der Zeiten wird die Weltschlange getötet und es entsteht eine glückliche, von Krieg und Verbrechen befreite neue Erde, auf der es kein Meer mehr gibt. Das ist ein alter Traum; für Viehzüchter und Ackerbauern auch ein schöner Traum. In dem berühmten Gedicht eines großen römischen Dichters, in der 4. Ekloge des Virgil, hat dieser Traum ebenfalls seinen Ausdruck gefunden. Virgil meint, in jener glücklichen Endzeit eines ungestörten Friedens gäbe es vor allem keinen Seehandel mehr.[5] Ich könnte Ihnen noch viele weitere Beispiele nennen. Aber was soll das? Das sind doch alles nur ideologische Ausgeburten einer rein terranen Existenz; Hirten- und Bauernphantasie; Mythos - entschuldigen Sie - Dichtung, Poesie Rilke.
I. A. - Was bedeutet denn der Gegensatz von Land und Meer für Ihre rein wissenschaftliche Auffassung? N. - Wissenschaftlich finde ich den Gegensatz völlig antiquiert. Er ist ein Überbleibsel der alten Lehre von den vier Elementen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Eine primitive Naturphilosophie hatte sich diese vier Elemente als eine Art von Grundstoffen ausgedacht. Element heißt bekanntlich: ein mit unseren chemischen Methoden nicht weiter zerlegbarer oder auflösbarer Stoff. Heute weiß jedes Schul-
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kind, daß weder die Erde, noch das Wasser, noch die Luft, noch das Feuer ein Element ist. Schon zu Beginn unseres Jahrhunderts hatte die moderne Naturwissenschaft mehr als 90 ganz andere mit unseren chemischen Methoden nicht weiter auflösbare Stoffe entdeckt. A. - So also sieht die Sache wissenschaftlich aus. Und nun sehen Sie sich einmal die Weltgeschichte an. Die Weltgeschichte ist eine fortwährende Auseinandersetzung von Land- und Seemächten. Denken Sie an den 30jährigen Krieg zwischen Sparta und Athen, der mit dem Sieg der Landmacht Sparta endet; oder an den über 100jährigen Krieg zwischen Rom und Karthago, der wiederum mit dem Sieg der Landmacht, Rom, endet; oder schließlich an die über 300jährige Auseinandersetzung zwischen England und den europäischen Kontinentalstaaten - der Reihe nach Spanien, Holland, Frankreich und Deutschland - , eine Auseinandersetzung, die mit dem Sieg der Seemacht England endet. So sieht die Weltgeschichte aus. Ein großes geschichtliches Werk des französischen Admirals Castex trägt bezeichnenderweise den Titel: Das Meer gegen das Land, La mer contre la terre.[6] N. - Das ist das Buch eines Admirals. So kommt den Admirälen die Weltgeschichte vor. Für Admiräle ist die Weltgeschichte eine Geschichte von Seekriegen und Seeschlachten. Der französische Admiral Castex, der amerikanische Admiral Mahan, der deutsche Admiral Tirpitz: alles Marinefachleute, Ressortpolitiker. Kein Wunder, daß sie sich die Weltgeschichte von ihrem Job her denken. A. - Das tut in etwa mehr oder weniger jeder Mensch. N. - Schlimm genug, denn das ist unwissenschaftlich. A. - Ich will Sie nicht fragen, lieber Herr Neumeyer, wie Sie sich die Weltgeschichte denken. Chemie und Physik sind ja schließlich auch ein Job. Jedenfalls enthält der Gegensatz von Land und Meer auch naturwissenschaftliche Ingredienzien. Land und Meer und Luft sind verschiedene Aggregatzustände. Sie sind physikalisch, meteorologisch, geologisch und geographisch verschieden und bedeuten infolgedessen für die Lebewesen, die in ihrem Bereich leben, eine ganz verschiedene Umwelt. Das wiederum bewirkt biologische Gegensätze, die Sie wohl nicht leugnen können. Der Mensch ist ein Säugetier; er ist kein Fisch, der durch Kiemen atmet. Das müßte doch auch einen Naturwissenschaftler interessieren. N. - Selbstverständlich gibt es hier zahlreiche, insbesondere auch biologisch interessante Verschiedenheiten von terraner und maritimer Existenz, wobei wir Amphibien wie den Frosch, oder Abnormitäten wie den Wal beiseite lassen. Aus solchen biologischen Verschiedenheiten ergibt sich jedoch kein Gegensatz zwischen den Menschen, und vor allem keine feindliche Spannung zwischen Völkern und Mächten, keine Weltgeschichte mit Land- und Seekriegen. Zwischen den Tieren des Landes und denen des Meeres besteht keine natürliche Feindschaft; es besteht nicht einmal eine natürliche Spannung. Sie kümmern sich normalerweise nicht umeinander. Der Fisch bleibt im Wasser und das Landtier bleibt auf der Erde. Jeder weiß, wohin er gehört. Selbst innerhalb der Landtiere haben die großen Jäger unter
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ihnen - der Löwe, der Tiger, der Bär - ihre natürlichen Jagdbezirke; sie kommen sich gegenseitig nicht ins Gehege. Der Kampf um die Nahrung spielt sich hauptsächlich zwischen Lebewesen desselben Bereiches ab, nicht aber zwischen Land und Meer. Die großen Fische fressen bekanntlich die kleinen, und die Lebewesen des Landes oder der Luft machen es nicht viel besser. Für eine Feindschaft, die allgemein durch den Gegensatz von Land und Meer bestimmt wäre, ist hier überhaupt kein Raum. Ich weiß, daß Politiker und Historiker des 19. Jahrhunderts die Gegensätze zwischen Rußland und England als einen Kampf des Bären mit dem Walfisch bezeichnet haben.[7] Das ist reiner Unsinn. Kein Bär ist so instinktlos, sich auf den Kampf mit einem Wal einzulassen, und ebensowenig kämpft umgekehrt ein Wal mit einem Bären. A. - Auf den Menschen übertragen müßte diese saubere Trennung von Land und Meer dazu führen, daß Seekriege nur zwischen Seevölkern und Landkriege nur zwischen Landvölkern stattfinden. Merkwürdigerweise tritt das Gegenteil ein, wenn die weltgeschichtlichen Spannungen einen gewissen Intensitätsgrad erreicht haben. Nicht die Tiere, wohl aber die Menschen, und nur die Menschen, führen Land- und Seekriege miteinander. Immer, wenn die Feindschaft zwischen großen Mächten einen Höhepunkt erreicht hat, spielt sich die kriegerische Auseinandersetzung in beiden Bereichen zugleich ab und wird der Krieg auf beiden Seiten zum Land- und Seekrieg. Jede Macht ist gezwungen, dem Gegner in das andere Element hinein zu folgen. Wenn die Luft als dritte Dimension noch hinzukommt, wird der Krieg auf beiden Seiten auch zum Luftkrieg. Deshalb scheint es mir sinnvoll, hier immer noch von den Elementen Land und Meer zu sprechen. Nähert sich ein großer weltgeschichtlicher Gegensatz seinem Höhepunkt, dann werden auf beiden Seiten alle materiellen, seelischen und geistigen Kräfte bis zum Äußersten eingesetzt. Dann erstreckt sich der Kampf auf die gesamte Umwelt der beteiligten Mächte. Auch der elementare Gegensatz von Land und Meer wird dann in die Auseinandersetzung einbezogen. Der Krieg erscheint dann als der Krieg des Landes gegen das Meer und umgekehrt; mit andern Worten: als ein Krieg der Elemente gegeneinander. Sie brauchen ja nur die Augen zu öffnen und unsere eigene heutige Weltlage zu betrachten. Wir leben heute unter dem Druck einer globalen Spannung, eines Gegensatzes von Ost und West. Offensichtlich ist dieser heutige Gegensatz von Ost und West zugleich ein Gegensatz von Land und Meer. N. - Ost und West sind rein geographische Begriffe und kein vernünftiger Grund zur Feindschaft; Ost und West ergeben nicht einmal eine polare Spannung. Bekanntlich hat die Erde einen Nord- und einen Südpol, aber keinen Ost- und Westpol. Im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika sind Rußland und China der Westen. A. - Sehr gut. Ist nun deshalb die heutige Spannung zwischen Ost und West weniger wirklich? Und vor allem: liegen nicht tatsächlich auf der Seite des Ostens die riesigen Landmassen Rußlands und Chinas, und auf der Seite des Westens die ungeheuren Flächen der Weltmeere, des atlantischen und des pazifischen Ozeans?
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Ich habe nicht gesagt, der Gegensatz von Land und Meer sei der Grund zu der heutigen globalen Spannung von Ost und West. Aber wer über ihre tieferen Ursachen nachdenken will, kann doch nicht ignorieren, daß seit Jalta oder mindestens seit dem Atlantikpakt von 1949 eine elementare und globale Spannung vorliegt, die sich in dem Gegensatz der Elemente Land und Meer spiegelt und sich in weitem Maße mit ihm deckt. [8] N. - Was ist denn Ihrer Meinung nach der wahre oder tiefere Grund dieser heutigen, uns alle bedrückenden, globalen Spannung von Osten und Westen? A. - Ich will Ihnen zunächst einmal die Antwort eines bedeutenden englischen Wissenschaftlers geben, ohne mich mit ihr zu identifizieren. Es handelt sich um den großen Geographen Sir Haiford Mackinder, der seine Auffassung schon vor über 30 Jahren in einer glänzenden Schrift: Democratic Ideals and Reality, Demokratische Ideale und Wirklichkeit, 1919, ausgesprochen hat. [9] Für Mackinder ist die ungeheure Landmasse Asiens eine riesige Insel und das Herzland der Erde. Die menschliche Zivilisation entwickelt sich an den Küsten der Meere. Immer drängen - nach Mackinder - die großen Bevölkerungsmassen des barbarischen Herzlandes an die Küsten und suchen die Zivilisation zu überrennen. Nach diesem englischen Geographen wäre der Gegensatz von Land und Meer in seinem innersten Kern ein Gegensatz von Zivilisation und Barbarei, von Unfreiheit und Freiheit, wobei Zivilisation und Freiheit auf der Seite des Meeres und der Küsten ständen. N. - Das ist sehr spannend. Aber von Elementen würde ich hier nicht mehr reden. Das Meer ist heute nur noch ein Feld menschlicher Betätigung wie das Land oder die Luft auch. In den Zeiten der Segelschiffe war das anders. Damals waren die Schiffe monate- und jahrelang unterwegs auf hoher See und von jeder Verbindung mit dem Lande abgeschnitten. Da konnte man noch von einem Element sprechen. Heute dagegen ist jedes Schiff an jeder Stelle des Ozeans täglich und stündlich erreichbar. Schon dadurch hat sich im Vergleich mit der Segelschiffzeit die Welt des Meeres für den Menschen verändert; sie hat ihren elementaren Charakter verloren. Mir scheint: alles, was Sie hier an weltgeschichtlichen Phänomenen oder Konstruktionen heranziehen, einschließlich der höchst interessanten Theorie des englischen Geographen Mackinder, sind nur Erscheinungsformen eines geschichtlich gebundenen Weltbildes. A. - Vorsicht, lieber Herr Neumeyer! Schließlich ist Ihr eigenes Weltbild wahrscheinlich auch irgendwie an eine geschichtliche Situation gebunden. Auch die exakte Naturwissenschaft und selbst die entfesselte Technik stehen nicht außerhalb der Geschichte. Sie selbst, lieber Herr Neumeyer, haben noch vor wenigen Minuten die antiken Vorstellungen von Land und Meer als Anachronismus abgetan, als einen Traum und Mythos von Viehzüchtern und Ackerbauern. Glauben Sie vielleicht, daß Physiker, Chemiker und Techniker keine Träume hätten, keine Mythen produzierten und gegen Anachronismen immun wären? N. - Ach so. Ich merke, worauf Sie hinaus wollen, verehrter Herr Altmann. Sie wollen mir jetzt historisch kommen. Sie arbeiten jetzt mit dem sogenannten Ge-
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schichtssinn und mit geschichtlicher Dialektik. Das ist der berüchtigte sechste Sinn, den der geniale Unglücksrabe Hegel den armen Deutschen infiltriert hat. A. - Haben Sie denn nicht selbst vorhin mit diesem historischen Sinn gearbeitet, als Sie die antiken Vorstellungen von Land und Meer für anachronistisch erklärten? Anachronistisch, das heißt doch: nicht mehr zeit- und situationsgemäß. Sie selber wollen bestimmt nicht darauf verzichten, auf der Höhe unserer Zeit, d. h. zeit- und situationsgemäß zu sein.
II. F. - Verzeihen Sie, meine Herren, daß ich mich in diesem Augenblick in Ihr Gespräch einmische. Ich bin MacFuture. Ich habe Ihnen zugehört und habe versucht, Ihrem Disput über Land und Meer zu folgen. Bisher habe ich geschwiegen. Jetzt aber müssen Sie mir gestatten, daß ich mich einschalte. Ich finde Sie nämlich alle beide - sowohl Sie, verehrter Herr Altmann, mit Ihrem Geschichtssinn, aber auch Sie, lieber Herr Neumeyer, mit Ihrer doch noch ziemlich klassischen Naturwissenschaftlichkeit - also ich finde Sie, entschuldigen Sie, beide veraltet. Auch der Unterschied von Natur und Geschichte ist ja längst überholt. Wir leben nämlich seit über zehn Jahren im Zeitalter der Atomenergie. Das haben Sie wohl beide noch nicht so recht mitbekommen. Unsere sämtlichen Vorstellungen von Raum und Zeit, von Natur und Geschichte sind nuklear verändert. Und was die sogenannten Elemente angeht - ganz gleichgültig, wie Sie das Wort verwenden - , so kann ich Ihnen sagen, daß wir heute bereits soweit sind, künstliche Elemente herzustellen. Künstliche Elemente, stellen Sie sich das einmal vor! Da schmelzen alle Ihre schönen Unterscheidungen von Land und Meer, terran und maritim, Natur und Geschichte, wie Fett im glühenden Ofen. A. - Herzlich willkommen, lieber MacFuture! Sie greifen im richtigen Augenblick ein. Wunderbar, daß Sie uns auf die total veränderte Situation der Menschheit hinweisen und unser Gespräch auf eine andere Ebene überführen. Unsere Fragen werden dadurch zwar nicht gelöst, aber doch abgelöst. Wir hätten jetzt nur noch zu begreifen, daß wir ganz neue Fragen stellen müssen und müßten darauf achten, die neuen Fragen richtig zu erkennen. Mit andern Worten: wir müßten uns fragen, was die neue Frage ist; wir ständen - wenn ich es einmal zugespitzt formulieren darf - vor der Frage nach einer Frage. F. - Das ist mir viel zu kompliziert. Ich bin für Vereinfachung und Entflechtung. Frage hin, Frage her. Es handelt sich um simple Fakten. Wer nicht begriffen hat, wohin die Reise geht, verliert den Anschluß und kommt einfach nicht mehr mit. Allerdings gibt es Menschen, die das Zeitalter der Atomenergie erst dann begreifen, wenn ihnen eine Wasserstoffbombe auf den Kopf fällt. N. - Um Gottes Willen, MacFuture! Sie wollen uns doch hoffentlich nicht dadurch aufklären, daß Sie mit Atombomben kommen? Ich bin, wie Sie bemerkt
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haben werden, ein wissenschaftlich denkender Mensch und begrüße jeden Fortschritt. Aber für diese Art von Argumentation kann ich mich nicht begeistern. Es muß immer etwas übrig bleiben, was menschlich ist. Es gibt unübersteigliche moralische Grenzen für jedes menschliche Tun, auch - wie ich ausdrücklich hinzufügen möchte - für die Wissenschaft. F. - Selbstverständlich halten wir uns streng an die Normen der Moral. Aber wollen Sie deshalb der freien wissenschaftlichen Forschung Grenzen auferlegen? Das wäre doch das Ende unserer Zivilisation! Da hätten wir gleich im tiefsten Mittelalter bleiben können. Nein, meine Herren, die Freiheit der Forschung ist heilig und grenzenlos. N. - Gerechter Himmel! Ich bin doch selber Wissenschaftler und bin wahrhaftig der Letzte, der die bedingungslose Freiheit der Forschung antasten möchte. Das hieße ja, den Ast absägen, auf dem ich sitze. Die Forschung darf in keiner Weise beschränkt werden. Ich dachte nur an gewisse Auswirkungen, an die Ausführung gewisser Erfindungen und an Sicherungen gegen Mißbrauch. F. - Das versteht sich von selbst, Herr Neumeyer, Mißbrauch wird rücksichtslos verhindert. Es wäre ja unglaublich, wenn jeder X-Beliebige mit Explosivstoffen hantieren dürfte. Das ist klar. Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Das sind Probleme der Sicherheit, die wir hier besser ausklammern. Ich wollte jetzt nur Ihr Gespräch über Land und Meer aufs Laufende bringen. Sehen Sie denn nicht, daß Menschen und Erde, Land und Meer, Luft und Feuer sich geändert haben? Jedes Schulkind weiß doch, wie lächerlich klein unsere Erde geworden ist und wie die Kräfte des Menschen sich ins Unendliche steigern. Mit Hilfe unserer Maschinen bewirken wir Leistungen und Geschwindigkeiten, die jedes menschliche Sinnesvermögen und jede Muskelkraft überbieten. Mit Hilfe unserer Apparaturen berechnen wir Zahlen und Zahlenreihen, die über die Kapazität eines menschlichen Gehirns hinausgehen. Wir befinden uns also längst in einer neuen Welt, in einem Jenseits, wenn Sie so wollen. Sie haben es nur noch nicht gemerkt. N. - Ich als Wissenschaftler muß Ihnen vollkommen Recht geben, MacFuture. A. - Und ich als der Mann mit dem historischen Sinn muß noch eine Frage stellen. F. - Um Gottes Willen, hoffentlich nicht die eben erwähnte Frage nach der Frage. A. - Leider Gottes eben diese Frage nach der großen Frage. F. - Da versagt mein Gehirn. A. - Lassen Sie sich doch einen kybernetischen Apparat bauen, der die Frage für Sie begreift und beantwortet. N. - Können Sie uns diese Frage nicht ersparen, verehrter Herr Altmann? Wäre es nicht richtiger, wenn wir jetzt an die Lösung praktischer Aufgaben herangingen? Öffnen sich nicht tatsächlich neue unendliche Räume im Kosmos? Wir grei-
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fen doch tatsächlich schon in die Stratosphäre hinein. Wir kennen heute schon den Mond so genau, daß wir bereits Erhebungen von 30 m dort unterscheiden können. Ständen dort z. B. Pyramiden oder Wolkenkratzer oder der Kölner Dom, so würden wir sie deutlich sehen. Ungeahnte weitere Entdeckungen stehen bevor. Wollen Sie sich einem solchen Aufruf einer neuen Welt versagen? Ihr Geschichtssinn in Ehren, verehrter Herr Altmann, aber das geschichtliche Wissen darf einen nicht blind machen, wenn eine neue Welt sich öffnet.
III.
A. - Was ist denn hier eigentlich neu? Und wer ist hier blind? Das wäre noch einen Augenblick zu prüfen. Darf ich mir also noch eine Frage erlauben? F. - Wenn es nicht schon wieder Ihre Frage nach der Frage ist. A. - Soweit ist es noch nicht. Ich will auf unsere heutige gegenwärtige Weltlage zurückkommen, auf den Gegensatz von Ost und West, der offensichtlich zugleich ein Gegensatz von Land und Meer ist. Was steckt denn, Ihrer Meinung nach, MacFuture, hinter diesem Welt-Gegensatz von heute? Was ist der Kern des globalen Dualismus, der uns alle so bedrückt? F. - Das kann ich Ihnen sagen. Bei dem heutigen globalen Gegensatz von Ost und West handelt es sich um nichts anderes, als um verschiedene Stufen und Grade der technischen Industrialisierung. Der Westen mit seinen maritimen Völkern ist technisch und industriell voraus. Das ist alles. Es handelt sich um die industrielle Revolution und den Fortschritt der Technik. Im maritimen Westen ist die industrielle Revolution weiter fortgeschritten als im terranen Osten. A. - Das scheint mir auch so. Wir haben demnach eine gute gemeinsame Basis für unsere weitere Diskussion und bleiben am besten bei dem Thema: industrielle Revolution und technischer Fortschritt. Dabei müssen wir uns hüten, in den fürchterlichen und fruchtlosen Streit über Wert oder Unwert der Technik zu geraten, der heute herrscht. Sie wissen: manche verdammen die Technik und erklären sie für Unheil und Teufels werk; andere rühmen sie und halten sie für einen Weg zum Paradies. Diesen ganzen chaotischen Streit lassen wir besser beiseite. Statt dessen fragen wir in aller Sachlichkeit: Woher stammt diese industrielle Revolution, die unser Schicksal ist? Was ist ihr Ursprung und ihre Heimat? Ihr Ansatz und ihr innerster Antrieb? N. - Woher die industrielle Revolution stammt, wissen wir alle. Sie stammt aus dem England des 18. Jahrhunderts. Die Daten finden sich in allen Schulbüchern: erster Koksofen 1735, Gußstahl 1740, Dampfmaschine 1768, erste moderne Fabrik in Nottingham 1769, Spinnmaschine 1770, mechanischer Webstuhl 1786, usw. bis zur Dampflokomotive 1825.
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A. - Keine Frage, die industrielle Revolution stammt aus England. [10] Dabei scheint es mir sehr wichtig zu sein, daß sie von der Insel England stammt. N. - Wollen Sie schon wieder Geopolitik treiben? Was hat das mit der Insel zu tun? Es kann reiner Zufall sein, daß die industrielle Revolution auf einer Insel entstanden ist. A. - Ich meine nicht irgendeine Insel. Es gibt tausend Inseln, auf denen keine industrielle Revolution entstanden ist. Sizilien z. B. ist auch eine Insel, sogar mit alten Schwefelgruben. Es muß mit der Insel England seine besondere geschichtliche Bewandtnis haben, wenn die industrielle Revolution gerade dort und gerade im 18. Jahrhundert entstanden ist. Ich will Ihnen auch gleich sagen, worin die geschichtliche Besonderheit dieser Insel England im 18. Jahrhundert bestand und was ihre Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit ausmachte. Die Insel England, auf der die industrielle Revolution entstanden ist, war wirklich keine beliebige Insel. Sie hatte eine ganz bestimmte geschichtliche Entwicklung vollzogen und einen erstaunlichen Schritt getan. Sie war nämlich in den beiden unmittelbar vorangehenden Jahrhunderten von einer terranen zu einer maritimen Existenz übergegangen. N. - Die Engländer haben doch wohl auch schon im Mittelalter Schiffahrt getrieben? A. - Natürlich haben sie das, allerdings viel weniger als manche anderen Völker, weniger als die Portugiesen, die Basken, die Venetianer oder die Hanse. Bis zum 16. Jahrhundert war die Insel England nicht mehr als ein abgesprengtes Stück des europäischen Kontinents, mit dem Gesicht zum festen Land. Noch im 15. Jahrhundert haben die englischen Ritter in Frankreich gute Beute gemacht, wie die Ritter anderer Länder auch. Denken Sie nur an die Zeit der Jungfrau von Orleans! Bis zum 16. Jahrhundert waren die Engländer ein Volk von Schafzüchtern, die ihre Wolle nach Flandern verkauften, wo sie zu Tuch weiterverarbeitet wurde. Und dieses Volk von Schafzüchtern hat sich nun im 16. und 17. Jahrhundert in ein Volk von Seeschäumern verwandelt. Jetzt wendet die Insel ihr Gesicht vom Kontinent weg und sieht auf die großen Weltmeere hinaus. Sie entankert sich und wird zum Machtträger eines ozeanischen Weltreiches. N. - Diese Entwicklung Englands zur größten Seemacht der Welt hat über zweihundert Jahre gebraucht. Ich zweifle daran, daß die meisten Engländer dabei planmäßig gehandelt haben. A. - Das mag wohl sein. Der große englische Historiker Seeley hat bekanntlich sogar gesagt: In einem Anfall von Geistesabwesenheit haben wir die Welt eroberten] Aber machen Sie das einmal nach! Wir sprechen hier von dem entscheidenden Ansatz zu der geschichtlichen Epoche, die eine industrielle Revolution zum Inhalt hat. Die Engländer haben sich verhältnismäßig spät, nämlich erst seit 1570, mit Erfolg in das Zeitalter der großen Entdeckungen eingeschaltet. Sie haben sich auch erst spät an den großen Landnahmen in Amerika und Asien beteiligt. Aber sie haben trotzdem alle europäischen Rivalen überflügelt: die Portugiesen, 36 Staat, Großraum, Nomos
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die Spanier, die Holländer und die Franzosen und vor allem: die Engländer allein haben die große Seenahme vollzogen; sie allein haben die Herrschaft über die Weltmeere erreicht. N. - War das nun Zufall oder Verdienst oder was war das? A. - Es war trotz der eben zitierten „Geistesabwesenheit" kein Zufall und auch nicht unverdient. Doch war es kein Verdienst in dem Sinne, als wären die Engländer des 16. und 17. Jahrhunderts moralisch bessere oder intellektuell höherstehende Menschen gewesen als ihre Rivalen, die Portugiesen, Spanier, Holländer und Franzosen dieser Zeit. Nur haben sie etwas zustandegebracht, was keiner dieser europäischen Rivalen zustandebrachte: sie haben den geschichtlichen Anruf der Zeit vernommen und sind ihm gefolgt. N. - Und was war dieser Anruf der Zeit? A. - Es war der Anruf der sich öffnenden Weltozeane. Das unterscheidet die Engländer des 17. Jahrhunderts von allen den seefahrenden Völkern, die in einem Binnenmeere geblieben sind, die sich nicht auf den Ozean hinausgewagt haben, also z. B. von den alten Griechen, die - wie Plato etwas gehässig von ihnen sagt - , wie Frösche an der Küste liegen, oder von den Venetianern. Diese blieben thalassisch. Die Engländer wurden ozeanisch. Damals, im Zeitalter der großen europäischen Entdeckungen haben viele tüchtige und sogar großartige Völker den Anruf des sich öffnenden Ozeans entweder überhaupt nicht vernommen, oder sie sind ihm nicht gefolgt, oder sie sind ihm gefolgt und schließlich doch auf der Strecke geblieben. Die Spanier eroberten einen ganzen überseeischen Kontinent, aber sie erschöpften sich in dieser großen Landnahme; sie wurden kein ozeanisches Seevolk; sie blieben auf dem Boden ihrer überlieferten terranen Existenz. Andere, wie die Portugiesen und später die Holländer, sind dem Anruf der sich öffnenden Ozeane gefolgt, aber ihre Basis war zu schmal und die endgültige Lösung vom Kontinent ist ihnen nicht gelungen. Besonders tragisch ist hier die Geschichte Frankreichs. Keiner hat den Ruf der neuen Ozeane deutlicher vernommen als französische Seefahrer, keiner ist ihm kühner gefolgt. Aber Frankreich hat sich im 17. Jahrhundert für den römischen Katholizismus entschieden, und das hieß damals: für das Land und die Erde. Alle europäischen Entdecker haben nur Land genommen. England hat die See genommen. Nur England hat den großen Sprung gewagt und den Übergang vom Land zum Meer, von der terranen zu einer maritimen Existenz vollzogen.
IV. N. - Das Bild, das Sie uns vom Anruf der sich öffnenden Ozeane und vom Beginn unserer Epoche entworfen haben, beeindruckt mich sehr. Trotzdem ist die eigentliche Frage, das Problem der industriellen Revolution noch ungelöst. Sie dürfen nicht vergessen, Herr Altmann, daß damals im Zeitalter der Entdeckungen
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auch ein Anruf des Landes ergangen ist. Damals, im 16. und 17. Jahrhundert, öffneten sich nicht nur die Ozeane, sondern auch die Länder und Kontinente. A. - Gut, daß Sie daran erinnern, Herr Neumeyer. In diesem doppelten Anruf von Meer und Land äußert sich schon der erste Keim des heutigen Welt-Dualismus von Land und Meer und zeigt sich schon die elementare Verschiedenheit von Land und Meer. Die Engländer nahmen den Ozean; die Russen nahmen von Moskau aus Sibirien und vollzogen eine rein terrane Expansion. Aber wie merkwürdig: auf der Basis dieser riesigen russischen Landnahme ist keine industrielle Revolution entstanden. Die industrielle Revolution entsteht auf der Insel England, einer Insel, deren geschichtliche Situation ganz unvergleichbar geworden war, weil sie den Schritt zur maritimen Existenz getan hatte. N. - Das finde ich einfach phantastisch! Warum hätte die industrielle Revolution nicht ebensogut auf dem Kontinent enstehen können? A. - Dieses Ihr „hätte" und dieses Ihr „ebensogut" finde ich weit mehr phantastisch. Es gibt allerdings Menschen und sogar berühmte Historiker, die einem genau sagen wollen, was geschehen wäre, wenn dieses oder jenes anders gekommen wäre, wenn Friedrich der Große z. B. die Kaiserin Maria Theresia geheiratet hätte, oder wenn Napoleon die Schlacht bei Waterloo gewonnen hätte oder wenn der Winter 1941 nicht so furchtbar kalt gewesen wäre und so weiter. Solche irrealen Sätze scheinen mir phantastisch. [12] Die großen geschichtlichen Ereignisse sind einmalig, unwiderruflich und unwiederholbar. Eine geschichtliche Wahrheit ist nur einmal wahr. N. - Warum sollte denn eine industrielle Revolution nicht überall entstehen können? A. - Wir sprechen konkret von der industriellen Revolution, die unser heutiges Schicksal ist. Sie konnte nirgendwo anders als in dem England des 18. Jahrhunderts entstehen. Eine industrielle Revolution bedeutet nämlich die Entfesselung des technischen Fortschritts, und die Entfesselung des technischen Fortschritts ist nur aus einer maritimen Existenz heraus verständlich; in ihr ist sie bis zu einem gewissen Grade sogar sinnvoll. Technische Erfindungen sind überall und zu allen Zeiten gemacht worden. Die technische Begabung der Engländer war nicht größer als die anderer Völker auch. Es handelt sich immer nur darum, was aus der technischen Erfindung gemacht wird, und das hängt davon ab, in welchen Rahmen, das heißt: in welche konkrete Ordnung die technische Erfindung hineinfällt. Innerhalb einer maritimen Existenz entwickeln sich die technischen Erfindungen ungehemmter und freier, als wenn sie in die festen Ordnungen einer terranen Existenz hineinfallen und von ihnen erfaßt und eingefügt werden. Die Chinesen haben das Schießpulver erfunden; sie waren in keiner Weise dümmer als die Europäer, die es ebenfalls erfunden haben. Aber in dem freien Rahmen der rein terranen Ordnung des damaligen China brachte die Erfindung des Schießpulvers es nur bis zu einer Verwendung als Spiel und Feuerwerk. In Europa brachte sie es bis zu den Erfindungen 36*
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Alfred Nobels und seiner Nachfolger. Die Engländer, die im 18. Jahrhundert alle jene Erfindungen machten, die zur industriellen Revolution geführt haben - Koksofen, Gußstahl, Dampfmaschine, Spinnmaschine usw. - waren keineswegs genialer als die Menschen anderer Zeiten und anderer terran gebliebener Länder, die manche von jenen Erfindungen des 18. Jahrhunderts ebenfalls schon gemacht hatten. Technische Erfindungen sind keine Offenbarungen eines geheimnisvollen höheren Geistes. Sie fallen in ihre Zeit hinein. Sie gehen unter oder entwickeln sich, je nach der konkreten menschlichen Gesamtexistenz, in die sie hineinfallen. Ich will also sagen: Die Erfindungen, mit denen die industrielle Revolution einsetzt, konnten nur dort zum Ansatz einer industriellen Revolution werden, wo der Schritt zur maritimen Existenz getan war. N. - Im Falle England leuchtet mir das ein. Aber ich sehe noch nicht die allgemeine Notwendigkeit dieses Zusammenhanges von entfesselter Technik und maritimer Existenz. A. - Da berühren Sie ein unermeßliches Thema. Ich muß mich heute damit begnügen, Ihnen folgendes zu sagen: Mittelpunkt und Kern einer terranen Existenz mit allen ihren konkreten Ordnungen - ist das Haus. Haus und Eigentum, Ehe, Familie und Erbrecht, alles das bildet sich auf der Grundlage eines terranen Daseins, insbesondere des Ackerbaues. Auch der Bauer, wie wir ihn nennen, hat seinen Namen nicht etwa von der Arbeit des Bauens oder des Acker-Bebauens. Der Bauer heißt nach dem Bau, d. h. dem Gebäude, das ihm gehört und zu dem er gehört. Im Kern der terranen Existenz steht also das Haus. Im Kern einer maritimen Existenz dagegen fahrt das Schiff, das schon in sich selbst viel mehr und viel intensiver ein technisches Mittel ist als das Haus. Das Haus ist Ruhe, das Schiff ist Bewegung. Auch der Raum, in dem das Schiff sich bewegt, ist ein anderer Raum als die Landschaft, in der das Haus steht. Das Schiff hat infolgedessen eine andere Umwelt und einen anderen Horizont, die Menschen auf dem Schiff haben eine andere Art sozialer Beziehungen sowohl zueinander wie zu ihrer Außenwelt. Sie haben ein wesentlich anderes Verhältnis auch zur Natur und vor allem zu den Tieren. Der terrane Mensch zähmt und domestiziert Tiere, Elefant, Kamel, Pferd, Hund, Katze, Ochs, Esel und alles was sein ist. Die Fische dagegen werden nicht gezähmt, sondern nur verspeist. N. - Sie reißen einen Abgrund auf, verehrter Herr Altmann. A. - Verzeihen Sie bitte. Ich habe mich hinreißen lassen, aus der abgründigen Fülle der Verschiedenheiten terraner und maritimer Existenz einige Beispiele zu nennen. Wir wollten uns nur darüber klar werden, warum die industrielle Revolution mit ihrer entfesselten Technik einer maritimen Existenz zugeordnet ist. Die terrane Ordnung, in deren Mittelpunkt das Haus steht, hat notwendigerweise ein fundamental anderes Verhältnis zur Technik als eine Existenzweise, in deren Zentrum ein Schiff fährt. Eine Verabsolutierung der Technik und des technischen Fortschritts, die Gleichsetzung von technischem Fortschritt und Aufstieg überhaupt, kurz, alles, was sich in dem Schlagwort „entfesselte Technik" zusammenfassen
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läßt, entwickelt sich nur unter der Voraussetzung, nur auf dem Nährboden und in dem Klima einer maritimen Existenz. Indem die Insel England dem Anruf der sich öffnenden Weltozeane folgte und den Schritt zu einer maritimen Existenz vollzog, gab sie eine großartige geschichtliche Antwort auf den geschichtlichen Anruf des Zeitalters der Entdeckungen. Zugleich aber schuf sie die Voraussetzung der industriellen Revolution und den Anfang der Epoche, deren Problematik wir heute erleben. N. - Ich glaube zu verstehen, was Sie meinen und was die spezifische Besonderheit einer maritimen Existenz für Ihre Auffassung der industriellen Revolution bedeutet. Habe ich Sie richtig verstanden, wenn ich Ihre Konstruktion eines geschichtlichen Anrufs mit Arnold Toynbees Methode des Challenge in Verbindung bringe? Toynbee beschreibt über zwanzig verschiedene Zivilisationen oder Kulturen in der Weise, daß er nach der Herausforderung fragt, nach dem Challenge, wie er es nennt, der in einer bestimmten geschichtlichen Situation ergeht und auf den die verschiedenen Kulturen bestimmte Antworten gegeben haben. A. - Das trifft durchaus zu, Herr Neumeyer. Eigentlich habe ich überhaupt nichts anderes getan, als Toynbee beim Wort genommen, oder vielmehr: ich habe ihn bei seiner Methode genommen. Aber ich bleibe konkret und frage nicht nach allen möglichen Kulturen und Epochen. Meine Frage richtet sich nur auf die eine konkrete Frage, deren Beantwortung unsere heutige Epoche der industriellen Revolution geschichtlich erklärt. Das ist die Frage nach dem Anruf oder - wenn Sie wollen - dem Challenge der industriellen Revolution. Diese Frage finde ich wichtiger und aufregender, als alle Fragen nach früheren Anrufen früherer Epochen, etwa die Frage, auf welchen Challenge die ägyptische Kultur mit ihren Pyramiden geantwortet hat oder eine der anderen über zwanzig Kulturen, die Toynbee beschreibt. Ich gebe Ihnen auch eine klare, konkrete Antwort auf diese unsere große Frage nach der Frage: Die industrielle Revolution ist das folgerichtige zweite Stadium eines Übergangs zur maritimen Existenz, und dieser Übergang zur maritimen Existenz war die große geschichtliche Antwort der Insel England auf die Frage oder die Herausforderung oder den Challenge - wie Sie wollen - der sich öffnenden Weltozeane. N. - Wie interpretiert denn Toynbee selbst die industrielle Revolution und die entfesselte Technik? Er als Engländer und Historiker müßte es eigentlich am besten wissen. Diese Frage müßte ihm eigentlich näher liegen als die Frage nach dem Challenge der Zivilisation der Ägypter oder der Hethiter und Azteken. A. - Hören Sie, was Toynbee wörtlich sagt: „Die moderne Technik", sagt er, „ist ein gegen Ende des 17. Jahrhunderts von unserer Kultur abgelöster Splitter".[13] Haben Sie es gehört? Ein abgelöster Splitter! In Wirklichkeit hat nicht die Technik sich abgelöst, und am allerwenigsten wie ein Splitter. In Wirklichkeit hat eine ganze Insel sich vom Festland abgelöst und den Schritt zur maritimen Existenz getan; dem folgte dann die industrielle Revolution und die Entfesselung des technischen Fortschritts. Damit habe ich Ihnen die Antwort auf die Frage nach der großen Fra-
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ge gegeben und habe Ihnen gesagt, worauf die industrielle Revolution antwortet: sie antwortet auf die große Frage, auf den Anruf oder den Challenge, der sich im 17. Jahrhundert erhoben hatte; sie ist ein Teil der Antwort, die England auf den Anruf der Weltozeane gegeben hat, als diese sich im Zeitalter der Entdeckungen den Menschen öffneten.
V. F. - Das ist großartig, was Sie da sagen, verehrter Herr Altmann! Das ist genau dasselbe, was ich sage. Wir sind vollkommen einer Meinung. Sehen Sie, damals im Zeitalter der großen Entdeckungen, brachen die wagemutigen Menschen auf und fanden eine neue Welt. Heute stehen wir in einem noch viel großartigeren Zeitalter der Entdeckungen als vor vierhundert Jahren. Wir brechen infolgedessen ebenfalls auf, aber in entsprechend größere Räume und mit entsprechend großartigeren Mitteln. Damals öffnete sich der Ozean auf dieser Erde; das waren große, aber immerhin noch an unsern kleinen Planeten gebundene, irdische Räume. Heute öffnen sich uns die unendlichen Räume des ganzen Kosmos. A. - Es wäre also sozusagen der Anruf des ganzen Kosmos, der heute an uns ergeht? F. - Klar. Daran ist kein Zweifel möglich. Ich sehe, daß das wahre Zeitalter der Entdeckungen jetzt überhaupt erst begonnen hat. Wieviel gewaltiger als damals ist heute der Anruf oder der Challenge, oder wie Sie das nennen! Wir klein waren damals die Räume, im Zeitalter der sogenannten Entdeckungen! Wie groß sind dagegen die Räume, die sich uns heute öffnen, sei es in der Stratosphäre, sei es jenseits der Stratosphäre im Weltall! A. - Mein lieber MacFuture, Sie sprechen von einem Anruf oder Challenge kosmischer Räume. Wieso denn öffnen sich uns heute kosmische Räume außerhalb der Erde in analoger Weise, wie sich den Menschen vor vierhundert Jahren auf dieser Erde die Weltozeane öffneten? Wo ist der Anruf oder der Challenge aus dem Kosmos? Ich höre und sehe nur, daß Sie mit den Mitteln und Methoden einer entfesselten Technik verzweifelt an die Räume des Kosmos anklopfen und mit aller Gewalt in sie hineinzudringen suchen. Aber ich höre und sehe nichts von einem Anruf oder einer Herausforderung, abgesehen höchstens von den fliegenden Untertassen. F. - Nun, erlauben Sie mal, Herr Altmann, ob Sie persönlich den Anruf hören, ist doch wohl nicht auschlaggebend. Auch damals, vor vierhundert Jahren, haben die meisten nicht viel gemerkt. Und vor allem: auch damals wurden die Entdeckten nicht vorher gefragt. Weder Columbus, noch Cortes, noch Pizarro, noch sonst ein Entdecker hat die Azteken in Mexiko, oder die Inkas in Peru, oder sonstwie die Indianer um ihre Zustimmung gebeten. Weder Columbus noch ein anderer Entdekker ist damals mit einem indianischen Visum in die neue Welt gereist. Entdeckun-
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gen werden immer ohne das Visum der Entdeckten gemacht. Und noch eine Möglichkeit sollten Sie sich mal überlegen, guter Herr Altmann: Columbus glaubte nach Indien zu fahren und entdeckte Amerika, einen völlig neuen Kontinent, von dessen Existenz vorher weder Columbus selbst, noch sonst jemand etwas geahnt hatte. So entdecken wir vielleicht jetzt auf dem Wege zum Mond oder zum Mars einen völlig neuen Weltkörper, von dem noch niemand etwas ahnt. Es gibt noch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als alle Historiker und sogar alle Nobelpreisträger zusammengenommen sich träumen lassen. A. - Das glaube ich Ihnen gerne. Aber es wird mir immer deutlicher, lieber MacFuture, daß Sie sich ihren Aufbruch in den Kosmos wie eine vergrößerte und gesteigerte Neuauflage der Entdeckung Amerikas vorstellen. F. - Finden Sie das vielleicht falsch? Ist das nicht gerade ein Beweis dafür, daß ich recht habe? Sie, verehrter Herr Altmann, mit Ihrem Geschichtssinn, müßten das doch am besten verstehen. A. - Mein Geschichtssinn bewahrt mich davor, auf Wiederholungen hereinzufallen. Sehen Sie, MacFuture, als wir Deutschen 1914 in den ersten Weltkrieg zogen, glaubten wir, es müßte wieder so gehen wie im Jahre 1870 / 71, bei unserem letzten Sieg. Als die belagerten Franzosen im Winter 1870 / 71 einen Ausfall aus Paris machten, glaubten sie, es müßte wieder so gehen wie in der großen Revolution von 1792. Als der amerikanische Staatssekretär Stimson im Jahre 1932 seine berühmte Stimson-Doktrin verkündete, glaubte er, es müßte wieder so gehen wie 1861 bei Beginn des Sezessionskrieges.[14] Der Mensch hat ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, seine letzte große geschichtliche Erfahrung zu verewigen. Gerade mein Geschichtssinn bewahrt mich vor solchen Reprisen. Mein Geschichtssinn bewährt sich vor allem darin, daß er mich an die unwiederholbare Einmaligkeit alles großen geschichtlichen Geschehens erinnert. Eine geschichtliche Wahrheit ist nur einmal wahr. Auch der geschichtliche Anruf, der Challenge, der eine neue Epoche einleitet, ist nur einmal wahr. Infolge dessen ist auch die geschichtliche Antwort, die auf den einmaligen Anruf gegeben wird, nur einmal wahr und nur einmal richtig. Es ist nicht immer leicht, das zu beachten, MacFuture. Die Prägung der Epoche, die von dem geschichtlichen Anruf und der richtigen Antwort ausgeht, ist allzu stark. Und vor allem: der Sieger wird nicht leicht begreifen, daß auch sein Sieg nur einmal wahr ist. F. - Wollen Sie damit vielleicht sagen, daß ich auf einen neuen geschichtlichen Anruf eine alte Antwort gebe? A. - Genau das will ich sagen, lieber MacFuture. Mit Ihrem Aufbruch in den Kosmos geben Sie eine alte Antwort. Der heutige Anruf ist mit dem des Zeitalters der sich öffnenden Ozeane nicht mehr identisch. Deshalb ist die Antwort, die damals gegeben wurde, für die heutige Situation nicht mehr richtig. Auch alle Weiterführungen oder Steigerungen dieser einstigen Antwort gehen irre und nützen nichts. Sie können die entfesselte Technik noch so verzweifelt in den Kosmos hineintreiben, Sie können meinetwegen versuchen, aus unserer Erde, aus dem Gestirn,
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auf dem wir wohnen, ein Raumschiff zu machen, auf dem Sie im Kosmos herumfahren. Das nützt Ihnen nichts gegenüber der Wirklichkeit eines neuen geschichtlichen Anrufs. F. - Dann sagen Sie uns doch, verehrter Herr Altmann, was der neue Anruf ist und was wir nun zu tun haben! N. - Lieber MacFuture, mit Ihrer Frage nach dem Anruf stellen Sie selber die Frage nach der großen Frage. Aber unsern guten Herrn Altmann dürfen Sie so etwas nicht fragen. Herr Altmann ist Historiker, und wie soll ein Historiker etwas von der Zukunft wissen? Sein Gesicht ist nach rückwärts gekehrt. Er weiß bestenfalls, wann eine Epoche zu Ende ist - wie die berühmte Eule der Minerva. A. - Machen Sie sich keine Sorgen um mich, meine Herren. Ich finde: es ist schon ein Gewinn, wenn wir auf neue Fragen nicht mit alten Antworten erwidern. Wir haben schon viel erreicht, wenn wir die gegenwärtige neue Welt nicht nach dem Schema der gestrigen neuen Welt konstruieren. Ich persönlich vermute den neuen Anruf nicht jenseits der Stratosphäre. Ich sehe, daß die entfesselte Technik den Menschen eher einschließt, als daß sie ihm neue Räume öffnet. Die moderne Technik ist nützlich und notwendig. Aber sie ist weit davon entfernt, heute noch die Antwort auf einen Anruf zu sein. Sie befriedigt immer neue, zum Teil von ihr selbst provozierte Bedürfnisse. Im übrigen ist sie selber in Frage gestellt und schon deshalb keine Antwort. Sie sagten vorhin, MacFuture, daß die moderne Technik unsere Erde lächerlich klein gemacht hat. Die neuen Räume, aus denen der neue Anruf kommt, müssen sich deshalb auf unserer Erde befinden und nicht draußen im Kosmos. Derjenige, dem es gelingt, die entfesselte Technik einzufangen, sie zu bändigen und in eine konkrete Ordnung einzufügen, hat eher eine Antwort auf den gegenwärtigen Anruf gegeben als derjenige, der mit den Mitteln einer entfesselten Technik auf dem Monde oder auf dem Mars zu landen sucht. Die Bändigung der entfesselten Technik, das wäre zum Beispiel die Tat eines neuen Herkules.[15] Aus dieser Richtung höre ich den neuen Anruf, den Challenge der Gegenwart. N. - Ich finde auch, lieber MacFuture, daß wir nicht auf den Mond oder den Mars zu fliegen brauchen. Es öffnen sich heute, dank der modernen Technik auf unserem Planeten selbst genug neue Räume, ohne daß wir gleich in den Kosmos hineinstoßen müßten. Vor allem öffnen sich uns die unermeßlichen Tiefen des Meeres. Das Meer bedeckt über drei Viertel des Globus. Bisher hat man immer nur an die Flächen, d. h. an die Oberflächen des Meeres gedacht. Aber in den beiden letzten Jahrzehnten ist uns auf dem Boden und in den Tiefen des Meeres unerwartet eine ganz neue Welt zugänglich geworden, mit ungeahnten neuen Lebewesen und unerschöpflichen Reichtümern. Ich höre den neuen Anruf aus der Tiefe des Meeres. F. - Verzeihen Sie, meine Herren, aber ich finde Sie alle beide, sowohl unsern verehrten Herrn Altmann mit seiner neuen Ordnung, aber auch Sie, lieber Herr Neumeyer, mit Ihrem Anruf aus der Tiefe des Meeres - ich finde Sie beide nicht großartig genug und viel zu bescheiden. Im Grunde kommt es mir überhaupt nicht
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mehr auf den Anruf an. Wir haben genug Antrieb, das ist wichtiger, sogar Antriebsüberschuß. Da fahre ich lieber zum Mond und zum Mars, als daß ich auf diesem kümmerlichen Planeten bliebe. N. - Nun, lieber MacFuture, da bleibt uns nichts übrig, als Ihnen eine glückliche Reise zu wünschen. F. - Und ich wünsche Ihnen, lieber Herr Neumeyer, einen glücklichen und ergebnisreichen Tauch in die Tiefsee. Aber was könnten wir beide denn unserm verehrten Herrn Altmann wünschen? A. - Vielen Dank, meine Herren. Mir brauchen Sie nichts Neues zu wünschen. Sie werden beide gemerkt haben, daß ich bei der Erde und auf der Erde bleibe. Für mich ist der Mensch ein Sohn der Erde, und er wird es bleiben, solange er Mensch bleibt. Ich möchte hoffen, daß auch Sie beide Menschen bleiben, Sie, MacFuture, auf dem Mond und dem Mars, und Sie, lieber Herr Neumeyer, in den Tiefen des Meeres. Aber ich darf Ihnen zum Abschied vielleicht noch sagen, wie mir unsere gemeinsame Situation auf unserer heutigen, von der entfesselten Technik bedrohten Erde vorkommt. Sie wissen sicher, wie der zweite Teil von Goethes Faust beginnt: Faust erwacht aus einer Nacht voll schrecklicher Träume und empfindet das Glück eines neuen Erdenmorgens, das ihm Trost und neue Kraft verleiht. So begrüßt er die neue Welt, die sich ihm jetzt öffnet, mit dem herrlichen Vers: Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig. [16] Ebenso glaube ich, daß der Mensch nach einer schweren Nacht der Bedrohung durch Atombomben und ähnliche Schrecken eines Morgens aufwacht und sich dankbar als den Sohn der festgegründeten Erde wiedererkennen wird. Fragen wir jetzt unseren verehrten Freund und Lehrer Don Camilo, wer von uns dreien Recht hat!
Anmerkungen des Herausgebers [1] Vgl. Schmitts Antwort an Kempner, vorl. Bd., FN [9], S. 465 ff. [2] K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, III, Die Lehre von der Schöpfung, Erster Teil, Zollikon-Zürich 1945, S. 158 ff. Durch Gottes Schöpfung und durch die Scheidung von Land und Meer entsteht der menschliche „Lebensraum" (S. 159, 160 u. ö.). [3] Barth, wie FN [2], S. 162, 164 - 167; sich u. a. beziehend auf Ps 74, 13 f., Arnos 9, 3; Jes. 21, 1. [4] Offenbarung des Johannes, 21, 1. Vgl. dazu: Th. Zahn, Die Offenbarung des Johannes, 1924 / 26, S. 597: „Das Meer schlechthin, also das große, alle von Menschen bewohnten Länder einschließende Weltmeer, das Sinnbild der heidnischen Völkerwelt, aus der unter anderem der Antichrist aufgestiegen ist, existiert in der neugeschaffenen Welt überhaupt nicht mehr." E. Reisner, Das Buch mit den sieben Siegeln, 1949, S. 189, weist darauf hin, daß der „sprachliche Gleichklang von „Und das Meer ist nicht mehr" mit „Und der Tod wird nicht
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mehr sein4' in Vers 4 . . . deutlich an(zeigt), daß das Meer mit dem Tod im engsten Zusammenhang steht". Über das Meer als Sitz der dunklen, dämonischen Kräfte in der Antike und als Symbol der bösen, das Schiff der Kirche bedrohenden Welt vgl. die zahlreichen Hinweise bei H. Rahner, Symbole der Kirche - Die Ekklesiologie der Väter, 1964, S. 272 - 303. Vgl. auch: O. Kaiser, Die mythische Bedeutung des Meeres in Ägypten, Ugarit und Israel, 2. Aufl. 1962, mit den Hinweisen zum Leviathan und zum Behemoth, bes. S. 74 ff., 145 - 152. - Das Verschwinden des Meeres in der Endzeit ist auch Thema verschiedener Apokryphen zum AT und NT, vgl.: E. Kautzsch (Hrsg.), Die Apokryphen und Pseudoepigraphen des Alten Testaments, II, 1900, S. 187, 205 (Sibyllen), S. 466 (Testament Levi), sowie: E. Weidinger (Hrsg.), Die Apokryphen - Verborgene Bücher der Bibel, 1992, S. 526 (Petrus-Apokalypse). Vgl. auch Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 13 f. [5] Vergil, Bucolica, 4. Gedicht, darin: „Wenn aber schließlich dich zum Mann die Jahre gefestigt, / Weicht der Schiffer sogar vom Meer, die fichtene Planke / Tauschet die Güter nicht mehr: trägt jegliches jegliche Scholle." (Dt. von Rudolf Alexander Schröder); vgl. auch Schmitt, wie FN [4]. Zur Schiffahrts- (und Zivilisationsfeindschaft) Vergils vgl. u. a.: M. Wiefrand Schiebe, Das ideale Dasein bei Tibull u. die Goldzeitkonzeption Vergils, Uppsala 1981, S. 23, 79, 85, 87; zur Bedeutung Vergils f. Schmitt: R. Faber, Die Verkündigung Vergils, Reich-Staat-Kirche. Zur Kritik der „politischen Theologie", 1977. Die Literatur zur Bedeutung der 4. Ekloge Vergils als Weissagung der Geburt Christi ist unüberschaubar, vgl. etwa: E. Norden, Die Geburt des Kindes, 1969 (zuerst 1924); G. Erdmann, Die Vorgeschichte des Lukas- und Matthäusevangeliums und Vergils vierte Ekloge, 1932; H. Hommel, Vergils „messianisches" Gedicht, in: Theologia Viatorum, Jb. d. Kirchl. Hochschule Berlin, 1950, S. 182-212. [6] Raoul Castex, Theories strategiques, V, La mer contre la terre, Paris 1935. Zu Castex vgl.: Staatliche Souveränität und freies Meer, vorl. Bd., S. 425, FN [14]. [7] Zwei „klassische" Kommentare zu diesem Konflikt: Fr. v. Martens, La Russie et rAngleterre dans l'Asie centrale, Revue de Droit Internationale et de Legislation Comparee, 1879, S. 227 - 301, der den „defensiven" Charakter der russischen Expansion betont und eine russisch-englische Interessensolidarität in Zentralasien aufgrund der gemeinsamen zivilisatorischen Aufgabe behauptet; Homer Lea, The Day of the Saxon, New York / London 1912, S. 100 - 118, der die Expansion Rußlands als Bedrohung Indiens deutet; vgl. auch: H. Gollwitzer, Geschichte d. weltpolitischen Denkens, II, 1982, S. 132 - 137. [8] Vgl. dazu eines der schon erwähnten Hauptwerke Trelles': El Pacto del Atläntico. La Tierra y el Mar, frente a frente, Madrid 1950. Zur Geschichte des russisch-amerikanischen Gegensatzes auch unter geopolitischen Gesichtspunkten: E. Hölzle, Rußland und Amerika. Aufbruch und Begegnung zweier Weltmächte, 1953; ders., Der Dualismus d. heutigen Weltreiche als geschichtl. Problem, HZ 188/1959, S. 566 - 93; ders., Geschichte der zweigeteilten Welt. Amerika und Rußland, 1961; ders., Die Revolution der zweigeteilten Welt. Eine Geschichte der Mächte 1905 - 1929, 1963. - Vizeadmiral Fr. Rüge, Seemacht und Sicherheit, 3. Aufl. 1968, schreibt S. 8: „Die NATO . . . ist das erste Bündnis in der Geschichte, das sich als Mittelpunkt ein Weltmeer gewählt hat." [9] Zu Mackinder vgl. vorl. Bd., Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, FN [6], S. 546 f. [10] Im Nachlaß Schmitts (HSTAD-RW 265 - 35) findet sich dazu ein 14-seitiges Typoskript seines Freundes Johannes Winckelmann (1990 - 1985), „Ein weiteres Kapitel über die
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Bedeutung des Gegensatzes von Land und Meer - Annotationes amicabiles", in dem die Thesen Schmitts zum Ursprung der industriellen Revolution aus der maritimen Existenz zurückgewiesen werden: weder seien die gedanklichen Grundlagen der wissenschaftlichen Entdekkungen in England gelegt noch die wichtigen Erfindungen dort getätigt worden; die Behauptung, die industrielle Revolution hätte nur auf der Insel England ingang kommen können, sei Geschichtsmetaphysik, usw. [11] John Robert Seeley (1834 - 1895), The Expansion of England (zuerst 1884), London 1897, S. 10: „We seem, as it were, to have conquered and peopled half the world in a fit of absence of mind." [12] Vgl. vorl. Bd., Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, FN [8], S. 548. [13] A. J. Toynbee, Die Welt und der Westen, 1953, S. 63. [14] Vgl. zur Stimson-Doktrin vorl. Bd., Die letzte globale Linie, FN [16], S. 449 f. [15] Zu den (auch) theologischen Implikationen dieser entfesselten Technik: Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht", 1916, S. 63 - 77; Ausg. 1991, S. 59 - 72. Dazu: G. Maschke, Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik, 1987, S. 76 ff. [16] Faust II, 1. Akt, Vers 4681: „Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig und atmest neu erquickt zu meinen Füßen". - In einem dem Herausgeber geschenkten lyposkript des vorl. Textes hat Schmitt hier hinzugefügt: „Postscriptum von 1980 (nach 30 Jahren) - Mit einem so schönen Schluss - einem echten Goethe - sogar Faust-Zitat - darf ich mich heute nicht mehr aus der Affaire ziehen".
Anhang des Herausgebers
Der Beitrag erschien erstmals in der vorliegenden Form in der Festschrift zum 70. Geburtstag von Camilo Barcia Trelles: Estudios de Derecho internacional - Homenaje al Profesor Camilo Barcia Trelles. Universidad de Santiago de Compostela, 1958, S. 263 - 282; mit Übernahme kleinerer Korrekturen Schmitts in: ders., Gespräch über die Macht/Gespräch über den Neuen Raum, Berlin 1994, S. 32 - 64. In spanischer Sprache, übersetzt von Schmitts Tochter Anima, erschien der Text in: Schmitt, Dialogos - Dialogo de los nuevos espacios / Dialogo sobre el poder y el acceso al poderoso, Madrid 1962, Institute de Estudios Politicos, S. 17 - 58, mit einem Vorwort Schmitts in span. Sprache, geschrieben im August 1961 in Galizien; in italienischer Sprache in: Schmitt, Terra e mare, a cura di Angelo Bolaffi, Mailand 1986, Giuffre Editore, S. 87 - 109. Schmitt befaßte sich spätestens ab 1953 in Vorträgen mit dem Thema; vgl. die Zeitungsberichte: Anonymus, Prof. Dr. Carl Schmitt glaubt nicht daran: Griff des Siegers nach dem Globus, Westfalenpost, 22. 10. 1953; A. Schulze Vellinghausen, Der Inselaffekt / Terrane und maritime Ängste - Zu einem Vortrag von Carl Schmitt, FAZ, 31. 10. 1953. Der vorliegende Text entstand 1954 / 55 und wurde mit einigen unwesentlichen Kürzungen und Veränderungen am 12. 4. 1955 im Abendstudio des Hessischen Rundfunks ausgestrahlt; der Redakteur war Heinz Friedrich. Unter dem Titel dieser Funksendung, „Der Aufbruch ins Weltall - Ein Gespräch zu dritt über die Bedeutung des Gegensatzes von Land und Meer" wurde der Dialog am 23. 6. 1955 in „Christ und Welt", mit einigen Kürzungen, veröffentlicht.
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Camilo Barcia Trelles, 1888 - 1977, darf als einer der bedeutendsten spanischen Völkerrechtler des Jahrhunderts angesehen werden; seine Arbeiten sind z. T. auch Beiträge zu einer Theorie der internationalen Beziehungen. Vgl. u. a. von ihm: El tratado de Versalles y sus antecedentes, Madrid 1920; La politica norte-americana exterior de la postguerra, Valladolid 1923; El imperialismo del petröleo y la paz mundial, Valladolid 1925; Francisco de Vitoria y la escuela moderna del Derecho internacional, Valladolid 1927; Doctrina de Monroe y cooperaciön internacional, Madrid 1931; La doctrine de Monroe dans son developpement historique, particulierement en ce qui concerne les relation interamericaines, Recueil des Cours, 1930 / II, S. 397 - 603; Las teorias internacionales de Francisco Suärez, Valladolid 1933; Derecho internacional espanola, Madrid 1939; Fernando Vazquez y el problema de la libertad de los mares, Barcelona 1940; El mundo internacional en la epoca de Graciän, Santiago de Compostela 1948; eine Sammlung seiner wichtigeren Essays bietet: Estudios de derecho de gentes y de politica internacional, Madrid 1948. In den 50er und 60er Jahren schrieb er hauptsächlich zur internationalen Politik; hier sind seine regelmäßigen Berichte in der „Revista de Estudios Polfticos" von Interesse. In deutscher Sprache liegen wohl nur 2 Aufsätze von ihm vor: Mit Washington oder Moskau? - Das Dilemma der Nachkriegswelt, Zeitschrift f. Geopolitik, 1 / 1953, S. 5 - 11; Johnson, de Gaulle und die augenblickliche Krise der NATO, in: Epirrhosis, Festgabe f. C. Schmitt, 1968,1, S. 357 - 373. Trelles* Überlegungen zur Problematik des Raumes und zur Beziehung von Land und Meer berühren sich stark mit denen Schmitts, vgl. s. Bücher: El Pacto del Atläntico, la tierra y el mar frente a frente, Madrid 1950, Instituto de Estudios Polfticos, 658 S.; El Problema de la Unidad del Mundo posbelico, Sao Paulo, Faculdade de Direito de la Universidade de Sao Paulo, 1953, 366 S.; El Problema de la Alteraciön del Equilibrio en el Mundo posbelico, ebd., 1955, gl. Verlag, 457 S. In all diesen Büchern geht Trelles, oft sehr ausführlich, auf Schmitts Thesen ein und plädiert wie dieser für die Schaffung einer Pluralität von Großräumen.
Nomos - Nähme - Name Mein Beitrag knüpft an das Macht-Kapitel an, das P. Erich Przywara in seinem großen Werk „Humanitas" (1952) veröffentlicht hat, ein Kapitel von unauslotbarer Tiefe.[l] Aus der Fülle der Themen und Stichworte greife ich den NOMOS heraus, durch dessen Erörterung der überwältigende Reichtum dieses Kapitels manchem Juristen, Nationalökonomen und Soziologen vielleicht eher zugänglich wird.
I.
Drei machtvolle Aussagen über die Macht tragen die Gedankenwelt des Kapitels. Zum ersten ist die Macht das „geheim unheimlich Letzte". Der Drang zum Geheimen und zum Geheimnis bestimmt die erste immanente Richtung jeder Macht, gleichgültig, welcher Regierungsformen oder Verwaltungsmethoden sie sich bedient. Kein Machthaber entgeht diesem Zwang, der im gleichen Maße und Grade stärker wird, wie die Macht selber stärker und wirklicher wird. All power hinds , sagt Carl Joachim Friedrich mit einem fast numinosen Satz. [2] Real power begins where secrecy begins, schreibt Hannah Arendt in ihrem Buch „The Burden of our Time" (p. 386, London 1951). Zahlreiche Exegesen und Kommentare zu der biblischen Erzählung von den drei Versuchungen Christi (Math 4 , 1 - 1 1 ; Luk 4 , 1 13) bemerken, daß die Versuchung, die in dem Angebot aller Reiche dieser Welt liegt, in der Entlegenheit eines hohen Berges stattfindet. Es gehört zu den Geheimnissen der innerweltlichen Askese der Puritaner, wie Max Weber sie schildert, daß sie den Prädestinationsgedanken in den Bewährungsgedanken umschalten und in der Stille dieses Vorganges den Weg zur Macht, zur Herrschaft über die Welt finden konnten. Jeder Askese fließt Macht zu, ebenso wie umgekehrt jeder Machthaber durch seine Macht zu unerwarteten Formen innerweltlicher Askese gezwungen werden kann. [2a] Das Zweite nennt P. Przywara das „unweigerlich Zentrale" jeder Macht. Es ergibt sich aus dem Zwang zur Selbstbehauptung als Mittelpunkt einer täglich und stündlich neu zu gewinnenden, neu zu verteidigenden und neu auszubauenden Position. Damit ist eine Dialektik gegeben, die den Machthaber zwingt, immer neue Sicherungen um sich herum zu organisieren, immer neue Vorräume, Korridore und Zugänge zu schaffen, um dieser Mittelpunkt zu bleiben. Die unentrinnbare, echte Dialektik besteht darin, daß er sich gerade durch solche Sicherungen von der Welt, die er beherrscht, distanziert und isoliert. Er wird durch seine Umgebung in eine Stratosphäre hineingeschraubt, in der er nur noch diejenigen erreicht, die ihn indi-
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rekt beherrschen, während er alle übrigen Menschen, über die er Macht ausübt, nicht mehr erreicht und auch sie ihn nicht mehr erreichen. Ich habe diese Dialektik menschlicher Macht und Ohnmacht in meinem „Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber" (1954) entwickelt. Beim Dritten soll unser Beitrag ansetzen. Der Richtung ins Geheime und Verborgene entspricht eine Gegenrichtung der Macht, die zur Sichtbarkeit und Öffentlichkeit drängt. R Przywara spricht hier von einer „platonischen" Notwendigkeit, in Politeia und Nomos zu münden und sich zu krönen. Die Macht erscheint dann in vielen Gestalten als Archie und als Kratie. Archie heißt: vom Ursprung her; Kratie ist Macht durch Übermächtigung und Inbesitznahme. P. Przywara weist (in der Zeitschrift „Besinnung" 1955, S. 11) daraufhin, daß Piatons Aristokratie und Demokratie, also zwei Kratien, eine anthropologische Macht durch Macht-Nahme bezeichnen, während die beiden Archien, Monarchie und Oligarchie eine theologische Begründung, nämlich eine monotheistisch oder polytheistisch gott-entsprungene Macht enthalten. [3] Mit seinem späten Buch über die Nomoi kommt Piaton zu einer Mitte zwischen Monarchie und Demokratie. Das Ergebnis ist eine Polis - das Wort „Staat" vermeiden wir lieber, weil es zu viele Projektionen aus einem spezifischen neuzeitlichen Gebilde veranlaßt - , ein Gemeinwesen, das allen ein Existenz-Minimum garantiert, aber nicht nach der Art eines auf Massendaseins-Vorsorge angelegten, modernen Sozialverwaltungs-Systems, dessen Legitimität sich in der Garantie eines komfortablen Lebensstandards mit hohem Konsum-Niveau erschöpft. Hier deutet sich schon an, daß wir neben den Archien und Kratien noch ein weiteres im Auge behalten müssen: den Nomos. Davon soll hier die Rede sein.
II. Der Nomos geht durch Archien und Kratien hindurch. Keine von ihnen kommt ohne einen Nomos aus. Wenn die Tyrannis bei Herodot, Xenophon und Piaton als A-Nomia bezeichnet wird, so steckt darin schon etwas Propaganda und besagt bei diesen Lakonier-Freunden vor allem, daß der Tyrann einen bestimmten Nomos zerstört. Die Wortzusammensetzungen mit Nomos haben eine andere sprachliche und gedankliche Struktur wie die Zusammensetzungen mit Archie oder Kratie. Monarchie z. B. ist die Form der Herrschaft, bei der Einer herrscht; dieser Eine, der Monos, ist Subjekt und Träger der Herrschaft oder Macht. In der Demokratie ist der Demos Subjekt und Träger der Kratie. In dem Wort Oikonomie dagegen ist der Oikos nicht Subjekt und Träger der Wirtschaft und Verwaltung, sondern eher Objekt und sogar Materie. Das gilt für die meisten, jedenfalls für alle älteren Nomien. Gynaiko-Nomie zum Beispiel heißt nicht Verwaltung durch Frauen, wie Gynaikokratie Frauenherrschaft bedeutet, sondern: Verwaltung und Bewirtschaftung des
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Frauenhauses und des Teiles des Haushalts, der die Frauen betrifft. Das mit dem Nomos verbundene Wort wird am Nomos gemessen und ihm unterworfen: Astronomie, Geonomie, Gastronomie sind in dieser Struktur ohne weiteres einleuchtend. Einzelne Besonderheiten, wie Patronomie, dürfen wir hier beiseite lassen, weil ihre Singularität anerkannt ist (Laroche a. a. O., S. 140; Hans Schaefer, Artikel patronomos bei Pauly Wissowa-Mittelhaus XVIII, 2, S. 2295 - 2306). Eine gewisse Verwirrung kann dadurch eintreten, daß man den Nomos selbst personifiziert und zum Subjekt erhebt. Das ist dem Nomos Basileus geschehen, über den ich noch einiges sagen werde. Wer acht gibt, wird der Verwirrung nicht erliegen, denn der innere Widerspruch einer Personifizierung des Nomos besteht darin, daß der Nomos eben deshalb zum personifizierten Herrscher erhoben werden soll, weil er etwas Unpersönliches ist. Es ist derselbe Widerspruch wie er in der Formel vom „Namen des Gesetzes" liegt, worüber wir noch sprechen werden. Adverbiale Zusammensetzungen wie Eunomia und Isonomia bestätigen von der sprachlichen Seite her eine besondere Verbindung mit der sozialen, wirtschaftlichen und Eigentumslage des Gemeinwesens. Das Wort trifft hier spezifisch das, was man seit dem Sozialismus die Klassenlage nennt. Hans Schaefer hat in seiner meisterhaften, auch heute noch gültigen Darlegung (Staatsform und Politik, Untersuchungen zur griechischen Geschichte des sechsten und fünften Jahrhunderts, Leipzig 1932, S. 144 f.) den geschichtlichen Sinn der Worte Eunomia und Isonomia entwickelt. Die Eunomia tritt erst im Athen der solonischen Zeit ins Bewußtsein; sie ist zunächst nur innerhalb der eigenen Polis polemisch auf Wahrung der hergebrachten Sozialverfassung gerichtet. Sie wurde aber in demselben Augenblick zu einer gemeinsamen hellenischen Parole, in dem Sparta als Wahrer der übernommenen aristokratischen Ordnung gegen Tyrannis und Demokratie auftrat. Seit Beginn des fünften Jahrhunderts verdrängt die Isonomia die alte Eunomia. Träger und Vorkämpfer dieser demokratischen „Internationale" war Athen; Feind und Bekämpfer dieses Prinzips - das die Befreiung von Heloten und Perioiken bedeutete - war Sparta unter Leitung der Ephoren. Modern gesprochen: die innerpolitische Klassenlage wurde, wie Hans Schaefer sagt, „zum Regulativ zwischenstaatlicher Beziehungen". Der Eid, den der Verbündete des demokratischen Athen schwören mußte, ist eindeutig: „Freund und Feind mit den Athenern zu teilen", wobei das Wort „teilen" in diesem Falle eine Übersetzung des Futurums von „nomitsein" ist. Unter den zahllosen Wortverbindungen mit Nomos ist keine so häufig und geläufig wie Oiko-Nomia und Oiko-Nomos. Das gründliche Buch des Straßburger Philologen E. Laroche, Histoire de la Racine NEM- en ancien Grec (Paris, Librairie Klincksieck, 1949), gibt eine ausführliche Übersicht über sämtliche Wortverbindungen mit Nomos. Die Zusammensetzung Oikonomos behandelt er besonders eingehend, mit der Begründung, daß diese Formation für die gesamte Semantik der Wurzel NEM- eine Zusammenfassung unter Begriffen wie Organisation, Ordnung und Wirtschaft darstellt. Oikonomos erscheint im sechsten Jahrhundert, zu
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einer Zeit, in der das Verbum für Nomos, nemein, üblicherweise verwalten oder regieren bedeutet. Bis zum Ende des vierten Jahrhunderts bleibt das Wort bei Xenophon, Piaton und Aristoteles der Hauswirtschaft und Haushaltung vorbehalten, unter Einschluß moralischer Qualitäten wie Vorsorglichkeit, umsichtige Planung, Sparsamkeit und Ehrlichkeit (Laroche, S. 141). Die moderne Antithetik von Produktion und Konsum ist dem Oikos noch fern. Offenbar besteht ein besonderer Zusammenhang des Nomos mit dem, was wir heute - im Anschluß an das von Ernst Forsthoff für das moderne Verwaltungsrecht eingeführte und allgemein übernommene Kennwort - Daseinsvorsorge nennen. [4] Die Nomie gehört offensichtlich eher zum Oikos als zur Polis. Selbst im Lauf der weiteren Entwicklungen, wenn die Räume und die Maße sich erweitern, hält man merkwürdigerweise an dem Worte Oikos fest. Ende des achtzehnten Jahrhunderts entstand in Europa eine neue wissenschaftliche Disziplin, eine Art Wirtschaftswissenschaft, die sich „National-Oikonomie" nannte oder auch „politische Oikonomie".[5] Wie sonderbar, daß die Erweiterung des Nomos vom Haus auf die Polis in ihrer sprachlichen Bezeichnung das alte „Haus" beibehält und sich nicht etwa National- oder Polito-Nomie, sondern immer noch Oiko-Nomie nennt! Dasselbe sehen wir am Staatshaushalt, der ebenfalls noch auf den Oikos Bezug nimmt. Wenn das Haus sich zum Nationalstaat und nationalen Markt erweitert, und auch wenn Nationalstaat und nationaler Markt sich zu Großräumen erweitern - bei der Einen Welt sind Haushalt und Planung noch lange nicht angelangt - , scheinen sie die Erinnerung an Oikos und Oikonomie festzuhalten. Die menschliche Planung und Ordnung der Daseinsvorsorge hat ihre immanenten Maße, solange sie konkret bleibt und Erde und Menschheit mit ihren überkommenen konkreten Ordnungen noch nicht zu einem bloßen Kunststoff für raumlose Planungen geworden sind. Im Nomadenzeitalter ist der Hirte, der Nomeus, das typische Symbol der Herrschaft. In Piatons Politikos wird der Unterschied dieses Hirten vom Politikos dargelegt (274 e - 276 e): das Nemein des Hirten ist auf die Nahrung (trophe) der Herde gerichtet und der Hirt ist - gegenüber den von ihm geweideten Tieren - eine Art Gott. [6] Der Politikos dagegen steht nicht so hoch über den von ihm regierten Menschen wie der Hirt über seiner Herde. Das Bild des Hirten paßt demnach nur, wenn das Verhältnis eines Gottes zum Menschen verbildlicht werden soll. Der Politikos ernährt nicht, sondern was er tut, ist nur pflegen, besorgen, betreuen, therapeuein. Der scheinbar so materialistische Gesichtspunkt der Nahrung berührt eher die Vorstellung eines Gottes als der von ihm sich abtrennende politische Gesichtspunkt, der zu einer Säkularisierung führt. Die Trennung von Wirtschaft und Politik, privatem und öffentlichem Recht wird noch heute von großen Rechtslehrern für die eigentliche Garantie der Freiheit gehalten. Mit der Verbindung von Haus und Nomos ist das Nomadendasein überwunden. Die Herrschaft des patriarchalischen Hausvaters über Haus und Familie ist eine Totalität, in der sich religiöse und moralische Autorität, juristische potestas und wirtschaftliche Dispositionsbefugnisse vereinigen. Deshalb stellt Aristoteles (Po-
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litik III cap 10, § 2) neben die vier von ihm aufgezählten Arten des Königtums (heroische Zeit mit freiwilliger Gefolgschaft, barbarische Despotie, gewählte Tyrannis und das auf Feldherrntum beschränkte Königtum der Lakonier) eine fünfte Art unbeschränkten Königtums, bei der „ein einziger die Gewalt über alles" hat.[7] Dieses Königtum, sagt er, entspricht der Haushaltung, weil der Hausvater gewissermaßen ein König und der unbeschränkte König gewissermaßen ein Hausvater ist. Wiederum erhebt sich hier das Problem der Einheit oder Trennung von Wirtschaft und Politik. Die Verwandlung des Gemeinwesens in einen auf totale Daseinsvorsorge angelegten Verwaltungsstaat führt zu einer hausväterlichen Totalität ohne Hausvater, wenn es nicht gelingt, Archien oder vielleicht auch Kratien zu finden, die mehr sind als bloßer Nomos des Teilens und Weidens. Ich halte es für eine Utopie, wenn Friedrich Engels uns verspricht, eines Tages werde alle Macht von Menschen über Menschen aufhören und gebe es nur noch ein problemloses Produzieren und Konsumieren, bei dem „die Dinge sich selbst verwalten".[8] Dieses Sich-Selbst-Verwalten der Dinge soll jede Archie und Kratie überflüssig machen und bringt zum Ausdruck, daß die Menschheit hier ihre Formel gefunden hat, so wie, nach Dostojewski, die Biene ihre Formel im Bienenkorb gefunden hat. Denn auch die Tiere haben ihren Nomos. Die meisten, die vom Nomos Basileus schwärmen, ahnen nicht, daß sie in Wirklichkeit eine solche Formel propagieren. [9] Das wird noch deutlicher werden, wenn wir den Nomos in seinem ganzen Umfang erkannt haben.
III. Das Wort Nomos hat in seiner mehr als dreitausendjährigen Geschichte viele Wandlungen erlebt, und es ist oft schwer, gegenüber den etymologischen und semantischen Feststellungen, die für bestimmte Zeitabschnitte zutreffen, das umfassende Gesamtbild im Auge zu behalten. Der wichtigste Einschnitt ist der Übergang vom Nomaden-Zelt zum festen Haus, zum Oikos. Dieser Übergang setzt eine Landnahme voraus, die sich durch ihre Endgültigkeit von den immer nur provisorischen Nahmen und Teilungen der Nomaden unterscheidet. Die Landnahme wiederum ist die Voraussetzung einer Landteilung, von der aus die weitere stabile Ordnung sich bestimmt. Der Nomos an sich ist keineswegs auf die Zeit dieser stabilen, erst nach der Landteilung einsetzenden Dauer-Ordnung beschränkt. Im Gegenteil, er zeigt seine konstituierende Kraft am stärksten in den ordnungsbegründenden Vorgängen der ersten Teilung, der divisio primaeva, wie die großen Rechtsdenker es nennen. [10] Aber nach vollzogener Landnahme und Teilung, wenn die Zeiten der Neugründung und des Übergangs überwunden sind und einige Berechenbarkeit und Sicherheit eintritt, nimmt das Wort Nomos eine andere Bedeutung an. Die Epoche der Konstituierung ist schnell vergessen oder vielmehr ins Halbbewußte abgedrängt. Die situation etablie des Konstituierten beherrscht alle Gewohnheiten, auch die Denk- und Sprachgewohnheiten. Normativismus und Positivismus wer37 Staat, Großraum, Nomos
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den dann die plausibelste und selbstverständlichste Sache der Welt, namentlich dort, wo es keinen anderen Horizont mehr gibt als den des Status quo. Der Nomos einer Zeit der Wanderungen und Landnahmen etabliert sich auf der neuen Grundlage, erst zu Brauch und Sitte, dann zu Satzung und Gesetz. Nomos wird ein Ersatzwort für Thesmos (Ernst Risch, in seiner Besprechung des Buches von Laroche, Gnomon, Bd. 24, 1952, S. 83). Die sophistische Art des Diskutierens schürt den Gegensatz zu immer schärferen Antithesen, scheinbar im Dienst des Fortschritts und der Verfeinerung, in Wirklichkeit im Dienst eines ideologischen Spiels künstlicher Trennungen, die dem Bürgerkrieg dienen. Nomos wird Gegensatz zu Physis, wird „bloßes" Gelten, „reine" Setzung, bloßer Befehl, nichts als Thesis.[ll] Bei Demokrit herrscht dieser Gegensatz der „natürlichen" Physis und des „künstlichen" Nomos. Vergebens hat ein konservativer Mann wie Sophokles sich gegen die Auseinanderreißung von Nomos und Physis gewehrt. Das Objekthafte der Nomie wird jetzt benutzt, um die unpersönlich geltende Norm über alles Persönliche zu erheben. Die Verbindung von Logos und Nomos soll darin liegen, daß der Logos, als etwas Leidenschaftsloses, demnach Vernunft, der Trieb- und Affekthaftigkeit des menschlichen Individuums übergeordnet wird. So entsteht das folgenreiche Postulat, daß „nicht die Menschen, sondern die Gesetze herrschen" sollen. Denn das Gesetz, der Nomos, sagt Aristoteles (Politik, III Kap. 10, 4), ist ohne Leidenschaft (pathetikon), während jede menschliche Seele notwendig damit behaftet ist.[12] So verstand man den Nomos Basileus, der bei Pindar (fr. 169) etwas ganz anderes bedeutet.1 Der gedankliche Kunstgriff des Postulates „nicht Menschen, sondern Gesetze" ist leicht zu durchschauen, wenn man die Wortgeschichte des Nomos kennt: man macht den Nomos zu einem bloßen Thesmos, behält aber das inhaltvolle alte Wort Nomos bei. Auf diese Weise kann man ein ewiges Spiel mit den Antithesen von Recht und Macht betreiben und die Prätention eines reinen Sollens mit der normativen Kraft des Faktischen verbinden.
IV. Zu der sophistischen Antithetik von reinem Sollen und bloßem Faktum kommt in unserm Falle das Übersetzungsproblem hinzu, das wir hier nur mit einer kurzen Bemerkung erwähnen wollen. Cicero hat das griechische Wort Nomos mit Lex übersetzt. Lex gehört ganz in das Begriffsfeld des römischen Rechts. Aber die Auswirkungen dieser Verquickung mit einem römisch-rechtlichen Begriff halten bis 1
Pindar spricht vom Raub der Rinder des Geryon, einem Ereignis aus der Nomaden-Welt. Geryon war ein Riese mit drei Leibern; Herakles ist der mythische Ordnungsstifter. Indem er die Rinder des dreileibigen Riesen „nimmt", schafft er Recht; die Nähme (der Nomos) verwandelt Gewalt in Recht. Das ist der Sinn des vielerörterten Pindar-Fragments vom NomosBasileus.
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auf den heutigen Tag an. Ein Kenner ersten Ranges, der spanische Romanist Alvaro d'Ors, hat mit Recht erklärt, die Übersetzung von Nomos durch Lex gehöre zu den schwersten Belastungen unserer occidentalen Begriffs- und Sprachkultur.[13] Wer soll sich hier noch zurechtfinden, wenn man die weitere Entwicklung des Gesetzesstaates und die heutige Krisis der Legalität kennt? Ihren Gipfel erreicht die Verwirrung in der theologischen Sphäre, wo sie sich an der Geschichte einer erfolgreichen Behauptung des Philo von Alexandrien ablesen läßt. Nomos ist die griechische Übersetzung für das „Gesetz" des Alten Testamentes geworden, damit gleichzeitig der Gegenbegriff gegen das neutestamentliche Evangelium und gegen Gnade. [14] Innerhalb des Alten Testamentes wird dann meistens nicht weiter unterschieden, und die überaus konkrete, auf Landnahme und Landteilung beruhende Ordnung des Pentateuch heißt ebenso „Gesetz" wie der nach-exilische Normativismus und sogar der Pharisäismus des eifrigen Verfolgers Saulus vor seiner Bekehrung. Philo behauptet - wie auch Josephus (Contra Appion) und der Pseudo-Plutarch (de vita et poesi Homeri) - , die Griechen, sonst so gebildete Leute, hätten nicht einmal gewußt, was „Gesetz" ist und das Wort Nomos komme bei Homer nicht vor. Die Behauptung, das Wort Nomos komme bei Homer nicht vor, ist in ihrem Inhalt und ihrer Geschichte eines der merkwürdigsten Phänomene der ganzen Geistesgeschichte der Menschheit. Anderthalb Jahrtausende hindurch wurde sie wie ein Dogma nachgesprochen. Jean Bodin, der Begründer des modernen Staatsrechts, wiederholt sie, unter Bezugnahme auf Josephus, in seinem Methodus ad facilem historiarum recognitionem (1572),[15] ebenso Pascal in seinen Pensees, unter Berufung auf Philo und Josephus.[16] Noch die ausgezeichnete Geschichte der Wurzel NEM von E. Laroche, die wir bereits zitierten, beginnt ihr Kapitel über den Nomos bei Homer (S. 164) mit dem lapidaren Satz: „Nomos n'apparait pas dans les poemes homeriques"; und dann nochmals: „Homere ignore nomos parce qu'il ne concoit pas l'idee de la loi". Nun kommt das Wort Nomos aber sehr oft bei Homer vor. Die Behauptung bezieht sich nur auf das Wort Nomos mit einem Akzent auf der ersten Silbe. Das Wort mit dem Akzent auf der letzten Silbe aber soll etwas total anderes bezeichnen, nämlich Weide oder ein Stück Land oder Wohnsitz. Jeder weiß, daß die griechischen Akzente das Werk der alexandrinischen Gelehrten sind und Jahrhunderte nach Homer, der keine Akzente gekannt hat, gesetzt wurden. Auch Piaton und Aristoteles waren demgegenüber noch sehr großzügig. Es ist also eine nachträgliche Willkür und eine ex-post-Rückblendung aus späteren Jahrhunderten zu behaupten, das Wort nomos (mit dem Akzent auf der ersten Silbe) komme bei Homer nicht vor, und nomos (mit dem Akzent auf der letzten Silbe), das bei ihm sehr oft vorkommt, sei ein ganz anderes Wort. Ein junger Historiker, Focke-Tannen Hinrichs,[17] hat für diese erstaunliche Behauptung eine einleuchtende Parallele gefunden: es ist so, als wollte man behaupten, das Wort „Arbeit" komme im Nibelungenlied nicht vor, obwohl schon gleich am Anfang des Liedes von der „arebeit" 371
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der Helden die Rede ist; aber die arebeit eines Nibelungenhelden ist natürlich etwas anderes als die Arbeit eines Arbeitnehmers im heutigen Sozialstaat und infolgedessen müsse das Wort des Nibelungenliedes ein ganz anderes Wort sein. Der Akzent, der in der Geschichte von Philos Behauptung eine so phantastische Rolle gespielt hat, wird hier unwesentlich. Das läßt sich nicht länger verkennen. Max Pohlenz sagt in seinem Aufsatz „Nomos" (Philologus, Bd. 97, 1948, S. 140): „Wie nahe sich nomos und nomos berühren, zeigt die Ethnographie". Der rein lokale Sinn des Wortes ist für Pohlenz der primäre. Daß später dasselbe Wort für die regional abgegrenzte Lebensweise der Bewohner gebraucht wurde und hierfür sich allmählich auch eine andere Betonung durchsetzte, so daß jetzt Oxytonon und Barytonon nebeneinanderstanden, ist nach Pohlenz nicht so überraschend, wie es auf den ersten Blick scheint. Walter Porzig, der Verfasser des für unser Problem wichtigen Buches „Die Namen für Satzinhalte" (Berlin, 1942) schrieb mir im Januar 1954: „Der Akzentunterschied zwischen nomos und nomos Weide ist unerheblich".^] Philo aber identifiziert den Nomos mit dem nach-exilischen Gesetz und kann mit Hilfe solcher Rückblendungen und eines ex-post gesetzten Akzentes bona fide behaupten, Homer habe nicht gewußt, was Gesetz ist. Mit demselben Recht hätte er behaupten können, Moses habe nicht gewußt, was Gesetz ist. Denn die überaus konkrete, auf Landnahme und Landteilung begründete Ordnung des Pentateuch war von dem pharisäischen Gesetz ebenso weit entfernt wie die konkrete Ordnung des Lebens homerischer Helden von einer im Gegensatz zur Physis stehenden, nur noch „gesetzten", nach-sophistischen Norm und deren rein normativistischem Sollen. Wir mußten der ebenso erstaunlichen wie erfolgreichen Nomos-Behauptung Philos nachgehen, weil P. Przywara an einer anderen für uns besonders wichtigen Stelle seiner „Humanitas" (S. 369) daraufhingewiesen hat, daß Philo entscheidend in das kommende Abendland eingriff, indem er den Logos Piatons auf den Heraklitischen Logos reduzierte, diesen dann mit der Weisheit der Alt-Testamentarischen Weisheits-Bücher identifizierte und dann wieder ins Jüdisch-Hellenische wandte. So machte er das „intelligibile in sensibilibus" - nach P. Przywara ein Urwort des Hl. Thomas von Aquin - zur Ahnschaft von Hegel und Schelling. Bei Origines dagegen hat die Relation des pneumatischen Logos eine doppelte Gestalt: sie ist eine Oikonomia, im Anschluß an das 1. Kapitel des Epheser-Briefes, gleichsam das Material für die objektive Relation des Logos; und sie ist zweitens die Relation der Erhebung des Herzens. Für uns ist hier die Verbindung mit der Oikonomia wesentlich. Denn Origines stellt, wie P. Przywara hervorhebt, alle Schriften des Alten und Neuen Testamentes in die Einheit eines Oikos, und zwar des Hauses Gottes. Die Einheit des Nomos ist in Wahrheit nur die Einheit des Oikos.
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V. Nomos ist ein nomen actionis von nemein, und nemein bedeutet anerkanntermaßen: teilen und verteilen, aber merkwürdigerweise auch weiden, wobei dieses Wort intransitiv und transitiv gebraucht werden kann. Daß das Weiden und Teilen und Verteilen durch einunddasselbe Wort (nemein) ausgedrückt wird, beweist einen Zusammenhang der beiden in sich selbst und semantisch völlig verschiedenen Vorgänge, eine tiefere Einheit, die durch die Sprache bewahrt und aufrechterhalten wird, auch wenn die Erinnerung dem alltäglichen Bewußtsein längst verloren ging. Mit anderen Worten: dieses Weiden ist nicht irgend ein Fressen oder Saufen, sondern eine Nutzung, der eine Verteilung vorausgegangen ist. Es bewegt sich in einer Zuweisung von Mein und Dein, die als Recht anerkannt ist, eine Zuweisung, wie sie nur das Ergebnis einer Teilung und Verteilung sein kann. Hier ist die Quelle jeder distributiven Gerechtigkeit und des Suum cuique. So ist es natürlich, daß alle großen Rechtslehrer irgendwie von einer ersten Teilung und Verteilung, von der divisio primaeva sprechen.[19] Sie ist die Urverfassung, die konkrete Urnorm, der Anfang von Recht und Eigentum. Keine rechtliche Zurechnung oder Zuweisung kommt ohne eine divisio primaeva aus. Die Vorstellung unvordenklicher Zeiten oder die Rechtsfiguren der Ersitzung und Verjährung reichen für sich allein nicht aus, um eine Rechtsordnung zu begründen. Bei Nomadenvölkern sind fortwährend Neu-Teilungen und Verteilungen normal. Völker, die seßhaft geworden sind und in Häusern wohnen, können nicht ununterbrochen neu verteilen. Wie es sich in dieser Hinsicht im Atom-Zeitalter und in durchtechnisierten und durch-industrialisierten Räumen verhalten wird, wollen wir hier noch nicht untersuchen. Aber ebenso unvermeidlich, wie dem Weiden das Teilen vorangeht, geht dem Teilen das Nehmen voran, die Aneignung des zu Teilenden. Nicht die Teilung, nicht die divisio primaeva, sondern die Nähme ist das Erste. Am Anfang steht nicht eine Grund-Norm, sondern eine Grund-Nahme. Kein Mensch kann geben, teilen und zuteilen, ohne zu nehmen. Nur ein Gott, der die Welt aus dem Nichts erschafft, kann geben und zuteilen ohne zu nehmen. Das Merkwürdige ist nun, daßr das griechische Wort nemein nach einer verbreiteten, von guten Sprachkennern vertretenen Meinung nicht nur Teilen und Weiden, sogar in erster Linie Nehmen bedeutet und dieselbe Sprach-Wurzel hat wie das deutsche Wort Nehmen. Nomos wäre dann ein nomen actionis auch für Nehmen und hieße: die Nähme. Felix Heinimann, der Verfasser einer Monographie über „Nomos und Physis, Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des fünften Jahrhunderts" (Basel, 1945, S. 59) nennt „das Verbum Nemein urverwandt mit deutsch »nehmen4 ". Es lassen sich viele angesehene Autoren für diese Wurzel-Gleichheit von Nemein und Nehmen zitieren. Auch wäre es wohl nicht aussichtslos, die ablehnenden Meinungen zu widerlegen und insbesondere die heftig ablehnende Stellung von E. Laroche (a. a. O., p. 264) auf einen semantischen Impressionismus zu reduzieren, dem die sprachgeschichtliche Arbeit von Jost Trier anscheinend ganz unbekannt
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geblieben ist. [20] Aber mir genügt jene Wurzel-Gleichheit als rechtsgeschichtliche Hypothese, deren Fruchtbarkeit evident ist und auch einem rein linguistisch-semantischen Sprachforscher zu denken geben könnte. Ich bin alt genug, um die Abgründe zu kennen, die in einem Zeitalter äußerster Spezialisierungen trotz aller Verwandtschaft von Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte die beiden Disziplinen auseinanderreißen. Doch muß ich mir sagen: wenn die beiden folgenden Stadien von nemein, nämlich das Teilen und Weiden, in der Einheit der Sprachwurzel bewahrt und weitergetragen worden sind, dann ist es nicht sinnlos, auch das notwendigerweise vorangehende erste Stadium, die Nähme, in derselben Wurzel zu finden, sobald nur ausreichend viel phonetische, morphologische und semantische Anhaltspunkte dafür vorliegen, wie das hier der Fall ist. Die Sprache tradiert auf ihre Weise die weiterwirkenden konstitutierenden Vorgänge und Ereignisse, auch wenn die Menschen sie vergessen haben. „Die Sprache weiß es noch", sagte in solchen Fällen der Sprachphilosoph Johann Arnold Kanne, ein Vorgänger und Anreger der Brüder Grimm. 2 Es ist nicht ungefährlich, heute auch nur daran zu erinnern, daß Nehmen und Nähme ein sachliches Problem enthält und nicht etwa nur brutalen Imperialismus, atavistisches Verbrechertum und fortschrittsfeindlichen Sadismus bedeutet. Die führende Weltmacht des Westens ist trotz aller sonstigen ideologischen Gegensätze mit der führenden Weltmacht des Ostens in der Ablehnung des Kolonialismus einig. Kolonialismus bedeutet hier in concreto die Land- und Seenahme des Zeitalters der großen Entdeckungen der vierhundert Jahre des daran sich anschließenden europa-zentrischen Völkerrechts. Das Odium des Kolonialismus trifft heute die europäischen Völker. Es ist in seinem Kern nichts anderes als das Odium des Nehmens. In dieser Verwerfung stimmen fortschrittlicher Liberalismus und marxistischer Kommunismus miteinander überein. [21] Heute wird angeblich nicht mehr genommen, sondern nur noch geteilt und industriell entwickelt. „Mit der Landnahme ist es nun vorbei", schrieb mir kürzlich ein bedeutender Vertreter der Political Science an einer führenden Universität der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich habe ihm erwidert, daß es dafür mit der RaumNahme um so ernster wird. [22] Wir haben also keineswegs das Recht, vor dem Problem des Nehmens die Augen zu schließen und auf weiteres Nachdenken zu verzichten. Denn was man heute im Westen wie im Osten Weltgeschichte nennt, ist die Geschichte einer als Fortschritt gedeuteten Entwicklung in den Objekten, den Mitteln und den Formen der Nähme. Diese Entwicklung geht von der Landnahme nomadischer und agrarisch-feudaler Zeiten, zur Seenahme des 16. /19. Jahr2
Jacob Grimm rühmt Kannes Pantheum und Urkunden der Geschichte in einem Brief an Görres vom 5. Dezember 1811. Kannes' „Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeine Mythologie" mit einer Vorrede von Jean Paul, sind 1808 erschienen. Das Exemplar der Universitäts-Bibliothek Berlin (Dy 12 690) enthält zahlreiche Eintragungen von Jacob Grimm; vgl. die Ausgabe von Kannes* Selbstbiographie „Aus meinem Leben", 1816, die mit einem Nachwort von mir im Jahre 1940 in Berlin, Verlag W. Keiper, erschienen ist. [Ndr. Wien 1994-G. M.].
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hunderts, über die Industrienahme des industriell-technischen Zeitalters und seine Unterscheidung von entwickelten und unenwickelten Gebieten, bis schließlich zur Luft- und Raum-Nahme der Gegenwart. Alles, was sich heute auf unserer Erde, im Osten wie im Westen, auf Fortschritt und Entwicklung beruft, enthält in seinem Kern ein konkretes und präzises Credo, dessen Glaubenssätze lauten: Die industrielle Revolution führt zu einer unermeßlichen Steigerung der Produktion; infolge der Steigerung der Produktion wird das Nehmen altmodisch und sogar kriminell; auch das Teilen ist angesichts des Überflusses kein Problem mehr; es gibt also nur noch Weiden, nur noch das problemlose Glück des reinen Konsums. Kriege und Krisen gibt es nicht mehr, weil die entfesselte Produktion nicht mehr partiell und einseitig, sondern total und global sein wird. Mit anderen Worten: Die Menschheit hätte endlich ihre Formel gefunden, so wie die Biene ihre Formel im Bienenkorb gefunden hat. Die Dinge verwalten sich selbst; die Menschheit begegnet sich selbst; die Wüstenwanderung der Entfremdung ist zu Ende. In einer von Menschen für Menschen - und manchmal leider auch gegen Menschen - geschaffenen Welt kann der Mensch geben ohne zu nehmen. [23]
VI. Werfen wir noch - sozusagen zum Abschied - einen Blick auf die vergangenen Zeiten des Nehmens. Zwei Hinweise möchte ich hier noch anbringen, zur Veranschaulichung jener vergangenen Zeiten, in denen es noch eine konstituierende Nähme gab: ein Beispiel aus der Rechtsgeschichte der Institutionen und ein anderes aus der Sphäre der reinen Mystik. Das rechtsgeschichtliche Beispiel betrifft die Institution Ehe und der auf die Ehe gegründeten Familie. In jenen Zeiten also nahm der Mann die Frau. Die Frau erkannte den Mann und unterwarf sich demnach der Nähme. Dieses Nehmen der Frau war weder Raub und Vergewaltigung, noch war es ein Ferien-Erlebnis oder das, was man heute ein erotisches Abenteuer nennt. Im Gegenteil. Unter den vielen Arten der Begegnung von Mann und Frau und von den zahllosen Möglichkeiten, die es für Mann und Frau gibt, um flüchtig oder intensiv aufeinander zu reagieren, unterscheidet sich jene Nähme durch ihre eindeutige Publizität. Der Mann, der in jener besonderen Weise die Frau nahm, gab ihr seinen Namen, die Frau nahm den Namen des Mannes, und die ehelichen Kinder wurden mit dem Namen des Mannes geboren. Heute ist das alles ganz anders und sogar von Gesetzes- und Verfassungswegen desavouiert. Mann und Frau sind auf Grund einer automatisch wirkenden Bestimmung des Bonner Grundgesetzes gleichberechtigt. Daß die gesetzlich verheiratete Frau bei uns immer noch den Namen des Mannes führt, ist ein Überbleibsel aus den vergangenen Zeiten, in denen der Mann die Frau nahm, ein Residuum, das gewohnheitsmäßig vorläufig noch weitergeführt wird. Wir tun jedoch gut daran, den tieferen Zusammenhang von Nähme und Namen zu bedenken,
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damit wir wissen, was die Ehe unserer Väter war, aus der wir stammen und unseren Namen tragen. Wir würden ja nicht einmal mehr unseren eigenen Namen begreifen, wenn die Einheit von Nähme und Namen aus unserm Gedächtnis gestrichen würde. Der zweite Hinweis begegnet mir in dem Buch „Attente de Dieu" von Simone Weil. Dort ist erzählt, daß Christus selbst, während Simone Weil ein schönes Gedicht mit der Kraft eines Gebetes sprach, zu ihr herniedergestiegen ist und sie genommen hat: il m'a prise. Friedhelm Kemp, den ich als Herausgeber und Übersetzer verehre und bewundere, gibt diese entscheidende Wendung (in seiner deutschen Ausgabe „Das Unglück und die Gottesliebe", im Kösel-Verlag, München, 1953, S. 50) mit den Worten wieder: „er hat mich ergriffen". Das geht an der mächtigen Prägnanz des Nehmens vorbei. Karl Epting übersetzt in seinem Buch „Der geistliche Weg der Simone Weil" (Friedrich Vorwerk-Verlag, Stuttgart, 1955, S. 48): „er hat mich genommen". Das ist es. Simone Weil hat es abgelehnt, sich taufen zu lassen. Der Gedanke des Corpus Christi Mysticum war ihr widerwärtig. Aber wenn der völlige Mangel jeder analogia erklärt werden soll, den P. Przywara bei ihr feststellt (Les Etudes Philosophiques, 1956, S. 465[23a]) darf jene Stelle aus der Attente de Dieu nicht unbeachtet bleiben. Die sprachgeschichtliche Frage, ob die beiden Worte Nähme und Name eine etymologische Verbindung haben könnten, lasse ich ausdrücklich beiseite. Ebenso möchte ich das allgemeine Problem des menschlichen Denkens, das ein Nehmen, Vernehmen, Wahrnehmen, Comprendere und Begreifen ist, nur mit einem Worte andeuten. Hier handelt es sich um den rechtsgeschichtlichen Sinn des Zusammenhangs von Nähme und Name, von Macht und Namengebung, und insbesondere auch um die förmlichen, ja feierlichen Vorgänge bei manchen Landnahmen, die aus der Nähme einen sakralen Akt zu machen vermochten. Eine Landnahme wirkt nur dann konstituierend, wenn es dem Landnehmer gelingt, einen Namen zu geben.
VII. Damit kehren wir an den Anfang unserer Darlegungen zurück. Im Namen und in der Namengebung wirkt sich die dritte Richtung der Macht aus, die Tendenz zur Sichtbarkeit, Öffentlichkeit und Krönung. Sie überwindet die satanische Versuchung zu einer unsichtbaren, anonymen und im Geheimen bleibenden Macht. Sobald ein echter Name erscheint, hört der nur oikonomische Nomos auf, der sich in Wirtschaft und Verwaltung erschöpft. Der Bienenkorb hat keinen Namen. Sowenig wie Archie und Kratie ohne Nomos bestehen, so wenig lebt der menschliche Nomos ohne Archie und Kratie. Selbst die Erhebung des unpersönlichen Gesetzes zum alleinigen Herrscher, selbst der rationalistische Anspruch einer reinen Legalität, die - als Äußerung der Vernunft - jeder Legitimität überlegen sein will, selbst diese klassische Leistung der Rasse des Jahres 1789, verzichtet nicht auf den Na-
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men und will ihre Herrschaft „im Namen des Gesetzes" ausüben. Aber das Großartige an Nähme und Name ist, daß mit ihnen die Abstraktionen aufhören und die Situationen konkret werden. Was ist denn der Name des Gesetzes? Wie heißt es denn eigentlich? Heißt es Jean Jacques oder Napoleon? Oder heißt es vielleicht Louis Philippe oder de Gaulle? Gesetz ist wohl Macht und Nähme, aber als reines Gesetz ist es nur reine Nähme, solange seine Urheber im Anonymen und die wahren Machthaber im Dunkeln verborgen bleiben. Wir haben das Schicksal der Legalität und des reinen Gesetzesstaates erlebt. Was als Botschaft der Göttin der Vernunft begann, hat als Gangsterparole bei Bert Brecht geendet. Gesetz ist noch kein Name. Auch Menschheit und Vernunft sind keine Namen. Immanuel Kant hat ausgerufen: Pflicht, du erhabener Name! In Wirklichkeit ist Pflicht nicht nur kein erhabener, sondern überhaupt kein Name. Verschwindet die Kraft zum Namen und zur Namengebung? Verschwindet sogar der Sinn dafür, was ein Name ist? Die letzte große Heldentat europäischer Völker, die Landnahme einer Neuen Welt und eines bisher unbekannten Kontinents, wurden von den Helden der Conquista nicht unter Berufung auf das jus commercii vollzogen, sondern im Namen ihres christlichen Heilands und seiner heiligen Mutter Maria. Das ist die ikonographische Wirklichkeit dieses beispiellosen Vorganges. Der neue Kontinent erhielt jedoch einen ganz anderen Namen, nämlich den eines Kartographen namens Amerigo Vespucci. [24] Ich habe in einem Kapitel über Francisco de Vitoria, den moraltheologischen Kritiker der Conquista (ein Kapitel meines Buches über den Nomos der Erde) an das marianische Bild der Conquista erinnert.[25] Vergebens. Sofort fand sich ein deutscher Völkerrechtler, der das als „allerhand christliches Beiwerk" abtat und verächtlich zu machen suchte. [26] Wo gibt es also heute noch Namen? Das große Werk der spanischen Conquistadoren wird heute von dem Verdammungsurteil getroffen, das den europäischen Kolonialismus im Ganzen trifft. Dieses Odium ist, wie wir sagen, universal; es herrscht in Amerika, Asien, Afrika und in Europa selbst. Es beruht auf einer tiefen Wandlung sozial- und wirtschaftsethischer Begriffe. Sein Anfang aber ist die jahrhundertelange Propaganda gegen die spanische Conquista. Die „schwarzen Legenden", die die Conquista entwerten sollten, sind auf ihre Urheber und Verwerter zurückgefallen. [27] Heute gibt es Europäer, die für die Heldentaten ihrer Vorfahren um Verzeihung bitten und hoffen, sich dadurch von dem Odium des Kolonialismus zu entlasten. Gleichzeitig verkünden neue Namen wie Leningrad, Stalingrad und Kaliningrad den immer noch aktuellen Zusammenhang von Nähme und Name, und wenn ein deutscher Jurist sich auf die Wirklichkeit seiner gegenwärtigen Situation besinnt, dann braucht er nur zu bedenken, daß das Gebäude des früheren deutschen Reichsgerichts in Leipzig heute den Namen Dimitroff-Haus führt. *
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Mit diesem Ausblick auf den Zusammenhang von Nähme und Name schließe ich meine Bemerkungen zum Nomos. Wenn mein Beitrag explizite auch nur ein-
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zelne, für mich als Juristen besonders eindrucksvolle und zeugungskräftige Stellen aus P Przywara's Büchern heranzieht, so kann er doch, richtig gelesen und verstanden, an den gewaltigen Reichtum des Gesamtwerkes heranführen helfen. Dieses große Gesamt- und Lebenswerk liegt noch unausgeschöpft vor uns. Es enthält eine der großartigsten Antworten, die der deutsche Geist auf den ungeheuerlichen Challenge einer durch zwei Weltkriege geprägten Epoche gegeben hat.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Gemeint ist: Erich Przywara, Humanitas. Der Mensch gestern und morgen, Nürnberg 1952, S. 326 - 415, „Macht: Eros, Agape, Gamos, Andro-Gyne Gyn-Aner, Commercium, Reich." Sonst ü. die Macht in diesem Werk: S. 400 - 414, 592 f., 813. [2] Dieser Satz des deutsch-amerikanischen Politologen und Mitbegründers der Totalitarismus-Theorie (1901 - 1984) konnte bisher in dessen Schriften nicht ermittelt werden. Friedrich, seit 1922 in den USA, lehrte von 1927 - 1971 an der Harvard University, von 1956 1966 auch an der Universität Heidelberg. Er korrespondierte mit Schmitt auch nach 1945. Zu dieser Beziehung vgl. auch H. Lietzmann, Bündische Gemeinschaft und „Responsible Bureaucracy". Macht in der Demokratie bei Carl Joachim Friedrich, in: J. Gebhardt/H. Münkler (Hrsg.), Bürgerschaft und Herrschaft, 1993, S. 289 ff., hier S. 294. Lietzmann bemerkt sehr richtig, daß Friedrich „mit Schmitt nicht nur ein Verhältnis theoretischer Ehrerbietung, sondern auch ein persönliches Vertrauensverhältnis verband", kommt dann aber zu der völlig irrigen Vermutung, daß Schmitt 1929/30 in Cambridge, Massachusetts, eine Gastprofessur innegehabt habe. - Friedrichs wichtigste Schriften: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953; Die Philosophie des Rechts in historischer Perspektive, 1955; Totalitarian Dictatorship and Autocracy, 1956, zus. mit Z. K. Brzezinski; Constitutional Reason of State, 1957; Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, 1959; The Pathology of Politics, 1972; Tradition and Authority, 1972. [2a] Zum Verhältnis von Askese und Macht: Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929), in: Der Begriff des Politischen, Ausg. 1963, S. 93. [3] Nachdruck d. Aufsatzes „Demokratie" in: Przywara, In und Gegen - Stellungnahmen zur Zeit, Nürnberg 1955, S. 223 - 243. [4] Von Forsthoff hierzu: Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938; Die Daseinsvorsorge und die Kommunen, 1958; Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959; Lehrbuch des Verwaltungsrechts, I, 10. Aufl. 1973, S. 368 - 429. [5] Über die Ökonomik als Lehre vom Oikos, vom Haus im ursprünglichen Sinn, vom „ganzen Haus", von der „Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten im Hause" und vom Hause, „das auf der Ungleichartigkeit seiner Glieder beruht, die durch den leitenden Geist des Herrn zu einer Einheit zusammengefügt werden": O. Brunner, Das „Ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", in: ders., Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 103 - 127. Über die Entwicklung von der antiken Hausväterliteratur (bis hin zum „Haus Wittelsbach") zur modernen Ökonomie der arbeitsteiligen Marktwirtschaft vgl. auch: S. Landshut, Der Begriff des Ökonomischen (1932), in: ders., Kritik der Soziologie und andere Schriften zur Politik, 1969, S. 131 - 175; auch J. Freund, L'essence de l'economique, Straßburg 1993. - Die Fragwürdigkeit des Begriffes
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„Nationalökonomie" erörtert W. Sombart, Die drei Nationalökonomien, 1930, S. 18 u. ö. Zur Geschichte d. Wortes „Volkswirtschaft" vgl. B. Laum, Das Urbild d. Völkswirtschaft, 1957. [6] Piaton, Sämtliche Werke, II, Der Staatsmann (Übers. Schleiermacher), Berlin o. J., S. 767 ff. [7] Aristoteles' Politik, übersetzt u. erläutert v. C. u. A. Stahr, Stuttgart 1860, S. 212: „Eine fünfte Art aber ist das Königthum, in welchem ein Einziger über alles volle Gewalt hat, grade so wie sonst jedes Volk und jede Stadt über ihr Gemeinwesen. Dies Königthum entspricht der Hauswirthschaft. Wie diese eine Art von Königthum in der Familie zeigt, so ist dies Königthum eine Hauswirthschaft über eine Stadt und über ein Volk, oder mehrere." [8] Vgl. Engels, Die Entwicklung d. Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (zuerst französ. 1880, dt. zuerst 1882), in: Marx-Engels-Werke, 19, 1962, S. 177 - 228, dort etwa S. 195 f.: „Überführung der politischen Regierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen und eine Leitung von Produktionsprozessen", o. S. 224: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht „abgeschafft", er stirbt ab." Diese Idee von der „Politik (als der) Wissenschaft von der Produktion" bzw. vom „gänzliche(n) Aufgehn der Politik in der Ökonomie" (Engels) geht hauptsächlich auf Saint-Simon zurück. Vgl. dazu: Schmitt, Politische Theologie, 2. Aufl. 1934, S. 82 ff. [9] Vgl. H. E. Stier, Nomos Basileus, in: Philologus, 1928, S. 225 ff. [10] Vgl. Hobbes, Leviathan, Chapter XXIV, Of the Nutrition, and Procreation of a Commonwealth: „Seeing therefore the introduction of propriety is an effect of commonwealth, which can do nothing but by the person that represents it, it is the act only of the sovereign; and consisteth in the laws, which none can make that have not the sovereign power. And this they well knew of old, who called that N6|Aog that is to say, distribution , which we call law; and defined justice, by distributing to every man his own. " (Bd. III, S. 234, Molesworth-Edition;) dazu auch Schmitt, Nehmen-Teilen-Weiden (1953), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 491. Bei Vico erhalten die Menschen das erste Recht durch die Agrargesetze der Heroen, von denen die „divisione dei campi" durchgefühlt wird (s. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 17 f.); vgl. Vico, La Scienza Nuova, Ausg. P. Rossi, Mailand 1977, S. 338 - 42, über das angebaute Land als erste Beute auf der Welt („terrae presa"): „ . . . le terre ridutte a coltura furono le prime prede del mondo . . . le prime imprese forti del mondo furono di domare e ridurre a coltura le terre". Andere Stellen: S. 303 (Nomen als „Recht"), S. 435, 675 f. (Nomos als „legge" und „pasco" (Weideplatz); hier weist Vico auch auf die Heroen als „Hirten der Völker" (Homer) hin; vgl. a.: P. P. Portinaro, Vico e il diritto come „Nomos", Rivista internazionale di filosofia del diritto, 3 / 1980, S. 453 - 478. Zum Eigentum als „Nehmen" durch Arbeit: Locke, Two Treatises of Government, Book 2, Chapt. V, Of property, Ausg. Carpenter 1986, S. 129 - 141. Den Nomos bei diesen drei Klassikern erörtert: P. P. Portinaro, Appropriazione-Distribuzione-Produzione. Materiali per una teoria del „Nomos", Turin 1983, bes. S. 69 - 109; dort auch ein Brief v. Gianfranco Miglio an Portinaro (S. 169 - 71), in dem M. auf das Buch von Johannes Hasebroek, Der imperialistische Gedanke im Altertum (1926) und den Artikel von M. Detienne, En Grece archaique: Geometrie, Politique et Societe, Annales, 20 / 1965, S. 425 - 441 hinweist. H. betrachtet die „Polis" in ihrer hoplitischen Periode als Verteilungsmaschine der kollektiv aquirierten Beute; D. weist auf die „centralite" der Teilung der Beute für den Aufbau der politischen Gemeinschaften hin; der Akzent ist hier also deutlich anders als bei Schmitt; zur „Hoplitenpolis" vgl. auch M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, 5. Aufl. 1976, hrsg. v. J. Winckelmann, S. 809 f.
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
[11] Vgl. u. a. F. Heinimann, Nomos und Physis - Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, 1945; M. Pohlenz, Nomos und Physis, Hermes, 4 / 1953, S. 418-438. [12] Aristoteles, wie FN [8], S. 213. [13] Vgl. Schmitts Hinweise in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 427, 502; d'Ors, De la guerra y de la paz, Madrid 1954, S. 160 f. u. ders., Una introducciön al estudio del derecho, 8. ed., Madrid 1989, § 39 (S. 75 - 77). d'Ors, seit 1943 eng mit Schmitt befreundet, hat in seinem umfangreichen Briefwechsel mit diesem das Thema des Nomos immer wieder erörtert. Vgl. auch d'Ors' Edition v. Ciceros De legibus: Cicerön, Las leyes, Madrid 1953, Ndr. 1970. [14] Dazu ausführlich: G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, IV, 1942, S. 1029 - 1040 (AT); S. 1051 - 1070 (NT). [15] Die Erstausgabe erschien 1566 in Paris bei M. Juvenis. [16] Pascal, Pensees, Oeuvres completes, ed. J. Chevalier, Paris 1954, S. 1081 - 1345, hier S. 1196, Nr. 408: „La loi par laquelle ce peuple (= le peuple juif, G. M.) est gouverne est tout ensemble la plus ancienne loi du monde, la plus parfaite, et la seule qui ait toujours ete gardee sans interruption dans un Etat. C'est ce que Josephe montre admirablement, contre Apion (II, 39), et Philon juif, en divers lieux, ou ils font voir qu'elle est si ancienne, que le nom meme de loi n'a ete connu des plus anciens que plus de mille ans apres; en sorte qu'Homere, qui a ecrit l'histoire de tant d'Etats, ne s'en est jamais servi." Dazu Voltaire, Philosophische Briefe, 1985, S. 120 f. - Zum Nomos b. Flavius Josephus vgl. das Theologische Wörterbuch G. Kittels (FN [14], S. 1043 f.; der „Nomos" b. Philo in: Philo, De vita Mosis, n, 51, Opera, Bd. IV, hrsg. v. L. Cohn / P. Wendland, 1902, S. 212; ders., De specialibus legibus, 2, 13, Opera, Bd. V, 1906, S. 88. Dazu auch das Theol. Wörterbuch, o. a., S. 1044 - 46 u. A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, I, 1959, S. 143 f., 203 f. - M. Gigante, Nomos Basileus, Neapel 1956, S. 44 f., weist daraufhin, daß „Nomos" im Sinne des „Brauchs" d. Eunomia nur einmal bei Homer vorkomme, „Nomos" im Sinne von „teilen", „zuweisen" und „Weide" jedoch des öfteren. [17] F. T. Hinrichs, damals noch Doktorand in Heidelberg und in Kontakt stehend mit H. Schaefer, E. Forsthoff u. R. Koselleck, richtete am 18. 12. 1953 einen 12-seitigen Brief an Schmitt, der fast eine kleine Monographie über den „Nomos" darstellt (HSTAD-RW 61). In der Folgezeit kam es zu einem regen Briefwechsel. Auch die Habilitation Hinrichs' berührt das Thema: Die Geschichte der gromatischen Institutionen - Untersuchungen zu Landverteilung, Landvermessung, Bodenverwaltung und Bodenrecht im römischen Reich, 1974. [18] Der Brief Porzigs ist v. 29. 1. 1954 (HSTAD-RW 61). - Der vollständige Titel v. Porzigs Buch: Die Namen für Sachinhalte im Griechischen und Indogermanischen, Berlin 1942, de Gruyter. [19] Vgl. FN [10]: Grundsätzlich zur Beziehung von Nomos und Landteilung: J. Bisinger, Der Agrarstaat in Piatons Gesetzen, 1925 (Klio, Beiheft 17); vgl. auch vorl. Bd., Raum und Rom, FN [1], S. 494 f. [20] Jost Trier (1894 - 1970), Etymologe u. Mitbegründer der Wortfeldtheorie, hat Schmitts Überlegungen zum Nomos stark angeregt. Vgl. von ihm u. a.: Zaun und Mannring, Beiträge z. Geschichte der dt. Sprache u. Literatur, 1942, S. 232 - 264 (dazu Schmitt: Der Nomos der Erde, 1950, S. 43 f.); Nemus, in: Henning Brinkmann z. Vollendung des 60. Le-
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bensjahres, Wirkendes Wort, Sonderheft 1961, S. 25 - 29; dazu verschiedene Beiträge in s. Sammelbänden: Venus - Etymologien um das Futterlaub, 1963; Wege der Etymologie, 1981 (Nachlaßtexte). Vgl. auch: D. Ader (Hrsg.), Festschrift f. Jost Trier zum 70. Geburtstag, 1964. Trier wies in einer Postkarte v. 9. 1. 1944 Schmitt auf s. Aufsatz „Zaun und Mannring" hin (HSTAD-RW 265 / 61). [21] Dazu im vorl. Bd., Die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, S. 593 ff. [22] Vermutlich ein Brief C. J. Friedrichs, vgl. FN [2]. [23] Bezieht sich wohl auf Alexandre Kojeves Vortrag „Le colonialisme dans une perspective europeenne" vor dem Düsseldorfer Rhein-Ruhr-Klub am 16. 1. 1957 (lt. Schmitt, Verfassungsrechtl. Aufsätze, 1958, S. 503, fand d. Vortrag am 18. 1. statt). Kojeve kündigte darin den Untergang des traditionellen kapitalistischen „Nehmens" an und sprach von einem fordistisch aufgeklärten, „gebenden Kapitalismus", auch in bezug auf die Dritte Welt; dazu Schmitt, o. a., S. 503 f. Der erste Teil d. Vortrages, den Schmitt durch Briefe an d. Leiter d. Rhein-Ruhr-Klubs Dr. Justus Koch ab 1956 anregte (HSTAD-RW 229) ist, gekürzt, u. d. T. „Capitalisme et socialisme - Marx est Dieu, Ford est son prophete" erschienen in: Commentaire, 9 / 1980, S. 135 - 37. Die späte Veröffentlichung erklärt sich wohl aus einem Brief Kojeves v. 23. 1. 1957 (HSTAD-RW 229) an Schmitt; „Was die Veröffentlichung m. Vortrages betrifft, so muß ich davon leider vorläufig absehen: auf den dringenden Rat meiner Vorgesetzten. Ich hoffe, daß der R-R-Klub das verstehen wird." Schmitts Vortrag vor dem Collegium Philosophicum in Münster am 9. 3. 1957 ü. „Das Odium des Kolonialismus ist das Odium des Nehmens" (s. vorl. Bd., S. 617) darf als Antwort auf Kojeve betrachtet werden. Vgl. auch Schmitts launigen „Neujahrsgruß 1957": links: jetzt ist die Zeit gekommen die alles Unrecht heilt es wird nicht mehr genommen es wird nur noch geteilt.
rechts: wie ist mein Herz beklommen wie sind wir eingekeilt es wird nicht mehr genommen es wird nur noch geteilt
(unter dem Pseudonym „Erich Strauß" nachgedruckt in: R. Altmann / J. Gross, Die neue Gesellschaft - Bemerkungen zum Zeitbewußtsein, 1958, S. 68). - Über die Beziehung Kojeve-Schmitt: Bart Tromp, Het einde van de politiek?, Schoonhoven / Niederlande 1990, bes. S. 33 - 36; M. Meyer, Ende der Geschichte?, 1993, S. 129 - 179; eine Studie von P. Tommissen ist in Vorbereitung. [23a] Przywara, Essentialisme, Existentialisme, Analogie, in: Les Etudes Philosophiques, 1956, S. 458 - 527. [24] Flüchtigkeitsfehler Schmitts, der natürlich den italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci (1451 - 1512) meint. Vespucci war bei den Vorbereitungen zur zweiten u. dritten Reise Columbus' behilflich u. erforschte zwischen 1499 u. 1502 die Küsten Brasiliens u. entdeckte dabei den Amazonas. Sein Bericht „über die Bewohner der Neuen Welt" v. 1502 erregte Aufsehen (Auszug in: E. Schmitt (Hrsg.), Die großen Entdeckungen - Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, II, 1984, S. 174 - 181) u. wird u. a. in der „Utopia" des Thomas Morus genannt; über Vespucci vgl.: F. W. P. Lehmann, Amerigo Vespucci als Kosmograph und Nautiker, Geogr. Zeitschrift, 27 / 1921, S. 134 - 154; Vicente D. Sierra, Amerigo Vespucci - El enigma en la historia de America, Madrid 1968; U. Bitterli, Die Entdekkung Amerikas, 1991, S. 112 - 117, u. ö. - Der deutsche Humanist Matthias Ringmann (Philesius Vogesigena), der 1507 in Saint-Die eine „Cosmographiae introductio" herausgab
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
(photomechan. Nachdruck mit Einleitung v. F. R. v. Wieser, Straßburg 1907), schrieb die Entdeckung des neuen Erdteils Amerigo Vespucci zu. Aufgrund eines Irrtums Alexander v. Humboldts gilt jedoch allgemein der Kartograph dieses Werkes, Martin Waldseemüller (Martinus Ilacomilus), als der Namensgeber. Vgl. u. a.: F. Laubenberger, Ringmann oder Waldseemüller? - Eine kritische Untersuchung über den Urheber des Namens Amerika, Erdkunde, Sept. 1959, S. 163 - 179; E. Schmitt, op. cit., S. 13 - 15; Carlos Sanz, El Nombre America - Libros y mapas que lo impusieron, Madrid 1959; J. Vidago, America, origem e evolu^äo deste nome, Revista Occidente (portugies.), 1964, S. 93 - 110. [25] Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 69 - 96. [26] F. A. Frhr. v. d. Heydte, Francisco de Vitoria und die Geschichte seines Ruhmes, in: Die Friedens-Warte, H. 4 / 5, 1949, S. 190 - 197, die Wendung vom „christlichen Beiwerk" S. 192. v. d. Heydte bezog sich auf den anonym erschienenen Vorabdruck v. Schmitts VitoriaKapitel in: Die Neue Ordnung, Juli 1949, S. 289 - 313; später in: Der Nomos der Erde, 1950, S. 69 - 96. Dazu auch Schmitt, Glossarium, 1991, S. 276 (Eintragung v. 27. 10. 1949). [27] Die „Schwarze Legende" („Leyenda negra"): Der Gehalt der anti-spanischen, besonders von Briten und Holländern organisierten Propaganda über die Greuel der Inquisition, die Lasterhaftigkeit Philipps II., die Verderbtheit und geistige Rückständigkeit Spaniens, usw. Besonders heftig vertraten die Verfechter der „Legende" - an deren Verbreitung sich auch Deutschland, Italien und das indigenistische Lateinamerika beteiligten - die These, die Conquista hätte einen Genocid angestrebt. Dem widerspricht aber der „mestizaje", während in Nordamerika die Indianer von den aus anti-spanischen Ländern kommenden Siedlern fast zur Gänze ausgerottet wurden. Klassisch: Julian Juderias, La Leyenda negra - Estudios acerca del concepto de Espana en el extranjero, Madrid 1914, Ndr. 1986; dieser spanische Publizist prägte den Begriff. Mit scharfen Angriffen auf Bartolome de las Casas, dessen Schriften den Verfechtern der „Legende" als „Quelle" dienten: Römulo D. Carbia (Argentinier), Historia de la Leyenda negra hispanoamericana, Madrid 1944. Der Schwede Sverker Arnoldsson ging den Ursprüngen der „Legende" nach: La Leyenda negra - Estudios sobre sus origenes, Göteborg 1960 (posthum); vgl. auch: Philip W. Powell, Arbol de odio, Madrid 1972. Resümierend: Miguel Molina Martinez, La Leyenda negra, Madrid 1991 (mit Textauszügen u. Dokumenten). Die Bedeutung der Legende für die Einigung der konfessionell gespaltenen Niederlande in ihrem Kampf gegen Spanien erhellt: Judith Pollmann, Eine natürliche Feindschaft: Ursprung und Funktion der schwarzen Legende über Spanien in den Niederlanden, 1560 1581, in: Fr. Bosbach (Hrsg.), Feindbilder - Die Darstellung des politischen Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, 1992, S. 73 - 93.
Anhang des Herausgebers Der Aufsatz erschien in: Der beständige Aufbruch. Festschrift für Erich Przywara. Herausgegeben von Siegfried Behn. Nürnberg 1959, Glock und Lutz-Verlag, S. 92 - 105. Zur Biographie des aus Kattowitz stammenden Jesuitenpaters: G. Wilhelmy, Vita Erich Przywara 1889 - 1967, in: Erich Przywara. Eine Festgabe. Düsseldorf o. J. (1969), Patmos, S. 7 - 34. Przywara, der Schmitt vermutlich schon in den 20er Jahren kennenlernte, hinterließ ein außergewöhnlich umfangreiches Oeuvre, u. a.: E. Przywara/O. Karrer (Hrsg.), J. H. Newmans Christentum. Ein Aufbau aus seinen Werken, 8 Bändchen, Freiburg 1922 ff.; Gottgeheimnis der Welt, 1923; Religionsbegründung. Max Scheler / J. H. Newman, 1923; (Hrsg.), Adam
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Müller, Schriften zur Staatsphilosophie, 1923 (mit im Ggs. zu Schmitt sehr positiver Haltung ggü. Müller); Majestas Divina, 1925; Wandlung. Ein Christenweg, 1925; Gott. Fünf Vorträge über das religionsphilosophische Problem, 1926; Das Geheimnis Kierkegaards, 1929; Ringen der Gegenwart, Gesammelte Aufsätze 1922 - 1927, 2 Bde., 1929 (dort in Bd. I, S. 218 ff. ü. Schmitts Romantikkritik); Analogia Entis, 1932 (sicher das bedeutendste Werk P's); Christliche Existenz, 1934; Heroisch, 1936 (dort S. 7 - 25 über Donoso Cortes); Deus semper maior. Theologie der Exerzitien, 2 Bde., 1938 / 41 (Ndr. 1963); Humanitas. Der Mensch gestern und morgen, 1952 (dort zu Schmitt S. 591 ff.); Christentum gemäß Johannes, 1954; In und Gegen. Stellungnahmen zur Zeit, 1955; Alter und Neuer Bund, 1956; Mensch. Typologische Anthropologie I (mehr nicht erschienen), 1959 (dort zu Schmitt S. 211 - 13); Schriften, 3 Bde. (Bd. I ein Ndr. von „Analogia Entis"), 1962; Logos - Abendland, Reich, Commercium, 1964; Augustinisch, 1970. Vgl. auch die Bibliographie von L. Zimny, Erich Przywara. Sein Schrifttum 1918 - 1962. Über sein Werk u. a.: B. Gertz, Glaubenswelt als Analogie. Die theologische Analogielehre Erich Przywaras und ihr Ort in d. Auseinandersetzung um die analogia fidei, 1969; J. H. Zoche, Zwischen Pantheismus und Theopanismus. Zur Grundlegung und Struktur der kreatürlichen und gnadenhaften Gottesbeziehung des Menschen nach der Analogie-Lehre Erich Przywaras, Diss. Augsburg 1985; E. Naab, Zur Begründung der analogia entis, Regensburg 1987; ders., Anmerkung zu Erkenntnis und Glauben. Zur Erinnerung an Erich Przywara SJ (1898 - 1972), in: Forum Katholische Theologie, 1989, H. 1, S. 25 43; K. H. Neufeld, Kategorien des Katholischen: P. Erich Przywara - 100 Jahre, in: Catholica, 43/1989, S. 295 - 311; Th. Rüster, Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, 1994, S. 80 - 83, 89 - 94, 135 ff., 176 - 179, 214 ff., 268 - 293, u. ö. Eine der frühen Auseinandersetzungen Przywaras mit Schmitt ist der Aufsatz „Deutsche Front", in: Stimmen der Zeit, 1932, S. 153 -67; Schmitt wird hier mit Othmar Spann zusammengebracht, weil beide Denker sich „im Begriff der,Totalität* " träfen; ähnlich in: Humanitas, S. 594. Zu P's Stellung im politischen Denken des deutschen Katholizismus vgl. u. a.: Kl. Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929 - 1934), 1969, S. 289 f. u. ö., sowie die zahlreichen Bezugnahmen in den Büchern Richard Fabers: Die Verkündigung Vergils. Reich-Kirche-Staat. Zur Kritik der „Politischen Theologie", 1975; Abendland. Ein „politischer Kampfbegriff 4, 1979; Roma Aeterna. Zur Kritik der „Konservativen Revolution", 1981. - Aus der Zeit von Schmitts Aufenthalt im Internierungslager Lichterfelde (Winter 1945/46) ist der Entwurf eines Briefes an Pr. erhalten, in dem Schmitt u. a. seine Beschäftigung mit Francisco de Vitoria, Bruno Bauer u. Konrad Weiß als wesentlich für die Entwicklung seines Glaubens ansieht; vgl. a. vorl. Bd., Die Stellung Lorenz von Steins, FN [9], S. 162. In einem Briefe Schmitts v. 10. 10. 1959 an Pr., der im Zusammenhang mit dem o. wieder abgedruckten Beitrag steht, heißt es u. a.: „Vor 15 Jahren erschien mir in der Verlassenheit des Camp Ihr Bild wie das eines tröstlichen Engels ... Nach dem Brief aus dem Camp vom Februar 1946 ist es [Schmitts Aufsatz - G. M.] sozusagen der Versuch einer zweiten Botschaft an Sie, hochverehrter, hochwürdiger Herr Pater Przywara." (Mitgeteilt von Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts, 1994, S. 222, FN 61).
Die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg Don Manuel Fraga hat mein Werk auf eine meisterliche Art und Weise gedeutet, mit wissenschaftlicher Eindringlichkeit und mit vollkommenem intellektuellem Verständnis. Mit menschlicher Noblesse und Generosität hat er über meine Person und meine Fama gesprochen. Das berühmte Institut für Politische Studien von Madrid hat mich mit einer Auszeichnung geehrt, die bereits an sich groß und vortrefflich ist, und die noch bedeutender ist angesichts des geschichtlichen Augenblicks und der gegenwärtigen Situation. Ich danke dem Institut und seinem Direktor, Don Manuel Fraga, und ich nehme die große Ehre als Zeichen der Freundschaft und der aufrichtigen Verbundenheit an. Das mir überreichte Abzeichen werde ich stolz und seiner Bedeutung eingedenk tragen.[l] Ich danke auch all meinen spanischen Freunden, sowohl denen aus dem Institut als den anderen und bekräftige, was ich geschrieben habe und was Prof. Fraga in seiner Rede zitiert hat: diese Ehrung durch das Institut für Politische Studien und dieses Zusammentreffen mit meinen spanischen Freunden ist ein Fest, unantastbar und an einem Orte der Zuflucht, in der Dämmerung meines Lebens. Don Manuel Fraga hat mich einen Zeugen der europäischen Krisis genannt, der nicht abseits von ihr, sondern in ihr leben wollte. Das trifft zu. Die Ergebnisse meines wissenschaftlichen Forschens habe ich, in einer chaotischen Zeit, mit vollem Bewußtsein auf die Waagschale der Geschichte gelegt. Eine bezeichnende Koinzidenz ist, daß der ehrliche Impuls der Forschung mich stets nach Spanien geführt hat. Ich sehe in diesem beinahe providentiellen Zusammentreffen einen Beweis mehr dafür, daß der Krieg der nationalen Befreiung in Spanien ein Prüfstein ist. Im heutigen weltweiten Kampf war Spanien die erste Nation, die aus eigener Kraft und auf eine solche Weise siegte, daß nunmehr alle nicht-kommunistischen Nationen sich, was diesen Aspekt angeht, gegenüber Spanien auszuweisen haben. [2] Es sind dreiunddreißig Jahre her, daß ich meinen ersten Vortrag in spanischer Sprache hielt, über Donoso Cortes. Das war 1929 in Madrid, im damaligen Deutschen Institut. [3] Annähernd zwei Jahrzehnte sind es her, daß ich einen Vortrag im Institut für Politische Studien in Madrid hielt, zum Thema meines heutigen Vortrages: „Die Probleme des Raumes". [4] Mein heutiger Vortrag bildet einen Teil eines Zyklus zum zentralen Problem des kalten Krieges. Das Thema des kalten Krieges hat viele Aspekte; politische, ideologische, juridische, ökonomische und militärische. Unter den letzteren treten die Probleme der Nuklearstrategie besonders hervor. Alle diese Aspekte sind auf ver-
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schiedene Weise in einer reichen, inzwischen kaum noch zu übersehenden Literatur behandelt worden. Hier finden sich auch wichtige Beiträge herausragender spanischer Autoren. Ich möchte besonders verschiedene Arbeiten meines geschätzten Kollegen Fraga Iribarne erwähnen, veröffentlicht in der Revista de Estudios Polfticos, in der Festschrift für Barcia Trelles (1958) und in der Festschrift für Legaz y Lacambra (1960).[5] Mit großem Gewinn habe ich sie bei der Ausarbeitung meines Versuches über die Situation der gegenwärtigen Welt benutzt. Wir befinden uns in einem kritischen Moment des brüsken und radikalen Wandels. Unglücklicherweise bedeutet das heute, im Frühjahr 1962, nicht, daß wir dem Weltfrieden und einer definitiven Ordnung nahe sind; wahrscheinlich läßt sich nicht einmal ein Ende des kalten Krieges annehmen, sondern nur eine neue Phase jenes unglückseligen intermediairen Zustandes zwischen Krieg und Frieden.
I. Antikolonialismus, kosmische Raum-Nahme und industrielle Entwicklungshilfe Im Fortgang unserer Überlegungen müssen wir natürlich von der UNO sprechen, der globalen Organisation, der die Aufgabe zukommt, den Frieden und die Weltordnung zu sichern. Doch wir sind uns bewußt, daß die UNO nichts anderes ist als der Reflex der bestehenden Ordnung und leider auch der Unordnung. Die UNO konstituiert nichts. Wie wir sehen, tut sie nichts anderes, als jede Wendung in der Entwicklung des kalten Krieges nachzuvollziehen. Niemand wird abstreiten, daß ihre Methoden und Verfahrensweisen einen gewissen Wert besitzen, doch die wirklichen Probleme und objektiven Phänomene lösen sich nicht mit normativen oder prozeßähnlichen Diskussionen. Als wirklich objektive Probleme der gegenwärtigen Weltlage drängen sich dem Betrachter drei neue Phänomene auf; es läßt sich sogar sagen, daß sie auf eine unerwartete Weise neu sind. So wie sie sich uns heute präsentieren, waren sie noch 1945, zum Ende des Zweiten Weltkrieges, unbekannt. Es handelt sich um den Anti-Kolonialismus, um die Eroberung des Raumes und um die industrielle Entwicklung der unterentwickelten Gebiete durch die entwickelten. An sich sind diese drei Phänomene, getrennt voneinander betrachtet, vollständig heterogen; auf den ersten Blick besteht zwischen ihnen keine unmittelbare Beziehung. Die Reihenfolge - zuerst der Anti-Kolonialismus, danach das Problem des Raumes und an dritter Stelle die industrielle Entwicklung der Unterentwickelten könnte arbiträr erscheinen. Im zweiten Abschnitt meines Vortrages werde ich ausführlicher über die industrielle Entwicklung der Unterentwickelten sprechen, denn hier sehe ich das zentrale und ganz und gar aktuelle Problem einer neuen Weltordnung. Es ist das große Problem, das sich mit dem Ausdruck „Nomos der Erde" bezeichnen läßt, um es auch terminologisch von anderen, weniger fundamentalen Fragen zu unterscheiden. Der Ausdruck „Nomos der Erde" hat den besonderen 38 Staat, Großraum, Nomos
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Sinn, die Aufmerksamkeit auf die konkrete Tatsache einer neuen Landnahme und auf die damit einhergehende Teilung, Verteilung und Aufteilung der Erde zu lenken. Dabei muß man in Rechnung stellen, daß der immense Prozeß einer neuen Nähme und Verteilung der Erde in seiner konkreten Realität zu wesentlichen Wandlungen der Raumstruktur führt, einschließlich zu Änderungen des Raumbegriffs. Mit dem Terminus „Nomos" möchten wir den Raumaspekt des Problems einer neuen Weltordnung hervortreten lassen. Verzeihen Sie diesen terminologischen Hinweis zum Worte „Nomos". Ich hielt es für notwendig, an den räumlichen Aspekt des Themas „Ordnung der Welt" zu erinnern, damit unsere Betrachtung nicht in abstrakten Gemeinplätzen oder in normativistischen Fiktionen endet. Wie schon gesagt, werde ich auf das Thema der industriellen Entwicklung der Unterentwickelten zurückkommen, das Hauptproblem des Nomos der Erde in unserer Zeit. Was den Anti-Kolonialismus betrifft, so läßt er sich ganz allgemein als ideologischen Gegenstand behandeln, und zu einem guten Teil ist er dies tatsächlich. Vor allem aber ist er Propaganda, um genauer zu sein, anti-europäische Propaganda. Seine Geschichte stellt sich uns dar als Geschichte von Propaganda-Kampagnen, die leider als inner-europäische Kampagnen begannen. Am Beginn steht die anti-spanische Propaganda Frankreichs und Englands, die leyenda negra des XVI. und XVII. Jahrhunderts; diese Propaganda nahm während der humanitaristischen Aufklärung des XVIII. Jahrhunderts zu, sie verallgemeinerte sich, und zuletzt ist ganz Europa als Welt-Aggressor eingestuft und auf die Anklagebank gesetzt worden, so in der geschichtlichen Vision des Beraters der UNO, Arnold Toynbee.[6] Es ist uns noch gegenwärtig, wie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in wenigen Jahren die großen kolonialen ÜberseeReiche der europäischen Mächte England, Frankreich, Holland und Belgien zusammenbrachen, begleitet von einem Chor von Verwünschungen dieser von Europäern geschaffenen anti-europäischen Propaganda. Aus diesem Grunde ist es notwendig, sich von den Nebeln dieser anti-europäischen Ideologie zu befreien und daran zu erinnern, daß alles, was als Völkerrecht bezeichnet werden kann, seit Jahrhunderten europäisches Völkerrecht ist. Vor allem ist daran zu erinnern, daß alle klassischen Begriffe des existenten Völkerrechts spezifisch europäisches Völkerrecht sind, ius publicum Europaeum. Dies betrifft insbesondere die Begriffe von Krieg und Frieden, sowie zwei fundamentale begriffliche Unterscheidungen: an erster Stelle die Unterscheidung von Krieg und Frieden, d. h. die Verhinderung eines Zwischenzustandes, der so charakteristisch ist für den kalten Krieg, und an zweiter Stelle die begriffliche Trennung von Feind und Verbrecher, d. h. die Verhinderung der Diskriminierung und Kriminalisierung des Gegners, die so charakteristisch ist für den revolutionären Krieg, einen Krieg, der essentiell mit dem kalten Krieg verbunden ist. Einer der Wortführer der antieuropäischen Propaganda, der indische Politiker Krishna Menon, hat nach dem Übergriff auf die portugiesische Enklave Goa erklärt: „Bis heute war das Völkerrecht europäisch; wir schaffen ein anderes, nicht-europäisches Völkerrecht. Nach
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all unseren Erfahrungen können wir mit einer gewissen Neugier die Ideen über Krieg und Frieden erwarten, die dieses neue Völkerrecht schaffen wird". [7] Doch gerade wegen dieser anti-europäischen Haltung dürfen wir den Raumaspekt des Anti-Kolonialismus nicht vergessen. Es scheint, daß die von den nichteuropäischen Völkern unternommenen Eroberungen, Landnahmen und Suppressionen nicht mit dem Odium des Anti-Kolonialismus behaftet sind. Der nordamerikanische Vertreter in der UNO, Adlai Stevenson, versucht mit großen Anstrengungen, die Idee vom sowjetischen Imperialismus zu verdeutlichen. Ähnliche Versuche zeigen auf, bis zu welchem Punkt sich heute alles Europäische in der Defensive befindet. Der raumbezogene Charakter des Anti-Kolonialismus springt also in die Augen. An den ideologischen Charakter dieses Phänomens denkend, dürfen wir seinen räumlichen nicht ignorieren. Was noch von den klassischen Ideen des Völkerrechts überlebt, hat seinen Ursprung in einer rein europa-zentrischen Raumordnung. Der Anti-Kolonialismus ist ein Phänomen, das die Zerstörung dieser Raumordnung begleitet. Er ist einzig und allein rückwärts orientiert, zur Vergangenheit hin, und er hat als Ziel die Liquidierung eines bis heute gültigen Zustandes. Abgesehen von moralischen Postulaten und der Kriminalisierung der europäischen Nationen, hat er keine einzige Idee zu einer neuen Ordnung geschaffen. Grundsätzlich von einer räumlichen Idee bestimmt, wenn auch nur negativ, besitzt er nicht die Fähigkeit, auf positive Art und Weise den Beginn einer neuen Raumordnung zu fördern. Zudem wird sich dieser Raum unter einem anderen überraschenden und neuen Aspekt präsentieren: als Raum der industriellen Entwicklungshilfe. Zu diesem Problem werde ich noch sprechen. Gerade wegen seiner negativen und destruktiven Tendenz schien es mir interessant, den räumlichen Aspekt des Anti-Kolonialismus hervorzuheben. Was ein anderes universales Phänomen betrifft, das auffällig in den Vordergrund gerückt ist, das Auftreten neuer kosmischer Räume, so ist dessen Raumaspekt evident. Hier scheint es sich sogar einzig und allein um ein räumliches Problem zu handeln. Wenn man heutzutage sagt, daß unsere Epoche das Jahrhunderts des Raumes ist, und wenn man überall mit Beharrlichkeit oder mit Pathos vom „Raum" spricht, so denkt man zuerst an den kosmischen Raum und dessen Eroberung. Neue unermeßliche Räume öffnen sich und, wie es unvermeidlicherweise bei jeder menschlichen Tätigkeit geschieht, werden sie auf die eine oder andere Weise genommen und geteilt. Seit kurzem sprechen wir von einem Nomos der Erde; nun scheint sich das Problem ins Unendliche auszuweiten, so daß es konsequent scheint, an einen Nomos des Kosmos zu denken. Verglichen mit den gigantischen Proportionen der Nähme und Teilung kosmischer Räume kommen uns nun alle vorhergegangenen historischen Ereignisse - Landnahmen, Meernahmen und selbst die Eroberung des Luftraumes - klein und bedeutungslos vor. Wir befinden uns vor einem seltsamen Anti-Phänomen des anti-kolonialistischen Phänomens, von dem wir vorhin sprachen. Die anti-kolonialistische Ideologie verbleibt hienieden, auf unserem kleinen Planeten. Die Eroberung des Kosmos 3*
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jedoch versetzt uns in neue, immense Räume, entzieht uns sogar der irdischen Schwerkraft, und es scheint, daß sie nicht einmal eines archimedischen Punktes bedarf. Der Anti-Kolonialismus ist nichts anderes als die Liquidierung einer historischen Vergangenheit auf Kosten der europäischen Nationen. Die Eroberung des Kosmos hingegen ist pure Zukunft und sie verwandelt dem Anschein nach die bis heute durchlebte Geschichte in ein unbedeutendes Vorspiel. Dennoch wäre es oberflächlich, die Relevanz des räumlichen Aspektes zu vergessen oder geringzuschätzen, unter dem die beiden Anti-Phänomene aufeinanderstoßen; bei dem gegenwärtigen Wettlauf in der großen kosmischen Raum-Nahme und der gigantischen Rivalität zwischen Ost und West. Zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion geht es vor allem und von Grund auf um das Problem der Beherrschung unserer Erde, um die politische Herrschaft auf unserem Planeten, wie klein er uns auch vom kosmischen Gesichtspunkt aus erscheinen möge. Nur wer die Erde beherrscht, wird die neuen kosmischen Räume beherrschen, die zugänglich werden dank der neuen technischen Mittel. Und umgekehrt: Jeder Schritt, der in der kosmischen Raum-Nahme getan wird, wird für die Macht, der er gelingt, ein Schritt zur Beherrschung der Erde sein. Die phantastische Propaganda, die für die Sputniks[7a] und die Astronauten organisiert wird, hat zum sehr konkreten politischen Zweck, die Bewohner dieser Erde zu beeindrucken und nicht die eventuellen Bewohner des Mondes und des Mars. Die Herrschaft über die Stratosphäre oder über den Kosmos wird ihre Rückwirkung auf die Strategie der Kriege haben, die auf Erden stattfinden. Auch hier wird der Krieg total. Aber er wird, ob kalt oder heiß, ein Krieg bleiben, den Menschen dieser Erde mit anderen Menschen derselben Erde ausfechten.
II. Der moderne kalte Krieg ist ein Teil des revolutionären Krieges Wir haben folglich den Raumaspekt zu beachten, den die Phänomene des AntiKolonialismus und der Eroberung des Kosmos mit sich bringen. Beide sind mit den Fronten und den Geschicken des kalten Krieges verflochten. Bis in die Gegenwart hinein benutzt der Osten den Anti-Kolonialismus gegen den Westen, und die neuen kosmischen Räume verwandeln sich zur Szene einer heftigen Rivalität zwischen Ost und West. All dies vermag kaum zu überraschen, haben wir uns doch an den kalten Krieg bis hin zu dem Punkt gewöhnt, daß er uns eine selbstverständliche Tatsache der gegenwärtigen Existenz der Menschheit zu sein scheint. Doch genau deshalb ist es nötig, daß wir nicht die konkrete Besonderheit des heutigen Genre des kalten Krieges aus dem Auge verlieren und daß wir seine Fragen und Probleme nicht auf allgemeine und abstrakte Ideen reduzieren. Es besteht hier eine besondere Gefahr zu abstrakter Generalisierung. Während aller Epochen der menschlichen Geschichte gab es intermediaire Zustände zwischen Krieg und Frieden, die sich in der moralischen oder juridischen Diskussion der gegenwärtigen Lage als Parallelen oder Ähnlichkeiten anführen lassen. Dadurch entsteht häufig
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der Eindruck einer moralischen oder juridischen Einsicht und sogar der Eindruck, es bestände eine klare Definition, obgleich man in Wirklichkeit auf diese Weise verhindert, daß das wirklich Konkrete und Gefährliche des gegenwärtigen kalten Krieges getroffen wird. Wir müssen uns dieser Gefahr der abstrakten Generalisierung sehr bewußt bleiben, um die verschiedenen Stadien in ihrer konkreten Besonderheit untersuchen zu können, die der moderne kalte Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute durchlaufen hat. Wie wir schon gesagt haben, stoßen wir in allen Epochen auf intermediaire Zustände zwischen Krieg und Frieden. Kurz gesagt: Den sogenannten status mixtus gibt es, seitdem es Krieg und Frieden auf Erden gibt. So gesehen ist es möglich und völlig zulässig, vom kalten Krieg als einem generellen historischen Phänomen zu sprechen. Garcia Arias hat entdeckt, daß der Terminus „kalter Krieg" bereits während des spanischen Mittelalters in einem Absatz des Libro de los Estados von Don Juan Manuel erschien, in dem vom kalten Krieg gesagt wird: „Dem, der ihn macht, bringt er weder Frieden noch Ehre" 1. [8] Allgemein bekannt und oft zitiert ist die Wendung Ciceros: Inter pacem et bellum nihil medium. Hugo Grotius zitiert diese Formel in seinem Buche De jure belli ac pacis 1625 [9] und seitdem ist sie sprichwörtlich. Nun zeigen uns bereits diese beiden Beispiele, daß der intermediaire Zustand zwischen Krieg und Frieden abhängig ist von der Struktur des Krieges und des Friedens, die sich von Epoche zu Epoche ändert. Ein kalter Krieg zwischen feudalen Herren des christlichen Mittelalters oder zwischen christlichen und moslemischen Imperien ist etwas anderes als der kalte Krieg, auf den Cicero sich bezieht. In seiner achten Philippika gegen Mark Antonius hat Cicero einen Zustand während der römischen Republik vor Augen, der, genauer betrachtet, ein Bürgerkrieg ist. Ein status mixtus zwischen zwei Bürgerkriegen ist naturgemäß sehr verschieden von einem intermediairen Zustand zwischen zwei Kriegen, die, von Staat zu Staat, zwei solide begründete, impermeable Staaten führen. Als Grotius 1625 Ciceros Wendung benutzte, machte er aus ihr ein Dogma und bewirkte einen essentiellen Wandel ihrer Struktur. Grotius befand sich schon am Beginn des zwischenstaatlichen ius publicum Europaeum des klassischen Völkerrechts, dessen Struktur impliziert, daß der Krieg, im Sinne des Völkerrechts, ein Krieg zwischen Staaten war, genauer, zwischen souveränen Staaten einer europa-zentrischen Weltordnung, wie sie damals entstand. Der Bürgerkrieg hingegen entwickelt sich innerhalb eines Staates. Heutzutage spricht man viel über sogenannte „klassische Begriffe", sowohl im Volkerrecht als auch im Verfassungsrecht 2. Solche klassischen Begriffe geben heute oft die Basis zur Formierung juridischer oder moralischer Ideen ab, sei es 1
Luis Garcia Arias, Sobre la licitud de la Guerra moderna, in: La Guerra moderna, Publicaciön de la Cätedra General Palafox, Universidad de Zaragoza, I (1955), S. 120 [Ndr. in: Garcia Arias, La Guerra moderna y la Organizaciön internacional, Madrid 1962, S. 89 - 136, 103 f. - G. M.]. 2
Vgl. das Stichwort „klassische Begriffe" im Register meiner Verfassungsrechtlichen Aufsätze, Berlin 1958, S. 512.
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bewußt oder unbewußt. Sie werden als geltend unterstellt, doch zur gleichen Zeit werden sie problematisiert und lösen sich auf. Auch hierin bildet sich der intermediaire Zustand der gegenwärtigen Welt ab. Es ist ein gefährlicher Zustand, weil er die Ursache vieler Störungen ist und den Mißbrauch von Worten und Ideen ermöglicht, die ein traditionelles Prestige besitzen, vor allem von Worten und Ideen wie Krieg, Frieden und Neutralität. Das „Klassische" des bis heute existenten Völkerrechts, das, wie wir schon sagen, ein essentiell europäisches Recht war, lag gerade in der Trennung und exakten Unterscheidung von Krieg und Frieden, von kriegführenden und neutralen Staaten, von Kombattanten und Nicht-Kombattanten, von Militär und Zivil; in all diesen präzisen Unterscheidungen, die schließlich ihre klassische Formulierung in den Normen der Haager Konferenz von 1907 fanden.[10] Die fundamentale Unterscheidung jedoch, welche die Basis abgibt für alle diese klassischen Begriffe des Völkerrechts und welche die Idee einer wirklichen Neutralität ermöglicht, ist eine Unterscheidung, die sich allem Anschein nach seit dem Zweiten Weltkrieg verlor: es ist die Unterscheidung zwischen Feind und Verbrecher. Gemäß dem klassischen Völkerrecht kämpft man mit einem Feind, ohne ihn zum Verbrecher zu erklärend 11] Im Gegenteil, er wurde als souverän und gleich respektiert und konsequenterweise ließ sich mit ihm ein ehrenvoller Frieden schließen, nachdem man ihn besiegt hatte. Alles, was sich bis in die Gegenwart hinein als humanitärer Fortschritt in der Geschichte des Völkerrechts feiern lassen kann, basiert auf dieser klassischen Unterscheidung. Heute verstehen wir sehr gut, daß der französische Diplomat Talleyrand in einem berühmten Memorandum 1805 diese Unterscheidung mit soviel Enthusiasmus und so großem Pathos als den größten Fortschritt der Humanität feierte. [12] Heute, in der Epoche des totalen Krieges, des Ausrottungskrieges, des von Partisanen gefühlten Krieges, verliert sich offenkundigerweise das Bewußtsein dieses Fortschritts, und ein Rückfall in die Barbarei scheint fast unabwendbar. Gemäß den berühmten Thesen von Lenin und Mao Tse-tung[13] ist nur der revolutionäre Krieg ein gerechter Krieg, d. h. ein Krieg, der die Zerstörung der sozialen Ordnung im Lande des Gegners zum Ziele hat und die Ausrottung seiner herrschenden Schichten und der eine neue Verteilung von Macht und Eigentum durchführt, ohne die Unterscheidung von Angriffskrieg und Verteidigungskrieg zu berücksichtigen. Dieser revolutionäre Krieg hat kein anderes Interesse und keine andere Orientierung als seinen Endzweck: die soziale Subversion im anderen Lande. Alles übrige, eingeschlossen die Unterscheidung von Krieg und Frieden, ist für seine revolutionäre Kriegsführung nur eine taktische oder strategische Frage. Der Gebrauch militärischer oder nicht-militärischer Methoden ist eine Frage der Umstände, und auf die gleiche Weise werden legale oder illegale Mittel benutzt, um die Macht zu erringen. Das ist das erste fundamentale und bestimmende Prinzip des revolutionären Krieges. Mao Tse-tung hat in einer berühmten Abhandlung über diese moderne Spezies von Krieg die ihm zugrundeliegende quantitative und qualitative Beziehung von kriegerischen und friedlichen Mitteln geschätzt, d. h.
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seine Proportion von heißem und kaltem Krieg. Er meint, daß der heiße Krieg nur angewandt wird, wenn der kalte Krieg mit friedlichen Mitteln die Situation bereits reif gemacht hat für die militärische Invasion. [14] Nur dann erscheint ein rotes Heer und okkupiert das Land. In Ziffern kalkuliert Mao Tse-tung die Proportion zwischen diesen beiden Arten von Krieg 10 : 1. Mit anderen Worten: Der revolutionäre Krieg ist zu neun Zehnteln kalter Krieg und nur zu einem, wenn auch entscheidenden Zehntel ist er heißer Krieg. Das ist eine Proportion, die wir beachten müssen, denken wir über den kalten Krieg nach. Denn die Feindschaft, welche die Essenz jedweden Krieges ausmacht, ist während der neun Zehntel des kalten Krieges nicht geringer als während des letzten Zehntels, während des sogenannten heißen Krieges. Der revolutionäre Krieg bedient sich der klassischen Begriffe des Völkerrechts einzig und allein aus seinen revolutionären Zielen heraus, so wie er sich des klassischen Verfassungsrechts bedient und schließlich des Zivilrechts. Er verwandelt sie in Waffen und Instrumente seiner taktischen und strategischen Zwecke. Er instrumentalisiert sie und das beinhaltet, daß er sie in einem bestimmten Sinne relativiert und neutralisiert. Es ist eine Zerstörung von innen und etwas sehr Unterschiedliches von der Neutralität im Sinne juridischer Objektivität, an die der Jurist denken mag, hört er von Relativierung und Neutralisierung sprechen. Auch die Juristen der westlichen Welt neigen heute dazu, die klassischen Ideen zu relativieren. Insbesondere zerlegen sie den Begriff des Krieges gemäß den verschiedenen partikulären Regeln, deren Anwendung infrage steht. Auf diese Weise existiert ein Krieg im Sinne der Haager Konferenz, darüber hinaus ein anderer, sehr verschiedener Krieg im Sinne des Handelsrechts - z. B. der Klausel cash and carry - oder ein Krieg im Sinne gewisser Normen des Sicherheitsrechts, usw.3.[15] Das ist eine praktische, positivistische Lösung; sie besitzt ihre Vorteile für die Anwendung der verschiedenartigen Gesetze innerhalb eines kalten Krieges. Doch die Gefahr liegt darin, daß die Methode der juridisch-positivistischen Relativierung in vielen Fällen zum gleichen Schlußergebnis gelangt wie die revolutionäre Methode der Relativierung, die, versteht sich, völlig andere Intentionen verfolgt. Die Aufmerksamkeit irrt vom Wege ab und hört auf, sich am zentralen Problem der Weltordnung auszurichten, das stets ein politisches Problem ist, und so wird ein Zwischenzustand legalisiert, dessen Legalität ohne große Anstrengung dem revolutionären Kriege zu Diensten steht. Man muß diese Problematik der Ideen kennen, um die Situation der Welt in diesem Augenblick zutreffend zu deuten. Ein intermediairer Zustand zwischen Krieg und Frieden, in dem ein gegnerischer Mächtiger einen revolutionären Krieg be-
3
Fritz Grob, The Relativity of War and Peace, New Haven 1949; außerdem die Arbeit von Helmut Rumpf, Zur Relativität des Kriegsbegriffs, Archiv des Volkerrechts, 1956/57, H. 1, S. 51 - 55; Manuel Fraga Iribarne, Guerra y paz; nuevos problemas del concepto de la neutralidad, in: Homenaje al Profesor Camilo Barcia Trelles, Santiago de Compostela 1958, S. 339 - 350, 344 ff.
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ginnt, ist vollkommen verschieden von dem, was sich in vergangenen Jahrhunderten status mixtus nannte oder relativer und partieller Krieg. [16] Nun hat ein neuer Zwischenzustand seit dem Ende des Ersten Weltkrieges eingesetzt. Das kollektive Sicherheitssystem des Genfer Völkerbundes und die Versuche zu einem Verbot des Angriffskrieges haben den klassischen Kriegsbegriff zerstört und ebenso den klassischen Begriff der juridisch-internationalen Neutralität. Das System der kollektiven Sicherheit war weder ein Ersatz für den Frieden, noch eine Garantie gegen den Krieg. Die Sowjetunion, 1935 in den Völkerbund aufgenommen, benutzte dessen Institutionen und Verfahren, um ihre weltrevolutionären Ziele zu erreichen. Sie schaltete sich intensiv in die Diskussion über Abrüstung, Ächtung des Krieges und Definition des Angreifers ein und präsentierte die radikalsten Vorschläge. [17] Man konnte ihr dies erlauben, weil der revolutionäre Krieg, den sie führte, nur zu einem zehnten Teil militärischer Krieg war und sich überdies auf einer anderen Ebene als der Krieg des klassischen Völkerrechts entwickelte, der mit soviel Eifer geächtet wurde.
I I I . Die drei Stadien des kalten Krieges: monistisch, dualistisch und pluralistisch Bereits vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, genau gesagt am 26. 4. 1939, erklärte der englische Premierminister Chamberlain im Unterhaus, sich auf die Einführung der Wehrpflicht beziehend: „Es ist wahr, daß wir keinen Krieg haben, doch ebensowenig haben wir Frieden" 4. Während des Zweiten Weltkrieges richtete sich die juridische Diskussion auf die Idee der Neutralität. Diese Neutralität parzellierte sich durch neue Unterscheidungen, relativierte sich und löste sich von Mal zu Mal mehr auf, kam jedoch nie gänzlich von ihrem Bezugspunkt ab: von der klassischen Idee der juridisch-internationalen Neutralität. So entstanden intermediaire Phänomene wie die Nicht-Kriegführung und die Praxis der measures short ofwar.[ 18] Die Vereinigten Staaten praktizierten diese Art von halber oder viertel Neutralität bis zu ihrem offenen Kriegseintritt, d. h., nach Hitlers Kriegserklärung von 1941. Aber immer wenn es ganze, halbe oder viertel Neutralität gibt, wird es auch ganzen, halben oder viertel Krieg geben. Dies war der Weg zu einem intermediairen Zustand, der es nun nicht mehr zu unterscheiden erlaubte, wann der Frieden endete und wann der Krieg begann. Die Freundschaft, die Roosevelt und Stalin einte und der gemeinsame Kampf gegen Hitler verhinderte die kritische Einsicht, daß damals Stalin seinerseits gegenüber den Vereinigten Staaten eine Art intermediairen Zustand zwischen Krieg und Frieden praktizierte, der einen Teil seiner Strategie des revolutionären Krieges bildete.
4 Auf diesen Satz Chamberlains bezieht sich eine Arbeit, die ich einige Monate später, im Oktober 1939, in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, 6. Jg., H. 18, S. 594 95, u. d. T. „Inter pacem et bellum nihil medium" veröffentlichte.
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So begann die erste Phase des modernen kalten Krieges. Wir können sie als monistische Phase qualifizieren, da sie auf der Idee beruhte, daß die politische Einheit der Welt jetzt, 1943, au fond bestand und daß es nur noch notwendig war, einige Hindernisse wie das Deutschland Hitlers zu beseitigen, um endlich den universalen Frieden und die neue Weltordnung zu verwirklichen. Seit 1942 wandelte sich die Allianz zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zur Grundlage eines ganzen Systems weltumspannender politischer Konstruktionen, die noch heute ihre Rückwirkung auf viele, wenig kritische Vorstellungen haben. Insbesondere wurde die neue Organisation des universalen Friedens, die UNO, auf dem problematischen Fundament einer Freundschaft zwischen Roosevelt und Stalin errichtet.!^] Im Grunde war diese erste Phase nichts als ein Vorspiel. Schon im Jahre 1947, zwei Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, trat der kalte Krieg in seine zweite Phase. Um diese von der ersten zu unterscheiden, die, wenn auch nur im Sinne einer illusorischen Einheit, monistisch war, kam es nun zu einer betont dualistischen oder bi-polaren Struktur. Nunmehr ging es nicht mehr darum, ob ein Protagonist der mundialen Freundschaft eine Neutralität, auch wenn sie partiell war, in einem Krieg beachtete, den der andere Protagonist gegen eine dritte Macht führte; vielmehr entstand eine intensive Feindschaft zwischen den beiden Weltmächten, die sich bis heute voneinander isolieren und die die beiden starken Pfeiler der Weltorganisation der UNO bilden. Die Illusion einer Einheit der Welt zerbrach. Stalin änderte völlig seine Strategie des revolutionären Krieges. 1947 proklamierte sein Sprecher Schdanow die Doktrin der „zwei Lager", d. h. die völlige Aufteilung der gesamten Welt zwischen den Vereinigen Staaten und der Sowjetunion gemäß dem Freund / Feind-Kriterium; zwischen diesen beiden Lagern war eine authentische Neutralität nicht mehr möglich. [20] In diesem Moment verflüchtigten sich die Ideen der One world und des Weltstaates. Sie waren nicht mehr als ein ideologisches Phänomen gewesen, das das monistische Vorstadium begleitete und sie hatten nicht mehr Substanz besessen als dieses. Von der Idee der One world blieb nichts übrig als die alten progressistischen Utopien und technizistischen Phantasien. Die Einheit der Welt ist kein kybernetisches, sondern ein politisches Problem, das eine ernste, sogar tragische Aufgabe beinhaltet: die Überwindung der Feindschaft zwischen Menschen und Völkern, zwischen Klassen, Kulturen, Rassen und Religionen5. In der dualistischen 5 Der Terminus bipolar wirkt beinahe zu neutral angesichts der feindlichen Spannung des betreffenden Welt-Dualismus, da Polarität ein den Naturwissenschaften entstammender Begriff ist und politische Feindschaft zwischen Menschen etwas anderes bezeichnet als eine chemische oder physische Polarität. [Zur ,3ipolarität": L. Rubio Garcia, ^Fin del bipolarismo? ^Una nueva organizaciön internacional?, in: Estudios de derecho internacional. Homenaje al profesor Camilo Barcia Trelles, Santiago de Compostela 1958, S. 377 - 388; H. Morgenthau, Macht und Frieden, 1963, S. 293 ff.; St. Hoffmann, Gulliver's Troubles oder die Zukunft des internationalen Systems, 1970, S. 34 ff., 39 ff., 49 ff., 79 ff., 86 ff., 322 ff., 365 ff. - G. M.]
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Phase tolerierten die beiden Großmächte die Neutralität anderer Staaten nur zu einem bestimmten Grade, während die feindschaftliche Beziehung der beiden Gegenspieler im Zeichen des Dualismus keine Neutralität, nicht einmal eine partielle Neutralität erlaubt, ohne daß sie aufhörte, Feindschaft zu sein und sich in einen anderen Zustand verwandelte. Die partielle Neutralität, die der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt in den ersten Monaten des Zweiten Weltkrieges gegenüber Hitler einhielt, war folglich etwas anderes als die sogenannte Neutralität von heute zwischen den beiden feindlichen Blöcken in der dualistischen Phase des kalten Krieges. Der Dualismus vermag einen geringen Grad an Blockfreiheit zulassen, als marginales Phänomen oder als bedeutungslose Ausnahme. Doch wenn die Länder außerhalb der Blöcke aufgrund ihrer Zahl und ihrer Bedeutung eine dritte Front bilden, die eine unabhängige politische Macht darstellt, dann wird der kalte Krieg in seine dritte Phase treten. [21] Es scheint, daß wir gegenwärtig diesen Moment durchleben und daß das dualistisch-bipolare System der Welt durch eine pluralistisch-multipolare Struktur abgelöst wird. Dieser Augenblick verdient folglich eine besondere Analyse. Die Tatsache, daß die weltumspannende Organisation der UNO offenkundig eine Umwandlung erleidet, ist ein Symptom dafür, daß es zu einem kritischen Moment kommen wird. Diese Transformation macht einen Wandel der Weltordnung evident, vergleichbar dem vor zehn Jahren. Nach dem kurzen Vorspiel der monistischen Illusion zueichnete sich die dualistische Phase des kalten Krieges durch die Paralysierung des Sicherheitsrates der UNO aus, hervorgerufen durch das permanente Veto der Sowjetunion. Allein bis zum Februar 1957 griff die Sowjetunion 80 mal zum Veto; seither sind es bereits mindestens 100 Vetos gewesen. Dabei muß man in Rechnung stellen, daß der Sicherheitsrat ursprünglich das Organ der Weltpolitik zur Garantierung des Friedens sein sollte. Und genau dieses Organ verwandelte sich in ein Szenarium des kalten Krieges, den die beiden Weltmächte sogar bis in dieses illustre Forum hinein weitergeführt haben. Im Jahre 1953 sahen sich die Vereinigten Staaten gezwungen, eine Resolution zu veranlassen, durch die die Prozedur geändert wurde: Jetzt war es statt des Sicherheitsrates die Generalversammlung, die mit Zweidrittel-Mehrheit die Entscheidungen zur Sicherheit des Weltfriedens fällte. [22] Ob diese Änderung dem ursprünglichen Charakter der Statuten entspricht, ist von keiner größeren Bedeutung; Tatsache ist, daß mit Hilfe dieses Übergangs vom Sicherheitsrat auf die Generalversammlung die UNO ausreichend gut funktioniert und daß die Sowjetunion dieses System praktisch toleriert. Doch entstand in den letzten Jahren eine erstaunliche Zahl neuer afrikanischer und asiatischer Staaten, die ohne Bedingung in die UNO aufgenommen wurden. Der anti-europäische Anti-Kolonialismus ersetzte jedwede Legitimität oder Legalität. Mit dem Einbruch dieser neuen Mitglieder in die Plenarversammlung veränderte sich auch der Charakter dieses Organismus der UNO. Die Zweidrittel-Mehrheit lag jetzt nicht mehr mit Sicherheit in den Händen der Vereinigten Staaten. Ich erwähne nur die Namen von Algerien, Kongo und Goa, um daran zu erinnern, was dies praktisch bedeutet. Es entsteht eine neue, unabwägbare Situation. Ein bekann-
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ter nordamerikanischer Publizist, Joseph G. Harsch, machte sogar den Vorschlag, daß die beiden Rivalen des kalten Krieges auf irgendeine Weise zu einer Übereinkunft gelangen, um mindestens einen Rest an Stabilität aus dem drohenden Chaos zu retten, das durch den sogenannten Imperialismus der Farbigen hervorgerufen wird. [23]
IV. Der gegenwärtige Pluralismus der Räume industrieller Entwicklung So folgt also dem dualistischen Stadium eine pluralistische Phase. Es wäre ein Irrtum, sie einfach als eine Erweiterung des Dualismus anzusehen und die tiefgreifende Umwandlung der Struktur des Raumes zu ignorieren, die sogar die Idee des Raumes selbst affiziert. Die Oberfläche der Erde bietet uns heute das Bild einer Menge von mehr als 100 Staaten, die beanspruchen, souverän zu sein. Sie alle leben im Schatten des atomaren Gleichgewichts der beiden Weltmächte. Es gibt annähernd ein Dutzend, die sich der Wahl zwischen den beiden Welt-Blöcken entziehen. Kein einziger dieser Staaten vermag der Tendenz zum Großraum zu entgehen, es sei denn, er zöge es vor, der politischen Bedeutungslosigkeit anheim zu fallen. Noch führt die technische Entwicklung nicht zur politischen Einheit der Erde und der Menschheit. Doch es scheint, daß die Grenzen der zahlreichen einzelnen Staaten und ihrer inneren Märkte zu eng werden. Zwischen der bis heute utopischen Einheit der Welt und der überwundenen Epoche früherer räumlicher Dimensionen schiebt sich für einige Zeit das Stadium der Formierung von Großräumen. Der Pluralismus der Räume, dem wir uns heute gegenüber sehen, ist in Wirklichkeit ein Pluralismus der Großräume. Doch „Großraum" bezeichnet etwas, das sehr unterschieden werden muß von einem Raum alten Stils, der lediglich erweitert wurde. Denken wir an den Raum, stellen wir uns zuerst zweidimensionale Räume vor. Der Staat im Sinne des Völkerrechts ist zuvörderst ein begrenztes Territorium, innerhalb dessen sich die nationale Gesetzgebung, die nationale Regierung und die nationale Justiz abspielen. Auch unsere traditionelle und klassische Idee vom Kriege und von den Schlachten hält uns in einem flächenhaften Denken fest. Wir stellen uns den Krieg als eine Reihe von Schlachten vor, die auf einem Schlachtfelde stattfinden, wo sie auch entschieden werden. Das ist eine barocke Idee, die den Krieg als ein Theater auffaßt. Demgegenüber müssen wir daran erinnern, daß, wie wir gesehen haben, der revolutionäre Krieg der aktuellen Situationen nur zu einem Zehntel Krieg im sichtbaren Sinne ist. Sein größerer Teil spielt sich nicht auf einander vergleichbaren Flächen und offenen Schlachtfeldern ab, sondern in den multidimensionalen Räumen des kalten Krieges. Als Konsequenz läßt sich aus alledem die weit verbreitete Idee des Kontinentalblocks gewinnen,[24] der so beschaffen ist, wie es uns fürs erste die Worte „Raum" und „Großraum" suggerieren: als eine gut definierte Fläche und nicht als ein multipolares Konglomerat durchlässiger Volumen. Wir, die Europäer, stehen noch unter dem
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Eindruck der Auflösung der großen Übersee-Reiche der europäischen Mächte wie England, Frankreich, Holland und Belgien. Nicht einmal das englische Commonwealth hat es vermocht, sich als politische Einheit zu erhalten. Für uns ist es logisch, daß wir aus diesem Präzedenzfall den Schluß ziehen, daß die Existenz vereinigter, großer, kontinentaler, impermeabler Blöcke unausweichlich ist. All dies erfaßt den Kern des Problems nicht genau, weil sich in diesem Augenblick die Anfänge zu einer neuen räumlichen Ordnung herausbilden. Es trifft zu, daß die Staaten des Ostblocks anscheinend einer starken kontinentalen Kohäsion folgen. Aber auch hier gibt es Kontinuitätsbrüche. Ein oft genanntes Beispiel ist Albanien, das den Bereich der sowjetischen Verteidigung verließ, um unmittelbar Kontakt mit dem viel weiter entfernten China aufzunehmen. Doch bleiben wir einstweilen im Westen, um die Besonderheit der Großräume, die uns interessieren, besser erkennen zu können. Das Beispiel der Vereinigen Staaten - der größten militärischen und ökonomischen Potenz und der ersten Atommacht - wird uns den modernen Pluralismus der Großräume erhellen. Demonstriert uns bereits das Beispiel der Vereinigten Staaten den Kontrast zur vorangegangenen Raumstruktur, die sich durch eine relativ bescheidene Fläche auszeichnete, so werden uns, unter dem Aspekt einer verwandelten Raumstruktur, die kleineren und mittleren Staaten der Erde noch mehr überraschen. Wie es außerordentlich einleuchtend ist, sind die Vereinigten Staaten zuvörderst ein begrenzter Raum im Sinne des klassischen Völkerrechts. Sie haben ihre bestimmten territorialen Grenzen, die jedes Kind in einem Atlas, anhand der farbigen Markierungen, finden kann. Die berühmte Drei-Meilen-Zone ließe sich hinzufügen oder die Länge der Meeresküsten und einiges mehr. Die Ansprüche, die in Bezug auf den Meeresgrund bestehen, deuten auf ein anderes, zu unterscheidendes Raummaß hin, dessen Problematik wir jetzt nicht vertiefen können. Doch ist für unser Thema die mehr als bekannte Tatsache von Interesse, daß die Vereinigten Staaten, dank der Praxis der Monroe-Doktrin, einen weiteren geographischen Bezirk festlegten, die westliche Hemisphäre. Deren geographische Grenzen wurden in besonderen Fällen, während des Zweiten Weltkrieges, gründlich diskutiert; z. B. in der Frage der Grenzen des Pazifischen Ozeans oder im Grönland-Fall 6. Aber zum wirklichen politischen Raum der Vereinigen Staaten gehört nicht nur ihr Territorium im Sinne einer Sphäre staatlicher Kompetenz, wo ihre Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Justiz gelten und auch nicht nur die Einflußsphäre der Monroe-Doktrin; die Vereinigten Staaten sind überdies der wichtigste Faktor in der Atlantischen Verteidigungsgemeinschaft, in der NATO, die 15 Staaten umfaßt, amerikanische und nicht-amerikanische. Außerdem nehmen die Vereinigten Staaten einen bedeutenden Platz im globalen Raum der UNO ein. Die Verteidigungszone der NATO ist keine „Region" im Sinne des Artikels 52 der UNO-Statuten, denn im Sicherheitsrat herrscht keine Einmütigkeit über ihren friedfertigen Charakter; basierend auf dem Artikel 51 der UNO- Statuten,[25] der das Recht auf 6 Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 260. [Vgl. a. vorl. Bd., S. 442 ff. - G. M.].
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Selbstverteidigung anerkennt, ist die Verteidigungssphäre der NATO ein Teil des globalen Raumes der UNO. Und es ist besser, nicht von dem Raum zu sprechen, der aus der Tatsache erwächst, daß die Vereinigten Staaten eine Atom-Macht sind, die NATO aber nicht. Diese vier Räume sehr unterschiedlicher Dichtigkeit und Permeabilität - staatliches Territorium, westliche Hemisphäre der Monroe-Doktrin, Verteidigungssphäre der NATO und globaler Raum der UNO - , all diese Räume, ich wiederhole es, kann man sich als Oberflächen vorstellen. In Wirklichkeit sind sie jedoch magnetische Kraftfelder aus menschlicher Energie und Arbeit. Es lassen sich hier andere Räume evozieren: jener Raum authentischen amerikanischen Einflusses, der nicht identisch mit dem Raum der Monroe-Doktrin ist; sodann der Raum der ökonomischen Reichweite des inneren und äußeren Marktes Nordamerikas; der Raum des Einflusses des amerikanischen Dollars und auch der Raum der kulturellen Expansion, der Sprache und des moralischen Prestiges. Ich möchte hier nicht in eine endlose Diskussion über das Raumproblem eintreten und ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich mich bereits schon so weit entfernt habe. Aber es war unumgänglich, die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Interferenzen und Überlappungen der verschiedenen Räume zu lenken, damit uns die charakteristische Besonderheit der Art von Raum deutlich werde, die uns im gegenwärtigen Augenblick besonders interessiert und die das Geschick aller Völker der Erde bestimmen wird: es ist der Raum der industriellen Entwicklung und der Teilung der Erde in industriell entwikkelte und unterentwickelte Regionen und Völker. Damit geht einher das Problem der industriellen Entwicklungshilfe, die die Entwickelten den weniger Entwickelten zukommen lassen, ihre Reichtümer bei anderen anlegend. Am Beginn meines Vortrages benutzte ich das Wort „Nomos" als charakteristische Denomination für die konkrete Teilung und Verteilung der Erde. Wenn Sie mich nun jetzt, in diesem Sinne des Terminus „Nomos" fragen, was heute der Nomos der Erde sei, kann ich Ihnen klar antworten: er ist die Teilung der Erde in industriell entwickelte und weniger entwickelte Zonen, verbunden mit der unmittelbar folgenden Frage nach demjenigen, der sie nimmt. Diese Verteilung ist heute die wirkliche Verfassung der Erde. Ihr großes Ursprungs-Dokument ist der Artikel 4 der Truman-Doktrin vom 20. Januar 1949, die ausdrücklich diese Verteilung statuiert und die mit aller Feierlichkeit die industrielle Entwicklung der Erde als Vorhaben und als Ziel der Vereinigten Staaten proklamiert.[26] Die fundamentale Bedeutung dieses Dokuments war nicht unerwartet, und es wird nunmehr seit Jahren diskutiert 7. Rasch benutzte man anstatt des undeveloped die sanftere Wendung uncommitted nations oder regions. Aber erst in den letzten Jahren trat das Phänomen im größeren Ausmaß ins Bewußtsein und wurde als Ausgangspunkt einer neuen Weltordnung erkannt; mehr noch, in einigen Teilen der westlichen Welt wurde das Thema der Entwicklungs-
7 Vgl. meinen Vortrag im Philosophischen Seminar von Prof. Joachim Ritter vom 9. 3. 1957; überdies die 5. Glosse in meinem Buch Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 503 504. [Vgl. o., S. 616/17. - G. M.].
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hilfe auf eine fast ungeduldige Manier zu einer Mode erhoben und als bequemer Schlüssel für sämtliche Weltprobleme gehandhabt. Unter dem Aspekt der industriellen Entwicklungshilfe ist das Bild der gegenwärtigen Welt voller Widersprüche. Die Vereinigten Staaten und andere westliche Länder, unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland, gewähren diese Entwicklungshilfe nicht nur ihren Verbündeten und politischen Freunden, sondern auch den Neutralen des anti-kolonialistischen Raumes. Sie plazieren dort enorme Mengen von Kapital und Arbeit. Die Sowjetunion, die im Rufe steht, ohne jede auswärtige Hilfe ihre industrielle Entwicklung geschafft zu haben, unterstützte nicht nur China bei der Errichtung seiner Industrie durch enorme Opfer und durch einen beispiellosen Konsumverzicht ihrer Bevölkerung, sondern sie ist auch dabei, nichtkommunistische oder neutrale Länder zu unterstützen. Der vordem kolonisierte Raum scheint die vorausbestimmte Umgebung für diese neue Art von Neutralität zu sein. Vielleicht findet sich eine gewisse Erklärung darin, daß die Ideologie des Anti-Kolonialismus den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gemeinsam ist. Jedoch besteht ein tiefgreifender Widerspruch: Auf der einen Seite präsentiert sich der neue Raum als das Szenario eines a-politischen Wettstreits rein kommerzieller Natur zugunsten des industriellen Fortschritts der Menschheit; auf der anderen Seite repräsentiert er zugleich das Schlachtfeld einer besonders intensiven und bösartigen Modalität von Feindschaft und kaltem Krieg. So haben wir nun die Erde bedeckt mit einem dichten Netz sowohl öffentlicher wie privater industrieller Anlagen; ein Netz, das die beiden feindlichen Rivalen am knüpfen sind. Es wäre ein in Finanz, Ökonomie und Welthandel bestens Eingeweihter nötig, um in alle Arcana dieses Komplexes einzudringen, und es wäre ein überaus beschlagener Experte für das internationale private und öffentliche Recht nötig, um mit juristischer Exaktheit alle Beziehungen zu formulieren, die aus diesem pelagus hervorgehen. Für unser Thema ist wichtig, daß eine entscheidende Idee wie die der Neutralität ihren Inhalt und ihren Sinn vollkommen geändert hat. Indien z. B., der radikalste Champion des anti-europäischen Anti-Kolonialismus, läßt sich gleichzeitig von Rußland, England und Deutschland industriell entwikkeln. Das ist der Kern seiner Neutralität. Ich glaube, daß ich mir weitere Beispiele ersparen kann. Wesentlich ist, daß trotz des Gegensatzes von Ost und West, der seinen großen Schatten über alles wirft, endgültige und gut definierte Entwicklungsräume noch nicht festzustellen sind. All dies ist noch Entwurf und noch auf dem Wege. Ebenso wenig umfaßt die europäische Wirtschafts-Gemeinschaft einen einheitlichen und gut umrissenen Entwicklungsraum, obgleich sie zu Beginn dieses Jahres in ihre zweite, konzentriertere Phase trat. Die Europäische WirtschaftsGemeinschaft hat selbst unterentwickelte Regionen und erlaubt dennoch ihren Mitgliedern, industrielle Entwicklungshilfe an ferne afrikanische und asiatische Länder zu leisten. Viele Sachverständige sagen voraus, daß die Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft zwangsläufig zur politischen Einheit Europas führen werde. Aber die Frage dabei ist, ob Europa zum überzeugenden Träger einer homogenen Entwicklungshilfe werden kann; mit anderen Worten, ob ein politisch vereintes
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Europa eine homogene und einheitliche Politik der Investitionen und Anlagen haben wird, sowohl im Inneren wie nach außen, und ohne daß sich ein Mitgliedsstaat abseits stellen kann, sich dabei auf seine Neutralität berufend.
Schluß Mit diesem Problem bin ich an den Schluß meiner Ausführungen angelangt. Es stellt nur eine untergeordnete Frage dar. Das entscheidende Problem, das alle anderen überragt, ist das folgende: Auf welche Weise wird sich der Gegensatz zwischen dem Dualismus des kalten Krieges und dem Pluralismus der Großräume lösen, den wir abschließend erklärten? Wird sich der Dualismus des kalten Krieges verschärfen oder wird sich eine Reihe von Großräumen bilden, die ein Gleichgewicht in der Welt schaffen und auf diese Weise die Vorbedingung für eine stabile Friedensordnung? Beide Möglichkeiten stehen offen. Folglich haben wir hier ein Feld für die freie politische Entscheidung und für die historische Verantwortung. Die Nationen der Welt und ihrer Führer haben sich hier zu entscheiden. Es ist nicht meine Aufgabe, ihr Urteil vorweg zu nehmen. Meine Aufgabe ist die objektive Diagnose der aktuellen Situation. Ich unterbreitete sie gemäß meinen Möglichkeiten. Zum Schluß mögen Sie mir bitte gestatten, eine persönliche Bemerkung hinzuzufügen. Ich stellte den Raum der industriellen Entwicklung als Hauptproblem meiner Ausführungen dar und ich sprach von der Unwiderstehlichkeit dieser Entwicklung. Glauben Sie jedoch nicht, daß dies aus Begeisterung für den Industrialismus geschah, oder aus blinder Bewunderung für die Art von Wissenschaft, die ihm zu Diensten ist. Es geschah eher unter dem Imperativ einer klaren Einsicht in die gegenwärtige Welt und das, was heute der Ansatzpunkt einer neuen Ordnung sein könnte. Ich spreche von der industriellen Entwicklung mit der gleichen geistigen Haltung, mit der Tocqueville von der modernen demokratischen Entwicklung sprach. Ich fahre fort, den Satz Unamunos zu bewundern: „Mögen die anderen erfinden !"[27] Dieser Ausruf des großen tragischen Philosophen ist und bleibt ein Zeichen geistiger Überlegenheit. Wir dürfen uns nicht blind machen für die objektiven Notwendigkeiten der industriellen Entwicklung, aber wir müssen uns hüten, an die moderne Technik zu glauben, wie die Mexikaner an die weißen Götter glaubten. Die gesamte Welt der Industrie und der modernen Technik ist nichts anderes als das Werk der Menschen. Die neuen, in Bildung befindlichen Großräume, werden ihre Maßstäbe anhand der Dimensionen menschlicher Planung und Verwaltung finden, um genauer zu sprechen, anhand einer Planung und Verwaltung, die sich durch Menschen gegenüber Menschen mit dem Ziele organisiert, den Bevölkerungsmassen der industrialisierten Regionen eine vernünftige Sicherheit ihrer Existenz zu garantieren, mit Vollbeschäftigung, stabiler Währung und ausgedehnter Konsumfreiheit. [28] Nur wenn die neuen Räume das immanente Mittel gefunden haben, das jenen Erfordernissen entspricht, wird das Gleichgewicht der neuen
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Großräume funktionieren. Und dann wird man sehen, daß Nationen und Völker die notwendige Kraft besitzen, um sich inmitten der industriellen Entwicklung zu behaupten und sich selber treu zu bleiben und daß auf der anderen Seite Nationen und Völker ihr Gesicht verlieren, weil sie ihre menschliche Individualität dem Götzen einer technisierten Erde opfern. Dann wird sich zeigen, daß die neuen Großräume ihre Mitte und ihren Inhalt nicht nur von der Technik empfangen, sondern auch von der spirituellen Substanz der Menschen, die für ihre Entwicklung zusammenarbeiten, auf Grund ihrer Religion und ihrer Rasse, ihrer Kultur und ihrer Sprache und auf Grund der lebendigen Kraft ihres nationalen Erbes.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Schmitt bezieht sich auf Fraga Iribarnes Laudatio, u. d. T. „Carl Schmitt, el hombre y la obra" erschienen in: Revista de Estudios Polfticos, Nr. 122, März/April 1962, S. 5 - 16. [2] Schmitt unterstrich dies in einem Gespräch mit dem Madrider Journalisten Ignacio Maria Sanuy, das unmittelbar vor seinem hier abgedruckten Vortrag geführt wurde. Darin sagte er u. a.: „Europa ist ein Großraum. Eine neue Konzeption eines Großraums. ... Wir befinden uns in einer Übergangsperiode. Die Industrialisierung schafft neue Großräume, aber es ist notwendig zu verhindern, daß die Idee der Technisierung betrachtet wird, als sei sie allein fähig, die politische Einheit der Welt automatisch herbeizuführen." Danach äußerte sich Schmitt zur „Supra-Nationalität": „Sie zielt aggressiv auf Einheit. Wir stehen aufs Neue vor dem alten Streit um Freund und Feind. Was die Supra-Nationalität angeht, so denke ich darüber genauso wie ein junger französischer Jurist, der Dr. Francis Rosenstiel Vom theoretischen Gesichtspunkt aus konfrontiert der Autor die Wissenschaft der Jurisprudenz mit dem lebendigen Recht und optiert für die Tradition des Rechts gegen den wissenschaftlichen Konservatismus. Vom praktischen Gesichtspunkt aus fragt er nach der Zukunft der supranationalen Organismen und beweist, daß eine juristische Konstruktion, wie vollkommen sie auch sein mag, ein Simulacrum bleibt, wenn die Politik ihr kein Leben einhaucht." Schließlich kritisierte Schmitt den sprichwörtlichen spanischen Inferioritätskomplex u. kam zu dem Schluß: „Die Situation Spaniens, ideologisch betrachtet, ist der Europas voraus. Sie sind die einzigen, die den Kommunismus besiegt haben. ... Heute dürfen sie sich überlegen fühlen. Es ist möglich, daß sich alle europäischen Länder vor Spanien rechtfertigen müssen ...". Dieses Gespräch, u. d. T. „Europa, Espana y Carl Schmitt" erschien vermutlich am 21. 3. 1962 in einer Madrider Tageszeitung; genauere Angaben sind nicht möglich, da der betr., textlich vollständige Ausriß aus dem Nachlaß Schmitts keine diesbezüglichen Hinweise enthält. - Das erwähnte Buch von Rosenstiel, geb. 1937, ist: Le principe de »supranationale". Essai sur les rapports de la politique et du droit, Paris 1962, Pedone. Es handelte sich dabei um eine Straßburger Diss, bei Julien Freund, der das Buch mit einer Einleitung versah (S. 10 - 16). Dt. Ausgabe: Supranationalität. Eine Politik des Unpolitischen, Köln 1964, Kiepenheuer & Witsch; span. Ausgabe: El principio de la supranacionalidad, Madrid 1967, Instituto de Estudios Polfticos. - Schmitt u. Rosenstiel korrespondierten sehr lebhaft in den Jahren 1960 1980. Zwar lehnte Schmitt Rosenstiels Wunsch ab, das Buch mit einem Vorwort zu versehen, regte R. jedoch zu dem Untertitel der deutschen Ausgabe an; vgl. P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana II, Brüssel 1990, S. 69 f. Schmitt selber schrieb am 10. 11. 1964 an Julien Freund u. a.: „ U edition allemande du Ii vre de notre ami commun Francis parait exactement
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au moment oü les Allemands se crispent dans des alternatives qui demontrent leur Sackgassen-Begabung. Iis ont peur de toute decision; ils se sont faits une morale de la non-decision. Leur option pour I'Europe des Communautes est une option pour cet ideal de non-decision." (Tommissen, a. a. O., S. 59 f.). [3] Am 23. 10. 1929 sprach Schmitt im Madrider „Centro de Intercambio intelectual germano-espanol" über Donoso Cortes. Der Vortrag wurde als Broschüre u. d. T. „Donoso Cortes - Su posiciön en la historia de la filosoffa del Estado europeo" 1930 im Verlag des „Centro" veröffentlicht (16 S.) u. überschneidet sich mit Schmitts Aufsätzen „Donoso Cortes in Berlin (1849)" und „Der unbekannte Donoso Cortes", Ndr. in: Schmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation, 1950, S. 41 - 79. [4] Bezieht s. auf den Vortrag „Cambio de estructura del derecho internacional" vom Juni 1943 in Madrid, abgedruckt in: Revista de Estudios Polfticos, Vol. V, Madrid 1943, S. 3 - 36 (Anexos). Der Text überschneidet sich mit „Die letzte globale Linie", Marine-Rundschau, 8/ 1943, S. 521 - 527; Ndr. in: Egmont Zechlin (Hrsg.), Völker und Meere, Leipzig 1944, S. 342 - 349 sowie im vorl. Bd., S. 441 ff. [5] Vgl.: M. Fraga Iribarne, Guerra y paz; nuevos problemas del concepto de la neutralidad, in: Estudios de derecho internacional. Homenaje al profesor Camilo Barcia Trelles, Santiago de Compostela 1958, S. 338 - 350 (dort auch Schmitts „Gespräch über den Neuen Raum", im vorl. Bd. S. 552 ff.); ders., La guerra como instituciön social y el problema de su eliminaciön o limitaciön, in: Estudios Jurfdico-Sociales. Homenaje al profesor Luis Legaz y Lacambra, Santiago de Compostela 1960, Bd. II, S. 1263 - 1285 (in dieser FS auch Schmitts Beitrag „Der Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft als Beispiel einer zweigliedrigen Unterscheidung. Betrachtungen zum Struktur und zum Schicksal solcher Antithesen", S. 165 - 178 im Bd. I, mit dem Schmitt sich für Legaz y Lacambras Aufsatz „Völkerrechtsgemeinschaft, Ideologie, Utopie und Wirklichkeit", FS Schmitt 1959, S. 123 - 143, revanchierte. Luis Legaz y Lacambra (1906 - 1980) muß als einer der bedeutendsten Rechtsphilosophen Spaniens angesehen werden; vgl. von ihm: Rechtsphilosophie, 1965 (span, zuerst 1961), mit zahlreichen Bezugnahmen auf Schmitt; s. a.: Estudios de filosoffa del Derecho y ciencia juridica en memoria y homenaje al catedrätico Don Luis Legaz y Lacambra (1906 - 1980), Madrid 1983 (Bd. I) u. 1985 (Bd. II), Centro de estudios constitucionales). - Schmitt bezieht sich hier auch auf andere Aufsätze Fragas, der damals besonders in der von ihm geführten „Revista de Estudios Polfticos" publizierte. [6] Wohl ein Hinweis auf Toynbees Buch „The World and the West", Oxford 1953; dt. „Die Welt und der Westen", Stuttgart 1953. Vgl. vorl. Bd., S. 534 f. u. ö.. [7] Am 18. 12. 1961 annektierten indische Truppen Goa. Indien verstieß damit gg. Art. 2, Abs. 4 der UN-Charta („Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."), „argumentierte" aber damit, ein Verstoß gegen das Gewaltverbot scheide aus, da man nur widerrechtlich besetztes, eigenes Land zurückgewonnen habe. Die Annexion Goas, die auch im Ggs. zur Stimson-Doktrin stand, wurde hingenommen. [7a] Vgl. die frühen völkerrechtl. Stellungnahmen des Pioniers des Luftrechts, Alex Meyer: Der künstliche Erdsatellit als Rechtsproblem, NZZ, 22. 10. 1957; ders., Der Erdsatellit in rechtl. Sicht, Spuren 1957; beide Artikel nachgedr. in: Meyer, Luftrecht in fünf Jahrzehnten. Ausgewählte Schriften, 1961, S. 406 ff.; vgl. a.: Cooper, Flugraum u. Satelliten, 39 Staat, Großraum, Nomos
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Ztschr. f. Luftrecht, 1958, S. 178 ff.; E. Sauer, Die völkerrechtl. Bedeutung der Sputniks, JIR, 1 - 2/1959, S. 35 ff. - Die von Schmitt erörterte „kosmische Raumnahme" hat, zumindest im engeren juristischen Sinne, nicht stattgehabt; der Weltraum unterliegt dem res communis ommwm-Prinzip u. lt. Weltraumvertrag v. 27. 1. 1967 besteht ein Aneignungsverbot für den Mond u. andere Himmelskörper (Art. II; Text d. Vertrages in: BGBL, 1969, II, S. 1967 ff.; auch im Anhang von: M. Wollenschläger/H. Hablitzel, Der Weltraumvertrag vom 27. Januar 1967, FS G. Küchenhoff zum 65. Geburtstag, 1972, Bd. II, S. 869 - 894, 884 ff.; vgl. a.: A. Bueckling, Der Weltraumvertrag, 1980); nur über Weltraumgegenstände und ihre Besatzung besteht eine Hoheitsgewalt u. Kontrolle seitens der betr. Staaten (vgl. Bittlinger, Hoheitsgewalt und Kontrolle im Weltraum, 1988, bes. S. 107 ff.). Zum anderen dürfen keine Kernwaffen in die Umlaufbahn gebracht, Himmelskörper nicht mit derartigen Waffen bestückt, derartige Waffen nicht stationiert werden (vgl. Art. IV d. Vertrages); vgl. auch die Resolutionen der Generalversammlung d. Vereinten Nationen v. 12. 12. 1958 (Text in: AVR, 1959/60, S. 213 ff.) u. vom 20. 12. 1961 (Text in: Berber, Völkerrechtl. Dokumentensammlung, I, Friedensrecht, 1967, S. 1654 ff.). Doch wird die militärische Nutzung des leeren Weltraums vom Weltraumvertrag nicht berührt und findet, wie es Aufklärungs-, Frühwarn- u. Navigationssatelliten zeigen, ständig statt; dazu Bueckling, a. a. O., S. 39 ff., der S. 41 resümiert: „Am Beispiel der Aufklärungssatelliten wird ... deutlich, wie sehr der technische Fortschritt an das bisherige Ordnungsgefüge des Völkerrechts brandet. Es war bisher gesicherter Rechtsgrundsatz, daß der Himmel über den Staaten geschlossen ist. Dieser Himmel reicht allerdings nur bis zur oberen Grenze des hoheitlichen Luftraums. Die Satellitentechnik hat das überkommene Prinzip des geschlossenen Himmels über den Staaten sozusagen von oben her, nämlich aus dem hoheitsfreien Weltraum, aus den Angeln gehoben." - Zum Stand d. Weltraumrechts z. Zt. des hier nachgedruckten Vortrages vgl. u. a.: Dahm, Völkerrecht, 1958,1, S. 729 f.; v. Münch, Grundfragen des Weltraumrechts, AVR, 2/1959, S. 151 - 179 (mit interessanten Literaturhinweisen); Rehm, Rechtsfragen des Weltraums, Internat. Recht u. Diplomatie, 1 - 2/1961, S. 23 ff.; Wessels, Weltraumrecht, in: Strupp-Schlochauer, Wörterbuch d. Völkerrechts, 1962, III, S. 831 ff. Aufschlußreich auch die Textbände der ersten größeren Tagungen zum „frühen" Weltraumrecht, etwa: Haley/Prinz v. Hannover, eds., First Colloquium on the Law of Space, The Hague 1958; Law and Politics in Space. (Mc Gill Conference on the Law of Outer Space, 12. - 13. 4. 1963), ed. Maxwell Cohen, Leicester 1964. - Die weitere, sprunghafte Entwicklung kann hier nicht nachgezeichnet werden, vgl.: v. Welck, Weltraum, in: K. Kaiser/H. P. Schwarz (Hrsg.), Weltpolitik, 1987, 2. Aufl., S. 236 - 249 (auch auf die milit. Aspekte kurz eingehend); Kaiser/v. Welck (Hrsg.), Weltraum u. internationale Politik, 1987; v. Welck/Platzöder (Hrsg.), Weltraumrecht - Law of Outer Space, 1987; Ipsen, Völkerrecht, 1990, 3. Aufl., S. 765 ff.; zum Satellitenproblem: v. Welck, Satelliten in d. internationalen Politik, 1989. [8] Der Infant Don Juan Manuel (1282 - 1348), eine bedeutende Rolle in den Kämpfen gg. die Mauren spielend, schrieb vom „Kalten Krieg" zwischen Christen u. Mauren: „Ca la guer(r)a muy fuerte et muy calienta, aquella que se acaba afna, o por muerte o por paz; mas la guer(r)a tivia (= fria, G. M.) nin trae paz nin da onra al que la faze, nin da a entender que ha en el vondat nin esfuerzo, asi commo cunph'a" (Don Juan Manuel, El libro de los Estados, hrsg. von I. R. Max Person/R. N. Täte, Madrid 1991, S. 235); über seine große Bedeutung als polit. Denker u. Schriftsteller vgl. a.: Gimenez Soler, Don Juan Manuel. Biograffa y estudio critico, Saragossa 1932; J. M. Castro y Calvo, El arte de gobernar en las obras de D. Juan Manuel, Madrid 1944; sein literarisches Hauptwerk, „El Conde Lucanor" (Lehrfabeln in einer Rahmenhandlung) übersetzte Eichendorff 1840. - Der Völkerrechtler Luis Garcia Arias (geb. 1921), lud Schmitt wenige Tage vor dem hier veröffentlichten Vortrag zu Vorträgen in
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Pamplona und Saragossa ein (15. u. 17. 3. 1962), wo Schmitt über den Partisanen sprach: Schmitt, Teorias modernas sobre el partisano, in: Defensa nacional. Universidad de Zaragoza MCMLXII, S. 327 - 359; daraus entstand das Buch „Theorie des Partisanen" von 1963. Garcia Arias' Werk ist z. T. stark von dem Schmitts beeinflußt, vgl. die Schmitt gewidmete Studie „Ante la alteraciön del equlibrio mundial", in: La Guerra Moderna y la Organizaciön internacional, Madrid 1962, S. 487 - 555, in der für eine neue, durch eine Mehrzahl von Großräumen ermöglichte „balance of power" plädiert wird; s. auch den Aufsatz „El regionalismo internacional", in: Actas del Primer Congreso Hispano-luso-americano de Derecho internacional, II, Madrid 1952, S. 79 - 96. Garcia Arias beteiligte sich auch an d. Festgabe f. Schmitt, Epirrhosis, 1968, Bd. I, S. 237 - 244, mit dem Beitrag „Die politische Funktion der Streitkräfte". Neben dem o. a. Sammelband verdienen Erwähnung: Historia del principio de la libertad de los mares, Santiago de Compostela 1946 (250/XVI S.); La politica de la „coexistencia pacifica" de la Union Sovietica, Saragossa 1960 (228 S.); La politica internacional en torno a la guerra de Espana (1936), Saragossa 1961 (246 S.); Estudios de historia y doctrina del derecho internacional, Madrid 1964 (733 S.); Estudios sobre relaciones internacionales y derecho de gentes, 2 Bde., Madrid 1972 (954 S.); darin von bes. Interesse die Arbeiten über die Monroe-Doktrin, S. 49 - 105 u. über Mackinder, S. 185 - 259). [9] Hugo Grotius, De jure belli ac pacis; dt. Ausgabe, Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1950, S. 578. Die Wendung entstammt der 8. Philippika, I. [10] Vgl. Philipp Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, 1915. [11] Vgl. die zahlreichen Hinweise Schmitts zum ,justus hostis" des Klassischen Europäischen Völkerrechts, in: Der Nomos der Erde, 1950. H. J. Wolff, Kriegserklärung und Kriegszustand nach Klassischem Volkerrecht, 1990, behauptet, die Lehre vom ,Justus hostis" habe kriegsvölkerrechtsgeschichtlich keine Rolle gespielt. Doch die staatliche und militärische Praxis tendierte lange Zeit zu einer Nichtdiskriminierung des Feindes und das ist hier wohl, ungeachtet einiger Ungenauigkeiten und historischer Stilisierungen Schmitts, das Entscheidende. Vgl. a.: F. Dickmann, Friedensrecht und Friedenssicherung, 1971, bes. S. 116 -148. [12] Ein Auszug aus diesem Memorandum bei: E. Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, 1963, II, S. 165 f. Es handelte sich um eine Denkschrift zum Berliner Dekret Napoleons I. v. 21. 1. 1806 über die Kontinentalsperre, nicht um einen Text v. 1805. Zur Kontinentalsperre selbst vgl. u. a.: B. de Jouvenel, Napoleon et l'economie dirigee. Le blocus continental, Brüssel/Paris 1942, bes. S. 233 - 254; Napoleons Englandkampf, zusammengestellt v. H. Conrad, 1942, S. 104 - 116. [13] Vgl. zu Lenin und Mao Tse-tung: Schmitt, Theorie des Partisanen, 1963, S. 52 ff., 58 ff. - Dort auch zum „Raumaspekt" und zur „Zertrümmerung sozialer Strukturen", S. 7Iff. [14] Schmitt bezieht sich wohl auf Gedankengänge Maos in: Über den langwierigen Krieg, in: Mao Tse-tung, Ausgewählte Schriften, Peking 1957, II, S. 168 ff. Dazu auch: Theodor Arnold, Der revolutionäre Krieg, 1961, S. 97 ff. [15] Vgl. A. W. Dulles, Cash and carry neutrality, Foreign Affairs, January 1940, S. 179 195. - Das erste Neutralitätsgesetz der USA v. 31. 8. 1935 (dt. Text in: Hamburger Monatshefte f. Ausw. Politik, Nov. 1935, S. 8 ff.) wurde am 1. 5. 1937 geändert (Text in: Monatshefte f. Ausw. Politik, Juni 1937, S. 361 ff.). Die wichtigste Neuerung war die Einführung der „cash-and-carry"-Klausel: alle Kriegführenden konnten danach sämtliche Waren, die nicht unter das Waffenausfuhrverbot fielen, nach Barzahlung und auf eigenen Schiffen aus ameri39*
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kanischen Häfen abholen. (Dazu u. a.: Grewe, Neutralität im Wirtschaftskrieg, Monatshefte f. Ausw. Politik, Mai 1937, S. 274 - 282; Keppler, Cash and Carry, Völkerbund u. Völkerrecht, Juli 1937, S. 201 - 206; Grewe, Zwischen Neutralität u. Kollektivsicherheit, Monatshefte f. Ausw. Politik, Okt. 1937, S. 627 - 638; M. Freund, Die USA. Zwischen Neutralität u. Weltmachtspolitik, Dt. Rundschau, Jan. 1938; Eckhardt, Das Neutralitätsgesetz d. Vereinigten Staaten von 1937, ZaöRV, 1938, S. 231 - 256.) Damit wurden diejenigen Kriegführenden begünstigt, die über entsprechende wirtschaftliche Mittel und ausreichend große Flotten verfügten; das Grundprinzip der Neutralität, die strikte Gleichbehandlung aller Kriegführenden, war damit bereits aufgegeben. - Mit dem neuen, dritten Neutralitätsgesetz vom 4. 11. 1939 (engl. Text in: F. Berber, Die amerikanische Neutralität im Kriege 1939 - 1941, Essen 1943, S. 73 - 84; dt. in: Monatshefte f. Ausw. Politik, 1940, S. 120 ff.) wurde das Waffenausfuhrverbot aufgehoben; die „cash-and-carry"-Klausel, die in ihrer alten Form nur bis zum 1.5. 1939 gültig war, wurde jetzt auch auf Waffenexporte aller Art ausgedehnt, womit England einseitig begünstigt wurde. Das offiziell weiterhin geltende Verbot des Transports von Kriegsmaterial auf US-Schiffen wurde zugleich ausgehöhlt, da nunmehr Verschiffungen nach den britischen u. französischen Besitzungen in Mittel- und Südamerika sowie nach den Bermudas ebenso erlaubt waren wie auf Flüssen und Seen, die an die USA grenzten. Dennoch behaupteten die USA weiterhin, sie hielten an der Neutralität fest. Im Anschluß an die neue „Neutralitäts"- Gesetzgebung v. 1939 kam es zum Stützpunkt-Zerstörer-Tausch v. 2. 9. 1940 (der Notenwechsel zw. den USA u. Großbritannien ist abgedruckt bei: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, 1942, Bd. III, 2, S. 1291 - 1330, mit zusätzl. Materialien), bei dem die USA fünfzig ältere Zerstörer gegen Stützpunktrechte auf britischen Besitzungen auf Neufundland, Bermuda u. der Karibik abgaben. Im „Lend-lease"-Abkommen v. 10. 1./11. 3. 1941 wurde Großbritannien die leih- oder pachtweise Nutzung von US-Kriegsmaterial ermöglicht und dadurch die „cash-and-carry"-Klausel aufgehoben; damit gingen die USA endgültig von der „Neutralität" zur „Nichtkriegführung" über. Vgl. u. a.: Berber, op. cit., mit Dokumenten u. Literaturhinweisen; Jessup, The Neutrality Act of 1939, AJIL 1940, S. 95 ff.; Briggs, Neglected Aspects of the Destroyer Deal, ebd., 1940, S. 596 ff.; Wright, The transfer of the Destroyers to Great Britain, ebd., 1940, S. 680 ff.; ders., The Lend-Lease Bill and International Law, ebd., 1941, S. 348 ff.; Grewe, Stellungswechsel der amerikanischen Volkerrechtspolitik, ZfP, Mai 1941, S. 261 ff.; ders., Das Englandhilfsgesetz, ZgStW, 1941, S. 606 ff.; vgl. auch die Hinweise zur „Neutralität" d. USA 1939 - 41 im vorl. Bd., Völkerrechtliche Großraumordnung, FN [43], S. 337; Beschleuniger wider Willen, FN [9], S. 438. [16] Zum Status mixtus vgl.: G. Schwarzenberger, Machtpolitik, 1955, S. 124f. - Die Forderung nach einem völkerrechtlich definierten u. anerkannten Status mixtus wurde nach d. Zweiten Weltkrieg erörtert, weil aufgrund der neuen Realitäten „mit den bisherigen Begriffen Krieg und Frieden nicht mehr gearbeitet werden könne", so Sauer, System d. Völkerrechts, 1952, S. 291; vgl. a. Green, Armed conflict, War and Self-defense, AVR, 1950, S. 387 ff. Ph. Jessup, Should International Law recognize an Intermediate Status between Peace and War?, AJIL, 1954, S. 98 ff., schlug verschiedene Merkmale vor, u. a. „basis condition of hostility and strain", ... „that the issues between the parties would be so fundamental and deep-rooted that no solution of a single tangible issue would terminate them", „ . . . absence of intention or at least of a decision to resort to war as a means of solving the issues"; Jessup schlug sogar eine „declaration of intermediacy" zwischen Staaten vor. - Die mangelnde Klarheit d. Kriegsbegriffs würde freilich auch eine klare Definition des Zwischenzustands erschweren. Schwarzenberger, Einführung in d. Völkerrecht, 1951, S. 104, schreibt u. a.: „Die Möglichkeit eines ... Schwebezustands, den ein Staat nach seinem Belieben als Frieden oder als Krieg auffassen kann, läßt erkennen, daß das Völkerrecht nicht nur einen Zustand des
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Friedens oder des Krieges kennt. Es scheint daneben einen Status mixtus anzuerkennen, dessen Charakter zwiespältig ist. Dieser Zustand kann nach Gutdünken der Staaten in der einen oder anderen Weise ausgelegt werden, sofern sie es nicht vorziehen, ihn nicht zu definieen." Dahm, Völkerrecht, 1961, II, S. 339 f. schreibt (zur Völkerbundssatzung): „Die Beschränkung der Verbote auf den Krieg und Frieden hat zur Folge gehabt, daß man eindeutige Angriffsaktionen etwa als Repressalien zu verkleiden versuchte und so die Sanktionen vermied." - Vgl. zu verschiedenen Aspekten der Frage: G. Kappus, Der völkerrechtliche Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung ggü. den militärischen Repressalien, Breslau 1936; Schmitt, Inter pacem et bellum nihil medium, ZAkDR, 1939, S. 594 ff.; L. Roeder, Zum Kriegsbegriff, Diss. Erlangen/Nürnberg 1966, bes. S. 8 - 16. [17] Dazu: Schmitt, Sowjet-Union und Genfer Völkerbund, Völkerbund u. Völkerrecht, August 1934, S. 263 - 268; v. Freytagh-Loringhoven, Sowjetrußland im VB., ebd., Sept./Okt. 1934, S. 307 - 312; ders., DJZ, 1934, H. 15, Sp. 960 - 964; ders., Der Weg Sowjetrußlands zum Völkerbunde, Ztschr. f. osteuropäisches Recht, 1, 1934/35, S. 1 - 20. - Ausgehend von den Diskussionen der scheiternden Genfer Abrüstungskonferenz v. 2. 2. 1932 - 8. 6. 1934 (die Deutschland aufgrund der verweigerten Gleichberechtigung am 14. 10. 1933 verließ ; bei gleichzeitigem Austritt aus dem Volkerbund) und dem am 24. 5. 1933 vorgelegten Bericht des griechischen Völkerrechtlers Nicolas Politis zu den Londoner Konventionen „for the Definition of Aggression", v. 3. - 5. 7. 1933, am Rande der Weltwirtschaftskonferenz ausgehandelt (Text d. Politis-Berichts in: Revue de Droit International (Lapradelle), 1934, S. 266 ff.; mit Kommentaren in: B. Ferencz, Defining International Aggression, New York 1975, 2 Bde., I, S. 163 - 189, dazu a.: A. C. Jordan, La definition de l'agression, Revue de Droit International, a. a. O., S. 111 - 128), entwickelte der sowjetische Volkskommisar des Äußeren, M. M. Litwinow, die Sowjet. „Litwinow-Definition" des Angriffs (in: Ferencz, a. a. O., I, S. 202 f.). Sie diente als Basis der Londoner Konventionen, die die UdSSR mit Afghanistan, Estland, Finnland, Jugoslawien, Lettland, Litauen, Persien, Polen, der Tschechoslowakei u. der Türkei abschloß (Texte in: Bruns/v. Gretschaninow, Politische Verträge, 1936,1, S. 339 348; Ferencz, a. a. O., I, S. 255 - 266). Vgl. dazu u. a.: H. Rogge, Nationale Friedenspolitik, 1934, S. 230 ff.; K. Reichhelm, Der Angriff. Eine völkerrechtl. Untersuchung ü. den Begriff, 1934; G. Wasmund, Die Nichtangriffspakte. Zugleich ein Beitrag zu d. Problem d. Angriffsbegriffs, 1935, S. 77 - 82; W. G. Hertz, Das Problem d. völkerrechtl. Angriffs, Leiden 1936; P. Barandon, Das System d. polit. Verträge seit 1918, Handbuch d. Völkerrechts, IV, 1937, S. 154 - 159; W. Wache, System der Pakte, 1938, S. 120 ff. Th. Bruha, D. Definition d. Aggression, 1980, S. 51 f. - Bei den Genfer Verhandlungen über die Reform des Volkerbundes 1936 unterbreitete die UdSSR neue Vorschläge zur Definition d. Angreifers, deren Akzeptierung das Verbot fremder äußerer Intervention und den Schutz eigener, geheimer Intervention (mittels der Kommunistischen Internationale) bedeutet hätten; vgl. C. Bilfinger, Die russische Definition des Angreifers, ZaöRV, 1937, S. 483 - 496; allgem.: Bockhoff, Völker-Recht gegen Bolschewismus, 1937, bes. S. 101 ff., 222 ff. [18] Vgl. Grewe, Der Status der Nichtkriegführung, ZAkDR, 1940, S. 206 f., der auf die Verwischung der Grenzen zwischen Krieg u. Frieden, Kriegführung u. Völkerrecht hinwies, wie sie schon im Völkerbund sich durchsetzte und folgerte: „ . . . damit war eine Bresche in die strenge, klassische Alternative von Kriegführung und Neutralität geschlagen. Sie scheint sich nunmehr nach mehreren Richtungen zu erweitern, nicht nur in der Richtung der Nichtkriegführung, sondern auch in Richtung auf jene Form der Kriegsbeteiligung, auf die die USA gegenwärtig zusteuern, und die auf die Anwendung aller Feindseligkeiten „short of war" hinausläuft. Die durch den Präsidenten vor kurzem autorisierten unmittelbaren Waffen-
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
und Munitionsverkäufe aus amerikanischen Heeresbeständen an die Westmächte bedeuten jedenfalls eine eindeutige Abkehr von den Grundlagen des Neutralitätsrechtes der Haager Konventionen." v. Freytagh-Loringhoven, Nichtkriegführung und wohlwollende Neutralität, ebd., 1940, S. 332 f., präzisierte Grewes Ausführungen und hielt dafür, „daß es nun zwischen Neutralität und Kriegführung noch den vollkommen rechtmäßigen Zustand der Nichtkriegführung" gäbe; vgl. a. Grewe, ebd., 1940, S. 355 f. („Die Bestimmung des Kriegszustandes"). - Die erstaunlich positive Haltung d. beiden deutschen Völkerrechtler mag sich aus der Tatsache erklären, daß sich Italien am 1. 9. 1939 u. Spanien am 12. 6. 1940 im Zustande der „Nichtkriegführung" sahen u. daß Italien in einer Protestnote an die britische Regierung v. 4. 3. 1940 die britische Kontrolle der deutschen Kohleausfuhr nach Italien als unvereinbar mit dem neuen Status zurückwies; vgl. a.: L. Kotzsch, The concept of war in contemporary history and international law, Genf 1956, S. 267 f. [19] Zur Gründung der UNO vgl. die Kritik v. Grewe, Von den „Alliierten und Assoziierten Mächten" zu den „Vereinigten Nationen", ZfP, 4 - 5/1943, S. 262 - 66; ders., Die Völkerbundspläne der Alliierten, ZfP, 7 - 8/1944, S. 265 - 286. [20] Andrej S(c)hdanow (1872 - 1948) hielt Ende September 1947 auf dem Ersten Kongreß des von ihm gegründeten „Kominform" („Kommunistisches Informationsbüro") in Warschau eine Programmrede „Über die internationale Lage", in der er behauptete, daß der Kapitalismus, durch die Schwächung, die Deutschland, England, Frankreich, Japan usw. im 2. Weltkrieg erlitten hätten, im Niedergange sei und, sich in einer furchtbaren Wirtschaftskrise befindend, zum Kriege gegen das Sowjetlager schreiten „müsse". In Anbetracht des Bevorstehens einer solchen Auseinandersetzung sollten die kommunistischen Parteien zur Offensive übergehen. Schdanow gab an dieser Stelle aber seinem Gedanken eine unerwartete Wendung und forderte die ,JFriedens"-Losung als Zentrallosung. „Er glaubte, Amerika werde zum Kriege getrieben werden, er glaubte, Rußland solle alles tun, um Amerika zum Kriege zu zwingen - doch gleichzeitig sollten die kommunistischen Parteien durch eine Serie revolutionärer Erhebungen unter der Friedenslosung die Heere des Westens lahmlegen und den russischen Sieg zu einem militärischen Spaziergang machen." (F. Borkenau, Der europäische Kommunismus, 1952, S. 494 f.). Borkenau sieht in Schdanows Propaganda - wohl im Gegensatz zu Schmitt - „das (bis auf weiteres) letzte Aufflackern des Linksextremismus" und eine Kritik an Stalins „pazifistischen" Kurs ggü. dem Westen. - Ein Auszug aus dieser Rede in: Lieber u. a. (Hrsg.), Der Sowjetkommunismus. Dokumente, 1964, II, S. 603 f. [21] Als Möglichkeit zeichnete sich dies spätestens mit der Konferenz in Bandung (WestJava), 18. - 24. 4. 1955, ab, auf der 23 asiatische und 6 afrikanische Staaten die Entkolonialisierung, die Erfüllung der Menschenrechte, ein allgemeines Interventionsverbot, die Gleichstellung der Rassen etc. forderten; Indien, China u. Indonesien spielten die führende Rolle auf dieser Konferenz; vgl. dazu: W. Abendroth, Die völkerrechtliche Bedeutung der Bandung-Konferenz, AVR, 1956/57, S. 55 ff. - Auf der Belgrader Konferenz der „Blockfreien" v. 1. - 6. 9. 1961 wurden u. a. Entkolonialisierung, Abrüstung, Selbstbestimmung, die Unabhängigkeit Algeriens und die Abschaffung der Apartheid gefordert; Initiatoren waren hier Tito, Nehru und Nasser. Auf der Welthandelskonferenz (UNCTAD) 1964 in Genf kam es zur Bildung der „Gruppe der 77", die innerhalb der UNO aktiv wurde und in der Charta von Algier 1967 wirtschaftliche Rechte für die Dritte Welt forderte. Über die Blockfreien im OstWest-Konflikt vgl.: R. Aron, Frieden und Krieg, 1963, bes. S. 647 - 650; völkerrechtlich zu Bandung: A. Truyol y Serra, La sociedad internacional, Madrid 1981, S. 92 - 95. Vgl. a.: L. Radanovic, From Bandung to Beograd, Belgrad 1961.
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[22] Ein Vetorecht der Großmächte im Sicherheitsrat i. e. S. gibt es nicht; in der Praxis fußt es auf Art. 27,3 d. Charta („Beschlüsse des Sicherheitsrates über alle sonstigen Fragen bedürfen der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtlicher ständiger Mitglieder ...", kursiv v. Hrsg.). In den ersten zehn Jahren der Vereinten Nationen haben die UdSSR 77, Frankreich 4, Großbritannien 2 und China 1 Veto eingelegt; so Münch, Vetorecht, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch d. Völkerrechts, 1962, III, S. 589. - Z. Zt. des Angriffes von Nord- auf Südkorea 1950 blieb die UdSSR aus Protest gg. die Zurückweisung des Alleinvertretungsanspruchs Rotchinas dem Sicherheitsrat fern u. konnte deshalb kein Veto einlegen als es, auf Initiative des US-Außenministers Acheson, zur „Uniting-for-Peace"-Resolution der Generalversammlung am 3. 11. 1950 kam (nicht, wie Schmitt irrtümlich meint „im Jahre 1953"), die ein militärisches Eingreifen ermöglichte. (Die Resolution bei: Berber, Völkerrecht. Dokumentensammlung, 1967,1, S. 63 ff.) Die Resolution bedeutete eine de-facto-Änderung der UN-Charta (vgl. Schwarzenberger, Machtpolitik, 1955, S. 411 ff.; Ipsen, Völkerrecht, 1990, 3. Aufl., S. 377, 909 f.). - Zum Vetorecht und zu den Bemühungen um eine Änderung u. a.: Schlochauer, ZaöRV, 1958, S. 416 ff. (FS Makarov); Schaeffer, Die Vereinigten Staaten und das Veto in den Vereinten Nationen, Diss. Freiburg 1961; Engelhardt, Das Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, AVR, Mai 1963, S. 377 ff. Vgl. a.: Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991, S. 396 - 435; zur „Uniting for Peace"-Resolution ebd., S. 192 f. Vgl. a.: G. Day, Le Droit de Veto dans l'Organisation des Nations unies, Paris 1952; a. L. H. Woolsey, The „Uniting for Peace Resolution" of the United Nations, AJIL, 1951, S. 129 - 137 u. J. Andrassy, „Uniting for Peace", ebd., 1956, S. 563 - 582. Eine ausführliche Darstellung und detaillierte juristische Erörterung sowohl der Resolution als auch der Gewichtsverlagerung vom Sicherheitsrat zur Vollversammlung findet sich bei: J. Delbrück, Die Entwicklung des Verhältnisses von Sicherheitsrat und Vollversammlung der Vereinten Nationen, Diss. Kiel, 1964, S. 87 - 117. [23] Zu den näheren Umständen dieses Vorschlages Harschs, eines Mitarbeiters des Christian Science Monitor, konnte bisher nichts gefunden werden. Seine Betrachtungsweise war aber Anfang der 60er Jahre nicht mehr selten. [24] Der Begriff stammt ursprünglich von Karl Haushofer, vgl. dessen Broschüre „Der Kontinentalblock. Mitteleuropa - Eurasien - Japan", München 1941, Zentralverlag d. NSDAP, Franz Ehers Nachf. - Durch die Einheit des Kontinentalblocks sollten die angelsächsischen Seemächte überwunden werden. [25] Der Art. 51 d. UNO-Satzung erklärt, daß „keine Bestimmung der vorliegenden Satzung ... das unveräußerliche Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung beeinträchtigen (soll), falls ein Mitglied der Vereinten Nationen Gegenstand eines bewaffneten Angriffs geworden ist, bis der Sicherheitsrat die zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit notwendigen Maßnahmen ergriffen hat"; der Art. 52 erklärt u. a., daß „keine Bestimmung der vorliegenden Satzung ... das Bestehen von regionalen Abkommen oder Organen aus(schließt), die sich mit den die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Angelegenheiten befassen ...". (Nach Barandon, Die Vereinten Nationen und der Völkerbund in ihrem rechtsgeschichtlichen Zusammenhang, 1948, S. 252 f.) [26] Truman verkündete am 20. 1. 1949 das „Point-4-Program" (auch „World Fair Deal" genannt), in dem es u. a. hieß: „Wir sollten den friedensliebenden Völkern die Vorteile unseres Reichtums an technischem Wissen zur Verfügung stellen, um ihnen die Verwirklichung ihrer Wünsche nach einem besseren Leben zu erleichtern, und wir sollten zusammen mit an-
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
deren Nationen Kapitalinvestitionen in entwicklungsbedürftigen Gebieten unterstützen. Unser Ziel sollte es sein, den freien Völkern der Welt dabei zu helfen, aus eigener Kraft mehr Lebensmittel, mehr Bekleidungsmaterial, mehr Wohnraum und mehr Energie zu produzieren. Der alte Imperialismus - die Ausbeutung eines anderen - hat in unsern Plänen keinen Raum. Was wir im Sinn haben, ist ein Entwicklungsprogramm, das auf den Grundideen demokratischer Billigkeit beruht. Alle Länder, auch das unsere, werden aus einem solchen Programm für die bessere Nutzung der Arbeitskraft und der natürlichen Vorräte der Welt einen großen Nutzen ziehen." (Zit. nach M. Schwind, Allgemeine Staatengeographie, 1972, S. 385.) Vgl.: S. Strange, Truman's Point Four, in: Year Book of World Affairs, S. 264 - 288 (eher unkritisch), schließt mit: „All the safeguards possible will have to be used to prevent Point Four deteriorating into a new chapter of colonialism. All the effort possible will have to be made to make it an effective weapon on development. The alternative, for practical purposes, is inaction, bringing with it the certainty of continued poverty and the promise of political unrest and revolution". H. Schuster, Wirtschaftliche Zusammenarbeit mit unterentwickelten Ländern, 1951, sieht in dem Projekt die Gefahr, daß die USA sich den Löwenanteil der Investitionen in den betr. Ländern sichern; H. Schoeck, Wert und Gefahr der Punkt-Vier-Ideologie, Aussenpolitik, 7/1953, S. 436 - 446, betont die Unmöglichkeit, ein „soziales Weltgewissen" zum Maßstab weltwirtschaftlicher Handlungen zu machen und die Gefahr, daß das Programm, mit völlig unrealistischen Hoffnungen und Forderungen beladen, nur „die Beschleunigung der Kommunisierung Asiens und Afrikas" (S. 440) erreiche. Zum industriell"adventistischen" Mythos dieses Programms und der Aufspaltung der Welt in zwei feindliche Entwicklungsräume vgl. auch das Buch des stark von Schmitt beeinflußten Hanno Kesting: Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, 1959, S. 266 - 69. - Die Truman-Doktrin im eigentlichen Sinne wurde am 12. 3. 1947 vor dem US-Kongreß verkündet und bestand aus einer Zusage von Militärhilfe an Griechenland u. die Türkei, einer Kritik der Expansionspolitik der UdSSR und der Ankündigung, künftig vom Kommunismus bedrohte Länder zu unterstützen. Diese Doktrin war eng mit der Politik des Containment von G. F. Kennan und mit der Marshall-Plan-Hilfe verbunden; vgl. dazu: H. Feis, From trust to terror. The onset of the Cold War, 1945 - 1950, New York 1970, S. 185 - 224. [27] Der Satz des span. Dichters u. Philosophen Miguel de Unamuno (1864 - 1936), „jQue inventen ellos!", ist zwar proverbial, konnte aber nicht gefunden werden. Er hängt wohl zusammen mit de Unamunos Wendung zur spanischen Innerlichkeit: die Zivilisation wird ihre eigenen Werke zerstören, aber dadurch ergibt sich die Chance zu einer Beschränkung und Verinnerlichung, durch die die Kultur gerettet werden könnte. Dabei könnte Spanien eine Schlüsselrolle zufallen. [28] Schmitts Gedankengänge zu den neuen Entwicklungsräumen sind vermutlich beeinflußt von Francois Perroux, La coexistence pacifique, Paris 1958, der den Kampf der östlichen u. westlichen Entwicklungslehren u. -verfahren schildert. Zur Beziehung Schmitt - Perroux vgl.: G. Ulmen, Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, 1991, S. 438-444. Schmitt fertigte sich zu seinem unter der Fußnote 7 erwähnten Vortrag eine „Übersicht" an, die wir hier mit abdrucken; darin wird das „Punkt-Vier-Programm" irrtümlicherweise als „Truman-Doktrin" bezeichnet. Zu diesem Vortrag vgl. neben Schmitts Hinweisen in s. Verfassungsrechtlichen Aufsätzen, 1958, S. 503 f., die Ausführungen von D. van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens - Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 1993, S. 196 ff.
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Die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg Übersicht über das konkrete Problem des heutigen Nomos der Erde
Heutiger Nomos der Erde ist der Art. 4 der Truman-Doktrin vom 20. Januar 1949; Einteilung der Erde in industriell entwickelte und unentwickelte Gebiete (undeveloped areas). Erster Fragenbereich: Einheit oderZweiheit
oder Vielheit
(One World) d. h. ein Entwickler; (Dualismus von Ost und West als vorläufiger Dauerzustand der Ko-Existenz von zwei Entwicklern); (mehrere Entwicklungsräume mit einem Gleichgewicht der neuen Großräume).
Zweiter Fragenbereich unter dem Aspekt der Elemente: Osten: Land/terran - Haus/Oikos - soziomorph; Westen: Meer/maritim - Schiff/entfesselte Technik - technomorph; Möglichkeit neuer Elemente als Umwelt des Menschen (Luft und Feuer; Sinn der Phantasien vom Aufbruch in den Kosmos; vgl. Festgabe für Ernst Jünger 1955 bei V. Klostermann in Frankfurt/ Main). Dritter Fragenbereich: Das auf Europa lastende Odium des Kolonialismus: 1) Universalität dieses Odiums: Antikolonialismus in USA und UdSSR, in Asien und Afrika und in Europa selbst; 2) Europäische Herkunft dieses Odiums a) antispanische Propaganda des 16/17. Jahrhunderts (leyenda negra); b) humanitäre Aufklärung des 18. Jahrhunderts; c) egalitäre Menschenrechte des 19. und 20. Jahrhunderts; d) Ergebnis: Europa als Welt-Aggressor (Toynbee); 3) Das Odium des Kolonialismus ist das Odium des Nehmens; es stammt aus einer tiefen Wandlung sozial- und wirtschaftsethischer Begriffe. Dieser letzte Punkt 3 ist das Thema meines heutigen Vortrages. Münster/Westf. den 9. März 1957 Carl Schmitt
Anhang des Herausgebers Am 21. 3. 1962 wurde Carl Schmitt zum Ehrenmitglied des Madrider „Institute de Estudios Polfticos" ernannt, dessen Direktor damals Manuel Fraga Iribarne war. Schmitt revanchierte sich mit dem Vortrag „El Orden del mundo despues la segunda guerra mundial", der in der „Revista de Estudios Polfticos", 122 / 1962, S. 19-36, erschien und parallel dazu als Broschüre, hrsg. v. „Instituto", Madrid 1962, 30 S., veröffentlicht wurde. Der hier vorliegende, von mir übersetzte Text erschien erstmals in: P. Tommissen, Schmittiana II, Brüssel 1990,
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S. 11 - 30, und wurde, außer Änderungen und Ergänzungen in den Fußnoten, übernommen. Schmitt konzipierte den Vortrag in deutscher Sprache und hat ihn dann, gemeinsam mit seiner Tochter Anima, ins Spanische übersetzt. Er händigte mir 1982 eine äußerst fragmentarische Photokopie aus, die nur ein knappes Drittel der ursprünglichen deutschen Fassung enthielt und die ich für meine Übersetzung (resp. Rückübersetzung) benutzte. Schmitts Vortrag wurde in der span. Presse ausführlich gewürdigt. Von größerem Interesse sind die Berichte: Anon., El anticolonialismo es la liquidaciön de un pasado histörica a costa de naciones europeas - Es, sobre todo, propaganda antieuropea discriminadora, dijo el profesor alemän Carl Schmitt, in: ABC, 22. 3. 1962; Jesus Fueyo, Carl Schmitt y la dignidad del pensamiento politico, in: Arriba, 23. 3. 1962; Gabriel Elorriaga, Investidura del profesor Carl Schmitt como miembro de honor del Institute de Estudios Politicos, in: Arbor, April 1962, S. 109-114. Manuel Fraga Iribarne, geb. 1922, seit 1948 Professor für Verfassungsrecht, leitete ab 1961 das „Instituto de Estudio Politicos" und die damit verbundene Zeitschrift; 1962 - 69 war er Minister für Information u. Tourismus unter Franco, später u. a. Botschafter in London. Als Chef der konservativen „Alianza popular" unterlag er 1982 in den Wahlen Felipe Gonzales und ist heute (1993) Ministerpräsident der Provinz Galizien. Als Verfassungsrechtler u. politischer Denker ist er stark von Schmitt beeinflußt worden, dem er stets freundschaftlich verbunden blieb. Seine wichtigsten Schriften: Don Diego de Saavedra Fajardo y la diplomacia de su epoca, Murcia / Madrid 1956; La crisis del Estado, Madrid 1958; El nuevo Anti-Maquiavelo, Madrid 1962; Horizonte espanol, Madrid 1972; El desarollo politico, Barcelona 1972; La Repüblica, Barcelona 1974; Legitimitad y representaciön, Barcelona 1975; Cänovas, Maeztu y otros discursos de la Restauraciön, Madrid 1976; El pensamiento conservador espanol, Barcelona 1981; Razön de Estado y pasiön de Estado, 2 Bde., Madrid 1985. Sein politisches Denken untersucht: J. M. Garcia Escudero, Vista a la Derecha - Cänovas, Maura, Cambö, Gil Robles, Lopez Rodö, Fraga, Madrid 1988, S. 261 - 288. - Vgl. v. Fraga auch d. Rezensionsaufsatz zu Schmitts „Nomos der Erde", REDI, 3/1950, S. 1002- 1011.
Gespräch über den Partisanen Carl Schmitt und Joachim Schickel Vorbemerkung. Es mag diesen oder jenen Leser befremden, daß Carl Schmitt und ich, „Dezisionist" und „Maoist", miteinander geredet haben. Ich kenne die Motive, die C. S. schließlich bewogen, sich der Mühe unseres Gesprächs zu unterziehen, nicht genau; aber ich weiß, welchen Grund ich hatte, ihn dazu aufzufordern: Seine Schrift Theorie des Partisanen 1 wies ihn als einzig erreichbaren Autor aus, der sich kompetent zum Thema geäußert hat. Diese Schrift heißt im Untertitel Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, erinnert also ausdrücklich an Schmitts zuerst 1927 erschienene, seitdem so berühmte wie berüchtigte Studie Der Begriff des Politischen 2. Deren Thema ist, grob gesagt, die Unterscheidung zwischen Freund und Feind als eine differentia politica. Ich habe dagegen, mit theoretisch dialektischen und praktisch chinesischen Argumenten, einige Bedenken angemeldet3, die auch der Neudruck von 1963 (samt seiner Corollarien) mir nicht entkräftet. 1. Soll die Freund-Feind-Relation logisch für eine „Differenz" gelten, müssen Freund und Feind sich wnter-scheiden (zu öidc^opa, differentia ), dürfen nicht einfach Vfcr-schiedene (eteqci, diversa) sein; sonst bestünde zwischen ihnen bloß eine „Diversion" 4 . Wenn sie sich aber unterscheiden, ist ihre Relation dialektisch: d. h. ein ^/^/unterschied im Lager der Freunde. „Freund" ist dann das übergreifende Allgemeine, das sich selber, den Freund, als das Allgemeine und sein Gegenteil, den Feind, als das Besondere enthält. 2. Die chinesische Probe aufs dialektische Exempel liefert die Kulturrevolution: „Natürlich sind des Volkes Feinde nicht seine Freunde . . . Natürlich sind des Volkes Freunde nicht seine Feinde - allerdings kann, laufen ihre Interessen dem Volk zuwider, auch ihre Freundschaft getrübt sein, ohne deswegen Feindschaft, wenngleich Kritik und Selbstkritik, zu verdienen . . . Dieser Freund, dieser Feind existieren nicht, beide ermangeln der Bestimmung, konkret bald weniger Freund, bald eher Feind zu sein; ihr behauptetes Sein ist unmittelbar an ihm selbst ein erwiese1 Berlin 1963, Verlag Duncker & Humblot (inzwischen 3. unveränderte Aufl. 1992). [J. S.] 2 Vgl. Anmerkung 6. [J. S.] 3 In meinem Aufsatz: Dialektik in China. Mao Tse-tung und die große Kulturrevolution. Zuerst in Kursbuch 9, 1967, S. 49 ff., sodann in: Große Mauer, Große Methode. Annäherungen an China, Stuttgart 1968, S. 167 ff. [J. S.] 4 Diversion, „ A b k e h r , Ablenkung, veränderte Richtung", bedeutet in kommunistischer Terminologie nicht zufällig „Sabotage (des Klassenfeinds)". [J. S.]
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nes Nichtsein, nach Hegel ein Schein" 5 Die Unterscheidung, sie sei ein Unterschied, wird durch Mao Tse-tungs Schriften (z. B. Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk von 1957) gerechtfertigt. Dieser Vorbehalt - von mir aus ein Korrektiv, für C. S. kein Regulativ - begleite das Gespräch, sofern es eine weitere Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen darstellt. J. Schickel *
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J. S.: Herr Prof. Carl Schmitt, Sie haben 1963 Ihre Schrift Theorie des Partisanen veröffentlicht und sie im Untertitel eine „Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen" genannt. Diese Bezeichnung erinnert an Ihre Schrift von 19276, die ebenfalls Der Begriff des Politischen hieß und schon im ersten Satz die Unterscheidung von Freund und Feind als die eigentlich politische Unterscheidung hervorhob. Wahrscheinlich werden wir auf den immanenten Zusammenhang zwischen Freund-Feind und Partisan nachher zurückkommen. Partisanen-Theorie - wir können dieses große, vielleicht uferlose Thema in unserem Gespräch nicht ausloten, sondern nur wenige Charakteristiken geben. Wir sind übereingekommen, uns auf die vier Kriterien zu beschränken, die Sie in Ihrer Schrift Theorie des Partisanen angegeben haben, damit wir uns des Phänomens des Partisanen versichern können. Ich darf diese vier Kriterien aufzählen: Das erste die Irregularität, das zweite die gesteigerte Mobilität der Kampfführung, das dritte das gesteigerte politische Engagement, das vierte der tellurische Charakter des Partisanen, wie Sie ihn nennen. C. S.: Das sind sie; diese vier Kriterien, wenn ich das sagen darf, sind Hilfsmittel für die wissenschaftliche Arbeit. Sie sollen also keine endgültige Lösung des unermeßlichen Partisanen-Problems sein, sondern ein vorläufiger Anfang. Das Partisanen-Problem wird sich entwickeln, hat sich ja auch in der Zeit meiner Publikationen zum Begriff des Politischen entwickelt. 1927 ahnte man noch nichts von einem derartigen Partisanen-Problem. J. S.: Nein, damals begann es in China gerade erst.. . 6 a C. S.: Und seit 1963, in der Zwischenzeit von sechs, sieben Jahren hat sich die Sache in einer ungeheuerlichen Weise gesteigert. Die Frage für mich wäre jetzt, ob die vier Kriterien - Irregularität, Mobilität, politisches Engagement und telluri5
Vgl. m. Aufsatz, Anmerkung 3, a. a. O. [J. S.] Die Schrift „Der Begriff des Politischen" liegt in einem Nachdruck des Textes von 1932 vor (Berlin 1963); er enthält zusätzlich ein Vorwort, drei Corollarien und bibliographische Hinweise. Zu den verschiedenen Ausgaben seit 1927 vgl. die C.S.-Bibliographie von Piet Tommissen in Festschrift zum 70. Geburtstag, Berlin/München 1959 (neuerdings mit einer Ergänzung von 1968. [C. S.]. 6
6a
Hier und im weiteren Verlauf des Gesprächs bedeuten Punkte (...), daß beide Partner auf einmal reden und der genaue Text - ein Wort- oder Satzfragment - nicht zu klären ist.
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scher Charakter - heute noch gültig sind. Das wäre eine interessante Frage; denn die Entwicklung ist so rapide gegangen, daß man ihr nur mit Mühe folgen kann. Infolgedessen hängt viel davon ab, ob es mir gelungen ist, mit meinen vier Kriterien überhaupt den Anfang einer rationalen Erörterung dieses schwierigen und im Kern vielleicht irrationalen Vorgangs Partisanentum zu machen. J. S.: In einem Aufsatz über Ihre Theorie des Partisanen habe ich gelesen, daß man die Aufgabe vermißt, ob es sich bei den vier Kriterien um hinreichende und notwendige Bedingungen handele. Ich glaube, Piet Tommissen richtet diese Frage an Sie 7 ; aber sie geht wahrscheinlich zu weit. C. S.: Sie geht zu weit, das ist richtig. Ich habe eine Methode, die mir eigentümlich ist: die Phänomene an mich herankommen zu lassen, abzuwarten und sozusagen vom Stoff her zu denken, nicht von vorgefaßten Kriterien. Das können Sie phänomenologisch nennen, aber ich lasse mich nicht gerne auf solche allgemeinen methodologischen Vorfragen ein. Das würde ins Uferlose führen. Ich glaube, wir bleiben bei diesen vier Kriterien und fangen einfach einmal an bei der Irregularität J. S.: - und ihrem Gegensatz, den Sie mit erwähnen werden, der Regularität C. S.: - der Regularität, selbstverständlich; und vielleicht erörtern wir auch, wieweit in diesem Gegensatz von Irregularität und Regularität der gefährliche und hintergründige Gegensatz von Illegalität und Legalität steckt. Das ist ja der Hintergrund, nicht wahr?
Erstes Kriterium: Irregularität J. S.: Wie würden Sie zunächst das Reguläre des Nichtpartisanen, des „normalen" Soldaten bestimmen? C. S.: Das Reguläre ist hier selbstverständlich zunächst die reguläre Armee. Insofern ist unser Ausgangspunkt kriegswissenschaftlich. Ich bleibe bei dem militärischen Phänomen, und das ist nötig, um nicht sogleich ins Allgemeine, Revolutionär-Allgemeine hineinzugeraten. Also, das Reguläre ist die reguläre moderne Armee, wie es sie heute noch gibt, und die militärgeschichtlich doch wohl bei den napoleonischen Armeen als erster moderner Armee anzusetzen ist, jedenfalls für den Landkrieg. J. S.: Welche Charakteristiken würden Sie angeben? C. S.: Mit einem Schlagwort gesagt, ist das für das XVIII. Jahrhundert die Linie, die Linientruppe. Damals ist der Partisan irregulär in dem Sinne, daß die Truppe, die nicht Linientruppe ist, Partisan heißen kann, der Husar beispielsweise, die 7
Piet Tommissen, Über Carl Schmitts „Theorie des Partisanen". In Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, Berlin 1968, Bd. II, S. 709 ff. [C. SJ.
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leichte Kavallerie.[l] Sie ist irregulär, aber noch lange nicht illegal. Der Zusammenhang von irregulär und illegal kommt erst später. Ich sehe aber: Das ist ein zu rein militärfachliches Problem, als daß wir lange dabei verweilen dürften. J. S.: Ja, es wird vielleicht interessanter und führt auf politische Zusammenhänge, wenn wir jetzt, im Gegensatz, die Irregularität betrachten; dort treten Phänomene auf, die eben das Reglement, die Regularität verletzen, die etwas implizieren, daß keine Abzeichen mehr getragen werden, daß man Listen gebraucht, daß die Uniform . . . C. S.: Die Uniform war das große Symbol, sozusagen der Beweis der Regularität. J. S.: Auch das offene Tragen der Uniform . . . C. S.: Und das, was der Partisan macht, ist gerade dieser unheimliche Vorgang, daß für ihn die Uniform nur ein Schußziel und weiter nichts ist, ein Schußziel auf einen Feind, dem er selber sich nicht in Uniform stellt. Die Hegung des bisherigen Krieges im sogenannten klassischen Völkerrecht bestand darin, daß eine uniformierte Armee auf der einen mit einer uniformierten Armee auf der anderen Seite kämpfte. Das war ein gehegter Krieg. J. S.: Auch die Rangunterschiede . . . C. S.: Alles das gehört dazu. Uniform ist keine Nebensache bei diesem Vorgang, auch für seine Öffentlichkeit nicht; und der Stolz, mit dem der Soldat seine Uniform in der Öffentlichkeit trug, alles hört jetzt auf. J. S.: Sie wissen, daß in der Armee der Volksrepublik China alle Rangabzeichen abgeschafft sind8? C. S.: Nein, das wußte ich nicht. J. S. Ist das lediglich als eine Annäherung an den Status des Partisanen zu sehen? Ich meine, die Maßnahme entspricht auch einer kommunistisch-politischen Konsequenz. C. S.: Ja, es tritt uns bei diesem Thema immer wieder Mao Tse-tung entgegen, und zwar heute unendlich viel mehr als noch vor sieben Jahren, als ich meine Schrift über den Partisanen schrieb. In ihr ist Mao als Schluß- und Höhepunkt einer bestimmten Entwicklung von Clausewitz über Lenin zu Mao behandelt. Aber ich konnte damals noch nicht ahnen, daß Mao in diesem Zusammenhang sozusagen global, für die ganze Welt, eine solche sowohl theoretische als praktische Bedeutung haben würde. J. S.: Er hat das Instrument geliefert, mit dem heute überall in der Welt gekämpft wird. 8 Diese Maßnahme scheint nicht verläßlich datierbar; sie wird bald mit der Ernennung Lin Piaos zum Verteidigungsminister (September 1959), bald mit der Kulturrevolution (ab August 1966) in Verbindung gebracht. [J. SJ.
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C. S.: Das ist unwiderlegbar; es gehört eigentlich auch an den Anfang unseres Gesprächs über den Partisanen. J. S.: Nun ist Mao ja selber lange, lange Jahre in dieser Situation gewesen, als irregulär zu gelten. Sie erinnern sich, daß Tsiang Kai-shek fünf sogenannte Vernichtungsfeldzüge gegen ihn geführt hat 9 ; sie heißen auf chinesich wei-chiao, wörtlich „einkesseln und schlachten". Das ist ganz buchstäblich zu verstehen, es ist ein Ausdruck, den man in China immer gebraucht hat, wenn man Banditen verfolgen wollte. Man stellte Mao also von vornherein außerhalb von Recht, Gesetz, Ehre usw. C. S.: Das halte ich für ganz entscheidend. In dem Maße, in dem die Orientierung an der Regularität entfällt, verwandelt sich der Krieg in einen Partisanenkrieg und die sogenannte Hegung des Krieges, die im europäischen Völkerrecht gelungen war, entfallt. Es war ein großer Irrtum der Pazifisten zu meinen, daß man den Krieg bloß abzuschaffen brauche - dabei dachte man an den regulären Krieg des XIX. Jahrhunderts zwischen europäischen Landherren - , dann wäre der Friede da. Das war doch der entscheidende Irrtum dieses ganzen Pazifismus; und ich kann mich rühmen, daß einer der bedeutendsten und wissenschaftlich interessantesten und aufrichtigsten Pazifisten, Professor Hans Wehberg in Genf, der vor einigen Jahren gestorben ist, mir dies zu meinem Begriff des Politischen ausdrücklich bestätigt hat.[2] Ich wiederhole: Es war der Irrtum dieses alten Pazifismus, daß ihm die Abschaffung des regulären Militärs den Frieden der Welt bedeutete. J. S.: Sogar Landkriegsordnungen wie die Haager Konvention, wie die Genfer von 1949 werden damit nicht mehr fertig. C. S.: Die Haager Landkriegsordnung von 1907 ist noch nicht einmal mit dem französischen Franktireur des Deutsch-Französischen Krieges 1870 fertig geworden. [3] Und nun bedenken Sie erst, wie das Problem heute Hegt und welche Schwierigkeiten sich für die Genfer Konvention von 1949 ergeben haben. [4] Man dachte 1949, jetzt sei der Weltfriede da, und prompt ein Jahr danach begann Korea. Da erst bemerkte man diese nicht nur Internationalität, sondern auch Globalität des Partisanen-Problems. J. S.: Nicht zu vergessen Indochinas Kampf gegen die Franzosen, bis 1954 sogar Dien Bien Phu fällt; anschließend Algerien; Castro kommt. C. S.: Das ist doch wie eine entfesselte Kettenreaktion, plötzlich gekommen, am schnellsten allerdings seit Vietnam. Kurz nachdem meine Schrift erschienen war, 1963, wurde das eigentliche Problem der Eskalation akut; zugleich erhob sich die 9 Das erste wei-chiao begann Ende 1930, das fünfte endete im Oktober 1934, als die Rote Armee aus dem Kessel ausbrach und der Schlächterei auf dem Langen Marsch entkam. Vgl. dazu meine Übersetzung und Erläuterung der Gedichte IX - XIX in Mao Tse-tung, „37 Gedichte", Hamburg 1965 (bzw. München 1967). [J. S.]. [Eine erweiterte Ausgabe legte Schikkel 1978 vor: Mao Tse-tung, 39 Gedichte, Frankfurt a. M. 1978, Bibliothek Suhrkamp 583 G. M.].
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Frage nach dem Spielraum, den der Partisan noch hat. Man hatte zuerst, unter dem Eindruck der ersten Atombomben, geglaubt, nun könnte es überhaupt keinen Partisanen-Krieg mehr geben: man schmeißt dem Partisanen einfach eine Bombe auf den Kopf. Und plötzlich sieht man ein neues Problem. Solange man noch meinte, es handle sich nur um gewisse humanitäre Rücksichten, schien der Partisan nur im Schatten dieser humanitären Rücksichten, die sich eine mächtige Atombombe leisten kann, noch einen kleinen Spielraum zu haben. Der Partisan war noch nicht, sagen wir, der Gegenspieler oder ein einigermaßen beachtlicher Gegenpol gegen die Atommacht. Außerdem hat sich inzwischen auch ein neues gesteigertes nukleares Potential entwickelt. Der Spielraum, den der Partisan heute hat, ist infolgedessen sehr kompliziert; der Spielraum ist auch heute noch größer als man denkt, und wird sich weiter entwickeln. Nun, wir werden sehen. J. S.: Wir sollten vielleicht zum Abschluß dieses Punktes noch das moderne Verhältnis zwischen Irregularität und Regularität erwähnen. Bei Mao Tse-tung spielt es eine wichtige Rolle, daß die letzte Entscheidung nicht durch die Partisanen, sondern durch die Rote Armee, die spätere Volksbefreiungsarmee, herbeigeführt wurde . . . C. S.: Durch die reguläre Armee. Das hat Mao immer behauptet und auch Che Guevara wiederholt betont (er, glaube ich allerdings, schon belehrt durch Mao).[5] Im allgemeinen ist gerade bei romanischen Völkern - wegen ihrer etwas banal „Neigung zum Individualismus und Anarchismus" genannten Eigenschaften - die Gefahr groß, daß sie einfach die Partei als die neue Regularität sehen. Das ist auch nicht falsch; denn die Partei, sobald sie zentralisiert wird, ist bereits ein Funktionsmodus, der mit gewissen Normen arbeiten muß, der sich regularisiert, indem er sich institutionalisiert - und dann hört er auf, total zu sein.
Zweites Kriterium: Mobilität
J. S.: Wir greifen schon auf die dritte Charakteristik vor. Darf ich zum zweiten Punkt der gesteigerten Mobilität der Kampfführung, wie Sie sagen, zurückführen? C. S.: Ich gebe zu, „Mobilität" ist in diesem Fall ein etwas allgemeines Stichwort. J. S.: Man könnte sich zunächst an Husaren und Panduren erinnert fühlen. C. S.: Diese Husaren wie Ziethen aus dem Busch und derartiges - das ist immer noch die Mobilität, naja, der leichten Kavallerie. Darüber lachen heute die Kinder, und sie lachen nicht einmal mehr darüber, sondern finden es irgendwie beziehungslos zur heutigen Welt. J. S.: Darin steckt ein wenig Romantizismus, Abenteuerlust, Soldatspielen - all solche Dinge . . .
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C. S.: Verbunden mit einer gewissen Fortschrittsvorstellung. Je schneller es gelingt, um so fortschrittlicher. Eine Menschheit oder ein Volk, dessen Durchschnittsgeschwindigkeit in der Stunde etwa fünf bis zehn Kilometer beträgt, ist rückständig und sogar reaktionär im Vergleich mit einem Volk, dessen Durchschnittsgeschwindigkeit etwa hundert Kilometer in der Stunde beträgt; ganz zu schweigen von Überschallgeschwindigkeiten usw. J. S.: Aber das ist, glaube ich, nicht das, was Sie präzise mit der Mobilität der Partisanen meinen? C. S.: Nein, sondern diese Mobilität hängt in etwa mit dem vierten Kriterium, dem tellurischen Charakter zusammen. Es ist leicht zu verstehen, was mit der Mobilität des modernen Partisanen gemeint ist. Der Partisan hat keinen Standort, wie ein Regiment oder die reguläre Truppe. Hinzu kommt, daß er sich viel schneller bewegt und viel unberechenbarer; er ist unberechenbar sogar für die eigene reguläre Leitung, mit der er doch immerhin in Verbindung bleiben muß. Diese Unberechenbarkeit seines Auftauchens, sie vor allem ist unter Mobilität zu verstehen. Das hängt dann wieder zusammen mit seiner Befreiung von den regulären Vorschriften und insbesondere von der Uniform. Ein Mensch, der die Uniform oder auch nur ein vorgeschriebenes Abzeichen ohne weiteres ändern kann, ist mobil. Wir dürfen bei Mobilität nicht nur an ein Rutschen auf der Erde denken, oder meinetwegen auch in der Luft, wie ein Flugzeug fliegt, sondern müssen die Mobilität des rapiden Wechsels, auch in der Art des Auftretens, mit bedenken. Das ist ein sehr wichtiges Stichwort; denn darin steckt die Überlegenheit des Partisanen gegenüber dem uniformierten, d. h. dem öffentlich kennbar gemachten Gegner. J. S.: Die Art des Auftretens: Mao sagte einmal, der Partisan müsse sich im Volk bewegen, nämlich in ihm untertauchen wie der Fisch im Wasser. C. S.: Wie der Fisch im Wasser. Er ist also so, daß der Partisan - namentlich, wenn er über moderne technische Mittel verfügt - ungeheure neue Möglichkeiten des Untertauchens erhält. Ich kann mir denken, daß hier im Sauerland, wo wir unser Gespräch führen, wenn die entsprechenden taktisch-nuklearen Möglichkeiten gegeben sind, sich ein echter Partisan in der Berufskleidung eines Kinderarztes auf den nächsten Berg begibt und von dort aus die Talsperren des Sauerlandes und der übrigen Gegend zerstört - mit dem Effekt, daß sich das ganze Ruhrgebiet in einen Sumpf verwandelt. [5a] J. S.: Das klingt natürlich prima vista überraschend, hat aber einen recht ernsten Hintergrund. C. S.: Ich meine nur das Kriterium Mobilität in seiner ganzen Bedeutung und will mich vor dem Verdacht schützen, daß ich nichts weiter als naheliegende Banalitäten sage, da jedes Kind schon weiß, daß man heute schneller von der Stelle kommt als früher zur Zeit des Ochsenkarrens oder der leichten Kavallerie. J. S.: Ich erinnere an die Denkschrift des Schweizerischen Unteroffiziersverbandes 10 ; sie gibt für die Schweiz, deren Landschaft und Industrie man in gewisser 40 Staat, Großraum, Nomos
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Hinsicht mit der des Sauerlandes vergleichen könnte, genaue und detaillierte Anweisungen, wie ein jeder Schweizer sich im Kriegsfall als Partisan zu benehmen hätte. Aber ich würde gerne noch auf einen anderen Punkt kommen, Wenn Sie erlauben: Man kennt den berühmten Vierzeiler von Mao: „Feind geht vor, wir weichen; Feind bleibt stehn, wir stören; Feind wird müd, wir schlagen; Feind entweicht, wir folgen." Der Unterschied von „wir weichen" - kommen aber wieder, der Feind „entweicht" - kommt aber nicht wieder, sondern wird geschlagen! Der erste Biograph Mao Tse-tungs, Robert Payne, hat die taktischen und strategischen Bewegungen der chinesischen Partisanen während der Kesselschlachten, die Tsiang Kaishek gegen Mao geführt hat, einmal mit Schlangen- und Wellenlinien verglichen; sie seien geradezu ein ästhetisches Phänomen. [6] Übrigens erinnert der Sinologe Wolfgang Bauer in diesem Zusammenhang an den Begriff des „Tao" im Chinesischen; er sagt, daß die alten chinesischen Strategen, Sun Tzu 1 1 und seinesgleichen, offenbar alles „Taoisten" gewesen seien. [7] Sie bevorzugten jedenfalls die „weiche" Art der Kriegführung im Gegensatz zu . . . C. S.: Weich ist stärker als hart. J. S.: Das Weiche gibt nach, kommt aber vernichtend zurück. C. S.: Ich möchte bei der Mobilität jenes „Untertauchen", das Sich-für-denFeind-Unsichtbarmachen, immer wieder betonen. Ich bin kein Mao-Kenner wie Sie, aber auf mich hat es seit Jahren immer einen tiefen Eindruck gemacht, wenn ich bei Mao las, man müsse das Unkraut wachsen lassen, wenn man merkt, daß sich feindliche Gruppen im eigenen Bereich bilden. Man muß das Unkraut wachsen lassen: dann ist es leichter zu unterscheiden, dann kann man es leichter ausreißen, und dann gibt es mehr und besseren Dünger. [8] Für den Begriff des Politischen ist das interessant. Ich könnte mir denken, daß jemand sich diesen Satz aufschreibt, um ihn sich als die ganz große und ganz gefahrliche Gebrauchsanweisung einzuprägen, und daß er, wenn er von einer feindlichen Kontrolle gefaßt wird, sagt: Ich bin Schrebergärtner, das ist eine Anweisung für meinen Gemüsegarten. Sehen Sie, das gehört alles zu diesem „Untertauchen"; ich ahne jetzt, wie weit unsere Sprache von dem Chinesischen entfernt ist, daß wir bei Mobilität nicht an so etwas denken können. Die Mobilität des Wassers ist stärker als die Mobilität eines Felsens, und was uns bei den Äußerungen der Taoisten vielleicht archaisch klingt, ist im Grunde etwas sehr Aktuelles und Hochmodernes. J. S.: Auch die Vernichtungskraft des Wassers ist größer als die des Steinschlags oder des Felssturzes. C. S.: Das Überraschende ist, daß einem das alles zum Stichwort Mobilität einfallen kann. Darin sehe ich das Interessante, verzeihen Sie, unseres Gesprächs in 10 Major H. von Dach, Der totale Widerstand, Kleinkriegsanleitung für jedermann, 3. Aufl.; Biel 1966. [J. S.]. 11 Sun Tzu, ein Clausewitz Chinas, schrieb vor zweieinhalb Jahrtausenden den Traktat Ping-fa, „Kriegskunst", auf den sich auch und gerade Mao Tse-tung beruft. [J. S.].
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diesem Moment. Manches improvisieren wir doch wirklich - nicht wahr? - aus dem Wort heraus, wie es im Gespräch sich entwickelt? J. S.: Mao Tse-tung bezeichnet ja auch ausdrücklich - und das geht sicherlich wieder irgendwie auf den Begriff des „Tao" zurück - seine Art der Kriegführung, des Partisanenkampfes, des Volkskriegs, wie man heute in China sagt, als eine auf dialektischen Prinzipien beruhende. C. S.: Ja, das klingt so wissenschaftlich-hegelianisch. J. S.: Es kommt in gewisser Weise auch daher. Da ist das „Tao" mit seinen Gegensätzen, seinem Entzweien und Versöhnen, und da sind die Hegeischen Thesen, Antithesen, Synthesen; beides hängt doch zusammen. C. S.: Das hängt zusammen, aber in unendlichen Entfernungen. Nicht nur die Welt, auch die Sprache, die Schrift dieser chinesischen Weisen und Strategen ist von unserer Sprache und Schrift, auch von unserer Art zu denken, unendlich weit entfernt. J. S.: Sehr weit; es bedarf dauernder Kommentierungen und Analysen, auch sprachlicher Analysen, um überhaupt zu verstehen, was in China gemeint ist. Aber es scheint offensichtlich doch möglich, das Gemeinte in eine Praxis für die ganze Welt zu übersetzen. C. S.: Das ist das Allererstaunlichste, daß dieses Wissen sich nicht mehr beschränkt auf die sehr rare Spezies der Sinologen, die doch früher wirklich Seltenheitswert hatten. Ich staune, wie die Schriften von Mao in Millionenauflage und in allen Sprachen verbreitet sind. Ich glaube nicht, daß die Leser das einfach wegwerfen und vergessen. J. S.: Im Zusammenhang damit steigt das Interesse auch für Strategen Chinas, die seit ein, zwei Jahrtausenden tot sind. Sun Tzu gibt ein Beispiel dafür. C. S.: Auch das ist ein großes Beispiel der Enthebung Europas aus dem Mittelpunkt der Erde, für das Ende des europazentrischen Zeitalters. Das ist vorbei. Sollen wir zum dritten Punkt übergehen?
Drittes Kriterium: Politisches Engagement J. S.: Ich möchte sagen, es ist soviel Politik impliziert, daß wir schon nahe daran sind. C. S.: Mir selber ist im Gespräch deutlich geworden, daß diese vier Kriterien Irregularität, Mobilität, politisches Engagement und tellurischer Charakter - innerlich so eng zusammenhängen, daß die erste Einteilung und Unterscheidung eine richtige war. So etwas bewährt sich ja erst im Gespräch. Man muß genau wie in jeder Wissenschaft einmal versuchsweise vorgehen und ausprobieren, ob ein ange40*
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setztes Kriterium standhält, wenn man sich länger mit der Sache befaßt und sie betrachtet. J. S.: Sie sprachen selber vorhin von Arbeitshypothesen, die sich in der Praxis zu bewähren hätten, und es scheint, daß sie wohl anwendbar sind. C. S.: Ich möchte mich gegen die zu schnelle Abfertigung meines Versuches wehren. Das ist sehr gefährlich, weil gerade große Experten geneigt sind, das Partisanen-Problem zu unterschätzen, und vor allen Dingen, weil sie Mao für ein RandPhänomen halten. J. S.: Können Sie ein Beispiel geben? C. S.: Ja; ich nenne einen Mann, den ich als einen ganz großen Soziologen sehr verehre und schätze - Raymond Aron. Er hat mir geschrieben: Das Partisanen-Problem ist ein Problem der armen Volker. [9] Tatsächlich, der spanische Guerrillero gegen Napoleon z. B. war ein armer Mann, und in den Ländern, die reich waren, wie Ober-Italien oder Deutschland, vor allem Süddeutschland, hat es keine Partisanen gegeben, auch nicht gegen Napoleon. J. S.: Merkwürdigerweise nicht, scheint es. C. S.: So kann man das ganze Problem sozusagen auf ein Problem von Entwicklung und Unterentwicklung, Reichtum und Armut, Bildung und Unbildung reduzieren und sagen: Schafft die Armut ab, und ihr habt die Partisanen abgeschafft. J. S.: Eigentlich ist das weltweit zu überlegen. Denken Sie an die Schrift Lin Piaos, des designierten Nachfolgers von Mao Tse-tung, von 1965 Es lebe der Sieg im Volkskrieg^ 10] Er nimmt doch scheinbar dieselben Kriterien zur Unterscheidung wie Aron: Arme Länder und reiche Länder oder die Dörfer der Welt und die Städte der Welt, und er trägt nun die maoschen Gedanken des Volkskrieges, die bis dahin in einem Land angewandt wurden - oder in vielen Ländern, aber in jedem für sich - in die ganze Welt hinein, indem jetzt alle, sagen wir, proletarischen Nationen (oder wie man anders sagt: Entwicklungsländer) zum Sturm auf die Städte der Welt wie die USA usw. antreten. C. S.: Damit kommen wir schon auf den tellurischen Charakter des Partisanen. J. S.: Das läßt sich in unserem Gespräch gar nicht vermeiden. C. S.: Ich glaube, es ist - ich sage das zu meiner Selbstverteidigung - ein Argument für die Brauchbarkeit meiner vier Kritieren. Ich bin bereit, sofort jedes Kriterium fallen zu lassen, wenn sich herausstellt, daß es sozusagen nur ein Akzidens eines anderen ist. Ich muß sie aber zunächst alle im Auge behalten, um nicht in vorschnelle, allzu schnelle Kausalitäten hineinzugeraten und, wie in diesem Fall, einfach zu sagen: Es sind eben die armen Völker, und es sind die Analphabeten . . . J. S.: Die alte Vorstellung, die auch Napoleon selber noch hatte. C. S.: Napoleon hatte eine Wut auf die spanischen Guerrilleros, natürlich. Wer, sagte er, wer sind diese Spanier, für die die Preußen jetzt (1811) anfangen zu
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schwärmen? Er fand das lächerlich. Die Deutschen, ein gebildetes, intelligentes, sparsames, tüchtiges Volk - und diese zerlumpten Spanier, von 300 000 Pfaffen aufgehetzt, Analphabeten - das war es, was er nicht verstehen konnte: wie da in Deutschland plötzlich ein merkwürdiges Interesse für die spanischen Guerrilleros auftauchte^ 11] Eigentlich hat er es nicht ernst genommen, und er hatte auch recht. Es hat ja, abgesehen von Tirol, in Deutschland niemals einen Partisanenkrieg gegen Napoleon gegeben. J. S.: Aber es hat dort Theoretiker des Partisanentums gegeben. C. S.: Es hat dort die Theoretiker gegeben: Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz - das ist das Erstaunliche; und das war der Grund, warum ich den Mut hatte, eine Theorie des Partisanen zu schreiben.[12] Das hätte man von keinem anderen Punkt als von Preußen aus machen können. J. S.: Was kam in Preußen zusammen? C. S.: Es kam eine echte politische Feindschaft... J. S.: Unser dritter Punkt... C. S.: Feindschaft gegen Napoleon zusammen mit einer militärischen Unterlegenheit, die nach 1807 hoffnungslos war. Daraus entstand das Interesse an den spanischen Guerrilleros und dem spanischen Volkskrieg. Aber die Spanier hätten nicht die Theorie eines Clausewitz hervorbringen können, während umgekehrt die Preußen nie einen Guerilla-Krieg haben hervorbringen können. Napoleon hat sich gerühmt und gesagt: Was soll das unsinnige Gerede über diese Spanier; was soll der Ruhm der Spanier in diesem Deutschland? Seit zehn Jahren stehen französische Soldaten auf deutschem Boden, und es ist noch nicht ein einziger Schuß von einem deutschen Zivilisten auf eine französische Uniform abgegeben worden. Das war buchstäblich wahr. So etwas ist doch erstaunlich? J. S.: Aber in den theoretischen Schriften Preußens ist der Sprengstoff für die Jahrhunderte danach angesammelt worden. C. S.: Ja, aber er hat sich nicht in Preußen entzündet. J. S.: Er ist in die Hände Lenins geraten.[13] C. S.: Erst Lenin hat es begriffen. Die Preußen selber haben es nicht verwirklicht, und es bleibt eine erstaunliche Sache, daß im Juni 1941 die deutsche Armee in Rußland einmarschierte, ohne ein Partisanenreglement zu haben; der berüchtigte Befehl Hitlers heißt „Kommissarbefehl" und nicht Partisanenbefehl. [14] Also, das Mißverhältnis des Partisanen zu der preußisch-deutschen Praxis ist erstaunlich. J. S.: Sie haben Clausewitz nicht gelesen, und vor allem haben Sie auch Gneisenau nicht gelesen. [14a] C. S.: Gneisenau natürlich nicht. Wir wollen den alten Streit - meiner Meinung nach ein Schulmeisterstreit - , wer der wahre Inspirator ist, Gneisenau oder Clausewitz, nicht aufnehmen. Man kann sie wirklich nicht trennen.
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J. S.: Ich erinnere . . . C. S.: Die Genialität Gneisenaus ist erstaunlich . . . J. S.: Von Lenin hat außerdem Friedrich Engels gewußt... C. S.: Engels hat es auch begriffen. Aber Engels war schließlich kein Berufsrevolutionär in dem Sinne wie Lenin. Es bedarf des Übergangs vom Berufsoffizier, wie Gneisenau und Clausewitz es beide waren und geblieben sind; das ist ihre Grenze. Die Sprengung dieses existentiellen Rahmens, die Entfesselung des Partisanen konnte kein Berufsoffizier besorgen, das konnte nur ein Berufsrevolutionär wie Lenin. Aber das Partisanentum des russischen Bolschewismus ist doch relativ kleiner, soziologisch betrachtet - ich meine, in seiner konkreten Wirklichkeit - , im Verhältnis zum chinesischen Partisanentum. Mao hat seine Partisanen-Armee, seine Partisanen-Elite selber geschaffen. J. S.: Und er hat den Partisanen-Status mit weitergehenden Maßnahmen verbunden - z. B. mit der Errichtung von Stützpunkten, von kleinen Sowjetrepubliken im Lande, die praktisch uneinnehmbar waren. Tsiang Kai-shek hat doch sogar mit einer Übermacht von 10 : 1 jahrelang nichts vermocht; erst mit Hilfe deutscher Berufsoffiziere, wie Falkenhausen und Seeckt, gelang ihm im fünften Vernichtungsfeldzug ein Teilerfolg. Ich möchte aber noch einmal auf Gneisenau zurückkommen. Einige Theoretiker der Linken in Deutschland interessieren sich heute sehr für preußische Traditionen, in unserm Zusammenhang für Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz. So lese ich bei Hans G. Helms in seinem Buch über Max Stirner, den Sie einmal einen Partisanen des Weltgeistes genannt haben, daß er die ideologische Indoktrinierung in Gneisenaus Denkschrift von 1811 an Friedrich Wilhelm für noch stärker hält als bei Mao Tse-tung12. Das scheint mir ein erstaunlicher Irrtum zu sein. C. S.: Das muß ich erst verifizieren. Ich bin Ihnen für diesen Hinweis sehr dankbar und werde mir das Buch von Helms ansehen. Das reizt mich als Frage, es ist denkbar... J. S.: Es ist auch gefahrlich . . . C. S.: Es gehört sozusagen zum Stoff; das Ganze ist ja ein explosiver Stoff. J. S.: Mir scheint aber, daß dort mit Begriffen wie Volk, Volkskrieg, Volksheer, Volkswehr doch nur gespielt wird, daß dort Begriffe unsauber durcheinander gemengt werden. C. S.: In diesem Sinne meinten Sie „gefährlich"? Sicherlich! Diese These ist zu überprüfen, sie interessiert mich ganz besonders, weil ich mich über die Frage 12
Vgl. Hans G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, Köln 1966, S. 30, Anm. 59. - Zur weiteren Diskussion dieser Behauptung vgl. auch die Vorbemerkung zu Gneisenaus Plan zur Vorbereitung eines Volksaufstands, dieses Buch, S. 41 f. [J. S.]. [„dieses Buch" meint: J. Schickel (Hrsg.), Guerrilleros, Partisanen - Theorie und Praxis, München 1970, Carl Hanser-G. M.].
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Clausewitz - Gneisenau gegenüber Napoleon in einem Aufsatz geäußert habe, worin ich die Unterscheidung der preußischen und der übrigen deutschen Feindschaft gegen Napoleon genauer untersuche 13. Das Erstaunliche ist doch, zu sehen, in welchem Maße Deutschland damals, namentlich in der entscheidenden Zeit von 1807 bis 1812, gegenüber Napoleon gespalten war. [15] Der große Dichter Goethe schreibt Hymnen zum Ruhme Napoleons! J. S.: Zu seinem Ruhme und voll Bewunderung für ihn. C. S.: Voller Bewunderung - noch während des Marsches auf Moskau 1812 - ist die fabelhafte Ode an die Kaiserin von Frankreich 14, die ein einziger Ruhmeshymnus auf Napoleon ist. Als ein Gott erscheint er da, wie bei Hegel. Auch der große Philosoph Hegel war ein Bewunderer Napoleons . . . J. S.: Des Weltgeistes zu Pferde . . . C. S.: Und gleichzeitig im damaligen Preußen diese erbitterte Feindschaft! Die Preußen hatten aber ebenfalls ihren Philosophen, und das war Fichte. [16] Womit hat Napoleon die Feindschaft Fichtes verdient? Die Feindschaft Fichtes gegen Napoleon verlangt eine eigene, und zwar nicht etwa psychoanalytische, sondern phänomenologisch-existentialistische Untersuchung. J. S.: Vielleicht läßt sich hier en passant etwas besprechen, was wohl dazu gehört. Fichte war ein entschiedener Parteigänger für eine bestimmte Sache, nämlich gegen Napoleon zu sein. Ich glaube, nun sollte und könnte sich ein kurzer etymologischer Hinweis anschließen: Was heißt eigentlich „Partisan"? Woher kommt das Wort? C. S.: Es heißt Parteigänger. J. S.: Parteigänger - partita . . .[17] C. S.: Ein uraltes Wort für diesen Vorgang. Man muß sich nur bewußt halten, daß alles politische Denken mit Parteiung beginnt; das ist der Sinn dieser Definition. Das Kriterium des Politischen ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Wenn wir bei der hundertprozentigen, unreflektierten Freundschaft an sich bleiben, dann hätten wir auch im Paradies bleiben können, oder in der matriarchalischen Urgesellschaft. Ich weiß nicht, was sich da so an Gegensätzen getan hat. Aber Partei = Partisan - und auf einmal entwickelt die Sprache aus sich heraus einen Tiefsinn, der ganz erstaunlich ist. Die Partei ist plötzlich sozusagen das Totale. Das ist auch mit unserm Kriterium vom politischen Engagement gemeint: Der Partisan ist deijenige, der hundertprozentig Partei ergriffen hat. Angesichts der vielen Untersuchungen und Reflexionen über das Phänomen des Totalitarismus wäre es gut, sich klarzumachen, daß die Redewendung vom totalen Staat, die auch ich zunächst 13
Carl Schmitt, Clausewitz als politischer Denker. In: Der Staat, 6. Bd., Heft 4, Berlin 1967, S. 479 ff. [C. S.]. 14 Ihro der Kaiserin von Frankreich Majestät. Ode vom Juli 1812 (im Namen der Bürgerschaft von Karlsbad). [C. S.].
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übernommen und gebraucht habe, ungenau ist. [18] Der Staat als Establishment, als institutionalisierte Organisation mit einer Bürokratie und einer zentralisierten Verwaltung usw., kann gar nicht hundertprozentig totalitär sein. Aber merkwürdigerweise ist es die Partei, d. h. ein Teil, der dem vorhandenen etablierten Ganzen den Ganzheitscharakter abspricht und sich als Teil über das Ganze stellt, um sozusagen das wahre oder das umgreifende Ganze, das kommende, neue Ganze, um die neue Einheit, die neue politische Einheit zu verwirklichen. J. S.: Hier drängt dialektisch der Widerspruch des Besonderen gegen das Allgemeine, wobei das Besondere zum Allgemeinen wird. C. S.: In dem Augenblick, da der dialektische Widerspruch des Besonderen richtig im Sinne des Zeitgemäßen, des An-der-Zeit-Seins wird, ist die Totalität beim Besonderen und nicht mehr beim bisherigen Allgemeinen. J. S.: Nun gibt es auch die Gefahr, daß die Partei, die bis dahin total war, sich institutionalisiert und enttotalisiert... C. S.: Und sich regularisiert und bürokratisiert... J. S.: Wie etwa in der Sowjetunion. C. S.: Ich möchte Ihnen meine Definition wiederholen - vielleicht eine schlechte Altersangewohnheit; wenn man aber etwas, was richtig ist und sich stets von neuem bewährt, immer wieder sagen muß, um überhaupt verstanden zu werden, dann ist das vielleicht verzeihlich. Einer der Sätze, die ich oft wiederholt habe und mit denen ich im Grunde nur ein nettes und beifälliges Schmunzeln erregte - weil man dachte, es sei bloß eine „geistreiche Formulierung" - , einer dieser Sätze lautet: Die Legalität, auch die Regularität in unserm Sinne, ist ein Funktionsmodus der Bürokratie. [19] Die Bürokratie ist das Schicksal, darin hat Max Weber wahrscheinlich recht. Nicht nur die staatliche Verwaltung, nicht nur jede andere kirchliche oder sonstige Verwaltung, nicht nur die großen Industrien, nicht nur die großen Armeen - alles muß funktionieren, und der Funktionsmodus ist eben die Legalität in irgendeinem Sinne. Die Legalität erweist sich nicht etwa als eine kleine, nebensächliche Formalität, sondern hat sich in entscheidenden Fällen als das Stärkere herausgestellt. Den alten Gegensatz können Sie bei Che Guevara und seinem Philosophen Regis Debray 15 wiederauftauchen sehen. „Funktionsmodus der Bürokratie", das ist kein Scherz, keiner der billigen Witze über die Bürokratie und den Amtsschimmel und die Zöpfe, die man abschneiden müßte. So ist das nicht. Das heißt etwas. Es ist eine fürchterliche Realität.
15
Regis Debray; Revolution dans la revolution? Lutte arm6e et lutte politique en Am6rique latine, Paris 1967. Deutsch als Revolution in der Revolution, München 1967. - In der Argumentation von Debray wird die Brauchbarkeit unserer vier Kriterien evident. Er steigert die Mobilität zum absoluten Merkmal (Nachschub im Tornister), übersteigert die Irregularität bis zur Beziehungslosigkeit und versperrt sich den Weg zur Erkenntnis des Raum-Problems, indem er nur die tellurisch-agrarische Situation des unterentwickelten Dorfes gelten läßt. [C. S.]
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J. S.: Würden Sie folgendem zustimmen? Während der Kulturrevolution in China wurde die Partei, praktisch das Establishment der Partei, nämlich die Partei als institutionalisierte, regularisierte, enttotalisierte zerschlagen und völlig neu geformt. Ich möchte sagen, das ist ein Akt Mao Tse-tungs als eines Partisanen; ein richtiger Partisanenakt. C. S.: Sehr gut, das ist so und nicht anders zu verstehen. Aber mich erinnern solche Vorgänge an die Geschichte des Christentums, das mit einer totalen Verneinung der damaligen Welt, des römischen Imperiums, und mit einer totalen Infragestellung der Welt begann und sich bald in Katakomben auf römischem Boden, unterirdisch und buchstäblich im Untergrund organisierte. Es gibt einen fabelhaften Vers meines Freundes Theodor Däubler über diesen Vorgang; in einem Gedicht auf Rom sagt er: Auf einmal beginnt in Rom, zur Zeit Neros, ein unterirdisches Bohren; Es wird unterirdisch ein Lichtgott geboren 16. Und wie endet diese totale Verneinung? Mit Konstantin, Staatsreligion und schließlich mit dem unfehlbaren römischen Bischof als einer zentralen Organisation, wie sie zentralistisch vollkommener kaum auf der Welt vorhanden sein dürfte . . . J. S.: Über Jahrhunderte funktionsfähig . . . C. S.: Insofern ist dieses Beispiel frappant, und man kann nur bedauern, daß Max Weber in seinen religionssoziologischen Studien niemals systematisch auf die Soziologie des römischen Katholizismus eingegangen ist. Da ist eine zölibatäre Bürokratie, ein legalitärer Funktionsmodus entstanden, wenn wir diese sogenannten wertfreien soziologischen Kategorien einmal auf eine christliche Kirche anwenden dürfen, und zugleich das Kanonische Recht geschaffen worden, eine der größten juristischen Leistungen der ganzen Geistesgeschichte der Menschheit. So endet - nicht wahr? - das revolutionäre Urchristentum. J. S.: Wir sind in Gefahr, etwas abzuschweifen . . . C. S.: Dabei kommen wir auf ein so interessantes Thema. Ich stehe unter dem Eindruck der Lektüre eines Buches von Arnold Ehrhardt, der über das Christentum als revolutionäre Bewegung vor einigen Jahren mehrere Bände veröffentlicht hat 17 . An sich ist die These, daß das Christentum die revolutionäre Bewegung war, alt - die These von Bruno Bauer... J. S.: Wieder einer, den Sie einen Partisanen des Weltgeistes genannt haben.[20] C. S.: Ehrhardts Ausführungen sind doch erstaunlich. Das ganze Werk - zwei Bände habe ich bisher gelesen - enthält eine Entwicklung dieses Gedankens von der Revolution: Jeder, der sich zum Christentum bekannte, war in unserem Sinne ein Partisan, wenn er auch auf den bewaffneten Kampf verzichtete. Immerhin, das 16 Im I. Teil seines Epos „Das Nordlicht", zum Bau der christlichen Katakomben. Vgl. die „Genfer Ausgabe", Leipzig 1921 [C. S.]. 17 Arnold A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, insbesondere Bd. II: Die christliche Revolution, Tübingen 1959. [C. S.]
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totale Engagement war auch hier nicht unpolitisch; das Politische läßt sich eben nicht vermeiden. Insofern führte die Abschweifung, entschuldigen Sie, nicht vom Thema weg.
Viertes Kriterium: Der tellurische Charakter J. S.: Die Abschweifung ließ das Thema nicht außer acht, doch wir haben noch einen letzten Punkt, den ich für sehr wichtig halte, zu erledigen. Das ist Ihr viertes Kriterium, der tellurische Charakter des Partisanen. Was ist „tellurisch"? C. S.: Terran, die Erde; im Sinne der alten, braven vier Elemente - oder fünf. Ich las in Ihrem Kommentar zu den Gedichten Maos und auch in dem ersten Kapitel Ihrer Sun-Tzu- Arbeit 18 , daß die chinesischen Philosophenfiinf Elemente, Elementaria, unterscheiden. J. S.: Ja, es ist immer ein zentrales dabei... C. S.: Tao, Himmel, Erde - fabelhaft, je mehr man darüber nachdenkt... J. S.: Immer ein zentrales Element, um das sozusagen vier Eckpunkte als um die Mitte der W e l t . . . C. S.: Mir fällt bei dieser Gelegenheit ein, daß unsere herkömmlichen vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde eigentlich auch noch ein fünftes haben: die berühmte Quintessenz. Vielleicht ist das Tao die Quintessenz; doch bleiben wir bei den vier Elementen. Die moderne Chemie hat sie zerstört und auf einen ganz anderen Begriff reduziert, jetzt werden sogar künstliche Elemente hergestellt, et cetera. Die alten Elemente, Feuer, Wasser, Luft und Erde, sind aber auch vier Aktivitätsräume des Menschen, vier Dimensionen und vier Situationen, sind Kraftfelder für Arbeiten und Betätigungen, denen sich der Mensch unorganisiert. Der terrane Mensch ist eine andere Spezies, möchte ich beinahe sagen, als der maritime Mensch, und meine These ist die, daß die moderne entfesselte Technik und technische Industrie erst nach dem Übergang Englands zu einer maritimen Existenz möglich wurde, maritime Existenz in dem Maße, wie sie England seit der modernen Industrie, seit den ersten Maschinen, also seit dem Jahre 1750 - man kann es ungefähr datieren - begonnen hat, hat es früher nie gegeben. Auch das thalassische 18
Die insgesamt dreizehn Kapitel von Sun Tzu, Ping-fa, sollen 1971 in meiner Übersetzung und - unter Berücksichtigung chinesischer Kommentare sowie kriegsgeschichtlicher Parallelen verfaßten - Erläuterung im Verlag Huber, Frauenfeld, erscheinen. [J. SJ. [Leider ist diese geplante Edition nicht erschienen, in s. o. a. Bd. „Gespräche mit Carl Schmitt", S. 90, erklärt Schickel jedoch, daß er beabsichtige, „die ersten zwei, drei Kapitel von SunTzu, Ping-fa, die - über rein militärische Aspekte hinaus - auch von (staats-)philosophischem Interesse sind", noch zu veröffentlichen. Bis dahin ist die wissenschaftlich wohl zuverlässigste Edition: Sun Tzu, The art of war, ed. S. Griffith, Oxford, Clarendon Press 1963. Eine Leseausgabe mit bescheideneren Ansprüchen: Sun Tze, Die dreizehn Gebote der Kriegskunst, München 1972, Rogner & Bernhard, hrsg. v. G. Maschke - G. M.].
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Denken der Griechen war noch nicht ozeanisch-maritim im Sinne einer neuen Gesamt-Existenz, war noch kein Denken vom Schiff, sondern noch vom Hause her. Der terrane Mensch denkt vom Hause aus; der maritime baut sich das Schiff und ist damit schon hundertprozentig vom Technischen her bestimmt. Das Haus bleibt verbunden mit dem, was man „Natur" nennt. Das Meer ist des Menschen Feind, solange er es nicht hundertprozentig technisch bewältigt hat. Der Partisan ist terran, wenn wir einen Augenblick statt tellurisch einmal terran sagen . . . J. S.: Obwohl das aus einem bestimmten Grund ein wenig gefährlich ist. Ich erinnere daran, daß bei Clausewitz der Faktor „Erde" oder das Element „Raum" im allgemeinen etwas zu kurz kommt. Terran ist da Terrain im Sinne der operativen Kriegführung . . . C. S.: Terrain, ja, das Operative. Das ist sozusagen der Boden, die Fläche, auf der sich die taktischen und strategischen Evolutionen vollziehen. J. S.: Während die alten chinesischen Theoretiker - Sun Tzu etwa - von der Erde gewußt haben. Sie kannten das Terrain, sie kannten auch die operative Kriegführung; aber die Erde war es . . . C. S.: Die Erde. Man könnte sagen, der heutige Gegensatz Ost-West ist ein Gegensatz von Land und Meer. Der Osten ist das Land, der Westen ist das Meer; und dieser ungeheure Erdraum China ist in der Tat das einzige, letzte Gegengewicht des Landes gegen das Meer - wenn ich das Element Luft, Atmosphäre, Weltraum vernachlässigen darf. Sagen wir „tellurisch", es ist vielleicht besser; ich könnte auch „territorial" sagen, läge mir das Wort nicht zu eng an staatlichen Vorstellungen vom „Gebiet". Der Partisan, den wir bisher kannten, war in typischer Weise terran, nicht nur in China, Indien oder Indonesien - obwohl Indonesien als Inselland schon nicht mehr so intensiv terran ist wie das Riesenland China - , sondern auch im Nahen Osten, in Algerien und schließlich in Latein-Amerika. Das war alles tellurisch, gleichzeitig agrarisch. Dorf gegen Stadt usw. Die Frage ist, ob das heute aufhört. Wenn man sieht, welche neuen Phänomene der Feindschaft in diese Fragestellung hineinkommen, kann man dann noch von Partisanen sprechen? Die sogenannten Guerrilleros, die heute in Montevideo eine Stadt, einen Staat und eine Regierung unsicher machen, kann man sie Partisanen nennen?[21] J. S.: Oder die Schwarzen in den USA, in New York.[22] C. S.: Die Schwarzen in den USA sind doch in einer völlig neuen politischen Situation. Das konnte ich in der Schrift über den Partisanen 1963 noch nicht behandeln. J. S.: Ich würde sie dem Begriff des Partisanen subsumieren, aber wahrscheinlich bedarf es dann neuer Kriterien oder mindestens eines neuen Kriteriums. C. S.: Das ist es. Man muß sich darüber klar sein, daß in diesen letzten Jahren das Problem des Partisanen eine rapide Entwicklung genommen hat und in einem völlig neuen Aspekt dasteht. Ich halte es durchaus für möglich - das gehört zum Schicksal jeder wissenschaftlichen Erkenntnis - , daß meine vier Kriterien in eini-
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gen Jahren einfach überholt sind. Ich wäre der erste, der sie zum alten Eisen wirft, wenn ich sehe, daß es bessere gibt. J. S.: Ich frage mich noch eines, um ganz kurz wieder zum Raum zurückzukehren (denn wahrscheinlich kommen wir sofort wieder auf die Frage nach zukünftigen Möglichkeiten und Entwicklungen): Muß der tellurische Charakter, der sich nur auf den Raum bezieht - Mao Tse-tung marschiert im Bürgerkrieg über 12 000 km - nicht ergänzt werden durch den Aspekt der Zeit? Sie erinnern sich an den Titel einer Schrift von Mao, den man immer übersetzt On Protracted War oder Über den langwierigen Krieg.[23] Im Chinesischen heißt das nicht so, sondern dort steht: Über den Krieg, den man lange aushält (chinesisch eh'ih- ehiu), den man lange erträgt, den kleine Länder wie Japan nicht ertragen können, da nur ein Land, das Raum hat, ihn solange ertragen kann. C. S.: Die Japaner haben den Schritt zum Meer versucht. Sie haben sich von der Insel her stark als maritime Macht gefühlt, sogar als maritime Existenz; sie sind nicht in dem Sinne ein erdhaftes, ein - hier darf ich sagen - terranes Volk wie die Chinesen. J. S.: Und vielleicht haben sie China auch wegen ihrer tellurischen Unterlegenheit nicht besiegt. C. S.: Die scheinbare Überlegenheit, mit der die Japaner begannen, hat eigentlich nicht lange gedauert. Das ist überraschend, weil die Überlegenheit der Insel England nach ihrem Übergang zur maritimen Existenz im XVIII. Jahrhundert und seit dem Beginn der sogenannten industriellen Revolution, die von England kam, bis zum Ersten Weltkrieg gedauert hat und dann erst unterging. Diese Überlegenheit Englands hat in gewisser Weise die europa-zentrische Vorstellung von der Weltgeschichte und vom Weltall schlechthin bestimmt und bis nach dem Ersten Weltkrieg beherrscht. Das ist zu Ende. Ich will die Parallele England-Japan nicht zu weit ausdehnen und statt dessen noch einmal auf den Gegensatz Ost-West, Land-Meer zurückkommen. Wie weit er sich auf einen Gegensatz der zwei Elemente zurückführen läßt, insbesondere angesichts der modernen Technik, wie weit wir in einer total neuen Situation sind, das ist eine Frage an die Zukunft und an den sogenannten Fortschritt. Die ganze Welt scheint ja ein Artefakt zu werden, das der Mensch sich macht. Wir leben nicht mehr im Eisernen Zeitalter, und erst recht nicht mehr im Goldenen oder Silbernen, sondern im Kunststoff-Zeitalter. Das wird Konsequenzen auch für den Partisanen, für eine Theorie des Partisanen haben.
Anmerkungen des Herausgebers [1] Die schon klassische, zusammenfassende Studie über den „Partheygängerkrieg": J. Kunisch, Der kleine Krieg. Studien zum Heerwesen des Absolutismus, 1973. - Das von Schmitt hier erörterte erste Kriterium des Partisanen, die „Irregularität", ist angesichts dessen heute bedeutend verbesserter kriegsrechtlicher Stellung fast obsolet.
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[2] H. Wehberg, Vom Jus Publicum Europaeum, Die Friedens-Warte, 4 / 1951, S. 305 314, läßt diese Deutung Schmitts wohl nur bei einiger Großzügigkeit zu - auch wenn es sich um eine relativ wohlwollende Stellungnahme handelt; vgl. auch Wehberg, Krieg u. Eroberung im Wandel des Völkerrechts, S. 13, 24 f., 106. [3] Zur völkerrechtlichen Wertung des Franktireurkrieges 1870 / 71: G. Rolin-Jaequemyns, La guerre actuelle, Revue de Droit international, Bd. 2, 1870, S. 660 ff.; J. C. Bluntschli, Das moderne Volkerrecht in dem französisch-deutschen Kriege von 1870, 1871, S. 24 ff.; J. Schmid, Die völkerrechtliche Stellung der Partisanen im Kriege, 1956, bes. S. 25 ff.; R. Büß, Der Kombattantenstatus, 1992, bes. S. 145 ff. - Zur „levee en masse" Gambettas vgl. die mit Ekel untermischten Stellungnahmen Moltkes: Gesammelte Schriften u. Denkwürdigkeiten, VII, Reden, 1892, S. 205 f., 208 f., 214; Militärische Werke, IV, 1, Kriegslehren, 1911, S. 8 ff.; hingegen betrachtet C. v. d. Goltz, Leon Gambetta und seine Armeen, 1877,- S. 35 ff., das Phänomen weit gelassener; Goltz' Forderung nach Ausschöpfung d. gesamten nationalen Wehrpotentials (vormilit. Erziehung, Ausdehnung der Wehrpflicht) nimmt hier ihren Ausgang; vgl. auch V. Regling, Grundzüge der Landkriegsführung zur Zeit d. Absolutismus und im 19. Jahrhundert, in: Militärgeschichtl. Forschungsamt (Hrsg.), Deutsche Militärgeschichte 1648 - 1939, Ausg. 1983, IX, S. 418 f. - Die Erfahrungen mit den Franktireurs von 1870 / 71 waren einer der Anlässe der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907. Diese blieb aber unbefriedigend: „Offen blieb in Art. 1 - 3 HLKO die Frage, ob sich Milizen und Freiwilligenkorps in besetzten Gebieten bilden dürfen oder ob die Bevölkerung dieser Gebiete der Besatzungsmacht zum Gehorsam verpflichtet ist und deshalb an Kriegshandlungen gegen diese nicht mehr teilnehmen darf. Ungeklärt war auch, ob die Kapitulation eines Staates oder ein mit ihm geschlossener Waffenstillstand seinen Staatsangehörigen das Recht nimmt, an der Seite verbündeter Truppen oder in deren Verband weiterzukämpfen", so H. Knackstedt, Kombattanten, in: Strupp / Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch d. Völkerrechts, 2. Aufl. 1961, II, S. 259. Der Text d. HLKO in: Hinz / Rauch (Hrsg.), Kriegsvölkerrecht, 3. Aufl. 1984, Nrn. 1504, 1506, 1507. Allgemein zu den Haager Konferenzen: J. Brown Scott, The Hague Peace Conferences, 2 Bde., New York 1915; Ph. Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 u. 1907, 1915; J. Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 u. 1907 in d. internationalen Politik, 1981. Zu den Haager Diskussionen um den Kombattantenstatus der Franktireurs bzw. Partisanen und dem anders gelagerten, aber verwandten Problem der „levee en masse": Zorn, a. a. O., S. 26 ff.; H. J. Schmid, a. a. O., S. 42 ff.; M. Veuthey, Guerilla et Droit humanitaire, Genf 1976, S. 189 ff.; Büß, a. a. O., S. 168 ff. Man darf resümieren, daß die HLKO den Akzent bereits eher auf die Pflichten d. Okkupanten als auf die der Bevölkerung im okkupierten Gebiet legte und spätestens ab hier die Verbesserung der juristischen Situation des Partisanen beginnt; dazu auch: D. A. Graber, The development of the law of belligerent occupation 1863 - 1914, New York 1949, bes. S. 287 ff. [4] Schmitt meint hier die Genfer Abkommen v. 12. 8. 1949, die die HLKO teils ergänzte, teils ersetzte und die eine bedeutende Verbesserung im rechtlichen Status des Partisanen mit sich brachte (dazu auch Schmitt, Theorie d. Partisanen, 1963, S. 29 ff.). Die Abkommen bestanden aus 4 Konventionen zur Verbesserung d. Loses der Verwundeten u. Kranken von Land- und Seestreitkräften, zur Behandlung von Kriegsgefangenen u. zum Schutz von Zivilpersonen; sie wurden am 12. 12. 1977 durch zwei Zusatzprotokolle über internationale und innerstaatliche Konflikte ergänzt; Text dieser Abkommen in: Hinz / Rauch, wie FN [3], Nrn. 1540, 1545, 1550, 1560, 1570 u. 1575; Auszüge in: P. C. Mayer-Tasch, Guerillakrieg und Volkerrecht, 1972, S. 57 ff. Der bedeutendste Kommentar, unter der Leitung von Jean
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S. Pictet: Les conventions de Geneve du 12 aoüt 1949,4 Bde., Genf 1952 - 59 (auch engl.). Vgl. auch: Groh, Das Recht d. Kriegsgefangenen u. Zivilpersonen nach d. Genfer Konventionen, 1952; Schlögel, Die Genfer Abkommen zum Schutze der Kriegsopfer, 2. Aufl. 1953; Schmid, wie FN [3], S. 75 ff.; Dahm, Völkerrecht, II, 1961, S. 434 ff. (i. Zusammenhang mit d. Problem d. Repressalie); Berber, Lehrbuch d. Völkerrechts, II, Kriegsrecht, 2. Aufl. 1969, bes. S. 136 ff., 144 ff., 150 ff., 156 ff. u. ö.; Vauthey, wie FN [3], bes. S. 191 ff.; Menzel / Ipsen, Völkerrecht, 2. Aufl. 1979, bes. S. 131 ff.; Büß, wie FN [3], S. 217 ff. [5] Guevara geht eher davon aus, daß die Partisanen selbst sich nach und nach in „reguläre" Kämpfer verwandeln. Zunächst lähmen sie die vom Feinde kontrollierten Zonen durch Sabotageakte, übernehmen diese und dringen dann von ihnen in neue Zonen vor: „ . . . (jetzt) kämpft man mit dem feindlichen Heer an Frontlinien; man erobert jetzt schwere Waffen (sogar Panzer), man kämpft von gleich zu gleich." (Guevara, La guerra de guerrillas, zuerst 1960, zit. nach: ders., Obra revolucionaria, Mexiko 1967, S. 71.) Guevaras „foquismo" hat, zumindest in den ersten Stadien des revolutionären Kampfes, wenig mit Maos „Volkskrieg" zu tun; vgl. u. a.: G. Maschke, Kritik des Guerrillero, 1972, S. 41 ff., 126. [5a] Eine derartige Aktion wäre aber die Tat eines Terroristen und nicht die eines Partisanen; sie genösse nicht den Schutz des heutigen Kriegsvölkerrechts bzw. Rechts des bewaffneten Konflikts. Dazu: Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 992. Zur Beziehung Guerilla / Terrorismus wie zur Abgrenzung vgl. Vauthey, wie FN [3], S. 134 - 160. [6] R. Payne, MaoTse-Tung, 1951, S. 154, 160, 167, 169. [7] Zum „Tao" vgl. die vielen Hinweise bei: W. Bauer, China und die Hoffnung auf Glück, 1971; auch J. Schickel, Lao Tzu. Tao, ein übergreifend Allgemeines, in: ders., Große Mauer, Große Methode, Annäherungen an China, 1968, S. 284 ff. [8] Schmitt denkt hier, freilich in einer sehr eigenwillig verschärften Abwandlung, an Textstellen bei Mao Tse-Tung, Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke (19. 6. 1957), in: ders., „Band V", 1977, S. 122: „Es geht natürlich nicht, sich der Kritik zu enthalten, untätig zuzuschauen, wie überall falsche Ansichten um sich greifen, und zu gestatten, daß sie das Feld beherrschen. Fehler müssen kritisiert und Giftpflanzen bekämpft werden, wo immer sie auftauchen. Aber eine solche Kritik soll nicht dogmatisch sein . . . Wir bekämpfen alle Giftpflanzen, aber wir müssen zwischen wirklichen Giftpflanzen und duftenden Blumen sorgfältig unterscheiden." Vgl. ebd., S. 120, 125. [9] Aron (1905 - 1983) korrespondierte in d. Jahren 1954 - 1979 mit Schmitt. Zwei Briefe Schmitts an Aron hat P. Tommissen veröffentlicht im Anhang zu: Paul Janssens, Eigentijdse geschiedenis: een vraaggesprek mit Raymond Aron, Brüssel 1985, „Eclectica" 59, hrsg. von d. Economische Hoogeschool Sint-Aloysius (Rundfunkinterview v. 1979), S. 50 - 52. Im ersten Brief weist Schmitt auf Goethes Napoleon-Gedicht ü. Land und Meer hin (vgl. vorl. Bd., Maritime Weltpolitik, S. 478 u. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 10) u. schreibt u. a.: „ . . . eine unwahrscheinliche Vorwegnahme der terranen Gegenposition zu Mackinder's maritimer Position" (gemeint sein kann wohl nur: ,Mahan's maritimer Position"? - G. M.); im Anschluß darauf weist Schmitt noch auf Melvilles „Benito Cereno" und den diesbezügl. Essay Tierno Galvans hin (vgl. Tierno Galvans Aufsatz in: Epirrhosis, FS C. Schmitt, 1968,1, S. 345 ff.). Im 2. Brief v. 13. 11. 1962 bedankt sich Schmitt für den Empfang von Arons „Paix et guerre entre les nations", Paris 1962 (dt. Ausgabe 1963) u. geht auf einige Fragen wie „ennemi", „hostilite", usw. ein. - Vgl. Arons Eingehen auf Schmitt in: Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt, 1963, S. 110, 247, 344, 873; Penser la guerre, Clause-
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witz, II, L'äge planetaire, Paris 1976, S. 210 - 220 („Carl Schmitt et la figure du partisan"); Memoires. 50 ans de reflexion politique, Paris 1983, S. 456, 650, 655. - Zu Aron/Schmitt vgl. auch: P. Tommissen, Conflictsociologische Studien. Eerste reeks, Brüssel 1985, „Eclectica" 60 - 61, S. 10; ders., Conflictsociologische Studien. Tweede reeks, Brüssel 1989, „Eclectica" 77, ö. [10] Lin Piao, Es lebe der Sieg im Volkskrieg. Zum 20. Jahrestag des Sieges des chinesischen Volkes im Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression, Peking 1968 (Rede v. 3. 6. 1965). Auszüge in Schickeis Sammelband, S. 188 ff. u. bei W. Hahlweg, Lehrmeister des kleinen Krieges. Von Clausewitz bis Mao Tse-Tung und Che Guevara, 1968, S. 231 ff. [11] Dazu d. von Schmitt hochgeschätzte Werk v. R. Wohlfeil, Spanien und die deutsche Erhebung 1808 - 1814, 1965. Dazu Schmitts Rezensionsaufsatz: Clausewitz als polit. Denker, Der Staat, 1965, S. 479 ff. [12] Zur preußischen Theorie des Partisanen (und des Volksaufstandes): Gneisenau, Denkschriften zum Volksaufstand von 1810 und 1811, Berlin 1936; Clausewitz, Meine Vorlesungen über den kleinen Krieg, gehalten auf der Kriegsschule 1810 und 1811, in: ders., Schriften-Aufsätze-Studien-Briefe, hrsg. v. W. Hahlweg, I, 1966, S. 208 - 599; ders., Vom Kriege, 19. Aufl. 1980, S. 799 - 806; R. Höhn, Revolution-Heer-Kriegsbild, 1944, S. 618 656; W. Hahlweg, Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg, 1962; ders., GuerillaKrieg ohne Fronten, 1968, S. 50 ff. Ergiebig dazu die auf Kleist u. die damalige schöne Literatur Preußens eingehende Studie v. Wulf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, 1987 (mit Hinweisen zu Schmitt, u. a. S. 224 ff., 401 ff.). [13] Vgl. bes. die „Tetradka", die Auszüge zu Clausewitz: Lenin, Clausewitz' Werk „Vom Kriege" - Auszüge und Randglossen, hrsg. v. Otto Braun, Berlin (Ost) 1957. - Zum Verhältnis Clausewitz-Lenin: W. Hahlweg, Lenin und Clausewitz - Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Archiv f. Kulturgeschichte, 1954, H. 1, S. 30 - 59, H. 3, S. 357 - 387; R. Aron, Penser la guerre, Clausewitz, II, Paris 1976, S. 61 - 77; P. Kondylis, Theorie des Krieges - Clausewitz, Marx, Engels, Lenin, Stuttgart 1988, S. 245 - 259. Schikkel denkt hier wohl auch an Lenins Aufsatz „Der Partisanenkampf' (1906), der in seiner Sammlung S. 126 - 139 abgedruckt ist. Vgl. sonst: Lenin, Über Krieg, Armee und Militärwissenschaft, 2 Bde., Berlin (Ost) 1959 / 61. [14] Der „Kommissarbefehl" v. 6. 6. 1941 (OKH-Entwurf v. 6. 5. 1941) geht auf eine Ansprache Hitlers vor Generälen am 30. 3. 1941 zurück. Kernstück war die Liquidierung von politischen Hoheitsträgern, politischen Kommissaren und Politruks im Kriegsgebiet, denen der Status als Gefangene abgesprochen wurde. Der „Kommissarbefehl" stand in Zusammenhang mit dem „Gerichtbarkeitsbefehl" (auch „Barbarossabefehl") v. 13. 5. 1941 (OKH-Entwurf v. 6. 5. 1941), in dem es vor allem um die Erschießung mutmaßlicher Freischärler und Saboteure ging. Zu beiden Befehlen, ihrer Genesis und ihrer teilweisen Sabotage durch die Truppe vgl. H. D. Betz, Das OKW und seine Haltung zum Landkriegsvölkerrecht im Zweiten Weltkrieg, Diss. Würzburg 1970, S. 107 - 215, mit den Dokumenten X I I - XV (ohne Paginierung) im Anhang. Mit beiden Befehlen im Zusammenhang stand der „Kommandobefehl" v. 18. 10. 1942, der die sofortige Erschießung aller gefangengenommenen Angehörigen feindlicher Kommandotruppen forderte, ungeachtet ihres Kombattantenstatus. Diese völkerrechtswidrigen Befehle spielten eine Rolle beim Nürnberger Prozeß, vgl. u. a.: Heydecker / Leeb, Der Nürnberger Prozeß. Bilanz der Tausend Jahre, 1958, S. 380 - 389;.Maser, Nürnberg Tribunal der Sieger, 1977, S. 291 - 370. - Ein gewisses Verständnis für die politisch-psycho-
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logischen Bedingungen des Antipartisanenkrieges zeigte sich erst in der „Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten" v. 11. 11. 1942, dazu: W. Hahlweg, Guerilla. Krieg ohne Fronten, 1968, S. 127. Zum Partisanenkrieg in Rußland vgl. u. a.: E. M. Howell, The soviet partisan movement, 1941 - 1945, Washington 1956 (Dept. of the Army); V. Redelis, Partisanenkrieg. Entstehung u. Bekämpfung d. Partisanen- und Untergrundbewegung im Mittelabschnitt d. Ostfront 1941 bis 1943, 1958. - Sowjetische Juristen verstiegen sich z. T. zu der These, daß alle Widerstandsformen gg. die deutschen Invasions- u. Okkupationstruppen „berechtigte Notwehr" (und implicit „gerechter Krieg") gewesen seien, evtl. deutsche Partisanen seien hingegen als „faschistische Terroristen" zu bestrafen; so J. P. Trainin, Questions of guerilla warfare in the laws of war, AJIL, 1946, S. 534 ff.; dazu die Kritik v. R. Maurach, Das Kriegsrecht vom Blickfeld d. Sowjetunion, Jb. f. intern, u. ausl. öffentl. Recht, 1949, S. 736 ff. [14a] Diese Meinung ist vollständig irrig, vergegenwärtigt man sich die große Zahl der z. T. in hoher Auflage erscheinenden Clausewitz- und Gneisenau-Editionen zw. 1933 und 1945. Es erschienen auch bedeutende Monographien, vgl. etwa: W. M. Schering, Die Kriegsphilosophie von Clausewitz, Hamburg 1935; ders., Wehrphilosophie, Leipzig 1939; E. Hagemann, Die deutsche Lehre vom Kriege, I, Von Berenhorst bis Clausewitz, Berlin 1940; Fr. v. Cochenhausen, Der Wille zum Sieg. Clausewitz, Lehre von den dem Kriege innewohnenden Gegengewichten und ihrer Überwindung, erläutert am Feldzug 1814 in Frankreich, Berlin 1943. - Ein Unverständnis ggü. Clausewitz in den Jahren 1933 - 45 läßt sich allenfalls ggü. dessen These von der die Gewalt dämpfenden u. regulierenden Rolle der Politik finden. Doch ist die Beschränkung der Gewalt durch die Politik bei Clausewitz nur eine Möglichkeit; die Intensität der Gewaltanwendung ist abhängig von der Intensität der Feindschaft; vgl. Clausewitz' Brief an General v. Müffling (22. 12. 1827), in: Zwei Briefe des Generals von Clausewitz. Gedanken zur Abwehr, Militärwissenschaftliche Rundschau, Sonderheft, März 1937, S. 8: ,Je mehr die Politik von großartigem, das Ganze und sein Dasein umfassenden Interesse ausgeht, je mehr die Frage gegenseitig auf Sein und Nichtsein gestellt ist, um so mehr fällt Politik und Feindschaft zusammen, um so mehr geht jene in dieser auf, um so einfacher wird der Krieg, um so mehr geht er aus dem bloßen Begriff der Gewalt und Vernichtung hervor... Ein solcher Krieg sieht ganz unpolitisch aus . . . Aber offenbar fehlt das politische Prinzip hier ebensowenig wie bei anderen Kriegen, nur fällt es mit dem Begriff der Gewalt und Vernichtung ganz zusammen und verschwindet unserem Auge." - Zur heute Mode gewordenen Verharmlosung Clausewitz': R. Hepp, Der harmlose Clausewitz, ZfP, 1978, S. 303 - 18, 390 429. [15] Zur Napoleonfreundschaft bzw. -feindschaft in Deutschland: F. Stählin, Napoleons Glanz und Fall im deutschen Urteil, Braunschweig 1952; M. Freund, Napoleon und die Deutschen, München 1969. [16] Zur Napoleonfeindschaft Fichtes vgl. Schmitt, Clausewitz als politischer Denker, FN [11], S. 492 ff. (Erörterung des Werkes von B. Willms, Die totale Freiheit - Fichtes politische Philosophie, 1967). Von Fichte selbst, neben s. „Reden an die deutsche Nation", zuerst 1808: Über den Begriff des wahrhaften Krieges, in: Werke, ed. Medicus, VI, 1912, S. 451 478. [17] Joachim Schickel dachte hier an lat. partita (part. perf. pass.) und wollte von hier aus über ital. partita (»Abteilung, Teil, Partie') und partito (»Partei') zu ital. partigiano (»Parteigänger') kommen. Schmitt aber unterbrach ihn: er „fuhr mir allzu schnell in die romanistische Parade" (freundl. Mitteilung v. Herrn Schickel, 29. 1. 1994). - Hingewiesen sei noch auf
Gespräch über den Partisanen
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das span, partida (»Abreise4, »Abmarsch', »Start', »Abfahrt', ,Partie' - aber auch »Bande', ,Freischar'). In der Sprache des ,Reglamento' der Junta Central Suprema vom 28. 12. 1808, mit der diese den Krieg gegen Napoleon ordnen wollte, ist die ,partida' eine Kampfgruppe von ca. 100 Mann, davon als Kerntruppe die Hälfte Berittene: „Cada Partida constarä de cincuenta hombres de ä caballo poco mas ö menos, y otros tantos ä pie, que montarän ä la grupa en caso necesario." (Zit. nach: R. Wohlfeil, Spanien und die deutsche Erhebung 1808 1814, Wiesbaden 1965, S. 296.) Raymond Aron, Penser la guerre, Clausewitz, II, 1976, S. 106, schreibt: „Encore une fois, le partisan ou Parteigänger, au XVffl e siecle, n'a rien ä voir avec „Fhomme d'un parti politique", il est simplement l'homme d'un parti ou detachement leger qui court la Campagne." Im Span, sind die Entsprechungen des Wortes ,Partisan' Cpartisano', ,partidario') eher ungebräuchlich, bevorzugt wird ,guerrillero'. Zum Sinnwandel des Wortes »Partisan' (vom „tellurischen" Partisanen, der sich pro ara et focis schlägt, zum revolutionären Kämpfer) vgl. Schmitt, Theorie des Partisanen, 1963, S. 26 ff., Aron, a. a. O., S. 210 ff. [18] Dazu Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 366. [19] Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 16 ff.; Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem (1947), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 431 ff. (hier S. 434); Das Problem der Legalität (1950), ebd., S. 444 ff. [20] Schmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation, 1950, S. 100: „Bauer blieb der einsame, isolierte Partisane des Weltgeistes, gleichgültig, ob er für oder gegen Bismarck schrieb, mit oder gegen die Konservativen ging". - Schmitt hat auch d. Situation Rousseaus mit der des Partisanen verglichen: Dem wahren Johann Jakob Rousseau - Zum 28. Juni 1962. Zürcher Woche, 29. 6. 1962; vgl. dazu die Polemik v. H. F. Pfenninger, Carl Schmitt und der ,Partisan" Rousseau, NZZ, 27. 7. 1962. Helmut Ridder betrachtete Schmitt selbst als intellektuellen Partisanen, der, auch mit Hilfe s. Schüler, einen verdeckten Kampf gg. die westdeutsche Nachkriegsdemokratie führt: Ex oblivione malum - Randnoten zum deutschen Partisanprogreß, FS Wolfgang Abendroth, 1968, S. 305 - 332. [21] Zur Geschichte der „Tupamaros" in Uruguay: A. Mercader / J. de Vega, Tupamaros: estrategia y acciön, Montevideo 1969; Actas Tupamaros, Buenos Aires 1971; A. Labrousse, Les Tupamaros. La Guerilla urbaine en Uruguay, Paris 1971; F. R. Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerilla, 1974, S. 279 ff., 435 ff. - Die rapide Vergroßstädterung in der Dritten Welt führt dazu, daß der bewaffnete Kampf sich eher in die Städte verlagert; dabei wird der „aniquilamiento selectivo", der Terror mittels Autobomben und die durch Gewalt stabilisierte Kontrolle über Schulen, Universitäten und lokale Verwaltungen bevorzugt; bes. typisch etwa in Peru. Diese Stadtguerilla neuen Typs rekrutiert sich kaum noch aus Bauern, sondern aus Schülern, Studenten u. Intellektuellen ; ihre Kämpfer sind eher Terroristen als Partisanen. Vgl.: G. Maschke, Das bewaffnete Wort. Mythos der Erziehung und revolutionäre Gewalt: Der „Leuchtende Pfad" in Peru, in: FS Hans-Joachim Arndt, 1993, S. 187 ff. [22] Dazu u. a.: R. F. Williams / R. B. Brigg, Großstadtguerilla, 1969 (Voltaire-Flugschrift 24). Auszug u. d. T. „Wie sich die schwarze Revolution bewaffnet" im Sammelband Schikkels, S. 178 ff. Vgl. auch d. Standard-Werk von M. Oppenheimer, Stadt-Guerilla, 1971, aus d. Engl. [23] Dazu auch: S. A. Boorman, The protracted game. A Wei-chi interpretation of Maoist revolutionary strategy, New York 1969. 41 Staat, Großraum, Nomos
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Vierter Teil: Um den Nomos der Erde
Anhang des Herausgebers Der vorliegende Text, basierend auf einer Rundfunksendung v. 22. 5. 1969 des Norddeutschen Rundfunks und des Senders Freies Berlin, erschien zuerst in: Joachim Schickel (Hrsg.), Guerrilleros, Partisanen. Theorie und Praxis, München 1970, Carl Hanser Verlag, Reihe Hanser 42, S. 9 - 29, 207 f. (Anmerkungen); er wurde unverändert nachgedruckt in: J. Schickel, Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993, Merve Verlag, S. 9 - 30, 88 - 91 (Anmerkungen); vgl. auch d. Rezensionen von A. Klempt, EPD, 4. 6. 1969, J. Freund, Der Staat, 3 / 1971, S. 412 - 15, u. von E. Henning, NPL, 4/1971, S. 609 - 11. - Joachim Schickel, geb. 1924, von 1952 - 1982 Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg, veröffentlichte mehrere Bücher zu chinesischen und philosophischen Themen, u. a.: Große Mauer, Große Methode. Annäherungen an China, 1968; Spiegelbilder: Sappho / Ovid, Wittgenstein / Canetti, Marx / Piranesi, 1975. Er übersetzte Maos „37 Gedichte", 1965; erweitert als „39 Gedichte", 1978. Seine „Gespräche mit Carl Schmitt" enthalten auf den S. 60 ff. („Freund und Feind") und 77 ff. („Partisan des Politischen") weitere Hinweise zum Thema. - Als bedeutsam für Schmitts Überlegungen zum Partisanenproblem muß sein Gedankenaustausch mit dem Schriftsteller Rolf Schroers (1919 - 1981) angesehen werden; vgl. von Schroers: Legitime Illegalität. Zur Situation des Partisanen, in: Merkur, 1961, S. 701 - 717; Maschinist und Partisan, in: Frankfurter Hefte, 1961, S. 149 - 156; Der Partisan. Ein Beitrag zur politischen Anthropologie, 1961; dazu auch d. Hinweis bei: Schmitt, Theorie des Partisanen, 1963, S. 24 f. Vgl. a.: Th. Schiller, Rolf Schroers und Carl Schmitt - eine Grauzone, in: M. Fassbender/K. Hansen, Hrsg., Feuilleton und Realpolitik - Rolf Schroers: Schriftsteller, Liberaler, Intellektueller, 1984, S. 77 - 94. - Von Interesse mögen auch die größeren Rezensionen und Erörterungen dieses Buches sein, das auf 1962 in Spanien gehaltene Vorträge zurückgeht, u. a.: R. Hinder, in: Gemeinschaft und Politik / Zeitschrift f. Geopolitik, 7 / 8, 1964, S. 226 ff.; H. U. Scupin, in: Der Staat, 1966, S. 245 ff.; G. Uscatescu, Fronteras del silencio (Essays), Madrid 1967, S. 151 ff.; H. Savon, in: Guerres et paix, 1969, S. 76 ff.; M. Ghelardi, in: Critica marxista, 1981, S. 187 ff.; A. da Lago, in: Rassegna italiana di Sociologia, 2 / 1981, S. 270 ff.; S. Valitutti, in: Nuovi studi politici, 4 / 1981, S. 127 ff.; L. Manconi, in: Quaderni piacentini, 1981, S. 137 ff., sowie die Beiträge von M. Llanque u. J. K. Ronneberger, in: H. Münkler (Hrsg.), Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, 1990, S. 61 ff., 81 ff.; vgl. auch: V. Leemans, Der veranderende maatschappij en de de welvaart, in: Tijdschrift voor filosofie, 1963, S. 779 - 817, bes. S. 808 ff.; J. Gross, in: Deutsche Zeitung, 28. - 31. 3. 1964; H. Hofmann, Feindschaft - Grundbegriff des Politischen?, in: ZfP, 2/1965, S. 17 - 39; J. Fijalkowski, in: PVS, 1/1965, S. 105 ff.; L. Picard, Ondergrondse en verzet, in: De Standaard de letteren, 17. 7. 1965; H. Ridder, in: NPL, 1967, H. 2, S. 137 ff.; P. Avril, in: Contrepoint, 7 - 8/ 1972, S. 283 ff.; J. R. Treanton, in: Revue fran?aise de sociologie, 3/1973, S. 420 ff. - Geschichtlichen, theoretischen u. bibliographischen Überblick verschaffen drei Studien Piet Tommissens: Über Carl Schmitts „Theorie des Partisanen", in: Epirrhosis, Festgabe f. C. Schmitt, II, 1968, S. 709 - 725; De guerillatheorie van Carl Schmitt, in: FS Rene Victor, Deurne/Anvers, 1973, S. 1021 - 1032; Schmitt et la polemologie, in: Cahiers Vilfredo Pareto, 1978, Nr. 44, „Miroir de Carl Schmitt", S. 141 - 170, bes. S. 159 ff. - H. U. Scupin geht in seinem bedeutenden Aufsatz „Freischärler, Guerrilleros, Partisanen - Gedanken zum Begriff des Kombattanten", in: Internationales Recht und Diplomatie, 1972, FS R. v. Laun, S. 201 217, öfters auf Schmitt ein bzw. entwickelt dessen Ansätze.
Namenverzeichnis I (Zu den Texten und Anmerkungen Carl Schmitts)
Abravanel, I. 397 Abreu, J. A. de 373 Achenwall 373 Aegidi, L. K. 171, 175 Aesop 533 d'Aguesseau 191 Ahlmann, W. 493 d'Alembert 144 Alexander d. Gr. 523, 526, 531 Alexander I. 310 Alexander IV 441 Alexander, H. J. 537 Alfred d. Gr. 395,415 Alvarez, A. 279 Ambrosini, G. 286 Anschütz, G. 15, 238, 273, 316, 380 Apelt, F. 298 Arendt, H. 573 Aristoteles 103, 133, 146, 523, 576 f., 578, 579 Arnauld, A. 196 Arndt 15 Aron, R. 628 Arn an 523 Atger, F. 144 Aubry 167 Augustinus 103 Aulard, F. A. 4, 6, 7 Bachofen, J. J. 158 Baco v. Verulam 140 Bähr, O. 115, 124 Bakunin 157 Balzac, H. de 186 Barandon, P. 276 Barboux, A. 207 4
Barcley, W. 96 Barker, E. 419 Barres, M. 485 Barth, K. 154, 541, 553 Barthelemy, J. 6, 16, 17, 18, 20 Bartholus 188 Baty, Th. 415 f. Bauer, B. 157 f., 633 Bauer, J. N. F. 171 Bauer, W. 626 Beaumanoir, Ph. de 192 Becker, E. 179 Begemann, A. 236 Behr, W. J. 171 Bellarmin 231,404 Belleperche, P. de 192 Bennigsen, R. v. 124 Bente, H. 248 Bentham, J. 375 Berber, F. 250, 276, 301, 312,459 Bergbohm, K. 375 Bernanos, G. 189 Berthelot, Ph. 206 Best, W. 235,460,461 Bethmann-Hollweg 190 Beust 174 Beyerhaus, G. 144 Bezold, F. v. 142, 202, 402 Bieberstein, Frhe. v. 128 Bilfinger, C. 226, 228, 279, 280, 291, 299, 421 Binding, K. 176, 380 Biscaretti di Ruffia, P. 228, 299 Bismarck, O. v. 55 f., 109, 124, 130, 134, 157, 158, 159, 243, 246, 247, 277, 372, 373 Blumenthal, A. 491
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Namenverzeichnis I
Bluntschli, J. C. 109, 110, 173, 257, 373, 374,375 Bobbio, N. 153 Bodin, J. 96, 98, 142, 169, 170, 191, 193, 196, 199-202, 241,402-404, 579 Boehm, M. H. 292 Böhmert, V. 238, 273, 282, 309 Boggs, S. W. 442 Bogisic 486 Bohle, E. W. 454 Boileau 196, 203 Bojic, M. 486,487 f. Bolivar, S. 281,378 Bonfils 240 Bonifaz VIIL 193 Bonnecase, J. 167 Borgia, C. 403 Borkenau, F 196 Bormann, M. 454 Bossuet 195, 198, 203, 505 Boveri, M. 523 Bowle, J. 152 Brandel, F. 37 Brandi, K. 311 Brater, K. 173 Brecht, B. 218, 585 Brentano, L. 284 Briand, A. 190, 252 Brinkmann, C. 284, 297 Brockhaus 9 Brunet, R. 243 Brunner, O. 298, 319 Bruno, G. 405 Brunot, F. 197 Bruns, V. 248, 274, 454 f., 458 Buchanan 96 Buckle, H. Th. 419 Bülau, F. 172 Bullerjahn, W. 205 Bulmerincq 375 Burke, E. 397,417 Butenandt, A. 455 Bynkershoek 406 Byron 485 Cäsar 33, 395,415 Calas, J. 186 Calvin 197
Calvo, Ch. 279, 375 Camöes 540 Canning 378 Cansacchi, G. 311 Cape, J. 152 Capitant, R. 140 Castex, R. 253, 254 f., 259, 395, 408, 478, 513, 542, 555 Castracani, C. 403 Castro, F. 623 Cavaignac, G. 3 Cavaignac, L.-E. 4, 6 f. Chamberlain, N. 206, 600 Chapellain 199 Chateaubriand 13 Chauvire, R. 201 Chemnitius 202 Chevalier, J. 187 Christensen, D. 238 Cicero 33, 578, 597 Clark, R. 278 Clausewitz, C. v. 137, 513, 622, 629, 630, 631,635 Clemenceau, G. 27, 190, 292 Clemens V. 193 Clode, Ch. M. 8, 11 Cochin, A. 206 Cole, G. D. H. 304 Collingwood, R. G. 534 Columbus 442, 566 f. Comte, A. 144, 145, 503, 536 Conde, F. J. 142, 269,402 f. Condorcet 18, 143 f. Conring 199 Constant, B. 26, 169, 173 Contuzzi 375 Cocquille, V. B. 189 Coquille, G. 200, 213 Corneille, P. 196 f., 203,488 Cortes, H. 311,566 Costamagna, C. 116, 311 Cotta 156 Coudenhove-Kalergi, R. N. 388 de Courcel 243 Crome, A. F. 167 Cromwell, O. 141, 143, 218, 411, 415, 539 Crowe, E. 408 Cucumus, K. 171
Namenverzeichnis I Cugnieres, P. de 189 Cujas, J. 199 Cumberland 413 Curtius, E. R. 184 de Cussy 258 Dach, H. v. 626 Däubler, Th. 486, 633 Dahlmann, F. C 134 Dahm, G. 116 Dahn, F. 110 Daitz, W. 237, 272 Dana, P. 254, 290 Dante 197, 275 Danton 190 Darge 236 Darmstaedter, F. 109, 121, 124 Daumier 186 Davenport, F. G. 242, 312 Dawes, Ch. G. 44 Debray, R. 632 Decazes, E. 12 f. Demosthenes 190, 529 Dennewitz, B. 110 Descamps, F. 243 Descartes 139, 141, 146, 198 Despagnet, F. 239 Diener, R. 230 Diez 15 Dilthey, W. 144 Diokletian 486, 487 Disraeli, B. 286, 299, 310, 397,421 Dochow 9 Donadieu 13 Donoso Cortes, J. 497, 593 Dostojewski, F. 577 Drake, Fr. 413 Drerup, E. 190 Dresch, G. L. v. 171 Dreyfus, A. 186, 294 f. Dubois, P. 193 Düssel, C. 249 Duguit, L. 17, 108, 126 Dulles, J. F. 529 Dulong, H. 243 Duplessis-Mornay 96 Dupuis, Ch. 243, 374 Duverger de Hauranne 12
Ebert, F. 27, 35 f. Eckhardt 256 Ehrhardt, A. 633 Eisenmann, Ch. 179 Elisabeth I. 396,409 f., 413 Emge, C. A. 145, 146 Engelmann, W. 188 Engels, F. 36, 157, 577, 630 Epp, Fr. v. 305 Epting, K. 584 Ercole, F. 188 Erler, G. H. J. 292 Esmein, A. 194 Evans, S. 254 Evola, J. 312,493 Fauchille, P. 240, 243, 257, 273, 274, 279, 283, 285, 288, 373 Favre, J. 204 Fay, B. 420 Fechenbach, F. 205 Feine, H. 174 Fenelon 196 Fenwick, Ch. G. 287 f., 286 Ferrero, G. 310, 389 Ferry, J. 204 Fichte, J. G. 102, 154, 631 Figgis, J. N. 196 Fischer 9 Fischer, H. 145 Flacius Illyricus 486 Flavius Josephus 579 Fleiner, F. 110, 179 Fleischmann, M. 238, 246, 273 Flotte, P. 192 Forsthoff, E. 518, 576 Fraga Iribarne, M. 592, 599 Franco 455 Frank, H. 116, 117, 129, 195, 276 Frantz, C. 124 Franz I. 203 Franz Joseph I. 436 Freisler, R. 116 Fremy, P. 195 Freytagh-Loringhoven, A. v. 247, 248, 256, 276, 277 Frick, W. 116 Flicker, K. 238, 273, 316
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Namenverzeichnis I
Friede, W. 273, 282 Friedrich d. Gr. 144, 563 Friedrich Wilhelm III. 630 Friedrich Wilhelm IV. 169 Friedrich, C. J. 573 Friedrichs 115 Frobisher 413 Fuchs, W. P. 174 Fulton, Th. W. 406 Funck-Brentano, Th. 274 Galiani, F. 257, 406 Galilei, G. 405 Gambetta, L. 204 Gamillscheg, E. 455 Garcia Arias, L. 596 Gardot, A. 200, 201,402, 404 Gareis, K. 375 Garner, J. W. 302 de Gaulle, Ch. 585 Gaultier 196 Geffcken, H. 257, 375 Geiger, Th. 229 Genestal 194 Gentiiis, A. 411 Gentz, F. v. 281 Gerber, F. 175, 176 Gerber, H. 110, 292 Geßner 257 Gidel, G. 255,406 Gierke, O. v. 109, 176, 238, 319 Giese, F. 15, 238, 273, 309 Gill, C. 419 Gmelin, H. 18 Gneisenau 629, 630, 631 Gneist, R. 110, 111, 122 f., 124, 129, 130, 171, 174, 177 Goebbels, J. 454 Goebel, J. 372 Göring, H. 454 Goethe 478, 485, 513, 515, 520, 530 f., 540, 631 Gosse, Ph. 410,412 Goßler 109 Gotthelf, J. 108, 130 Gottmann, J. 525 f. Green, J. 152 Grenville 413
Grewe, W. 255 Grevy 4 Grey, E. 190 Griffith, S. 634 Grimm, J. u. W. 491,493, 582 Grob, F. 599 Grotius, H. 376,406,411, 412, 597 Gürke, N. 147, 287, 292, 302 Guette, G. de la 195 Guevara, Che 624, 632 Guhrauer, G. E. 201 Guttmann, J. 142 Haeberlin, C. F. 170 Hahn, G. 276 Haldy, W. 3, 9 Hall, W. E. 375 Hamel, W. 238, 273, 318 Hanemann, W. 172 Hanotaux, G. 483 Hardenberg 3 Harsch, J. G. 602 Harvey, W. 139 Hasselblatt, W. 292 Hassinger, H. 274 Hatschek, J. 110 Hauriou, M. 108, 109, 125 f., 194, 207 Hauser, H. 201, 314,402,405 Haushofer, K. 274, 282 Hautefeuille, L. B. 257, 258, 259 Hawkins 413 Hayter, W. 286 Heckel, J. 109 Hefele, H. 102 Heffter, A. W. 273, 374 f. Hegel 98, 102, 111, 122, 123, 146, 154, 156, 157, 168, 169, 170, 175, 180, 198, 202, 372, 436, 501, 505, 535, 543 f., 558, 580, 620, 631 Heilborn, P. 375 Heinimann, F. 581 Heinrich IV 200, 207, 242 Held, H. 238, 273 Held, J. 173, 175, 176 Heller, H. 110 Helms, H. G. 630 Henke 236 Henkel, H. 116 Heraklit 137
Namenverzeichnis I Herodot 574 Herre, P. 244 Hertling 190 Hesiod 533 Hess, R. 454 Hieronymus 486 Higgins, A. P. 258 Hiltenkamp 493 Himmler, H. 454,455 Hindenburg, P. v. 136 Hinrichs, F. T. 579 Hitler, A. 117, 129, 134, 137, 294, 453 463, 600, 601, 602, 629 Hoare, S. 248 Hobbes, Th. 98, 139-147, 152-154, 170, 200, 202, 231, 242, 397,411, 416 f. Höhn, R. 130, 303, 460,461 Hölzle, E. 530 Hofacker, W. 110, 115 Hoffmann, St. 601 Holtzendorff, F. v. 274, 375, 376 Holtzmann, R. 194 Homer 579, 580 Hortensius 33 L'Hospital, M. de 196, 200 Hotomanus, M. de 96, 196 Huber, E. R. 125, 160 Huber, M. 252 Hugelmann, K. G. 292 Hughes, Ch. E. 278, 281, 283 Hull, Chr. 256 Humboldt, A. v. 517 Hurst, C. 289 Huxley, J. S. 502 Ihering, R. v. 315 Ipsen,G. 316 Jaensch 184 Jakob 1.413 Jakob II. 413 Jacobi, E. 37 Jacoby 124 Jean Paul 582 Jeanne d'Arc 395,415, 561 Jefferson, Th. 434,444 Jellinek, G. 95, 108, 115, 176, 177, 178, 238, 273,316,317
Jellinek, W. 18, 110, 115, 126 Jessup, P. S. 442 Jeze, G. 207 Joos, G. 316 Juan Manuel 597 Jünger, E. 137, 523-525, 527, 528, 529, 531,537, 541, 544 f. Juste, Th. 4 Kaltenborn, C. v. 176 Kämpf, H. 193 Kaneko 284 Kanne, J. A. 582 Kant 111, 154,169, 191,585 Kapp, E. 168 Kappus, G. 383 Karl d. Gr. 388,483, 527 Karl d. Schöne 195 Karl V. 311 Karl X. 4 Karlowa 176 Kaßner, R. 500 Kaufmann, E. 179 Kautsky, K. 37 Kellogg, F. B. 280 Kelsen, H. 19, 317 Kemp, F. 584 Kent 375 Kern, F. 110, 205 Kier, H. 292 Kindt-Kiefer 316 Kinkel, G. 158 Kirchenheim, A. v. 376 Klein, F. 316 Klemm, G. 168 Klüber, J. L. 171 Knight, W.S. 406, 411 Knoll, F. 159 Knox 278 Knubben, R. 377, 382 Koch, Chr. 243 Koellreutter, O. 110 König, G. 244 Kohler, J. 459 Konstantin d. Große 633 Kopernikus 405 Koschaker, P. 167 Krauß, G. 123
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Namenverzeichnis I
v. Kreß 9 Kriecken, A. Th. van 109 Kroell 309 Krüger, H. 230 Krüger, P. 279 Kuntze, J. E. 176 Kunz, J. L. 245 Laband, P. 9 f., 171,316,317 La-Fontaine 523 Lagrange 4 Lahmeyer 235 Lamartine 5, 6 Lammers 116, 300 Lange, H. 112, 117, 128 Lanson, G. 197 Lapradelle, P. de 205, 273, 285 Larnaude 205 Laroche, E. 575, 578, 579, 581 Lartius, T. 33 Lasker 124 Latilly, P. de 195 Laun, R. 251, 296 Lea, H. 479, 530, 542 Legrand 413 Lehmann, M. 171 Leibniz 154 Lenin 37, 446, 503, 598, 622, 630 Leo III. 526 Leo XIII. 99 Leontowitsch, V. 108 Lesseps, F. v. 288 Leube, H. 198 Levasseur413 Lin Piao 622 Lips, J. 139 Liszt, Fr. v. 115 f., 238, 273, 375, 376 Livius 33, 34, 103 Lloyd George 190 Locke, J. 5, 16, 97, 143, 144, 153 Loesch, C. v. 292 Lolonois 413 Long, J. 285 Lorimer, J. 375 Louis Philippe 539, 585 Lo Verde, G. 188 Ludwig X. 195 Ludwig XIV. 95, 196, 205
Luitpold v. Bayern 104 Lukas, J. 47 Luther, M. 197, 486,491 Mably, G. B. 373 Machiavelli, N. 34, 96, 102-105, 153, 403, 408, 484 Maclver, R. M. 419 Mackinder, H. 528, 529, 557 Mahan, A. Th. 431 f., 478, 555 Maier, A. 128 Mainowaring 413 Maiwald, S. 528 de Malestroit 201 Mandelsloh, A. v. 276, 280 Mandelstam, A. N. 280 Mao Tse-Tung 598 f., 620, 622-628, 630, 633, 634, 636 Maria Theresia 563 Mariana, J. 96 Marigny, E. de 192, 195 Mark Antonius 597 Marmont 6 Martens, F. v. 256, 257, 375 Martini, P. A. 257 Martinstetter, H. 273 Marx, K. 36, 536 Masaryk 436 Massani 529 Maurin, A. 6 Maurras, Ch. 189 Maunz, Th. 115, 312 Mayer, G. 9 Mayer, O. 18, 109, 110, 112, 115, 125 f., 177-180 Mazzini, G. 46 Meadows, Ph. 411 Meier, E. v. 3, 17, 171 Melchinger 236 Mello Franco, A. de 294 Menger, C. 158, 160 Menon, K. 594 Menzel, E. 110 Merk, W. 129 Mestrovic 486 Metternich 310 Mettgenberg 172 Meyer, G. 238, 273, 380
Namenverzeichnis I Meyer, O. 316 Mezger 116 Michaelis 190 Michels, R. 229 Mille, P. 245 Miller, D. H. 280 Miquel, J. 157 Mirabeau 4 Mohl, R. v. 108, 109, 110, 111, 121 f., 130, 171, 172, 173, 174, 176, 375 Moliere 203 Mollat, G. 170 Mommsen, Th. 37 Monath, H. 289 Monroe, E. 286 Monroe, J. 411 Montaigne 196 Montesquieu 5, 15 f., 17, 18,97, 420 Moreau-Reibel, J. 202,402 Morgan, H. 413 Morgan, L. 304 Morgenthau, H. 601 Morus, Th. 408, 410 du Moulin 196 Müller 176 Müller 236 Müller, A. 108, 109, 122, 129 Murhard 172 Musset 485 Mussolini, B. 102, 104, 286 Napier 8 Napoleon I. 11, 12, 48, 49, 104, 203, 204, 395, 478, 483, 513, 520, 530 f., 540, 563, 585, 628, 629,639 Napoleon III. 26, 48, 49, 157, 204, 259 Naumann, E 235, 271 Nawiasky, H. 317 Nero 633 Neubert, F. 184 Nicolai, F. v. 9 Niedermayer, O. v. 237, 239, 253, 272 Nietzsche, F. 103, 436 Nipperdey 115 Nobel, A. 563 Noack, L. 201 Nogaret, W. 192, 193 Nys, E. 410
Oakeshott, M. 153 Olney, R. 278 Omond, E. W. T. 257 Oncken, H. 124 Oncken, O. 382 Origines 580 Orlando, V. E. 108, 177, 179 d'Ors, A. 579 Ortolan 257 Orwell 152 Ostermeyer, G. 251, 296 Oswald 130 Paderewski 293 Panunzio, S. 121 Pareto, V. 186 Partsch, J. 167 Pascal 187, 196, 198, 203, 579 Pasquier, Emile 142, 200 Pasquier, Estienne 196 Paternostro 376 Patru, O. 196 Paulus 554, 579 Pauly 27, 575 Payen, F. 197 Payne, R. 626 Peguy, Ch. 486 Perkins. D. 277, 281 Perrot, E. 194 f. Peterson, E. 146 v. d. Pfordten 174 Phillimore, R. J. 375 Philo v. Alexandrien 579, 580 Philipp d. Schöne 189, 193, 203 Philipp d. Lange 195 Pierandrei, L. 269 Pigott, F. 257 Piloty, R. 171 Pilsudski 436 Pindar 436 Pithou, P. 189, 196 Pizarro, F. 566 Planck, M. 318 f. Planitz, H. 178 Plasians 192 Piaton 103, 133, 562, 574, 576, 579 Plaumann 37 Plessner, H. 312
650
Namenverzeichnis I
Pohl, H. 257, 258, 279 Pohlenz, M. 580 Poincare 190, 204, 205 Polak, K. 153 Pollock 205 Ponthieux 200 Popitz, J. 71, 160 Porzig, W. 580 Potter, P. B. 406,415 Pradier-Fodere, P. 375 Predöhl, A. 248 Presle, R. de 195 Preuß, H. 19, 55 Proudhon 7, 157, 158 Przywara, E. 573 f., 580, 584, 586 Pseudo-Plutarch 579 Pufendorff, S. 166, 170, 191, 198, 202, 403, 404, 406 Pütter, J. S. 170 Quijano-Caballero, J. 281 Raape, L. 251, 296 Rabl, K. O. 274, 282, 292 Racine 196, 203 Raeder, E. 255 f. Raggi, L. 109 Ranke, L. v. 168, 203,408 Raschhofer, H. 292 Ratzel, F. 237, 315, 318,443 Ratzenhofer, G. 418 f. Rau 167 Ray, J. 247, 280 Redslob, R. 17 Reeves, E. 281 Rein, A. 242,312, 378,410 Reinach, Th. 8 Renan, E. 189, 193, 194 Renaud, G. 125 Ribbentrop, J. v. 454 Ricker, K. 170 Rilke, R. M. 494, 554 Rimbaud, A. 533 Risch, E. 578 Ritter, C. 168 Ritter, G. 408,410 Ritterbusch, P. 123, 259, 309,457 f.
Rivier, A. 257, 376 f. Robespierre 190 Rochoux, L. 15 f. Röder, K. D. A. 173 Rogge, H. 206 Rolin 276 Romano, S. 108, 228, 279, 299 Roosevelt, F. D. R. 281, 431, 436, 600, 601, 602 Roosevelt, Th. 251, 284, 290 Root, E. 278 Rörig, F. 416 Roscher, W. 134 Rosenberg, A. 454, 456,461 Rosenberg, W. 3, 20 Rosin, H. 238, 273,316,317 Rotteck, C. 172 f. Rousseau 16 f., 98, 99, 585 Roessei, W. G. de 147 Rubio Garcia, L. 601 Rumpf, H. 599 Rumpf 236 Ruppel, K. 415 Salisbury 288 Sandiford, R. 238, 307 Saint-Girons, A. 17 Saint-Juste 5 Saint-Simon 502 Saussure, F. de 316 Savigny 167 Scarfoglio, C. 249 Scelle, G. 208, 247, 252, 261 Schack, F. 247 Schaefer, H. 575 Schaffstein, F. 116 Schäffle, A. 273, 315 Scharnhorst, G. v. 629, 630 Schdanow, A. 601 Schelling 154, 580 Scheringer, R. 136 Scheuner, U. 242, 247, 248, 278, 279, 290, 307,312 Schickel, J. 619-636 Schiller-Vogt 37 Schilling, K. 153, 154 Schimberg, A. 198 Schindler, D. 250
Namenverzeichnis I Schlözer 170 Schmelzing, J. 171 Schmid, K. E. 172 Schmidt, R. 123 Schmitt, C. 18, 20, 37, 109, 112, 122, 126, 129, 169, 170, 205, 230, 231, 248, 250, 251, 254, 255, 259, 261, 276, 280, 285, 287, 290, 291, 293, 301, 306, 307, 309, 310, 311, 312, 316, 320, 379, 383, 402, 410, 416, 419, 420, 421, 446, 513, 518, 525, 574, 582, 600, 604, 605, 619 f., 623 f., 631 Schmitthenner, F. 173 Schmitz, E. 273, 282 Schmoller, G. 159 Schön, P. 246 Schopenhauer, A. 175 Schramm, P. E. 193, 409 Schultze, H. 109 Schulze, H. 175, 176 Schwerin-Krosigk, L. v. 60 Scott, J. B. 406 Seeley, J. R. 561 Segelken 236 Seiden, J. 411,415 Serpa, P. de 243 Seydel 9
Spuller, E. 7 Stahl, F. J. 112, 123 f. Stalin 153, 600, 601 Staufenberg, B. v. 248,458 Steding, Chr. 293, 301 vom Stein 3 Stein, L. v. 111, 122, 129, 156-160, 166, 189, 194, 373 f., 380, 538 f. Stendhal 187 Stengel, K. Frhr. v. 246 Stephen, I. K. 375 Stevenson, A. 595 Stimson, H. L. 280,448,497 f., 499 567 Stinnes, H. 235 Stirner, M. 157, 158, 630 Stödter, R. 258 Stoßmayr 486 Strauß, R. 454 Streit, G. 250, 309, 379 Streitberg, W. 316 Stromeyer, G. 193 Strupp, K. 247, 273 Stuckart, W. 300 Sulla 33 Sumner Maine, H. 375 Sun Tzu (o. Tze) 626, 627, 634, 635
Shotwell, J. 280, 288 Siebenhaar, H. 172 Silva, P. 286 Simmel, G. 229, 317 Simon, H. 406 Simon, J. 20 Slocombe, G. 286 Smedal, G. 282 Smend, R. 173, 225,460 Smuts 293 Sohm, R. 123, 166 Soltau, W. 33, 37 Sombart, W. 297 Sonne, K.-H. 236 Sophokles 578 Sorel, A. 20, 274 Sorel, G. 146, 186 Spaight, J. M. 239, 304 Spencer, H. 419, 503 Spengler, O. 47, 158, 536 Springorum, F. 71, 81, 84
Talleyrand 274, 281, 282, 296, 310, 598 Talon, O. 196 Thelemann 9 Thiele, W. 271 Thieme, H. 167 Thierry, A. 194, 195 Thiers, A. 20, 204 Thoma, R. 108, 115, 122, 124 Thomas v. Aquin 498, 580 Thomasius, Chr. 191 Thuriot 6 Tirpitz, A. v. 555 Tocqueville, A. de 189, 535, 536-538, 607 Tommissen, P. 620, 621 Tönnies, F. 139, 140, 141, 144 Toynbee, A. 502, 534 f., 540, 565, 595 Travers Twiss 257, 375 Trelles, C. B. 280, 281, 529, 552, 569, 593 Trendelenburg 111 Triepel, H. 176, 225-231, 251, 252, 279, 297, 309, 378-380, 458
652
Namenverzeichnis I
Trier, J. 316, 581 Tsiang Kai-Shek 623, 626, 630 Ulimann 257, 375 Unwin, G. 419 Valerius, M. 33 del Valle Pascual, L. 108 Valli, L. 275 Vanutelli Rey 269 Del Vecchio, G. 108 Vespucci, A. 585 Veuillot, L. 189 Vialatoux, J. 140, 144 Viard, P.-E. 207 du Viel-Castel 4, 12 f. Vincke, L. v. 514, 515 Virgil 391, 554 Vitoria, F. de 410, 585 Viviani 204 Voegelin, E. 146 Voltaire 186, 420, 505 Vossler, K. 184, 455 Wagner, R. 157, 485 Waitz, G. 134 Waldeck-Rousseau 204 Walz, G. A. 112, 227, 251 f., 276, 292, 312, 379,459 Warnach, W. 526, 532 Warnkönig, L. A. 156, 166, 189, 194 Weber, M. 189 f., 318, 573, 632 Wedemeyer, A. 529 Wehberg, H. 280,459 f., 623 Weidemann, J. 170 Weil, S. 584 Wein, H. 319 Weininger, O. 494 Weiß, K. 515
Weißgerber, L. 316 Weizsäcker, V. v. 272, 319 Welcker, K. Th. 128, 172 Wellington 8 Welzel, H. 146 Wenzel, M. 257 Wesendonk, F. v. 312 Westlake, J. 244, 246 Wharton, H. 375 Wheaton, H. 254, 290, 375 Whitton, J. B. 280 Wieacker, Fr. 185 Wiese, L. v. 229 Wieser, F. v. 229 Wilhelm, J. 184 Willoughby, W. W. 275, 285 Willms, B. 258 Wilson, W. 280, 285, 290 f., 374 Wilting 11 Windelband, W. 242, 312, 372 Windscheid, B. 167, 175, 176 Winkler, E. 187 Wissowa-Mittelhaus 575 Wohlthat, H. 237, 272, 305 Wolgast, E. 246, 274, 282, 289 Wolff, Chr. 191 Xenophon 574, 576 Young, W. 285 Zachariae, C. S. 167, 171 Zachariae, H. A. 173, 176 Zechlin, E. 478 Zinser 114 Zitelmann, E. 238, 273 Zöpfl, H.173, 176 Zorn, Ph. 9
Namenverzeichnis I I (Zu den Anmerkungen und Anhängen des Herausgebers, in Auswahl)
Abravanel, I. 398 Achenbach, E. 220 Adams, J. Q. 324 Adams, P. 138, 352 Ahlmann, W. 495 Alvarez, A. 384 f., 449 Andric, I. 490 Anschütz, G. 29, 43, 51, 52, 66, 68 Antonius 162 Apelt, W. 27, 30 Aristoteles 587 Arndt, H. J. 165, 341 Aron, R. 638 Bähr, O. 117 Ballarati, G. 355 f. Barandon, P. 323 Barash, J. A. 150 Bardoux, A. 216 Barion, H. 106 Barnikol, E. 162 Barres, M. 31,52, 489 Barth, K. 550, 569 Barthelemy, J. 52, 118 Baty, Th. 427 Bauer, B. 161 f., 428 Bauer, C. 107 Beaumanoir, Ph. de 211 Beaumarchais 327 f. Beccaria, C. 210 Becker, E. 469 Becker, W. 53, 54 Belleperche, P. de 211 Bentham, J. 384 Berber, F. 106, 323, 324, 361 f., 472 f. Bernhart, J. 103 Best, W. 474 f., 476
Bilfinger, C. 52, 66, 232, 362,450, 613 Bismarck, O. v. 89, 105, 263, 265, 325, 333 Bloch, J. S.213 Bloy, L. 52, 399 Bluntschli, J. C. 182, 266 Bobbio, N. 149 Bock, M. 119 Bockhoff, E. 363,472 Böckenförde, E. W. 120, 165 Bodin, J. 101, 211, 212, 213, 214, 322, 423 Boehm, M. H. 332 Bohle, E. W. 463 Böhmert, V. 359 Bojic, M. 489 Bonazzi, G. 155 Bookbinder, P. 150 Bormann, M. 464 Boulanger 31 Bovert, M. 347, 545 Brackmann, A. 364 Brandel, F. 37 Brater, K. 182 Braun, M. v. 89 Braun, O. 31 Brauweiler, H. 37 Brecht, A. 29, 32, 65 Bredt, V. 29, 53, 67 Breioer, B. 106 Bremer, K. H. 216, 344 Briand, A. 265, 323 Brinkmann, C. 364 Brüning, H. 29, 88 f. Brunner, O. 341,423, 586 Bruns, V. 323,464 f. Buckle, H. Th. 428 Buddenberg, K. Th. 151 Bullerjahn, W. 215
654
Namenverzeichnis II
Bülow, F. 364 Burdeau, G. 52, 118 Burke, E. 399 Cantimori, D. 149 Capitant, R. 147 f. Caracciolo, A. 138, 148 Caristia, C. 118, 119 Cassian v. Imola 107 Castex, R. 398,425, 449, 516, 570 Chamberlain, N. 467 Chateaubriand 399 Chrestien, F. 212 Cicero 427 Claes, L. 350,466 Claremoris, M. 392 Clarke, J. R. 324 f. Clausewitz, C. v. 337, 516, 639, 640 Clemenceau, G. 31,33, 51, Cochin, A. 428 Cocquille, G. 213 Cohen, S. B. 370 Collingwood, R. G. 548 f. Comte, A. 148,428, 549 Conde, F. J. 213, 343 Condorcet, M. J. A. 148 Constant, B. 30, 181,428 Conti, L. 342 f. Costamagna, C. 118, 131, 351-354, 357 Coudenhove-Kalergi, R. N. 265, 392 Crowe, E. 424 Cujas, J. 213 Culbertson, E. 394 Cuno, W. 88 Curtius, E. R. 31 Curtius, J. 392 f. Dahlmann, F. C. 219 Daitz, W. 364, 370, 465 f. Darmstaedter, F. 53, 131 Dawes, Ch. G. 51 Descartes, R. 148, 149, 151 Diderot, D. 148 Diener, R. 232,439 Diestelkamp, B. 86 Dietze, H. H. 344 f. Diez del Corral, L. 399 Dilthey, W. 148
Diokletian 107 Disraeli, B. 336, 399 f., 428 Djuvara, M. 345 f. Donoso Cortes, J. 161, 451, 507, 609 Douhet, G. 338 f. Dreyfus, A. 211 Duez, P. 52, 118 Duguit, L. 118, 386 Dulles, J. F. 216, 340 Durant, G. 212 Düssel, C. 65 Duverger, M. 52, 118 Ebert, F. 27 f., 29, 31 Eisenmenger, J. A. 398 Emge, C. A. 149 Engels, F. 161,587 Epting, K. 216 f. Ernst, J. 151 Eschmann, E. W. 211 Eschweiler, C. 106 Evola, J. 149, 354, 386, 392 Faber, R. 371 Falck, E. 43 Fauchille, P. 267 Fay, B. 428 Faye, J. P. 67, 90 Fechenbach, F. 215 Feder, E. 43 Fenwick, Ch. G. 266 Fichte, J. G. 105, 322 Fioravanti, M. 120, 183 Fischer, H. 148 Fleischmann, M. 339, 340 Flotte, P. 211 Force, J. E. 147 Forsthoff, E. 31, 43, 51, 67, 68, 69, 87, 120, 131, 149, 164, 165,422, 586 Fournier, J. 350 Fraenkel, E. 22, 29, 64 Fraga Iribarne, M. 154, 608, 609, 618 Frank, H. 120,463 f. Frantz, C. 331, 337 Franzen, H. 365 Frazer, J. G. 148 Freisler, R. 119 Freyer, H. 161, 165
Namenverzeichnis I I Freytagh-Loringhoven, A. v. 28, 29, 30, 42, 50, 68, 266, 323, 334, 386, 394, 449, 614 Friedländer, E. 220 Friedrich, C. J. 120, 586, 589 Fueyo Alvarez, J. 511 Galiani 267 Gamillschegg, E. 465 Garcia Arias, L. 610 f. de Gaulle, Ch. 148 v. Gayl 52, 64, 90 Geffcken, F. H. 336 Gents, W. 262 Gerber, H. 50, 332 Gercke, G. 89 Geßler, O. 30 Geßner266 Gilbert, F. 161 Glum, F. 67 Goethe 457, 479, 571 Gollwitzer, H. 328, 330, 370, 392, 424,438 Göring, H. 464 Gosse, Ph. 399,427 Gotthelf, J. 118 Gottmann, J. 545 f. Graciän, B. 147 Grävell, W. 364 f. Grewe, W. 266, 321, 328, 330, 345, 393, 426, 437,440, 613 f. Grimm, J. u. W. 494 Groh, D. 119 Gross, J. 107 Groß-Fengels, K. 120, 131 Grotius, H. 425,427,611 Gruchmann, L. 326, 337, 358 Guevara, Che 638 Gueydan de Roussel, G. 150 f. Gumplowicz, L. 120 Günther, A. E. 120 Günther, G. 65 Gurian, W. 51, 52 Gürke, N. 332, 337, 392 Gürtner, F. 119,463 f. Hall, W. E. 384 Hanemann, W. 428 Hanotaux, G. 489 Härtung, F. 132
Hassel, U. v. 467 Hasselblatt, W. 332, 334 Hauriou, M. 52, 117 f. Hauser, H. 214,423 Haushofer, A. 262 Haushofer, K. 322 f., 365,438,466, 615 Hautefeuille, L. B. 267 Hay, J. 330 Heckel, J. 27, 91, 132 Hedemann, J. W. 363 Hefele, H. 53, 105, 106 f. Hegel 105, 132, 161, 162, 165, 213,422 Heilbronn, P. 588 Heinimann, F. 588 Heller, H. 91, 213,422 Hermes, F. A. 65 Herrfahrdt, H. 64, 67, 69, 120, 131 Herz, J. H. 349 Hettner, A. 428 Heuß, Th. 392 Hieronymus 151 Hilferding, R. 87 f. Himmler, H. 464 Hindenburg, P. v. 29, 31,42 f., 88 Hinrichs, F. T. 588 Hintze, O. 181,430 Hitler, A. 70, 90, 105, 138, 335, 347 f. Hobbes, Th. 54, 67, 132, 147-151, 154 f., 219, 232, 423, 587 Hofmann, H. 54, 149,183 Höhn, R. 53, 338, 464,475 f. Homer 220 f. Horaz 147 Huber, E. R. 21, 22, 27, 28, 29, 30, 31, 42, 43, 50, 51, 52, 53, 65, 66, 67, 68 f., 70, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 138, 161, 163, 164, 165, 181,232, 360 f., 386 Huber, M. 120, 265, 321 Hugelmann, K. G. 335 Hughes, Ch. E. 326, 385 Hurwicz, E. 51 Huxley, J. S. 509 Jacobi, E. 37 Jahrreiß, H. 267 f., 385 f., 450 James, W. 508 Jänicke, M. 67, 87, 149 f. Jellinek, G. 100, 118, 182, 340
656 Jellinek, W. 182 Jessup, Ph. 448, 612 Juan Manuel 610 Jünger, E. 67, 138, 400,463, 551 Kaiser, J. H. 67, 347 Kaneko, K. 328 Kant 100 Kappus, G. 613 Kaßner, R. 508 Kaufmann, E. 100, 118 Kautilya 105 f. Kautsky, K. 37 Keiper, W. 164 f. Keller, K. E. L. 210, 338 Kelsen, H. 66, 86, 321, 340 Kempner, R. 66, 477 Kempski, J. v. 120, 149,466 f. Kesting, H. 165 Keyserlingk, H. v. 449 Kier 332 Kierkegaard, S. 507 Kimase, S. 330 Kirchheimer, O. 64 Klinghammer, H. 329 Koellreutter, O. 28, 52, 65, 149 Kojeve, A. 589 König, R. 149 Kondylis, P. 161 Koselleck, R. 147, 165,428 Köster, W. 341 Kraus, H. 325 Krauß, G. 120, 426, 463 Krüger, K. 364 Kuboi, Y. 366 f. Kunz, J. L. 336, 340, 349, 385, 386 Kuriki, H. 183 Laband, P. 340 Lansing, R. 326 Lauermann, M. 150 Lauterpacht, H. 336 f. La Via, L. 355 f. Lea, H. 479 f. Leipart, Th. 88 Lemmel, H. 470 Lenin 37, 449, 509, 639 Lin Piao 639
Namenverzeichnis II List, F. 182 Liszt, F. v. 340 Loesch, C. v. 332 Lorimer, J. 384 Lo Verde, G. 354 f. Lufft, H. 265, 324, 327 Luther, H. 52, 90 f. Machiavelli, N. 105 ff., 154 Mackinder, H. 546 ff. Mahan, A. Th. 327, 328, 437 Maiwald, S. 333 Mandelsloh, A. v. 323,450 Manoilescu, M. 394 Mao Tse-Tung 638 Marx, K. 161 Maschke, G. 67, 105, 149, 371, 463, 464, 571 Mayer, O. 118, 120, 182 Meadows, Ph. 427 Mello Franco, A. de 334 f. Melville, H. 399 Mereschkowski, D. 399 Messineo, A. 356 f. Michels, R. 105 Mohl, R. v. 117, 120, 132, 181 f., 384 Monaco, R. 355 Monroe, J. 324 f. Morus, Th. 424 Müller, A. 117 Mussolini, B. 105, 131, 342, 352 Napoleon I. 399, 640 Napoleon III. 161 Naumann, F. 53, 262 Nawiasky, H. 340 Neeße, G. 338 Neumann, F. 68, 333, 349 Niedermayer, O. v. 365 f. Nietzsche, F. 162 Nikuradse, A. 470 Nogaret, G. de 211, 212 Nys, E. 425 Oakeshott, M. 154 Octavian 162 Oertzen, P. v. 182
Namenverzeichnis I I Olney, R. 327 Opitz, R. 392 Oppenheim, L. 332 Orlando, V. E. 118 d'Ors, A. 426,439
Rosenzweig, F. 341 Rosin, H. 340 Rousseau, J. J. 100, 132, 641 Sanuy, I. M. 608
Panunzio, S. 131 Papen, F. v. 52, 64, 65, 68, 69, 70, 85, 89, 90,91 Pareto, V. 211 Partsch, J. 546 Pascal 588 Perkins, D. 324, 325, 326, 327 Perse, St.-John 265 Perticone, G. 355 Peterson, E. 52, 149 Pierandrei, F. 342 Polak, K. 154 f. Politis, N. 336 f., 451, 613 Polk 327 Proudhon 162 f. Przywara, E. 162, 586, 590 f. Pufendorff 213 Quijano-Caballero 324 Quaritsch, H. 211, 215,423,450,463,469 Rabl, K. O. 332 Raschhofer 332, 334 Raczynski 334 Rathenau, W. 30, 51 Ratzel, F. 263, 322,449,467 Ratzenhofer, G. 428 Redslob, R. 349 f. Rein, A. 452 Reynaud, P. 394 Ribbentrop, J. v. 437 Rimbaud 548 Ritter, G. 429 Rogge, H. 426, 471 Rohden, P. R. 210, 424 Romano, S. 233 Roosevelt, F. D. R. 437,438,440 Roosevelt, Th. 327, 328 Rosenberg, A. 469 f. Rosenstiel, F. 608 Rosenstock-Huessy, E. 341 42 Staat, Großraum, Nomos
Scelle, G. 163, 216, 265, 323, 336, 340, 392, 451 Schaffstein, F. 119 Schdanow, A. 614 Scheler, M. 137 Schelsky, H. 148, 149 Scheuner, U. 29, 120, 266, 326, 346,426 Schickel, J. 640 f., 642 Schiller, K. 364 Schindler, D. 120 Schleicher, K. v. 64, 85, 89, 90, 91 Schlenker, M. 91 Schmitthenner, H. 262,468 Schnur, R. 147, 163, 212, 217 Schonfield, H. J. 331 Schotte, W. 64, 90, 91 Schramm, P. E. 336 Schroers, R. 510 Schultes, K. 87 Schumpeter, J. 214, 370 Schwarzenberger, G. 612 f. Schwörbel, H. 426 Scott, J.B. 385,451 Seeley, J. R. 571 Seiden, J. 425 Semjonow, J. 366 Shiyake, M. 342 Shotwell, J. 137 Simmel, G. 341 Sinzheimer, H. 68 Smedal, G. 328 Smend, R. 65, 66, 86, 232 Sorel, G. 52, 131,211 Spaight, J. M. 328 Spencer, H. 428 Spengler, O. 52, 162, 549 Staedtler, E. 448 Stahl, F. J. 118, 132 Stanley, E. 438 Stapel, W. 68 Starck, Chr. 182 Stein, L. v. 118, 161-165, 550 Steinbömer, G. 430
658
Namenverzeichnis II
Stephen, I. K. 384 Stimson, H. L. 449 f. Stirner, M. 161 Stolleis, M. 86, 101, 119, 164, 181, 182 Stratmann, F. 54 Streit, C. K. 393 Stuckart, W. 464 Sumner Maine, H. 384 Suthoff-Groß, R. 476 Tabouillet, W. v. 343 f. Teichert, E. 364 Thomas v. Aquin 508 Tilitzki, Chr. 439, 465, 475 Tommissen, P. 22 f., 32, 65, 70, 120, 138, 148, 151, 165, 220, 232, 343, 348, 350, 370 f., 546, 608 f. Toynbee, A. 509, 571 Travers Twiss 267, 384 Trelles, C. B. 324, 479, 572 Triepel, H. 51, 232 f., 264, 350, 386 Trier, J. 336, 588 f. Truckenbrodt, W. 392 Truman 615 f. Truyol y Serra, A. 357, 387 Tüngel, R. 220 Ule, C. H. 120, 232 v. Ullmann 267 Unamuno, M. de 616 Vagts, A. 325 del Valle Pascual, L. 118
del Vecchio, G. 118 Vergil 570 Vespucci, A. 589 Vincke, L. v.516f. Vitoria, F. de 426 f., 451 Vives, J. V. 494 f. Vowinckel, K. 467 Wagner, H. 371 Walz, G. A. 262, 332, 367, 385, 386, 429 f., 473 f. Weber, M. 27 f., 30, 53, 65, 105 Wehberg, H. 267, 339, 350, 386 f., 474, 637 Weiß, K. 517 Welcker, K. Th. 117, 182 Wilk, K. 350 f. Wilson, W. 329, 330 Winckelmann, J. 367 f., 570 f. Windscheid, B. 161 Wirsing, G. 348, 363, 368 f., 393, 450, 466 Wittmayer, L. 29, 30, 50, 67 Wohlthat, H. 364, 369 Wolgast, E. 65 f., 69, 262, 359 f., 423,429 Xenophon 219 Yasui, K. 357 Zachariae, H. A. 182 Zechlin, E. 451, 452 Zitelmann, E. 385 Zorn, Ph. 137,611
Sachregister Absolutismus 95-101 Absterben des Staates 577 Ächtung d. Krieges 428 Aggression bzw. Angriff 613 Ägypten 287, 331 Akklamation 48 Aktium, Seeschlacht von 161 ff. Allgemeines Deutsches Staatsrecht 166183 American century 440 Amerikanische Sicherheitszone (Okt. 1939) 255 f., 443 Amerikanisches Völkerrecht 376, 384 f. amity-line 242 f., 249 f. (als innerstaatlichkonstitutionelle), 264, 312 f., 441 ff. Amnestie 218-221 Amt Rosenberg 469 f. Anagni, Szene von (1303) 193 Analogie verbot 119 Angriffskrieg, seine Kriminalisierung 337, 460, 613 animus procreandi 502 Anruf 539, 567 f. Anschlußzonen 321 Antichrist 506 f. anti-europäische Ideologie 594 f. Anti-Kolonialismus 593 ff. Arthacastra des Kautilya 105 f. Askese u. Macht 573 Asyl, polit. 172 Atlantik-Charta 359 Atlantik-Pakt 529, 557 auctoritatis interpositio 380 f. Aufhalter (bzw. kat-echon) 436, 438 f. Auflösung des Europ. Völkerrechts 372 ff. Ausnahmezustand 27, 34, 38-43; s. a. WRV, Art. 48 „Ausstrahlung" d. polit. Idee des Reiches 296, 306, 351 Archie 574 42*
Balkanisierung Europas z. Zt. des Völkerbundes 252 Bandung-Konferenz (1955) 614 Barbarossabefehl (1941) 639 Bayerischer Geheimvertrag v. 1870 55, 66 Beamtentum u. wohlerworbene Rechte 77 f. Beamtenstaat, preuß. 99 Bedeutungsfeld 316 Behemoth 141 Belagerungszustand 3-23; - als Problem d. Verwaltung 11, 14, 15; - bedeutet keine Aufhebung d. Gewaltenteilung 16; - sein Unterschied zur Diktatur 16 Belagerungszustandsgesetz i. Preußen v. 1851 9 bellum omnium contra omnes 139 Berliner Kongreß (1878) 292, 333 Berufsstände 82 Berufsständische Kammer (s. auch Oberhaus) 67 Beschleuniger wider Willen 431 -440, 511 Beschleunigung der Geschichte 507 f. beyond the line 242 ff. „Biedermeierdemokratie" (Rathenau) 51 Bilderstreit 526 ff., 545 Bipolarität 601 birth control 502 birth rate 274 f., 509 Bismarcks Entlassung als völkerrechtl. Einschnitt 372; - Kompromiß mit d. Nationalliberalen 159 Blockade(formen) 257 f. Boden und Volk 240 Bodenstatus, Verschiedenheit des 244 f. Bodin-Rezeption im Reich 214 Bonifaz-Prozeß 193 Boulanger-Krise 31 Breschnew-Doktrin 371 Briand-Memorandum 252 f., 265
660
Sachregister
Britisches Empire, weder Staatenbund noch Bundesstaat 419; getragen von der society 420; s. a. England. Britisch-venezolanischer Grenzstreit 327 Bundesstaat, staatsrechtl. 380 Bürgerkrieg 218 f.; als Kampf zw. Ordnung und Unordnung 301; - , als Kampf für u. wider die Marienverehrung 527; als gerechter Krieg 446; B. zwischen Jesuiten und Calvinisten 195 Calas-Affaire 186, 210 f. Caribbean Doctrine 281, 326 Carnegie-Stiftung 451 f. cas royaux 194 f. cash-and-carry 611 f. Cateau-Cambresis (1559) 312 challenge-response 534 f., 538, 565 Christentum, als revolutionäre Bewegung 633; - im Zusammenhang mit d. Cäsarismus 158 classes moyennes 204 Clausewitz-Rezeption im III. Reich 640 Clemenceau-Brief an Paderewski (1919) 293, 333 f. conquista (im Namen Christi u. Mariens) 585 Dämonologie bei Hobbes 142 f. Dardanellen 290 Daseinsvorsorge 576, 586 declaration of intermediacy 612 dSfenseurs de 1'Occident 210 demission de la France 161 Democratic ideals and reality (Mackinder) 528 f. demographisches Recht 275 „d^sannexion" Elsaß-Lothringens 205 destroyer deal 612 deus mortalis 140, 143, 147 Deutsch-estnisches Protokoll (1939) 295 Deutsch-Österreich. Zollunionsplan (1931) 392 f. Deutsch-polnische Erklärungen (1937) 294 Deutsch-rumänischer Wirtschaftsvertrag (1939)369 Deutsch-russischer Grenz- u. Freundschaftsvertrag (1939)295
Deutscher Bund (1815-66) 171 f. deutscher Vorbehalt gg. die Einheit d. Welt 512 Deutsches Reich, als konstitutionelle Monarchie 44; als Reparationseinheit 49 f.; als Parteienbundesstaat 60, 68, 72; nicht mehr begreiflich (Hegel) 169 f. Dezisionismus 281, 409 Diktatur 3 - 23, 33 - 37; - des Proletariates 36 f.; - des Reichspräsidenten 28 f., 35 f.; - u. Ausnahmezustand 33 f.; im röm. Recht 33 f.; kommissarische u. souveräne D. 35 „Diktaturgesetz" (zum Art. 48, WRV) 38 43 Diskrepanz zw. verfassungsmäßiger Form u. polit. Wirklichkeit 26 Disraeli-Doktrin 286 divisio primaeva 577, 581 Disraelitismus der Deutschen 400 Diversion 619 dollar diplomacy 328 Drei-Mächte-Pakt (1940) 394, 415 Drei-Seemeilen-Grenze 406 Drei-Stadien-Gesetz 536, 549 Dreyfus-Affaire 186, 204 f., 211; - deutsche 215 Dritte Republik (in Frankreich) 52 Dualismus, Triepelscher 251, 264, 378 ff. Einfluß (Unterschied zu Hegemonie) 226 Einheit der Welt 496 - 512; - u. Technik 497 Einheit v. Nähme u. Namen 584 Eiserner Vorhang 500, 503, 504 elektrische Wellen 304 Elektrifizierung 271; - bei Lenin 503, 509 eloquence judiciaire et politique 197 Energiewirtschaft 235 f. Engagement, (polit.) beim Partisanen 627 ff. England als asiatische Macht 299; Entankerung 421; Exodus aus Europa 391, 397, 421; Empire als far-flung- bzw. Streu-Besitz 254, 285 ff.; entschied sich für d. Meer u. gg. d. Land 386, 395, 409 f., 414 f.; nicht mehr Teil d. Kontinents 397; Wendung z. insularen Denken 429 f. Entpolitisierung als polit. Vorgang 77, 81, 136; - durch polit. starken Staat 77, 81
Sachregister Entropiesatz der Thermodynamik 507 Entwicklungshilfe, industrielle 593 ff. Entwicklungsräume, Pluralismus der 603 ff. Erdbild, planetar. 405; u. Meeresbild 396 Erdfeld, am Luftraum haftend 367 f. Eroberungspolitik Hitlers u. Großraumtheorie 454 ff. Ersitzung 581 Erster Weltkrieg als Interventionskrieg liberal-demokrat. Legitimität 284 esprit classique 198 6tat de guerre 10 6tat de siege (1849) 10, 14 Ethnarkie, imperiale 353 f. Eunomia 575 Europa als völkerrechtlicher Ursprungskontinent 376 Europäisierungskrise d. Völkerbundes 252 f. EWG als Großraum? 606 f. FAD (Freiwilliger Arbeitsdienst) 88 f. Familie der europ. Nationen 241 Feind u. Verbrecher 594 Feindschaft zw. Menschen 533 f.; - zw. Tieren 532 f. Feindseligkeit, Gesetz d. absoluten 428 festes Land 240 ff. Feudalstaat (bei Dahn) 110 filioque 527 f., 546 Flaggenfrage 49 föderalistisch, Föderalismus 59 f., 158, 162; hegemonialer F. 361 foquismo 638 Formalisierung d. Verwaltungsapparates 127 Freiheit der Meere 411 f., 425 f. Freiheit des Welthandels als Naturrecht 289 f. „fran^ais", aber nicht „Frangais" 207 Franktireurs u. Haager Landkriegsordnung 637 Freund als das „Übergreifende" 619 Freund u. Feind 575 Freund-Feind-Kriterium 355, 476, 601 Freundschaftslinie, s. u. amity-line Führer, gg. alles Indirekte 230 f. Führung 225 ff. Fürstenenteignung, Völksbegehren zur 49, 53
Galizien 517 gallikanischer Streit 203 Gebietsbegriff, bisheriger 365 Gebietskörperschaft 238 Geheimdiplomatie 231 Geheimgesellschaften u. öffentl. Meinung 420 Geleitzug 258 f. Gemeinden, Politisierung der 59, 68 Gemeinrecht 166 ff. Genfer Konvention (1949) 623, 637 f. Gerechtigkeitsstaat 108 Geopolitik 466 Geschichtsphilosophie, gemeinsame - von Ost u. West 503 f. Gesetzesstaat 112, 125 f.; - und bürgerl. Gesellschaft 128 Gewaltenteilung 5, 16 f., 45 f., 97, 169 Gleichgewicht 274, 302 (durch schwache Mitte Europas), 337, 403; - von Land u. Meer 519 globales Liniendenken 445 Goa (Annexion 1961) 594 f., 609 Goethes Ode an die franz. Kaiserin (1812) 478,513, 520, 530 f., 540, 631 gordischer Knoten 523 f. Gottesglauben, allgem. 201 Grenzen, natürliche 274 f.; - als Linien 308; - als Zwischenzonen 308 Grönland-"Vertrag" 328 Großraum, als geschichtlich-polit. Gegenwartsbegriff 270; gg. Rußland und Amerika 356; seine Herkunft aus techn.-wirtschaftl. Bereich 235 f., 270 f.; kein vergrößerter Kleinraum 309, 315; als Weg von d. Extensivierung zur Intensivierung 368; und Markterweiterung 368; als Gegenfront z. Universalismus 447; als Friede 390 Großraumdebatte in Italien 351-357; in d. Schweiz 350 f.; in Spanien 357 Großraumordnung, Diskussion d. G. Schmitts 343 ff., 358 ff; - völkische anstatt völkerrechtliche 235, 474- 476 Großraumwirtschaft 236, 363 f. Grundrechte 55
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Sachregister
Haager Friedenskonferenzen (1899/1907) 386, 637 Haager Landkriegsordnung (1907) 623, 637 Habeas corpus (Aufhebung) 12 f. Handelsgesellschaften als Völkerrechtssubjekte 245 f. Hay-Pauncefoot-Vertrag (1901) 332 Hegemonie 225 ff.; - Englands u. Frankreichs im Völkerbund 300 „Heiligkeit des Territoriums" (Baty) 415 „Heptaplomeres" Bodins 199 f., 201, 401 f. „Herzland" Mackinders 546 f., 557 Hinterland 147 Hirota-Doktrin 329 (s. Monroedoktrin, japan.) Hitler antwortet Roosevelt 347 f. Hitler-Stalin-Pakt 335 Homo homini lupus /Homo homini Deus 147 Homogenität 292 Hoover-Doktrin 450 (s. Stimson-Doktrin) Hundertjähriger Bücherkrieg 410 ff., 425 f. Hüter der Verfassung 31 iconographie regionale (Gottmann) 526 Ikonographie 527 ff., 545 f. Ikonoklasmus 526 f. Illyrien 483-490 Imperien, Imperium 296 f. Imperialismus 297; als Machterweiterungstendenz 225; I. und Hegemonie 226 Individualismus u. Universalismus im Völkerrecht 293 Individuum, „freies" I. im 19. Jhdt. 112 Industrielle Revolution in England 538 ff., 650 ff. Inkompatibilitäten 61 f, 69, 78 Insel als Produkt d. Meeres 415; als Teil 416; USA als „Größere I." 431 f. insulare Staatsbildung 430 insulares Weltbild 432 Inter pacem et bellum nihil medium 597 Intervention 251, 296; konnationale I. 335; Möglichkeit der amerik. I. 369 „irdische Göttlichkeit" 146 irreale Bedingungssätze 531, 548 Irregularität d. Partisanen 621 ff. Isonomia 575
Japans Durchsetzung als Großmacht 373; Eintritt in die Volkerrechtsgemeinschaft ebd.; Rezeptionspartien 376 Japanische Monroe-Doktrin, s. Monroedoktrin, jap.; Hirota-Doktrin Juden, im Ggs. zum „Pöbel" 172 f. Judenfrage als Religionsfrage 293 jüdische Gleichgültigkeit ggü. dem Boden 399 f. jüdische Rasse (bei Disraeli) 399 jüdisches Mißverhältnis zum Raum 317 f. juridisme 205 f. jus commercii 585 justizförmige Politik 73 justus hostis 589, 611 Kalter Krieg, als Teil des revolut. K. 596 ff.; im span. Mittelalter 597, 610; seine Stadien 600 ff.; sein Verhältnis zum „heißen" Krieg 599 kat-echon, s. Aufhalter Kellogg-Pakt (1928) 279 f., 287 Kirchenväter über d. Meer 151 klassische Begriffe 597 f.; ihre Benutzung durch revolut. Krieg 599 Kleinräumigkeit außenpolit. Denkens 366 Kodifikationskonferenz von 1930 383, 386 König als Gesetzgeber 194 Kolonie, als befriedeter Raum 312; als raumhafte Grundtatsache europ. Völkerrechts 310, 313 Kolonialismus, Odium des 582 Kombattantenstatus 637 Kommandobefehl (1942) 639 Kommissarbefehl (1941) 639 Kompetenztheorie 238 Kongo-Akte 312 f., 339 Kongo-Gesellschaft, Internationale 384 Kongo-Konferenz 243 ff. konkrete Ordnung 380, 382; als das spezif. Rechtliche 317 Kontitutionalismus, s. allgem. Staatsrecht i. Deutschland 176 f. Kontinentalblock 547, 613 kosmische Raum-Nahme 593 ff. Kratie 574
Sachregister Krieg, krieger. u. polit. Auffassung 137 f.; als Beziehung zw. Ordnung u. Ordnung 301; als partieller 311; Totalität des K. 389 f.; - der Elemente 529; gerechter K. 446, 449 Krieg u. Frieden, Relativität von 599; - vom Raumbild her 311 Kriegs- u. Feindbegriff(e), angelsächs. 385, 423 f.; Verschiedenartigkeit der - , 407 f. Kriegszustand 3, 9 Kriegszustandsgesetz, bayr. (1912) 9, 14 Küstenvorfeld 257 Kulturkampf 98, 100 Kulturrevolution, chines. 619 f. Landkrieg/Seekrieg 407 f. Landnahme(n) 360, 519, 561 f.; s. auch u. Nähme, Nomos Langnam-Verein 89 Land-See (bzw. Meer-)-Gegensatz 401-430, 519; elementarer 556 f.; nicht nur polar 532 Lebensraum, in der Bibel 553; Unterschied zu Großraum 461, 465-68, 471; Umverteilung von Lebensräumen als Friedenspolitik 322; als Gg.-Begriff zu „Imperialismus" 467 Legalität als Funktionsmodus 127, 147, 632; neue Verfassung als Quelle der L. 84; L. als Gangsterparole 585; L. u. Legitimität 227 Legisten 184-217 Legitimitätsprinzip, monarch.-dynast. 282 f; liberaldemokrat.-kapitalistisches 283 Leipziger Prozeß (Preußen/Reich, 1932) 70, 72 f. Leistungsraum 316, 319, 365 lend-lease u. Neutralität 612 Leviathan 139-155, 397; als menschl. Selbstsakralisierung 150 f.; als Satan bzw. dessen Symbol 151; als Produkt des techn. Zeitalters 145; als Mythos 147; als Fisch 416; als Symbol d. Meeres 417 Lex als „Nomos" 578; L. als Legisten 191 f. leyenda negra (schwarze Legende) 585, 590, 594
liberaler Konstitutionalismus als weltpolit.völkerrechtl. Angelegenheit 249 Liberia 384 Limes 445 Linie d. Selbstisolierung bei Jefferson 444 Linie(n), globale 441 -452 Locarno-Vertrag (1925) 276, 323 „Lügenmaschine" des Konstitutionalismus 169 Luft- u. Raum-Nahme 583 Luftraum 238 f., 263, 304, 307 (in Analogie z. Seeraum), 367 ff., 422, 470; -recht 601 f.; Grenze zum Weltraum 263 Luftwaffe, überholt Staatenkrieg 304; raumrevolut. Wirkung 307; hebt Englands Inselcharakter auf 422, 428 f. Machiavellismus 101-107; Weltpropaganda gg. deutschen M. 104 f.; M. bei Morus 424; venezianischer M. 484,489 machina machinarum 148 Macht 543 f.; M. u. Askese 573; ihr „Zentrales" 573; als Geheimnis ebd.; Tendenz zur Sichtbarkeit 584 ff.; Machtmittel d. modernen Staates 58 f., 74 f.; Machtstaat i. Ggs. zu Rechtsstaat 121 Mandatsartikel d. Völkerbundssatzung 247 f. mare clausum vs. mare liberum 411 marianisches Bild der conquista 585 Marienverehrung im Mittelalter 527 f. Marxismus 542 f. Massenbeeinflussung 58 f., 74 Meer, kein ursprüngl. Element mehr 253 f., 398; Meer gg. Land 395 ff.; la mer contre la terre (Castex) 408, 513, 555; MeerLand-Ggs. s. Land-See-Ggs.; als glatte Ebene 443 Meeresdämonologie 151 Meeresfreiheit 411 f., 425 f. Mehrheitsentscheidung als Minimum polit. Entscheidung 48 Mene, tekel, upharsin 518 Mechanisierung d. Staats Vorstellung 144, 146 Mello Francos Assimiliationstheorie 335 Miramichi-Fall (1914) 254, 332
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Sachregister
Militärbefehlshaber als Exekutivorgan 19 Minderheitenrecht 291 ff.; des Völkerbundes 332 ff. Minderheitenschutz 334 f.; liberal-individualistischer u. universalistischer M. 293 f. Mißtrauensvotum 517 Mitteleuropa 165, 262, 392 Mittelmeer als Straße u. Lebensraum 286 f. Mobilität d. Partisanen 624 ff. Modernität d. 16. Jhdts. 314,405 Monarchomachen 96 Monopol (polit.) der Parteien 75 f. Monroe-Doktrin (-lehre) 277-285; ursprüngliche 285; verschiedene Stadien und Wandlungen 324 f., 327 f.; russ. Aspekt 327; Zwei-Sphären-Aspekt 443; Vorbehalt beim Kellogg-Pakt 280; Empörung Bismarcks über sie 277, 325; legal principle oder polit. Maxime? 278 f.; ihre „Elastizität" 281; ihr Ggs. zum monarchist.-dynast. Legalitätsprinzip 282; - u. Völkerbundssatzung 276, 280, 325 f.; als „Weltdoktrin" bei Wilson 326; Umdeutung ins Universalistische 284, 290 Monroe-Doktrin, australische 283 Monroe-Doktrin, britische 280, 287 f. (s. Sicherheit der Verkehrswege) Monroe-Doktrin, deutsche 294 f., 348, 349 Monroe-Doktrin, japanische 284, 328 ff. Nähme 573 ff. Nähme u. Ehe 583 Name 573 ff. Napoleonfeindschaft bzw. -freundschaft 640; Mythisierung von N. 395, 399 Nationalsozialistischer Rechtsbegriff 128 Naturrecht, Traum des N. ist ausgeträumt 157, 161 Naturzustand, sein Ende 139 f. nemein 581 Neutrale als Garanten d. Völkerrechts 301 f. Neutralität, konfessionelle (Bodin) 200 Neutralitätsgesetzgebung d. Vereinigten Staaten 337,434,438 Nichtkriegführung 255 f., 613 f. noblesse de robe 192
Nomadenzeitalter 576 Nomos 518-522, 573-591; als Ersatz für Thesmos 578; als Gesetz (Lex) 580; als Gleichgewicht v. Land u. Meer 530; als nach-exilisches Gesetz 580; als Nähme 573 ff, 583 f.; bei Flavius Josephus 579; bei Hobbes 587; bei Homer 579 f.; bei Locke 587; bei Pascal 580; bei Vico 587; - der Tiere 577; - u. Haus 576 f.; - u. Logos 578; Geschichte d. Wortes N. 577 ff. Norddeutscher Bund 176 Normen, systemloses Nebeneinander von 377 Normensystem, universalistisches 380 „Notbau" der Weimarer Reichsverfassung 47, 52, 84 nulla poena sine lege 116, 119 nullum crimen sine poena 115, 119 obdissance prealable 126 Oberhaus (zweite Kammer) 62 f., 67 f., 69, 81 ff. occidentaler Rationalismus Hobbes' 141, 154 Odium des Kolonialismus 582; - des Nehmens 582, 617 öffentliche Meinung u. Einzelabstimmung 48; - u. geheime Mächte 231; von Geheimnisgesellschaften beherrscht 420 offene Tür (open door) 247 f., 284, 330,444 Olney-corollary zur Monroe-Doktrin 278, 327 f. one world (Willkie) 503, 509, 601 f. ordonnance v. Villers-Cotterets (1539) 197 Ordnung d. Landes vom Meer bzw. des Meeres vom Lande her 417 f. Oregon-Streit 327 Orientalismus Disraelis 299 Palmas-Fall (1928) 321 Panama-Kanal 289, 332 Panama-Erklärung z. amerik. Sicherheitszone (1939) 255 f., 266,442 f. Panamerik. Luftfahrtkonvention (1928) 238 Pandektenwissenschaft 157 Pan-Europa 388, 392 Parallele, Große 549 f.
Sachregister Parlamentarismus 46 f. Pariser Erklärung über Seerechtsregeln (1856) 266 Pariser Kongreß (1856) 339 f. Pariser Konvention (1919) 238 Parteienbundesstaat 60, 68, 72 Partei-Prestige-Politik 24 partikuläres Völkerrecht 418 Partisan(en) 619-642; Irregularität 621 ff., Mobilität 624 ff., polit. Engagement 627 ff., tellurischer Charakter 634 ff.; P. in d. preuß. Theorie 639; im Kunststoffzeitalter 636 partita 631 peaceful change 340 Pfandbesetzung d. Ruhrgebietes (1923) 205, 216 Piatiletka 501 Piraten, Piraterie 396 f., 412 ff. Planung 501 ff. Plebiszite, napoleon. 48 f. Pluralismus d. Entwicklungsräume 603 ff. Pöbel 172 f. Point-4-Program (1949) 615 f. Polaritätsdenken (E. Jünger) 537, 544 police bombing 338 f. politiciens 200 Politik 133-138; in Bezug auf d. Staat 133, als Ausgleich 134, als Sachgebiet 134 f., Abgrenzung polit./unpolit. 135 f. Politisierung 73 Polizei 139 f.; -Staat 109 f., 118, 182 pouvoir neutre 26, 30 Präsidialdiktatur 64 Presse 68 Preußen/Reich 56 Preußenschlag 72, 86 Primat d. Völkerrechts 386 Prisenordnung, deutsche (1939) 258, 267 Prisenrecht 379; - u. Privateigentum 407 privateers 396 f., 414,430 Proletariat 49 f., 53 Propaganda, antieurop. 594 f. Pseudo-Religion d. Fortschritts 497 puissance amphibie 425 Pufferstaaten 359 Question-answer-logic 534, 537
Raum als Urwort 491 f.; - u. Großraum 234-268;-u.Rom 491 ff. Raumausgrenzungen aus d. Meeresfreiheit 254 ff., 258; auf hoher See 308 Raumbegriff, Wandlungen 314 ff.; Kritik des R. 367 f. Raumbewegung u. Markterweiterung 368 Raumdenken, im Ggs. zum Wege- u. Straßendenken 286 f., 288 Raumhoheit u. Gebietshoheit 361 Raumnahme, kosmische 593 ff., 610 Raumordnungsbegriffe, polare Entwicklung 407 Raumordnungsfrieden bzw. -krieg 389 Raumplanungen 305 Raumrevolutionen 388-394, 410; wissenschaftl. R. 405 Raumtheorie, herrschende 237 f., 273, 316 f., 340 f. Raumüberschuß 322 Reaktion (nach 1848) 157 f., 161 Recht, s. verschiedene Wirklichkeiten 191; als Normenkomplex 237 f.; - d. Staates auf Gehorsam 125; Verwandlung in Legalität 191 f. Rechtsbewahrstaat 110 Rechtsnormen als leges mere poenales 125 Rechtsstaat 108-132; bürgerlicher R. 4454; als deutscher R. Adolf Hitlers 117; als Gegenbegriff gg. den unmittelbar gerechten Staat 121; als jurist.-techn. Begriff 111 f.; als „Kunstausdruck Mohls" 109, 130; als nationaler R. 109; als nationalsozialist. R. 116, 128; als polemisch-polit. Begriff 109 f.; als „Quelle allen Übels" (Gotthelf) 108 f., 130; als spezif. deutscher Begriff 111; als Vehikel liberaler Suggestionen 129; bei Fr. Darmstaedter 121, 131; bei Duguit 118; bei Gneist 122 f.; bei Hauriou 117 f.; bei Hobbes 145; bei Mohl 111, 121 f.; bei Adam Müller 117; bei Panunzio 121, 131; bei Stahl 112, 123 f., 132; bei Lorenz v. Stein 122 f.; „Ewigkeitswert" des R. 129; R. u. Kirchenkampf 113, 119; Gesetzesbegriff des R. 114; R. u. Unrechtsstaat 121; u. sittl. Staat 123 f.; Entwicklung d. Wortes u. Begriffes 129; Hauptprinzipien 46; Normie-
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Sachregister
rungen u. Einrichtungen des R. 113 ff.; R. u. Polizeistaat 178 Regierungsproblem 55, 65 f. Regionalpakte, -Verträge 275 f., 390 Regularität, milit. 622 Reich(e) 297 f., 336; als wahre Kreatoren d. Völkerrechtes 308; als monstro simile 198; als Reparationseinheit 49 f.; R. nicht imperialistisch 297; R. u. Großraum 360 ff.; - u. Raum 307 ff.; als Gg.-Begriff zu National- u. Nationalitätenstaat (Grewe) 345; Kritik am Begriff d. R. in d. Großraumdebatte 344 f., 359 f. Reichshofrat 73, 86 f. Reichsinteressen, Abgrenzung 259 f. Reichskammergericht 73, 86 f. Reichspräsident (RPr) 24-32; als Hüter d. Verfassung 31; als pouvoir neutre 26; möglicher Konflikt des RPr mit d. Reichstag 26; Widerspruch in d. Konzeption des RPr 29 f.; Notverordnungsgewalt 64 Reichsproblem, -reform 55 - 64, 65, 90 f. Reichsverfassung 1871, (Art. 68) 9 Reichswehr 78 Reichswirtschaftsrat 67 f. Rheinbundszeit u. Staatsrecht 170 f. Religion, universale 537 Republikschutzverordnungen (1922) 30 f. „R€publique" Bodins 200 f., 402 ff. Revision d. Völkerbundssatzung 340 Rezeption fremder Begriffe 167 f., 174, 178; - westl.-liberaler Verfassungsvorstellungen 169 ff. Römische Kirche (als Reich d. Finsternis) 141 römisches Recht (vom französ. Beamtentum getragen) 166 Rom 491 ff. Romantik 485 f. Roosevelt-Note v. 14.4.1939 347 f. Rumän.-bulgar. Vertrag (1940) 295 Rundfunk, -reform 68 Russ.-amerikan. Gegensatz i. kalten Krieg 557,570 Ryswiker Frieden (1697) 413
Saint-Simonistische Geschichtsphilosophie d. Fortschritts 502 f. Salamanca 451 f. San Casciano 107 Satelliten 610 „Satire MenippSe" 207 Sauerland 513-517 Seekrieg/Landkrieg 407 f. Seenahme 519, 562 Seeräuberei 412 f. Seesperre 255 Selbstisolierung u. Paninterventionismus 445; - u. Weltdiskriminierung 447 Selbstverwaltung 59, 61, 69; wirtschaftl. S. 80 f., 88 Sich-selbst-verwalten der Dinge 577 Sicherheit d. brit. Verkehrswege 285 - 291 Siedlungswesen 84, 88 f. „Sinn des (II. Welt-)Krieges" 389, 394 society als Basis des Brit. Reiches 419 f., 430 Sol Invictus 484 „Sonne des Reichsbegriffs" 296 Souverän-repräsentative Person 144 f. Souveränität, Entwicklung 404 ff.; S. des Königs 194; S. bei Bodin 200 ff., 403 ff.; souveräner Staat als landgeborene Vorstellung 406 f. Spanien als gestrandeter Walfisch 397, 399 Spengler-Kritik 549 f. Split 487 Suez-Kanal 287 f., 331 Sündenbock in d. Politik 152 f., 155 Supra-Nationalität 608 Syllabus (Pius IX.) 100 Symmachie 353 Schdanow-Rede (1947) 614 Schiff u. Haus 564 Schiff u.Wald 541 Schutzrecht für deutsche Völksgruppen i. Ausland 294 f. Staat, als Apparat 303, 338; als Mechanismus 139-155; als Organismus 303; als Reich d. Sittlichkeit 111, 122; - u. techn. Entwicklung 145 f.; als Rechtsstaat, s. o.; totaler Staat 58, 66 f., 73 f., 631; totaler St. in Verbindung mit schwachem St. 59, 75; starker u. schwacher totaler St. 67;
Sachregister quantitativer totaler Staat 74 f., 76; starker Staat u. gesunde Wirtschaft 71-92; St. u. Wirtschaft 62; starker Staat u. staatsfreie Sphäre 63; St. u. Souveränität in Frankreich 401 ff. Staatenbund u. Bundesstaat 229; Staatenbund, völkerrechtl. 380 Staatenverbindungen 228 f., 298 f. Staatlichkeit, Zwang zur 404 f. staatliches vs. insulares Denken 408 Staatsbegriff, überkommener 227, 300, 303 Staatsgebiet als Monopolbegriff 240; als Schauplatz d. Imperiums 317 Staatsgebietswechsel als Raumbegriff 252 Stahl-Pakt 351 Standard, völkerrechtl. 292 Staatsräson 96,101 status mixtus 46 (verfassungsrechtl.), 597 (zwischen zwei Bürgerkriegen), 612 f. (völkerrechtl.) Stimson-(bzw. Hoover-)Doktrin (1932) 449 f., 497 f. Störer als Feind 534, 548 Strukturverschiedenheit von inner-staatl. u. zwischen-staatl. Recht 379 Strukturzusammenhang von Völkerrecht u. liberal. Verfassungsrecht 250 Täter-Strafrecht vs. Tat-Strafrecht 116 Talleyrands Europaplan 282 Tao, Taoismus 626 f., 634, 638 Technik, entfesselte 568; T. als „abgelöster Splitter" 537 f., 540 tellurischer Charakter d. Partisanen 634 ff. Terrorismus 641 tetradka Lenins 639 Thermometer-Gleichnis Donoso Cortes' 507 Tierfabeln 533, 548 Tiers Etat 188, 199 „total" (Bedeutungen) 140, 389 f. totale Parteien 59 f., 75 f. totaler Frieden 388, 393 f. Türkei u. Europäisches Konzert 313, 339 f., 376 f. Tupamaros 641 Turkos 373 Two Ocean Navy 393
Ulmer Reichswehrprozeß (1930) 136, 137 f. Unabhängigkeit der Richter 116 „Union now" 393 unions politiques 385 Uniting-for-peace-Resolution (1950) 615 Universalismus 506; U. u. kleinräumige Staatsbezogenheit 253, 261; U. des Westens u. des Ostens 297 UNO als Reflex von Ordnung u. Unordnung 593 UNO-Satzung, Art. 45: 339; Art. 51: 604, 615; Art. 52: ebd. Unterscheidungslinien durch die Völker hindurch 249 Ursprache, -wort 491 „Utopie" des Morus 408, 410,424 Venedig 484 f. Verbundwirtschaft 236, 271, 321 Vereinigte Staaten, als „größere Insel" 431 f.; ihre innere Entscheidungslosigkeit 433 f.; ihre verschiedenen Räume 604 f. Verfassung De Gaulles (4.10.1958) 148 Verfassung der III. Republik (1875) 46, 52 Verfassungs- u. Reichsreformpläne Papens 64, 90 Vergesetzlichung 145 Vergrößerungs Vorgang, staatl. - wirtschaftl. 235, 262 Verhältnis kriegerischer zu friedl. Mitteln 598 f. Verkehrsorganismus, europ. 374 Versailler Diktat, Art. 80, Art. 178: 50 f.; Art. 227: 205; Art. 231: 205, 215 f.; sein Vorrang vor der WRV: 50 f.; Vertragsnormativismus d. Vörortdiktate 382 Vertrauensvotum 57 Verwaltung als Anfang staatl. Tätigkeit 17 Verwaltungsrecht, französ. u. deutsches 179 f. Verzögerer 435 f. Veto im Sicherheitsrat 602, 614 f. Völkerbundssatzung, Art. 8: 323; Art. 10: 285, 330 f.; Art. 16: 386; Art. 19: 340; Art. 21: 276, 280, 325 Völkerrecht, allgem. u. partikulares 418; Elastizität des Begriffes 235; Primat des
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Sachregister
V. 386; im Ggs. zum Landrecht 228; als Raumordnung 270 f.; unterschiedl. V. d. Meeres u. d. Landes 407, 417 f.; als Recht der Völker, nicht der Staaten 302 f., 337 f.; angebl. Harmonie des V. mit britischem Interesse 290; als „Zwischen-Kontinente-Recht" 359; V. und konkrete Ordnung 378, 380, 382; „unpolitisches" V. 383 Volksbegriff, substanzhafter vs. abstr. Staatsbegriff 302 f. Volksgruppenrecht 291 ff. Volkstum, Achtung vor jd. 294 Volkswille, in 5 Kanäle geleitet 57 vollziehende Gewalt 18 f. Wahl, keine Wahl mehr 56 f., 76 Wahlrecht u. Wehrpflicht 79 Wahlrechtsproblem, -reform 55, 65 wei-chiao 623 Weimarer Reichs-Verfassung (WRV), Art. 3: 52; Art. 41: 27 f.; Art. 43: 30; Art. 48: 25, 28 f., 38-43, 61, 63, 64, 70, 71, 78 f.; Art. 54: 63, 69; Art. 75: 49; Art. 109: 247; Art. 165: 67 f., 87; Art. 180: 28; als engl. Konfektionsanzug 47; als etwas Posthumes 44 f.; als „Notbau" 47, 52, 84; ihr sozialpolit. II. Teil 45; Denaturierung ihrer Einrichtungen 56 Wellen d. Raumes 338 Welt- u. Menschheitsrecht, allgem. 299 f. Weltbürgerkrieg 446
Weltgeschichte, als Kampf zw. Land u. See 408 f., 555; als Kampf zw. Ökonomie u. Politik 87 Weltherrschaftsanspruch Englands 408 Weltliberalismus, wirtschaftspolit. (als Bestandteil brit. Weltpolitik) 248 f. Weltozeane, Kampf um die 407 Weltpolitik, maritime 478 f.; ihre 3 Möglichkeiten 521 f. Weltprotestantismus u. -katholizismus 412 f. Weltraumrecht 610 Weltrecht u. Weltreich, volkloses 208 Weltsieg Englands (1815) 234 Westfälischer Friede 241 West-Ost-Gegensatz 523 -551; als Ggs. von Land u. Meer 556, 560 Westliche Hemisphäre 437 f., 441 ff. Widerstandsrecht 143 Wiener Kongreß 310, 373, 380 Wiener Schiedsspruch (1940) 295 Wimbledonprozeß 289 Wirtschaftsbeirat 82, 88 Wirtschaftsdemokratie 80 f., 82 f. Wirtschaftssphäre d. Staates 79 f. Wirtschaftsverfassung 68 Zentralisierung 191 f., 194 Zivilisation, Zivilisiertheit (im Völkerrecht) 374 ff. zivilisiert/nicht zivil 207 Zivilisierte u. barbarische Völker 385 ziviles Zwangsnormengeflecht 123 Zugang zum Machthaber 574 Zweiheit der Welt 498 ff.