Spaziergänge auf dem Papier: Robert Walser in Polen [1 ed.] 9783737012102, 9783847112105


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Spaziergänge auf dem Papier: Robert Walser in Polen [1 ed.]
 9783737012102, 9783847112105

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Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten

Band 7

Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski

Adrian Glen´ / Jacek Gutorow / Łukasz Musiał / Daniel Pietrek (Hg.)

Spaziergänge auf dem Papier Robert Walser in Polen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Publikation wurde von der Universität Opole (Uniwersytet Opolski) und der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu) finanziell unterstützt. Gutachter: Prof. Dr. Monika Wolting, Dr. habil. Paweł Piszczatowski © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Übersetzungen aus dem Polnischen: Izabela Sellmer Umschlagabbildung: »Porträt von Robert Walser«, © Prof. Dr. Damian Pietrek. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1210-2

Inhalt

Adrian Glen´ / Jacek Gutorow / Łukasz Musiał / Daniel Pietrek Auf Robert Walsers polnischen Pfaden. Eine sehr kurze Einleitung . . . .

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Eingang… Adrian Glen´ (Uniwersytet Opolski) Robert Walser in Polen (eine kleine Geschichte des Lesens) . . . . . . . .

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Walsers Poetik Jacek Gutorow (Uniwersytet Opolski) Hindurchgehen durch Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Daniel Pietrek (Uniwersytet Opolski) Annäherungen an die Masken eines Dichters – Robert Walsers »Der Spaziergang« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Paweł Marcinkiewicz (Uniwersytet Opolski) »Napoleonisches Deutsch«: Mikrogramme Robert Walsers und die Poetik der modernen Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Beate Sommerfeld (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu) Zwischen ›Demutsabbildung‹ und ›Sprachverwilderung‹ – zur Gattungspoetik von Robert Walsers Texten zur bildenden Kunst . . . . .

87

Walsers Phänomen Łukasz Musiał (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu) Die Walser-Schnittstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

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Inhalt

Bartosz Małczyn´ski (Uniwersytet Humanistyczno-Przyrodniczy im. Jana Długosza w Cze˛stochowie) Heiliges Hören. Zum Phänomen der Musik in ausgewählten Werken Robert Walsers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Marcin Pliszka (Uniwersytet Przyrodniczo-Humanistyczny w Siedlcach) Traumräume in der Prosa Robert Walsers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Jakub Ekier Text als Ausweg

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Walser und andere Katarzyna Szyman´ska (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu) Robert Walser und Thomas Bernhard – Annäherungen . . . . . . . . . . 177 Natalia Chwaja (Uniwersytet Pedagogiczny) / Jakub Kornhauser (Uniwersytet Jagiellon´ski) »Ich kann nur in den untern Regionen atmen« – Claudio Magris und Robert Walser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Simona Vanni (Università degli Studi di Firenze / Uniwersytet Florencki) S wie Spazierengehen und Schreiben in der Bieler Prosa Robert Walsers . 201 Tomasz Waszak (Uniwersytet Mikołaja Kopernika w Toruniu) Robert Walser und die Tugend der Unzuverlässigkeit . . . . . . . . . . . 217

…und Ausgang Michał Paweł Markowski Spuren im Schnee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Materialien zur polnischen (und in polnischer Sprache verfassten) Walser-Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Adrian Glen´ / Jacek Gutorow / Łukasz Musiał / Daniel Pietrek

Auf Robert Walsers polnischen Pfaden. Eine sehr kurze Einleitung

Die Welt wäre besser, wenn 100.000 Menschen Robert Walser lesen würden, behauptete einmal Hermann Hesse. Die Wirklichkeit sollte man bestimmt nicht in Ruhe lassen, selbst wenn man sich wohl keine Illusionen über den moralischen und ethischen Fortschritt unter dem Einfluss der Lektüre von Walsers Werken machen darf. Dessen ungeachtet lohnt es sich, Walser zu lesen – vielleicht weniger für die Welt und eher für sich selbst, und vor allem: für Walser… Dank der Hinwendung zu seinen Texten bei Übersetzenden, Lesenden und Forschenden, die sich in Polen – allmählich und in Wellen – seit den 1960er Jahren bemerken lässt, ist Robert Walser hierzulande zu einem erkennbaren Autor geworden – wobei seine Rezeption im polnischen Sprachraum in den Augen der Herausgeber nach wie vor in den Anfängen steckt. Die polnischen Beiträge und Interpretationen weisen zwei grundsätzliche Mängel auf: Es fehlt an interpretatorischen Zeugnissen konkreter Leseerfahrungen und an sowohl vergleichenden als auch poetologischen Studien, in denen die gesamte Eigenart der Ausdrucksweise Robert Walsers zum Vorschein käme, a contrario aufgedeckt und benannt (und dadurch bekräftigt) worden wäre, aber auch an Versuchen, seine Texte in Beziehung zu anderen, ästhetisch verwandten Werken zu setzen. Das Konzept des Bandes, der nun den deutschsprachigen Lesenden vorgestellt wird, entstand bei den Liebhabern der Walserschen Prosa im Umfeld zweier polnischer Universitäten, in Posen und in Oppeln, nicht auf einmal, sondern nach und nach. Gereift ist es während eines Seminars im Oktober 2018 an der Universität Oppeln. Ein großer Teil der vorliegenden Beiträge wurde aus diesem Anlass und unter dem Einfluss von Gesprächen verfasst, die wir damals führten, weitere Texte reichten etwas später andere Kollegen ein, die Walsers Werke bewundern; schließlich werden hier einige bereits früher veröffentlichte treffende Analysen abgedruckt. Damit ist der Band in seiner endgültigen Gestalt das Ergebnis jahrelangen Nachdenkens über den Schweizer Schriftsteller. Der Seminarort wurde nicht zufällig gewählt. Die Oppelner Alma Mater liegt nämlich unweit des Schlosses Dambrau/Da˛browa Niemodlin´ska (das Schloss befand sich vor einem Jahrhundert im Besitz des Grafen Konrad von Hochberg),

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Adrian Glen´ / Jacek Gutorow / Łukasz Musiał / Daniel Pietrek

in dem der junge Robert Walser, der das großstädtische Leben Berlins gerade überraschenderweise hinter sich gelassen hatte, ein paar Monate als Diener verbrachte; statt der Metropole wählte er damals die vergessene schlesische Provinz. Dank der Freundlichkeit der gegenwärtigen Schlossherren durften die Seminarteilnehmer die schlichte Kammer sehen, in der Walser – allen Zeugnissen und Nachforschungen zufolge – während seiner Dienerschaft bei dem Grafen von Hochberg lebte. Wir sahen leere Wände und einige zufällige Einrichtungsgegenstände aus einer anderen Zeit, die sich über ihr Hiersein wunderten. Einen Rahmen für das Nichts. Und doch – das Bewusstsein: In diesem Raum wachte Walser bei Tagesanbruch auf und schlief am Abend ein (das winzige Fenster zeigte gegen Westen, daher musste der Raum während Walsers Aufenthalt in Dambrau, im Spätherbst und im Winter, unabhängig von der Tageszeit im düsteren Halbschatten gelegen haben); von hier schlich er sich in den Gasthof (bestimmt konnte er das Schloss auf direktem Wege und unbemerkt verlassen, ohne Verdacht zu erregen, ohne verwunderte Blicke auf sich zu ziehen), wo er den Vergnügungen des Volkes zuschaute (erinnern wir uns an die geniale, funkelnde Szene in der Minierzählung »Der Pole«); oder er ging wandern auf breiten Landstraßen und auf Pfaden contra muros… Er erwählte sich einen Ort, an dem er sich dem einfachsten Leben hingeben konnte. Zu seinen Pflichten sollte vor allem, wie in der herausragenden Erzählung »Tobold II« nachzulesen ist, das Überwachen der richtigen Beheizung der einzelnen Schlossräumlichkeiten gehört haben; der Text ist aber stark fiktionalisiert und es dürfte schwerfallen, anhand seines Inhalts unumstößlich beweisen zu wollen, dass ausgerechnet diese Aufgabe den jungen Walser während seines Dienstes auf Schloss Dambrau in Anspruch nahm. Er »beschränkte sich auf Kleines«, genoss »Kleines«, sorgte sich um »Kleines«. Allen Zweifeln zum Trotz bleibt die Vorstellungskraft an einem Bild hängen: Robert Walser macht Feuer im Kamin und erblickt sein ganzes Glück (festgehalten in den Zeilen seiner Kurzprosa) einfach in der Betrachtung dessen, was ihn umgibt. Zwischen den leeren Wänden des Schlosses spielt die Vorstellungskraft verrückt. Der Anblick der einsamen Kammer Walsers ist aber greifbar und spürbar; unwillkürlich ist er für uns Betrachtenden zu einer Allegorie der Anwesenheit (oder Abwesenheit?) des Schriftstellers geworden, der es abzuhelfen gilt, der man sich widersetzen muss. Daraus entstand der Wunsch, diesen Raum zu erschließen, ihn mit unseren Zeugnissen auszufüllen. Wir hoffen, dass der vorliegende Band einen Einblick in die polnische Rezeption des Walserschen Schaffens ermöglichen und eine Anregung zu dessen komparatistischer Betrachtung geben wird. Schlussendlich ist zu hoffen, dass er einen mehrsprachigen Dialog über dieses mehrere Generationen polnischer Lesenden faszinierende Werk anstoßen kann.

Eingang…

Adrian Glen´ (Uniwersytet Opolski)

Robert Walser in Polen (eine kleine Geschichte des Lesens)

»Ich diente! Ich tat Dienst! Folglich durfte meine Lage gut sein […] Ist uns nicht erst dann eigentlich das Leben schön, sobald wir gelernt haben, ohne Anspruch zu sein, individuelles Wünschen, Begehren zu vergessen oder hintanzustellen, dafür uns aber recht aus der befreiten, Gutwilligkeit erfüllten Brust heraus an ein Gebot, an einen festen Dienst hinzugeben […] Denn wo ich auf eine Schönheit verzichte: fliegt mir da zum Lohn für den bewiesenen guten Willen und für die freundliche und lebhaft empfundene Entsagung nicht eine gänzlich neue, niemals vorher geahnte und tausendmal schönere Schönheit entgegen?«1

So könnte ich meine Absicht umreißen und dabei die Worte des willigen Jünglings, der Titelfigur in dem berühmten »Tobold (II)«, für bare Münze nehmen: Es ist meine Hoffnung, dass das vorliegende Bild der Präsenz der Walserschen Prosa im polnischsprachigen Raum – ehrlich und eben diensteifrig gezeichnet – einen Beitrag sowohl zum Überblick über die polnische Rezeption des Werkes Walsers als auch zu einer neuen Belebung der ersteren leisten wird. Zuerst eine Handvoll Tatsachen: Die Auflagen der Walserschen Texte in der polnischen Übersetzung sind längst vergriffen; einen Band seiner Kurzprosa zu ergattern, grenzt an ein Wunder oder bedeutet einen erheblichen finanziellen Aufwand; zahlreiche polnischsprachige Aussagen im Internet zeugen davon, dass viele Lesende und Schreibende Walser für eine herausragende Persönlichkeit halten – um nicht zu sagen: für eine Kultfigur.2 Im Widerspruch bzw. (vorsichtiger ausgedrückt) im Kontrast zu dieser flüchtigen Erkenntnis steht die überschaubare 1 Walser, Robert: Tobold (II). In: ders.: Der Spaziergang. Prosastücke und Kleine Prosa. Zürich/ Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 253 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 5). 2 Zu nennen und anzuführen wären folgende veröffentlichte Zeugnisse einer Faszination für Walsers Prosa: Jurkowska, Maja: W cieniu zapomnienia i w blasku sławy [Im Schatten der Vergessenheit und im Glanz des Ruhms]. In: Twórczos´c´ 50, 1994, H. 6, S. 146 f; Kozioł, Urszula: O Robercie Walserze [Über Robert Walser]. In: Odra 43, 2003, H. 10, S. 96; Markowski, Michał Paweł: Spuren im Schnee. Im vorliegenden Band, S. 239–244; Musiał, Łukasz: Beztroska albo najmniejszy pisarz s´wiata [Sorglosigkeit oder der winzigste Schriftsteller der Welt]. In: ders.: Do czego uz˙ywa sie˛ literatury? [Wozu wird Literatur benutzt?]. Kraków: Fundacja Tygodnika Powszechnego 2016, S. 111–115.

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Adrian Glen´

Rezeption des Walserschen Werkes. Seine nahezu 50-jährige Präsenz auf dem polnischen Buchmarkt – der Roman »Der Gehülfe« wurde zum ersten Mal 1972 von Teresa Je˛tkiewicz übersetzt und in der angesehenen Reihe »Bibliothek der Meisterwerke des 20. Jahrhunderts« des Verlags PIW herausgegeben – umfasst ca. 30 bis 40 Besprechungen, die in der Regel knapp gehalten und dem literaturkritischen Pflichtgefühl entsprungen sind. Mit Bitte um Verständnis für die zahlenmäßige Herangehensweise muss deshalb festgehalten werden: Das macht einen zugegebenermaßen recht bescheidenen Eindruck, selbst wenn man einige Übersetzerinnen und Übersetzter (Je˛tkiewicz, Łukasiewicz, Musiał, Z˙ychlin´ski), eine schmale Monographie3, ein paar treue Literaturkritikerinnen und -kritiker4 sowie am Ende gar eine einzige Tagung dazurechnet (sie fand 1990 in Racławice statt und blieb bis 2018 die einzige Walser gewidmete Konferenz in Polen). Man könnte das Sichtfeld noch weiter einschränken: Die meisten polnischen Arbeiten zu Walser erschienen ausgerechnet und ausschließlich im Zusammenhang mit einigen Ereignissen, die sich den unermüdlichen übersetzerischen Anstrengungen von Małgorzata Łukasiewicz verdanken, d. h. in Anknüpfung an einzelne Bände mit der Kurzprosa des Schweizers in ihrer Übersetzung (von »Przechadzka« [Der Spaziergang], Warszawa 1990, bis »Niedzielny spacer« [Der Sonntagsspaziergang], Izabelin 2005). Warum ist das so? Eine Antwort auf diese Frage fällt schwer. Man kann natürlich in einem Atemzug einiges aufzählen: Wir reden von einem elitären Schriftsteller, einem, der in seiner Eigenart und seinem Für-sich-Sein gewissermaßen zwischen den gängigen Strömungen, Stilrichtungen oder Trends angesiedelt ist, der sich schwer darauf beziehen oder dazu reduzieren lässt; wir reden von einem Meister im Gleichgewichtwahren auf der Grenze zwischen Naivität und Realismus, Ironie und Ernst, von einem schwer fassbaren und vielleicht auch ein wenig altmodischen Autor. Mit einem Wort: von einem Schriftsteller, der Leser verführen muss, sobald sie ihre Sensibilität mit der seinen in Einklang bringen können. Es mag deshalb ausgerechnet Walser leichter fallen, »Bekennende«, also Liebhaberinnen und Liebhaber seiner unerhörten Begabung zu gewinnen als weite Kreise Lesender und Forschender anzusprechen? So sah es wohl auch Jerzy Łukosz, der vor über zwei Jahrzehnten Walsers spezielle Präsenz und Resonanz in folgende Worte fasste: 3 Łukasiewicz, Małgorzata: Robert Walser. Warszawa: Czytelnik 1990. 4 Am häufigsten und am meisten schrieben über Walser – statistisch gesehen – Małgorzata Łukasiewicz und Łukasz Musiał. Die sowohl relevanten als auch umfangreichen Studien der beiden müssten im Grunde separat besprochen werden, weshalb ihre Urteile in dem vorliegenden Text notgedrungen lediglich in Beschränkung auf die wichtigsten Thesen präsentiert werden. Łukasiewiczs Walser und Musiałs Walser – das sind bestimmt Themen für zwei getrennte und spannende Untersuchungen. Eine vollständige Bibliografie der auf Polnisch verfassten Sekundärliteratur zu Robert Walser findet man am Schluss unseres Bandes.

Robert Walser in Polen (eine kleine Geschichte des Lesens)

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»Robert Walsers exklusiver Fanclub besteht aus wenigen Experten – aus Forschern, die den wehrlosen Schriftsteller vor editorischer und übersetzerischer Ignoranz beschützen […]. Ein »Fanclub« bedeutet für das Werk einen beispiellosen Schicksalsschlag: Er bildet sich selbsttätig um ein besonders schutzbedürftiges Schaffen und um Schaffende, deren Seele bloß liegt, die sich den Normen wissenschaftlicher Untersuchungen entziehen; er bildet sich um abweichende fremde literarische Kulturen, um erwachsen gewordene Kinder und Heilige der Literatur – wie Robert Walser.«5

Man könnte meinen, dass Walsers »ahistorische« Prosa eine vielfältige und dauerhafte Rezeption gewährleisten sollte (obgleich man um die Schwierigkeiten weiß, sein Werk ohne den Kontext der Kritik an der bürgerlichen Kultur zu betrachten). Weil das Universalistische in Walsers Prosa überwiegt, sollte sie – um eine hervorragende Formulierung Miron Białoszewskis aufzugreifen – »zu allem passen«… Das ist allerdings, zumindest in Polen, nicht der Fall. Wenn man die Walser betreffenden Texte Revue passieren lässt und insbesondere Einleitendes sowie Abschließendes unter die Lupe nimmt, bemerkt man, dass nahezu überall von seinem Genie und… von seiner völligen Verkanntheit die Rede ist.6 Viele Walser gewidmete Untersuchungen beginnen daher in literaturkritischer Hinsicht bei »Null«: mit einer abermaligen Rekonstruktion der zugleich komplizierten wie zu einer protheseartigen Legende7 verfestigten Biographie des Schweizer Autors und einer – meist reproduktiven – Aufzählung seiner Leitmotive (Spaziergang als eine »Lebens- und Schreibform«, alle möglichen Topoi der Bescheidenheit, Motiv des 5 Łukosz, Jerzy: Człowiek czyli sługa. O pisarstwie Roberta Walsera [Der Mensch ist ein Diener. Zum Schaffen Robert Walsers]. In: Twórczos´c´ 53, 1997, H. 4, S. 70. 6 Małgorzata Łukasiewicz beginnt ihre Skizze mit dem Titel »Mała scena« mit dem bemerkenswerten Satz: »Für einige ist Robert Walser der Lieblingsautor oder zumindest einer der Lieblingsautoren, für andere – ein Unbekannter« (Łukasiewicz, Małgorzata: Mała scena [Eine kleine Szene]. In: dies.: Rubryka pod róz˙a˛ [Rubrik zur Rose]. Kraków: Znak 2007, S. 42). Im Schlussteil des Beitrags Maja Jurkowskas mit dem Titel »Robert Walser – szalen´stwo bycia nikim« ermutigt die Verfasserin »aufmerksame Liebhaberinnen und Liebhaber guter Literatur dazu, diesen zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Schriftsteller zu entdecken« (Jurkowska, Maja: Robert Walser – szalen´stwo bycia nikim [Robert Walser oder Von dem Wahn, ein Niemand zu sein]. In: Twórczos´c´ 51, 1995, H. 10, S. 122). In einem anderen, ein Jahr früher veröffentlichten Aufsatz, einem leidenschaftlichen Protest gegen den Literaturbetrieb dominierende Marketingmechanismen, gibt dieselbe Autorin allerdings zu, dass ein Appel um Rückholung von »Texten des armen Robert Walser« nur noch als »Anachronismus« zu bezeichnen sei (Jurkowska, Maja: W cieniu zapomnienia i w blasku sławy [Im Schatten der Vergessenheit und im Glanz des Ruhms]. In: Twórczos´c´ 50, 1994, H. 6, S. 147). 7 Jan Koprowski sieht den größten Anreiz zur Lektüre der Walserschen Werke in deren biografischem und autothematischem Gehalt; seine kritische Skizze »Z˙ycie na marginesie« [Ein Leben am Rand] (in: Literatura, 1979, H. 34) stellt alles in allem einen essayistischen Auszug aus Carl Seeligs Buch »Wanderungen mit Robert Walser« (1957) dar: Koprowski übernimmt daraus Walsers Aussagen über gesellschaftliche und literarische Themen, über das Schreiben, das Alter oder die Trinksucht (und gibt all das in seiner Übersetzung ins Polnische an die Lesenden weiter).

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Adrian Glen´

Verkleinerns und Verschwindens, Verlorenheit der einsamen Protagonisten, deren Sensibilität kein Heimischwerden in der Welt der »großen Zahlen« zulasse, phänomenale Konzentration auf die kleinsten Dinge). Die polnische Rezeption der Walserschen Prosa beginnt im Grunde in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, als die Texte Małgorzata Łukasiewiczs8, Marian Holonas9 und Jan Koprowskis10 erschienen. Den wesentlichsten davon hat bestimmt Walsers Übersetzerin geschrieben (die beiden anderen hier aufgezählten Verfasser legten eher glossenartige Ergänzungen vor). Versuchen wir die wichtigsten Aspekte aus »Roberta Walsera przechadzki« [Robert Walsers Spaziergänge] zu nennen: Zum einen versucht Łukasiewicz die Lesenden davon zu überzeugen, dass Walsers Werk keiner literarischen Konvention angehöre und der (literaturgeschichtlich nicht weiter zu konkretisierenden) Erzähltradition eines Onirismus am nächsten stehe; dies »rechtfertige« das Offene und Gestaltlose seiner Prosa. Łukasiewicz macht zum anderen darauf aufmerksam, dass Walsers Prosa von einer nicht näher bestimmten Gegenwart handle, auf die der »Augenblick« und dessen entzücktes Erleben hinweisen würden; dadurch ähnele die Prosa des Schweizer Schriftstellers einer Menge voneinander isolierter Momente. Es sei, als ob Walsers Beschreibungen und Geschichten in einer Art Zeitlosigkeit der sprachlichen Darstellung schwebten. Bei Łukasiewicz heißt es: »Walsers eigentliche Zeitform ist der Augenblick. Von ihm zum Leben erweckte Figuren – oder Rollen, die er spielt – scheinen nur diesen einen Moment lang zu existieren, sich lediglich durch die psychische Disposition zum Erleben oder zum Erwecken von Erlebnissen zu charakterisieren und keine Vergangenheit zu besitzen.«11

Drittens und letztens seien sich Walsers Protagonisten, so Łukasiewicz, »unsicher über ihren Stand in der Welt«12; indem sie immer wieder (gleichermaßen ernsthaft wie naiv) existentielle Fragen stellen, würden sie die Mikrowelt ihrer vita contemplativa errichten und dabei versuchen, sich von den Fesseln der (gesellschaftlichen, ökonomischen, sittlichen) bürgerlichen Ordnung zu befreien, die für sie eine Mühsal und eine Last zugleich darstelle.13 Hatte ein so ausgelegter Walser keine Chance, das Interesse der polnischen Leserinnen und Leser zu wecken? Alle Aspekte, auf die Łukasiewicz hinweist (innovative, originelle Prosa im Rahmen eines breit verstandenen Onirismus; Wunsch 8 Łukasiewicz, Małgorzata: Roberta Walsera przechadzki [Robert Walsers Spaziergänge]. In: Literatura na S´wiecie, 1975, H. 8. 9 Holona, Marian: Minimalizm Roberta Walsera [Robert Walsers Minimalismus]. In: Literatura, 1978, H. 33. 10 Koprowski, Jan: Wielki samotnik [Der große Einzelgänger]. In: Argumenty, 1978, H. 16; Koprowski, Jan: Z˙ycie na marginesie [Ein Leben am Rand]. In: Literatura, 1979, H. 34. 11 Łukasiewicz, Roberta Walsera przechadzki. 1975, S. 169. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 170f.

Robert Walser in Polen (eine kleine Geschichte des Lesens)

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nach Authentizität; Protagonisten, die eine diskrete Kritik der Bürgerlichkeit üben), scheinen in weiten Teilen mit Postulaten übereinzustimmen, die in den frühen 1970er Jahren von Autoren der polnischen Strömung »Nowa Fala«14 und in der zweiten Hälfte desselben Jahrzehnts von Schriftstellern im Umkreis der Monatszeitschrift »Twórczos´c´« (den sog. neuen Oniristen)15 formuliert wurden. Den entscheidenden Einfluss auf das alles in allem geringe Interesse an Walsers Texten kann neben mangelhaften Maßnahmen der Popularisierung und sonstiger literatursoziologischer Bewerbung vor allem die Rückwärtsgewandtheit Martis, des Protagonisten in dem zu Beginn der 1970er Jahre in Polen erschienenen Roman »Der Gehülfe«, gehabt haben. Marti sehnt sich zwar nach einem echten Leben und engagiert sich für seinen gleichermaßen sorglosen wie leichtsinnigen Arbeitgeber (einen Möchtegern-Entdecker), kann sich aber nicht offen und direkt den harten Gesetzen der Wirtschaft und der Moral widersetzen. Er wählt das Leben eines Außenseiters. In einer Zeit, die nach Einsatz verlangte, einer Zeit der »ethischen Unruhe« und der Rufe nach einer Rückkehr zur – ehrlichen und realistischen – »Weltabbildung« konnte sich dieser Walsersche Protagonist gewiss nicht zurechtfinden. Włodzimierz Bialik, der Walsers Roman kommentierte und gleichsam in den polnischen literarischen Umlauf brachte, macht auf die Rahmenkonstruktion aufmerksam (Marti schließt sich den »Geschäften« des Erfinders an und verlässt die Villa nach dem Bankrott des Unternehmens): »Walsers Figuren kommen aus der Dunkelheit und verschwinden darin nach einiger Zeit. […] In dem gesellschaftlichen Vakuum, in dem Walser seine Figuren verloren gehen lässt, leuchten ab und zu […] ›Lampions der Hoffnung‹ auf, doch sie erlöschen bald wieder und machen die Rückkehr in die Dunkelheit – wie im Falle Martis – unvermeidlich«.16 Ohne langes Überlegen kommt man dahinter, dass die Betonung ebenjenes Aspektes, d. h. der endgültigen Beseitigung des Protagonisten aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der um die Mitte der 1970er Jahre vorgelegten polnischen »Gründungsauslegung« Walsers keine Lesersympathien weckte. Dessen ungeachtet fällt es natürlich schwer, mit voller Überzeugung auf diese Diagnose zu beharren und aufgrund einiger weniger kritischer Texte über Walsers ersten Roman verbindliche Aussagen in Bezug auf den damals vorherrschenden Rezeptionsstil zu machen bzw. über die Gründe des Misserfolgs beim Lesepublikum zu spekulieren.

14 Vgl. z. B. Burska, Lidia: Awangarda i inne złudzenia. O pokoleniu ’68 w Polsce [Die Avantgarde und andere Illusionen. Zu den polnischen 1968ern]. Gdan´sk: słowo/obraz terytoria 2012, vor allem S. 209–255. 15 Vgl. z. B. Kornhauser, Julian: Mie˛dzyepoka. Szkice o poezji i krytyce [Zwischenzeit. Skizzen zu Poesie und Kritik]. In: ders.: Krytyka zebrana [Gesammelte Kritik]. Hrsg. von Adrina Glen´ und Julian Kornhauser. Poznan´: WBPiCAK 2019. Bd. 1, S. 252. 16 Bialik, Włodzimierz. In: Literatura, 1972, H. 27, S. 21.

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Adrian Glen´

In den 1980er Jahren ändert sich die Lage kaum. Die beiden Romane, »Geschwister Tanner« (1984) und »Jakob von Gunten« (1988), die auf Polnisch nacheinander herausgegebenen wurden, bleiben praktisch unbemerkt. Die Besprechung des ersteren eröffnet Jan Koprowski mit dem traditionellen Satz: »Robert Walser ist ein in Polen unbekannter Autor«; der zweite Roman fand dagegen lediglich in drei Texten Erwähnung: einmal etwas ausführlicher17 und zweimal äußerst knapp18. Die Lage änderte sich radikal im Jahr 1990 durch zwei zeitgleiche Veröffentlichungen: Małgorzata Łukasiewiczs Monographie (»Robert Walser«) und eine Auswahl der Walserschen Kurzprosa (»Przechadzka i inne utwory« [Der Spaziergang und andere Werke]). Unmittelbar danach gab es zwar kein nennenswertes Echo der Literaturkritik,19 ab Mitte der 1990er Jahre lässt sich allerdings ein gestiegenes Interesse an Walsers Werk beobachten. Unter den damals publizierten Texten ragen zweifelsohne vor allem Maja Jurkowskas Studie »Robert Walser – szalen´stwo bycia nikim« [Robert Walser – vom Wahn, ein Niemand zu sein] in der Zeitschrift »Twórczos´c´« (1995, Nr. 10) und Jerzy Łukoszs »Człowiek czyli sługa. O pisarstwie Roberta Walsera« [Der Mensch ist ein Diener. Zum Schaffen Robert Walsers], ebenfalls in »Twórczos´c´« (1997, Nr. 4), hervor. Jurkowskas Studie stellt einen sehr interessanten Versuch dar, sinnliche Qualitäten in der Prosa des Schweizers herauszuarbeiten. Die Verfasserin spricht von dem Walserschen Blick (»etwas melancholisch und weich, aber sicher«20), von dem Stil des Schriftstellers, der seiner Feinheit, Eleganz, Verschwiegenheit und Sanftheit wegen mit einem höfischen Tanz verglichen wird;21 schließlich: von Walsers zentralem Topos, dem Spaziergang, der sowohl das Bild der bürgerlichen Lebensform als auch den Trost der Naturbetrachtung mit sich bringe, wodurch 17 Krystyna Kamin´ska kommt in ihrer Besprechung (in: Nowe Ksia˛z˙ki, 1989, H. 2, S. 76–78) zu dem interpretatorisch wenig attraktiven Schluss, »Jakob von Gunten« sei als »Satire auf damalige [d. h. bürgerliche – A.G.] Bildungsmethoden« zu sehen; eine solche Auslegung resultiert aus der von der Verfasserin vorgenommenen recht oberflächlichen Parallelisierung zwischen dem Schloss in Kafkas gleichnamigem Roman und dem Institut Benjamenta. Der Vergleich mündet in die Schlussfolgerung, die antibürgerliche Rebellion löse sich bei Walser letztendlich im Eskapismus der Hauptfigur auf, der durch ihren Wunsch verursacht sei, die eigene Persönlichkeit den im Institut geltenden Kontrollmechanismen zu entziehen. 18 Me˛trak, Krzysztof: Z rodziny Kafki [Kafka verwandt]. In: Literatura, 1988, H. 9, S. 70; Bugajski, Leszek: Mie˛dzy ksia˛z˙kami [Zwischen den Büchern]. In: Z˙ycie Literackie 38, 1988, H. 25, S. 15. 19 Zuweilen findet man gar Versuche, den biografischen Code in der Rezeption des Walserschen Werkes zu verfestigen. So wirft Jan Koprowski Małgorzata Łukasiewicz vor, sie widme in ihrem Buch »zu viel Platz […] der Untersuchung der Werke Walsers, wodurch das Aufzeigen der Verbindung zwischen seinen literarischen Texten und den biografischen Tatsachen zu kurz kommt« (vgl. Koprowski, Jan: Twórczos´c´ Roberta Walsera [Das Schaffen Robert Walsers]. In: Nowe Ksia˛z˙ki, 1991, H. 3, S. 45). 20 Jurkowska, Maja: Robert Walser – szalen´stwo bycia nikim [Robert Walser oder Von dem Wahn, ein Niemand zu sein]. In: Twórczos´c´ 51, 1995, H. 10, S. 123. 21 Ebd.

Robert Walser in Polen (eine kleine Geschichte des Lesens)

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die Protagonisten, wie die Verfasserin treffend bemerkt, ihrerseits »Versöhnung und Vergessenheit«22 erführen. Jurkowska gewinnt alles in allem den Eindruck, dass Walsers Prosa Gegensätze miteinander versöhne: Die Aus-Schreitungen der Figuren würden auf eine Art existenzielle Distanz oder Klammer abzielen, dank der die eigenen Zwänge und eine gewisse fehlende Authentizität akzeptiert werden können. Jurkowska fügt aber hinzu: »Die wohltuende und sanfte Ästhetik Walsers verdeckt jedoch […] das Tragische seines Lebens und fordert eine geschärfte Aufmerksamkeit. […] Unter der Oberfläche der Unschuld schlummert ja der Wahnsinn.«23 Das wohl interessanteste Thema, das im übrigen sowohl Jurkowska als auch Łukosz ansprechen, betrifft eins der Leitmotive der Walserschen Prosa: das Dienen. Jurkowska merkt dazu Folgendes an: »Walsers Prinzip bestand darin, anderen zu dienen, die Spuren der eigenen Individualität zu verwischen, klein und bedeutungslos zu werden.« Darauf folgt die nur noch rhetorische Frage: »Ist das nicht eine Metapher für den Auftrag eines Schriftstellers?«24 Mit dem Prinzip des Dienens verbindet die Verfasserin zwei Haltungen: Man verstecke sich hinter einer »kindischen Unreife« und man wähle das Schweigen als Zuflucht, wodurch die eigene Authentizität bewahrt werden könne; die letztere »beruht […] auf einer radikalen Bejahung des Schweigens als endgültiger Lösung für jedes Werk und für jedes Leben. Darin liegt das Wesen der Dinge, die reine, nach keinem Ausdruck verlangende Schönheit. Diese existiert einfach, bedarf keiner Begründung und enthält in sich das Geheimnis des Todes.«25

Das Leben Walsers wird bei Jurkowska mit dem Kafkas und Hölderlins verglichen und dadurch leicht mythologisiert: Der Schweizer erscheint hier als die Wirklichkeit ablehnender und sich davon konsequent entfernender Künstler, seine Haltung – als Ausdruck der Auflehnung gegen Populismus und Materialismus.26 Jerzy Łukosz wiederum geht bei seiner Rekonstruktion der Haltungen, die Walsers Figuren annehmen, von dem Prosastück »Tobold (II)« aus. In seinen Augen spielt dieser Text eine Schlüsselrolle als

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125. Ihre Überlegungen fasst Jurkowska in der leidenschaftlichen wie rhetorischen Frage an die zeitgenössischen Akteure des Literaturbetriebs zusammen: »Gibt es heutzutage sensible und bescheidene Künstler – in einer Zeit, in der der künstlerische Erfolg mit Ruhm und Geld gleichgesetzt wird, die man ohne Zusammenhang mit der humanen Wichtigkeit des jeweiligen literarischen Tuns und mit der eigenen Haltung als Schaffender erreichen kann?« (ebd., S. 126).

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»Studium der dienenden Haltung, als Zeugnis ihrer […] geistigen Vollendung, Protokoll von Beobachtungen, die das Resultat der gesellschaftlichen Ordnungen aufheben und eine höhere Geistesordnung […] der hierarchischen Partnerschaft begründen. Der Diener, der Bedienstete oder der Page fühlt sich nicht minderwertig gegenüber Menschen, denen er dient. Die gesellschaftliche Stufenleiter, auf der ihm ein Platz weit unten zugewiesen wird, ist ein Segen.«27

Nicht nur der polnische Leser hat sicherlich Schwierigkeiten zu entscheiden, inwiefern Tobolds dienende Haltung eine offene Erklärung des Autors bedeutet, der seinen Protagonisten in der Rolle eines Ideenträgers sehen will, oder das Ergebnis einer heimlichen und ironischen Stilisierung darstellt, die im Verhalten, im Handeln und auch in den Worten jenes Protagonisten sichtbar wird. (Eine Parallele aus der polnischen Literatur könnte man in der Figur von »Gottes einfachem Mann« in Józef Wittlins »Das Salz der Erde« oder in dem lyrischen Ich bei Miron Białoszewski sehen.28) Dass Walsers »dienende Figuren« in ihrem Ursprung und ihrer Bedeutung biographisch gedeutet werden, findet selbst Łukosz interessanterweise etwas naiv, denn diese Prosa zeuge von »raffinierten Projektionen, Fiktionalisierungen und Selbstironisierungen«.29 Eine solche Trennung zwischen Leben und Schreiben hindert Łukosz jedoch nicht daran, das Kalligrafische (in zweierlei Formen: als Verkleinerung und als Auslöschung) als eine Art existenzielles und schöpferisches Urprinzip Walsers zu beschreiben, das seine Überzeugung vom notwendigen Schutz der eigenen Authentizität sowie das existenzielle Imperativ seiner Protagonisten, die dadurch an den Rand des Daseins geraten, gleichermaßen präge. Eine erfolgreiche Verkleinerung (Reduktion der Schrift, der Persönlichkeit, der Erwartungen, der Ansprüche) eröffne die Möglichkeit freudvollen Träumens und Sehnens (nur in den unteren Regionen, so eine interessante Behauptung 27 Łukosz, Jerzy: Człowiek czyli sługa. 1997, S. 71. Es wäre im Übrigen eine äußerst interessante Aufgabe, das »Dienende« des Walserschen Protagonisten aus der Perspektive der durch Józef Tischner entworfenen Konzeption eines »Pagen« in den Blick zu nehmen und zu verfolgen (vgl. Tischer, Józef: Filozofia dramatu [Philosophie des Dramas]. Kraków: Znak 1998). 28 Vgl. z. B. Wyka, Kazimierz: Nikifor powstania warszawskiego [Der Nikifor des Warschauer Aufstandes]. In: Z˙ycie Literackie 20, 1970, H. 32, S. 6. 29 Łukosz, Jerzy: Człowiek czyli sługa. 1997, S. 75. In dieser Hinsicht zeigt sich der polnische Forscher allerdings sehr inkonsequent, denn im Schlussteil seines spannenden Beitrags beruft er sich auf die Ansichten Werner Morlangs, eines der renommiertesten Biografen Walsers, von dem er die Überzeugung von einer unleugbaren Verbindung zwischen dem Leben und dem Werk des Schweizer Autors zu übernehmen scheint: »Das Kalligrafische des Lebens (die geschlossene Anstalt und deren Ordnung) und des Schreibens wird schmerzhaft folgerichtig. Angesichts der Unendlichkeit der Zeit, des Raumes, des Absurden […] erscheint einzig und allein die Haltung des allmählichen Verschwindens als logisch. [Walsers Mensch] lebt dienend oder herrschend, um in Folge dessen – wie in dem Prosastück ›Die Welt‹ – ›sich aufzulösen‹. Um auf das Leben zu verzichten und – weiterzuleben. Um auf das Schreiben zu verzichten – und auf unsichtbaren hellblauen Papierfetzen weiterzuschreiben« (ebd., S. 75f.).

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Łukoszs, könne man träumen und sich sehnen30); und diese wiederum bedinge ein Dasein, das innere Helligkeit und – einfach gesagt – Glück ausstrahlt. In Walsers Prosa, so Łukosz, fühle sich der Dienende nicht minderwertig. Hierarchische gesellschaftliche Beziehungen, also auch die Größe, seien so gesehen lediglich Rollen, welche die herrschende Ordnung den Walserschen Protagonisten aufdrängt. Dagegen zu rebellieren wäre gleichermaßen nutzlos wie unbegründet: »Wir können nicht groß sein, weil wir von Natur aus klein sind. Die Größe ist eine Anmaßung […]. Aus der Bewusstmachung folgt der Dienst, das Dienen, die Akzeptanz der Unterordnung […]. Von einem ›Minimalismus‹ kann deshalb keine Rede sein – diese Haltung geht eher auf einen gewissen Maximalismus zurück, auf einen geistigen Akt, bei dem endgültige Schlüsse hinsichtlich der Kondition und der Bestimmung des Menschen gezogen wurden. Für Walsers Protagonisten wird die Findung einer Nische zu einer Lebensbedingung schlechthin.«31

Ein Merkmal des Dienens beruht darauf, dass der Diener neben der Arbeitszeit »Muße« hat, dank der er erst das Glücklichsein erreichen kann. »Heiterer Müßiggang« – verbunden mit Schweigen, Demut, aber auch Mobilität (bei Walser stehen dafür der Diener, der Spaziergänger und der Tänzer) – garantiere, um mit Anna Sobolewska zu sprechen, ein »möglichst gelungenes Dasein«, das von einer freudvollen Weltsicht gekennzeichnet ist.32 Die interessantesten Texte zu Walsers Werk entstehen anlässlich der Veröffentlichung weiterer Bände mit seiner Kurzprosa: »Dziwne miasto« [Seltsame Stadt] (Izabelin 2001) und »Mały krajobraz ze s´niegiem« [Die kleine Schneelandschaft] (Izabelin 2003). Nach dem Erscheinen des ersteren melden sich zu Wort: Jakub Ekier (»Tekst jako wyjs´cie« [Text als Ausweg], in: »Literatura na s´wiecie« 2003, Nr. 7/8), Piotr Herbich (»Prosastücke«, in: »Nowe Ksia˛z˙ki« 2002, Nr. 5), Piotr Kajewski (»Nie trac´ otuchy« [Nicht den Mut verlieren], in: »Odra« 2003, Nr. 3) und Adam Wiedemann (»Homilia« [Homilie], in: »Res Publica Nowa« 2002, Nr. 8). Ekier setzt den Erkenntnisgang Małgorzata Łukasiewiczs fort und reiht Walser unter die Genies der europäischen Epik ein, die Poiesis über die Reproduktion stellen. Bei dem Schweizer käme das zum einen in der »intransparenten Erzählkonvention« zum Ausdruck, zum anderen in der Organisation der dargestellten Welt: Die Zeit und der Raum entstünden gleichsam in statu nascendi et scribendi. »Der Text deckt sich mit seinem Schaffensakt, wie ein Raum, der erst

30 Ebd., S. 72. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 75; Herbich, Piotr: Prosastücke. In: Nowe Ksia˛z˙ki, 2002, H. 5, S. 25. Es handelt sich dabei im Übrigen um einen der zentralen Aspekte im Schaffen Robert Walsers, die von Łukasz Musiał immer wieder untersucht werden, vgl. z. B. Musiał, Do czego uz˙ywa sie˛ literatury. 2016, S. 111–115.

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beim Beschreiten immer deutlicher hervortritt.«33 Der Schreibgeste entspreche daher völlig der Rhythmus des Spaziergangs eines Protagonisten, der gleichzeitig Erzähler ist und die Textrealität entstehen lässt; diese dauere an, solange der Spaziergang und das Schreiben anhalten. Das Subjekt dieser Prosa (und den seine Bewegungen aufmerksam verfolgenden Leser) begleitet unaufhörlich »die Vorahnung, dass er mit seiner Textwelt bald aufhören wird, zu sprechen und damit auch zu leben«.34 Eine solche Strategie zeichne sich aus und werde zugleich besiegelt durch ein selbstironisches Spiel,35 das der Erzählende mit sich selbst (und vor den Lesenden) spiele. Dieses werde sichtbar: 1) dank der Vielzahl und Wechselhaftigkeit der Erzählenden und der Protagonisten, die ihren gänzlich fiktiven und flüchtigen Status akzeptieren; 2) in der eine offene und demonstrative Fiktionalität stiftenden Erzählkonvention (begründet in streng geregelten einleitenden Formulierungen wie »ich denke mir«, »nun ist das alles so wunderbar« usw.); 3) dank »Pseudopointen« und »Handlungsabbrüchen«, die aus dem von dem Erzähler zuvor angekündigten Gefühl der Nichtigkeit, Mittelmäßigkeit oder Unbedeutsamkeit der Darstellung resultieren; an manchen Stellen breche die Darstellung einfach ab, wodurch die Wichtigkeit der soeben verbalisierten Ereignisse und Bilder verwischt werde.36 All das führt Ekier zu einer ontologischen Schlussfolgerung: Walser sei ein Verkünder der existentiellen Philosophie; einer, der den Raum für ein dekonstruktives Spiel freimache oder gar religiöse Erfahrungen eindeutig buddhistischer Provenienz ermögliche: »Keine Gedanken, also keine Vorstellungen vom Sinn. Nur das Dasein, nur die Tatsache, dass es ›allerlei‹ gibt. Eine immer intensivere Vorstellung von der Leere, ja vom Nichts […] scheint gleichzeitig ein baldiges Ende des Textes anzukündigen; danach kommt bis zu einem nächsten Prosastück nichts außer einem unbeschriebenen weißen Blatt Papier.«37

Auch Piotr Kajewski neigt dazu, in Robert Walser einen der Vorläufer der epischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts zu sehen. Das Innovative beruhe bei diesem Schriftsteller in der Art und Weise, auf welche in seiner Prosa Autothematisches sichtbar wird. Dessen wichtigster Indikator ist für Kajewski Selbstironie, die den Erzählprozess selbst betreffe, aber nicht – anders als in Ekiers Interpretation – Walsers Erzählkonventionen oder gar seine Sprache negiere, 33 Ekier, Jakub: Text als Ausweg. Im vorliegenden Band, S. 161–173. 34 Ebd., S. 167. 35 Ekier nähert sich in dieser Hinsicht den Erkenntnissen von Bialik und Koprowski über den theatralischen Charakter der in Walsers Prosa dargestellten Wirklichkeit (vgl. ebd., S. 164–166; Kajewski, Piotr: Nie trac´ otuchy [Nicht den Mut verlieren]. In: Odra 43, 2003, H. 3, S. 80). 36 Vgl. ebd., S. 161, 164. 37 Ebd., S. 167.

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sondern (und das erscheint Kajewski am wesentlichsten) mit dem Erzählen koexistiere; dank der Distanz zum Schreibprozess wecke sie außerdem bei dem Lesenden ein Gefühl der Zärtlichkeit, ein Mit-Gefühl und »fröhliches, unbändiges, authentisches und befreiendes Lachen«.38 Auf die letztgenannten Merkmale der Walserschen Prosa legt Piotr Herbich einen großen Wert: Er konzentriert sich auf die Figur des Kindes bei Walser, konkret auf die durch den kindlichen Blick auf die Welt zustande kommende Stilisierung und die außergewöhnliche Empathie. Das Werk des Schweizers entspringe, so Herbich, ebendiesen beiden Quellen. In der Schlussfolgerung heißt es dort: »Die großartige Empathie rührt bei Walser vom Kind her; das Ausschalten des Ich, das Sich-Verlieren im Gesehenen und Gehörten, auch der naive Ton, der beim Kind eine unbewusste innere Reinheit, Unangepasstheit, Schutzlosigkeit zeigt; innere und äußere Reaktionen sind bei ihm eins, denn es wird nichts verheimlicht.«39

Unschwer kann bemerkt werden, dass alle drei hier zusammengefassten Ansätze (insbesondere derjenige Ekiers) stark mit dem dekonstruktivistischen Gedankengut zusammenhängen und sich in den Grenzen einer postmodernen Ästhetik bewegen. Hier liegen auch die Inspirationen Adam Wiedemanns, obgleich sich seine Herangehensweise grundsätzlich von den bereits besprochenen unterscheidet. Wiedemann liest den Band »Seltsame Stadt« aufmerksam und eingehend – und findet in Walsers Kurzprosa Gesetzmäßigkeiten, die bislang kaum akzentuiert bzw. gar nicht bemerkt wurden. Dazu gehören mit Sicherheit: 1) die Überzeugung, dass »der Makel die ästhetische Vollkommenheit [der Protagonisten] bedingt, dass er keine ›Würze‹ ist, sondern die ›Vertrautheit‹ oder gar ›Besorgtheit‹ ausmacht«40; 2) der Hinweis, dass Walsers Menschenbild die Notwendigkeit einer »völlig natürlichen und allgegenwärtigen«, gelebten Freundlichkeit des Protagonisten zugrunde liege und dass die »Liebesmühe«41, die dieser sich gibt und

38 Kajewski, Nie trac´ otuchy. 2003, S. 79f. 39 Herbich, Prosastücke. 2002, S. 25. 40 Wiedemann, Adam: Homilia. In: Res Publica Nowa 15, 2002, H. 8, S. 80. Mit jenem Makel (man möchte die Fachwelt fragen, ob dieser nicht vielleicht biblischen oder manichäischen Ursprungs ist) verbindet Wiedemann außerdem das Phänomen eines sozialen Unglücklichseins« der Protagonisten dieser Prosa. In den abschießenden Zeilen heißt es dort: »In der Walserschen Welt gibt es zwar das Unglück, ihm geht aber jegliche Relevanz ab; zusammen mit demjenigen, den es getroffen hat, tritt es ins Abseits des Daseins. Zu irgendeinem Zweck wird es allerdings gebraucht: Man braucht es offenbar, um der (an sich großartigen und schönen) Welt ›Vorwürfe zu machen‹, sonst wären wir keine Menschen, sondern ›bloße Marionetten‹« (ebd., S. 81). 41 Vgl. ebd., S. 80.

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dank der er eine »Zufriedenheit mit dem Augenblick« erreicht, eine Art existenziellen Imperativ darstelle.42 In seinem Schlusswort entwirft Wiedemann darüber hinaus eine interessante komparatistische Perspektive, indem er (sei es nur zeitweilig) versucht, das Idiomatische an Walsers Prosa zu vergessen und einen Anschluss an die Lektüreerfahrungen polnischer Leserinnen und Leser zu finden. Dabei werden folgende Möglichkeiten projiziert: »Ich würde Walser auf halbem Wege zwischen Natasza Goerke (die weniger »konkret« ist) und Miron Białoszewski (den er mit seiner »ausgefallenen Phantasie« übertrifft) verorten. Mit den beiden hat er die Neigung zur gedanklichen Lässigkeit gemeinsam – das Talent, Verwickeltes und Gefährliches mit einigen unverschämt treffenden Worten wiederzugeben […]. Vielleicht eint sie außerdem noch die Überzeugung, dass jeder von uns gleichzeitig klar und unergründlich ist; dass diese beiden Eigenschaften einander nicht behindern, sondern umgekehrt, bestens einander ergänzen.«43

Man kann sich nur wünschen, dass auch die kommenden Generationen polnischer Leserinnen und Leser von einer derartigen Intuition für Walsers Werk und von einem solchen Mut, dieser Intuition zu folgen, begleitet werden mögen. Abschließend darf ich den raffinierten und (sowohl in sprachlicher als auch in intellektueller Hinsicht) zärtlichen Text Urszula Koziołs erwähnen, den sie im Ton einer ungezwungenen Beschreibung von Eindrücken aus ihrem und ihres Ehemannes Feliks Przybylak Besuch in dem Haus verfasste, in dem Robert Walser das Licht der Welt erblickt hatte. Heute beherbergt es ein nach dem Schriftsteller benanntes und ihm gewidmetes Museum. Um Walsers Geisteszustand in Herisau zu schildern, fand die Autorin phänomenale Formulierungen – und mit ihren Sätzen, mit diesem Beitrag der polnischen Sprache zum Bennen des fundamentalen Geheimnisses des Walserschen Werkes – des »Wunsches nach ›(Ver)Schwinden‹« – möchte ich den Schlussakkord setzen: »Cierpiał i był smutny, a jak mawiał, Bóg nie znosi smutnych ludzi. Bardzo by chciał byc´ taki jak inni – ale zdawał sobie sprawe˛ z tego, z˙e to niemoz˙liwe. Skoro tak, wolałby byc´ niczym. W jego odczuciu – byc´ niczym jest czyms´ wie˛cej, niz˙ byc´ czyms´. […] czegos´ prawdziwie wielkiego i pie˛knego upatrywa[ł] w miniaturyzacji, w zmniejszaniu i upraszczaniu. Stosował to umniejszanie zarówno w swoim pisarstwie, jak i we własnym z˙yciu. Jadł coraz mniej. Prawie same imbirowe biszkopty. A w kon´cu tyle, co nic.«44

42 Vgl. ebd., S. 81. 43 Ebd., S. 81. 44 »Er litt und war traurig, und Gott kann, wie er sagte, traurige Menschen nicht ausstehen. Er wäre gern so gewesen wie die Anderen – war sich aber darüber im Klaren, dass dies unmöglich war. Deshalb wäre er lieber ein Nichts gewesen. Ein Nichts zu sein war seinem Empfinden nach besser, als ein Etwas zu sein. […] in Miniaturisierung, in Verkleinerung und Vereinfachung, sah er wahre Größe und wahre Schönheit. Eine solche Verkleinerung praktizierte er sowohl in seinem Schaffen als auch in seinem Leben. Er aß immer weniger. Fast nur Ing-

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Es soll aber ein Schlussakkord sein, mit dem alles wieder begonnen werden kann!…

werkekse. Am Ende so gut wie nichts.« (Kozioł, Urszula: O Robercie Walserze [Über Robert Walser]. In: Odra 43, 2003, H. 10, S. 96).

Walsers Poetik

Jacek Gutorow (Uniwersytet Opolski)

Hindurchgehen durch Worte »Ich glaube, das Leben will anderes von mir, hat anderes mit mir vor. Es läßt mich alles lieben, was es nur an Erscheinungen mir zuwirft.« Simon Tanner (»Geschwister Tanner«)

1929 veröffentlichte Walter Benjamin eine kleine Skizze zum Werk eines damals wenig bekannten Schweizer Schriftstellers. »Robert Walser« ist ein kapriziöser Text, unscharf und recht rätselhaft. Die Argumentation besteht eher aus Eindrücken, weshalb man kaum von Konsequenz und Logik sprechen kann. Wir haben es mit Girlanden kurzer und dennoch brillanter, origineller und zugleich leuchtender Bemerkungen und Beobachtungen zu tun (die Girlandenmetapher benutzt Benjamin, um Walsers Stil zu beschreiben, sie lässt sich aber genauso gut auf den Autor der »Passagen« anwenden); diese erinnern eher an unverbindlich hingeworfene Aphorismen als an Bestandteile einer ganzheitlichen Interpretation. Benjamins Text erfordert eine mehrmalige Lektüre. Man darf davon keinen Hinweis auf eine konkrete Lesart erwarten. Intuitiv Kritisches verfolgt offenbar das Ziel, die Zufriedenheit des Lesers zu trüben und ihn zu einer neuen Interpretation eines Werkes zu bewegen, das ihm auf den ersten Blick kaum problematisch erscheint. Und es tut das – dies sei hinzugefügt – mit Erfolg. Benjamin liest Walser als einen rätselhaften und hermetischen Autor, als einen, der noch nicht ganz entziffert wurde und auf Lesende wartet – vor allem auf solche, die fähig und bereit sind, ihm zu vertrauen. Die paradoxe Eigenart des Walserschen Werkes charakterisiert Benjamin folgendermaßen: »Leicht ist sie [die Betrachtung] nicht. Denn während wir gewohnt sind, die Rätsel des Stils uns aus mehr oder weniger durchgebildeten, absichtsvollen Kunstwerken entgegentreten zu sehen, stehen wir hier vor einer, zumindest scheinbar, völlig absichtslosen und dennoch anziehenden und bannenden Sprachverwilderung.«1 Man beachte hier den rasch, wenn auch bestimmt nicht beiläufig, eingeschobenen zweideutigen Ausdruck »zumindest scheinbar«. Es ist ein für Benjamin typisches Dilemma. Der deutsche Kritiker meint an dieser Stelle nicht, dass die Vorwürfe, Walsers Prosa sei stilistisch lässig und formell unbändig, nicht zu1 Benjamin, Walter: Robert Walser. In: ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 325 (= Gesammelte Schriften. Bd. 2, Teil 1).

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treffen. Was im Übrigen auch nicht heißt, dass sie zutreffen. Es handelt sich in der Tat um eine gewisse Sprachverwilderung, doch sie ist seltsam »anziehend und bannend«. Die Form ist oft genug nur scheinbar lässig und unbestimmt. Die Intention des Verfassers mäandert darin ein wenig – man muss aber zugeben, dass die Prosa dadurch in Schwung kommt. Und zwar wie! Der Autor der »Mikrogramme« ist offenkundig widerspenstig, ein bisschen launisch, oft unberechenbar. Seine Texte kommen bei einer oberflächlichen Betrachtung flach und zweidimensional daher, bei einem abermaligen Lesen wächst jedoch der Argwohn des Lesers hinsichtlich ihrer rhetorischen Resonanz: Nun kommen ihm die Texte nicht mehr eindeutig vor und öffnen sich für diverse Interpretationen. Wir haben ein Werk vor uns, auf den sich Formulierungen wie »Wahrheit des Ausdrucks« oder »Illusion der Darstellung« nicht sinnvoll anwenden lassen. Phantasma, Fiktion, Schein – auch sie sind Bedeutungsträger und zwingen zum (vielschichtigen) Nachdenken. Für einen aufmerksamen Leser stellt das Walsersche Werk bald schon keine naive Lektüre mehr dar. Das Lesen wird zu einer schriftstellerischen und interpretatorischen Selbsterfahrung. Während man liest, lernt man, zusammen mit dem Autor zu denken. An dieser Stelle sei gleich ergänzt, dass die Sprache des Schweizer Schriftstellers ein präziser, komplizierter und unberechenbarer Mechanismus ist. Zuweilen mag sie einen unbekümmerten Eindruck machen, doch häufiger fällt sie durch ihre Beherrschtheit und Zurückhaltung auf. Wo sie uns nicht eindeutig erscheint, überrascht sie gleichzeitig – paradoxerweise – durch eine kristallklare Durchsichtigkeit der Syntax. Zweifelsohne macht gerade die Sprache den Schwerpunkt der Walserschen Geschichten aus – ansonsten erscheinen sie oft nichtig, anspruchslos und nicht zwingend notwendig. Benjamin merkt an: »Walsern ist das Wie der Arbeit so wenig Nebensache, daß ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt.«2 Mit dieser Feststellung muss man einverstanden sein. Wer Walsers Texte liest, dem wird bewusst, dass ihr wesentlicher Sinn in dem Gebrauch der Sprache besteht, die abhängig von dem Kontext die Form des einen oder anderen rhetorischen Kunstgriffs, einer bestimmten Satzbaukonstruktion oder jener phraseologischen Wendung annehmen kann. Mit anderen Worten: Was der Autor der »Mikrogramme« uns (vielleicht auch sich selbst) sagen will, hängt in erster Linie von einer Ausdrucksform ab. Der Rest hat, wie es scheint, keine größere Bedeutung. Natürlich können wir uns von dem Erzählen verführen lassen und darüber die etwas affektierte, gekünstelte Syntax vergessen. Wir können uns ebenso gut bemühen, Walsers Hauptfiguren zu folgen, ohne dabei zu überlegen, ob wir es mit Gestalten aus Fleisch und Blut oder aus Papier zu tun haben. Der erste Eindruck bleibt jedoch der dominierende: Der fundamentale Vorteil dieses Werkes liegt in 2 Ebd. (Hervorhebung – J.G.).

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einem außergewöhnlichen Gespür für sprachliche Differenzen und Nuancen, für Rhythmus, Intonation und Melodie der Rede – er liegt in der Fähigkeit, Menschliches mit kunstvoll komponierten Worten auszudrücken. Die Überzeugung vom sprachlichen Charakter der dargestellten Welt bei Walser teilt Benjamin mit einigen Literaturkritikerinnen und -kritikern sowie mit manchen Forschenden. Beispiele dafür könnte man mehren. In der gewichtigen Stellungnahme des hervorragenden Lyrikers und Übersetzers Jakub Ekier (in dessen »Text als Ausweg« betitelter Besprechung des 2001 auf Polnisch erschienenen Prosabandes »Seltsame Stadt«) heißt es: »Der Text deckt sich mit seinem Schaffensakt, wie ein Raum, der erst beim Beschreiten immer deutlicher hervortritt.« Und weiter: »Denn nur in der Materie der Sprache, in einem gewöhnlich anonymen, an die lebendige Rede erinnernden Monolog nimmt Walsers Wirklichkeit, die keine Objektivität vorgaukelt, ihre Gestalt an und überschreitet für einen kurzen Augenblick die Grenze des Nichtseins.«3 Die sich vor uns entfaltende Realität des Walserschen Werkes habe demzufolge, so Ekier, einen stricte sprachlichen Charakter; sie sei nicht allein sprachlich vermittelt, sondern sie existiere – und das spiele eine wesentlichere Rolle – ausschließlich in der Sprache. Das hier auftauchende Adverb »ausschließlich« setzt ein in sich geschlossenes, wenn man so will: tautologisches Werk voraus. In ihren Kommentaren liefern Benjamin und Ekier überzeugende Begründungen für eine solche Perspektive auf Walsers Schaffen. Suggestive Stellen führt insbesondere der letztere an. Sie stellen das durch und durch versprachlichte und sich in der Sprache vollziehende Denken des Schweizers unter Beweis; sie führen uns die Schwierigkeit vor Augen, seine anekdotischen Inhalte und Erzählstränge von Aussageform, Stil und Register der jeweiligen Sätze zu trennen. In den Augen der beiden Literaturkritiker ist es ein grobes Missverständnis, Walser als einen realistischen Schriftsteller zu bezeichnen. Grundsätze des mimetischen Paktes lehne er zwar weder ab noch zweifle sie an, eine aufmerksame Lektüre seiner Texte genüge allerdings, um ihre oftmals hinterlistige Aussage zu bemerken und die wesentliche Rolle sprachlicher Schablonen und gedanklicher Vorurteile zu registrieren. In scheinbar anspruchslosen, lässigen Prosastücken stößt man auf derart bedeutsame literarische Spuren, dass ein Zufall ausgeschlossen werden muss. Der Autor der »Mikrogramme« zeichnet Figurenporträts oder Naturbilder mit Worten, die uns in ihrer offenkundigen Phrasenhaftigkeit nicht weniger als durch ihren Sinn zu denken geben. Diese Interpretation der Walserschen Texte ist mit Sicherheit begründet und erweitert ihr Verständnis. Damit hat aber die Frage nach seinem Werk in meinen Augen noch keine endgültige Antwort gefunden. Verbirgt sich alles, was uns 3 Ekier, Jakub: Text als Ausweg. Im vorliegenden Band, S. 161–173.

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dieser Autor zu sagen hat, in der Rolle des Schreibens, d. h. in der Sprache? Bleibt uns nichts außer schönen Ausdrücken und dem Drama der Selbsterfahrung? Ist das Schaffen des Schweizers in der Tat so sehr nach innen gerichtet und derart hermetisch, dass es jeder Interpretation, die darin mehr als eine phantastische Vermehrung realitätsfreier Zeichen und Sinngebungen sieht, Widerstand leistet? Vielleicht sollte überlegt werden, ob damit – auf eine andere, weniger offensichtliche Art und Weise – nicht doch ein Realismus angestrebt wird? Diese Fragen empfinde ich nicht als rhetorisch. Indem ich sie stelle, drücke ich meine gut fundierte Überzeugung aus, dass damit der Kurs des Walserschen Werkes deutlich steigt. Dies ist meine Arbeitshypothese. Wird Walsers Schaffen als Ausdruck eines radikalen Subjektivismus interpretiert, den die Energie der Sprache antreibt und der sich in einer Schreibobsession offenbart, muss ein Vorbehalt geltend gemacht werden: Genauso wichtig ist bei Walser die Bereitschaft, über die Grenze des tautologischen Ich-Kreises hinauszugehen. Es kann kaum eindeutig festgelegt werden, ob sie aus einem bewussten Nachdenken oder aus dem schriftstellerischen Instinkt resultiert. Wie dem auch sei: In Walsers in vielerlei Hinsicht beunruhigend introvertiertem und klaustrophobem Werk lässt sich der Wunsch nach Grenzüberschreitung erahnen. Er ist weder direkt noch an ausschließlich ästhetische, formale bzw. sprachliche Anforderungen gebunden. Trotzdem kann man ihn spüren, insbesondere mit Blick auf das Intentionale seiner Texte. Dann entdeckt man, dass lebendige Literatur dort entsteht, wo sich der Text und die Sensibilität des Lesers berühren. Vor diesem Hintergrund wirkt der für Walser typische, schwer greifbare Erzählmodus verständlicher, dessen Ich-Erzähler scheinbar transparent und arglos daherkommt, der aber in seiner Eigenart doch recht problematisch ist. Die rhetorische Scheinindifferenz in Walsers Texten birgt eine mächtige Ladung an Selbstironie in sich, die vor allem in der Verwendung von »Verkleidungen, Masken und Decknamen«4 zum Vorschein kommt (um mit Michał Paweł Markowski zu sprechen). Bei dem Schweizer Schriftsteller kann gar von histrionischen Tendenzen die Rede sein; sie sind zwar diskret, der aufmerksame Leser wird sie jedoch wahrnehmen. Einer der polnischen Kommentatoren schildert dieses Phänomen mit folgenden Worten: »die Redegewandtheit des Autors […] mag ihre Wurzeln in einer (nicht ausgelebten) schauspielerischen Anlage haben; man hört geradezu, wie da einer an die Rampe tritt, um einen Text (einen Monolog) vorzutragen – brillant und geistreich wie bei Cioran und gleichzeitig sprunghaft, komisch und expressiv wie bei Chaplin«.5 Und in der Tat: Die Monologe machen bei Walser mehrheitlich einen gekünstelten und phrasenhaften 4 Markowski, Michał Paweł: Spuren im Schnee. Im vorliegenden Band, S. 239–244. 5 Kajewski, Piotr: Nie trac´ otuchy [Nicht den Mut verlieren]. In: Odra 43, 2003, H. 3, S. 80.

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Eindruck. Nicht selten meint man einen Stimmenimitator oder Bauchredner zu hören, der teilweise mit seiner eigenen, teilweise mit einer fingierten Stimme spricht. Im Verhältnis der Walserschen Erzähler zu der Umgebung spürt man eine existentielle und kognitive Zerrissenheit. Einerseits möchten sie leidenschaftslos und distanziert beobachten – und sie tun es; sie möchten im Abseits stehen und ein eindeutiges Engagement in ihren (im Übrigen äußerst lockeren und unverbindlichen) Beziehungen zu der Welt vermeiden. Der fundamentale Sinn einer so begriffenen Existenz liegt, so scheint es, im Postulat einer permanenten Beobachtung, die auf eine zurückhaltende, sparsame und insbesondere möglichst objektive, berichtartige Art und Weise kommentierend begleitet wird. Der typische erzählende Beobachter ist bei Walser ein anonymer Spaziergänger, ein ewig Herumstreichender, ein Flaneur – einer, der oft unbemerkt und unerkannt durch Seitenstraßen und Nebengänge schleicht und mit seinem forschenden Blick alles neugierig ansieht. Der aufmerksame, konzentrierte, reine Blick ist sein Gebet, aber auch seine Art, die Welt und sich selbst zu verstehen. Die Wirklichkeit sieht er als ein harmonisch geordnetes Ganzes: Alles befindet sich auf seinem Platz, nichts entzieht sich. Andererseits zeigen Walsers Figuren aber auch eine Neigung zum Theatralischen. Sie wünschen sich weniger Distanz zu der Welt und zu den Anderen, engagieren sich stark konventionell – im Grunde handelt es sich um eine Rolle, die im Rahmen einer Aufführung gespielt wird. Worte und Gesten wirken theatralisch, zwischenmenschliche Beziehungen werden sinnvoll, insofern es mehr oder weniger zwingende übergeordnete arbiträre Konventionen gibt. Der schauspielernde Erzähler steht nicht beiseite. Wenn er seine Rolle spielt, betritt er die Situation wie eine Bühne und wird Teil davon. Alles an seinem Verhalten wird zum Spiel und zum Schein. Die Identität des Protagonisten wird es ebenfalls. Ist er als Beobachter ein Niemand (eine Rolle, die er freiwillig gewählt hat), so machen ihn als Schauspieler die gesprochenen Partien und die ihm aufgezwungene Rolle, aber auch Erwartungen und Urteile des Publikums, zu einem Jemand bzw. einem Etwas. Das Drama der Walserschen Figuren beruht zum großen Teil darauf, dass sie nicht fähig und vielleicht nicht willig sind, sich anders einzusetzen. Darin wird wohl auch das Drama des Autors selbst bestanden haben. Er lebte am Rande und fixierte die ihn umgebende Welt mit einem aufmerksamen Blick oder aber er beteiligte sich – mit dem Bewusstsein, er spiele eine ausgedachte Rolle. Manchmal war er beides, Beobachter und Schauspieler zugleich, z. B. in der Berliner Dienerschule oder auf dem Schloss Dambrau, wo er als angesehener Lakai (seine seltsamste Rolle!) andere bediente und gleichzeitig eine Randexistenz führte, indem er sich den Status eines isolierten, leidenschaftslosen Beobachters des Geschehens zuerkannte. Das Instabile der Identität und das Mehrdeutige der Stimme nahmen bei Walser die Form einer eigenartigen Konvention an: Er entwickelte die soge-

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nannte »Bleistiftmethode« und verfasste damit seine sogenannten Mikrogramme – Notizen in winziger, schwer entzifferbarer Schrift.6 Seit ihrer Veröffentlichung ist uns bewusst geworden, dass die scheinbar natürliche Stimme des Erzählers und der materielle Schreibakt auseinanderdriften, wobei der letztere bei Walser einer zwanghaften und physiologischen Tätigkeit gleicht. Fühlte der Schriftsteller die Zerrissenheit zwischen dem Postulat einer aufmerksamen Beobachtung und der Versuchung eines Bühnenschauspiels, zeichnet sich sein Schreibprozess durch eine permanente Spannung zwischen Intention und Ausdruck, Denken und Aufschreiben aus. Die deklarative Dimension der Verfasserstimme beruht im Falle der »Mikrogramme« darauf, dass sie gewissermaßen das Schreiben verlängert. Uns erreicht nicht allein die Stimme, sondern ebenfalls die Hand, welche obsessiv Worte und Sätze aufschreibt. Mit anderen Worten: Es zählt nicht nur der Klang einer Passage, sondern auch die Bewegung der Hand. Auffallend ist der Gegensatz zwischen dem Mechanisch-Unpersönlichen und der spontanen Freiheit des suchenden sowie interpretierenden Ich. »Mikrogramme« demonstrieren auf überzeugende Art und Weise, dass sich Walsers Wirkung nicht auf die Bedeutung des Schreibprozesses reduzieren lässt. Als viel wichtiger erweist sich dessen Zusammenprall mit dem Drama eines Ich, das den tautologischen Kreis der eigenen Erzählungen zu durchbrechen versucht. Selbstverständlich ist dabei nichts. Walser unterwarf sich keinen existenziellen oder kognitiven Forderungen; der Schreibprozess war für ihn, wie oben geschildert, eine nahezu reflexartige Tätigkeit, welche mit einem Traum vom Grenzüberschreiten wenig gemeinsam hatte. Und doch fällt in seinem Werk etwas auf, was eine andere Sicht auf die Texte eröffnet. Früher oder später bemerken wir seine hartnäckigen Versuche einer Überwindung des schriftstellerischen und sprachlichen Status quo. Zweifelsohne werden sie mehrheitlich mit sprachlichen Mitteln vorgenommen. Es sei jedoch hinzugefügt: Die Sprache war für Walser einzig und allein ein Ausgangspunkt, ein Moment der Spiegelung, ein Versprechen, den tautologischen Kreis des schriftstellerischen (szenischen, theatralischen, beobachtenden) Ich zu durchbrechen. Nehmen wir als Beispiel die Art, wie der Schriftsteller das Präsens verwendet. Es wird relativ oft eingesetzt, vor allem in der Kurzprosa und in den schon erwähnten Mikrogrammen. Die Behauptung, dass Walser eine Vorliebe für das Beschreiben von Ereignissen und das Erzählen von Geschichten im Präsens und in der 1. Person hatte, ist keine Übertreibung. Er tat das sehr konsequent und 6 Mehr zu dem Thema findet man in dem hervorragenden Nachwort zu der polnischen Übersetzung der »Mikrogramme«, verfasst von Arkadiusz Z˙ychlin´ski, Łukasz Musiał und Małgorzata Łukasiewicz (vgl. Walser, Robert: Mikogramy. Aus dem Deutschen von Małgorzata Łukasiewicz. Kraków: Ha!art 2013, S. 125–136).

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emphatisch, und bemühte sich penibel um eine entsprechende Wirkung. Am häufigsten lässt sich bei ihm der Aspekt des Unvollendeten beobachten: Die Dinge passieren vor unseren Augen, langsam nehmen sie Form und Bedeutung an – eigentlich ist alles möglich. Die großartige Unvorhersehbarkeit der Walserschen Erzählungen hängt bestimmt mit dem intensiven, bewussten Erleben des Präsens zusammen. Ihr Mittelpunkt und ihr Element ist der Augenblick – entgleitend, kaum bemerkbar, wenig sichtbar, aber intensiv und voller Leben: »Es ist ein frischer Morgen und ich fange an, von der großen Stadt und dem großen bekannten See aus nach dem kleinen, fast unbekannten See zu marschieren. Auf dem Weg begegnet mir nichts als alles das, was einem gewöhnlichen Menschen auf gewöhnlichem Wege begegnen kann. Ich sage ein paar fleißigen Schnittern ›guten Tag‹, das ist alles; ich betrachte mit Aufmerksamkeit die lieben Blumen, das ist wieder alles; ich fange gemütlich an, mit mir zu plaudern, das ist noch einmal alles. […] Ich gehe immer weiter und werde zuerst wieder aufmerksam, wie der See über grünem Laub und über stillen Tannenspitzen hervorschimmert«.7 »Die drei Menschen, der Kapitän, ein Herr und ein junges Mädchen, stiegen in den Korb ein, die befestigenden Stricke werden losgeknöpft, und das seltsame Haus fliegt langsam, als ob es sich erst noch auf irgendetwas besänne, in die Höhe; gute Reise!, rufen die versammelten Menschen von unten her, hüte- und taschentuchschwenkend, nach. Es ist zehn Uhr abends im Sommer. Der Kapitän zieht eine Landkarte zu einer Tasche heraus und bittet den Herrn, sich mit Kartenlesen beschäftigen zu wollen.«8 »Ein Helles bitte! Der Biereingießer kennt mich schon seit geraumer Zeit. Ich schaue das gefüllte Glas einen Moment an, nehme es mit zwei Fingern an seinem Henkel und trage es nachlässig zu einem der runden Tische, die mit Gabeln, Messern, Brötchen, Essig und Öl versehen sind. Ich stelle das nässende Gals ordnungsgemäß auf den Filzuntersatz und überlege, ob ich mir etwas zu essen holen soll, oder nicht.«9

Das fortschreitende Erzählen im Präsens ist hier mehr als eine stilistische Pose. Wir haben es mit einem deutlich phänomenologischen Effekt zu tun, der uns bei der Lektüre immer wieder dieselben Fragen stellen lässt. Man bemerke, dass in den soeben angeführten Passagen die erzählte Zeit mit der Erzählzeit und auch mit der Lesezeit identisch ist. Die Geschichte entfaltet sich parallel zu dem Akt des Lesens. Indem wir lesen, bauen wir gemeinsam mit Walser die Erzählung auf oder – strenggenommen – wir verleihen ihr einen Sinn. Man kann zwar argumentieren, dass der Text als solcher vorher konzipiert und aufgeschrieben sowie als Buch gedruckt worden ist, weshalb er vor dem Lesen existiere. Ändert aber dieser Umstand etwas Wesentliches am phänomenologischen Charakter des 7 Walser, Robert: Der Greifensee. In: ders.: Geschichten. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 32f. (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 2). 8 Walser, Robert: Ballonfahrt, In: ders.: Aufsätze. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 82 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 3). 9 Walser, Robert: Aschinger. In: ders., Aufsätze. 1985, S. 67.

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Walserschen Erzählens? Der gedruckte Text besteht doch aus gleichgültigen, leblosen Zeichen, als Erzählung ist er nicht da bzw. er ist nur potenziell da. Das Aufgeschriebene wird erst durch das Lesen, also in einem Sinnesraum, vergegenwärtigt. Die fundamentale Wirkung eines Erzählens im Präsens scheint darin zu bestehen, dass sich seine Bedeutung erst beim Lesen enthüllt. Dank der Gleichsetzung der Erzählzeit mit der Lesezeit wir wohl der Sinn des Erzählten durch den Leser mitgestaltet und mitverantwortet. Als Hauptprotagonist der Walserschen Prosa müsste daher vielleicht der Leser gelten, sowohl in der Kurzprosa – kleinen Texten, die an Genrebilder oder Sittenszenen erinnern – als auch in den Romanen. Es ist der Leser, der das Erzählen aktiviert und antreibt, um darin einen Platz für sich zu finden; einen besonderen, gleichsam für ihn bestimmten Platz. Er wird zum lebendigen (aktiven) Subjekt des Werkes. Von den fiktiven Figuren, die der Schriftsteller geschaffen hat, lässt sich das kaum sagen. Sie bleiben künstlich, papiern, wenig glaubwürdig. Es fällt schwer, in ihnen mehr als phantastische Schöpfungen des Autors zu sehen, die Walsers Vorstellungen bevölkern. Es muss Małgorzata Łukasiewicz zugestimmt werden, wenn sie scharfsinnig Folgendes formuliert: »Die Figuren bei Walser können unmöglich als wirkliche, lebende Menschen behandelt werden. Eine zufällige Charakteristik oder deren völliges Fehlen, undifferenziertes Sprechen, ungenügend motiviertes Verhalten, unerwartetes Verschwinden und Auftauchen – all das bestätigt die unaufhörliche Abhängigkeit der Figuren von dem Erzähler. Sie existieren nur, sofern hinter ihnen eine übergeordnete Instanz steht – jemand, der die Fäden zieht und dadurch die Puppen in Bewegung setzt.«10

An dieser Stelle sei wiederholt: Es handelt sich um ein intentionales Werk, dessen wechselhafter Sinn immer wieder neu verhandelt wird. Walsers Figuren bzw. seine Puppen besitzen keinerlei Willen oder Identität. Beides wird ihnen erst gegeben – durch den Autor im Akt des schöpferischen Schreibens, aber auch – oder vielleicht vor allem – durch den Leser bei der Lektüre, insbesondere wenn sie engagiert und bewusst verläuft. Der Leser zeichnet beabsichtigt oder unwillkürlich, bewusst bzw. nur teilweise bewusst für das Werk mit verantwortlich. Diesen Augenblick möchte ich gern einen Walserschen nennen: Er ist ein Jetzt, flüchtig und im Verschwinden begriffen wie der Schriftsteller selbst, der sein Leben und sein Werk stets als etwas Werdendes, Unfertiges, dem Gesetz der Veränderung Unterworfenes wahrnahm; ein wahrhaft modernes work in progress, das – polyphon und ohne deutliche Umrisse – jeder Chronologie und jeder Linearität trotzt. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der literarische Text dank dieser Eigenschaft offen und empfänglich für jede Art von Grenzüberschreitung ist. Benjamins »Bedeutung des Schreibens« wird um Sinngebungen erweitert, die 10 Łukasiewicz, Małgorzata: Robert Walser. Warszawa: Czytelnik 1990, S. 71.

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dem Werk beim aktiven, engagierten Lesen verliehen werden; zu der Sprache kommen ihr Verständnis und ihre Interpretation hinzu. Eine solche Einladung zum Lesen kann und muss radikal verstanden werden – man möge uns die Auffassung verzeihen, dass ohne den Leser und seine Lektüreergebnisse das Werk des Schweizers einem ein wenig ermüdenden, stellenweise redundanten Monolog gliche. Das hängt mit einer anderen Konsequenz der Verwendung des Präsens zusammen: Dem Schriftsteller liegt es daran, die menschliche Welt als nicht eindeutig, eher unfertig und werdend denn als vollendet zu zeigen. In der Rhetorik des Textes kommt das u. a. in der Expressivität der Bewusstseinsakte zum Vorschein: Das Bewusstsein ist bei Walser weder beständig noch verlässlich, sondern nimmt die Gestalt eines unendlichen Prozesses der Wirklichkeitsverarbeitung und Weltteilhabe an. In seiner Welt existiert kein reines, festes, souveränes Ich. Jedes Ich ist für immer derart in der Welt verankert, dass es ihr einen Sinn gibt, indem es sie endlos interpretiert und neuinterpretiert und in diesem hermeneutischen Prozess seine eigene Daseinsberechtigung findet. Dank des Präsens zeigt uns der Schriftsteller das Ich als etwas, was gewissermaßen erst zum Dasein berufen wird. Die von Walser gewissenhaft geschilderte Welt ist von Anfang bis Ende intentional, sie existiert gleichsam in Reserve, ist potenziell, vergegenwärtigt sich erst vor unseren Augen, wird in der Interpretation begreifbar und vollständig. Diesen Vorgang kann man in phänomenologischen Kategorien beschreiben, die den Prozesscharakter der Walserschen Wirklichkeit, aber auch ihre Unabgeschlossenheit und das Offene des Textes sichtbarer machen. Als aufmerksame, neugierige und denkende Leserinnen und Leser verleihen wir ihm diesen oder jenen Sinn. Walsers Werk steht für den für die Sensibilität der Moderne typischen phänomenologischen Moment, der sich durch das Fingerspitzengefühl dafür auszeichnet, dass die Welt ein Fragment sei und ununterbrochen interpretiert, bestimmt, vervollständigt werde. Einen natürlichen Hintergrund für ein solches Schaffen bilden die Untersuchungen Edmund Husserls, allem voran das Konzept des »intentionalen Bezugs« und die dazugehörigen und von dem Philosophen akzentuierten Postulate der Konstitution und Rationalisierung der umgebenden Welt. Dieses Thema will getrennt und eingehend behandelt werden; an dieser Stelle sei nur eine knappe, äußerst charakteristische Passage aus den »Logischen Untersuchungen« zitiert: »[…] daß die Gegenstände, die uns ›bewußt‹ werden, nicht im Bewußtsein wie in einer Schachtel einfach da sind, sodaß man sie darin bloß vorfinden und nach ihnen greifen könnte; sondern daß sie sich in verschiedenen Formen gegenständlicher Intention als das, was sie uns

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sind und gelten, allererst k o n s t i t u i e r e n «.11 Wird damit die Wirkung der hier besprochenen Kurzprosa nicht treffend umrissen? Die Idee des intentionalen Bewusstseins nimmt bei Walser die Form einer bestimmten Erzählpraxis an, beispielsweise der soeben erwähnten Verwendung des emphatischen unvollendeten Präsens. Die von ihm geschaffenen Figuren besitzen keine Vergangenheit, genauso wenig wenden sie sich einer Zukunft zu. Es fällt auch schwer zu sagen, ob sie nach einem Sinn ihres Daseins suchen – dieses ist ja kein Gegebenes, sondern ein im Werden Begriffenes. Walsers Protagonist wünscht sich nichts Konkretes, er strebt kein greifbares Ziel an. Sein Verschwinden gleicht dem Wunsch, die Existenz auf ein schlichtes, lokal begrenztes Hier und Jetzt zu reduzieren. (Giorgio Agamben assoziiert es mit der Zurückgezogenheit des Kopisten Bartleby bei Herman Melville, der die meisten Fragen mit »I would prefer not to« beantwortet.12) »Walsers eigentliche Zeitform ist der Augenblick«, wie Łukasiewicz treffend bemerkt.13 Jeden Augenblick leben, die Besonderheit eines jeden Augenblicks entdecken, den Augenblick erfinden und behandeln, als gebe es keine Präzedenzfälle und keine Zukunft – darauf stützt sich das Walsersche Credo. Dem Verfasser der »Mikrogramme« liegt es daher wenig am Erzählen herkömmlicher Geschichten mit einem Anfang und einem Ende. Der Bildungsroman als Genre interessiert ihn nicht. Er zeigt ins Präsens eingetauchte Figuren (selbst wenn im Präteritum erzählt wird), die ein 11 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Hamburg: Meiner 1992. Bd. 2, Teil 1, S. 169 (= Gesammelte Schriften. Bd. 3). 12 Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz – gefolgt von: Die absolute Immanenz. Übersetzt von Andreas Hiepko/Maria Zinfert. Berlin: Merve 1998. Agamben ist der Meinung, dass die Titelfigur Bartleby derselben »literarischen Konstellation« angehöre wie Akakij Akakijewitsch und Fürst Myschkin bei Gogol oder eben Walsers Simon Tanner. Der italienische Philosoph bezieht sich außerdem auf eine interessante Interpretation von Walter Lüssi: Die Walserschen Texte seien »Experimente ohne Wahrheit« und »reine Dichtung«, welche die Akzeptanz von etwas als etwas negiere (ebd., S. 47). Agamben denkt über Bartlebys charakterisierende Rückzugsgeste nach (»I would prefer not to«) und bemerkt darin den Moment einer fruchtbaren Unbestimmtheit; indem Melvilles Kopist jede Stellungnahme ablehne, enthülle er den Raum eines schöpferischen Zufalls und eines unendlichen Daseinspotentials. 13 Łukasiewicz, Małgorzata: Roberta Walsera przechadzki [Robert Walsers Spaziergänge]. In: Literatura na s´wiecie, 1975, H. 8, S. 169. Diesen Gedanken hat zuvor Benjamin formuliert (und die Autorin erwähnt es), allerdings nur beiläufig, ohne den Versuch zu unternehmen, den rasch hingeworfenen Gedanken zu verfolgen. Łukasiewicz geht weiter, sowohl in der bereits zitierten Monographie »Robert Walser«, als auch in der kleinen Skizze »Mała scena« [Kleine Szene] (in: »Rubryka pod róz˙a˛« [Das Rosenfeld]. Kraków: Znak 2007, S. 42–47). In der Monographie heißt es u. a.: »Neben vielen anderen Illusionen bringt einem die künstlerische Erfahrung die Fähigkeit bei, die Illusion des ewig anhaltenden menschengemachten Sinnes loszuwerden. Wenn die Kunst ewig sein kann, dann handelt es sich nicht um ein ruhiges, unerschütterliches Dauern, sondern um unendliche Augenblicke, in denen ein und derselbe Mechanismus den Sinn entstehen und wieder vergehen lässt.« (Łukasiewicz, Robert Walser. 1990, S. 77).

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weitgehend vorläufiges, provisorisches, improvisiertes Leben leben, wie es Walser selbst führte und wie es nun auch denjenigen zuteilwird, die seine Texte lesen. Walsers Geschichten bekommen daher dank des (grammatischen oder vermeintlichen) Präsens der Erzählung einen neuen und sehr oft unerwarteten Sinn – oder sie können ihn jedenfalls bekommen. Gemeint ist damit nicht nur das Wie des Erzählens und die Rhetorik. Dem Schweizer war es, so meine These, vor allem darum zu tun, den Lesenden in ein Spiel mit dem Text und um den Text einzubeziehen. Seine Grundregel lautet: Bei einer aktiven, intensiven Lektüre gewinnen die geschilderten Ereignisse und Figuren neue Bedeutungen, wodurch man entdeckt, dass das Werk erst dank des Lichts in Erscheinung tritt, mit welchem der Schriftsteller und der Leser einander gegenseitig beleuchten. Der Text an sich bedeutet noch keinen Ausweg und keinen Ausgang aus dem tautologischen Kreis des sprachlichen Selbstbewusstseins. Er wird dazu erst dank einer Intention, im Raum des Mitverständnisses. Seinerzeit fand Wolfgang Iser überzeugende Worte für die Behauptung, dass die Intention des Textes vor allem in der »Vorstellungskraft des Lesers« bestehe: »Die Leerstellen machen den Text adaptierfähig und ermöglichen es dem Leser, die Fremderfahrung der Texte im Lesen zu einer privaten zu machen. Privatisierung von Fremderfahrung heißt, daß es die Textbeschaffenheit erlaubt, bisher Unbekanntes an die eigene ›Erfahrungsgeschichte‹ (S.J. Schmidt) anzuschließen. Dies geschieht durch das Generieren von Bedeutung im Leseakt. Zugleich entsteht für den Text in diesem Akt eine jeweils individuelle Situation. Fiktionale Texte sind bekanntlich mit wirklichen Situationen nicht identisch; sie verfügen nicht über eine reale Deckung. In dieser Hinsicht wären sie […] beinahe situationslos zu nennen. Doch gerade diese Offenheit befähigt sie dazu, viele Situationen zu bilden, die jeweils in der Lektüre durch den Leser hergestellt werden. Nur im Leseakt ist die Offenheit der fiktionalen Texte festzumachen.«14

Es lohnt der Hinweis, dass diese etwas abstrakten und theoretischen Formulierungen ebenfalls einen existenziellen Sinn haben. In den zitierten Sätzen ist beispielsweise von Herstellen, Realität und wirklichen Situationen die Rede. Gemeint ist ein selbstbewusstes und möglichst intensives Leben, das Augenblicken des Begreifens und der Interpretation, der Vorstellungskraft des Lesers und seiner Sensibilität entspringt – eines Lesers, von dem erwartet wird, dass er für die Zeit der Lektüre den Teufelskreis seiner Erwartungen, Gewohnheiten und reflexartigen Reaktionen durchbricht. Wir sprechen von Impulsen und Prozessen, die in Walsers Schaffen deutlich präsent sind – nicht explizit und nicht direkt, sondern eher in potentia, als eine Art Herausforderung und Aufgabe für das unruhige, suchende Bewusstsein. Bei Walser stößt man immer wieder auf »si14 Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von Rainer Warning. Vierte Auflage. München: Fink 1994, S. 249.

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tuationslose Situationen« (Iser): abgeschlossene Episoden, die – realistisch und doch seltsam unwirklich – an Sackgassen oder Spiegelkabinette erinnern. Es handelt sich, dies sei erneut unterstrichen, um eine erzählerische Situationslosigkeit, um eine Inzucht der Sprache der Erzählung, die in der sichtbaren Neigung zum Modus des Monologischen zum Vorschein kommt. Das distinktive Merkmal der Walserschen Monologe besteht allerdings in der Ambivalenz der Bedeutungen und der Offenheit für anderweitig herkommende Sinngebungen; dadurch können in seiner Prosa Momente der Suche, des Verstehens und des Vorstellens möglicher Situationen oder denkbarer Fortsetzungen ausgemacht werden; die Aufmerksamkeit wird auf das unendliche Potential der Gegenwart gelenkt. Die Schlüsselrolle spielt dabei eine sorgfältige Lektüre: das Verständnis des Textes, aber auch das Selbstbewusstsein und die Offenheit für die Veränderlichkeit von Bedeutungen und Bezügen. Zum Schluss sei noch ein anderer interessanter Kontext angesprochen. In »Das Denken« (geplant als erster Teil einer Trilogie zu den grundsätzlichen Aspekten des Geisteslebens) schreibt Hannah Arendt über die – in ihren Augen schwer aufspürbare und alles andere als offensichtliche – »dialogische Struktur« des Denkens.15 Ihrer Meinung nach trete die dialogische Dimension im engagierten Denken und nur als Effekt eines vertieften, selbstbewussten Überlegens in Erscheinung. In seinem Ausgangspunkt sei das Denken eine äußerst merkwürdige Tätigkeit. Scheinbar natürlich, bestehe es jedoch aus ineinander verknoteten Widersprüchen und Paradoxien. Die Denkprozesse seien meistens tautologisch: permanent selbstbezogen und gefangen in Endlosschleifen. Gleichzeitig könne aber gerade dank ihrer Selbstbezogenheit der Sinn der Wirklichkeit aufgedeckt und begriffen werden. Die Dinge selbst seien unwirklich, abgetrennt, wesenlos. Um das zu veranschaulichen, beruft sich Arendt auf einige Bilder van Goghs und die frühe Prosa Kafkas und bemerkt: »diese Kunstwerke sind Gedankendinge, und sie gewinnen ihren Sinn […] gerade der Verwandlung, die sie als Gegenstand des Denkens erfahren haben«.16 Geben diese Worte nicht auch unsere Eindrücke bei der Lektüre von Walsers Texten wieder? Situationen, die er beschreibt, haftet etwas Irreales und Klaustrophobes an, doch sie zwingen den Leser dazu, ihnen bestimmte Bedeutungen zuzuschreiben. Eine solche Verdoppelung beim Lesen (man liest und gestaltet zugleich den Sinn des Gelesenen mit; man erinnere sich hier bitte an das über den Gebrauch des Präsens Gesagte) ist nichts anderes als ein vertieftes Denken – eine intensivere Aufmerksamkeit, die nicht allein auf das Dasein, sondern auch auf das eigene Verständnis davon gerichtet ist. Ich behaupte nicht, dass der Schweizer Schriftsteller diesen Aspekt bewusst erkannt 15 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Hrsg. von Mary McCarthy. Übersetzt von Hermann Vetter. München/Zürich: Piper 2002, S. 183. 16 Ebd., S. 184.

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hat. Eins darf man aber nicht vergessen: Literarische Texte beziehen ihre Berechtigung nicht nur aus der Intention der Verfasserin oder des Verfassers. In ihnen kommt auch das Unbewusste oder das kaum Bewusste zum Ausdruck, das allerdings als Interpretation, im Raum zwischen Autor und Leser, artikuliert werden kann. Ein Duett also: der Autor und sein Leser. Aber ebenfalls ein Duett des Autors mit sich selbst: Er schreibt und liest das Geschriebene (sei es bloß still für sich). Dasselbe betrifft den Leser: Er interpretiert und gestaltet dadurch das Werk mit. Die Rede ist, im Grunde genommen, von einer banalen Leseerfahrung. Walsers Leser entdecken früher oder später, dass sich vor ihnen jeder seiner Texte öffnet und zu einem stummen Gedankengespräch einlädt. Dieser Eindruck steigert sich von Lektüre zu Lektüre – zustande kommen Begegnungen, bei denen man zwar durchaus beobachtet, aber nicht weniger auch schauspielert und die Verantwortung für das Gelingen des Stückes mitträgt. In Walsers Texten gibt es immer einen Platz für den Leser – natürlich muss er aufmerksam und engagiert agieren. Es sei noch einmal betont, dass diese Art der Verdoppelung, wie sie hier geschildert wird, ein dynamisches, aktives Lesen fördert, bei dem das Denken nie stillsteht (und es wohl nicht einmal könnte). Arendt bezeichnet dieses als »stummes Zwiegespräch« und charakterisiert es wie folgt: »Das Denken begleitet das Leben und ist selbst die entmaterialisierte Quintessenz des Lebendigseins; und da das Leben ein Vorgang ist, kann seine Quintessenz nur im aktuellen Denkvorgang bestehen und nicht in irgendwelchen festen Ergebnissen oder speziellen Gedanken.«17 Derart klare und unmittelbare Feststellungen sucht man bei Walser vergeblich; man darf allerdings nicht vergessen, dass wir es mit einem widerspenstigen Fabulierer und einem Schöpfer ausgedachter Welten zu tun haben. Einige Hinweise gehen wohl aber von den Walserschen Protagonisten aus. So stellt Simon Tanner, ein für Walsers Werk typischer Freigeist, der sich nirgendwo dauerhaft niederlassen kann, eines Tages fest: »Ich glaube, das Leben will anderes von mir, hat anderes mit mir vor. Es läßt mich alles lieben, was es nur an Erscheinungen mir zuwirft.«18 Das mag die Stimme des Autors selbst sein; eine ungewöhnlich selbstsichere Stimme spricht Sätze aus, die zu dem Verfasser der »Mikrogramme« passen würden. Sie enthalten die in meinen Augen bedeutendste Lektion, die uns der Schweizer erteilt: Das Leben ist eine Frage und wir sind dabei, sie ununterbrochen zu beantworten und darin den Sinn unseres Daseins und unseres Denkens zu finden. Nicht mehr und nicht weniger. Fassen wir zusammen: In Texten, die Walsers Handschrift tragen (sowohl in der Kurzprosa – Minigeschichten, Mikrogrammen, einaktigen Denkbildern – als 17 Ebd., S. 190 (die Formulierung »stummes Zwiegespräch« findet sich auf S. 189). 18 Walser, Robert: Geschwister Tanner. Frankfurt/Zürich: Suhrkamp 1985, S. 84 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 9).

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auch in den Romanen), begegnen uns eine kunstvolle sprachliche Struktur und eine große, auf stilistische Wirkungen bedachte Sorgfalt. Der Schriftsteller geht dabei äußerst diskret und sparsam vor. Beim erstmaligen Lesen können seine Werke einen unscheinbaren, nichtigen, gar trivialen Eindruck machen. Werden sie aber aufmerksam, unter Beachtung der rhetorischen Mittel gelesen, fällt schnell das hervorragende Gespür des Autors für die sprachlichen Nuancen auf: für den Rhythmus des Satzes, die Rhetorik der Aussage, die Betonungen im Wort und in der Phrase. Walser ist ein Meister der Form und liefert mit seinen Werken Beispiele für ein meisterhaft beherrschtes schriftstellerisches Handwerk sowie für sein stilistisches Feingefühl. Er versteckt sich, wenn man so will, mit Vorliebe hinter der Sprache, als wolle er uns und sich selbst ausschließlich Worte hinterlassen. Eine genauso große – wenn nicht größere – Bedeutung kommt in Walsers Schaffen dem Moment zu, durch den sich die Lektüre mithilfe formaler Griffe und Tricks (sei es die Verwendung einer anderen Zeitform, sei es ein Wechsel der Erzählperspektive) auf wesentliche existenzielle Erfahrungen öffnet, an denen nicht nur der Schriftsteller, sondern auch wir teilhaben. Die seinen Texten zugrunde liegende fundamentale Erfahrung beruht meines Erachtens auf dem Drama eines Ich, welches nach Sanktionen für seine Existenz sucht; dieses Drama nimmt mal die Form eines Dialogs mit dem Leser, mal die eines »inneren Dialogs« an, der sich im Bewusstsein fiktiver Figuren oder manchmal auch des in sie schlüpfenden Autors abspielt. Man kann sagen, dass sich der Akt des Schreibens und derjenige des Lesens auf diese Art und Weise mit einem Denkprozess decken – einem verdoppelten und daher besonders intensiven und selbstbewussten Denkprozess; einem, der keine Entscheidungen herbeiführt, dies sei hinzugefügt, denn Entscheidungen würden dem Lesen und dem Denken ein Ende setzen. In ihrem Buch schreibt Hannah Arendt: »Diese Dualität zwischen mir und mir macht das Denken zu einer wirklichen Tätigkeit, in der man gleichzeitig der Fragende und der Antwortende ist. Das Denken kann dialektisch und kritisch werden, weil es durch dieses Fragen und Antworten hindurchgeht, durch den Dialog, […] der eigentlich ein ›Hindurchgehen durch Worte‹ ist«.19 Es leuchtet wohl ein, dass ich diese Feststellung auf Walsers Werk beziehen möchte. Ja, sein Schaffen ist eine in weiten Teilen sprachliche Unternehmung, deren Potenzial erlaubt es aber, die Sprache und die Schrift hinter sich zu lassen. Kommt bei Walser der Wille, unsichtbar zu werden, in der Minimalisierung von Ausdrucksmitteln (kleine Buchstaben, kleine Hefte, kleine Prosa) zum Vorschein, nimmt der weniger offenkundige Moment der Offenheit die Form einer Einladung zur Mitgestaltung des Werkes an. Wir erhalten die Einladung zum Hindurchgehen, während dessen wir Zeuge werden, wie eine Welt der Sinngebungen 19 Arendt, Vom Leben des Geistes. 2002, S. 184.

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entsteht – nicht nur in dem gelesenen Text, der dadurch belebt wird, sondern auch in dem Raum zwischen uns und dem Schriftsteller.

Daniel Pietrek (Uniwersytet Opolski)

Annäherungen an die Masken eines Dichters1 – Robert Walsers »Der Spaziergang« »Ich traute mir nicht recht, aber ich glaube mir«, rede ich zu mir selber, und ich werde ja erleben, wie sich dieser Spaziergang ins Gebiet meines Erlebnisses hinein entwickeln wird, das mich problemhaft, mit den rätselhaften Augen des noch nicht Gelöstseins, anschaut, und das auch ich ähnlich anschaue.2

1.

Einordnungs(ver)Suche

Robert Walser gehört zu den deutschsprachigen Schriftstellern, die einerseits sehr prominente Verfechter hatten, deren Aufzählung schon Eindruck macht: Robert Musil, Walter Benjamin, Franz Kafka, Susan Sonntag, W.G. Sebald, Elfriede Jelinek…, andererseits tun sich die deutschen Literaturgeschichten sehr schwer mit seiner nicht einfachen Einordnung und räumen ihm doch erstaunlich wenig Beachtung und Platz ein. Die »Deutsche Literaturgeschichte« von J.B. Metzler (2013) – worauf bereits hier in diesem Band Paweł Marcinkiewicz aufmerksam macht – widmet ihm eine halbe Seite und situiert ihn (unter der Überschrift »Jenseits literarhistorischer Kategorien und nationaler Grenzen« an »die Seite« von Regina Ullmann und in eine Affinität zu Franz Kafka und Heinrich Mann3. In dem sehr guten Lehrbuch »Avantgarde und Moderne 1890– 1933« von Walter Fähnders erfahren die Leser zu Robert Walser, dass die »Unsicherheiten der Expressionismus-Forschung sich exemplarisch bei Zuordnungsfragen [zeigen] – bezogen auf Heinrich Mann oder Robert Walser, der gelegentlich umstandslos dem Expressionismus zugeschlagen wird. Das gilt insbesondere für Franz Kafka, bei dem die Zuordnung zum Expressionismus gänzlich umstritten«4 ist. Diese Diskrepanz wurde 2015 durch die Herausgabe

1 Vgl. dazu das Umschlagbild und die Grafik von Tomasz Pietrek: »Annäherungen an die Masken eines Dichters«. In: Pietrek, Daniel: Ich erschreibe mich selbst. (Autor)Biografisches Schreiben bei Horst Bienek. Dresden: Thelem 2012. 2 Walser, Robert: Zarte Zeilen. Prosa aus der Berner Zeit 1926. Hrsg. von Jochen Greven. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 87 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 18). 3 Vgl. dazu: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, S. 385. 4 Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Stuttgart: J.B. Metzler 1998, S. 178.

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eines Robert Walser Handbuches5 in der Metzler Reihe »Personen-Handbücher. Leben – Werk – Wirkung« noch verstärkt. Dort zitiert Lucas Marco Gisi die Aussage von W.G. Sebald, der in Bezug auf Walser einerseits von einer »chronischen Erfahrungsarmut« sprach und andererseits von einer Überlieferung, die weniger »Biografie« als »Legende« [Hervorhebung D.P.] sei.6 Denn Robert Walser sei in seinem Werk in geradezu paradoxer Weise gleichzeitig präsent und vollkommen verborgen. Die Verflechtung von Leben und Werk geht in seinem Fall nicht nur auf eine dadurch entsprechend etablierte Rezeptionshaltung zurück, sondern liegt an seinem eigenartigen Darstellungsverfahren, und dieser Bezug wird in Walsers Texten ständig thematisiert.7 Diese »problematischen« Einordnungsversuche, sein Legendensein, seine autoreferenzielle Schreibweise, die Tatsache »Geheimtipp« anderer Autoren zu sein, und die (für diesen Aufsatz so wichtige) Strategie des Spaziergangs als einer erschriebenen Autorschaft8 stellt Walser in eine Affinität zu anderen Autoren der deutschen Literatur, hier vor allem zu Georg Büchner9 und Friedrich Hölderlin. Vor allem ist der zweite der genannten Autoren (Hölderlin) interessant, weil die erwähnten Aspekte (Verflechtung von Leben und Werk, Legende, »eigenartige Schreibweise«10, Einordungsversuche) in seiner Rezeption eine fundamentale Rolle spielten, und weil Walser selbst über Hölderlin schrieb. Als Hans-Georg Gadamer vor der Hölderlin-Gesellschaft sprach, ordnete er den Tübinger Dichter wie folgt ein und fragte zugleich: »So sind wir sicherlich alle gemeinsam vor die Frage gestellt: Was hat neben dem glühenden Atem Schillerschen Freiheitspathos und seiner dichterischen Rhetorik, und neben der für uns alle immer wieder unfaßlichen Gelassenheit des dichterischen Genius 5 Gisi, Lucas Marco (Hrsg.): Robert Walser-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2015. Auf der Internetseite des Verlags wird diese Herausgabe u. a. folgendermaßen begründet: »Robert Walser gilt heute als einer der wichtigsten Prosa-Autoren des 20. Jahrhunderts. Obwohl er mit seinen Romanen ›Geschwister Tanner‹, ›Der Gehülfe‹ und ›Jakob von Gunten‹ in Literatenkreisen früh eine gewisse Bekanntheit erwarb, bewegte sich Walser Zeit seines Lebens an den Rändern der Gesellschaft und gelangte erst postum zu internationalem Ruhm«. (Zugriff am 10. 09. 2019). 6 Sebald, Winfried Georg: Le promeneur solitaire. Zur Erinnerung an Robert Walser. In: ders.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. München/Wien: Hanser 1998, S. 127–168; zitiert in: Gisi (Hrsg.), Robert WalserHandbuch. 2015, S. 2. 7 Gisi (Hrsg.), Robert Walser-Handbuch. 2015, S. 1. 8 Vgl. dazu: Pietrek, Ich erschreibe mich selbst. 2012. 9 Dazu später mehr. Zu diesem Thema vgl. vor allem: Niccolini, Elisabetta: Der Spaziergang des Schriftstellers. Lenz von Georg Büchner. Der Spaziergang von Robert Walser. Gehen von Thomas Bernhard. Stuttgart: J.B. Metzler 2000. 10 Vgl. als Beispiel: Schmidt, Jochen: Hatte Hölderlin eine persönliche Orthographie? In: Hölderlin-Jahrbuch 1994–1995. Bd. 29. Hrsg. von Bernhard Böschenstein/Ulrich Gaier. Stuttgart: J.B. Metzler 1995, S. 283–284.

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von Goethe – was hat diesen dritten großen Dichter deutscher Sprache fast auf dieselbe Stufe von Gegenwärtigkeit gehoben, oder mindestens dazu geführt, daß wir, die wir hier versammelt sind, ihn dieser Gegenwärtigkeit würdig finden?«11

Und die von Gadamer selbst erteilte Antwort lautete: »Wenn ich diese Frage stelle, so glaube ich sagen zu dürfen, daß hierein Geheimnis des Wortes, das, was wir das Leiden am Suchen des Ausdrucks nennen könnten, im Spiele ist. Keiner unserer großen Dichter sonst hat so das Wort immer wieder fast stammelnd gesucht und die Suche immer wieder verzweifelt abgebrochen. Keiner von allen unseren Dichtern sonst war so wie er durchdrungen von der Unfähigkeit, der Unmöglichkeit, das zu sagen, was zu sagen ihm vorschwebte.«12

Sowohl die verspätete literaturgeschichtliche Würdigung wie auch die Begründung, die auf »das Geheimnis des Wortes« abzielte, lassen sehr viele Parallelen zu Robert Walser ziehen. Walser selbst hat über Hölderlin in seinem »Poetenleben« von 1917 geschrieben. Wichtig (nicht für diesen Aufsatz) ist die Tatsache, dass bei Walser diese Prosasammlung unmittelbar nach dem »Spaziergang« entstand, und in diesem Band (»Poetenleben«) die literarische Aufhebung der Differenz zwischen Leben und Schreiben leitend geworden ist13, die in der Retrospektive als bewusste Projektion aufzufassen ist: Die Lebensbeschreibung wird zur Lebenserschreibung.14 Und genauso gewichtig ist die Positionierung des HölderlinPorträts in dem Band selbst: am Ende, unmittelbar vor dem abschließenden, resümierenden Titeltext »Poetenleben«. In Fragmenten über Hölderlin, wie: »Schicksalgewaltige Hände rissen ihn aus der Welt und ihren für ihn zu kleinen Verhältnissen über des Erfaßbaren Rand hinaus, in den Wahnsinn, in dessen lichtdurchfluteten, irrlichterreichen, holden, guten Abgrund er mit Gigantenwucht hinabsank, um in süßer Zerstreutheit und Unklarheit für immer zu schlummern«15, wird die Grenze verwischt, wer das eigentliche Subjekt der Beschreibung ist. Ist es immer noch ein Porträt Hölderlins, Walsers eigenes, oder beides zugleich? Und liest man diese Fragmente mit der Kenntnis der Biografie

11 Gadamer, Hans-Georg: Die Gegenwärtigkeit Hölderlins. In: Hölderlin-Jahrbuch 1982–1983. Bd. 23. Hrsg. von Bernhard Böschenstein/Gerhard Kurz. Tübingen: J.C.B. Mohr 1983, S. 179. 12 Ebd. 13 Utz, Peter: Erschriebenes Leben. Ist Robert Walsers Poetenleben eine »Autofiktion«? Zitiert in: Sorg, Reto: Selbsterfindung als Wirklichkeitstheorie. Zu Robert Walsers nachgelassener »Tagebuch-Erzählung« aus dem Jahre 1926. Zitiert in: »Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa«. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen. Hrsg. von Anna Fattori/Kerstin Gräfin von Schwerin. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 114. 14 Sorg, Reto: Selbsterfindung als Wirklichkeitstheorie. Zu Robert Walsers nachgelassener »Tagebuch-Erzählung« aus dem Jahre 1926. In: Fattori (Hrsg.)/Schwerin (Hrsg.), »Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa«. 2011, S. 114. 15 Walser, Robert: Poetenleben. Hrsg. von Jochen Greven. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 118 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 6).

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Walsers, so bezieht man das Gelesene eben nicht nur auf Hölderlin, sondern, vielleicht sogar noch stärker, auf Walser selbst: »Du willst und kannst nicht wohl sein. Wohlsein ist dir zu klein, und der Frieden in der Abgegrenztheit ist dir zu gemein. Alles ist dir und wird dir ein Abgrund, ein Grenzenloses. Die Welt und du sind ein Meer. […] So redete sie zu ihm. Hölderlin ging dann aus dem Hause fort, trieb eine Zeitlang noch in der Welt umher und fiel darauf in unheilbare Umnachtung.«16

2.

Theoretischer Rahmen

»Robert Walsers Leben steht in seinen Büchern. Die Legende, zu dem es sich verdichtet hat, ist im Wortsinn etwas »zu Lesendes«; sie steht im Werk»17. Doch, wie dies folgerichtig Peter Utz fragt, wie ist es denn zu lesen? Das gegenwärtige und avantgardistische Potenzial der Walserschen Literatur18 äußert sich u. a. darin, dass erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. der theoretische Apparat präzise Werkzeuge bereitgestellt hat, mit denen sich diese Literatur besprechen und analysieren lässt. Denn schaut man auf die Verflechtungen in der Autorschaft Walsers, so erinnert man sich sogleich an den berühmten Vortrag Michel Foucaults »Was ist ein Autor« aus dem Jahr 1969, in dem sich Foucault nicht nur mit der Autorschaft und dem damit verbundenen Werkkonzept auseinandersetzt, sondern auch die elementare Frage formuliert, die sich bei jeder Nachlass-Erschließung zwangsläufig stellt und für ein Werk, wie das von Walser fundamental ist: »›Was ist ein Werk?‹ Was ist das für eine komische Einheit, die man mit dem Namen Werk bezeichnet? Aus welchen Elementen besteht es? Ist ein Werk nicht das, was der geschrieben hat, der Autor ist? Man sieht Schwierigkeiten auftauchen. Wenn nicht ein Individuum Autor wäre, könnte man dann sagen, daß das, was es geschrieben oder gesagt hat, das, was es in seinen Papieren hinterlassen hat, das, was man aus seinen Äußerungen anführen kann, »Werk« genannt werden könnte? Wäre also Sade kein Autor, was wären dann seine Papiere? Papierrollen, auf denen er während seiner Gefängnistage endlos seine Wahnvorstellungen entrollte. Aber nehmen wir an, daß man es mit einem Autor zu tun hat: ist alles, was er geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werkes? Ein zugleich theoretisches und technisches Problem. Wenn man zum Beispiel an die Veröffentlichung der Werke Nietzsches geht, wo soll man Halt machen? Man soll alles veröffentlichen, ganz sicher, aber was heißt denn dieses »alles«? Alles, was Nietzsche selbst veröffentlicht hat, 16 Ebd., S. 119–120. 17 Utz, Erschriebenes Leben. 2011, S. 27. 18 Vgl. dazu den Aufsatz von Paweł Marcinkiewicz in diesem Band.

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einverstanden. Seine Werkentwürfe? zweifellos. Aphorismusprojekte? Ja. Aber wenn man in seinem Notizbuch voller Aphorismen einen Bezug, einen Hinweis auf ein Rendez-vous oder eine Adresse oder eine Wäschereirechnung findet: Werk oder nicht Werk? Aber warum nicht? Und so weiter ad infinitum. Wie kann man aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterläßt, ein Werk bestimmen?«19

Und diese Überlegungen sind im Falle Walser keineswegs ›theoretischer‹ Art, sondern eine der größten Herausforderungen bei der Einordung seines Werkes, wenn man die »Mikrogramme«20 oder das »Tagebuch-Fragment von 1926« als prominenteste Beispiele nimmt. Zu der Veröffentlichungsgeschichte des letzteren Textes berichtet Reto Sorg, diesen Text, wie auch den Großteil des Berner Spätwerks, habe Walser als »Mikrogramm« entworfen, also mit Bleistift »in einer rätselhaften nur von Spezialisten zu entziffernden Kleinstschrift zu Papier gebracht«21. Weil Walser den Entwurf mit Tinte ins Reine schrieb, nehme man an, dass er eine Veröffentlichung erwog. Die 53 handschriftlichen Seiten blieben jedoch »aus nicht, näher bekannten Gründen«22 liegen. Erst nach Walsers Tod 1956 bildete der Text einen Teil des Nachlasses und wurde von Jochen Greven in der Ausgabe des Gesamtwerks erstmals publiziert und, da es einen autorisierten Titel nicht gegeben hat, wählte der Herausgeber den Titel »Tagebuch-Fragment von 1926«, weil die provisorische Überschrift »Tagebuch (über Frauen)« Carl Seelig (einem Vertrauten Walsers) nicht zutreffend erschien. Die Überlegungen Foucaults darüber, was denn ein »Werk« eines Autors ausmacht, führen aber gleich zu der noch fundamentaleren Frage (auch für das Werk von Walser): »Die Formulierung des Themas, von dem ich ausgehen möchte, übernehme ich von Beckett: ›Wen kümmert’s, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert’s, wer spricht‹. In dieser Gleichgültigkeit muß man wohl eines der ethischen Grundprinzipien heutigen Schreibens erkennen. […] Ich bin jedoch nicht sicher, ob man auch rigoros alle notwendigen Konsequenzen aus dieser Fragestellung gezogen und ob man das Ereignis in seiner Tragweite ganz erkannt hat. Genauer gesagt, es scheint mir, daß eine Reihe von Begriffen, die heute das Privileg des Autors ersetzen sollen, es eigentlich blockieren und das umgehen, was im Grunde ausgeräumt werden sollte.[…] Als Leeraussage zu wiederholen, daß der Autor verschwunden ist, reicht offenbar nicht aus. […] Was man tun müßte, wäre, den durch das Verschwinden des Autors freigewordenen Raum ausfündig zu machen, der Verteilung der Lücken und Risse nachzugehen und die freien Stellen und Funktionen, die dieses Verschwinden sichtbar macht, auszukundschaften.«23 19 Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko. Stuttgart: Reclam 2000, S. 205. 20 Walser, Robert: Mikrogramme. Hrsg. von Lucas Marco Gisi/Reto Sorg/Peter Stocker. Berlin: Suhrkamp 2011. 21 Sorg, Selbsterfindung als Wirklichkeitstheorie. 2011, S. 112. 22 Ebd. 23 Foucault, Was ist ein Autor?. 2000, S. 202–208.

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Es geht um die – auch besonders für das Werk Robert Walsers – zentrale Fragenach der Verteilung der Lücken und Risse innerhalb des Autorschafts-Konzepts, um die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit, zwischen dem, was innerhalb einer diskursiven Formation sagbar und dem, was nicht sagbar ist. In dieser Perspektive zeigt sich das »Unsichtbare des substantiellen Autor-Prinzips als diskursive Autorfunktion«24, denn der Autor ist »keine unendliche Quelle von Bedeutungen, die das Werk erfüllen, der Autor geht dem Werk nicht voraus«25. Michel Foucault macht auf ein dichtes konzeptionelles Netz aufmerksam, in das ein Werk eingesponnen ist und von dem es getragen wird: Zahlreiche Elemente einer Konzeption von Werkhaftigkeit erhalten ihren spezifischen Sinn und ihre besondere Funktion also erst dann, wenn sie im Kontakt mit anderen historischen Erscheinungen zu einer wechselseitigen Absicherung führen. So kommt der Kategorie des Autors und des Namens, an den er das Werk bindet, entscheidende Bedeutung zu: Der »Autor« und das, was zu ihm gehört, entscheiden darüber, was ein Werk ausmacht. Dies geschieht in einer abgestuften Art und Weise, die den Werkstatus von Texten durch unterschiedliche Attraktionskraft des Autors und seines Namens sichert.26 Foucault macht darauf aufmerksam, dass dabei Machtprozesse ablaufen, die den Autor zur variablen Größe im Spektrum von Funktion und Ideologie bei der Sinnfindung machen. Der Erkenntnisgewinn besteht in der »Verhandelbarkeit der Autorposition, was ihr einen Absolutheitsanspruch nimmt, sie aber doch noch als möglich belässt«.27 Wie dies Heribert Tommek folgerichtig zusammenfasst, versteht Foucault offenbar unter »Autor-Position« die anonyme Positionierung eines Verfassers hinsichtlich des von ihm vertretenen Autor-Bildes bzw. seines poetologischen Verständnisses in einem diskursiven Feld. Die in den Texten zum Ausdruck kommenden »Autor-Positionen« seien nicht frei wählbar, sondern von den jeweils herrschenden Diskursregeln vorgezeichnet. Es scheine Foucault unterscheide zwischen »Autorfunktion« und »Autor-Position«: »Letztere scheint sich von ersterer zu emanzipieren und eine neue »Position« der diskursiven 24 Tommek, Heribert: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin: De Gruyter 2015, S. 29–31, hier S. 29. 25 Foucault, Was ist ein Autor?. 2000, S. 228. 26 Vgl. Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin: De Gruyter 2007, S. 42–43. 27 Kleinschmidt, Erich: Autor und Autorschaft im Diskurs. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein/Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta. Tübingen: De Gruyter 2004, S. 10. Vgl. dazu auch: Pietrek, Ich erschreibe mich selbst. 2012, S. 15– 35.

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Sicht- oder Sagbarkeit zu begründen»28. Daraus resultiert für mich eine Auffassung der »Autorschaft«29, unter der ich ein Dispositiv von medialem Rahmen, materiellen Bedingungen und gesellschaftlich akzeptierten Rollenmustern in ihrem jeweiligen Traditionsverhältnis und ihrer individuellen Inszenierung verstehe.30 Für »Den Spaziergang« Robert Walsers ist noch ein Ansatz Michel Foucaults interessant, der in seiner Idee von »Technologien des Selbst« auf die Verbindung zwischen Schreib- und Subjektivierungstechniken aufmerksam macht.31 Dabei geht er von dem Grundsatz aus, dass das moderne Subjekt in seiner gesellschaftlichen Stellung und seinem Selbstbezug als Produkt von Machtprozessen anzusehen sei, die es zu einem Unterworfenen, aber auch zu einem sich selbst Unterwerfenden machen. Foucault stellt sich mit dieser Annahme der traditionellen philosophischen Anthropologie entgegen, die den Menschen als Geschöpf Gottes, als »animal rationale«, aber auch als autonomes Wesen betrachtet.32 In Foucaults frühen Schriften wird demgegenüber zunächst untersucht, wie das Subjekt zu einer bestimmten Wahrheit gezwungen wird bzw. wie »wahre« Aussagen über das Subjekt zustande kommen; später33 beschäftigt sich Foucault immer detaillierter mit dem Subjekt selbst und gelangt schließlich in seinen Schriften »Hermeneutik des Subjekts«34 und »Technologien des Selbst«35 zu der Frage, wie das Subjekt sich selbst in ein Verhältnis zur Wahrheit stellen kann. Dabei bezieht sich Foucault in der Hermeneutik-Vorlesung auf die Psychoanalyse Lacans,36 der die Frage nach der Beziehung zwischen Subjekt und Wahrheit ebenfalls ins Zentrum stellt und laut Foucault versuchte:

28 Tommek, Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. 2015, S. 31. 29 Pietrek, Ich erschreibe mich selbst. 2012. 30 Zu dieser »Autorschaft«-Definition vgl. Schmitz, Walter: Das Haus Wiesenstein. Gerhart Hauptmanns dichterisches Wohnen. Dresden: Thelem 2009, S. 9–12, 341. 31 Vgl. auch Marszałek, Magdalena: Das Leben und das Papier. Das autobiographische Projekt Zofia Nałkowskas »Dzienniki« 1899–1954. Heidelberg: Synchron 2003, S. 55–65. 32 Horn, Christoph: Ästhetik der Existenz und Selbstsorge. In: Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken. Hrsg. von Marcus S. Kleiner. Frankfurt/Main: Campus 2001, S. 137. Vgl. auch: Pietrek, Ich erschreibe mich selbst. 2012, S. 15–28. 33 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986; Ders.: Sexualität und Wahrheit. Bd. 3: Die Sorge um sich. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986. 34 Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. 35 Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: Foucault, Michel: Technologien des Selbst. Frankfurt/Main: S. Fischer 1993, S. 24–62. 36 Foucaults Vorlesung kann als Gegenentwurf zur psychoanalytischen Theorie der Subjektivierung gesehen werden, und er selbst hat sich weit von Lacan entfernt, der Ansatzpunkt beider Theorien ist aber ein gemeinsamer. Vgl. Sarasin, Philipp: Michel Foucault zur Einführung. Dresden: Junius 2005, S. 187–197, hier S. 191.

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»die Frage zu stellen, die historisch exakt die spirituelle ist: die Frage nach dem Preis, den das Subjekt dafür zu zahlen hat, dass es die Wahrheit sagt, und die Frage nach der Wirkung des Aussprechens der Wahrheit auf das Subjekt, die Wirkung der Tatsache, dass es die Wahrheit über sich selbst gesagt hat und sagen kann.«37

Der Ausgangspunkt ist für Foucault und Lacan der gleiche – die von der Moderne verdrängte »Konversion« des Subjekts im Hinblick auf die Wahrheit; Foucault geht davon aus, dass das Delphische Orakel »Erkenne dich selbst« nur dann zu verstehen ist, wenn man es in den Rahmen der »Sorge um sich selbst« einbettet. Das Subjekt kann sich nur dann selbst erkennen, wenn es sich durch die »techne tou biou«38, »eine Lebenskunst, eine Existenztechnik«, d. h. durch eine Palette von Selbstpraktiken als bewusstes und vor allem als bewusst handelndes selbst konstruiert.39 In antiken Modellen wird dem Prinzip »Werde, der du bist« gefolgt, die durch die Selbstpraktiken zu etablierende Identität wird also als Erfüllung oder Vollendung essentieller Anlagen des Individuums aufgefasst. Dieser Konzeption von der Selbstgestaltung als Wesensrealisierung steht bei Foucault die Auffassung von der radikalen Selbstschöpfung gegenüber: das Modell »Erfinde dich selbst«. Die individuelle Identität unterliege somit »in einem prinzipiellen Sinn der Präferenzautonomie des Individuums«.40 Bei jenen Selbst-Techniken, die unterschiedliche Formen der Subjektivität hervorbringen, weist Foucault ausdrücklich auch auf Verbalisierungs- und Verschriftlichungstechniken (darunter Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen) hin.41 Die Verbindung zwischen Selbsterkenntnis und Schreibtätigkeit, die schon im hellenistischen Zeitalter zu beobachten ist, wird also im Lauf der Zeit zu einer fundamentalen Technik der Selbsterkenntnis und Subjektivierung. Und auto(r)biografisches Schreiben wird zur wichtigsten Subjektivierungstechnik!42 Die konkrete materielle Form eines Textes ist nicht nur Zusatz des »Inhalts«, sondern bringt diesen »Inhalt« ebenso hervor, wie sie ihn in der Bewegung des Textprozesses selbst auch wieder unterlaufen kann – als Palimpsest ihrer Genese. Autobiografie hieße dann nicht »be-schriebenes, sondern ge-schriebenes Leben«.43 Auto(r)biografie kommt dagegen noch einen Schritt weiter und meint, es ist ein »erschriebenes Leben«. Dies gründet in der Annahme, Referenzialität und Textualität seien als Phänomene zu betrachten, die nicht nur im Widerspruch zu37 Foucault, Hermeneutik des Subjekts. 2004, S. 51f. Zitiert in: Sarasin, Michel Foucault zur Einführung. 2005, S. 191. 38 Sarasin, Michel Foucault zur Einführung. 2005, S. 193. 39 Ebd. 40 Horn, Christoph: Ästhetik der Existenz und Selbstsorge. In: Kleiner, Michel Foucault. 2001, S. 151–152. 41 Foucault, Technologien des Selbst. 1993, S. 24–62. 42 Marszałek, Das Leben und das Papier. 2003, S. 55–56. 43 Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart: J.B. Metzler 2000, S. 16.

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einander stehen, sondern unauflöslich aneinander gekoppelt sind, da kein Bezug auf einen Moment der Lebenswelt möglich ist, der nicht immer auch an ihrer Hervorbringung und Formung beteiligt wäre. Weder die »reine« Textualität ist die Antwort noch eine Auffassung von Sprache, die bedeutungskonstitutiv und nicht repräsentativ die Welt auf einen leeren Text reduzieren würde, der nur auf sich selbst zurückverweist. Es geht dabei nicht darum, mit dem Referenten wieder ein transzendentales Signifikant in den Text einzuführen, sondern um die textuelle Bedingtheit des Referenten, seinen prozessualen Charakter, seine Kontingenz44. So wie der Referent in der Autobiografie das Subjekt und seine Geschichte ist, geht es darum, die diskursiven Mechanismen zu beleuchten, aus denen Subjektivität und Geschichtlichkeit resultieren, aber nicht um sie endgültig festzuschreiben, sondern um sie weiter zu entfalten45 und somit ihren prozessualen Charakter zu bewahren.

3.

Der Spaziergang als Seismograph46 des Autors

Nach seinem Berliner Aufenthalt kehrt Walser 1913 in seine kleinbürgerliche Heimatstadt Biel zurück, wo er zum Einzelgänger wird, der in komplizierten finanziellen Verhältnissen lebend sehr viel Zeit mit Spazieren und Wandern verbringt. Auch wenn das Motiv des Gehens bereits frühere Texte des Autors (wie etwa »Geschwister Tanner«) prägten, so wird jetzt die Verbindung von Spazieren und Schreiben konsequent poetologisch als Erzählmodell angewendet und ist zugleich auch als ein Ausdruck veränderter Lebensumstände zu betrachten. Nicht ohne Grund tragen zehn Texte Walsers nach 1913 im Titel das Wort »spazieren«.47 Nun ist aber klar, dass es sich in diesen Texten nicht um konkrete, mimetisch aufzufassende Spaziergänge handelt. Elisabetta Niccolini führt aus, das Bild des literarischen Spazierganges enthalte die Frage nach dem Wesen des Schreibens, allgemeiner nach dem Werden der Kunst und zwar in Bezug auf die »Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Mimesis des Lebens im schöpferischen Akt«.48 Solchen Texten liege eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Sinn des eigenen Schreibens zugrunde, was sich u. a. in der Antinomie zwischen Leben und Kunst, Wirklichkeit und Artefakt, Bewegung und Erstarrung manifestiere. Die Fixierung bestimmter Vorgänge des Spazierens auf der Textoberfläche bedeute zugleich die Durchführung ihrer Vernichtung, da der bewegliche Akt des 44 Vgl. auch: Pietrek, Ich erschreibe mich selbst. 2012, S. 15–28. 45 Finck, Almut: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1999, S. 13f. 46 Vgl. dazu: Niccolini, Der Spaziergang des Schriftstellers. 2000, S. 135. 47 Gisi (Hrsg.), Robert Walser-Handbuch. 2015, S. 150. 48 Niccolini, Der Spaziergang des Schriftstellers. 2000, S. 48.

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Schreibens in seiner Lebendigkeit getötet wird zugunsten der Festhaltung eines Augenblicks. Aber andererseits kann durch die Sprache eine Bewegung eingeführt werden, die der realen Bewegung des Körpers nahe steht: »Der Schreibprozess als Versuch, das gleichzeitig Gesehene, Gedachte, Wahrgenommene, also das flüchtige nicht fixierbare Dahinströmen des Lebens doch in Worte zu fassen, hat an sich etwas Paradoxes. Die widersprüchliche problematische Durchführung dieser Unmöglichkeit fließt in den Prozess der Textentstehung hinein, indem der Versuch, die unendliche Bewegung der zuletzt nicht erfassbaren Wirklichkeit mittels Wahrnehmung eines Spaziergängers zu erfassen, einen krassen Gegensatz zwischen der zur Fixierung neigenden Darstellungsweise des Schreibens und der steten Transformation des Lebens entstehen lässt […].«49

Walser löst dieses Phänomen, indem er seinen erzählten Spaziergang als ein »narratives Arrangement«50 anwendet, mit dessen Hilfe disparate Schauplätze, Episoden und Reflexionen in eine bestimmte zeitliche und räumliche Beziehung zueinander gerückt werden. Unter dem Aspekt der zeitlichen Ordnung dieses Arrangements tritt die referentielle (!) Seite der erzählten Begebnisse in den Vordergrund, dagegen betont seine räumliche Organisation, vor allem aber die autoreferenzielle Erzählhaltung, der Verzicht auf eine »klassische Handlung« und die »digressiv episodische Struktur«51 die Textualität, was zur Folge hat, dass die Lesehaltung »ständig zwischen einer buchstäblichen und einer figurativen Lektüre des Textes schwankt«52. Man sieht dies bereits an den ersten Sätzen der Erzählung, die mit einer Erklärung / Information beginnt, die aber unmittelbar unterlaufen wird: »Ich teile mit, dass ich eines schönen Vormittags, ich weiß nicht mehr um wieviel Uhr, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam […]. Soviel ich mich heute, wo ich dieses alles schreibe, noch zu erinnern vermag, befand ich mich, als ich auf die offene helle Straße trat, in einer romantisch-abenteuerlichen Gemütsverfassung, die mich tief beglückte.«53

Weder explizite Referenzialität, noch reine Textualität sind hier die Antwort54, weil Walser die Übergangsstellen zwischen den beiden Polen absichtlich verwischt. Wie Elisabetta Niccolini richtig folgert, weckt Walsers reichtums-reiche Sprache zum einen das Wahrnehmungsvermögen des Lesers, zum andern besitzt 49 Ebd., S. 49. 50 Albes, Claudia: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. Tübingen: Erich Schmidt Verlag 1999, S. 231. 51 Gisi (Hrsg.), Robert Walser-Handbuch. 2015, S. 150. 52 Ebd., S. 231. 53 Walser, Robert: Der Spaziergang. Prosastücke und kleine Prosa. Hrsg. von Jochen Greven. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 7 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 5). 54 Siehe oben den zweiten Abschnitt (»Theoretischer Rahmen«).

Annäherungen an die Masken eines Dichters

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sie solches Abstraktionsniveau, dass sie keinen bestimmten, gleichzeitig aber viele unterschiedliche und austauschbare Orte oder Gegenstände ins Gedächtnis rufen55. Und dies korrespondiert auch mit der von Walser nicht nur gewählten, sondern vor allem (sehr bewusst) umgesetzten Form: »Der Spaziergang« ist zwar keine klassische Novelle, jedoch als ihre Weiterentwicklung aufzufassen, da viele eigenartige Merkmale der Novelle auf den Text anwendbar wären (Länge, Leitmotiv, Ton, Entstehungsanlass)56, doch die »Augenblicks-Ästhetik«, die »digressive Erzählstruktur« machen daraus einen modernen Text, der auch poetologisch innovativ und originell ist: »Obwohl der romantische Hintergrund durchscheint, ist der Text keine Parodie des novellistischen Erzählens, sondern eine Textsorte sui generis, die Walser schafft, um seinem »zerstreuten« Erzählen eine übergeordnete Form zu geben, die mehr repräsentiert als die Summe ihrer einzelnen Teile und erzählerisches Neuland eröffnet«.57 Die Komplexität der künstlerischen Revolution besteht darin, dass man, wenn man sich vom Spiel nicht ausschließen will, ein Feld revolutionieren kann, indem man seine historischen Errungenschaften mobilisiert oder anführt.58 Walser, der nicht nur ein Teil der Kulturszene Berlins (vor seiner Rückkehr nach Biel) war, sondern die damaligen Debatten um die Novelle sicherlich verfolgte, nahm eine Haltung ein, die als Kontinuität und Distanz zugleich zu bezeichnen wäre, jenen Bruch in der Kontinuität markierend oder die Kontinuität im Bruch.59

4.

Annäherungen an die Masken eines Dichters – Robert Walsers »Der Spaziergang«

Was aber vermittelt der Text über die Autorschaft Robert Walsers? Neben den oft analysierten Stellen »Mittagessen bei Frau Aebi« oder »Besuch bei Schneidermeister Dünn« möchte ich die Aufmerksamkeit auf zwei andere Textpassagen lenken: den Besuch in der Buchhandlung und in der Bäckerei mit Goldinschrift. Der Erzähler selbst kündigt beide Ereignisse im Voraus zusammen an, was eine zusammenhängende Lektüre zusätzlich stärkt, indem er sagt: »Ich wittere etwas von einem Buchhändler und einem Buchladen; ebenso will bald, wie ich ahne und merke, ein Bäckerladen mit prahlerischen Goldbuchstaben zur Erwähnung und Geltung gelangen«60. Zunächst möchte ich auf die Bemerkungen des Er55 56 57 58

Niccolini, Der Spaziergang des Schriftstellers. 2000, S. 127. Vgl. dazu vor allem: Gisi (Hrsg.), Robert Walser-Handbuch. 2015, S. 150–151. Ebd., S. 151. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/Main 1999, S. 168. 59 Ebd., S. 167–168. 60 Walser, Der Spaziergang. 1985, S. 9.

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zählers zu der »Bäckerei mit Goldinschrift« verweisen, die im Text nach dem Buchladen-Fragment kommt: »Indem du dir, lieber gewogener Leser, die Mühe nimmst, sorgfältig mit dem Schreiber und Erfinder dieser Zeilen vorwärts in die helle, freundliche Morgenwelt hinaus zu marschieren, nicht eilig, sondern vielmehr ganz behaglich, sachlich, glatt, bedächtig und ruhig, gelangen wir beide vor die bereits vorgemerkte Bäckerei mit Goldinschrift, wo wir uns bewogen fühlen, entsetzt stehen zu bleiben, um auf betrübliche Weise über gröbliche Protzerei und über damit aufs engste verbundene traurige Verunstaltung des lieblichen Ländlichkeitsbildes zu staunen. Spontan rief ich aus: ›Ziemlich entrüstet, bei Gott, darf ein ehrlicher Mensch angesichts solcher goldenen Firmeninschrift-Barbareien sein, die der Landschaft, in welcher wir stehen, ein Gepräge der Eigensucht, Geldgier, elenden, völlig nackten Seelenverrohung aufdrücken. Hat denn ein einfacher, redlicher Bäckermeister wirklich nötig, so großartig aufzutreten, mit seiner törichten Gold- und Silber-Ankündigung in der Sonne zu strahlen und blitzen wie ein Fürst oder wie eine putzsüchtige zweifelhafte Dame? Backe und knete er doch sein Brot in Ehren und in vernunftentsprechender Bescheidenheit‹.«61

Nicht ohne Grund wird diese Stelle dadurch eingeleitet, dass der Erzähler auf eine freundliche Morgenwelt und eine behagliche, glatte, eben »harmonische« Atmosphäre hinweist, zu der sofort kontrastiv die »gröbliche Protzerei« der Goldinschrift steht. Hier positioniert sich nicht nur der Erzähler und implizit auch der Autor des Textes (zugleich auf die referentielle Dimension hinweisend) bezüglich der Fragen des ästhetischen Geschmacks, sondern hier wird auch eine Aussage grundsätzlicher Art getroffen, die die (auto)textuelle Ebene reflektiert: die nach der Bedeutung sprachlicher Zeichen, nach dem Verhältnis zwischen Signifikanten und Signifikaten. Und man sieht an den Reaktionen des Erzählers in dieser Passage, wie sehr ihn die nicht-»natürliche« Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem stört62. Er hätte viel lieber einen Bezug, der der Verflechtung der Tätigkeit eines Bäckers, der ihn umgebenden Landschaft und des Zeichens, das diese auszudrücken hat, adäquater wäre. Und weil die Beschreibungen Walsers – worauf ich oben hingewiesen habe – aufgrund des geweckten Wahrnehmungsvermögens bei dem Leser einerseits und dem gleichzeitig starken Abstraktionsniveau andererseits keinen bestimmten, gleichzeitig aber viele unterschiedliche und austauschbare Orte in Erinnerung rufen, besitzt auch diese Stelle ein starkes aktuelles Vergegenwärtigungspotenzial bei den Rezipienten, denn die meisten Leser haben die hier beschriebene Erfahrung sicherlich schon machen können. Noch prägnanter in diesem Zusammenhang ist die Beschreibung des Buchladenbesuchs:

61 Ebd., S. 15, 16. 62 Dazu vgl. vor allem: Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell. 1999, S. 259–260.

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»Da eine äußerst stattliche, reichhaltige Buchhandlung mir angenehm in die Augen fiel und ich Trieb und Lust spürte, ihr einen kurzen und flüchtigen Besuch abzustatten, so zögerte ich nicht, in den Laden mit sichtlich guter Manier einzutreten, wobei ich mir allerdings zu bedenken erlaubte, daß ich vielleicht mehr als Inspektor und BücherRevisor, als Erkundigungen-Einsammler und feiner Kenner denn als beliebter und gerngesehener reicher Einkäufer und guter Kunde in Frage käme. Mit höflicher, überaus vorsichtiger Stimme und in den begreiflicherweise gewähltesten Ausdrücken erkundigte ich mich nach dem Neusten und Besten auf dem Gebiet der schönen Literatur. ›Darf ich‹, fragte ich schüchtern, ›das Gediegenste und Ernsthafteste und damit selbstverständlich zugleich auch das Meistgelesene und am raschesten Anerkannte und Gekaufte kennen und augenblicklich schätzen lernen? Sie würden mich zu ungewöhnlichem Dank in sehr hohem Grad verbinden, wenn Sie die weitgehende Gefälligkeit haben und mir das Buch gütig vorlegen wollten, das, wie ja sicher niemand so genau wissen wird wie gerade Sie, die höchste Gunst beim lesenden Publikum sowohl als bei der gefürchteten und daher ohne Zweifel auch umschmeichelten Kritik gefunden hat und ferner munter findet‹.«63

Und nachdem übertrieben zeremoniell und ironisch-feierlich jenes Buch gebracht wurde und nachdem sich der Erzähler im Dialog mit dem Buchhändler nochmals versicherte, dass dieses Buch das »weitestverbreitete Buch des Jahres« ist, das man »gelesen haben muss«, ließ der Erzähler das Buch »lieber ruhig liegen«, wo es lag und entfernte sich »geräuschlos« und hörte noch, wie der Verkäufer ihm »Ungebildeter und unwissender Mensch« nachrief. Beide Passagen könnte man selbstverständlich »direkt« – (auto)biografisch zu lesen versuchen, als eine direkte Aussage des Textautors Robert Walser über die eigene Schriftstellersituation und als eigene Lebensbeschreibung. Bereits Walter Benjamin hat eine Paraphrase Walsers von Franz Moors Dialog zitiert: »Mich entsetzt der Gedanke, ich könnte Erfolg in der Welt haben.«64 Viele Gleichnisse und Parallelen ließen sich zwischen der Biografie Walsers und den oben zitierten Textpassagen finden. Ich würde jedoch diese Stellen eher als Inszenierungsvorgänge lesen, mit denen auf die maskenhaften Erscheinungsformen Walsers hingewiesen wird: »Wenn Walser als Walser in der ersten Person auftritt, spielt er weder sich selbst, noch andere, sondern trägt die gleichnamige Maske. […] Masken machen aus der Verstellung kein Hehl, sondern weisen auf die Diskrepanz von Erscheinung und Wesen sogar in besonderer Weise hin.«65 Die von mir bereits oben vorgetragene Auffassung der »Autorschaft«66, die sich an diesen Stellen manifestiert, findet eine gute Ergänzung durch den von Bourdieu vorgeschlagenen Begriff der »posture«: Ein 63 Walser, Der Spaziergang. 1985, S. 10. 64 Benjamin, Walter: Robert Walser. (Zugriff am 10. 09. 2019). 65 Gisi (Hrsg.), Robert Walser-Handbuch. 2015, S. 232–233. 66 Pietrek, Ich erschreibe mich selbst. 2012.

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Autor erspielt oder erstreitet seine Position im literarischen Feld über verschiedene Modi der Darstellung seiner selbst und seiner »postures«; es ist seine persönliche Art, eine Rolle oder einen Status anzunehmen67. Die »posture« eines Autors umfasst zwei Dimensionen: eine nicht-diskursive, die die Gesamtheit nonverbaler Verhaltensweisen im Rahmen der Selbstpräsentation umfasst (hierzu zählen u. a. Kleidung und Gebaren), und eine diskursive Dimension, nämlich die des diskursiven Ethos, der wiederum seine Wirkung nicht nur durch »Logos« (gültige Argumente), sondern auch durch »Pathos« (die Produktion eines machtvollen Eindrucks) entfaltet. Die kodierte Art der diskursiven Selbstdarstellung und individuelle Spiele eines jeden Autors lassen sich so mit der Position, die ihm das Feld zuweist, reflektieren. Sprachliches Handeln und soziales Verhalten (Kleidung, Gebaren, Auftreten) lassen sich demnach im Hinblick auf eine Soziologie des Autors als Relation denken, ohne die internen diskursiven Faktoren von den externen Bedingungen ihrer Produktion zu trennen.68 Und es sind ja vor allem autobiografische Texte (Autofiktion- und Autobiofiktion sowie Tagebücher), die im Allgemeinen eine »posture« einschließen. Da diese jedoch eine »Selbstkonstruktion inner- und außerhalb des Diskurses ist« und die Position in der Performance nachspielt, gibt sie sich als Ort der Inszenierung: Sie wählt Werte und Fakten im referentiellen Material des Sozialen aus.69 Wenn der Erzähler des Spaziergangs also sagt, er besuche den Buchladen »mehr als Inspektor und Bücher-Revisor«, denn als ein »Erkundigungen-Einsammler und feiner Kenner«, dann wird dies angesichts der »Unstimmigkeiten« (spätere Passagen im Text und die mitreflektierten biografischen Kenntnisse über Robert Walser) eher ironisch verstanden werden. Und mittels der gebrauchten Ironie wird ein Abstand zu solchen Positionen (wie etwa eines »Inspektors und Bücher-Revisors«) manifestiert. Die eigene Position wird jedoch nicht auf den Punkt gebracht (was den Text spannender macht), sondern mittels der negativen Verweise wird sie eben in der Performance nachgespielt. Und hier rückt das Werk Walsers in eine interessante Affinität zu dem Schaffen von Witold Gombrowicz.

67 Vgl. dazu ausführlicher: Pietrek, Daniel: »Totgesagte leben länger« – Autorschaftskonzepte zwischen Tod und Wiedergeburt des Autors. In: Orbis Linguarum, 2016, H. 45, S. 445–459. 68 Vgl. Meizoz, Jérôme: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq. In: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hrsg. von Markus Joch/Norbert Christian Wolf. Tübingen: De Gruyter 2005, S. 177–189. 69 Ebd., S. 177–178, 186–187.

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5.

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Gombrowiczs Werk(e) als mögliche Rezeptionsbrücke(n)

Paweł Marcinkiewicz ist nur zuzustimmen, wenn er behauptet70, Walsers Werk wurde dank der eigenen literarischen Traditionen gelesen und seine Rezeption wurde hierdurch begünstigt, und er erwähnt im Zusammenhang der polnischen Rezeption das Werk von Witold Gombrowicz. Denn tatsächlich werden viele der Schreibstrategien Walsers für die polnischen Leser durch die Affinitäten zu Gombrowicz verständlicher. Das gesamte Schaffen von Gombrowicz basiert auf der Überzeugung, dass wir uns nie im Einklang mit unserem innersten Wesen äußern, sondern immer in irgendeiner bestimmten Form, die uns gestaltet, deformiert und einschränkt. Oft vergewaltigt sie uns. Wir müssen sie fürchten, da wir ihr nicht entkommen können. Ihre Autonomie, ihr schöpferischer Zorn, ihre Launen, Perversionen, ihre Gleichgültigkeit, Hemmungslosigkeit, Unbeschränktheit und ihre Verflechtungen beherrschen uns. Die Form bedeutet bei Gombrowicz jedoch weder ursprünglich noch ausschließlich eine Kunstform.71 Die Form ist für ihn ein Universalbegriff, der in sich alle Formarten vereint: die Lebensform, die Gesellschaftsform, die Staatsform. Jeder, der die Form ausschließlich auf Kunst beschränken will, wird von Gombrowicz daran erinnert, welche immense Rolle die Form in unserem Leben spielt.72 Um wenigstens vorübergehend der allgegenwärtigen Form zu entfliehen, versuchte Gombrowicz alle möglichen äußeren Formen zu brechen, zu umgehen, jegliche Rollen aufzudecken und Masken zu enthüllen. Hauptmerkmal seines Schaffens war das höhnisch-ironische Imitieren bzw. Karikieren. Am liebsten nutzte er dabei die Widersprüche zwischen den klassischen, »verbrauchten« Formen und neuen, eigenen Inhalten. Jeder Zusammenstoß war für ihn der Nachweis einer guten Parodie und eines Formbruchs.73 Dabei wird die Parodie nicht allein wegen der Möglichkeiten einer literaturkundlichen Anspielung auf eine der kanonischen Rollen der Weltliteratur gebraucht wie etwa durch Heinrich in der »Trauung« auf »Hamlet«.74 Gombrowicz legt eben – wie dies Botho Strauß erkannte – »keine Hamlet-Paraphrase an, er bereitet lediglich eine operative Basis vor, von der aus einer wie

70 Siehe seinen Aufsatz in diesem Band. 71 Vgl. Hädecke, Wolfgang: Rebellion gegen die Form. Versuch über Witold Gombrowicz. In: Neue Rundschau 83, 1972, H. 2, S. 243–257, hier S. 244. 72 Ebd., S. 243–257. 73 Vgl. dazu mehr: Pietrek, Daniel: Szlachcica polskiego pojedynki cieniów. Wrocław: Atut 2006. S. 51–55. 74 Vgl. Schmitz, Walter: Die Surrogatsfunktion von Gombrowicz-Aufführungen in der BRD um 1970. In: Gombrowicz in Europa. Deutsch-polnische Versuche einer kulturellen Verortung. Hrsg. Andreas Lawaty/Marek Zybura. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2006, S. 131–142, hier S. 132.

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Hamlet werden kann.«75 Masken, alte Formen in neuem Gewand, intertextuelle Anspielungen, eine Textoberfläche, die eine »Verquickung und Akkumulation zahlreicher Bedeutungen, die sich im Laufe des Lebens sowie des Werkes […] überlagert und ineinander verwoben haben«76, ermöglicht – dies alles trifft wohl genauso auf Robert Walser zu. Jochen Greven stellt in einem Nachwort zu dem von ihm zusammengestellten Buch von Walser »Der Roman woran ich weiter und weiter schreibe« fest: »Das notierende Ich tritt mit vielerlei Gesichtern, zuweilen unter deutlich zur Schau getragenen Masken und Verkleidungen auf – wir haben es offenbar mit einem Verkleidungskünstler zu tun, der zur Unterhaltung des Lesers Posen und Possen vorführt und wie ein Clown mit Einfällen jongliert, sich aber zugleich auch noch fortgesetzt selbst kommentiert.«77

Und diese poetologischen Parallelen Gombrowicz-Walser sieht man auch, wenn man konkrete poetologische Elemente vergleicht. Dazu nur ein Beispiel: »Ich werde euch ein anderes Abenteuer erzählen, wohl eines meiner fatalsten.«78 So beginnt der Roman »Verführung/Pornographie«79 von Witold Gombrowicz mit einem deutlichen Hinweis auf die narrative Strategie. In solcher Manier wandten sich früher Erzähler an ihre Leser, um eine Plauderei einzuleiten, um vergangene Zeiten und archaische Kulturen zu evozieren.80 Gombrowicz verwendet diese literarische Konvention nicht ›ernst‹, er ist kein rührseliger Geschichtenerzähler, 75 Strauß, Botho: Den Traum alleine tragen. Versuch über »Die Trauung« von Witold Gombrowicz und die deutsche Erstaufführung am Schiller-Theater in Berlin. In: Theater heute 9, 1968, H. 2, S. 24–27. 76 Niccolini, Der Spaziergang des Schriftstellers. 2000, S. 160. 77 Greven, Jochen: Nachwort. In: Walser, Robert: Der Roman woran ich weiter und weiter schreibe. Hrsg. von Jochen Greven. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 331–339. 78 Gombrowicz,Witold: Pornographie. Übersetzt von Walter Tiel/Renate Schmidgall. München/ Wien: Carl Hanser Verlag 1984, S. 9. 79 Die ersten deutschen Ausgaben dieses Romans in der Übersetzung von Walter Tiel, die im Neske-Verlag herausgegeben wurden (1963, 1970, 1973), trugen den Titel »Verführung«. Für die späteren Ausgaben wurde der Titel »Pornographie« gewählt: Gombrowicz, Witold: Verführung. Übersetzt von Walter Tiel. Pfullingen: Günther Neske Verlag, 1963; Gombrowicz, Witold: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 3: Pornographie. Hrsg. von Rolf Fieguth/Fritz Arnold. Übersetzt von Walter Tiel/Renate Schmidgall. Mit einem Nachwort von Felix Philipp Ingold. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1984; Gombrowicz, Witold: Gesammelte Werke. 13 Bände in 11 Teilen. Bd. 3: Pornographie. Hrsg. von Rolf Fieguth/Fritz Arnold. Übersetzt von Walter Tiel/Renate Schmidgall. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998; Gombrowicz, Witold: Pornographie. Übersetzt von Walter Tiel/Renate Schmidgall. München: Carl Hanser Verlag 2004; Gombrowicz, Witold: Pornographie. Übersetzt von Walter Tiel/ Renate Schmidgall. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2005. Zu der deutschen Gombrowicz-Rezeption vgl: Zybura, Marek (Hrsg.): »Patagon´czyk w Berlinie«. Witold Gombrowicz w oczach krytyki niemieckiej. Kraków: Universitas 2004. 80 Głowin´ski, Michał: Parodia konstruktywna. In: Łapin´ski, Zdzisław (Hrsg.): Gombrowicz i krytycy. Kraków/Wrocław: Wydawnictwo Literackie 1984, S. 365–366.

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sondern er benutzt diese Kulturkonvention, um ein parodistisches Spiel einzuleiten. Sodann wirft er den Leser abrupt in die Welt der Parodie. Der Erzähler warnt zugleich davor, diesen scheinbar so altmodisch geschriebenen Roman gleichsam wörtlich zu nehmen, und beginnt sein Spiel mit dem Leser. Bereits in der Besprechung der »Trauung« erklärte Andrzej Wirth dem deutschen Publikum: Gombrowicz benutzte das Medium des Altpolnischen, »um den ›Zustand eines außerordentlichen Pathos‹ wiederzugeben. Sein im Hinblick auf Ziele und Prinzipien universeller Kritizismus kommt hier in der Kritik an den spezifischen Idolen der polnischen Szlachta-Kultur zum Ausdruck.«81 Nach einem gleichen Muster verfährt Gombrowicz in »Pornographie«. In diesem Roman gehören aber zu dem Repertoire der benutzten Formen nicht nur die Muster der »SzlachtaKultur«, also des Landadel-Romans oder ländlichen Romans,82 sondern auch Roman-Muster nach Walter Scott, der Plauderei-Gestus, oder Elemente des Adoleszenz-Romans. Die »typischen« Accessoires und Situationen des Landadel-Romans kommen sehr zahlreich vor, wenn auch an unterschiedlichen Textstellen in unterschiedlicher Konzentration. Zwei Herren aus der Stadt (Friedrich und Witold) kommen auf den Landsitz ihres Freundes Hippolyt, werden Teil des ländlichen Alltags, ihr Leben entfaltet sich (zunächst) entlang der typischen Vorstellungen vom Szlachta-Leben auf dem Lande, das eine Zeitlang sogar durch die große Geschichte (die Handlung spielt während des Zweiten Weltkrieges) nicht gestört wird.83 Zur Welt des Landadels (was historische Be-

81 Wirth, Andrzej: Das polnische Drama der Gegenwart. In: Theater heute 6, 1965, H. 9, S. 53–57, hier S. 55. 82 Die polnischen Gattungs-Kategorien »literatura szlachecka«, »powies´c´ szlachecka«, »szlachecka powies´c´ obyczajowa« werden in diesem Beitrag mit »Landadel-Roman« und »ländlicher Roman« umschrieben. Die erste Umschreibungsform bezieht sich u. a. auf den Aufsatz von Bondy (Bondy, François: Witold Gombrowicz oder die Schattenduelle eines polnischen Landedelmannes. In: Akzente, 1965, H. 4, S. 366–383). Die zweite wurde in der deutschen Übersetzung von »Testament« (Gombrowicz, Witold: Eine Art Testament. Gespräche und Aufsätze. Aus dem Polnischen und Französischen von Rolf Fieghuth/Walter Tiel/Renate Schmidgall. Frankfurt/Main: Fischer 2006, S. 133) verwendet: »›Pornographie‹ knüpft an einen gutmütigen polnischen ›ländlichen Roman‹ an.« Michał Głowin´ski umschreibt die Gattungszugehörigkeit wie folgt: »›Pornografie‹ beginnt wie Plauderei […], dennoch spielt dieses Element – anders, als in ›Trans-Atlantik‹ – nur eine minimale Rolle […]. Gombrowicz verwendete hier andere Muster der Landadel-Literatur, zwar nicht so sarmatische, wie die Plauderei, dennoch genauso fest heimisch und gemütvoll verankert, obgleich sie sich dank europäischer Einflüsse entwickelten. Der Autor erwähnt [im Vorwort Gombrowiczs zur polnischen Ausgabe von 1960] auch ›Pornographie‹ als ›Prototyp des billigen Romans nach Rodziewiczówna, oder Zarzycka‹, doch die Muster reichen tiefer in die Geschichte der [polnischen] Literatur, wo das romanhafte Schema nicht nur mit einem Roman verbunden werden musste […], es gehörte nicht nur zur Literatur auf dem geltenden Niveau, sondern kam auch in einem nationalen Meisterwerk vor.« (Głowin´ski, Parodia konstruktywna. 1984, S. 369). 83 Vgl. Głowin´ski, Parodia konstruktywna. 1984, S. 368–372.

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gründung hat) und zum Provinz-Roman84 gehören solche Beschreibungen, zugleich wird aber auf den ungeklärten Wirklichkeitsstatus, der eine Distanz aufbaut, hingewiesen. Was im 17. Jh. noch einen tatsächlichen gesellschaftlichen Aufstieg symbolisierte, ist im 20. Jh. zu einer leeren Attitüde geworden. Die Beschreibung der Außenwelt und der Natur gehören zu den Standard-Elementen eines auf dem Landsitz eines Landedelmannes spielenden Romans, sie sind auch in »Pornographie« in ihrer parodistischen Funktion so eindeutig und stark, dass sie beinahe keine andere Lesart zulassen:85 Entgegen der idyllischen Wirklichkeitsverklärung eines Landadel-Romans und entgegen der Roman-Tradition nach Walter Scott (für die eine Verflechtung der Geschichts-Motive mit einer Liebesgeschichte zentral ist) ist in »Pornographie« die Zuneigung bzw. Herzenswärme keine ›natürliche’ Angelegenheit, sie ist, wie alles bei Gombrowicz, ›künstlich‹ geschaffen, sie ist geradezu erzwungen durch die beiden älteren Herren.86 Aber auch »Der Spaziergang« ist alles andere als eine klassische Novelle – worauf ich bereits hingewiesen habe –, obwohl gerade an diesem Text ihre Merkmale bestens anwendbar wären. Und er entfaltet eben keine zielstrebige Handlung, wie dies eine Novelle tun würde, sondern der Spaziergang »entwickelt sich aus Abschweifungen heraus«87. Aus der Perspektive des Protagonisten wird ein sowohl realistischer, satirischer, zuweilen auch parodistischer Spaziergang erschrieben, wobei die Grenzen zwischen diesen Schreibkonventionen fließend und undeutlich sind und stets auf das Grundmotiv verweisen: »Das Spazieren erfüllt sich nicht in Zerstreuung und Erbauung, sondern begründet eine im Selbsterleben fußende Poetik, die nicht darauf abzielt, Geschichten zu erfinden, sondern das eigene Leben unter dem Gesichtspunkt einer erzählbaren Geschichte zu betrachten.«88 Und in diesem Grundmotiv liegt wohl auch der fundamentale Unterschied zu Gombrowicz, für den der Kampf mit der Form das zentrale Anliegen seiner Werke ist.

6.

Fazit

Am Ende der Erzählung »Der Spaziergang« von Robert Walser, zwischen den Stellen »Friseurgeschäft« und »Schulstube«, wird ein Satz eingeschoben, der ausdrücklich auf den Dichter J. M. R. Lenz verweist: 84 In den früheren Ausgaben von Witold Gombrowiczs »Eine Art Testament. Gespräche und Aufsätze« wurde »Pornographie« mit dem Provinz-Roman verglichen. 85 Gombrowicz, Pornographie. 1984, S. 36. 86 Vgl. dazu mehr: Głowin´ski, Parodia konstruktywna. 1984, S. 370. 87 Gisi (Hrsg.), Robert Walser-Handbuch. 2015, S. 151. 88 Ebd.

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»Ferner kam ich an einer Schusterwerkstatt vorbei, die mich an den genialen aber unglücklichen Dichter Lenz erinnerte, der während der Zeit seiner Geistes- und Gemütszerrüttung Schuhe machen lernte und machte.«89

In diesem Fragment offenbart sich das Wesen jener unauflösbaren Verbindung, die so charakteristisch ist für Walsers Autorschaft und auf die ich hier aufmerksam machen wollte: die Verbindung zwischen »normalem Leben«, handwerklicher Tätigkeit, kleinen Dingen auf der einen Seite und schöpferischer Arbeit und Genialität auf der anderen. Hier klingt durch, was wir bereits bei Nietzsche in »Ecce Homo« zu hören bekamen: »So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – ich sagte es schon einmal – die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.«90 Bei Walser wiederum heißt es im Hinblick auf diese Verbindung: »Ich finde z. B. dass das Schreiben gleichsam Hand in Hand mit dem Leben geht; es ist mit ihm verflochten; meiner Ansicht nach darf und soll das so sein«91 und einige Seiten später ergänzt er noch im gleichen Text: »Ich bedarf da also ganz und gar keiner »Ideen«, sondern ich soll und will lediglich einer Kette von Erlebtheitserscheinungen den denkbar statthaftesten Ausdruck verleihen […].«92 Man kann es wie eine sehr schöne und versöhnliche Lebensmetapher lesen: das Leben als eine Kette von Erlebtheitserscheinungen, der man denkbar statthaftesten Ausdruck verleiht. Und Walsers »Spaziergänge auf dem Papier« sind auch insofern »modern«, als sie einen Moment der Authentizität ermöglichen, nachdem sich der moderne Mensch sehnt. Sie stehen so konträr z. B. zu den Phänomenen des Massentourismus, die bereits bei Hans Magnus Enzensberger Ende der 50er auf den Punkt gebracht wurden: »Dagegen verkündet heute der heimgekehrte Tourist nur, was alle längst wissen. Sein Bericht dient nicht nur dem Zweck, sein eigenes Prestige, sondern auch das des Arrangeurs zu festigen, dem er sich anvertraut hat. Der Tourismus ist die Industrie, deren Produktion mit ihrer Reklame identisch ist: ihre Konsumenten sind zugleich ihre Angestellten. Die bunten Aufnahmen, die der Tourist knipst, unterscheiden sich nur den Modalitäten nach von jenen, die er als Postkarten erwirbt und versendet. Sie sind die Reise selbst, auf die er sich begibt. Die Welt, derer er auf ihr ansichtig wird, ist von

89 Walser, Der Spaziergang. 1985, S. 59–60. 90 Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Warum ich so klug bin. (Zugriff am 04. 04. 2020). 91 Walser, Robert: Zarte Zeilen. Prosa aus der Berner Zeit 1926. Hrsg. von Jochen Greven. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 64 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 18). 92 Ebd., S. 76.

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vornherein Reproduktion. Nur Abklatsch wird ihm zuteil. Er bestätigt das Plakat, das ihn verlockt hat, sich in sie zu begeben.«93

Walsers Spaziergänge sind kein Abklatsch, sondern eine wunderbare Kette von Erlebtheitserscheinungen, der man denkbar statthaftesten Ausdruck verleiht.

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93 Enzensberger, Hans Magnus: Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus. In: Merkur 12, 1958, H. 126. (Zugriff am 10. 09. 2019).

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Daniel Pietrek

Schwerin: »Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa«. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen. Heidelberg 2011. Strauß, Botho: Den Traum alleine tragen. Versuch über »Die Trauung« von Witold Gombrowicz und die deutsche Erstaufführung am Schiller-Theater in Berlin. In: Theater heute 9 (1968), H.2, S. 24–27. Tommek, Heribert: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin 2015. Utz, Peter: Erschriebenes Leben. Ist Robert Walsers Poetenleben eine »Autofiktion«? In: Sorg, Reto: Selbstfindung als Wirklichkeitstheorie. Zu Robert Walsers nachgelassener ›Tagebuch-Erzählung‹ aus dem Jahre 1926, zitiert in: Fattori, Anna / Kerstin Gräfin von Schwerin: »Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa«. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen. Heidelberg 2011. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart 2000. Walser, Robert: Mikrogramme. Mit 68 Abb. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Lucas Marco Gisi, Reto Sorg und Peter Stocker. Berlin 2011. Walser, Robert: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven. Frankfurt am Main 1985. – Bd. 5: Der Spaziergang. Prosastücke und kleine Prosa. – Bd. 6: Poetenleben. – Bd. 18: Zarte Zeilen. Prosa aus der Berner Zeit 1926. Wirth, Andrzej: Das polnische Drama der Gegenwart. In: Theater heute, 6 (1965), H. 9, S. 53–57.

Paweł Marcinkiewicz (Uniwersytet Opolski)

»Napoleonisches Deutsch«1: Mikrogramme Robert Walsers und die Poetik der modernen Avantgarde

1.

Avantgarde versus Walsers Rezeption im deutschsprachigen Raum

Ist Robert Walser ein Schriftsteller der Avantgarde? Der Begriff »Avantgarde« selbst ist problematisch geworden, weil sich sein Inhalt schwer präzise bestimmen lässt. Im gegenwärtigen französischen und angloamerikanischen kritischen Diskurs verwendet man ihn ausschließlich im historischen Kontext, obgleich er nicht völlig ungebräuchlich ist und zuweilen einen Bezugspunkt für heute entstehende Werke bildet. Die Avantgarde basiert auf Gesten der Ablehnung – die sich bei Walser recht häufig finden – sie kann aber auch Auflehnung ausdrücken, damit die Ablehnung an sich zu einem künstlerischen Ziel wird. Um mit den Worten Charles Altieris zu sprechen: Wir brauchen die Avantgarde heute mehr denn je; in einem extrem heterogenen, kulturellen Theater wie dem von heute können wir nur dann Gemeinsamkeiten bemerken, wenn wir jede Geste der Ablehnung verarbeitet haben.2 In meiner Überzeugung ist Robert Walser ein Schriftsteller der Avantgarde, was für die Interpretation seiner Werke unter manchen Aspekten bedeutend sein mag: aufgrund der geschichtlichen Zugehörigkeit zu den Zürcher und später Berliner Künstlerkoterien, die nach neuen 1 Ich zitiere hier eine Formulierung aus Walsers Mikrogramm »Faul, will sagen, planlos flanierte ich gestern nachmittag«, in: Walser, Robert: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924–1933. Hrsg. von Bernhard Echte/Werner Morlang. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990f.. Bd. 4, S. 13. [Für die deutsche Übersetzung des vorliegenden Aufsatzes wurden dort, wo der Verfasser von Walsers Mikrogrammen spricht, drei Quellen herangezogen, und zwar – neben dem soeben genannten Band: Walser, Robert: Es war einmal. Prosa aus der Berner Zeit 1927–1928. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 19); Walser, Robert: Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit 1928–1933, Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 20). Der besseren Lesbarkeit halber werden die entsprechenden Zitatennachweise im fortlaufenden Text mit Kürzel als »Ewe« bzw. »FdK« und Seitenzahl angegeben. I. S.] 2 Altieri, Charles: Avant-Garde or Arrière-Garde in Recent American Poetry. In: »Poetics Today«, Bd. 20, Nr. 4 (Winter 1999), S. 629–653.

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Ausdrucksformen suchten; wegen seiner nahezu abgöttischen Verehrung für die Kunst, vor allem die Poesie; schließlich im Hinblick auf die ihm eigenen radikalen Schaffensmethoden.3 Deutschsprachige Leserinnen und Leser dürften aber ihre Probleme mit einer solchen Interpretation des Walserschen Werkes haben: Ihre Rezeption seiner Texte wurde verständlicherweise durch die Zugehörigkeit zu einer konkreten literarischen Tradition sowie durch einige kanonische Auslegungen geprägt. Zu den letzteren ist gewiss der kurze Essay Walter Benjamins unter dem schlichten Titel »Robert Walser« zu zählen, der am 21. September 1929 in der Wochenschrift »Das Tage-Buch« erstveröffentlicht wurde.4 Aus Benjamins Sicht gehört Walser der satirischen Literaturtradition an; seine Lieblingsform – kritischer Kommentar oder Glosse – sei erst durch Karl Kraus, einen Philosophen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, literaturfähig geworden. Kraus veröffentlichte kritische Kommentare zu diversen Schriftstellern und Journalisten in der Zeitschrift »Die Fackel«. Unter Walsers Zeitgenossen, denen diese Gattung ihre Höhepunkte verdankt, darf man Alfred Polgar und Franz Hessel nicht vergessen. Benjamin sieht daher Walsers Größe in negativen ästhetischen Werten, die durch ihre Anhäufung eine künstlerische Kraft entfalten. Die literarische Form, der sich Walser bedient, sei Benjamin zufolge nichtig; was es mit dieser »kleinen Form« aus sich habe, »wissen eben nur wenige« »in der Öde des Blätterwaldes«.5 Die charakteristischsten Merkmale im Schaffen des Schweizers seien dessen stilistische »Verwahrlosung« und »Nichtigkeit des Inhalts«, woraus paradoxerweise seine Kraft erwachse.6 Paradox erscheine außerdem die Koexistenz der »Sprachverwilderung« und des »Wortschwalls« mit der für das Land typischen Wortkargheit, auch »Sprachscham« genannt: »Kaum hat er die Feder zur Hand genommen, bemächtigt sich seiner eine Desperadostimmung«.7 Hauptsächlich aus diesem Grund zeichne sich Walsers Werk durch ein »kunstvolles Ungeschick« aus; seinetwegen setze er dort ein, »wo die Märchen aufhören«.8 Auf einen ähnlichen Ursprung weisen oft die größten und einflussreichsten Lehrwerke und Anthologien der deutschsprachigen Literaturgeschichte hin, beispielsweise J. B. Metzlers »Deutsche Literaturgeschichte«. Die 2013 erschienene achte und bislang letzte Auflage dieses unter Studierenden beliebten 3 Diese Darstellung ist eine Paraphrase einiger Passagen aus dem Essay »The Young Poet (1896– 1899)« von Susan Benofsky, der Teil einer Biographie des Schriftstellers ist, an der die Autorin arbeitet. 4 Benjamin, Walter: Robert Walser. In: ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 324–328 (= Gesammelte Schriften. Bd. 2, Teil 1). 5 Ebd., S. 324. 6 Ebd., S. 325. 7 Ebd., S. 326. 8 Ebd., S. 328.

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Standardlehrbuches beschreibt Robert Walser als Autor von Romanen, die »Alltagsvertiefungsversuche« unternehmen, und Spezialisten für grotesk-komische Kurzprosa, und nennt ihn in einem Atemzug mit der Schweizer Lyrikerin Regina Ullmann (1884–1961) und mit Heinrich Mann (1871–1950), dem älteren Bruder des berühmten Thomas Mann.9 Alle drei verbinde eine problematische literaturgeschichtliche Klassifizierung, denn man könne sie wohl kaum dem in der bildenden Kunst und der Literatur der 1920er-Jahre vorherrschenden Expressionismus zurechnen; sie scheinen »zu keinem ›Ismus‹ wirklich zu gehören«.10 Die meisten Gemeinsamkeiten verbänden ihn mit Franz Kafka, der genauso wenig als Expressionist bezeichnet werden könne.11 Neben dieser Auffassung des Walserschen Schaffens als vom germanischen Geist beseelte komische Groteske, meldeten sich Ende des 20. Jahrhunderts nach und nach Stimmen zu Wort, die eine tiefgründige Lesart der Walsers Prosa anboten, so das von Peter Utz verfasste Schlagwort in Hartmut Steineckes Anthologie »Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts« aus dem Jahr 1994.12 Peter Utz sieht in Walser einen radikal modernen Schriftsteller, der sich hinsichtlich der auffallendsten Eigenschaft aller Künstler der Gegenwart, d. h. der Erschaffung des eigenen Ich und dessen Thematisierung in der Kunst, kaum von seinen Zeitgenossen unterschieden habe.13 Das Originelle der Walserschen Strategie beruhe darauf, dass er im Gegensatz zu den meisten Großen der Moderne eine entgegengesetzte Richtung eingeschlagen habe: die der Selbstverkleinerung und des allmählichen Verschwindens. Der Erzähler seiner Mikrogramme sei fragmentiert und ähnlich schwer zu entziffern wie Walsers winzige Bleistiftschrift.14

9 Der Beitrag zu Robert Walser nimmt in Metzlers 800 Seiten starkem Band »Deutsche Literaturgeschichte« knapp eine halbe Seite in Anspruch; er bildet einen Teil des Kapitels »Jenseits literarhistorischer Kategorien und nationaler Grenzen« (S. 385f.). 10 Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2013, S. 385. 11 Ebd. 12 Aus Utz’ Sicht wurde Walser zu einer der wichtigsten Gestalten der Moderne des 20. Jahrhunderts, die Kafka, Hesse oder Musil in nichts nachgestanden habe (vgl. S. 197). 13 Ebd. 14 Susan Bernofsky spürt in ihrer hervorragenden Einleitung zu der englischen, von ihr übersetzten Auswahl der Mikrogramme dem Gebrauch des für Walser charakteristischen Codes nach, der sich als eine Miniaturversion der Kurrentschrift herausstellte (vgl. Bernofsky, Susan: Secrets, Not Codes. On Robert Walser’s Microscripts. In: Walser, Robert: Microscripts. Aus dem Deutschen von Susan Bernofsky. New York: New Directions 2012, S. 9–19). Der Schriftsteller schrieb mit einem Bleistift, den er für benutzerfreundlicher hielt als den Federhalter – dieser wurde ihm eines Tages zu offiziell und zu einschränkend. Diese Art des Schreibens nannte er seine »Bleistiftmethode«. Es gelang ihm, sie vor seinen Angehörigen und selbst vor den Ärzten der psychiatrischen Heilanstalt, in die er 1929 eingewiesen wurde, geheim zu halten (vgl. Bernofsky, Secrets, Not Codes. 2012, S. 9–17).

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Walser »überspringt sich selbst«, heißt es dort, und bringt damit sich selbst »zur Geltung«. Das Hauptmotiv seines Werkes sei deshalb ein Ich, welches »sich in die Ordnung der Sprache ein[schreibt]«.15Utz sieht Walsers späte Schaffensperiode als die wertvollste an: die Zeit zwischen der letzten Buchveröffentlichung von 1925 (einem Prosaband mit dem Titel »Die Rose«) und dem völligen Verstummen des Schriftstellers im Jahr 1933. Alles, was in dieser Zeitspanne entstand, hat die Form von Mikrogrammen und wurde nicht zum Zweck einer eventuellen Herausgabe in das standardmäßige Deutsch transkribiert. Als Walsers Spitzenleistung betrachtet Utz dessen radikalstes Formexperiment: den Roman »Der Räuber«, der erst nahezu 15 Jahre nach dem Tod des Autors von Walsers Kenner Jochen Greven entziffert und 1972 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. In dem Text stehe, so Utz, das Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und dem Erzähler im Vordergrund: Walser zergliedert den Kontext des eigenen Werkes und damit auch die Grundlagen seiner Kohärenz. Der letzte Roman des in Biel geborenen Autors liefere aus Utz’ Sicht eine »raffinierte Variante« dessen, wie sich – typisch für Walser – »das Ich erzählend selbst überspringen kann«.16

2.

Walser heute: der posthume Erfolg des »Spaziergängers«

Walsers Größe stand außer Zweifel bereits für seine genialen Zeitgenossen wie Franz Kafka, Hermann Hesse oder Robert Musil. Als 1925 das letzte von ihm selbst druckfertig gemachte Buch erschien, der Prosaband »Die Rose«, galt er als bekannter und angesehener Autor von vier Romanen, acht Prosabänden, einem Gedichtband und einigen Sammlungen mit Theaterstücken. Der traurige Umstand, dass er seine letzten 23 Lebensjahre, von 1933 bis 1956, in der psychiatrischen Heilanstalt Herisau verbrachte, in die er gegen seinen Willen eingewiesen worden war, ließ sein Werk in Vergessenheit geraten.17 Durch die Transkription seiner Aufzeichnungen und die Veröffentlichung des Gesamtwerks vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger eine Wiederentdeckung Walsers durch das Lesepublikum, sondern vielmehr seine Neuentdeckung in einem breiteren und vollständigeren Kontext. Die Liebhaber und Kenner literarischer Auffälligkeiten der damaligen Jahrhundertwende gewannen außerdem eine andere Perspektive als die nun als steif und regional begrenzt eingeschätzte Sicht Benjamins: Sie nutzten nun persönliche Bezugstraditionen – Joyce, Proust, Kafka oder Gombrowicz. Analoges ließe sich vermutlich beim Betrachten der internationalen Rezeption anderer Literaturmeister beobachten. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 207. 17 Vgl. Bernofsky, S. 18.

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Der erste Schritt eines Schreibenden, um eine Art Größe zu erreichen, besteht aller Wahrscheinlichkeit darin, den heimischen literarhistorischen Kontext zu überschreiten und sich »fremden Händen« anzuvertrauen: Als erster Kartograph jener Übertragung in eine andere Kultur, jenes »misreading«, gilt Harold Bloom. Über die Aufnahmebereitschaft des Walserschen Werkes durch junge Autoren und Literaturkritiker unterschiedlicher Länder und Sprachen entscheidet ihr fundamental kulturkritischer Charakter, welcher der totalitären Abschottung der Hochliteratur sowohl gegen die Vielfalt der Welt als auch gegen die Verschiedenheit individueller Zugänge widerspricht. Anziehend wirkt bei Walser vielleicht auch die nahezu buddhistische Liebe zum Kleinen, Nichtigen oder Unbedeutenden, die seine Prosa atmet. Winzige Schriftzeichen symbolisieren Rückzug, Selbstverteidigung, Niederlage. Wie Arkadiusz Z˙ychlin´ski, Łukasz Musiał und Małgorzata Łukasiewicz, die eine Auswahl aus den »Mikrogrammen« ins Polnische übersetzt haben, in ihrem Nachwort schreiben, sei die Faszination durch das Verschwinden in Walsers gesamtem Schaffen deutlich spürbar: »Sein Hauptteil besteht aus kurzen Prosastücken, wobei der Verfasser häufig demonstrativ die Nichtigkeit der Inhalte betont«.18 Der Autor dieses »verschwindenden, weil sich bis zur Unleserlichkeit verkleinernden Werkes« selbst schreibt in einem Brief, er sei ein »Nichts«; Ähnliches bekennt er gegenüber dem Freund und Vertrauten Carl Seelig bei einem der gemeinsamen Spaziergänge: Er sei »eine absolute Null und möchte vergessen werden«.19 Anders als die meisten Schriftsteller wünsche sich Walser nicht, durch seine Texte Literaturgeschichte zu schreiben und sich ins Leben zu bringen; er scheine sich umgekehrt »aus Literatur und Leben abmelden« und aus der Welt »lösen« zu wollen.20 Letztendlich erweise sich sein Schreiben als Selbstauslöschung zum Zweck einer »existentiellen Rektifikation« oder »Destillation«.21 Es fällt nicht schwer, Parallelen zwischen dieser Sicht auf die Haltung des Menschen der Welt gegenüber einerseits und dem Transhumanismus sowie radikal ökologischen Einstellungen andererseits zu finden, denen zufolge die Menschenspur in der Welt gänzlich auszulöschen bzw. zumindest stark zu begrenzen sei. Samuel Frederick und Valerie Heffernan merken an, dass Robert Walser der einzige deutschsprachige Autor sei, dessen Werke im 21. Jahrhundert eine derart rasante und umfassende Karriere außerhalb des deutschsprachigen Sprachgebietes gemacht haben; hinsichtlich der Beliebtheit und des literaturkritischen Interesses habe der Schweizer die »großen Vier« (Kafka, Thomas Mann, Brecht 18 Z˙ychlin´ski, Arkadiusz, Musiał, Łukasz (Mitarbeit von Małgorzata Łukasiewicz), Posłowie [Nachwort]. In: Robert Walser, Mikrogramy [Mikrogramme], aus dem Deutschen von Małgorzata Łukasiewicz, Łukasz Musiał, Arkadiusz Z˙ychlin´ski, Kraków 2013, S. 130. 19 Ebd., S. 133. 20 Ebd., S. 132f. 21 Ebd., S. 134.

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und Rilke) hinter sich gelassen. Sein Schaffen inspiriere mittlerweile nichtliterarische Kunstwerke22, Walsers Einfluss auf die (nicht allein literarische) Kultur sei in vielen Ländern, allen voran in den USA, erstaunlich stark, was an dem eben erwähnten Transhumanismus und der radikal ökologischen Attitüde liegen mag. Verdient gemacht haben sich darum selbstverständlich jahrzehntelang und mit großer Geduld Dozierende an einigen Universitäten, so z. B. der Northwestern University, der Pennsylvania State University oder der Columbia University. Fast zehn Menschen wirkten und wirken außerdem daran, Walsers Werk ins Englische zu übersetzen: Angefangen mit dem Vorreiter Christopher Middleton23 über Michael Bullock, Lucas Marco Gisi oder die bereits mehrmals erwähnte Susan Bernofsky bis hin zu der jüngsten Generation, d. h. Damian Searls, Daniele Pantano, Tom Whalem oder Nicole Köngeter. Nicht ohne Bedeutung für Walsers fortschreitende Popularität war der Umstand, dass herausragende amerikanische Autorinnen und Autoren für sein Werk warben. Zu dessen erklärten Verehrenden gehörten u. a. Susan Sontag24, John Coetzee25, John Ashbery26 und William H. Gass27. Im amerikanischen Kontext könne Walsers Texten eine wichtige Rolle als Mittel im Kampf gegen auflagenstarke Medien zukommen, welche die anspruchsvolle Kunst karikieren, so Charles Bernstein im Gespräch mit Marjorie Perloff.28 Walser Hinterlassenschaft sei für das amerikanische Publikum wesentlich, weil sie ihm vor Augen führe, dass die Literatur nicht immer die dominierenden Werte einer Kultur widerspiegeln muss, sondern eine oftmals »chaotische, unvollkommene und beunruhigende«, »vielgestaltige und widerspruchsvolle Alternative« dafür anbieten kann.29 Als Beweis für 22 Frederick, Samuel, Valerie Heffernan, Robert Walser: Modernist at the Margins. In: Robert Walser. A Companion, hrsg. von Samuel Frederick und Valerie Heffernan, Evanston 2018, S. 8. 23 Als erstes wurde ins Englische Walsers Kurzprosa »Der Spaziergang« übersetzt: Noch zu Lebzeiten des Autors und mit seiner Einwilligung übertrug sie der damals junge amerikanische Lyriker Christopher Middleton. 24 Susan Sontag eröffnete Walsers internationale Karriere mit ihrer Einleitung zu dem Prosaband »Selected Stories« in der Übersetzung Middletons. 25 Der Literaturnobelpreisträger aus dem Jahr 2000 veröffentlichte in »New York Review of Books« einen ausführlichen Essay zu Walser und lobte mit Nachdruck dessen damals gerade auf Englisch erschienenen Romane »Jakob von Gunten« und »Der Räuber«. 26 John Ashbery, der bedeutendste amerikanische Lyriker des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts, zeigte sich in »The Times Literary Supplement« über Walsers »Mikrogramme« in der Übersetzung von Susan Bernofsky begeistert und nannte sie eins seiner Lieblingsbücher des Jahres 2010. 27 Der herausragende amerikanische Erzähler William Howard Gass äußerte sich schon 1990 enthusiastisch über Walsers Schaffen; damals verfasste er eine Einleitung zu dem Prosaband »Masquerade and Other Stories«, in dem Walsers Texte in der Übersetzung von Susan Bernofsky erschienen. 28 Perloff, Marjorie: A Conversation with Charles Bernstein. In: Fulcrum: An Annual of Poetry and Aesthetics 2/2003, S. 58. 29 Ebd., S. 60.

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diese Art Wichtigkeit Walsers in den USA gelten einige soeben erschienene bzw. im Druck befindliche Publikationen. Außer der bereits genannten Übersetzung der »Mikrogramme« durch Susan Bernofsky wurde 2018 ein Band u.d.T. »Robert Walser. A Companion« mit Aufsätzen zu dem Werk des Schweizer Schriftstellers von dem angesehenen Verlag Northwestern University Press herausgegeben, für den Samuel Frederick und Valerie Heffernan verantwortlich zeichneten. Es handelt sich dabei um eine vielseitige Veröffentlichung, in deren Rahmen alle bedeutenden Texte Walsers besprochen werden; der Schweizer wird als »moderner Wanderer durch übergangene Randbezirke« gesehen, der allerdings nicht ihr »Herr«, sondern »demütiger Beobachter« sei.30 Die Wichtigkeit Walsers geht allerdings über die Literatur hinaus. Ein besonderes und spannendes Thema stellt sein Einfluss auf bildende Künstler dar. Walser selbst schätzte die Malerei sehr hoch und verfasste einige Duzend durch konkrete Bilder inspirierte Prosastücke und Gedichte. Das bekannteste Beispiel ist in dem posthum entzifferten Roman »Der Räuber« zu sehen, der durch Walsers Porträt als junger Mensch, welcher sich für einen »Räuber« aus Friedrich Schillers gleichnamigem Drama verkleidet hatte, inspiriert wurde. Gemalt wurde es von Roberts älterem Bruder Karl, der auch dessen Bücher und ihre Umschläge illustrierte. Weitere Eingebungen verdankte der Schriftsteller Paul Klee. Susan Sontag behauptete sogar, Walser sei ein »Paul Klee der Prosa«, denn die Antwort der beiden Künstler auf die Krise der Moderne habe in der räumlichen Auffassung der Zeit gelegen.31 Beide konzentrierten sich auf Miniaturen, auf Unauffälliges und Übergangenes, und protestierten damit gegen die moderne Ästhetik des Maximalen und Monumentalen. Unter den durch Walser inspirierten Künstlern der Gegenwart sind die amerikanische Malerin Joan Nelson sowie der englische Musiker, Maler und Schriftsteller Billy Childish zu nennen. Walser übte darüber hinaus einen Einfluss auf Kunstsammler und Kulturanimatoren: 2011/2012 veranstalteten Donald Young und Christine Burgin in der Galerie Donald Young Gallery in Chicago eine Ausstellung, in der künstlerische Reaktionen auf die Prosa des Schweizers gezeigt wurden. Darüber hinaus darf das ehrgeizige Projekt nicht unerwähnt blieben, das die Verwaltung seiner Geburtsstadt Biel in die Wege leitete, um den Schriftsteller zu ehren: Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn schuf dort am zentral gelegenen Bahnhofsplatz eine Art Kunstort u.d.T. »Robert-Walser-Sculpture«, das 86 Tage lang, vom 15. Juni bis zum 8. September 2019, besucht werden konnte. Thomas Hirschhorn (geb. 1957) gehört zu den herausragenden europäischen Künstlern der Gegenwart, er erhielt 2001/2002 den Prix Marcel Duchamp als größte Auszeichnung für zeitgenössische französische Kunstschaffende, welche 30 Frederick, Heffernan. S. 12. 31 Sontag, Susan: Walser’s Voice. In: Robert Walser. Selected Stories. Aus dem Deutschen von Christopher Middleton u. a. New York: Farrar, Straus and Giroux 2012, S. vii.

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von der Vereinigung ADIAF verliehen wird. Hirschhorns Projekt zielte (wie im Dossier beschrieben wurde) darauf, die Erinnerung an Robert Walser und dessen Werk wachzuhalten, aber auch darauf, Begegnungen zu provozieren, Ereignisse zu kreieren und im öffentlichen Raum eine neuartige Skulptur als Verwirklichung der Idee einer gesellschaftlichen und künstlerischen Utopie zu errichten.32 Die Besichtigung ist kostenlos, was nicht ohne Bedeutung ist, denn zu den Besuchenden zählen vor allem Menschen aus den Ländern Afrikas und des Nahen Ostens, Migrantinnen und Migranten sowie deren Nachkommen. Hirschhorns Projekt hat daher eine politische Dimension: Der Spaziergang durch die Walsersche Gegend wird zu einem Lehrgang in Sachen Toleranz und somit zu einem Brückenschlag zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Kulturen. Die politische Dimension der Walserschen Texte kann man auch im globalen Maßstab bemerken: Dass das Interesse an dem Schweizer in den USA eines Donald Trump und im populistisch werdenden Europa zunimmt, spricht Bände. Ähnlich aussagekräftig ist der Umstand, dass die Walser gewidmete Tagung 2018 an der Universität von Opole veranstaltet wurde; ihre Ergebnisse sollen als Sammelband mit Texten polnischer Walser-Kennerinnen und -Kenner herausgegeben werden. Im Gegensatz zu ideologisch engagierten Konzepten setzt die Literatur der Moderne auf Beteiligung der Rezipienten an der Sinngebung eines Textes und fördert dadurch kritische Freiheit, um dem Lesepublikum Möglichkeiten der Teilhabe und Mitgestaltung der eigenen Kultur bewusst zu machen. Walsers Werk besitzt im Endeffekt eine ethische Dimension dank seiner Bemühung, den Lesenden ihre Lebenswelt näherzubringen.

3.

Die Spuren der Avantgarde in den »Mikrogrammen«

3.1

Verhältnis zur literarischen Tradition

Das Werk Robert Walsers scheint dem gleichen rebellischen Impuls wie das Schaffen anderer Schriftsteller der europäischen Moderne zu entspringen, die althergebrachte literarische Rituale und Formen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu Grabe tragen wollten. Walsers Besonderheit und Einmaligkeit beruhen auf der Verbindung unterschiedlicher, europäische Autoren auszeichnender Arten der modernen Sensibilität. In ihrem Aufsatz »The Futurist Moment« versucht die Amerikanerin Marjorie Perloff, welche avantgardistische Strö32 Einzelheiten des Projektes findet man auf seiner Homepage, vgl. https://www.robertwalsersculpture.com/wp-content/uploads/2019/01/DOSSIER_RobertWalserSculpture_adapté.pdf. (Zugriff am 19. 09. 2020).

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mungen des 20. Jahrhunderts erforscht, die beiden zu Beginn jenes Jahrhunderts beobachtbaren entgegengesetzten und typischen Einstellungen zu literarischen Experimenten folgendermaßen zu beschreiben: 1. In rückständigen Gesellschaften wurden die neuen Ausdrucksformen mit einer gewissen Vehemenz und auf ästhetisch radikale Art und Weise forciert, so z. B. von den russischen und italienischen Modernisten; aus diesem Grunde wurde der Futurismus am überzeugendsten auf Italienisch, von Marinetti, und auf Russisch, von Majakowski, gelebt.33 2. Dort, wo die bürgerliche Kultur dagegen stärker war, war auch der Widerstand (seitens des Großbürgertums) gegen die neuen Ideen stärker und raffinierter.34 Der in der multikulturellen und mehrsprachigen Schweiz aufgewachsene Robert Walser verbindet, wie es scheint, Merkmale der radikalen, italienisch-russischen Avantgarde mit Eigenschaften der deutsch-französischen, formell nicht ganz so rebellischen und weniger gesellschaftlich engagierten Moderne. Walsers »Vehemenz«, um mit Perloff zu sprechen, scheint wohl insbesondere in der erzählerischen Schicht der Mikrogramme zum Ausdruck zu kommen, die von Anfang an versuchen, alle Paradigmata des klassischen Erzählens umzustürzen: Der Autor beseitigt eine klar erzählende bzw. vermittelnde Stimme, aber auch Requisite, mithilfe deren der Leser einen auf seinen gesunden Menschenverstand gestützten Realitätsbegriff entwickeln könnte; dadurch gibt es in seinen »Prosastücken«, wie er die Texte selbst nannte, keine Protagonisten (mit Ausnahme von Karikaturen), keine Erzählung (außer reihenweise aufgezählten banalen Handlungen) und letztendlich auch keine nachvollziehbare Argumentation. Diese drei Aspekte entscheiden über eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen der Walserschen Prosa und Werken aus der angloamerikanischen Tradition; manche »Mikrogramme« lesen sich wie Pounds »cantos à rebours«, indem sie weniger Bruchstücke literarischer Meisterwerke als eher bodenständige Wendungen und popkulturelle Bezüge metaleptisch recyceln. Nimmt man Walsers Schaffen chronologisch unter die Lupe, wird man feststellen, dass jene experimentierende Vehemenz zuzunehmen scheint, anders als beim Blick auf moderne Tendenzen in Kunst und Literatur, die sich in den 1920er- und 1930er-Jahren deutlich abschwächten. Das machte eine steile künstlerische Karriere nicht einfacher und die Gunst des Publikums nicht größer. In dem letzten Jahrzehnt seiner schriftstellerischen Aktivität, so Susan Bernofsky, sei es immer schwieriger geworden, geeignete Verleger für seine »immer kunstvolleren« und »formell ambitionierten« Werke zu finden.35Im Endeffekt blieb in den Mikrogrammen 33 Perloff, Marjorie: The Futurist Moment. Avant-Garde, Avant Guerre, and the Language of Rupture, Chicago/London 1986, S. xxii–xxiii. 34 Ebd., S. xxiii. 35 Bernofsky, S. 10.

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viele Jahrzehnte lang unentdeckt, was für Herausgeber und Leser zu herausfordernd und ästhetisch zu innovativ war.

3.2

Zum Aufbau und zur Bedeutung der Mikrogramme

In Analogie zum Leitmotiv einer Musikkomposition haben die meisten Mikrogramme, wie es scheint, ein Hauptthema – es ergibt sich überwiegend aus der Beobachtung der nächsten Umgebung. So wird in »Faul, will sagen, planlos flanierte ich gestern nachmittag«36 von einem Spaziergang des Erzählers oder vielleicht von einer Reihe einander ähnelnder Spaziergänge berichtet, die in Zusammenschau »landschaftliche Eindrücke«37 ergeben. »Eine Art Kleopatra«38 konzentriert sich auf eine Frauenfigur, welche aus der Sicht des Erzählers viele Gemeinsamkeiten mit der letzten Königin des hellenistischen Ägyptens hat. »Herbst (II)«39 erkundet vielfältige wortwörtliche und übertragene Bedeutungen des Titels. In »Da war wieder ein Buch«40 wiederum personifiziert der Erzähler den Lesevorgang als eine weibliche Figur. Eine wesentlichere Rolle spielt der Umstand, dass sich jeder Text aus einigen getrennten Teilen zusammensetzt; der häufigste Aufbau ist dreigliedrig. In dem kurzen und ausdrucksstarken Anfang – der jeweils aus nur einem oder höchstens zwei-drei Sätzen besteht – gibt der Erzähler seiner Leserschaft einen blitzartigen Einblick in die von ihm wahrgenommene Wirklichkeit. »Radio«41 beginnt beispielsweise mit der einfachen Mitteilung: »Gestern bediente ich mich zum erstenmal eines Radiohörers«42; ähnlich ist es in »Neujahrsblatt«: »Wende reimt sich auf Hände, Wände«43. Herbst (II) hat wiederum einen gänzlich unpersönlichen und äußerst poetischen Auftakt: »Wölkchen, die wie Stückchen Watte aussehen, schweben vor den Fensterscheiben im gelben Blau«.44 In »Es gibt versoffene Genies« klingt der erste Satz hingegen wie ein persönliches Bekenntnis: »Es gibt versoffene Genies, die lästig zu fallen imstande sind, was beim meinigen nicht zutraf, da es ganz aus Eisen bestand und ihm das Saufen weiter gar nicht scha36 Walser, Aus dem Bleistiftgebiet. Bd. 4. 1990, S. 11f. [Der besseren Lesbarkeit halber werden die entsprechenden Zitatennachweise im fortlaufenden Text mit Kurztitel »AdB«, Bandnummer und Seitenzahl angegeben. I. S.] 37 »AdB 4«, S. 11. 38 »FdK«, S. 259–261. 39 »FdK«, S. 259–261. 40 »AdB 5«, S. 185f. 41 »Ewe«, S. 37–39. 42 Ebd., S. 37. 43 »Ewe«, S. 96. 44 »Ewe«, S. 151.

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dete«.45 Die Eröffnungsgeste ist oft überraschend und dynamisch: Nach einigen wenigen Worten befindet sich der Leser inmitten einer seltsamen, schönen und nicht selten unvorhersehbar bedrohlichen Welt. Nach dieser kurzen Einleitung kommt es zu einer ersten plötzlichen Wende. Wenn in dem zweiten Teil eines Mikrogramms das Hauptthema entfaltet wird, geschieht es auf eine Art und Weise, die sich wenigstens ein Stück weit von dem Beginn distanziert; es ist eine Erweiterung, aber manchmal auch ein Kontrast. In »Radio« geht zum Beispiel die anfängliche persönliche Perspektive sanft in eine allgemeine über, wobei zweifelhafte zivilisatorische Vorzüge des Radiohörens geschildert werden: »Man hört etwas Entferntes, und die, die dies Hörbare hervorbringen, sprechen gleichsam zu allen, d. h. sie sind in vollkommener Unkenntnis über die Zahl und Besonderheit ihrer Zuhörer«46 Ähnlich aufgebaut ist das Mikrogramm »Es gibt versoffene Genies«: Auch sein zweiter Teil vertieft sanft die einleitende Feststellung: »Man kann von einer totalen Einflußlosigkeit sprechen, die dem Saufen eigen war, das auf das Genie absolut keinen Eindruck machte«.47 In »Herbst (II)« dagegen negiert der zweite Teil radikal den poetischen Anfang: »Letzteres spreche ich mit der Trägheit eines gottbegnadeten Faulenzers aus, aber ich sage außerdem, daß ein Brief in meinem Manuskriptenbehälter liegt, den ich eventuell beantworten werde«.48 Der zweite Teil, die Entfaltung, kann thematisch einheitlich sein oder auch aus mehreren semantischen Einheiten, aus einer Reihe von Minierzählungen oder poetischen Riffs bestehen, die unterschiedlich stark mit dem Hauptthema zusammenhängen. So ist »Es gibt versoffene Genies« thematisch und stilistisch einheitlich, verschiedene mit dem Alkoholtrinken verbundene Fragen werden aus einer etwas deftigen Perspektive erkundet, wobei Getränkesorten und Verhaltensweisen personifiziert werden: »Indem dieses Prosastück von einem Alkoholiker handelt, glitzert es von Schnaps und Bier, so daß ich mich genötigt sehe, Damen, die allfällig freundlich vorbeikamen, um seinen Inhalt kennenzulernen, achtungsvoll zu bitten, es lieber ungelesen zu lassen. […] Nachdem die Versoffenheit in Person mit einem Glas Bier angefangen hatte, setzte sie ihre schreckenerregende Laufbahn mit einer staunenauslösenden Behaglichkeit fort, bis schließlich den Herren Gastwirten, die [zu] Zeugen eines unerhörten Könnens auf dem Gebiete des Saufens gemacht worden waren, die Haare zu Berge stiegen und bis der Schnaps aus dem Schnapsglas heraus zum Schnapser sprach: ›Jetzt habe ich dich überwältigt‹, wonach der Ungebändigte erklären zu können glaubte: ›Noch lange nicht.‹ […] Manche Versoffenheit hat beim Stoffkragen gepackt und in die frische Luft hinausbefördert werden müssen. Beim ungemein versoffenen Genie jedoch kam das darum 45 46 47 48

»AdB 4«, S. 138. »Ewe«, S. 37f. »AdB 4«, S. 138. »Ewe«, S. 151.

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nie vor, weil jede derartige Maßnahme denkbar überflüssig zu sein schien, da das Genie, das mitten in der Betrunkenheit Beharrungsgrundlagen aufbaute, dem Ungeheuer Alkohol gegenüber vollständig standhaft blieb«.49

Die zentrale Personifikation dieses Mikrogramms stellt das spöttische geschilderte erzählende »Genie« dar, das »Schnapser« genannt wird; sein hoher Alkoholkonsum scheint spurlos an ihm vorbeizugehen. Etwas düsterer wirkt der personifizierte Wodka – das »Genie« treibt mit ihm Scherze über seine Abhängigkeit von ihm. Die Abhängigkeit selbst, die »Versoffenheit«, erscheint als Eindringling, der seinen schrecklichen »Zug« so weit bringt, dass nur noch ein gewaltsamer Rauswurf an die frische Luft helfen kann. Diese oberflächlich gesehen humorvolle Groteske mit ihren Personifikationen zeichnet sprachliche Brutalität aus, die durch Aufeinanderprallen von sublim Lyrischem und Alltäglichem oder gar Slang und Obszönitäten entsteht. Auf der einen Seite haben wir »entzückend schöne« Augen mit einem »unaussprechlichen Lebenskunstglanz«, auf der anderen einen Alkoholiker, der »sich im Suff derart tadellos aufführte, daß ihm wackere Menschen die Hand schütelten«, obwohl seine Augen »in’s Häßlichste, was vorhanden ist, nämlich ins Saufen« schauten. Der dritte Teil eines Mikrogramms, der Schlussteil – er besteht meistens aus einem Satz oder einem Absatz – bedeutet eine weitere erzählerische Wende: Er versucht sich vollständig von dem Vorangegangenen loszureißen, die ohnehin an den Haaren herbeigezogene Illusion einer Erzählung zu zerstören und eine Art Metakommentar zu liefern. »Neujahrsblatt« bombardiert den Lesenden frenetisch mit Bilderbruchstücken und endet lapidar: »Die Geschichte geht weiter, man nimmt das Schöne eines Zusammenhanges wahr«.50 Dieser Satz besänftigt den unruhigen Bilderwechsel, erklärt aber auch die von Natur aus im Fluss befindliche und inkohärente Welt. Nach den gesehenen Bildern tauchen immer neue auf und wir können nur eins: uns dem Vergnügen ihrer Katalogisierung hingeben. Mit einer ähnlichen aphoristischen Leichtigkeit, die hier allerdings am Rande der semantischen Kohärenz schwebt, wird »Bücher können Erfolge sein« beendet: »Mißerfolge haben etwas Liebes, Sanftes, Feines, Kluges, sind sympathisch, und man verwandelt sie ebenso gern, wie man Erfolge in Mißerfolge umformen kann, in Erfolge«.51 Misserfolge und Erfolge liegen nicht weit voneinander entfernt, weil die Bedeutung dessen, was uns im Leben zustößt, nicht eindeutig ist und sehr oft davon abhängt, wie wir die Geschehnisse zum Aufbau der eigenen Persönlichkeit nutzen. Mehrheitlich verwirft Walser im Schlussteil seiner Mikrogramme jede Möglichkeit einer allegorischen Deutung, die den Text zu einem Ganzen zusam49 »AdB 4«, S. 138f. 50 »Ewe«, S. 99. 51 »AdB 5«, S. 319.

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menfassen und abschließen würde. So stellt er in »Herbst (II)« kurz und bündig – und scheinbar ohne Zusammenhang mit dem Inhalt (die Rede ist von »einer Art Bettler«52) – fest: »Zurzeit veranstaltet man in der Stadt, die ich bewohne, eine Van-Gogh-Ausstellung«.53 In vielen Fällen hat der Schluss einen leicht metafiktionalen Charakter: Der Erzähler bricht eher ab, als dass er seine Erzählung zu Ende bringt, und verabschiedet sich von den Lesenden auf mehr oder weniger konventionelle Art und Weise. In »Damals war es so, o damals« scheint er wohl zu vertraut geworden zu sein und er sagt zum Schluss: »Adieu unterdessen. Ich muß zum Essen«.54 In »Die grüne Spinne« fällt der letzte Satz hingegen deutlich offizieller aus: »Dem Leser statte ich für die Geduld, daß er mir sein Ohr während dieser Abwicklung lieh, heißgekochten Dank ab«55; in »Selber zu tanzen untersagte ich mir« wiederum – recht neutral: »Aber schon wurde es spät. Ich gehe nach Hause«.56 Die größte Ähnlichkeit mit der Poetik Pounds im Aufbau der Walserschen Mikrogramme beruht darauf, dass die Bedeutung des Textes durch interaktive Beziehungen zwischen seinen Teilen – dem Anfang, dem Hauptteil und dem Schluss – generiert wird, indem vielschichtige Metaphern entstehen. In »Es gibt versoffene Genies« scheinen diese Relationen einfach zu sein: Zu Beginn sagt der Erzähler, sein Genie sei kein Säufer; in dem Mittelstück schildert er das Saufen als tödlich, allerdings scheint dem im Fall des genialen Erzählers nicht so zu sein; am Ende erfährt man, dass Gott das Erzählergenie dank einer Art Gewissen gerettet habe. Diese basalen Bedeutungen der drei Teile bilden eine vielschichtige Metapher des menschlichen Schicksals: Das Risiko einer Abhängigkeit sei auch bei einem Geniegegeben (vielleicht gar größer als bei einem durchschnittlichen Menschen), es könne aber zuweilen durch seinen Glauben vor der Gefahr bewahrt werden. Ich lese dieses Werk bestimmt zu wörtlich und zu naiv, auf der anderen Seite stößt man in den Mikrogrammen selten auf so klare Metaphern.

3.3

Fragmentierung / Collage / Zufälliges

Das Mikrogramm »Faul, will sagen, planlos flanierte ich gestern nachmittag« konstituiert einen metaphorischen Sinn, der sich wesentlich schwieriger versprachlichen lässt. Zu Beginn eröffnet uns der Erzähler, dass er in der Natur »faul, will sagen, planlos« nach einem literarischen Thema sucht. Die Fortsetzung liefert den greifbaren Beweis für die Richtigkeit dieser These: Walsers Erzählung 52 53 54 55 56

»Ewe«, S. 152. »Ewe«, S. 154. »AdB 1«, S. 279. »AdB 1«, S. 219. »AdB 5«, S. 73.

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entfaltet sich, in der Tat, »faul, will sagen, planlos«: Zuerst liest der Erzähler eine Zeitung, dann erblickt er im Fenster eines Jagdschlosses eine bezaubernde Frau, die zu verführen er vorhat, und begegnet am Ende – ob in der realen Welt oder bloß in seiner Phantasie, bleibt ungeklärt – einem sechsäugigen Buffalo Bill, welcher zur Begrüßung seine Hand mit der Kraft eines Schraubstocks drückt. Nach einem kurzen Wortwechsel verabschiedet sich der Erzähler »im Einsweiligkeitssinn« von seinem Gesprächspartner.57 Der letzte Satz ist eine reine Metafiktion: »Ich bin stolz auf diese Zeilen«.58 Der Erzähler demaskiert sich hier als einer, der sich um die künstlerische Form des soeben geschaffenen Werkes bemüht. Wenn er allerdings auf etwas stolz sein kann, sind es weniger »diese Zeilen«, als vielmehr die beherrschte Schreibmethode: Sie stützt sich auf Improvisation und schließt Zufälliges als Element des Aufbaus mit ein, wie es alle avantgardistischen Strömungen, vom Kubismus bis zum Surrealismus, taten. Bei Walser parallelisiert der Zufall zwei gleichzeitige und aber unzusammenhängende Wirklichkeiten – die Frau im Jagdschloss und Buffalo Bill; mit besonderem Nachdruck wird hier die Rolle des Unbewussten hervorgehoben. Extrem fragmentiert kommt dem Leser auch der Hauptteil des Mikrogramms »Neujahrsblatt« vor: Er besteht mehrheitlich aus jeweils zwei- bis drei Sätze langen Miniabschnitten, als wolle er damit leitmotivartig das in der Eröffnungsgeste auftauchende Wort »Wende« veranschaulichen: »Wende reimt sich auf Hände, Wände. Es klopfte, ich rief ›herein‹ und versteckte mich im Kleiderschrank, und der Ankommende wird lange gelauscht, gewartet haben. […] Gestern nacht im Traum verwandelten sich meine Hände in morsche, verfallende Türme. […] Geldausgeben hat etwas zweifellos Beglückendes. Ich hoffe, mir gelinge demnächst eine Novelle, die geschrieben sein soll, als klimpere eine Mandoline. […] Als Knabe kam mir eines Tages, eine Zeitschrift durchblätternd, eine Sklavenzüchtigungsabbildung vors Gesicht. Die Frage klöpfelt mir auf die Achsel, ob ich hier leise oder laut schreibe; ebenso frage ich mich, ob vorliegende Skizze spitzig oder stumpf töne.«59

Die zitierten Fehlschlussaussagen bilden einen recht exzentrischen Katalog aus sprachlichen objets trouvés oder gar collageartig verwendeten readymades; den ersten Abschnitt hätte man einem Detektivroman entnehmen können, der nächste (d. h. der Satz »Gestern nacht im Traum verwandelten sich meine Hände in morsche, verfallende Türme«) erinnert an ein surrealistisches Riff. Die Beziehungen zwischen den folgenden Aussagen – abgetrennten semantischen Einheiten, die von Geldausgeben, Sklavenzüchtigung oder Geräuschen erzählen – sind ähnlich arbiträr. Wie andere Modernisten gründet auch Walser die dargestellte Welt seiner Texte auf antimimetische Collagen. Seine Absicht geht 57 »AdB 4«, S. 11f. 58 »AdB 4«, S. 12. 59 »Ewe«, S. 96f.

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allerdings bestimmt nicht dahin, aus dem literarischen Schaffensprozess das Bewusstsein auszuschalten, wie es die Dadaisten oder die Surrealisten anstrebten, sondern vielmehr dahin, die Grenzen des bewussten Schaffensprozesses auszuweiten und ihn im größeren Maße auf »das Schöne eines Zusammenhanges« zu öffnen, wie am Schluss des Mikrogramms »Neujahrsblatt« heißt.60

3.4

Das Bathos

Die auf Zufälligem basierende Aufbaustrategie hängt mit Fragen des Sprachregisters zusammen: In zahlreichen Mikrogrammen gehen feine poetische Riffs in derbe Umgangssprachlichkeiten über. So beginnt »Faul, will sagen, planlos flanierte ich gestern nachmittag« metaphorisch: »Faul, will sagen, planlos flanierte ich gestern nachmittag mit freundlicher Leser- und Leserinneneinwilligung, landschaftliche Eindrücke einladend, in mich hineinzuspazieren, im Grünen und an allen sonstigen durchweg annehmbaren Farben herum«.61 Die Personifizierung der »landschaftlichen Eindrücke«, die eingeladen werden, in den Erzähler »hineinzuspazieren«, kehrt die Logik eines gewöhnlichen Spaziergangs um: Der Spaziergänger ist es ja, der in die Landschaft »hineinspaziert« und darauf seine »Eindrücke« aufbaut. Die ins Wanken geratene Logik verstärkt bei Walser häufig den metaphorischen Charakter der jeweiligen Aussage, sodass eine qualitativ außergewöhnliche poetische Harmonie entsteht; in diesem Fall verleiht ihr die unklare Beschreibung der Landschaftsfarben (sie seien grün und anders) zusätzliche Würze. Doch einige wenige Sätze weiter erblickt der Erzähler im Fenster eines Jagdschlosses eines der »zierlichsten Frauchen«, das sich »nach einem tüchtigen Aufgemuntertwerden« sehnt – eine solche direkte Gegenüberstellung von fein Poetischem und derb Umgangssprachlichem als stilistisches Mittel findet sich in vielen Mikrogrammen. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass dieses erstaunliche stilistische Gefälle eine für avantgardistische Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts typische Trope darstellt und bei Ezra Pound oder James Joyce anzutreffen ist. Der englische Erzähler und Literaturkritiker Ford Maddox Ford, einer der Vorreiter der Moderne in der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, behauptete, dass die Arbeit des Schriftstellers nicht darauf beruhe, schöne Worte zu finden, sondern darauf, durch die möglicherweise Emotionen weckende Methode des kontrastiven Gegenüberstellens bestimmte Fakten in eine bestimmte Perspektive zu bringen.62 Diese Methode scheint eine Gemeinsamkeit recht vieler Schriftsteller der Mo60 »Ewe«, S. 99. 61 »AdB 4«, S. 11. 62 Tytell, John: Ezra Pound. The Solitary Volcano, Chicago 1987, S. 94.

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derne einschließlich Robert Walser gewesen zu sein. Konkrete Bilder mit widersprüchlichen Bedeutungen wirken der Sentimentalität romantischer Bekenntnisse entgegen und legen den Standpunkt des Subjekts eher nahe, anstatt ihn eindeutig auszudrücken. Im Falle einer maximalen Polarisierung sprachlicher Elemente eines Textes erinnert die besprochene Trope an das zuerst im 18. Jahrhundert von dem englischen Dichter Alexander Pope definierte Bathos – eine unfreiwillige Verfehlung des stilistisch Gehobenen. Entschwebt Walser in die himmlischen Regionen der reinen Dichtung, wird er durch karnevalartige Zuckungen des Körperlichen wieder nach unten gebracht; treffsicher schildert dieses das Mikrogramm »Schwein«: »An sich seien Vergnügtheiten immer sozusagen schön und zugleich unter Umständen schweiniglich, denn das Menschlichschöne sei den Menschen gleichsam zu schön, weswegen sie’s gern zu den Schweineställen in eine Nachbarlichkeit stellen«.63 »Das Menschlichschöne« verbindet sich mit dem »Schweiniglichen« gleichsam zu einer Trope. Diesem Griff ist zu verdanken, dass Walsers Prosa an keinem ästhetischen Autismus krankt, sondern bodenständig bleibt und die ganze Palette menschlicher Empfindungen, auch die dunkleren Bereiche wie Schmerz oder Begehren, beschreibt. Ein anderes Beispiel liefert das Mikrogramm »Krisis«: Der Erzähler trifft ein an »Lebensüberdrüssigkeit« leidendes Ehepaar, was nichts Ungewöhnliches sei, denn man begegne ihm »so gut wie überall«.64 Das Melancholische des Textes erhellt ein Reim, den die Frau von sich gibt, während sie dem Erzähler ihre Hand zum Küssen hinhält: »Mein Mann jagt allen Unterröcklichkeiten nach, / und läßt mich einsam im Gemach«.65 Dank dieses deftigen Spruches wirkt die Tragik des sich voneinander entfernenden Paares überzeugender, die Emotionen der Figuren wirken natürlicher.

3.5

Poetik der Unbestimmtheit

Das Pathos dient als Trope dem Ziel, den Textsinn indirekt auszudrücken, und verbindet sich mit der für alle avantgardistischen Strömungen der Moderne charakteristischen Poetik der Unbestimmtheit. Dieser Begriff stammt von der bereits zitierten amerikanischen Forscherin Marjorie Perloff, die sich mit der Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt. In »The Poetics of Indeterminacy: Rimbaud to Cage« definiert sie Rimbauds Werk als Auslöser der Moderne; Unbestimmtheit als Methode der Aussage gehe, so Perloff, auf Rim63 »Ewe«, S. 225. 64 »Ewe«, S. 123. 65 Ebd.

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baud zurück: Der Sinn des Textes werde dabei von dem Leser immer nur fast entdeckt und versetze ihn deshalb in den Zustand einer permanenten Erwartung.66 Der Begriff der Unbestimmtheit impliziere ein Pendeln des Textes zwischen Referentialität und Kompositionsspiel, wobei aus den Details der literarischen Aussage keine logische Konfiguration entstehe, denn es könne kaum entschieden werden, ob sie für die Interpretation des Werkes wesentlich sind oder nicht. Perloff zufolge bestehe der Kern der Poetik der Unbestimmtheit in ebendieser fundamentalen Unentscheidbarkeit, mit Artur Rimbaud als Wegbereiter und Ezra Pound sowie Gertrude Stein als Vorreiter im englischsprachigen Raum.67 Die Walsersche Unbestimmtheit kommt, ähnlich wie diejenige anderer Autoren der Moderne, sowohl in Metaphern als auch im Aufbau der Werke zum Vorschein. Der erste Satz von »Faul, will sagen, planlos flanierte ich gestern nachmittag« enthält den Ausdruck »durchweg annehmbare Farben«68, dessen Bedeutung unmöglich präzise paraphrasiert werden kann: Wer soll Farben annehmbar finden? Und wer sollte deren Annehmbarkeit bestreiten? Ein weiteres mit Farben zusammenhängendes Rätsel begegnet uns in Herbst (II): Vor den Fenstern schwimmen Wolken »in gelbem Blau«69. Wie kann Blau gelb sein, was sollte das Gelb bedeuten? Bleiben wir bei Farben – in »Ist es vielleicht meine Unreife« bekennt der Erzähler Folgendes: »Man nennt mich um meines totalen Mangels an Lebenskenntniswillen den blauen Pagen«.70 Die Metapher »der blaue Page«, der das Leben nicht kennt, entzieht sich jeglichen Interpretationsversuchen. Im Aufbau der Werke zeigt sich die Unbestimmtheit in plötzlichen Wenden der Handlung, zum Beispiel ihrem Abbruch, oder auch in die Logik der Erzählung störenden Riffs auf Metaebene. Die zuvor zahlreich beschriebenen Elemente garantieren, wenn man so will, die Unbestimmtheit im Aufbau der Mikrogramme: das Pendeln zwischen Demonstrieren und dessen Schein, zwischen Enthüllen und Verhüllen der Bedeutung, zwischen allegorischer Darstellung und Negierung des allegorischen Sinns. Sie stellen außerdem den mimetischen Anspruch kohärenterer Textabschnitte in Frage, indem sie ein im Kern surrealistisches Klima erzeugen.

66 67 68 69 70

Perloff, Marjorie: The Poetics of Indeterminacy: Rimbaud to Cage, Evanston 1999, S. 11. Ebd., S. 5–15. »AdB 4«, S. 11. »Ewe«, S. 151. »AdB 6«, S. 534.

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3.6

Text als Bild und Technik der Selbstbegrenzung

Neben der eine metaphorische Bedeutung generierenden Fragmentierung der Struktur, dem Bathos und der Poetik der Unbestimmtheit sind es auch visuelle Aspekte der Mikrogramme, die Gemeinsamkeiten mit der Poetik der Moderne aufweisen. Wie Susan Bernofsky bemerkt, freute sich Walser schon in seinen frühesten Veröffentlichungen nicht allein über das kreative Ausdenken von Geschichten, sondern auch über das überaus vergnügliche »systematische Verwandeln eines leeren Papierblatts in eine schöne, kunstvoll geschmückte Fläche«.71 Dabei hatte Walser eine außergewöhnlich elegante Handschrift – das beweisen seine frühen Manuskripte und Briefe; als junger Mensch verdiente er sich oft ein Zubrot als Kopist.72 Walsers Texte demonstrieren zwar keine Gegenstände, trotzdem handelt es sich dabei aber mit Sicherheit um graphische Texte: Die Verwendung collageähnlicher Techniken – ein Mikrogramm wird auf einem Zeitungsfetzen oder einem anderen herausgerissenen Stück Papier aufgezeichnet – provoziert die Wahrnehmung eines visuellen Werks. Eine solche Verschriftlichung wird außerdem unvermeidlich mit Selbstbegrenzung oder prozeduralen Techniken assoziiert, die verschiedene avantgardistische Bewegungen des 20. Jahrhunderts anwandten: von der New Yorker Schule um John Ashbery bis zu der in Frankreich wirkenden Gruppe Oulipo. Bei vielen Mikrogrammen musste sich Walser mit einem äußerst begrenzten Raum begnügen. Eine gewisse Bedeutung kommt zuweilen der Wahl des Schriftstücks zu – er notierte u. a. auf der Rückseite von Verlegerbriefen oder Visitenkarten. In seinem Nachlass finden sich darüber hinaus viele interessante Beispiele für an die Gruppe Oulipo erinnernde Projekte: So besteht Walsers erste Buchveröffentlichung, »Fritz Kochers Aufsätze« (1904), aus 20 Kapiteln exakt derselben Länge73; in dem Prosastück »Das Alphabet« (1921) gibt es wiederum zu jedem Buchstaben des Alphabets einen damit beginnen Satz, von »Amazone« bis »Zeitungsbureau«.74 Die Verwendung der Miniaturschrift erscheint ebenfalls als eine Technik der Selbstbegrenzung. Der Aufbau eines Textes müsse, so Susan Bernofsky, in der Art eines Mikrogramms mühsamer gewesen sein, als Walser selbst gern zugegeben hätte, weshalb er seine Bleistiftmethode geheim gehalten habe.75Er betrachtete sich als romaneschreibenden Handwerker: »Ich weiß, daß ich eine Art handwerklicher Romancier bin. Ein Novellist bin ich ganz gewiß nicht. Bin ich gut aufgelegt, d. h. bei guter Laune, so schneidere, schustere, schmiede, hoble, klopfe, 71 72 73 74 75

Bernofsky, S. 13. Ebd. Ebd. Vgl. Utz, S. 197. Bernofsky, S. 18.

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hämmere oder nagle ich Zeilen zusammen, deren Inhalt man sogleich versteht. Man kann mich, falls man Lust hiezu hat, einen schriftstellernden Drechsler nennen.«76 Die Technik der Selbstbegrenzung erlaubte allem Schein zum Trotz einen lockereren Umgang mit Sprache und Gedanken; sie löste kreative Kräfte aus und befreite den Schreibenden vom Druck rein literaturkritischer Urteile, insbesondere wenn sie – wie es in Walsers Fall war – den Gebrauch eines für andere unverständlichen Codes mit einschloss. Dank der Bleistiftmethode überwand der Schriftsteller seine Schreibkrise, die sich u. a. im Einschlafen der Hand und einem unsicheren Griff um die Feder manifestierte; Walser litt darunter seit 1913, als er Berlin verließ und in seine Heimatstadt Biel zurückkam, ohne eine große Karriere gemacht zu haben. In den späten 1920er-Jahren, während seiner Erkrankung an Schizophrenie, verlieh ihm seine Schreibmethode Sicherheit und machte das Schreiben auch unter Anstaltsbedingungen, die jeder Intimität entbehrten, möglich. Robert Walsers herausragende Bedeutung als Autor, der heutzutage vor allem in den USA derart fulminant gefeiert wird, kann leicht erklärt werden. Dank seiner großen Begabung, seiner ausgeprägten Hartnäckigkeit und des Einsatzes seiner gesamten Lebensenergie brachte er das Paradigma des modernen Kunstwerkes zur künstlerischen Vollendung. Ähnlich wie bei anderen Schaffenden der Moderne, unabhängig von Medium und Sprache, bricht das Walsersche Werk mit der Ästhetik der unmittelbaren Vorgänger, generiert die Bedeutung durch metaphorische Beziehungen zwischen seinen Teilen, verwendet collageartige Techniken und schließt Zufälliges mit ein. Es nutzt Bathos, Poetik der Unbestimmtheit und Elemente der visuellen Kunst, indem es auch mithilfe der Selbstbegrenzung sinngebend wirkt. Walsers Texte richten sich allerdings nie gegen die große Tradition der Kunst und Literatur, umgekehrt: Seine Absicht ging stets dahin, ein Lesepublikum zu erreichen, welches die liberale Gesellschaft bejaht und die künstlerische Suche für sinnvoll hält.

4.

Schlussfolgerungen

Robert Walser war ein Schriftsteller der Avantgarde, welcher dank amerikanischer Germanisten, welche seine Texte übersetzten, sowie dank innovativer Interpretationen des Schweizers Peter Utz der Tradition der satirischen deutschsprachigen Literatur enthoben wurde. Seine gegenwärtige Weltberühmtheit verdankt er, so der Eindruck, der Kurzprosa, d. h. den Mikrogrammen, die als Paradebeispiele der europäischen Moderne in den ersten Jahrzehnten des 76 »Eine Art Erzählung«, in: »FdK«, S. 322.

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20. Jahrhunderts gelten. Da die Mikrogramme relativ spät – in den 1970er-und 1980er-Jahren – entdeckt und entziffert wurden, werden sie nach wie vor als recht neue Texte angesehen und üben ihre Anziehungskraft auf jüngere, nach Forschungsthemen Ausschau haltende Wissenschaftler aus. Ihre frühmoderne Ästhetik weist außerdem viele Gemeinsamkeiten mit derjenigen der Postmoderne auf – daher klingt Walsers Prosa erstaunlich gegenwärtig: Die Bedeutung ist in den Mikrogrammen eine weite und schwer fassbare Kategorie, die Einzelheiten des Textes, aber auch größere Strukturelemente – Teile, semantische Einheiten, Abschnitte – und deren metaphorische Binnenrelationen umfasst. Der bezüglich des Sprachregisters polarisierte Walsersche Text produziert darüber hinaus stilistisch ein Mehr an Sinn, was auf den direkten Gebrauch von sprachlichen objets trouvés oder auch readymades bzw. ihre Paraphrasen zurückzuführen ist. Auf diese Weise entsteht eine weitere textliche Bedeutungsebene. Eine Rolle spielt außerdem die Tatsache, dass Walsers Texte oft einen graphischen, durch die Technik der Collage zustande kommenden Sinn besitzen. Die Metaphern gehören zur Poetik der Unbestimmtheit, wodurch die Bedeutung eines Mikrogramms nie fest oder endgültig ist, sondern ein vieldimensionales Nebelfeld aus oft entgegengesetzten semantischen Vektoren bildet. Das Mikrogramm »Faul, will sagen, planlos flanierte ich gestern nachmittag« endet mit den Worten: »Es gebe irgendwie ein Essaydeutsch, daneben aber noch ein Geschichtenerzähler – oder napoleonisches über Lodibrücken hinstrürmendes und – fliegendes, phantasiefahnenschwenkendes […] Deutsch«.77 Walsers Deutsch ist mit Sicherheit »napoleonisch« – heißt das aber, dass es gleichzeitig antideutsch ist? Eins steht fest: Seine Prosa wird uns noch lange in Staunen versetzen.

Literaturverzeichnis Altieri, Charles, Avant-Garde or Arrière-Garde in Recent American Poetry, in: »Poetics Today«, Bd. 20, Nr. 4 (Winter 1999), S. 629–653. Ashbery, John, TLS Books of the Year 2010, https://www.the-tls.co.uk/articles/private/tlsbooks-of-the-year-2010/. (Zugriff am 17. 09. 2019). Benjamin, Walter, Robert Walser, in: in: ders. Aufsätze, Essays, Vorträge, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 324–328 (= Gesammelte Schriften II.1). Bernofsky, Susan, Secret, Not Code: On Robert Walser’s Microscripts, in: Robert Walser, Microscripts, aus dem Deutschen von Susan Bernofsky, Nowy Jork 2012, S. 9–19. Coetzee, John, The Genius of Robert Walser, (Zugriff am 17. 09. 2019). Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar2013. 77 »AdB 4«, S. 12.

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Beate Sommerfeld (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu)

Zwischen ›Demutsabbildung‹ und ›Sprachverwilderung‹ – zur Gattungspoetik von Robert Walsers Texten zur bildenden Kunst

Robert Walser ist unter den Autoren der Moderne, in deren Texte ekphrastische Elemente einfließen, eine singuläre Erscheinung. Zunächst durch seinen Bruder, den erfolgreichen Illustrator und Maler Karl Walser vermittelt, war Walsers Verhältnis zur bildenden Kunst zeit seines Lebens sehr innig.1 Diese Affinität zur Kunst fand auf vielschichtige Weise Eingang in sein Werk. An zahlreichen Stellen seines Werks ist von Künstlern und von Kunstwerken und deren Entstehungsprozess die Rede, Walser schrieb eine Reihe von Prosastücken und Gedichten, die Künstlern oder Werken der bildenden Kunst gewidmet sind. Eine repräsentative Auswahl führte Bernhard Echte in einem Band mit farbigen Reproduktionen der besprochenen Bilder zusammen.2 Ein Großteil der Texte erschien zunächst in Zeitungen und Zeitschriften, wie in der von Karl Scheffler herausgegebenen Zeitschrift »Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für Kunst und Kunstgewerbe«. Sie erschien im Verlag von Bruno Cassirer, der zusammen mit seinem Cousin Paul Cassirer der Berliner Sezession und den Brüdern Walser nahestand und ein Exponent der epochenspezifischen Symbiose zwischen den Künsten war.3 In den 1920er Jahren belieferte Walser insbesondere die Prager Presse mit Texten über die bildende Kunst.4 Überdies interessierte Walser sich lebhaft für buchgestalterische Fragen und nahm an der Illustrierung seiner Bücher regen Anteil. Nicht zuletzt kann man Walsers Mikrogramme als eine Bild1 Vgl. Müller, Dominik: Künstlerbrüder – Schwesterkünste. Robert und Karl Walser. In: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Hrsg. von Ulrich Stadler. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1996; Echte, Bernhard/Meier, Andreas (Hrsg.): Die Brüder Karl und Robert Walser. Maler und Dichter. Stäfa: Rothenhäusler Verlag 1990. 2 Walser, Robert: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte. Hrsg. von Bernhard Echte. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2006. 3 Vgl. Groddeck, Wolfram: Robert Walser. In: Handbuch der Kunstzitate. Hrsg. von Konstanze Fliedl/Marina Rauchenbacher/Joanna Wolf. Berlin: De Gruyter 2011. Bd. 2, S. 786. 4 Vgl. Todorow, Almut: Ekphrasis im Prager Feuilleton der Zwischenkriegszeit. Malerei-Texte von Robert Walser. In: Grenzdiskurse. Zeitungen deutschsprachiger Minderheiten und ihr Feuilleton in Mitteleuropa bis 1939. Hrsg. von Sibylle Schönborn. Essen: Klartext 2009. S. 193– 208.

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form ansehen, als eine Form von Text, die sich mit dessen bildhafter Produktion auseinandersetzte. Walsers Schaffen ist damit für intermediale Fragestellungen besonders interessant. Die intermedialen Bezüge von Walsers Werk sind bereits recht gut erforscht, das Verhältnis von Text und Bild bzw. Literatur und Malereisteht im Mittelpunkt einer Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen, die Walsers Faszination für die Kunst seines Bruders sowie anderer Maler untersuchen.5 Besonders ab den 1990er Jahren wurde im Gefolge des iconic turn den Manifestationen der Wechselbeziehung von bildender Kunst und Literatur im Werk Walsers viel Aufmerksamkeit zuteil.6 Weniger präsent sind dabei gattungstheoretische Überlegungen. Walsers Texte zur bildenden Kunst durchziehen die ganze Vielfalt literarischer Gattungen, und das Schreiben über Bilder wird für Walser zur Problemkonstante, die eine beständige Arbeit an den Gattungen und literarischen Traditionen erfordert. Hier möchte der vorliegende Beitrag ansetzen und untersuchen, wie sich über die Bezugnahme auf die Kunst Walsers Umgang mit den Textkonventionen gestaltet.

Spöttische Unterwerfung unter das lyrische Genre – »Sonett auf eine Venus von Tizian« Die weitaus meisten Texte Walsers zur bildenden Kunst sind Klassikern der Kunstgeschichte gewidmet. Das bekannteste ist das 1927 im Prager Tageblatt erschienene »Sonett auf eine Venus von Tizian«: »Sonett auf eine Venus von Tizian Ihr schwarzes Haar sieht aus, als ob es sänge, die Glieder schimmern weiß wie Glanz von Sahne,

5 Vgl. beispielsweise: Evans, Tamara S. (Hrsg.): Robert Walser and the Visual Arts. New York: CUNY 1996, S. 23–35; Sorg, Reto: »Irgendwo müssen Bilder eben plaziert werden.« Robert Walser und die bildende Kunst. In: Ohne Achtsamkeit beachte ich alles. Robert Walser und die bildende Kunst. Hrsg. von Madeleine Schuppli/Thomas Schmutz/Reto Sorg. Sulgen: Benteli 2014, S. 31–38. Zum Forschungsstand vgl. Müller, Dominik: Text und Bild. In: Robert Walser Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Lucas Marco Gisi. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 283–289; Sorg, Reto: Intermedialität. In: Gisi (Hrsg.), Robert Walser Handbuch. 2018, S. 289– 291. 6 Vgl. Bleckmann, Ulf: Thematisierung und Realisierung der bildenden Kunst im Werk Robert Walsers. In: Intermedialität. Vom Bild zum Text. Hrsg. von Thomas Eicher/Ulf Bleckmann. Bielefeld: Aisthesis 1994, S. 29. Unterschiedliche Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser beleuchtet der von Anna Fattori und Margit Gigerl herausgegebene Sammelband: Fattori, Anna (Hrsg.)/Gigerl, Margit (Hrsg.): Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. München: Wilhelm Fink 2008.

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als wenn der holde Körper selber ahne, er sei die zarte Summe süßer Klänge. Sie liegt in ihrer gleichsam flehnden Länge, gelagert auf ’ner Art von Ottomane, als wär’ sie eine schlankgewachsne Fahne, die freundlich zu den Menschen niederhänge. Ein Veilchensträußchen lächelt zu ihren Händen, um Düfte dem Beschauer zuzusenden, die Dien’rin kniet devot vor dem Altare. O, einen Blick jetzt nochmals auf die Haare, und jetzt noch einen auf die wunderbare Demutsabbildung ihrer lieben Lenden.«7

Bei dem Gedicht handelt es sich um eine Bildbeschreibung in der Tradition der klassischen Ekphrase.8 Die Beschreibungsdetails weisen darauf hin, dass es sich bei dem Gemälde um die 1538 entstandene Venus von Urbino handelt. Die Vorlage wird jedoch nicht explizit genannt, es scheint vor allem wichtig zu sein, dass es sich um »eine« Venus handelt, die römische Göttin der Liebe, des erotischen Verlangens und der Schönheit. Damit ist die Erotisierung des Bilderlebnisses im Sonett vorgegeben. Allerdings weicht Walsers Beschreibung in einigen Details von der Bildvorlage ab, so z. B. in der Änderung der Haarfarbe der Venus: Im Sonett hat die Venus im Gegensatz zu Tizians Liebesgöttin keine braunen, sondern schwarze Haare. Im Kommentar zur Gesamtausgabe wird die Vermutung nahe gelegt, dass dies daran liege, dass Walser das Gemälde nur als Schwarz-Weiß-Abbildung gesehen hat.9 Andere Verschiebungen, wie z. B. die Kleidertruhe, die zu einem Altar mutiert, lassen sich so allerdings nicht erklären. Der Grund für diese Umgestaltungen des 7 Walser, Robert: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 13. Hrsg. von Jochen Greven. Zürich/ Frankfurt: Suhrkamp 1986, S. 161. (Im Folgenden zitiert als »SW Band, Seite«). Das Gedicht ist 1927 publiziert worden, es besteht aber ein Vorentwurf aus dem Jahre 1925, dieser befindet sich auf dem Mikrogrammblatt 482, das sich auf Februar oder März 1925 datieren lässt (vgl. SW 2, S. 625f.). 8 Vgl. Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hrsg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Wilhelm Fink 1995. 9 Kommentar in SW 13, S. 288: »Walser, der es in solchen Dingen nicht sehr genau nahm, scheint das Sonett nach der Erinnerung oder nach einer Schwarzweißwiedergabe des Bildes gedichtet zu haben: die Haare sind nicht schwarz, sondern braun, das Sträußchen in der rechten Hand hat rote Blüten, und was der Dichter, vielleicht ironisch, als Altar bezeichnet, ist eine Truhe, in der eine Zofe kramt.« Vgl. auch Groddeck, Wolfram: Liebesblick. Robert Walsers »Sonett auf eine Venus von Tizian«. In: Kunst im Text. Hrsg. von Konstanze Fliedl. Frankfurt/Basel: Stroemfeld 2005, S. 59f. Groddeck liest diese Verschiebung als Signal poetischer Selbstreflexivität, der Schwarz-Weiß-Charakter des Gedichts indiziere eine mediale Reflexion auf das Schwarzweiß der Schriftlichkeit als Medium des Gedichts (vgl. ebd., S. 60).

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Bildes scheinen tiefer zu liegen: Walsers Sonett arbeitet die unterwürfige Haltung gegenüber dem Bildgegenstand heraus, die mittels einer mise-en-abîme in der »devot« vor dem »Altare« knieenden Dienerin noch einmal gespiegelt wird. Die Liebesgöttin wird als Gebieterin inszeniert, die von oben auf den Betrachter herabblickt. Der Text scheint damit einen Gestus der Unterwerfung zu vollziehen. Daraus erklärt sich auch, dass der Blick der Venus konsequent ausgespart bleibt.10 Der Betrachter lässt den Blick zu den »lieben Lenden« und den weißen Gliedern der Liebensgöttin abgleiten, er wagt es jedoch nicht, ihr in die Augen zu blicken. Von einer solchen Lesart her erschließt sich auch das kryptische Wort »Demutsabbildung« im letzten Vers – auffällig auch dadurch, dass es das Metrum des Gedichts sprengt. Es ließe sich als Ausdruck der Unterwürfigkeit des Betrachters deuten, der vor dem Blick der Göttin die Augen niederschlägt. Die »Lenden« der Venus werden ihm zu einer »wunderbare(n)« Abbildung seiner demutsvollen Haltung. Das Gedicht scheint damit eine erotisch gefärbte Betrachtungsweise des Bildes zu modellieren, die Lust aus der Unterordnung zieht. Dies erscheint keineswegs abwegig, behält man im Auge, dass Artikulationen masochistischen Begehrens Walsers Werk von Anfang an durchziehen.11 Die expliziten Thematisierungen und Inszenierungen des Masochismus in Walsers Texten wurden allerdings in der Forschung oft stillschweigend übergangen.12 Als wegweisend für die Erforschung des masochistischen Einschlags von Walsers Texten hat sich die theoretische Neuformulierung des Masochismus von Gilles Deleuze erwiesen, der in seiner Studie über die masochistische Perversion von einer literarischen, und nicht mehr rein pathologisch-medizinischen Lektüre von Sacher-Masochs »Venus im Pelz« ausgeht und im Masochismus Elemente des Poetischen herausstellt (Warten, Aufschub der Lusterfüllung, Spannung, Narration, Komik, Humor und Subversion).13 Dieser theoretische Zugriff eröffnet den Blick für Walsers literarische Fundierung und Ausformulierung des Masochistischen.14 So entwickelt Jens Hobus im Anschluss an die Deleuze’sche Theorie die These, dass Walser einen eigenen,

10 Vgl. Groddeck, Liebesblick. 2005, S. 56. 11 Vgl. Groddeck, Wolfram: Masochismus. In: Gisi (Hrsg.), Robert Walser Handbuch. 2018, S. 332. 12 Susanne Schweiger stellt in ihrer Studie zu den Mikrogrammen fest, dass die »masochistischen Szenarien, die ein Hauptthema der Walser-Texte darstellen, allerdings von der Rezeption bisher kaum beachtet wurden« (vgl. Schweiger, Susanne: Die ästhetische Verwertung des Frauenkörpers. Robert Walsers Mikrogramme. Wien: Facultas 1996, S. 116). 13 Vgl. Deleuze, Gilles: Sacher-Masoch und der Masochismus. Aus dem Französischen von Gertrud Müller. In: Sacher-Masoch, Leopold von: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt/Leipzig: Insel 1980, S. 163–281. 14 Vgl. Groddeck, Masochismus. 2018, S. 332–336.

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»ästhetischen Masochismus« entwickelt habe.15 Diesen begreift er strukturell als poetisch subversiven Akt, der sich in der freiwilligen Unterwerfung unter den Reimzwang oder in der peniblen Übererfüllung und gleichzeitigen Aufhebung von Gattungsnormen vollzieht. Genau darin sieht Christian Walt eine »Erklärung des oft nur schwer beschreibbaren Humors von Walsers Texten« und stellt fest, dass mit den im ganzen Werk Walsers auffindbaren »masochistischen Verhaltensweisen voll unterwürfigen Spotts«, wie sie von Deleuze beschrieben werden, »auch Walsers repetitive Erfüllung von Gattungsnormen lesbar [wird] als subversiver Akt zum Erlangen von Souveränität«16. Walsers Sonett scheint deutliche Züge eines so verstandenen ›ästhetischen Masochismus‹ aufzuweisen: So kann die über die Textgrenzen hinaus aufgeschobene lustvolle Vereinigung mit dem Bildgegenstand im Blick auf die Venus als ästhetische Inszenierung des Masochismus gelesen werden. Das Gedicht macht sich jedoch nicht einfach zum Sprecher eines auf das Bild projizierten, verborgenen psychischen Geschehens, vielmehr entwirft sich der Text als eine spöttisch-subversive Unterwerfung unter Textkonventionen. Walser wählt für sein Gedicht die Form des Sonetts, dessen formale Anforderungen bis ins Kleinste vorgegeben sind. Der Text beugt sich zunächst den formalen Ansprüchen des Sonetts wie dem Reimzwang: Das Gedicht folgt bis in die Terzette konsequent dem Prinzip des umarmenden Reims. Durch die Häufung der Reime und Alliterationen (»lieben Lenden«) werden die formalen Vorgaben der lyrischen Form quasi übererfüllt. Die allzu beflissene Unterwerfung unter das Metrum führt zu umgangssprachlichen Wendungen wie »auf ’ner Art von Ottomane«, die einen Bruch der hohen Stillage induzieren und den Gattungskonventionen entgegenarbeiten. Stilbrüche kommen auch durch den trivialen Vergleich der göttlichen »Glieder« mit »Sahne« zum Tragen. Die mokante Anbiederung an die Konventionen der Kunstsprache führt zu abgeschmackten Metaphern, Katachresen wie die Metapher der »schlankgewachsne(n) Fahne« lassen den Text ins Triviale kippen. Das Gedicht ist damit stilistisch heterogen und hybride, Mundartliches findet Einlass in den Text, denn die »Fahne« ist in der Schweizer Mundart eine Bezeichnung »einer wankelmütigen, flatterhaften Weibsperson«17. Über diese Stilblüte wird eine ironische Dimension ins Gedicht 15 Hobus, Jens: Poetik der Umschreibung. Figurationen der Liebe im Werk Robert Walsers. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 185–201, hier S. 193. 16 Walt, Christian: »Den Lyrikern empfehl’ ich dringend, / sich dem Zwang des Reims zu unterziehen…«. Zur Übererfüllung von Gattungsnormen in Robert Walsers späten Gedichten. In: »Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa«. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen. Hrsg. von Anna Fattori/Kerstin Gräfin von Schwerin. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 166. 17 Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Bd. 1. Bearbeitet von Friedrich Staub/Ludwig Tobler. Frauenfeld: Huber 1881 (zitiert nach: Groddeck, Liebesblick. 2005, S. 61).

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gebracht, es schleichen sich Uneindeutigkeiten in den Text ein, die das erhabene Kunstideal in Frage stellen und die Ambivalenzen des Bildes hervorlocken. Ironische Distanz wird auch ins Spiel gebracht, indem die kunstvollen Metaphern in die Modalität des »als ob« versetzt und damit als Zitierungen ausgestellt werden. In der Häufung und gleichzeitigen Zersetzung literarischer Kunstformen ist Walsers Sonett von einem parodistischen Impuls getragen. Wie Werner Weber herausstellt, lässt sich der Text als Rilke-Parodie lesen18, wobei Walser bestimmte Manierismen von Rilkes »Neuen Gedichten« wie die »als ob«-Konstruktionen mit dem Irrealis oder die virtuose Verwendung des Reims zu parodieren scheint. Weber begreift Walsers Sonett als eine ironische Replik auf »Feierlichkeits- und Hoheitsbekundungen in der Kunst«, die vor allem auf Rilke zielt.19 So versteht er die Ersetzung der Kleidertruhe durch den »Altar« in Walsers Sonett als ironische Anspielung auf die Kunstreligion Rilkes. Die Brechung der hohen Stillage, die Abkehr von der Kunstsprache und die Hinwendung zu unreinen Formen wie der Parodie oder Travestie lassen einen ›unterwürfigen Spott‹ erkennen, dem ein subversives Moment innewohnt. Indem Walsers Text die Trivialität einer abgenutzten Kunstsprachedemaskiert, setzt es sich selbst dem Vorwurf des Trivialen aus. Über das Parodistische findet damit metapoetische Reflexion Einlass ins Gedicht– das lyrische Sprechen tritt sich selbst reflexiv gegenüber und stellt dabei nicht zuletzt die Möglichkeiten einer konventionalisierten dichterischen Sprache auf den Prüfstein, sich dem Kunstwerk anzunähern. In dem vom Text angestrengten Versuch, mit Worten zu ›malen‹, bleibt die ins Formenkorsett gezwängte poetische Sprache demonstrativ hinter dem Bild zurück – das Gedicht vermag die erotisch konnotierte Spannung zwischen Bild und Text nicht aufzulösen.

Subversive Plaudereien und die Ordnungen des Erzählens – das Prosastück »Olympia« Der Großteil von Walsers Texten über Werke der bildenden Kunst sind Prosatexte. Das Prosastück »Olympia«20 referiert auf das gleichnamige Gemälde von Edouard Manet. Er gehört zu den wenigen Texten Walsers, die sich auf die moderne Kunst beziehen. Walser war mit der zeitgenössischen Kunstentwicklung gut vertraut. 1907 war er zeitweise Sekretär der Berliner Sezession und beson18 Weber, Werner: Robert Walser vor Bildern. Altar statt Truhe. In: Neue Zürcher Zeitung, 13. 07. 1972, S. 41 (zitiert nach: Groddeck, Liebesblick. 2005, S. 63). 19 Ebd., S. 41 (zitiert nach: Groddeck, Liebesblick. 2005, S. 63). 20 Walser, Vor Bildern. 2006, S. 65–70.

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derer Protégé ihres Geschäftsführers Paul Cassirer.21 In seine Berliner Zeit fiel die Glanzzeit der Sezession (1899–1911) und er erlebte unmittelbar mit, wie die Malerei der Moderne sich Bahn brach, er wurde Zeuge der lebhaften Polemiken zwischen der Wilhelminischen Kulturreaktion und den Verfechtern der modernen Kunst.22 Gerade Manets Gemälde, das Walser zum Gegenstand seines Textes macht, galt vielen Kunsthistorikern als Begründer der modernen Malerei. Walser hat das Bild wahrscheinlich auf der epochalen Manet-Ausstellung im März / April 1910 in der Berliner Sezession bei Cassirer gesehen. Der Text liefert zunächst keine Beschreibung des Gemäldes, sondern bindet es in eine kunstvolle Rahmenhandlung ein: Er beginnt mit dem Brief des IchErzählers an eine aus der Ferne umworbene Frau. Dabei werden voyeuristische Blickkonstellationen entworfen, für die die Orte des Caféhauses und des Theaters signifikant sind. Der Text inszeniert damit eine heimliche Schaulust, die in Literatur und bildender Kunst gleichermaßen verpönt ist23, und lässt damit gleich zu Beginn das Moment des Verbotenen anklingen. Die Wortwahl des Briefeschreibers ist signifikant für dessen masochistische Disponiertheit, wenn er z. B. die Frau als »Gebieterin« umschmeichelt, deren Befehle er auszuführen bereit ist: »wenn Sie befehlen, […] wird es kein Hindernis geben, Ihnen zu gehorchen.«24 Der untertänige Ton der Briefe gibt deutliche Hinweise auf das masochistische Grundmodell des Textes. Walsers Prosastück inszeniert auch hier einen ›ästhetische Masochismus‹, der Lust aus der Unterwerfung unter Gattungsnormen und Textkonventionen zieht und diese zugleich ironisch in Frage stellt. Zunächst wird die Form des Briefes subvertiert: In den Briefen des Ich-Erzählers bricht sich eine »Geschwätzigkeit« Bahn, die bereits Walter Benjamin als die ästhetische Signatur von Walsers Schreiben herausgestellt hat25, und die die geschlossene Briefform unterminiert. In diesem Plauderton, einem beiläufigen, mäandrierenden, wenig zielgerichteten und digressiven Erzählen, das sich den Normen der Kohärenz und Stringenz entzieht, werden Abschweifung und Aufschub, das lustvolle Verweigern von Finalität zu tragenden Elementen des lustvollen masochistischen Rollenspiels.26 21 Vgl. Echte, Bernhard: Nachwort. In: Walser, Vor Bildern. 2006, S. 107f. 22 Vgl. Evans, Tamara S.: »Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen«. Zu Robert Walsers Kunstrezeption in der Berliner Zeit. In: Fattori (Hrsg.)/Gigerl (Hrsg.), Bildersprache, Klangfiguren. 2008, S. 107–112. 23 Vgl. Stadler, Ulrich: Schaulust und Voyeurismus. Ein Abgrenzungsversuch. Mit einer Skizze zur Geschichte des verpönten Blicks in Literatur und Kunst. In: Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in Literatur und Kunst. Hrsg. von Ulrich Stadler/Karl Wagner. München: Wilhelm Fink 2005, S. 9–38. 24 Walser, Vor Bildern. 2006, S. 66. 25 Benjamin, Robert Walser. 1991, S. 327. 26 Vgl. dazu die Ausführungen von Roland Barthes, der Digression als Performanz des Aufschubs qualifiziert, sie sind lustvoll, sofern sie sich »außerhalb jeder vorstellbaren Finalität«

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Im Zuge dieses diskontinuierlichen, assoziativen und digressiven Geplauders geraten die Gattungsgrenzen ins Driften: der Text fließt unmerklich in eine Erzählung hinüber. Dabei werden Handlungs- und Realitätsebenen ins Gleiten gebracht, es erscheinen unverhofft neue Elemente im Text verschwinden wieder, Identitäten verschwimmen. So tritt Manets Gemälde an die Stelle der Briefadressatin, es kippt in einem metaleptischen Kurzschluss in die Lebenswelt des Erzählers, wird ohne jede Erklärung in den Text gestellt und beginnt ein Gespräch mit ihm. Wahrnehmung und Vorstellung, real existierendes und fiktives Kunstwerk interferieren miteinander. Dabei wird das Verhältnis zwischen Text- und Darstellungsebene entautomatisiert und das Paradox des Erzählens ausgestellt – der erzählte Besuch der Göttin und seine Erzählung fallen ineinander. Durch das Aufheben der gewohnten Logik und den Verlust einer stabilen Struktur der Wirklichkeit werden auf allen Ebenen Ambivalenzen erzeugt: Die servile Haltung des Ich-Erzählers gegenüber der Briefadressatin springt auf das Bild über und erzeugt auch hier eine »eigentümlich masochistische Konstellation«27. Der Text gibt sich als manifeste masochistische Phantasie zu erkennen, bei der die Göttin deutliche Züge einer Domina trägt. Die zuvor imaginierte herrische Haltung der Briefadressatin wird im Blick des Bildgegenstands gespiegelt, wodurch der Text eine mise-en-abîme-Struktur aufweist. Zur Essenz des Bildes wird somit für den Betrachtenden der dominierende Blick der Göttin, dem er mit devoter Willfährigkeit begegnet. Walser bezieht sich damit auf die Rezeption von Manets Gemälde, denn der selbstbewusste und direkte Blick der Göttin wurde mehr noch als deren Nacktheit als skandalös empfunden, als Manet das Gemälde 1863 vorstellte. Diese Anstößigkeit des Bildes wird von Walser aufgegriffen. In dem Moment, in dem der Betrachterblick – anders als im »Sonett auf eine Venus von Tizian« – auf den Blick der Göttin trifft, entfaltet das Bild seine ganze Bedrohlichkeit und zieht den Betrachtenden in seinen Bann. Dabei vollzieht sich ein Umschlag vom Sehen zum Gesehen-Werden: Der Betrachterblick schlägt auf das Subjekt zurück, das Bild adressiert den Erzähler.28 Auch hier drängt sich ein Bezug zu Rilke auf: So fällt es schwer, bei der Lektüre von Walsers Text nicht an Rilkes »Archaischer Torso Appollos« zu denken, mit seiner berühmten Zeile: »da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht«29, die für den Wunsch paradigmatisch ist, durch die leibhaftige bewegen (Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Traugott König. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 77). In der Forschung ist bereits auf den Masochismus von Walsers eigener Korrespondenz verwiesen worden (Walsers Briefe als masochistische Phantasien, vgl. Schuller, Marianne: Korrespondenz. In: Gisi (Hrsg.), Robert Walser Handbuch. 2018, S. 227f.). 27 Deleuze, Sacher-Masoch und der Masochismus. 1980, S. 223. 28 Didi-Huberman, Georges: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. München: Wilhelm Fink 1999. 29 Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv. Besorgt von Ernst Zinn. Frankfurt/Main: Insel 1955. Bd. 1, S. 557.

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Präsenz des Kunstwerks von diesem direkt adressiert zu werden. Dieser »Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen«, der noch für Adorno den Rätselcharakter des Kunstwerks ausmacht30, tritt in Walsers Beschreibungstext als die äußerste Verdichtung der Ambiguität in Erscheinung31, das betrachtende Subjekt wird in einen hochgradig ambigen Zustand versetzt. Dabei rührt Walsers ›Dialog‹ mit dem Bild an den Punkt, wo – wie der Kunstphilosoph Georges DidiHuberman schreibt – »Sehen Verlieren heißt«32. Allein durch seine Visualität und hartnäckige Latenz besitzt es die Fähigkeit, einen momentanen Verlust zu bewirken: die Einbuße einer gesicherten Betrachterposition mit der Konstellation des Betrachters vor einem Bild – der klassischen Szene der Ekphrase also. An deren Stelle tritt die Heimsuchung durch das Bild, das den Raum des Sehenden ganz in Beschlag nimmt, bis sich die Göttin bei ihm zu Hause auf dem Sofa räkelt. Mit dieser Erweiterung des Kunstwerks in den Raum hinein macht der Text die raumgreifende Präsenz des Bildes geltend, die es zu einer visuellen Macht werden lässt, welcher sich das Subjekt lustvoll unterordnet. Der Text entfaltet sich als ein sado-masochistisches Rollenspiel auf mehreren Ebenen. Dabei wird der alles absorbierende Blick des Bildes als ästhetischer Imperativ im Sinne der Subordination unter die Gattungskonventionen umgedeutet – die Göttin verlangt vom Erzähler: »Erzähl mir eine Geschichte!« Dieser beugt sich zunächst bereitwillig den Forderungen und beginnt unter dem gestrengen Blick der Siegesgöttin zu erzählen. Es kommen dabei jedoch keine Geschichten zustande, welche den Ansprüchen der Göttin genügen, vielmehr unterminieren die unzusammenhängenden und in keinem ersichtlichen Verhältnis zur Erzählsituation stehenden Texte die Normen des Erzählens. Im Aufschieben, Abschweifen und digressiven Erzählen werden die narrativen Ordnungen destabilisiert, der Ich-Erzähler fügt eine Digression an die andere und bringt keine Geschichte nicht zu Ende, da er sich vor Lachen ausschüttet über die eigenen Versuche, den konventionelle Erzählformen gerecht zu werden. Am Grunde des im Text entfalteten Geplauders steht damit ein hintergründiger Humor, der sich aus dem Gefühl für das Lächerliche der Erzählkonventionen speist, die als »etwas possierlich« erscheinende »Übungen«33 diskreditiert werden. Für diese subtile Ironie scheint die Göttin blind zu sein, die das Erzählte wortwörtlich auffasst und nicht auf das doppelbödige ästhetische Spiel eingeht. Die frivolen Plaudereien des Ich-Erzählers werden damit als subversiver Akt 30 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 185. 31 Vgl. Sommerfeld, Beate: Auf der Schwelle – Liminalität als Struktur ästhetischer Erfahrung in Kafkas Kunstbetrachtungen der Reisetagebücher und Quarthefte. In: Fremdheit – Andersheit – Vielheit. Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur. Hrsg. von Zbigniew Feliszewski/Monika Blidy. Berlin: Peter Lang 2019, S. 47. 32 Didi-Hubermann, Was wir sehen blickt uns an. 1999, S. 17. 33 Walser, Vor Bildern. 2006, S. 69.

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lesbar, der die ästhetischen Normen unterläuft.34 Es entspinnt sich ein Widerspiel von Dominanz und Subversion–immer wieder ruft der kalte, unbeteiligte Blick der Olympia den Erzähler ›zur Ordnung‹, immer wieder setzt dieser zu neuen Geschichten an, die die Vorgaben nur scheinbar erfüllen, tatsächlich aber von einem heimlichen Spott über die Ordnungen des Erzählens getragen sind. Walsers Text entfesselt das ganze Repertoire narrativer Techniken und Kunstgriffe, die mit narratologischen Konzepten und Begrifflichkeiten kaum noch zu greifen sind.35 In dieser narrativen Überstrukturiertheit tut sich eine Übererfüllung der Gattungsnormen kund, die zugleich aufgehoben werden. Die in Walsers Prosastück entfalteten assoziativen Plaudereien werden zudem als Digressionen begreifbar, mit denen der Text seiner eigentlichen Aufgabe, der Beschreibung des Bildes, ausweicht. Damit ist Walsers Prosastück als eine ironische Variante der klassischen Beschreibungskunst der Ekphrase36 zu lesen. Für die Beschreibung bedeutet dies, dass sich das dargestellte Sujet nicht mit dem Erzählten bzw. Erzählbaren verbinden, und sich von dort her verständlich machen lässt.

Erneuerung des Feuilletons – Vincent van Gogh Einer der Maler, die in seiner Berliner Zeit die Aufmerksamkeit Walsers fesselten, war Vincent Van Gogh. Bereits auf seiner zweiten Berlin-Reise im Sommer 1901 besuchte Walser die Ausstellung der dortigen Sezession, auf der erstmals in Deutschland Werke von Vincent van Gogh gezeigt wurden.37 Walser schrieb in Berlin bewundernde Texte über van Gogh38, der Text »Das Van Gogh-Bild«39 legt die Vermutung nahe, dass er 1912 bei einer Ausstellung der Sezession die Fassung von Van Goghs Gemälde »L’Arlésienne« sah, die Bernt Grönvold gehörte.40 34 Evans spricht von »Blödeln« als Provokation (vgl. Evans, Tamara S.: Robert Walsers Moderne. Bern/Stuttgart: Francke 1989, S. 134–138). 35 Zu den Schwierigkeiten der narratologischen Bestimmung von Walsers Schreibpraxis vgl. Gloor, Lukas: Erzählen. In: Gisi (Hrsg.), Robert Walser Handbuch. 2018, S. 248: »Auffällig ist, dass Robert Walser narratologische Konzeptionen immer wieder herausfordert, indem er Ambivalenzen auf sämtlichen Textebenen produziert. Gerade das für Walser typische Spiel mit dem Erzählen ist für die narratologische Theoriebildung aufschlussreich, ebenso wie diese für die Walser-Forschung ein längst noch nicht ausgeschöpftes Potential darstellt.« 36 Boehm/Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. 1995. 37 Vgl. Echte, Bernhard: Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 120. 38 Vgl. Harman, Mark: Robert Walser and Vincent van Gogh. In: Evans, Robert Walser and the Visual Arts. 1996, S. 36–52; Gigerl, Margit: »Bang vor solchen Pinsels Schwung«. Robert Walsers Lektüre der Bilder Van Goghs. In: Fattori/Gigerl (Hrsg.), Bildersprache, Klangfiguren. 2008, S. 117–128. 39 SW 16, S. 344–347. 40 Vgl. Echte, Bernhard: Nachwort. In: Walser, Vor Bildern. 2006, S. 108.

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Mit seinem Prosastück begibt Walser sich in die literarischen Randgefilde des Feuilletons. Der Ich-Erzähler wird als Ausstellungsbesucher und zugleich Feuilletonist konstruiert, am Ende des Textes wird explizit, dass er einen Text für die Zeitschrift »Kunst und Künstler« verfassen soll, für die auch Walser schrieb.41 Der Feuilletonist als Erzähler ist damit eine der Ich-Masken Walsers, hinter denen sich der Autor verbirgt und sich selbst reflektierend gegenübertritt. Der Museumsbesucher hetzt durch die Ausstellung auf der Suche nach einem geeigneten Schreibobjekt. Er lässt sich dabei von einem traditionellen Schönheitsbegriff leiten, den die klassischen Meister wie Tizian oder Rubens vertreten. Van Goghs Bild erscheint ihm – an dieser Messlatte gemessen – zunächst wenig ergiebig zu sein. Er fragt sich, was es an dem alltäglichen Bildsujet, einer »ältliche(n) Frau aus dem Volke«, wie man sie »allerorts trifft«, »Schönes anzuschauen geben könnte«, und bedauert den Künstler, der an eine »so geringe, zierlose Sache so großen Fleiß verschwendete.«42 Die spöttisch-karnevaleske Überzeichnung des halbgebildeten Kunstkenners ist unverkennbar. Dabei ist dieser nicht nur in seinem ästhetischen Urteil borniert, seine Bewertung des Bildes ist auch von gesellschaftlichen und ökonomischen Gesichtspunkten geleitet, indem er etwa den Marktwert des Gemäldes taxiert oder sich fragt, ob für Van Goghs Gemälde »in unserer Gesellschaft überhaupt ein geeigneter Platz existiere.«43 Die eigentliche Überraschung beim Betrachten des Bildes liegt darin, dass sich hier ein Maler von äußerlichen (ökonomischen und gesellschaftlichen) Zwängen und ästhetischen Konventionen (dem klassischen Schönheitsideal) freigemacht hat und auf eigene Verantwortung handelt: Der Künstler habe sich »offenbar den Auftrag selber«44 gegeben. Diese ästhetische Autonomie steht in einem schroffen Gegensatz zur Fremdbestimmtheit feuilletonistischen Schreibens: Während der Maler Van Gogh seine Kunst nach eigenem Ermessen ausübt, ist der Feuilletonist gesellschaftlichen Zwängen unterworfen und hat sich dem Publikumsgeschmack zu beugen. In der Maskerade des Auftragsschreibers inszeniert Walser die Unterordnung unter die Normen des feuilletonistische Genres, der Text gleitet fast unwillkürlich – in einer Art déformation professionelle – in einen feuilletonistischen Jargon ab, der von Floskeln und leeren Phrasen durchzogen ist. Die Häufung der Adjektive wie »wunderbar«, »entzückend« sowie Wendungen wie ein »in gewissem Sinne hinreißendes und kostbares Bild«45, »eine Art Meisterwerk«46 enthüllen die Oberflächlichkeit des Urteils und den Dilettantismus des halbgebildeten Kunst41 42 43 44 45 46

Vgl. Echte/Meier (Hrsg.), Die Brüder Karl und Robert Walser. 1990, S. 33–41. SW 16, S. 344. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 345.

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kritikers. Die Gemeinplätze, von denen das Feuilleton durchsetzt ist, werden als oberflächliches Kunstgeschwätz entlarvt, der Text demaskiert die Worthülsen des feuilletonistischen Sprachgebrauchs mit seiner abgegriffenen Rhetorik, welche das Bild gar nicht mehr in den Blick bekommt. Das Prosastück stellt die Oberflächlichkeit und den ornamentalen Charakter des Feuilletons aus und deckt dessen zweifelhafte Existenz »zwischen Zweckform und Ornament«47 auf. Walsers beißender Spott korrespondiert mit dem Negativurteil seiner Zeitgenossen – das Feuilleton sei die Kunst, auf einer Glatze Locken zu drehen, höhnte Karl Kraus48 –, der Habitus des halbprofessionellen Kunstkenners in Walsers Van Gogh-Text referiert aber auch auf seine Selbstwahrnehmung als Feuilletonist: »O hätte ich nie ein Feuilleton geschrieben. Aber das Schicksal, das stets unbegreiflich ist, hat es so gewollt, es hat aus mir, wie es scheint, einen hüpfenden und parfümierten Vielschreiber und Vielwisser gemacht«49. Walsers Text markiert die Abkehr von der Oberflächlichkeit und Effekthascherei des Feuilletons, ihm liegt der Wunsch zugrunde, das Sprechen über Kunst vom Geschwätz zu reinigen. In subversiver Mimikry unterwandert Walsers Feuilleton die Grenzen, die dem Genre gesetzt sind. In der scheinbaren Unterordnung unter seine Rolle als Feuilletonist und der bereitwilligen Erfüllung der Rollenvorgaben, in deren Zuge das Genre zersetzt wird, äußert sich nochmals der ›ästhetische Masochismus‹ Walsers. Vom hintergründigen Spott des Erzählers zeugt das Ende des Textes: »Nachdem ich mir das Bild sorgfältig eingeprägt hatte, ging ich nach Hause und schrieb einen Aufsatz darüber für die Zeitschrift ›Kunst und Künstler‹. Der Inhalt des Aufsatzes ist mir entflogen, weshalb ich ihn zu erneuern wünsche, was hierdurch geschehen ist.«50 Der Schreibende hat also seine Aufgabe erfüllt, zugleich aber seine Auftragsarbeit getilgt, indem er den ursprünglichen Aufsatz durch eine neue Version überschrieben hat. Der dem 47 Oesterle, Günter: »Unter dem Strich«. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert. In: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hrsg. von Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/ Roger Paulin. Tübingen: De Gruyter 2000, S. 232. Nicht zuletzt haben die Forschungen von Peter Utz die grundlegende Bedeutung des Feuilletons als Publikationsort und als Genre für die Ausrichtung der literarischen Produktion Walsers herausgestellt (vgl. Utz, Peter: »Sichgehenlassen« unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons. In: Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Hrsg. von Kai Kauffmann/ Erhard Schütz. Berlin: Weidler 2000, S. 142–162; Utz, Peter: Zu kurz gekommene Kleinigkeiten. Robert Walser und der Beitrag des Feuilletons zur literarischen Moderne. In: Die kleinen Formen in der Moderne. Hrsg. von Elmar Locher. Innsbruck: Studien Verlag 2001, S. 133–165). 48 Kraus, Karl: Heine und die Folgen. In: Die Fackel 13, 1911, H. 329/330, S. 1–33, 10. 49 SW 15, S. 73f. 50 SW 16, S. 347. Es handelt sich bei diesem Aufsatz um einen 1912 in der Zeitschrift »Kunst und Künstler« publizierten Text unter dem Titel »Zu der Arlesierin von Van Gogh« (vgl. Groddeck, Robert Walser. 2011, S. 786).

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Leser vorliegende Text ist also eine weitere Fassung des Kunstaufsatzes, der das Programm einer Erneuerung des Feuilletons paradigmatisch vorführt. Durch das ›Entflogen‹-seins des kunstkritischen Artikels wird gleichzeitig selbstironisch das Ephemere des journalistischen Tagesgeschäfts ausgestellt. In seinem ›erneuerten‹ Feuilleton wendet Walser die Disqualifizierung des Genres als unverbindliche Plauderei zum eigenen Schreibrezept51, um sich daraus ein literarisches Werkzeug zu schmieden. Hierbei macht er sich die assoziative Bewegungsform des Feuilletons virtuos zu eigen. In einem freien Flottieren der Gedanken werden Identitäten und Realitätsebenen in Bewegung versetzt, der Bildgegenstand wird belebt und ragt in den Erfahrungsraum der Leser: Der Schreibende lässt sie als ein »Mensch wie wir alle«52 zur Geltung kommen. Der Text macht sich dabei die kommunikative Leistung des feuilletonistischen Genres mit seiner Nähe zur Mündlichkeit und seinem beständigen Adressatenbezug53 zunutze: Walsers reformiertes Feuilleton richtet sich an die Lesenden und nimmt sie in Wendungen wie »ich und du«, »nicht wahr« mit in das Kunsterlebnis hinein. Damit wird das Feuilleton von Walser als Urszene der literarischen Kommunikation ins Spiel gebracht, eine einfache, schlichte Sprache soll menschliche Nähe erzeugen und dem Leser die eigenen Empfindungen mitteilen: »Das Bild von Van Gogh wirkte wie eine ernste Erzählung auf mich.«54 Es vollzieht sich unmerklich ein Übergang »von der Descriptio in die Narratio«55, vor den Augen des Betrachters gerät das Bild in Bewegung, es entspinnt sich die Lebensgeschichte des Bildsujets bis zu den Zeitpunkt, als der Maler die Arlesierin als reife Frau porträtiert. Wie für den Prosatext »Olympia« gilt damit auch für den Van-Gogh-Text, dass Walsers Texte zur Kunst »das erzählerische Verfahren dem beschreibenden vorzieh[en]«56. Er unterläuft somit die Konventionen einer am Bildinhalt orientierten Ekphrasis und entwirft unorthodox freie Texte, die sich von der gängigen Kunstkritik stark unterscheiden.57 Das Prosastück »Das Van Gogh-Bild« bildet damit auch Walsers sich im Laufe der Zeit wandelnde Einstellung zum Feuilleton ab: Walser wuchs allmählich in die Rolle des Feuilletonisten hinein und macht das Genre zu seinem Experimentierfeld.58 Wenn das Feuilleton für Walser zu einer Plattform sprachlicher Experimente wird, nutzt er damit den Freiraum für die »Narren der modernen Cultur« – so 51 52 53 54 55 56

Vgl. Utz 2018, S. 52. SW 16, S. 347. Vgl. Utz 2018, S. 53. SW 16, S. 346. Gigerl, »Bang vor solchen Pinsels Schwung«. 2008, S. 120. Bleckmann, Thematisierung und Realisierung der bildenden Kunst im Werk Robert Walsers. 1994, S. 35. 57 Evans, »Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen«. 2008, S. 116. 58 Zu Walsers ambivalenter Haltung dem Feuilleton gegenüber vgl. Utz 2018, S. 50.

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nennt Nietzsche die Feuilletonisten –59, um zeitgenössische Kunstdiskurse ins Spiel zu bringen und dabei der modernen Kunst zur Geltung zu verhelfen. Mit dem Umschreiben des Feuilletons meldet Walser sich in den aktuellen Kunstdebatten zu Wort. Die Malerei Van Goghs erscheint dabei weniger als Operationsfeld von Formexperimenten, zum Skandalon des Bildes wird sein Ernst, der sich gegen die Normen der Gefälligkeit stellt und damit dem oberflächlichen und arabeskenreichen feuilletonistischen Kunstgerede den Boden entzieht, gegen das Walser anschrieb. Die Van Gogh-Ausstellung in der Berner Kunsthalle im Jahr 1927 inspirierte Walser zu einer neuerlichen Beschäftigung mit dem Schaffen des Malers. Es entsteht das Gedicht »Van Gogh«: »Van Gogh Der arme Mann es mir nun mal nicht antun kann. Vor seiner gröblichen Palette zerstreut in mir sich jede nette Aussicht ins Leben. Ach, wie kalt hat er sein Lebenswerk gemalt! Er malte, scheint mir, nur zu richtig. Will jemand sich ein wenig wichtig vorkommen in der Ausstellung, so wird ihm bang vor solchen Pinsels Schwung. Schrecklich, wie dieser Acker, Felder, Bäume einem des Nachts wie klob’ge Träume den Schlummer auseinanderreißen. Hochachtungsvoll immerhin vor heißen Kunstanstrengungen, beispielsweise vor einem Bild, worin im Irr’nhauskreise Wahnsinnige zu sehen sind. Den Sonnenbrand, Luft, Erde, Wind gab er ohn’ Zweifel prächtig wieder. Doch senkt man bald die Augenlider vor so selbstquälerischer Stärke in doch nur halbbefriedigendem Werke. Zu grausen fängt’s ein’ an, wenn Kunst nicht Schön’res kann, als rücksichtslos ihr Müssen, Sollen, Wollen vor schau’nden Seelen aufzurollen. Wunsch, wenn ein Bild ich seh’,

59 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München: dtv 1980. Bd. 2, S. 165.

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liebkost zu werden wie von einer güt’gen Fee, geh, geh, adee!«60

Auch dieser Text führt Walsers Programm der Erneuerung des Feuilletons vor und überträgt es ins lyrische Genre. Mit dieser Hybridisierung der Gattungen treibt Walser ein ironisches Spiel mit der Abgrenzung des prosaischen feuilletonistischen Tagesgeschäfts von der ›hohen‹ Literatur. Im Gedicht wird wiederum der Blick eines Betrachters in einer »Kunstausstellung« inszeniert, der sich zunächst eine fachmännische Meinung über die Malweise Van Goghs zu bilden sucht – das »richtig« verweist auf die Normativität der Betrachtungsweise. Das selbstgewisse ästhetische Urteil gerät jedoch unter dem Eindruck der Bilder bald ins Wanken, relativierende Formulierungen wie »scheint mir«, »Hochachtungsvoll immerhin« oder »ohn’ Zweifel prächtig« indizieren den Zweifel und die Ratlosigkeit der Sprache. Die bewertende Haltung löst sich im vagen Urteil »halbbefriedigend« auf und weicht einer Demut vor Van Goghs Kunst, die in den ›gesenkten Augenlidern‹ Gestalt gewinnt und den Betrachtenden bereit macht für die Wirkung einer Malkunst, die »bang« macht und »grausen« lässt.61 Im Verhältnis zum Prosatext, der in größerer zeitlicher Nähe zu den ersten Eindrücken von Van Goghs Malerei entstand, ist das Gedicht ausgereifter. Während »Das Van Gogh-Bild« sich auf ein konkretes Gemälde bezieht, stehen hier die künstlerischen Verfahren im Vordergrund – die Farbgebung und Faktur der »gröblichen Palette« sowie die dynamische Pinselführung (des »Pinsels Schwung«) werden erwähnt. Das Gedicht referiert damit auf die Malweise Van Goghs: Seine Bilder wollen nicht ›nett‹ und gefällig sein, sie genügen keinem konventionellen Schönheitsideal, sondern folgen »kalt« und »rücksichtslos« einem Kunstwillen, der auf ein »Schauen« abzielt, in welchem sich eine tiefere Wahrheit zu enthüllen vermag. Die Kälte und Rücksichtslosigkeit von Van Goghs Malerei sind es, die die Ordnungen der Kunstkommunikation zerbrechen lassen. Das Gedicht hält fest, was Van Goghs Malerei für den Kunstbegriff bedeutet. Der Bruch mit einem konventionellen Schönheitsbegriff, wie sie Van Goghs Verfahren bestimmt, wird mitvollzogen, im Zentrum des Textes steht die Zertrümmerung der Kunstformen, also der modernistische Impuls von Van Goghs Malerei. Walsers Gedicht sucht diesen Gestus der Formdestruktion sprachlich nachzuvollziehen und damit der künstlerischen Intention des Malers gerecht zu werden. Dies geschieht in einer spöttischen Mimikry der Konventionen lyrischer Rede. So wird der Reimzwang gewissenhaft eingehalten: Der Text folgt dem Reimschema a-a-b-b-c-c- u.s.w. Wenn man allerdings die Qualität lyrischer Texte daran bemisst, eine Einheit von Form und Inhalt zu erzielen, haben wir es hier mit einem »nur halbbefriedigendem Werke« zu tun: die Bemühungen des 60 SW 13, S. 143. 61 Vgl. Gigerl, »Bang vor solchen Pinsels Schwung«. 2008, S. 117.

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Dichters, Reimwörter zu finden, zersetzen den Sinn des Gedichts und verleihen ihm besonders gegen Ende einen digressiven Charakter, der bis an die Grenzen des Nonsens geht. Durch den Reim werden artifizielle Inversionen sowie das Einführen von Füllwörtern erzwungen: »Der arme Mann / es mir nun mal nicht antun kann«. Überdies kommen Stilbrüche zustande, die den Text ins Triviale kippen lassen, wenn beispielsweise die lyrische Vokabel »Schlummer« mit dem »auseinanderreißen« verbunden wird oder »Träume« als ›klobig‹ erscheinen. Die »Kunstanstrengungen« und der »selbstquälerische« Impuls des Malers werden somit karnevalesk umgedeutet zu der quälenden Mühe des Dichters, den formalen Anforderungen gebundener lyrischer Sprache gerecht zu werden. Auch das Metrum zerbricht unter der Anstrengung, trotz Einhaltung des Reims einen inhaltlich kohärenten Text zu produzieren – und dies, obwohl extensiv von Silbenverkürzungen Gebrauch gemacht wird (»ohn’ Zweifel«, »klob’ge Träume«, »Zu grausen fängts ein’ an«), die zu clownesken Verballhornungen führen und die Konventionalität der lyrischen Rede ausstellen. Wie das »Sonett über eine Venus von Tizian« ist das Gedicht »Van Gogh« formal und semantisch überdeterminiert, es erfüllt damit willfährig und spöttisch zugleich die Gattungsnormen lyrischer Rede. Indem der Text die Abgenutztheit der lyrischen Formen ausstellt und die dichterische Kunstsprache der Trivialität überführt, findet metapoetische Reflexion Einlass in die literarische Praxis und stellt die Möglichkeiten lyrischer Kunstsprache zur Disposition. In ihrer Zersetzung ist Walsers Gedicht das sprachliche Pendant zu Van Goghs bildnerischen Verfahren und wird damit zu einem eindrucksvollen Plädoyer für den Modernismus von Van Goghs Malerei.

Verwilderte Sprache – »Cézannegedanken« Auch in der Auseinandersetzung mit der Malerei Paul Cézannes wird die Erneuerung der Kunstkommunikation fortgeführt. Auch hier wird nach einer Sprache gesucht, die dem Kunstwerk angemessen ist und das Kunsterlebnis zu vermitteln vermag. Das Prosastück »Cézannegedanken«62 verrät eine gründliche Kenntnis der Bildwelt des Künstlers, der von Cassirer besonders geschätzt und gefördert wurde.63 Es ist anzunehmen, dass Walser u. a. die große CézanneAusstellung in der Galerie Paul Cassirer im November/Dezember 1909 in Berlin gesehen hat, auf der auch Porträts von Cézannes Frau zu sehen waren. Der Text 62 SW 18, S. 252–256. 63 Vgl. Schwerin, Kerstin Gräfin von: »Ich bin mir hier unvollständiger Ausdrucksart bewusst«. Walsers »Cézannegedanken«. Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft in Stuttgart, 2007. Verfügbar unter: (Zugriff am 09. 01. 2019).

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wurde am 3. März 1929 in der »Prager Presse« veröffentlicht, ist aber bereits im Mai 1926 als Mikrogramm konzipiert worden.64 Das Prosastück stellt eine Art ironischer Genreszene65 aus dem Leben Cézannes dar. Der Text bietet keine Ekphrase, anstelle einer Bildbeschreibung wird der Alltag des Malers erzählerisch entfaltet. Dabei steht das Nachvollziehen des Malerblicks auf die Realität im Fokus des Textes: »es handelt sich … um eine Umfassung, um ein sich vielleicht langjährig mit dem Gegenstand Befaßthaben. Er, von dem ich hier rede, schaute sich beispielsweise diese Früchte; die sowohl alltäglich wie merkwürdig sind, lange an; er vertiefte sich in ihren Anblick, in die Haut, wovon sie straff umspannt sind, in die sonderbare Ruhe ihres Seins, in ihr lachendes, prangendes, gutmütiges Aussehen.«66

Cézannes Sehen wurzelt in einer experimentellen Beobachtung der Wirklichkeit, die einen steten Zweifel an ihrer Beschaffenheit induziert.67 Mit der jahrelangen Beschäftigung mit den Dingen und der Vertiefung in ihr Wesen ist Cézannes Malerei das Gegenteil zur Aquarellmalerei, die für Walser das bildnerische Pendant zum Feuilleton ist: »Der Aquarellist ist vielleicht auf dem Gebiet der Malerei ein Feuilletonist« – heißt es im Prosastück »Aquarelle«.68 Die gefälligen »Bilderchen«69 der Aquarellisten, die dem Oberflächlichen und Ornamentalen verhaftet bleiben, bilden die Gegenstände nur ab und stellen sich damit in den Dienst des seit jeher schon Gewussten und Bekannten. Cézannes Verfahren begnügt sich nicht damit, die vorhandene Welt gleichsam zu verdoppeln, die Gegenstände werden nicht abgebildet, Referenzialität und Ähnlichkeit vielmehr suspendiert. Es soll etwas sichtbar gemacht, eine Art »Mehrwert«70 ins Spiel gebracht werden, der einen Zuwachs an Einsicht und Wirklichkeit mit sich bringt: »Stunden-, tagelang zielte er darauf hin, Selbstverständliches unverständlich, für Leichtbegreiflichkeiten eine Grundlage des Unerklärlichen zu finden. Er erhielt mit der

64 Bereits in dem im August 1916 in »Die Schweiz« veröffentlichten Prosastück »Hans« nimmt Walser auf Cézanne Bezug: »Vor gewissen landschaftlichen, baulichen oder irgendwelchen sonstigen natürlichen Schönheiten pflegte er [Hans], ähnlich wie ein Maler, stillzustehen, der die Töne, Umrisse bereits beim Anschauen in seiner Phantasie entwirft. Manches, was er sehen mochte, mahnte ihn an die merkwürdigen Bilder von Cézanne.« (SW 7, S. 190). 65 Vgl. Kimmich, Dorothee: Lebendige Dinge bei Walter Benjamin und Robert Walser. In: Dogilmunhak. Koreanische Zeitschrift für Germanistik, 2009, H. 110, S. 21. 66 SW 18, S. 252f. 67 So hat denn auch Merleau-Ponty seinen Cézanne-Essay mit »Le doute de Cézanne« überschrieben (Merleau-Ponty, Maurice: Der Zweifel Cézannes. In: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hrsg. von Christian Bermes. Hamburg: Meiner 2003, S. 3–27). 68 SW 17, S. 189–191, 189. 69 Ebd. 70 Boehm, Gottfried: Museum der klassischen Moderne. Zwanzig Meisterwerke der modernen Kunst. Frankfurt/Main: Insel 1997, S. 301.

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Zeit lauernde Augen vom vielen exakten Herumschweifen rund um Umrisse, die für ihn zu Grenzen von etwas Mysteriösem wurden.«71

Cézannes Blick transzendiert die Dinge und fördert neue Einsichten über sie hervor. Er würdigt sie in ihrer Gegenständlichkeit, ihrer sinnlich erfahrbaren Materialität und Phänomenalität, und bringt sie zugleich dazu, sich ihm »wesenhaft zu offenbaren«: »Was er betrachtete, wurde viel sagend, und was er formte, schaute ihn an, als wär’s beglückt gewesen, und schaut auch uns heute noch so an. Das ist ein fast mysteriöser Akt, aber zugleich auch ein ganz banaler Vorgang von intensiver Beobachtung, malerischer Technik und Arbeit.«72

Auch die Frau des Malers wird unter die Gegenstände der Wirklichkeit eingereiht, auch ihr wird der analysierende Blick des Malers zuteil: »Man wolle die Sonderbarkeit im Auge behalten, daß er seine Frau so ansah, als wäre sie eine Frucht auf dem Tischtuch gewesen.«73 Wie die Gegenstände, die Cézanne zu seinen Stillleben anordnet, wird auch seine Frau in einer in sich ruhenden Präsenz erfasst und offenbart sich in ihrem Wesen. Dieses dem Maler abgeschaute ›sehende Sehen‹74, das über das Sichtbare hinausführt, wird von Walser in seinen »Cézannegedanken« poetologisch stark gemacht. Walsers Prosastück macht sich den ›Zweifel Cézannes‹ an der Beschaffenheit der Welt und den begrifflichen Ordnungen zu eigen. Die Bilder des Malers werden zu einer Welt des Auges, die sich jenseits bekannter Erfahrungsräume eröffnet. Cézanne wird für Walser zum Meister der begriffslosen Beobachtung, von Augenblicken gedankenverlorenen Schauens, in dem sich Dimensionen der Wirklichkeit zeigen, die der vereinfachende Blick der Gewohnheit nicht erfassen kann, und die nur in einer Sprache statthaben können, die sich von allem Vorwissen, aller literarischen und begrifflichen Einbindung abgetrennt hat. In den »Cézannegedanken« findet Walser zu einem fast meditativen, selbstvergessenen Ton, bei dem die Worte »vergeßlich, fast ideenlos« aufs Papier gesetzt werden75, der Text entfaltet sich in einer eigenartigen Mischung von höchster Konzentration und »äußerster Absichtslosigkeit«76, die Benjamin 71 72 73 74

SW 18, S. 254. Ebd., S. 256. Ebd., S. 254. Den Begriff entnehme ich Max Imdahl, der das »sehende Sehen« vom »wiedererkennenden Sehen« abgrenzt, und diese Formel vor allem an der Malerei Cézannes entwickelt hat (vgl. Imdahl, Max: Bildautonomie und Wirklichkeit. Zur theoretischen Begründung moderner Malerei. Mittenwald: Mäander 1981, S. 9f.). 75 Wie Robert Walser am 18. März 1926 in einem Brief an Max Rychner schreibt, der fast zeitgleich mit den »Cézannegedanken« entstand (Walser, Robert: Briefe. Hrsg. von Jörg Schäfer/Robert Mächler. Frankfurt/Zürich: Suhrkamp 1979, S. 266). 76 Benjamin, Robert Walser. 1991, S. 327.

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als die Signatur von Walsers Stil ausgewiesen hat. In einer virtuosen Handhabung der Möglichkeiten feuilletonistischen Schreibens schreitet er assoziativ von Gedanken zu Gedanken, von Bild zu Bild fort. Dabei werden Beschreibung und Erzählung in ein schwebendes Gleichgewicht gebracht. Walsers Text operiert nicht von der Position des Kunstkenners aus, sondern betritt gemeinsam mit dem Leser die Bilderwelt des Malers und lässt ihn an der Offenbarung der Dinge teilhaben: »Was er betrachtete, wurde vielsagend, […] und schaut auch uns heute noch so an.«77 Die feine Ironie des Textes bewahrt ihn vor einer Rhetorik der Verklärung. In einer beiläufigen Plauderei gleitet er über die Realitätsebenen hinweg und lässt Kunst und Lebensalltag ineinander fallen (Cézannes Frau spaziert ebenso durch die Lebenswelt des Malers, wie sie Teil seiner Bilderwelt ist), auch die Grenzen zwischen Materialität und Geistigkeit sind aufgehoben (der Künstler wird ebenso beim Essen und Weintrinken beobachtet wie beim Malen). Im Gefolge der Malerei Cézannes hebt Walsers Schreiben den Gegensatz von Oberflächlichkeit und Tiefe in sich auf. Wie Cézanne ist Walser ein »Meister der Oberfläche«78, seine Texte zeugen – wie Benjamin erkannt hat – von einer deutungslosen, »unbeirrbaren Oberflächlichkeit«79, aber in der Nahsicht der Dinge, die sich ihm durch die Malweise Cézannes erschließt, bekommt die Welt Falten, in denen sich Dinge verbergen, die noch nie jemand gesehen hat. In der Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, Materialität und Geistigkeit, Oberfläche und Tiefe liegt für Walser die Modernität von Cézannes Malerei. Damit sind seine »Cézannegedanken« einer der Texte, die die Modernität Cézannes am treffendsten erfasst und in literarische Kommunikation überführt haben. Walsers Text wirkt unbeholfen und umständlich, als wolle er das Tentative von Cézannes Malweise nachahmen: »Ich bin mir hier unvollständiger Ausdrucksart bewußt, möchte aber der Meinung sein, man verstehe mich trotzdem oder vielleicht, um solcher Unausgearbeitetheit willen, worin Lichteffekte schimmern, sogar noch besser, tiefer«80. Mit diesem ambivalenten Kommunikationsakt zwischen Erzähler und Leser modelliert der Text ein Sprechen über Kunst, das sich jenseits von »Leichtbegreiflichkeiten« und begrifflich Abgesichertem positioniert, aber gerade dadurch auf ein tiefgründigeres Verständnis zählen darf. Die »Cézannegedanken« erproben eine Sprache, die sich frei gemacht hat von stilistischer Durchgeformtheit und literarischen Konventionen und die genauso experimentell und skizzenhaft ist wie Cézannes Kunst. Mit diesen der Malerei entlehnten Verfahren berühren wir einen zentralen Punkt von Walsers Schreiben. Es ist vielleicht das, was Benjamin hellsichtig als 77 78 79 80

SW 18, S. 256. Kimmich, Lebendige Dinge. 2009, S. 24. Benjamin, Robert Walser. 1991, S. 328. SW 18, S. 255.

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Walsers »Sprachverwilderung« bezeichnet hat. Benjamin beschreibt Walsers Stil als »eine ganz ungewöhnliche, schwer zu beschreibende Verwahrlosung« und spricht von einer scheinbar »völlig absichtslosen und dennoch anziehenden und bannenden Sprachverwilderung«81. Mit dieser in den »Cézannegedanken« performativ eingelösten ›verwahrlosten‹ und ›verwilderten‹ Sprache, die sich nicht von Textordnungen einholen lässt oder Gattungsnormen unterwirft, findet der Feuilletonist Walser zu poetischer Souveränität.

Fazit Walsers Texte zur bildenden Kunst entfalten die ganze Bandbreite des Sprechens über Kunst, in seiner literarischen, metapoetischen und diskursiven Ausbreitung. Nichts liegt ihnen jedoch ferner, als einer geschlossenen Kunsttheorie zuzuarbeiten. Sie gehorchen keinem Heteronom, auch keiner vorab festgelegten Kunstauffassung. Walsers Schreiben über die Kunst positioniert sich am Rande der Kunstdiskurse seiner Zeit. Obwohl er die moderne Kunstentwicklung aus nächster Nähe in den Metropolen miterlebte, bewahrte Walser sich eine periphere Sicht auf den Kunstbetrieb.82 Als Feuilletonist und Auftragsschreiber an die Ränder des literarischen Betriebs gedrängt, verfolgte er die aktuellen Debatten und nahm die Position eines ironischen Beobachters ein. Er verfährt damit wie der fiktive Herausgeber in den ›Kocher-Aufsätzen‹, der die Kunstgespräche seiner Zeit dokumentiert, um sie in einer einzigen lakonischen Bemerkung beiseite zu schieben: »Über die darin niedergelegten Kunstansichten kann man gewiss anderer Meinung sein. Das ist aber auch nicht das Wichtigste, sondern das andere, Dazwischenliegende, das rein Menschliche in den Bildern erschien mir als das Bedeutende, wirklich Lesenswerte.«83

Der Herausgeber der Aufsätze wird zu einem der großen Spötter Walsers, indem er die Lächerlichkeit und Fruchtlosigkeit der Diskussionen um die Kunst herausstellt, die am Eigentlichen vorbeiführen. Sie sind Teil des allgegenwärtigen Kunstgeschwätzes, das die Rede der Kunstkenner und »Kunstrichter«84 durchzieht und im Feuilleton seine paradigmatische Form annimmt. 81 Benjamin, Robert Walser. 1991, S. 325. 82 Walsers Gestus der Selbstmarginalisierung wäre demnach eine »ästhetische Verwandlungsform, welche die Nähe zu allen Nervenzentren seiner Gesellschaft und seiner Zeit voraussetzt« (Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 10). 83 SW 1, S. 66. 84 Vgl. Strube, Werner: Kunstrichter. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976. Bd. 4, S. 1460–1463.

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Dem Aufbrechen und Unterwandern der textuellen Konventionen und diskursiven Ordnungen, die das Sprechen über Kunst bestimmen, haben sich Walsers Texte verschrieben. Sie unterwerfen sich ihnen mit hintergründigem Spott, übersteigern sie und gehen dabei bis an die Grenze des Lächerlichen, Trivialen und Abgeschmackten. Dabei brüskieren sie vielfach die bildungsbürgerlichen Erwartungen an Kunstprosa und Hochkultur. Dem ästhetisch, gesellschaftlich und institutionell legitimierten Kunstgerede halten die Figuren Walsers ihre »Geschwätzigkeit«85 entgegen, um dominierende Ordnungen und formale Gesetzmäßigkeiten zu unterlaufen. Das rhizomhaft wuchernde Geplänkel, das die gattungsmäßig verfestigten Strukturmerkmale des Sprechens über Kunst ins Gleiten bringt und sich zu komplexen Texturen vernetzt86, entzieht sich literarischer Durchgeformtheit und widersetzt sich diskursiver Vereinnahmung. Walsers karnevaleske, die Gattungskonventionen und Textordnungen unterwandernde Plauderei, die sich nicht gefangen nehmen lässt von den Netzen des Diskurses, hat Benjamin als das »Narrenerbteil« Walsers beschrieben.87 Abseits der ausgetretenen Pfade der Kunstkommunikation lässt Walser die Rede über die Kunst ›verwildern‹. Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung kommt dabei dem Humor zu, der Walsers Texten zur bildenden Kunst eingeprägt ist und auf eine tief ironische Haltung verweist, die sie gegen das Erhabene imprägniert und sich aus dem Gefühl für das Lächerliche der Textkonventionen speist.88 Es wird daran eine grundsätzliche Umwertung des Gattungsbegriffs sichtbar, der in Walsers Werk über seine eigenen Grenzen hinaustreibt. Walser geht nicht nur frei und spielerisch mit den Gattungen um, sondern reflektiert sie in seinen Texten auf eine selbstironische Weise. Die Beiträge des Bandes »›Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa‹. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen«89 etwa zeigen die Eigenart von Walsers Gattungskonzeption und -vermischung auf und geben einen Einblick in seine spielerisch-ironische Arbeit an den literarischen Gattungen und Formen, welche Gattungen höchstens noch spielerisch als Leseanweisungen und intertextuelle Muster anzitiert, sie aber nicht mehr als Normen anerkannt. Walsers Werk entzieht sich jeder Gattungszuordnung. Seine Texte stehen damit – wie Dieter Lamping herausstellt – »im Zeichen einer Ab-

85 Benjamin, Robert Walser. 1991, S. 327. 86 Vgl. Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen: Niemeyer 1994. 87 Benjamin, Robert Walser. 1991, S. 328. 88 Vgl. Fuchs, Annette: Dramaturgie des Narrentums. Das Komische in der Prosa Robert Walsers. München: Wilhelm Fink 1993. 89 Fattori, Anna/Schwerin, Kerstin Gräfin von (Hrsg.): »Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa«. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011.

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weichung von Gattungsnormen, die ein wesentlicher Faktor literarischer Erneuerung in der Moderne ist«90. Walsers Texte über die Kunst sind somit als Krisensymptom dichterischer Sprache zu lesen, vor allem aber sind sie Ausdruck einer ungeheuren Experimentierfreudigkeit. Sie äußert sich in der Hinwendung zu literarischen Klein- und Kleinstformen, der Hybridisierung der Gattungen, der Trivialisierung der Kunstsprache sowie unreinen Formen wie Parodie oder Travestie. Dabei erprobt Walser das zwitterhafte und randständige Genre des Feuilletons, das gerade aus dieser peripheren Position heraus für ihn eine ›Narrenfreiheit‹ gewinnt, die er ästhetisch fruchtbar zu machen sucht. Vor allem die kleine Prosa erlaubt eine Befreiung aus den Zwängen diegetischer, also realistischer Textkonstitution, sie ermöglicht sowohl eine quasi-lyrische poetische Dichte als auch Schreibexperimente, wie sie u. a. im Feuilleton ihren Ort haben. Walsers Kurzprosa ist durchgängig selbstreflexiv und poetologisch übercodiert und trägt neben schwach narrativen oft auch reflexiv-essayistische Züge. Aufgrund dieser modernistischen Verfahren wurden seine Texte als »Vorläufer einer modernen experimentellen Prosa«91 gewertet. Dabei produzieren sie zwar immer wieder Avantgardismen, ohne sich jedoch einer avantgardistischen Programmatik verpflichten zu wollen.92 Walsers experimentelle Verfahrensweise steht im Zusammenhang mit der Erprobung intermedialer Schreibprozesse. Seine Texte zur bildenden Kunst sind somit nicht nur Bildbeschreibungen, diese werden immer auch metapoetisch reflektiert. Nicht die Begegnung mit dem konkreten Bild steht im Zentrum, sondern der poetologische Impuls, den es auslöst. Es geht nicht um eine inhaltliche Ekphrasis, eine Beschreibung eines Bildes, sondern um eine »medienbewußte Ekphrasis«, die das eigene und das fremde Medium gleichermaßen reflektiert.93 In Walsers intermedialen Inszenierungen94 wird das Bild zu einer medialen Reflexionsfigur, über den Umweg des visuellen Mediums vollzieht sich eine subversive Arbeit an den Gattungskonventionen und literarischen Traditionen, deren Aufbrechen und Hybridisieren. Nicht zuletzt wird dabei die klassische Form der Ekphrase von der Verflüssigung der literarischen Formen erfasst. Walsers Spott scheint damit auch auf die Versuche der gattungstheoreti-

90 Lamping, Dieter: Die Rätsel der kleinen Form. Gattungsmischung in Robert Walsers Poetenleben. In: Fattori (Hrsg.)/Schwerin (Hrsg.), »Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa«. 2011, S. 24f. 91 Wiese, Benno von: Vorwort zur dritten Auflage. In: Deutsche Dichter der Moderne. Ihr Leben und Werk. Dritte Auflage. Hrsg. von Benno von Wiese. Berlin: Schmidt 1975, S. 11. 92 Vgl. Evans, Robert Walsers Moderne. 1989, S. 116–144. 93 Todorow, Almut: Intermediale Grenzgänge: Robert Walsers Kleist-Essays. In: Essayismus um 1900. Hrsg. von Wolfgang Braungart/Kai Kauffmann. Heidelberg: Winter 2005, S. 239. 94 Vgl. ebd., S. 238.

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schen Einhegung der Texte und damit literaturwissenschaftliche Disziplinierung zu zielen. Anhand der Kunsttexte können somit zentrale Problemlagen von Walsers Schreiben zugespitzt werden. Sie legen nicht nur Zeugnis ab von der Suche nach einer Kunstkommunikation, die die Bilder im Museum tiefer hängt95 als das von oben auf die Betrachter herabschauende Gemälde in Walsers »Sonett auf eine Venus von Tizian«, sondern nach einer literarischen Sprache, die jenseits der formalen Gebote das »Dazwischenliegende« erfasst, wo das »Bedeutende, wirklich Lesenswerte« siedelt. Nur so lässt sich Schreiben rechtfertigen. Das eigentliche Anliegen der intermedialen Reflexionen Walsers ist damit die Legitimierung von Literatur. Diese ethische Verantwortung für das zu Schreibende lastet auch auf dem Maler in den ›Kocher-Aufsätzen‹, der sein Notizbuch mit den Worten beginnt: »Ich werde in diesen Blättern ganz zwanglos zu mir selber reden, aber ich weiß selber nicht, so wie ich fortschreibe, überfällt mich ein gewisses, nicht zu verdrängendes Verantwortungsgefühl für das, was ich schreibe. Liegt das im Schreiben überhaupt, oder habe bloß ich das so?«96

Die tiefsten Einsichten über das Schreiben legt Walser also einem Maler in den Mund. Dies zeigt, wie weit Walser von der Idee eines Wettstreits der Künste entfernt ist, die in den Kunstgesprächen der Kocher-Aufsätze als eine der fruchtlosen Debatten um die Kunst deklariert wird. Die Künste existieren in seinen Texten – sowohl in performativer Ausprägung als auch poetologischer Reflexion – in schönem Einvernehmen nebeneinander her. Nicht der paragone, sondern vielmehr die Vorstellung einer wechselseitigen Erhellung der Künste scheint am Horizont von Walsers Texten auf.97 An der bildenden Kunst formt Walser seine literarische Praxis aus, sie bahnt sich ihren Weg zu ästhetischer Autonomie in der Auseinandersetzung mit traditionellen Formen. Die Freiheit einer von Zwängen befreiten, sich selbst genügenden literarischen Produktion wird dabei von einer Verantwortung für das Schreiben begrenzt, die sich – jenseits von Tradition und Moderne – am »rein Menschliche[n]«98 bemisst. Walsers Schreiben transzendiert damit die Kunstdebatten seiner Zeit. Obwohl er den Streit zwischen den Verfechtern von Tradition und Moderne mitverfolgte, und obwohl er in seinen Texten das Aufbrechen der Formen und die Verflüssigung der Normen mitvollzog, schienen ihm dies letztendlich nicht wesentlich zu sein. Wenn der Dichter Walser sich ›Vor Bildern‹ positioniert, bestätigt sich, »daß die 95 Vgl. Ulrich, Wolfgang: Tiefer hängen. Über den Umgang mit Kunst. Berlin: Wagenbach 2003. 96 SW 1, S. 67f. 97 Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin: Reuter & Reichard 1917. 98 SW 1, S. 66.

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kleine Walser-Welt quer zur großen Welt der emphatischen Moderne liegt«99. Sein »Bezug zur Modernität ist [eine] Distanz«100, aus der heraus Walser seine marginale Position gegenüber dem Literaturbetrieb spielerisch-subversiv kundtut. Insofern kann gerade anhand der intermedialen Bezüge zur bildenden Kunst Walsers singuläre Stellung innerhalb der klassischen Moderne konturiert werden.

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Zwischen ›Demutsabbildung‹ und ›Sprachverwilderung‹

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Walsers Phänomen

Łukasz Musiał (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu)

Die Walser-Schnittstelle

Diese seltsame Institution genannt Literatur Als Jacques Derrida von Derek Attridge gefragt wurde, wie er seine Beziehung zu literarischen Texten, die in seiner philosophischen Reflexionen stets eine sehr wichtige Rolle spielten, bezeichnen würde, stellte er fest, dass er seit seiner frühen Jugend die Literatur für eine Institution gehalten habe, die »einem erlaubt, alles zu sagen, auf jegliche Art«.1 Also, ich denke genau umgekehrt: Anfängliche Lektüreerfahrungen können zwar tatsächlich einen ähnlichen Eindruck vermitteln, wie ihn Jacques Derrida in Erinnerung an seine Jugend beschreibt. Wenn man allerdings einige Jahrzehnte intensiven Lesens literarischer Texte auf dem Buckel hat – weil man sich zum Beispiel professionell mit Literaturkritik, -geschichte oder -forschung beschäftigt –, gibt man des Öfteren gern zu, dass Literatur in der Regel erlaubt, immer wieder dasselbe zu sagen, sobald sie überhaupt etwas möglich macht. Damit will ich sagen, dass sich die Geschichte der neuzeitlichen Literatur (als deren Väter Shakespeare und Cervantes gelten) durch eine erstaunliche Wiederholbarkeit von Themen, Motiven, Topoi, Figurentypen, rhetorischen Tropen, Formen der dargestellten Welt und ähnlichen Elementen kennzeichnet, aus denen sich die Struktur jedes literarischen Textes zusammensetzt. Die folgende These darf daher als durchaus zulässige Vereinfachung akzeptiert werden: Die Literatur der letzten vierhundert Jahre bietet hauptsächlich Problemen die Stirn, die sich zum einen aus der Infragestellung der Objektivität von Wirklichkeit und Zeit, zum anderen aus der eng damit zusammenhängenden Identitätskrise ergeben. Selbst Liebe und Tod, die zuweilen scherzhaft als die einzigen bedeutenden literarischen Themen bezeichnet werden, scheinen (als Topoi eben) der Stimmung einer permanenten epistemologischen und existentiellen Krise untergeordnet zu sein, 1 Derrida, Jacques: Diese seltsame Institution genannt Literatur. Derek Attridge interviewt Jacques Derrida. Laguna Beach 1989. Übersetzt von Rike Felka. Berlin: Brinkmann & Bose 2015, S. 7.

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die seit ein paar Jahrhunderten die Geschichte der sog. Hochliteratur in Europa und der Welt durchzieht. Verschiedene Schwarztöne, multiperspektivische Betrachtungen von Misserfolgen, nuancierte Übungen in Einsamkeit und Vorbereitungen auf das Schlimmste – das bieten uns in der Regel angesehene Autorinnen und Autoren, die in literaturgeschichtlichen Lehrbüchern erwähnt werden.2 Alles deutet darauf hin, dass sich Derrida auf den romantischen Glauben in die progressive Universalpoesie beruft, wenn er mit einer besseren Sache würdigem Pathos davon spricht, »sich von Verboten zu befreien«, »sich dem Gesetz zu widersetzen« oder »sich selbst [zu] befreien«; eine Universalpoesie, welche die Trennung zwischen Literatur (Kunst) und Philosophie (Kritik, Rhetorik, Wissenschaft), zwischen Phantasie und Realität, zwischen Leben und Text aufhebt. Literatur als Institution, welche »dazu tendiert, die Institution zu überschreiten«?3 Es fällt schwer, derartige Deklarationen in ihrer Naivität nicht für etwas idealistisch zu halten. Der Idealismus resultiert dabei wohl aus der Überzeugung (Derridas verständliche Polemik gegen den Strukturalismus der 1950er- und 1960er-Jahre nährt sie zusätzlich), dass die Literatur einen von gesellschaftlich-kulturellen Instanzen freien Raum, eine Art anarchistisches Labor biete, das zwangloses Testen unterschiedlichster Möglichkeiten der Existenz, der Sprache und der Form erlaube. Nimmt man dagegen die mehrere Jahrhunderte alte Geschichte der Produktion, Distribution und Rezeption der neuzeitlichen Literatur unter die Lupe, sieht man eher eine Monsterinstitution, die – wie jede gesellschaftlich-kulturelle Institution – konkrete formelle Strukturen besitzt, die der Regulierung und Sanktionierung bestimmter Formen der literarischen Tätigkeit dienen. Ich denke sowohl an organisatorische Strukturen im Literaturbetrieb (z. B. Schulen, Universitäten, Forschungszentren, Bibliotheken, Presse, digitale Medien, Marketing) als auch an sensu stricto literarische Formen (z. B. die – später durch das Urheberrecht gestärkte – Autoreninstanz, diverse Produktion sowie Rezeption der dargestellten Welt lenkende Erzählmodi, so die Rolle des allwissenden Erzählers im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts, oder unterschiedliche Arten des Bewusstseinsstroms in vielen Hauptwerken des 20. Jahrhunderts). An die Literatur der Neuzeit zu denken heißt auch, und zwar gleichzeitig, an die Literatur als Institution zu denken – nicht im metaphorischen, sentimentalen oder gar idealistischen Sinne Derridas, sondern an die Literatur als einen lebendigen gesellschaftlich-kulturellen Organismus, der (wie jeder Organismus dieser Art) wenig Freiraum für radikale und gewaltsame 2 Erstaunlich: Stößt man in der Presse, in den digitalen Medien oder in wissenschaftlichen Untersuchungen auf den Namen eines »bedeutenden« Autors, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass es sich um jemanden handelt, der auf welche Art und Weise auch immer das hier beschriebene Schema reproduziert. 3 Derrida, Diese seltsame Institution genannt Literatur. 2015, S. 7f.

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Strukturveränderungen lässt, denn diese brächten die Gesamtstruktur in Gefahr. Kurz und bündig: Auch auf dem Gebiet der Literatur bedeutet die Freiheit etwas, das man sich erst erkämpfen muss – und erstaunlich viele, auch herausragende Autorinnen und Autoren, erlitten in diesem Kampf leider eine Niederlage. Was nicht heißen will, dass sie uninteressante Bücher vorlegten. Letztendlich, um mit Ingenieur Mamon´4 zu sprechen, mögen wir nur das, was wir kennen. Wenn ich von der Literatur als gesellschaftlich-kultureller Institution spreche, meine ich bestimmte gesellschaftlich-kulturelle Lese- und Schreibtechniken. Henning Lobin, ein deutscher Sprachwissenschaftler und Erforscher der digitalen Medien, fasst das ebenso in seinem Bestseller »Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt« (2014) auf. Gab es Literatur, sowohl in ihrer oralen als auch in der verschriftlichten Form und mit bedeutenden gesellschaftlich-kulturellen Funktionen, bereits in der Antike, so wurde sie dessen ungeachtet erst dank der Erfindung des Buchdrucks zu einer richtigen Institution. Verfügte die berühmte Bibliothek von Alexandria in ihrer Blütezeit über ca. eine halbe Million »Bücher«, sprich: Handschriftenrollen, wurden allein in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts etwa 30.000 Titel in der Gesamtauflage von zumindest 9 Millionen Exemplaren herausgegeben! Demzufolge stand nun der Weg für die Literatur als wortwörtlich allgemein zugängliches Medium – dessen Höhepunkt allerdings erst später erreicht werden sollte – offen. Die Ausmaße dieser Revolution machen wir uns heute nicht mehr bewusst, und doch wurde damals zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit das Wort für alle leicht erreichbar. Dazu trugen zum einen von Gutenberg angewandte innovative technische Lösungen (u. a. optische Standardisierung der Buchseite durch gleiche Schriftart und -größe sowie gleiche Wort- und Zeilenabstände; Optimierung des Satzes; last but not least radikale Senkung der Druckkosten), zum anderen die Entwicklung einschlägiger Infrastruktur und Institutionen bei, dank deren die Produktion, Distribution und Rezeption des gedruckten Wortes allgemein praktiziert werden und einen gravierenden Einfluss auf die Gestalt des gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, aber auch wirtschaftlichen Lebens ausüben konnte. Unter dem Begriff Infrastruktur versteht Lobin das Geschäft des Herausgebens und Druckens sowie diverse Repositorien, also spezielle »Aufbewahrungsorte« für Texte, allen voran Bibliotheken, welche seit der Neuzeit eine überaus wichtige gesellschaftlich-kulturelle Rolle spielen und oftmals geradezu zu Aushängeschildern der Großmachtstellung einzelner Nationen geworden sind. Als Institutionen gelten selbstverständlich Schulen, Universitäten, Forschungszentren, Presse und Einrichtungen, welche die Entwicklung der Kultur, Bildung und Kunst fördern. 4 Ingenieur Mamon´ ist eine der Hauptfiguren in dem polnischen Kultspielfilm »Rejs« von 1970 (Regie: Marek Piwowarski).

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Überall dort stellt das gedruckte Wort die Grundlage des produzierten, distribuierten und rezipierten Wissens dar; das betrifft ebenfalls die Literaturwissenschaft, die im Laufe der Zeit eine immer wesentlichere Rolle innerhalb der Hochkultur zu spielen begann und ihre privilegierte Stellung zumindest bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, in manchen Weltgegenden sogar einige Jahrzehnte länger, halten konnte. Bei Lobin heißt es: »Die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, die Infrastrukturen der schriftbasierten Kommunikation und die Institutionen der Schriftkultur haben über die Jahrhunderte das Denken selbst geprägt […]. Dies kann man überall erkennen: an Auffassungen, Konzepten und Werten, die unser Denken prägen.«5 Als Beispiel kann der Autorenbegriff dienen: Die Funktion des Autors als »Garant« des Textes tritt mit der Zeit immer deutlicher zutage und nimmt an Bedeutung zu. Weitere Bespiele liefern Maßnahmen zur Standardisierung sprachlicher Normen, die Überzeugung von der Überlegenheit verschriftlichten Wissens, die Ansicht, das Wissen solle in größeren hierarchisch aufgebauten ganzheitlichen Strukturen gesammelt werden sowie die Meinung, das das textualisierte (gesammelte, geordnete, strukturierte, hierarchisierte) Wissen das höchste Gut an sich darstelle.6 Wenn man annimmt, dass all diese und viele andere Elemente unter Heranziehung heute gängiger Begriffe als »Gutenberg-Schnittstelle« bezeichnet werden können, sollte man ebenfalls akzeptieren, dass seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auch die Literatur dazu gehört. (»Schnittstelle« ist diejenige Stelle eines Gerätes, die für die Interaktion mit dem Nutzer zuständig ist; das »Gerät« steht in dem hier interessierenden Fall für das wachsende Wissen über die Welt, die »Schnittstelle« – für das gedruckte Wort samt Infrastruktur und Institutionen, die für seine Produktion, Distribution und Rezeption verantwortlich sind.) Die Literatur konstruiert wiederum ihre eigenen, mit der anfänglichen kompatible Schnittstellen und bleibt ein Teil davon – denn sie muss es bleiben, um weiterhin ihre bedeutende gesellschaftlich-kulturelle Rolle spielen zu können. Als literarische Schnittstelle, d. h. die Art und Weise, auf die der Autor des Werkes dessen dargestellte Welt konstruiert, können mit Sicherheit rhetorische Figuren bezeichnet werden, die der Unterstützung eines konkreten Erzähltypus dienen. So ist das klassische realistische Erzählen in einem bürgerlichen Roman mit seinen vielfältigen Realisationen sehr oft im Grunde genommen eine Form der Ansprache eines gebildeten lesenden Bürgers des 19. Jahrhunderts durch die Instanz der sog. Hochkultur mit all ihren 5 Lobin, Henning: Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt. Frankfurt/Main: Campus 2014, S. 70. 6 Oft zeigt diese Einstellung Anzeichen einer Fetischisierung des gedruckten Wortes: Der Leser dieser Zeilen ist bestimmt nicht selten Menschen begegnet, für die das Notieren im Buch das schrecklichste Verbrechen schlechthin darstellt; Menschen, die eher bereit sind, alte, abgetragene Kleidung oder schlecht gewordene Lebensmittel wegzuwerfen als unnötige Bücher abzugeben… Oder bist du vielleicht selbst ein solcher Mensch, lieber Leser?

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Elementen wie Religion, Idee der Nation, gesellschaftliche Werte, ethische Normen usw.

Ein Niemand der Literatur Der Prozess der Institutionalisierung von Literatur begann in dem soeben dargestellten Sinne um die Mitte des 15. Jahrhunderts, es war jedoch erst das 18. oder gar das 19. Jahrhundert – technische Erfindungen, die eine Massenproduktion des gedruckten Wortes begünstigten, Aufblühen der Presse (die Literarisches äußerst gern abdruckte) und beispiellose Entwicklung auf dem Gebiet der Bildung und Wissenschaft (insbesondere die erstere diente der Vervollkommnung der Selbsttechniken, um mit Foucault zu sprechen) –, dank dessen die Literatur zu einer par excellence modernen Institution werden konnte, d. h. zu einem Teil des allgemeinen Kulturtechniken- und Bildungssystems. Es fällt schwer zu beurteilen, welche Wege die Literaturgeschichte genommen hätte, hätten die hier aufgezählten Veränderungen einen Bogen um sie gemacht, wenn sie also kein Teil des Kulturtechniken- und Bildungssystems im weiteren Sinne und auch, wenn man das sagen darf, keine kulturelle und gesellschaftliche Währung geworden wäre. Unter den gesellschaftlichen Kulturverfahren gewann sie dadurch bestimmt an Bedeutung – oder mehr noch: Innerhalb der im 19. Jahrhundert durch das Bildungsbürgertum und dessen Wertvorstellungen dominierten Hochkultur eroberte sie sich eine entschiedene Vormachtstellung, sodass seitdem die Hochkultur ohne Übertreibung einfach mit der literarischen Kultur gleichgesetzt werden darf. Wer in der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen wollte, musste einfach entsprechende Kenntnisse der Literatur und Literaturgeschichte besitzen. Demzufolge standen an der Börse kultureller Werte nicht nur die Literatur, sondern auch das Wissen darüber hoch im Kurs – womit wiederum das Bedürfnis nach Professionalisierung der Literaturforschung und -kritik geboren war. Als Teil des Bildungssystems wurde die Literatur zu einem nicht wegzudenkenden Element der gesellschaftlichen, nationalen und kulturellen Identität. In einer gewissen Hinsicht bedeutete das zweifelsohne einen Gewinn. Die Literatur gewann mächtige Verbündete und konnte dadurch einen gewaltigen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben ausüben, die Wertehierarchien mitbestimmen, den Ideenfluss mitregulieren. Das Schreiben wurde zum Beruf und Schriftsteller, zumindest die herausragenden, wurden zu allgemein anerkannten, bewunderten und hochgeschätzten Autoritäten. Interessanterweise wurden zur selben Zeit, um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, Stimmen laut, welche auf die dunklen Seiten der Institutionalisierung der Literatur und ihres Einspannens in das gesellschaftlich-kulturelle Wissenssystem hinwiesen – ein Wissenssystem,

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das Anforderungen der Weiterentwicklung und Optimierung unterliege. Die Schattenseite beruhe darauf, dass der freie schöpferische Akt in den Dienst gesellschaftlicher Institutionen gestellt werde – mit all dessen Konsequenzen. Robert Walser (1878–1956) war zweifelsohne in besonderer Weise geeignet, diese Konsequenzen beim Namen zu nennen: Seine originelle Prosa wurde – eine der spannendsten Erscheinungen im Kosmos der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts – vom Literaturbetrieb zuerst vollständig eingesogen, um danach, als das Lesepublikum und die Literaturkritik ihrer »überdrüssig« wurden, kurzerhand ausgeschieden7 zu werden; der Autor selbst starb in nahezu völliger Vergessenheit. Zu einer Neuentdeckung seiner Werke sollte es erst einige Jahrzehnte später kommen. In der für den damaligen Kulturbetrieb provinziellen Schweiz geboren, betritt Walser recht schnell die Bühne der deutschsprachigen Literatur. Er debütiert mit Gedichten, für die er als Zwanzigjähriger gelobt wird, seine Begabung liegt allerdings in Wirklichkeit auf dem Gebiet der Epik. Sein Talent zur Kurzprosa entdeckt er relativ früh – was bestimmt nicht zuletzt mit dem nicht gerade belanglosen Umstand zusammenhängt, dass die damals regelrecht blühenden Zeitschriften für Lyrik bedeutend weniger zahlen. Bereits 1904 erscheint der Erzählband »Fritz Kochers Aufsätze«. Zwischen 1907 und 1909 versucht sich Walser auf dem Gebiet des Romans8, findet aber schnell heraus, dass große epische Gattungen nicht sein Element sind. Bis zum Anfang der 1930-Jahre, als er das Schreiben endgültig aufgibt, erscheinen in mehr als hundert (!) verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften über 1.000 (!) Texte aus seiner Feder – meistens handelt es sich eben um Kurzprosa und um nur einen Teil seines Gesamtwerks. Den Rest kann die lesende Welt erst einige Jahrzehnte später zur Kenntnis nehmen, als man in den frühen 1980er-Jahren anfängt, das gewaltige Œuvre der sogenannten Mikrogramme – d. h. mit Bleistift aufgezeichnete Kurzprosa in winzigem Format, die ohne Spezialgeräte nicht gelesen werden kann – zu entziffern. Walsers intensivste Schaffensperioden sind seine Berliner Zeit (vor allem die Jahre 1907 und 1908), der Zeitraum unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Schweiz (1914–1920) und schließlich die späten 1920er-Jahre (insbesondere 1925–1928). Mit elf zu Lebzeiten veröffentlichten Prosabänden (und den drei zuvor erwähnten Romanen) könnte man den Schweizer ohne Weiteres als Erfolgsautor bezeichnen – wäre da nicht der Umstand, dass er selbst das über sich nie gesagt hätte. Umgekehrt, nach anfänglichem Interesse an seiner originellen 7 Exkremente der Literatur – ein Thema für ein eigenes Buch! 8 Als der berühmteste gilt der Roman »Jakob von Gunten«, in dem Erlebnisse der jungen Titelfigur in einer Dienerschule beschrieben werden; er fiel seinerzeit dem damals noch gänzlich unbekannten Franz Kafka auf.

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Prosa (führende Rezensenten und Literaturkritiker werden darauf aufmerksam, darunter damals wie heute bedeutende Schriftsteller wie Hermann Hesse, Franz Blei, Franz Kafka, Max Brod, Kurt Tucholsky, Robert Musil, Kurt Pinthus) macht sich eine überdrüssige Haltung gegenüber der Walserschen Poetik, die viele als eintönig einstufen, bemerkbar. Was am Anfang durch Frische und Originalität bezauberte (das in seiner subtilen Anmut und lyrischen Leichtigkeit einnehmende assoziative »Geplapper« des jungen Autors,9 der »große Themen« der Literatur und ihre aktuellen Trends sorglos missachtet), ärgert mit der Zeit durch vermeidlich fehlende »Substanz« und Affektiertheit, die angeblich vom Mangel an »Denkdisziplin« und »ernsthafter« Reflexion ablenken sollen. Was will man aber: Das »lange« 19. Jahrhundert geht ja gerade zu Ende, 1914 beginnt das Zeitalter der Weltkriege, ideologischer Schlachten, philosophischer Kämpfe, überaus wichtiger existentieller Konflikte und … keiner mehr hat Lust auf Walsers zauberhafte Belanglosigkeiten. Der Schriftsteller kehrt in die heimatliche Schweiz zurück und gerät allmählich in Vergessenheit, obwohl er noch gut zehn Jahre lang Kurzprosa veröffentlichen wird. In den späten 1920er-Jahren liefert man ihn mit der nie bestätigten Diagnose einer Schizophrenie in eine psychiatrische Heilanstalt ein. Dort verbringt er fast 25 Jahre und schreibt währenddessen höchstens Briefe. Er wird nie mehr schriftstellerisch aktiv werden, nicht einmal für die Schublade schreiben. Im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, allerdings bereits im März, schreibt er aber an Wilhelm Schäfer, den Herausgeber der literarischen Monatsschrift »Die Rheinlande«, und zeigt Anzeichen einer Übermüdung durch die eigene übermäßige literarische Produktivität und deren steigernde Monotonie, die an fabrikmäßige Fließbandproduktion erinnere: »Ich breche damit aus politisch-beruflichen […] Gründen den Verkehr […] mit den Zeitschriften für einige Zeit ab und schreibe wieder still und […] sittsam für die […] geheime Schublade. […] Alle diese kleinen Stücke sind mir persönlich gut, wert und lieb; doch es soll nicht zur Maschinerie werden. […] Ich meine, der Dichter muß von Zeit zu Zeit seinen Kopf ganz in die Dunkelheit, in das Mysteriöse stecken.«10 Die Aussage dieses Briefes ist offenkundig: Walser will sich weniger vom Schreiben als von Literatur als Wissenssystem erholen; von Literatur als Institution, in der gewöhnlich an denselben Orten unter denselben Umständen und gegenüber denselben Menschen immer wieder ein und dasselbe gesagt wird. Die 9 Der österreichische Schriftsteller und Literaturkritiker Franz Blei, Walsers Zeitgenosse, schreibt 1907 von »Gelassenheit in der Hetze«, »Ruhe im Geschrei«, »Zusammenschließen des Kompliziertesten ohne alle Eitelkeiten auf psychologische Tiefen und Kunststücke«. Vgl. Blei, Franz: Robert Walsers »Geschwister Tanner. Ein Roman«. In: Über Robert Walser. 3 Bände. Hrsg. von Katharina Kerr. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978. Bd. 1, S. 63. 10 Walser, Robert: Briefe. Hrsg. von Jörg Schäfer/Robert Mächler. Genf/Hamburg: Helmut Kossodo Verlag 1975, S. 74.

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Schnittstelle, auf die er jahrelang – erfolgreich! – zurückzugreifen pflegte, um im Literaturbetrieb Fuß zu fassen, kommt ihm immer häufiger (so heißt es in einem elf Jahre später aufgezeichneten Mikrogramm) wie eine »Fabrik zur Gewönhlichmachung des Ungewöhnlichen«11 vor. So kommentiert er u. a. Autorenlesungen mit ironischen Worten: »Immer künden frische Plakate frisches Futter für Leute an, denen man Gelegenheit bietet, einen bildenden Abend zu verbringen. […] Wir leben in plakätischen Zeiten.«12 Heute würde man eher mit Debord sagen: Wir leben in einer Gesellschaft des Spektakels, in der nur das in der Öffentlichkeit Präsentierte als real und wichtig gelten kann; etwas – wie wiederum Adorno gesagt hätte –, was die Regeln des Kulturbetriebes beachtet. Der hervorragende Kenner und Erforscher des Walserschen Werkes Bernhard Echte fasst das ähnlich auf: »Die Literatur ist zu einer gesellschaftlichen Institution geworden, die einen gehobenen Status verleiht und zur Abgrenzung gegenüber so genannten Ungebildeten dient, die jedoch kaum als Kunst geachtet und noch weniger […] erlebt […] wird. Und da dies so ist, gleicht sie einem leerlaufenden Betrieb, in welchem ein kurzlebiger Auftritt den nächsten ablöst.«13 Kein Autor, sei er auch noch so anarchisch, kann beim Schreiben literarischer Texte die Schnittsteller Literatur völlig außer Acht lassen, selbst wenn er ausschließlich für private Zwecke schreiben will – das ist klar. Selbst im privaten Bereich muss man ja Elemente des literarischen Systems nutzen: rhetorische Figuren, Mittel zur Organisation der Zeitstruktur, Erzählmodi, Bausteine der Figurenkonstruktion, Topoi usw. Gefährlich wird es – und ab einem bestimmen Zeitpunkt merkt Walser das überaus deutlich –, wenn die Literatur »überinstitutionalisiert« wird. Sie ist dann kein durch die Schrift vermitteltes ungezwungenes Ausdrücken und Erleben, d. h. kein freier Wortfluss mehr, sondern wird in erster Linie zu einer gesellschaftlichen Institution, die dem Wissenssystem und dem Kulturbetrieb unterworfen ist; das betrifft auch Autoren, die mit ihrer angeblichen Antibürgerlichkeit und ihrem Avantgardismus prahlen.14 Und Walser? Sehr früh, weil bereits in dem 1904 erschienenen Band »Fritz Kochers Aufsätze«, definiert er sein antiprogrammatisches Literaturprogramm: 11 Vgl. Walser, Robert: Eine Ohrfeige und Sonstiges. In: ders.: Die Rose. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 59 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 8). 12 Ebd. 13 Echte, Bernhard: Überlegungen zur Kulturkritik bei Robert Walser. In: Robert Walsers »Ferne Nähe«. Neue Beträge zur Forschung. Hrsg. von Wolfram Groddeck/Reto Sorg/Peter Utz/Karl Wagner. München: Wilhelm Fink 2007, S. 211. 14 In dem oben zitierten Aufsatz drückt Echte folgende Überzeugung aus: Selbst die mutigste Avantgarde »suchte [in der Regel] sehr rasch das heimliche Einverständnis mit ihren angeblichen bürgerlichen Gegnern und entpuppte sich in der Regel binnen kurzem als eine weitere Variante jenes Spiels, das der Gesellschaft und ihren Positionen gilt und nicht der Kunst«. Echte, Überlegungen zur Kulturkritik. 2007, S. 212.

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»Ich schreibe über alles gleich gern. Mich reizt nicht das Suchen eines bestimmten Stoffes, sondern das Aussuchen feiner, schöner Worte. Ich kann aus einer Idee zehn, ja hundert Ideen bilden, aber mir fällt keine Grundidee ein. Was weiß ich, ich schreibe, weil ich es hübsch finde, so die Zeilen mit zierlichen Buchstaben auszufüllen. Das ›Was‹ ist mir vollständig gleichgültig.«15 Diese Erklärung richtet sich eindeutig gegen den bürgerlichen Begriff von Kunst als einer gesellschaftlich und kulturell legalisierten »Selbsttechnik«, also gegen das Formen der eigenen Existenz im Einklang mit bestimmten zuvor verinnerlichten Normen und Werten. Der brillante schweizerische Literaturforscher Peter von Matt weist darauf hin, dass Walser Wort für Wort, wenn auch völlig unbewusst, das Konzept Flauberts kopiert und damit didaktische Verpflichtungen der Literatur und den Glauben an eine Hierarchie literarischer Themen verworfen habe. Der Verfasser von »Madame Bovary« zweifelte zum einen die Überzeugung an, dass ein Werk der »Hochkunst« zwangsläufig ein »hohes« Thema haben müsse, ein »niederes« Thema dagegen stets ein »niederes« Werk bedinge. Indem er sich von der Literaturauffassung Balzacs entfernte, suchte er absichtlich Banales, um seine Bemühungen auf den seiner Meinung nach höchsten künstlerischen Wert zu konzentrieren: auf den Stil. Das ideale Buch ist in Flauberts Augen einfach… ein Buch »über nichts«, das allein durch die innere Kraft seines Stils zusammengehalten werde; er selbst konnte es schlussendlich nicht schreiben. Das gelang erst ausgerechnet Robert Walser, und zwar im hohen Grad. Seinen wesentlichsten negativen Bezugsautor sah Walser wiederum in Gottfried Keller, dem führenden Schweizer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und Autor »Des grünen Heinrich«, eines der bedeutendsten Werke der deutschsprachigen Literatur. Keller zu überwinden hieß in dem Fall, dass die Überzeugung verworfen wurde, die Literatur diene in erster Linie der Verbreitung des moralisch und ethisch Richtigen und sei – mit anderen Worten – eine spezielle Abart der Sozialpädagogik. Darauf gründet sich das durchdachte Konzept der Naivität in Walsers Texten; daher rührt die Rolle, die dort Protagonisten mit niedrigem sozialem Status, jungen aussichtslosen Menschen und Kindern16 zufällt. Hier haben ihre Quelle der Verzicht auf jedwede lineare Handlung, der Vorrang des Gesprochenen und Gehörten gegenüber dem Geschriebenen,17 die Demontage der objektiven Erzählerinstanz als Verkörperung gewisser gesellschaftlicher 15 Walser, Rober: Fritz Kochers Aufsätze. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 24 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 1). 16 Zur Konstruktion eines kindlichen Protagonisten bei Walser vgl. z. B.: Giuriato, Davide: Robert Walsers Kinder. In: Groddeck/Sorg/Utz/Wagner (Hrsg.), Robert Walsers »Ferne Nähe«. 2007, S. 125–132. 17 »Walser spricht, wenn er schreibt, nicht nur zu sich selbst, sondern in einen virtuellen Raum hinein, den er sich von lauschenden Lesern bevölkert imaginiert.« Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 245.

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Diskurse, u. a. des pädagogischen Diskurses, der in der gesellschaftlichen Praxis des 19. Jahrhunderts und in dem symbolischen Kulturkapital jener Zeit stark präsent war.18 Ein frappierendes Beispiel für den Widerspruch gegenüber der Literatur als Institution liefert Walsers Ablehnung der Titel, nachzulesen bei Peter Utz.19 Die Wichtigkeit des Titels als Element der Schnittstelle Literatur stieg zeitgleich mit der wachsenden Bedeutung der Autoreninstanz; beschleunigt wurde dieser Prozess im 18. Jahrhundert in Verbindung mit der fortschreitenden Entwicklung des europäischen Verlagsgeschäfts und der Presse: Damit sich ein Buch gut verkaufte, musste es einen markanten Titel und einen bekannten Autor haben, auf dem Einband sollte also am besten ein gewichtiger »Name« stehen. Der junge Walser ist sich dessen einerseits wohl bewusst, er versucht ja schließlich um jeden Preis, sich einen Namen zu erarbeiten – das heißt, er kann die geltenden Spielregeln nicht völlig außer Acht lassen. 1902 notiert er: »Titel treffen […] immer zu sehr. Ich habe Angst vor Titeln, namentlich vor Gesamttiteln.«20 Darin ist bestimmt der Eindruck des einigermaßen Vorläufigen begründet, den die Titel seiner Kurzprosa beim ersten Durchlesen erwecken. Hielt Walser Titel für »zu treffend«, d. h. für allzu präzise Bestimmungen des Textraumes, konnte ihre Treffsicherheit einzig und allein durch eine zufällige Wahl geschwächt werden – ja, man traf es, aber eben immer nur mehr oder weniger. Ein Text aus dem Jahr 1917 trägt den Titel »Niemand«, und in Anspielung an die List Odysseus’, die er auf der Flucht vor dem Zyklopen Polyphem ergriff, ist man versucht, Walser einen »Niemanden der Literatur« zu nennen. Einen »Niemanden«, der einen namenlosen Namen trägt. Einen »Niemanden«, der zwar in einem unverwechselbaren und auf den ersten Blick erkennbaren Stil schreibt, zugleich aber die Idee des Stils selbst in Frage stellt und ihn als literarische Instanz aufhebt – in Utz’ wunderbarer Formulierung hört sich das so an: »Stil ist keine bloß literarische

18 Nimmt der Erzähler nicht oft eine ähnliche Position in einem literarischen Werk ein, wie sie der Lehrer in der Schule einnimmt, indem er jede unserer Bewegungen beobachtet und unsere Haltungsfehler korrigiert? Gerade so wird ja von Keller die Erzählerinstanz in »Der grüne Heinrich« ausgerichtet. 19 Utz, Peter: Robert Walser. Stück ohne Titel. In: Groddeck/Sorg/Utz/Wagner (Hrsg.), Robert Walsers »Ferne Nähe«. 2007, S. 49–60. 20 Walser, Briefe. 1975, S. 17. Der Titel ist der »Name« eines Buches. »Nichts anderes ist ein Name als eine Grabschrift. Er gebührt den Toten. Denen, die abgeschlossen haben. Ich lebe und habe nicht abgeschlossen. Das Leben schließt nicht ab. Und das Leben kennt keine Namen. Dieser Baum, zitternder Atem seines neuen Laubes. Ich bin dieser Baum. Baum, Wolke; und morgen Buch oder Wind: das Buch, das ich lese, der Wind, den ich trinke. Stets draußen, immer auf Wanderschaft.« So heißt es bei Pirandello in »Einer, keiner, Hunderttausend« (Pirandello, Luigi: Die Ausgestoßene. Einer, keiner, Hunderttausend. Aus dem Italienischen von Piero Rismondo. Berlin: Propyla¨en 1998, S. 456 (= Gesammelte Werke in sechzehn Bänden. Bd. 5). Diese Sätze könnten aber genauso gut bei Walser stehen.

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Frage, sondern Stil ist eine Haltung.21 Es war Kandinsky, der es 1910 als erster wagte, seinem abstrakten Aquarell den Titel »Ohne Titel« zu geben; in der Kunst des 20. Jahrhunderts sollte er später eine ganze Reihe Nachahmer finden. Daran erinnert Peter Utz in einem anderen Aufsatz und fügt hinzu, dass Titellosigkeit – dem Abschaffen der Erzählerinstanz vergleichbar – kein gewöhnliches Fehlen darstelle, sondern einen bewussten Verzicht auf gewisse normative Konventionen der Ästhetik bedeute; die letztere neige dazu, eine literarische Aussage gefährlich zu mumifizieren22 und die Literatur – so meine Ergänzung – in eine Fabrik der Form zu verwandeln, wo im Schweiße des Angesichts literarisches Bodybuilding praktiziert wird. Walser will dagegen das Moment der Nutzlosigkeit der Literatur betonen, ihr jede Verantwortung für irgendetwas nehmen.23 Diese Tendenz vertieft sich vor allem nach 1913, als der Schriftsteller nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Berlin, dem damals unbestrittenen Mittelpunkt des deutschsprachigen Literaturbetriebs, in die Schweiz zurückkehrt. Trotz beachtlicher Erfolge der Anfangsjahre ebbt das Interesse an seiner Prosa allmählich ab und literarische Texte sichern ihm kaum noch den Lebensunterhalt. Doch er geht keine Kompromisse ein. Genauso wenig wirft er allerdings dem Imperialismus der Literatur (so seine 30 Jahre spätere Formulierung) den Fehdehandschuh hin.24 Er wählt eine andere Strategie: das Verschwinden – und zwar sowohl in thematischer als auch in formeller Hinsicht. Nach 1913, in der sogenannten Bieler Prosa,25 wird das Motiv des Verschwindens immer zentraler; »Verschwinden« steht aber auch für die Wahl bestimmter Erzählstrategien: allzu »treffende« Titel werden zugunsten mehr oder weniger vorläufiger verworfen, das Erzählte immer weiter ausgedünnt, deutliche Handlungsrahmen abgeschafft, das erzählende Subjekt zunehmend gespalten, Assoziatives radikal gehäuft usw. Letztendlich betrifft das Verschwinden auch den Modus der Schrift: In den Jahren 1918–1919 geht Walser endgültig zu seiner »Bleistiftmethode« über, d. h. er beschriftet zufällige Papierstücke (Visitenkarten, Postkarten, Briefränder, Zeitungsfetzen, Formulare usw.) mit dermaßen winzigen Buchstaben, dass man das Geschrie21 Utz, Tanz auf den Rändern. 1998, S. 18. 22 Utz, Robert Walser. 2007, S. 59. 23 Vgl. dazu: Schuller, Marianne: Robert Walsers Poetik des Winzigen. In: Groddeck/Sorg/Utz/ Wagner (Hrsg.), Robert Walsers »Ferne Nähe«. 2007, S. 75–82. 24 »Damals […] habe man noch verstanden, graziöse Novellen zu schreiben. Heute terrorisieren die Schriftsteller die Leser mit ihren dicken Langweiligkeiten. Es ist kein schmackhaftes Zeichen der Zeit, daß sich die Literatur so imperialistisch gebärdet. Früher war sie bescheiden, gutartig. Heute besitzt sie Herrscherallüren. Das Volk soll ihr Untertan sein. Das ist eine ungesunde Entwicklung.« Seelig, Carl: Wanderungen mit Robert Walser. Hrsg. im Auftrag der Carl-Seelig-Stiftung. Mit einem Nachwort von Elio Fröhlich. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 112. 25 Vgl, dazu: Gees, Marion: »So, so? Verloren?«. Zur Poetik des Verschwindens in Robert Walsers Bieler Prosa. In: Groddeck/Sorg/Utz/Wagner (Hrsg.), Robert Walsers »Ferne Nähe«. 2007, S. 83–96.

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bene ohne Spezialgeräte nicht lesen kann. Marion Gees zitiert in diesem Zusammenhang berechtigterweise aus dem berühmten Buch »Für eine kleine Literatur« von Deleuze und Guattari: »Wie viele Stile, literarische Gattungen oder Bewegungen, auch ganz kleine, haben nur den einen Traum: eine sprachliche Großfunktion zu erfüllen. […] Doch es geht um den entgegengesetzten Traum: klein werden können, ein Klein-Werden schaffen.26 Eben.

Die Walser-Schnittstelle Walsers kleine Literatur, wie Deleuze und Guattari sie nennen würden, kann man ohne Zweifel als eine Art Kulturkritik betrachten, wir sprechen ja von den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als in den deutschen philosophischen, weltanschauungsbezogenen, politischen und ideologischen Debatten der Begriff »Kulturkritik« eine fundamentale Rolle spielte; die Hauptquelle der einschlägigen Inspiration ist wohl in den Texten Friedrich Nietzsches zu suchen, obgleich nicht nur darin. Walser ist selbstverständlich weder Philosoph noch Politiker oder Ideologe. Ein Anhänger Nietzsches auch nicht. Man sollte deshalb nicht vorschnell die zu jener Zeit gängigen Schlagworte auf sein Werk anwenden. Indem er die damals allgemein anerkannte Schnittstelle Literatur (oder zumindest viele ihrer grundsätzlichen Elemente) in Frage stellt, begibt sich der Schriftsteller an den Rand, jenseits des Zentrums, wo mit dem von der Literatur als Institution produzierten, distribuierten und rezipierten symbolischen Kulturkapital gehandelt wird. Er zieht aus dem letzteren Nutzen (denn er schreibt ja weiter), tut dies aber selektiv; er bezieht sich schreibend auf bereits vorhandene Stilrichtungen, macht das aber in der Regel deshalb, weil er diese sofort kreativ modifizieren und natürlich auch ins Lächerliche ziehen will. Als Resultat entsteht der einzigartige Walsersche Stil zum »Einmanngebrauch«, eine originelle Schnittstelle als Alternative zu derjenigen, welche die Literatur als Institution vom frühen 15. Jahrhundert an bis heute beherrscht. Als ich vorher die Merkmale dieses Stils aufzählte, blieb das vielleicht wichtigste unerwähnt. Ich möchte es »emotionale Gestimmtheit« nennen und bin überzeugt, dass es die Schlüsselrolle in der Walser-Schnittstelle spielt. Lesen wir oder lieber: hören wir, wie das klingt: »Faul, will sagen, planlos, flanierte ich gestern nachmittag mit freundlicher Leser- und Leserinneneinwilligung, landschaftliche Eindrücke einladend, in mich hineinzuspazieren, im Grünen und in allen sonstigen durchweg annehmbaren Farben herum. Ich werfe die Behauptung auf, daß es hier insofern einen kleinen, ans ich vielleicht nicht 26 Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burkhart Kroeber. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 39.

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unbedeutenden Prosa[es]say zu konstatieren gibt, als ich mich auf ’s Behendeste, Lebhafteste und Längste mit einer Trägheitsschönheit unterhielt. Die Wellen des Flusses, der sich zum Zeugen (m)eines glücklichen, friedfertigen Gespräches emporschwang, erwiesen sich als in ihrer Art talentvolle Musiker. Heute früh legte ich übrigens, um keineswegs eine Lüge vorzubringen, was ich noch nie in meinem Leben glaube nötig gehabt zu haben, dadurch erstaunlich viel Geduld an den Tag, daß ich unsäglich lange auf ’s Fertiggelesenhaben einer Zeitung wartete, die mir die Überzeug[ung] einflößte, sie münde auch mir, was nach Absolvierung von so und so viel Minuten, die eine Stundenausdehnung zu besitzen schienen, ja denn auch der fall war. Aus eines Jagdschlößchens Fensterchen schaute eines der verlassensten und zierlichsten Frauchen heraus, die sich je nach einem tüchtigen Aufgemunterwerden gesehnt haben mochten. Doch still hievon, denn dieser Romantizismus kommt mir allzu zart vor, als daß ich ihn für imstande hielte, die Wuchtigkeiten (m)einer Wirklichkeitsschriftstellerei auszuhalten, die sich jetzt einem kraftvolleren Gegenstand zuwendet, nämlich einer Art Buffalo Bill, der mich mit der Bemerkung zu beunruhigen bestrebt war, er habe sechs Augen und die nutzbringende Fähigkeit sei ihm eigen, zu schlafen und gleichzeitig nach allen Richtungen hin aufmerksam Umschau zu halten.«27

Ich breche an dieser Stelle ab, könnte es aber genauso gut woanders machen. Welch anderer Autor hat Werke geschaffen, mit denen man ähnlich umstandslos umgehen könnte, ohne dass ihre künstlerische Dimension einen Schaden nimmt? Kafka, den man am häufigsten, allerdings vorschnell, für Walsers literarischen Bruder im Geiste hält, schreibt struktur- und erzähltechnisch derart dichte Texte, dass daraus nicht einmal ein einziges Element entfernt werden kann, ohne dass die Gesamtkonstruktion spürbar ins Wanken geriete. In dem Sinne beugt sich Kafka, ohne zu murren und trotz seines Hangs zum Innovativen, dem verbreitetsten und durch die Literatur als Institution abgesegneten Modell einer Rahmenerzählung. Von einem Rahmen kann bei Walser keine Rede sein, noch weniger von einer Konstruktion im herkömmlichen Sinne. Will man in Bezug auf seine Prosa von einer Struktur sprechen, würde man eher sagen, dass man in seinen Texten trotz des chaotischen Eindrucks eine deutliche rhythmische Balance hört ( ja, hört!) und dass sie einen guten flow haben, d. h. sich durch fließende Übergänge zwischen aufeinanderfolgenden, thematisch nicht oder nur lose zusammenhängenden Sätzen und Phrasen charakterisieren.28 Walser – jener literarische Klangästhetiker – scheint sich darüber vollkommen im Klaren ge-

27 Walser, Robert: Faul, will sagen, planlos flanierte ich gestern nachmittag. In: ders.: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924–1933. 6 Bände. Hrsg. von Bernhard Echte/ Werner Morlang. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990f. Bd. 4, S. 11. 28 Walo Deuber behauptet wiederum zu Recht, dass man Walsers Erzählen mit dem Filmen mithilfe einer Handkamera vergleichen könne, die fließend von einem zum anderen Gegenstand schwenkt. Vgl. Deuber, Walo: »Hoffnung auf eine unbekannte Lebendigkeit der Sprache«. Die Handkamera des Robert Walser. In: Groddeck/Sorg/Utz/Wagner (Hrsg.), Robert Walsers »Ferne Nähe«. 2007, S. 253–264.

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wesen zu sein, dass die besten Worte nicht alles ausdrücken können; dass außerdem ein entsprechender Klang und eine geeignete Betonung nötig sind.29 Bereits den ersten Lesern Walsers fiel sein originell gestimmter flow auf (obgleich sie ihn »Musik« nannten). Vielleicht war er es gar, der sie zuerst begeisterte und später – in seiner vermeintlichen Eintönigkeit – recht schnell langweilte. Wie dem auch sei, eine der ersten tiefgründigen Untersuchungen der Walserschen »melodischen« Gestimmtheit stammt aus der Feder Robert Musils, des damals schon bekannten und geschätzten Autors von »Die Verwirrungen des Zöglings Törless«, der später das Meisterwerk »Der Mann ohne Eigenschaften« verfassen sollte. 1914 veröffentlicht Musil in der Zeitschrift »Die neue Rundschau« eine knappe Besprechung des etwa zur selben Zeit erschienenen weiteren Prosabandes Walsers, in der er eine hervorragende phänomenologische Analyse derjenigen Stimmungen vorlegt, die sein Schaffen organisieren. Es sind offenkundig literarische Stimmungen, richtig, denn Walser gibt seine Bemühungen nicht auf, den Lesern zu demonstrieren, dass er das Handwerk der Literatur vollkommen beherrscht und ihr Spiel auf tausend mögliche Arten spielen kann: Einmal tut er so, als sei seine Prosa durch und durch realistisch, um uns ein anderes Mal zu verstehen zu geben, dass der Realismus bloß ein Jonglieren mit Konventionen war. Die »Gefühlslinie«, um mit Musil zu sprechen, sei aber trotzdem nie nur ein schriftstellerisches Spiel, sondern gleichzeitig immer auch etwas Menschliches, »mit viel Weichheit, Träumerei, Freiheit«, um auf subtile Art und Weise die Gleichgültigkeit auszuschalten, in die sich der bürgerliche Leser gewöhnlich einlulle, wenn er mit der Lektüreanfange.30 In »Tanz auf den Rändern« ordnet Peter Utz die Walsersche Gestimmtheit zwar in den neurotischen Diskurs um die Jahrhundertwende ein31, doch es lohnt der Hinweis, dass der allgemeine Trend der damaligen literarischen Avantgarde in die entgegengesetzte Richtung ging. Immer häufiger hieß es: Sprache, Präzision, Konstruktion, Intellekt – nur nicht Stimmung!32 Walsers Schaffen bricht also auch in dieser Hinsicht mit dem literarischen System, das sich selbst irreführend als Avantgarde bezeichnet. Was hat er davon? Um diese an sich ent29 In Rap und Hip-Hop – beides Musikrichtungen, die in vielerlei Hinsicht der Walserschen Prosa überraschend ähneln, was zweifelsohne eine besondere Analyse wert wäre – zeigt derjenigen einen guten flow, der bei Freestyle nicht »stockt«. 30 Vgl. Musil, Robert: Die Geschichten von Robert Walser. In: Über Robert Walser. 3 Bände. Hrsg. von Katharina Kerr. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978. Bd. 1, S. 89–91. 31 »›Ich bin nervös‹, ist heutzutage die allgemeine Klage« – mit diesen Worten beginnt eine Beruhigungsmittelanzeige in »Neue Zürcher Zeitung« von 1916. Vgl. Utz, Tanz auf den Rändern. 1998, S. 64–79. 32 Denn etwa zur gleichen Zeit entwickelt Paul Valéry das Konzept einer intellektuellen Poesie, indem er in die Fußstapfen großer Vorgänger wie Edgar Allan Poe, Baudelaire, Mallarmé tritt; zur gleichen Zeit entstehen die für die spätere Literatur so einflussreichen formalistischen Tendenzen.

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schieden eine gesonderte, weiterführende Betrachtung verdienende Frage provisorisch zu beantworten,33 beziehe ich mich auf einen anregenden Aufsatz des brillanten Kultur- und Literaturforschers der Gegenwart Hans Ulrich Gumbrecht. Er stellt darin u. a. fest, dass die akademische Literaturwissenschaft der letzten knapp 20 Jahre von »Lethargie und Unsicherheit« befallen sei – vor allem aus einem Grunde: Literarische Forschungen seien zu theoretisch geworden, während zugleich die Rolle der Stimmungen für die Literatur vernachlässigt worden sei34. Gumbrecht ist insofern zuzustimmen, als die Erforschung der Literatur im 20. Jahrhundert tatsächlich sehr oft auf eine ideengeschichtliche Untersuchung hinauslief: Analysiert wurden dabei in erster Linie in der Literatur enthaltene intellektuelle Konzepte. Daher rührt ihre gewaltige theoretische »Überlastung«, ihre nahezu paranoide Angst vor allem »Sentimentalen« (sei es echt oder nur eingebildet), ihr extrem formalistischer Charakter auch dort, wo deklarativ eine Ablehnung des Formalismus behauptet wurde, wie es die Dekonstruktion oder der sog. Ethical Turn taten. Mit anderen Worten: In dem letzten Jahrhundert war jede bedeutende Theorie der Literatur oder der Literaturwissenschaft mehr oder weniger formalistisch, denn sie stellte sich selbst prinzipiell in den Rahmen einer allgemeinen Ausgangskategorie, sprich: sie unterwarf sich selbst einer bestimmten Form, die zuvor in den Laboren der Ideen entwickelt worden war. Gumbrecht schlägt eine Abkehr vom handlungsorientierten Lesen und eine Hinwendung zum stimmungsorientieren Lesen– auch deshalb, weil man dadurch seiner Meinung nach besser verstehen werde, dass literarische Texte nicht nur mit Worten, sondern auch mit der nonverbal übermittelten Stimmung sprechen. Und sie tun das in einem viel größeren Grad, als wir zu Anfang bereit sind, zuzugeben. In der Tat: Wenn ich mich an meine Lektüreerfahrungen erinnere – die früheren und die allerletzten –, komme ich zu dem Schluss, dass »Ideen«, »Konzepte«, »Leitmotive«, »Botschaften« usw. überraschend oft eher eine gewisse »Gestimmtheit« durch den Text bedeuteten. Sah man sich eine »Idee« aus der Nähe an, entpuppte sie sich als eine Art Methode zur Organisation und Mobilisierung von Stimmungen; das betrifft gleichermaßen die Form des Textes wie seine Prosodie. Wie Gumbrecht anmerkt, gebe es einen untrennbaren »Zusammenhang zwischen bestimmten Erzählmustern und bestimmten Stimmungen«, die uns berühren (»Toni Morrison hat Stimmungen einmal mit dem schönen Paradox beschrieben, sie fühlten sich an, als ob man ›von innen berührt

33 Der vorliegende Aufsatz ist Teil eines den Poetiken des Schweizers gewidmeten Buches mit dem Titel »Tekstrawagancje Walsera« [Walsers Textravaganzen], an dem ich arbeite. 34 Gumbrecht, Hans Ulrich: Stimmungen lesen. Wie man die Wirklichkeit der Literatur heute denken kann. In: ders.: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München: Carl Hanser 2011, S. 7.

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werde‹.«)35 Man kann sich tatsächlich schwer einen Leser vorstellen, der sich an Kafkas »Prozess« wegen des in den Schulen bis zum Überdruss wiederholten Gemeinplatzes erinnert – der Idee von der »Unterdrückung eines Individuums durch die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts«. Er wird sich daran eher wegen der speziellen klaustrophoben Stimmung erinnern, der Josef K. allmählich verfällt. Kafkas Genie würde in dem Fall darin bestehen, die Individualstimmung seines Protagonisten mit deren einzigartiger Form und Prosodie gleichzeitig zu einer überindividuellen, geschichtlichen, universellen Stimmung werden zu lassen – zu einer Stimmung, die Ängste und Sorgen vieler Menschen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Ähnlich kann Walser gelesen werden – und ein besonders dankbares Objekt für eine solche Lektüre geben ausgerechnet seine Mikrogramme ab. Ihre einzigartige »Gestimmtheit« ist doch nicht allein auf den Inhalt, sondern ebenso auf die überaus originelle Form zurückzuführen – die beinahe handwerkliche Materialität und das Patchwork-, Ornament-, Arabesken- und Collagenhafte der Faktur, die an ein wortwörtlich gemeintes Hand-Werk denken lässt. Inwiefern dient der greifbare Modus der Mikrogramme (d. h. deren besonderer ästhetischer »Zuschnitt«) der Organisation und dem Ausdruck von Stimmungen? Inwieweit sind die Walserschen Stimmungen ein Mittel zur Vergegenwärtigung von etwas, was der Literaturbetrieb unterdrückt hat und was Walser der Literatur (und nicht nur ihr) zurückzugeben versucht?36 Das sind nur einige der Fragen, die in Zukunft eine Antwort erhalten müssen, zumal sie nicht nur die Prosa des Schweizers betreffen, sondern grundlegende Belange der Literarizität als solcher berühren. Es ist höchste Zeit, glaube ich, Walser nicht mehr gemäß dem Diktat raffinierter philosophischer und hyperkomplexer literaturtheoretischer Konzepte zu lesen (eine wahrhaftige Pest, die seinem Schaffen gewidmete Untersuchungen, aber auch die Literaturforschung schlechthin heimgesucht hat!), sondern Stimmungen zu respektieren, mit denen uns Walser »berühren« will. Das hieße u. a., dass seine Begrifflichkeit nicht nur im Hinblick auf ihre Inhalte und ihre innere Logik unter die Lupe genommen werden müsste, sondern auch in Bezug darauf, was sie mit uns Lesern während des Lesens »macht«. Warum werden wir durch manche Termini irritiert, während uns andere eher mit Sorglosigkeit oder Erleichterung »berühren«? Vielleicht ist es gar so, dass Worte eher etwas mit uns »machen«, als zu uns zu »sprechen«? Und vielleicht betrifft das innerhalb der Literatur gleichermaßen Ideen, Konzepte, rhetorische Figuren, Klänge, Prosodien, Erzählformen, Mittel der Organisation der Zeitebenen, Topoi? Man denke 35 Ebd., S. 13, 12. 36 »Gefühl ist bei Walser«, wie Peter Utz zu Recht anmerkt, »Teil der ästhetischen Reflexion über Rolle, Identität, Freiheit.« Utz, Tanz auf den Rändern. 1998, S. 33.

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etwa an den Topos »Winter« bei Walser – wie viele unterschiedliche Stimmungen kann der weiße Winter in seinen Texten hervorrufen! Nietzsche stellte einmal Folgendes fest (über den um ihn betriebenen Kult machte sich Walser im Übrigen des Öfteren lustig – was ihn allerdings nicht daran hinderte, mit dem Philosophen in vielerlei Hinsicht übereinzustimmen): »[…] so ist man jetzt, im Niedergange der Sprachen, der Sclave der Worte; unter diesem Zwange vermag Niemand mehr sich selbst zu zeigen, naiv zu sprechen, und Wenige überhaupt vermögen sich ihre Individualität zu wahren, im Kampfe mit einer Bildung, welche ihr Gelingen nicht damit zu beweisen glaubt, dass sie deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend entgegenkomme, sondern damit, dass sie das Individuum in das Netz der ›deutlichen Begriffe‹ einspinne und richtig denken lehre; als ob es irgend einen Werth hätte, Jemanden zu einem richtig denkenden und schliessenden Wesen zu machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenden zu machen.«37

Na gut – und was empfinden Walsers Protagonisten, wenn sie … denken? Interessanterweise spüren sie manchmal Angst: »Dafür bin ich ja ein guter Bürger, damit ich Ruhe habe, damit ich den Kopf nicht anzustrengen brauche, damit mir Ideen völlig fernliegen und damit ich mich vor zu vielem Denken ängstlich fürchten darf. Vor scharfem Denken habe ich Angst. Wenn ich scharf denke, wird es mir ganz blau und grün vor den Augen.«38

Grün und blau – das ist Walser, wie er leibt und lebt! Oder vielleicht nur leibt? Wer weiß das schon.

37 Nietzsche, Friedrich: Richard Wagner in Bayreuth 5. In: ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. München: dtv 1988, S. 455f. (= Kritische Studienausgabe. Bd. 1). 38 Walser, Robert: Basta. In: ders.: Der Spaziergang, Prosastücke und Kleine Prosa. Zürich/ Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 169 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 5).

Bartosz Małczyn´ski (Uniwersytet Humanistyczno-Przyrodniczy im. Jana Długosza w Cze˛stochowie)

Heiliges Hören. Zum Phänomen der Musik in ausgewählten Werken Robert Walsers

»Der See war ganz blaß-blau. Ein Dampfschiff mit klingender Musik fuhr gerade vorüber. Man konnte die wehenden Tücher unterscheiden, die dort unten von den Vergnügungsreisenden geschwenkt wurden. Der Rauch des Dampfschiffes flog nach hinten und wurde von der Luft eingesogen. Die Berge am andern Ufer waren in dem Dunst, den der vollendet schöne Tag über den See verbreitete, kaum zu sehen. Sie schienen aus Seide gewoben zu sein. Ja, die ganze runde Aussicht war blau, selbst das nahe Grün und das Rot der Dächer sahen sich bläulich an. Man hörte ein einziges Gesumme, wie wenn die ganze Luft, der ganze durchsichtige Raum leise gesungen hätten. Auch das Summen und Surren hörte und sah sich blau an, beinahe!«1

1 In der Einleitung zu Robert Walsers erster Buchveröffentlichung mit dem Titel »Fritz Kochers Aufsätze« (1904)2 erklärt der Erzähler in Kürze den Ursprung der vorliegenden Texte, um danach zu verschwinden oder sich eher hinter den Aufzeichnungen des jungen Fritz zu verstecken, der hier »ernste[r] Lacher« genannt und dessen Wesen als zugleich kindlich und erwachsengeschildert wird. Aussagekräftig ist die Abschiedsgeste (»Adieu, mein Kleiner! Adieu Leser!«), mit der der Erzähler die gesamte Reihe als eine Art Requiem zum Gedenken an den jungen Verstorbenen erscheinen lässt. Gleichzeitig können dadurch Fritz’ für schulische Zwecke verfasste Aufsätze der Bevormundung und Kontrolle seitens einer höheren Instanz entkommen; auch der Erzähler – bzw. vor allem er – kann dadurch beiseitetreten, das Blickfeld verlassen, sich an den Rand des Heftes zurückziehen und auf diese Art und Weise sein Handeln auf bloßes technisches, rein mechanisches Ausführen reduzieren. Zum Schluss betont der Erzähler, dass 1 Walser, Robert: Der Gehülfe. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 28f. (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 10). 2 Walser, Robert: Fritz Kochers Aufsätze. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 1). Hier und im Weiteren verzichte ich auf die Angabe der genauen Seitenzahlen, denn die kurzen Prosastücke sind in dem Band ohnehin leicht zu finden.

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er Kochers Aufsätze unverändert zur Verfügung stelle, und macht auf zwei Merkmale der jugendlichen Reflexion aufmerksam: den ganz und gar nicht naiv wirkenden Verstand und den klaren Blick. Man gewinnt den Eindruck, dass sich der Erzähler mit den Fritz’schen Aufzeichnungen identifiziert, indem er ihren Wert hervorhebt und ihre Veröffentlichung empfiehlt; dass er zwischen sich und dem Jungen eine geistig-emotionale Wahlverwandtschaft bei der Auffassung fundamentaler und universeller Fragen (darunter sind auch laienhafte Reflexionen über die Musikphilosophie) verspürt. Fritz Kochers Überlegungen zur Musik lohnt es sich vor dem Hintergrund seiner allgemeinen Bemerkungen quasianthropologischer Art wiederzugeben, denn der Junge legt in erster Linie (in dem, wie er stolz verkündet, besten Aufsatz, den er je geschrieben habe) seine eigene Philosophie des Menschen vor. Demzufolge zeichne sich das menschliche Wesen durch Zartheit und die Fähigkeit aus, das Instrument Herz einzusetzen, und wird in dem Aufsatz mit einem »wohlangelegten Lustgarten« verglichen wird (der Junge muss im Unterricht einmal von Hieronymus Boschs bekanntem Triptychon aus dem 15./16. Jahrhundert gehört haben). Fritz zufolge sei das menschliche Herz »das Schönste am Menschen«, es müsse nichtsdestoweniger stets »zitternd«, »empfindlich«, »wählerisch« sein, um als »unendliche Quelle« der Kraft und des inneren Reichtums zu dienen. Der Junge vergleicht das Herz ebenfalls mit einem Schatz, den es zu bewahren gelte, wolle man ein Mensch bleiben. Eben als Hüter des Herzens könne sich der Mensch unter den anderen Lebewesen hervortun. (»Edel sei der Mensch, / Hülfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen, / Die wir kennen«, heißt es bei Johann Wolfgang von Goethe in einem ursprünglich »Mensch« betitelten Gedicht.3) Wichtig ist noch eins: In Kochers normativer Auffassung ist die Ordnung des Herzens derjenigen der Weisheit und Klugheit übergeordnet, woraus folgt, dass das Herz die gesamten Aktivitäten des menschlichen Körpers determinieren sollte. Diese möchte er auf zwei grundsätzliche Dimensionen zurückgeführt wissen: Gebet und Arbeit (»[ich] will beten und noch mehr arbeiten, denn mir scheint, das Arbeiten ist schon ein Beten«). Es ist eine in der Tat benediktinische Lebensphilosophie, zu der sich dieser Junge bekennt, während er zugleich empfiehlt, man möge »denen gehorchen, die es verdienen, daß man ihnen gehorcht«. Um den moralischen Aspekt hervorzuheben, der Fritz zufolge untrennbar mit der Menschlichkeit verbunden ist, schildert der Autor zwei innerhalb seiner Weltanschauung einander ausschließende Modelle menschlichen Handelns (historisch betrachtet koexistieren sie natürlich des Öfteren nebeneinander); das zeugt von einer geradlinigen und stark mythisierenden Einstellung des Jungen zu 3 Goethe, Johann Wolfgang von: Das Göttliche. In: ders.: Gedichte. West-östlicher Divan. Frankfurt/Leipzig: Insel Verlag 1998, S. 64 (= Jubiläumsausgabe. Bd. 1).

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Phänomenen, die er für wichtig und erwähnenswert hält. Bei dem ersten Modell verweist Fritz auf den »höchsten edelsten Zustand« des Menschseins, der sich im Dichten verwirkliche. Bei dem zweiten ist dagegen von »unnützen Leidenschaften«, z. B. der »Trunksucht« als einer der widerlichsten Sachen die Rede, denen sich Menschen ergeben und infolge deren sie sich von einer möglichen Erfüllung »edler Bestrebungen« entfernen würden. Fritz stellt außerdem Tapferkeit und ehrliches Handeln der Feigheit und der »Habgier« gegenüber – und umreißt auf diese Art und Weise eine Palette von Werten, in deren Mitte der stille Wunsch steht: »Ich schwärme heimlich für die Kunst.« Als in Zukunft potenziell zu ergreifende Berufe werden in einem anderen Aufsatz auch Schiffskapitän und Förster genannt (während Arzt, Pfarrer, Jurist und Lehrer sofort verworfen werden): »Förster möchte ich werden. Ich würde mir ein kleines efeuumranktes Haus am Waldrand bauen und den Tag lang bis in die Nacht im Wald umherschweifen. Vielleicht käme es mir mit der Zeit auch langweilig vor und ich sehnte mich nach großen eleganten Städten. Als Dichter möchte ich in Paris, als Musiker in Berlin, als Kaufmann nirgends leben. Man tue mich nur in ein Bureau und erfahre dann das Weitere. Nun habe ich noch eines auf der Seele: Gaukler sein wäre schön. Ein berühmter Seiltänzer, Feuerwerk hinten auf dem Rücken, Sterne über mir, einen Abgrund neben, und so eine feine schmale Bahn vor mir zum Schreiten. – Clown? Ja, ich fühle, ich habe zum Spaßmachen Talent.« (S. 30)

An dieser Stelle fallen einem Sätze aus Friedrich Nietzsches »Also sprach Zarathustra« ein – einem Werk, das Fritz als überdurchschnittlich begabtem und für verschiedenartige und breit verstandene kulturelle Anregungen empfänglichem Schüler bekannt sein durfte. In Bezug auf einen Menschen, der wie ein Seil über dem Abgrund gespannt ist, lesen wir in »Zarathustra« Folgendes: »Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.«4 Auch Fritz ist bereit, sich für die Zukunft auf einer »feinen schmalen Bahn«, die dicht am Abgrund des existentiellen Risikos verläuft, an der Grenze zwischen Angst und Ruhe, Gefahr und Sicherheit, Unvorhersehbarkeit und Gewissheit einzurichten. Gegensätzlicher Vorstellungen und Assoziationen bedient sich der Junge ebenfalls in einem Aufsatz, in dem er über die Musik nachdenkt. Das Prinzip coincidentia oppositorum, das er aus Schulaufsätzen kennt und hier sicherlich nicht ganz bewusst anwendet, findet sich an Stellen, die davon zeugen, dass die Musik Fritz melancholisch, nicht aber absolut tieftraurig stimmt: »Musik stimmt mich immer traurig, aber so wie ein trauriges Lächeln ist. Ich möchte sagen: freundlich-traurig. Die lustigste Musik vermag ich nicht lustig zu finden und die 4 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. München: dtv 1988, S. 16 (= Kritische Studienausgabe. Bd. 4).

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schwermütigste Musik ist für mich keineswegs besonders schwermütig und entmutigend« (S. 43). Mehr als 100 Jahre später wird Steven Wilson, der durch Bands und Projekte wie Porcupine Tree, Bass Communion oder Blackfield bekannte Musiker und Komponist, derselben Überzeugung Ausdruck geben; in einem im Zusammenhang mit dem Dokumentarfilm »Insurgentes« gegebenen Interview äußerte er sich folgendermaßen: »Am meisten inspirieren mich Momente kristallisierter Melancholie, die sich durch eine spezielle Schönheit auszeichnen. Auf paradoxe Art und Weise wirkt traurige, depressive Musik auf mich tröstend, während mich glückserfüllte Musik extrem bedrückt. […] Hören wir ein sehr trauriges Lied, wird uns bewusst, dass wir Teil der gemeinschaftlichen menschlichen Erfahrung sind. Trauer, Melancholie und Depression halten uns alle gefangen«.5

Durch das im Nachdenken über die Musik gegenwärtige Gesetz des scheinbar Paradoxen zeichneten sich auch die Reflexionen Zbigniew Bien´kowskis aus, eines Lyrikers, Literaturkritikers und Verfassers einer Reihe von Essays mit dem Titel »Przypisy do oczywistos´ci« (Anmerkungen zum Selbstverständlichen). Einer davon wurde dem Hören, auch dem Musikhören gewidmet. Bien´kowski zufolge lasse sich das Phänomen der Musik nicht auf das Ästhetische reduzieren, denn die Musik sei die einzige Kunst, die das menschliche Wesen völlig eins mit seinem Schicksal werden lasse; sie begleite Menschen in ihrer Vergänglichkeit und füge scheinbar gegensätzliche Gefühle zu einem kohärenten Ganzen zusammen: »Verzauberung und Unruhe«, »Bedauern und Seligkeit«, »unwahrscheinliches Glück und niederschmetternde Traurigkeit«.6 Erinnern wir uns an ein Beispiel, das Walser näherstehen durfte: Hermann Hesses frühen Roman »Gertrud« (1910), dessen Protagonist, der hinkende Komponist Kuhn, das Phänomen der Musik ebenfalls in widersprüchlichen Kategorien betrachtet:

5 Vgl. »Insurgentes«, 2010. Regie: Lasse Hoile. Übersetzung der zitierten Stelle – I. S. Über die Musik Steven Wilsons in dem Einmann-Projekt Bass Communion schreibe ich ausführlicher in dem Aufsatz »Bass Communion: eksperymenty w teksturze. Semantyka dz´wie˛kowych widm na obrzez˙ach rocka« [Bass Communion: Texturexperimente. Klangsemantik im Grenzbereich des Rock] (in: Kultura rocka 2. Słowo – dz´wie˛k – performance (1) [Kultur des Rock 2. Wort – Klang – Performance (1)]. Hrsg. von Jakub Osin´ski/Michał Pranke/Paweł Tan´ski. Torun´: ProLog 2016). 6 Bien´kowski, Zbigniew: O słuchaniu [Vom Hören]. In: ders.: Poezje zebrane [Gesammelte Gedichte]. Mit einem Nachwort von Piotr Kuncewicz. Warszawa: Agawa 1993, S. 247–249. Diesem Essay habe ich einen eigenen Aufsatz gewidmet: »Ekstaza poznania. O słuchaniu muzyki według Zbigniewa Bien´kowskiego« [Ekstase der Erkenntnis. Vom Hören der Musik nach Zbigniew Bien´kowski] (in: O rozkoszach wszelkich… Od przyjemnos´ci do ekstazy w kontekstach kultury [Von allerlei Freuden … Vom Vergnügen bis zur Ekstase in kulturellen Kontexten]. Hrsg. von Katarzyna Łen´ska-Ba˛k/Magdalena Sztandara. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 2011).

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»[…] ich unterschied nicht mehr Genuß und Weh, sondern eines war dem andern gleich, und beides tat weh, und beides war köstlich. Und während es mir innen wohl oder weh erging, stand meine Kraft doch in Ruhe darüber, schaute zu und erkannte das Helle und Dunkle als geschwisterlich zusammengehörend, das Leid und den Frieden als Takte und Kräfte und Teile derselben großen Musik. […] Ich möchte empfinden, daß der Schmerz und die Freude aus der gleichen Quelle kommen und Bewegungen derselben Kraft und Takte derselben Musik sin, jedes schön und notwendig.«7

Obwohl Fritz in einem der Aufsätze die Bereitschaft erwähnt, in Zukunft Komponist oder Musiker zu werden, gibt er letztendlich doch zu, dass er sich nie professionell mit der Musik beschäftigen könnte; professionelles Musikmachen würde ihm nicht die erwarteten Empfindungen garantieren: Er meint allem voran die Trunkenheit, aber auch die Süße (am häufigsten spricht der Jüngling eben die Süße an; an einer Stelle schreibt er z. B., dass die Musik »das Süßeste auf der Welt« sei). Darüber hinaus fürchtet Fritz die Strafe der Musik als ihre Rache für die eigenmächtige Verkürzung der Distanz und die Verwicklung in eine offene Liebesbeziehung: »Musik ist die gedankenloseste und deshalb süßeste Kunst. […]. Man darf eine Kunst nicht begreifen und nicht schätzen wollen. Kunst will sich uns anschmiegen. Sie ist ein so überaus reines und selbstzufriedenes Wesen, daß es sie kränkt, wenn man sich um sie bemüht. Sie straft den, der ihr, indem er sie fassen will, entgegenkommt. Künstler erfahren das. Sie sind es, die ihren Beruf darin sehen, sich mit ihr zu befassen, die durchaus nicht angefaßt werden will. Deshalb möchte ich nie Musiker werden. Ich fürchte mich vor der Strafe eines so holden Wesens. Man darf eine Kunst lieben, aber muß sich hüten, es sich zu gestehen. Man liebt am innigsten, wenn man nicht weiß, daß man liebt.« (S. 44)

Zu den Eigenschaften der Musik, die suggestiv auf eine spezifisch begriffene Weiblichkeit verweisen, gehören demzufolge nicht nur süß, wunderbar und rein, sondern auch ungreifbar, gedankenlos, rachsüchtig, unantastbar und arrogant. In Kochers Auffassung nimmt die Musik einen der Weisheit und der Klugheit, dem Intellekt und dem Verstand, dem Diskurs und der Philosophie entgegengesetzten Platz ein: Sie sei absolut befreit, ungesagt und unsagbar (»Die Worte über die Kunst da oben muß man nur nicht ernst nehmen«); sie sei es, die des Jungen Willen, alles zu wissen, aufhebe: »Ich wünsche nicht alles zu wissen. Ich besitze überhaupt, so sehr ich mir intelligent vorkomme, wenig Wissensdrang.« Fritz liegt es einzig und allein am Musikhören, welches in dem Schulaufsatz überhöht wird und in dem Jungen eine Opferbereitschaft wachsen lässt – auch die zum Opfern des eigenen Lebens. »Ich kann, um einen Ton zu hören, tausend Schritte springen. Oft, wenn ich im Sommer durch die heißen Straßen gehe und 7 Hesse, Hermann: Gertrud. In: ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987. Bd. 2, S. 34f., 49.

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aus einem unbekannten Hause ein Klavier tönt, stehe ich still und meine, an dieser Stelle sterben zu sollen. Ich möchte im Anhören eines Musikstückes sterben.« (S. 43) Heiliges Hören – notwendig und hinreichend, geeignet zur Begleitung des menschlichen Sterbens. Fritz betont mehrmals, dass sich die Musik nicht allein mit Trauer, sondern auch mit Schmerz verbinde (»mich schmerzt die Musik«), mit tiefem Fehlen und mit Unruhe. Die Musik führe an den Rand des Abgrunds und lasse einen ins Bodenlose blicken; sie verletze dezent wie ein Dolch und hinterlasse eine schmerzliche, eiterlose Wunde. Und weiter: »Vor der Musik habe ich nur immer die eine Empfindung: mir fehlt etwas. Nie werde ich den Grund dieser sanften Traurigkeit erfahren, nie darnach forschen wollen. Ich wünsche es nicht zu wissen. […] Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas.«

2 »Musik ist ein Weinen in Melodien, ein Erinnern in Tönen, ein Gemälde in Klängen«, schreibt Fritz Kocher in demselben Aufsatz und definiert auf diese Art und Weise ein Phänomen, das ihn sowohl im übertragenen Sinne als auch wortwörtlich nicht in Ruhe lässt (»Wie die Töne aufhören, ist alles wieder ruhig in mir«). 10 Jahre nach seiner ersten Buchveröffentlichung erscheint in dem Band »Kleine Dichtungen« (1914) das wenig mehr als eine Seite lange Prosastück »Die Sonate«.8 Darin kehrt der Schriftsteller zu der Problematik der Musik zurück und hebt erneut ihre Widersprüchlichkeit vor; außerdem werde das Musikhören auch vom Schmerz begleitet: »Angenehme Wehmut – Schmerz, der den Stolz nicht kränkt. Freude über solcherlei Schmerz. Ein leichter, gefälliger Gram […]. Schmerz und Freude sind wie Freund und Freundin, die sich umhalsen, umarmen und küssen. Lust und Weh sind wie Bruder und Schwester, die sich geschwisterlich lieben. Das liebliche sonnige Entzücken ist die Braut, und der Kummer, der sich ihr ins Herz schleicht, ist der Bräutigam. Genugtuung und Enttäuschung sind unzertrennlich.«

Mit dem Empfinden von Schönheit, Liebe und Glück als Musikerfahrungen gehen bei Walser »unsagbare perlende Verzagtheit« und »stilles, süßes Weinen« einher. Dieses Klagen hat aber einen besonderen Charakter, denn es richtet sich nicht nur gegen den eigenen Zwiespalt, sondern man weint mit Nostalgie und Empathie »über alles, was da ist und je da war«. Es ist ein nicht näher bekannter 8 Walser, Robert: Die Sonate. In: ders.: Kleine Dichtungen. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 101–103 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 4).

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Komponist, der hier Überlegungen anstellt und vom Erschaffen einer überirdischen Sonate träumt: »Etwas Engelgleiches soll in der Sonate tönen, die ich im Sinne habe. Doch soll auch Hoffnung wieder dazwischen klingen, wie wenn jemand ganz arm und verlassen ist und dennoch immer, immer wieder hofft, gleichsam wie aus lieber, alter kindlicher Gewohnheit. […] und ein junges schönes Mädchen, welches sich mit Leichtigkeit einzubilden vermag, sie sei ein Engel, soll sie spielen. Ein Engel muss die engelgleiche Sonate spielen, und es muß herniedertönen aus dem Himmel des Spieles wie himmlischer Trost, wie himmelreichähnliches Behagen, denn eine reizende Behaglichkeit, eine tiefsinnige Vergnügtheit denke ich dem Werke einzugeben.«

Dem Ansinnen des Komponisten nach sollte in der Sonate neben Hoffnung, Trost, unendlicher Herrlichkeit, Heiterkeit und Seligkeit auch Anderes anklingen: Hoffnungslosigkeit, »tönereiche« Reue, »göttlich schöne« Schwäche und Selbstvorwürfe (»eine Schar von Würfen«). Auch in diesem Text verwendet Walser das Motiv des Herzens: Er schreibt von einem edlen Herzen, das »sich über eine edle Empfindung« freuen könne – »edel« heißt hier voll, mehrdimensional, zugleich positiv und negativ. Die engelgleiche Sonate solle eben all das getreu widerspiegeln. Das Werk dürfe nicht expressiv werden, sondern müsse moralisch bleiben: »Nicht ein Entsetzen, nicht ein Grauen. Die Sonate hier verbietet derlei Heftigkeiten. Sanft wie ein leicht betrübter blauer Himmel will und soll sie tönen. Ihre Farbe ist das matte Edelweiß der Perle, und ihr Ton ist das Entschuldigen. Es gibt keine Schuld, weil es zu viel gibt«. Das übergeordnete, endgültige Anliegen der Sonate soll daher auf Vergeben der Schuld, Stillen aller Schmerzen und Beseitigen jeder Enttäuschung beruhen. Wenn Walser über die Musik schreibt, greift er des Öfteren nach ethischen Begriffen – das zeugt davon, dass in seinem Verständnis Musikalisches und Moralisches untrennbar miteinander verbunden sind.9 Das Prosastück »Der Dichter«,10 ebenfalls aus der Sammlung »Kleine Dichtungen«, beginnt mit für diesen Autor charakteristischen Gegensatzpaaren: »Der Morgentraum und der Abendtraum, das Licht und die Nacht; Mond, Sonne und Sterne. Das rosige Licht des Tages und das bleiche Licht der Nacht.« Eine affirmative Haltung der umgebenden Wirklichkeit gegenüber wird hier mitgeteilt, deren Elemente (Mond, Sterne, Wald, Feld, Bäume, Wege) mithilfe Freundschaft, Leidenschaft oder Liebe 9 Das Thema Musikalisches versus Moralisches behandeln u. a. Che˛c´ka-Gotkowicz, Anna: Ucho i umysł. Szkice o dos´wiadczaniu muzyki [Das Ohr und das Gehirn. Studien zur Musikerfahrung]. Gdan´sk: słowo/obraz terytoria 2012 (v. a. im Kapitel IV: »Aposiopesis – etyczny wymiar dos´wiadczenia muzycznego« [Aposiopesis – zur ethischen Dimension der Musikerfahrung]); Kassner, Rudolf: Die Moral der Musik. Leipzig: Insel 1912; Małczyn´ski, Bartosz: Zestrojenia. Szkice o literaturze, muzyce i dobroci. [Abgestimmtes. Studien zu Literatur, Musik und Güte]. Kraków: Nomos 2017. 10 Walser, Robert: Der Dichter. In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 84f.

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beschreibender Attribute geschildert werden. Unter den diesseitigen Dingen werden Abende und Nächte als märchenhafte Räume des Schönen und Geheimnisvollen besonders hervorgehoben. Eben in der »himmlischen Finsternis« kann er »lauschen, lauschen« – und zwar dem »Ton einer Handharfe, von irgendeinem armen Manne gespielt«. Wesentlich ist, dass die Klänge dem Dichter zufolge nicht allein der Welt des Ästhetischen angehören, sondern vor allem in der ethischen Dimension schallen und nachhallen: »Da war alles gut, gerecht und schön. […]. Ich tat niemand weh, und auch mir tat niemand weh. Ich war so hübsch, so schön beiseit.« In der Schlusssequenz des Textes wird die Gestalt eines Tänzers beschworen, der Trauer und Melancholie symbolisiert und den Menschen unangekündigt sowie ungefragt aufsucht. Es ist kein Zufall, dass derselbe Band das ähnlich kurze Prosastück »Der Tänzer«11 enthält. Es handelt von einem Tänzer am Theater, dessen von lieblichen Musiktönen begleiteter Tanz ihn zu einem »Wunderkind aus wunderbaren Sphären« und einem liebenswürdigen Engel werden lasse. Ein gegensätzliches Bild von der Tanzmusik zeichnet Walser dagegen in dem Prosastück »Der Pole«.12 Hier ist keine Rede mehr von Liebe, Unschuld, Engeln oder wunderbaren Erlebnissen. Es ist Winter, das Dort liegt »nahe an der Grenze von Galizien, in einer Gegend also, wo deutsche, russische und polnische Elemente« sich berühren und aneinander reiben. Drei junge Männer machen sich auf zu einem »Gelage im miserablen, düsteren und räuberhüttenähnlichen Gasthaus«, wo ebenso schlechtes Bier serviert wird, von dem allerdings den Menschen die Lust zum Singen und zum Johlen nicht vergeht. Das zeichnet im Übrigen die Beteiligten als österreichische Männer aus. Guter Laune bewundern sie den Tanz eines betrunkenen Polen mit dem Vornamen August, der sich in der Stubenmitte zu den Klängen der Handharfe vergnügt. Entzückt sind sie insbesondere über die in den Bewegungen des jungen Stallburschen sichtbare Spannung zwischen Fröhlichkeit und Ernst, Wildheit und Manieren, Unbändigkeit und Selbstdisziplin, Heftigkeit und edlen Formen, Chaos und Anmut. Aus der Sicht der ihn beobachtenden Männer bedeutet jene Fähigkeit zur Bändigung, Beherrschung der eigenen Affekte eine »höhere Erkenntnis« über die Möglichkeiten des Kampfes gegen Untugenden, die im Menschen schlummern. Das Wichtigste passiert allerdings erst, nachdem der Pole ausgetanzt und sich wieder den Feiernden zugesellt hat. Die Musik nimmt nach und nach materielle Formen an, die Töne der Handharfe scheinen »in der dicken Rauchluft des Zimmers hängen und kleben« zu bleiben, das Rauminnere bekommt höllenähnliche Züge: »Immer mehr wurde getobt und getrunken. Da mit einem Mal, wie ein Blitz aus dem Himmel, war Streit unter den Leuten, und in eines Kerle Faust zückte ein 11 Walser, Robert: Der Tänzer. In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 100f. 12 Walser, Robert: Der Pole. In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 112–114.

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Messer.« Man erfährt letztendlich nicht, ob jemand verletzt wurde, doch die auf nebeneinander auftretenden Gegensätzen basierende Eigenart des Textaufbaus (Feier – Schlägerei, Bejahung des Lebens – Bedrohung durch den Tod, Freude – Angst) beweist zum wiederholten Mal, dass Walsers bevorzugteste Methode in der Gegenüberstellung von Widersprüchen bestand, wodurch deren Koexistenz angestrebt wurde. Dieselbe Tendenz findet sich in »Laute« und »Klavier«,13 zwei kurzen Prosastücken aus dem Zyklus »Sechs kleine Geschichten«. In dem ersten wird das Titelinstrument relativ unkompliziert verwandelt, denn Walser spricht von der »Laute Erinnerung« und charakterisiert sie als ein primitives Instrument (»mit nur immer einem und demselben Klang«) von großer Feinheit (»Haare sind Halftern dagegen«). Gemeint ist also das Spiel der eigenen Erinnerung und der Zeit, dessen Klang »bald lang, bald kurz, bald träge, bald hurtig« ist, »traurig und lustig« zugleich. Der Junge, welcher dieses Instrument Tag und Nacht, d. h. ununterbrochen und hartnäckig, spielt, zeigt sich darüber nachdenklich und verwundert, weil der Klang, »wenn er schwermütig klingt«, ihn lachen und, »wenn er lustig ist und springt«, ihn dagegen weinen lasse. Zwischen dem Spieler und seiner Laute besteht eine Liebesbeziehung; dadurch verwandelt sich der Erzähler als Zeuge in ein »unsäglich ergriffenes Ohr« – er nimmt nur noch Gehörtes wahr und hat keinen Zugang zur Wirklichkeit mithilfe anderer Sinnesorgane. Auch in dem zweiten genannten Prosastück (»Klavier«) ist von einer Leidenschaft die Rede, allein verbinden die Liebesbande hier affärenartig einen wegen seiner fehlenden musikalischen Begabung verzweifelten Jungen mit einer schönen lächelnden Frau, die ihm das Klavierspielen beibringt. Verzweiflung und Freude, Schmerz und Erfahrung der Lebensvölle, Unrechtund Liebesempfinden – zwischen diesen Polen vollzieht sich, in wiederkehrenden Bildern, die Walsersche Musikinterpretation. Ähnliche Kontraste bringt auch das als »Paganini. Variation«14 betitelte Prosastück. Der Handlungsort ist ein menschenvoller Konzertsaal, in dem der italienische Virtuose und Komponist Niccolò Paganini spielt. Sein Geigenspiel wird mit dem Spiel eines Engels verglichen, der sich gekonnt zwischen dem Himmelreich und der Hölle bewegt und die Räume voller Harmonie und Chaos, Liebe und Zorn durchmisst: »Gleich einem Engel spielte er, und viele Hörer deckten sich die Augen zu, um mit inneren Augen Schönheit zu schauen. Oftmals aber wieder wetterte und zürnte er wie das tobende, krachende, zischende und stürmende Ungewitter, das grollende, zürnende Donner rollte, und ein schwarzer, mit Zorn und Finsternis geladener Himmel sank in den Konzertsaal, und der Blitz zuckte jäh umher mit seinen schauerlich schönen, jäh13 Walser, Robert: Sechs kleine Geschichten. In: ders.: Geschichten. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 7–14 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 2). 14 Walser, Robert: Paganini. Variation. In: ders., Geschichten. 1985, S. 92–94.

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zornig-anmutigen Zickzacklinien. Unmittelbar darauf verlor er sich in süßen, sonnigen, goldenen Harmonien, daß die Leute meinten, sie seien in den Himmel gekommen und alles um sie her sei blau von Freude, Güte und Liebe. Dies war eine Art von allesumfassender Liebe, […]. Bald jammerte und bald jubelte er; bald loderte er wie das Feuer und bald zerfloß er wie weicher nasser Schnee unter dem Kuß der Sonne.«

Walsers Text wird durch unaufhaltsame, von intensiven Erlebnissen des Erzählers zeugende Vergleiche bestimmt. Paganini und sein Geigenspiel werden mit über zehn unterschiedlich konnotierten Bezeichnungen geschildert: Sklave seines Zauberspiels, sich in das mitternächtliche tiefe schwarze Wasser tauchender Mond, am dunklen stillen Himmel blitzender Stern, Wort im Mund des Liebenden, Nachtigall, feuriges in die Schlacht galoppierendes Pferd, tödlich verwundeter Krieger, von Liebe träumendes sechszehnjähriges Mädchen, Kuss der Liebenden, Engel, Ungewitter, Feuer, Schnee, Meer, Blüten … Paganini wird auch »Prediger des Wortes Gottes« genannt, der mit dem Medium der Musik Menschen von Lastern und Sünden befreie und dabei das volle Menschentum erlange. Bei dem Konzert werden die Unterschiede zwischen Jung und Alt, Frau und Mann, Reich und Arm, Klug und Dumm verwischt. Alle überlassen sich gleichermaßen dem »Genuß des Horchens«, alle, die ihm lauschen, sind »ganz nur Aufmerksamkeit, ganz nur Ohr« wie in einem »schönen Traum« angesichts des offen stehenden Himmels, als nähmen sie zusammen an einer Konfession der gesamten Menschheit oder am Jüngsten Gericht mit der Auferstehung der Toten teil: »Wer gehässig und überdrüssig war, der fing an zu lieben und zu beten beim Anhören des wunderbaren Spieles, das in die Seelen strahlte wie Sonnenstrahlen. Die Abneigung mußte sich in Neigung, der Unmut sich in Mut, die Unlust sich in Lust und der Unsegen sich in Segen verwandeln. So bannte und bezauberte er das Publikum, sich selber bezaubernd. Erinnerungen machte er aufsteigen, und lange Zeit schon Totes und Verschüttetes erweckte er zum Leben«.

Am Ende wacht das Publikum auf. Die Himmelstore schließen sich, wie sich ein Buch schließt. Was bleibt noch zu tun? Robert Walser weiß es: sich still von den Plätzen zu erheben und nach Hause zu gehen.

Literaturverzeichnis Bien´kowski, Zbigniew, O słuchaniu [Vom Hören] in: ders., Poezje zebrane [Gesammelte Gedichte], mit einem Nachwort von P. Kuncewicz, Warszawa 1993. Che˛c´ka-Gotkowicz, Anna, Ucho i umysł. Szkice o dos´wiadczaniu muzyki [Das Ohr und das Gehirn. Studien zur Musikerfahrung], Gdan´sk 2012. Goethe, Johann Wolfgang, Das Göttliche, in: ders., Gedichte. West-östlicher Divan, Frankfurt am Main und Leipzig 1998, S.64 (= Jubiläumsausgabe Bd. 1).

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Hesse, Hermann, Gertrud, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1987, Bd. 2. Insurgentes, Regie L. Hoile, K. Scope, 2010. Kassner, Rudolf, Die Moral der Musik, Leipzig 1912. Małczyn´ski, Bartosz, BassCommunion: eksperymenty w teksturze. Semantyka dz´wie˛kowych widm na obrzez˙ach rocka [BassCommunion: Texturexperimente. Klangsemantik im Grenzbereich des Rock], in: Kultura rocka 2. Słowo – dz´wie˛k – performance (1) [Kultur des Rock 2. Wort – Klang – Performance (1)] hrsg. von J. Osin´ski, M. Pranke, P. Tan´ski, Torun´ 2016. Małczyn´ski, Bartosz, Ekstaza poznania. O słuchaniu muzyki według Zbigniewa Bien´kowskiego [Ekstase der Erkenntnis. Vom Hören der Musik nach Zbigniew Bien´kowski], in: O rozkoszach wszelakich… Od przyjemnos´ci do ekstazy w kontekstach kultury [Von allerlei Freuden … Vom Vergnügen bis zur Ekstase in kulturellen Kontexten], hrsg. von K. Łen´ska-Ba˛k, M. Sztandara, Opole 2011. Małczyn´ski, Bartosz, Zestrojenia. Szkice o literaturze, muzyce i dobroci [Abgestimmtes. Studien zu Literatur, Musik und Güte], Kraków 2017. Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, München 1988 (= Kritische Studienausgabe Bd. 4). Walser, Robert, Fritz Kochers Aufsätze, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Erster Band). Walser, Robert, Der Gehülfe, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Zehnter Band). Walser, Robert, Geschichten, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Zweiter Band). Walser, Robert, Kleine Dichtungen, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Vierter Band).

Marcin Pliszka (Uniwersytet Przyrodniczo-Humanistyczny w Siedlcach)

Traumräume in der Prosa Robert Walsers

Die Kategorie des Raumes scheint in der Prosa Robert Walsers eine Schlüsselrolle zu spielen, und gemeint ist dabei nicht nur die Überwindung des Raumes, also die Bewegung von einem Ort zum anderen – was Walsers Protagonisten im Übrigen häufig tun. Wesentlich ist nicht allein der räumlich-geografische Aspekt, denn es handelt sich ebenso um den Prozess der Raumerfahrung und um das bloße Vorhandensein eines Raumes. Noch präziser: Die Rede ist davon, wie Räume ausgefüllt, symbiotisch integriert, aber auch domestiziert werden. Walsers Figuren lenken außerordentlich oft ihre Aufmerksamkeit auf die Form ihrer Umgebung, deren Topographie, Räumlichkeit und Größe, Grenzen und Umrisse, die zu einem Raum voller Faszination und manchmal auch voller Ängste und Befürchtungen gehören. Die Welt zu erfahren, heißt vor allem einen Raum zu erfahren,1 den meist verirrte Figuren auf ihren Wanderungen und auf der Suche nach einem eigenen Genius Loci und nach »das Leben prägenden«2 Räumen durchmessen; Räumen, die man sich – sei es nur für einen Augenblick – zu eigen machen und innerlich erleben könnte. Die Prosa des Robert Walsers bietet unzählige Stellen dieser Art – Stellen, an denen die Protagonisten über die Welt grübeln und die Freude des Raumes erleben. Darüber schwebt ein schwer fassbarer Geist eines arkadischen Vergnügens, durch den die Weltbetrachtung zu einem momentanen einzigartigen Mysterium wird. Dieser Moment einer symbiotischen Relation zwischen der Figur und der Landschaft, der Umgebung, dem entfernten Bild einer verschlafenen, im Tal gelegenen Stadt wird von Walser mit 1 Ich neige zum phänomenologischen Verständnis der Raumerfahrung, von der Hanna Buczyn´ska-Garewicz schreibt: »Der Raum erzeugt sich ursprünglich in Empfindungen, Erlebnissen, Stimmungen, Handlungen. Er entspringt der Lebenserfahrung, die ihn konstituiert, ist eine Art existentielle Beziehung. Wir leben nicht zwischen Punkten, Dreiecken oder Geraden, auch nicht in aneinandergereihten einheitlichen Orten.« (Buczyn´ska-Garewicz, Hanna: Miejsca, strony, okolice. Przyczynek do fenomenologii przestrzeni [Orte, Gegenden, Regionen. Zur Phänomenologie des Raumes]. Kraków: Universitas 2006, S. 13). 2 Vgl. Sławek, Tadeusz: »Genius loci« jako dos´wiadczenie. Prolegomena [»Genius loci« als Erfahrung. Prolegomena]. In: »Geniusz loci«. Studia o człowieku w przestrzeni [»Genius loci«. Der Mensch im Raum]. Hrsg. von Zbigniew Kadłubek. Katowice: FA-art 2007, S. 5.

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einem Traumbezug versehen: Das sei, wie es an solchen Stellen heißt, »wie im Traum«. In Untersuchungen zu Walsers Prosa wird das Traumhafte unterschiedlich definiert und verschiedenartig bestimmt (fast allen fällt es aber auf); es wird zu einem konkreten ORT, nimmt Konturen an und gehört zu der dargestellten Welt seiner Texte. Walser beherrscht die Kunst, diese Welt irreal erscheinen zu lassen, und umgekehrt, der irrealen Welt reale Eigenschaften zu verleihen. Das Traumhafte des Werkes wirkt dann unterschwellig, wobei das »Irreale« nicht mit dem Traumhaften gleichgesetzt werden kann – aber jene Verschiebung, jenes für Walsers Prosa typische »Über-das-Reale-Hinausreichen« bringt das Element eines kaum fassbaren Wahnsinns hinein. Es ist eine Verschiebung gegenüber der Ordnung der ratio – man weiß nicht immer, in welche Richtung. In der Prosa des Schweizers findet man winzige, zuweilen kaum fassbare »Entwirklichungen« oder Fluchten aus der Wirklichkeit. Der literarische Realismus basiert in der Regel auf Puzzlestücken, die gut zueinander passen; ohne zu zögern legt man eins neben ein anderes und begreift alles. In Walsers Prosa passen einige Einzelteile oder ganze Kombinationen aus Einzelteilen nicht zu dem Ganzen – sie reichen über das bereits Gelegte hinaus, driften ab und geben, wie der Autor selbst sagen würde, ein etwas seltsames Bild ab: Die meisten Puzzleteile sind gelegt, doch manche bleiben übrig, verselbständigen sich und entziehen – wie der Erzähler in dem Prosastück »Seltsame Stadt«, der über den Bilderrahmen hinausgeht und wie vom Regen weggespült verschwindet.3 Alles geht aus dem Leim und verwischt sich, denn »Walsers Geschichten lassen an einen dichten Garten mit verzweigten Pfaden denken, deren jeder in eine ganz andere Richtung führt«4. Auf Walsers Prosabände scheint am besten die Bezeichnung »thematische Launenhaftigkeit« zuzutreffen, denn man weiß nie, ob man auf eine Diagnose der globalen Lage oder eine Beschreibung existenzieller Nöte stößt oder aber mit einem plötzlichen Sprung in einem Traum bzw. einer seltsamen verkehrten Welt landet. Man weiß nie, wann die Wirklichkeit ins Beben gerät und etwas über ihre Grenzen »hinausreichen« lässt; über Grenzen, die durch Ordnung und im festen Fundament der gesellschaftlichen Norm begründete Logik bestimmt werden und ihrerseits die »konkrete« Wirklichkeit bestimmen. Alles macht bei Walser den Eindruck eines auf Wasser Gebauten, wo jedes Erzittern durch launische Gezeiten reguliert wird.5 Dem Leser wie oft auch 3 Walser, Robert: Seltsame Stadt. In: ders.: Geschichten. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 29–32. 4 Musiał, Łukasz: Beztroska albo najmniejszy pisarz s´wiata. Zamiast kilku słów na koniec [Sorglosigkeit oder Der winzigste Schriftsteller der Welt. Statt eines Nachwortes]. In: ders.: Do czego uz˙ywa sie˛ literatury? [Wozu wird Literatur benutzt?]. Kraków: Fundacja Tygodnika Powszechnego 2016, S. 116. 5 Michał Paweł Markowski bemerkt dazu: »Genauso schreibt Walser: Er streut Zeichen, hinterlässt Spuren, stellt Wegweiser auf, um danach mit einem Mal alles zu verwischen, als ver-

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dem Protagonisten kommt es dann vor, als befinde er sich in einem unverständlichen Raum, der einem seltsamen Traum entsprungen sein mag.6 Małgorzata Łukasiewicz, Walsers unermüdliche Übersetzerin und Erforscherin, weist an vielen Stellen auf traumhafte Spiele hin, die seine Protagonisten mit der Realität spielen: »Seine Werke weichen weit von jeder Konvention ab, scheinen im Aufbau keine Regeln aufzuweisen, sonnenklar und offen zu sein. Sie bestehen aus lose miteinander verbundenen Szenen und Beobachtungen, ohne übergeordnete Prinzipien und ohne Handlung – scheinbar passiert dort nichts, wie in einem Traum, den man mithilfe gängiger kausaler und zeitlicher Kategorien nicht nacherzählen kann, und trotzdem findet man unfehlbar denselben Rhythmus, der sich aus einer ganz bestimmten Verteilung emotionaler Akzente ergibt«7. »[…] Walsers Protagonisten scheinen all ihre Kreativität und Energie dafür zu verwenden, die Realität zu entwirklichen, ihr den steifen Ernst zu nehmen und diesen durch ein Spiel mit doppeltem Boden zu ersetzen«8.

Die Kritiker machen außerdem auf einen anderen Aspekt, die Verbindung der Wirklichkeit mit der Phantasie, des Realen mit dem Vorgestellten, aufmerksam. Jakub Ekier schreibt von einer demonstrativ ausgedachten Fiktion, doch darf man ihre gleichzeitige Verankerung im Universum der Walserschen Realität, in der Warte, von der aus er die Welt um ihn herum beobachtet, nicht aus den Augen verlieren; dank des Schleiers des Poetischen definiert sich die in Walsers Texten eingeschlossene Welt erfolgreich immer wieder aufs neue. Und die Fiktion verankert sich demonstrativ in der Wirklichkeit, denn jeder Text geht von der realen Welt aus, die Verschmelzung von Wirklichkeit, Erzähler und Sprache ergibt jedoch im Endeffekt eine andere Realität. Und, wie Piotr Herbich ergänzt, »in einer alchemischen Reaktion verbindet sich die konzentrierte, zärtliche Beobachtung der Wirklichkeit mit der pausenlosen Tätigkeit der Vorstellungskraft, sodass beide miteinander verwoben bleiben«.9 Ich betone das, weil es ein ganzes Feld von Begriffen gibt (Traum, Einbildung, Fantasie, Vorstellung, Schlaf), die in Walsers Werk miteinander korrelieren, sich übereinander lagern und manchmal syn-

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gessen und nie dagewesen zu verwerfen, um neu anzufangen« (Markowski, Michał Paweł: Spuren im Schnee. Im vorliegenden Band, S. 239–244). Ich mache auf das Attribut »seltsam« aufmerksam, denn ein Traum kann auch mimetisch sein, die Wirklichkeit relativ getreu abbilden; seiner Poetik haftet in diesem Fall nichts Außergewöhnliches an. Traumberichte bei Walser haben dagegen in der Regel den Charakter irrationaler Aufführungen. Łukasiewicz, Małgorzata: Roberta Walsera przechadzki [Robert Walsers Spaziergänge]. In: Literatura na S´wiecie, 1975, H. 8, S. 169. Łukasiewicz, Małgorzata: Robert Walser. Warszawa: Czytelnik 1990, S. 63. Herbich, Piotr: Prosastücke. In: Nowe Ksia˛z˙ki, 2002, H. 5, S. 24f. Michał Paweł Markowski nennt es das Filtern des eigenen Lebens »mithilfe der dichterischen Vorstellungskraft« (im vorliegenden Band, S. 241).

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onym gebraucht werden; sie alle erfüllen eine ähnliche Funktion: Dadurch kommt es zu einem Bruch mit der Realität oder zur Verschiebung den Realismus kennzeichnender Akzente; hier und da gewinnen sie einen eskapistischen Zug und stehen für die Abkehr (oder lieber: die Abwendung) von einer in ihrer Reinform enttäuschenden Wirklichkeit; manchmal werden sie zum textlichen Äquivalent eines Gefühlszustandes. Ohne Zweifel gehört Robert Walser zu jenen Schriftstellern, die auf besondere Art und Weise die Tiefen der Wirklichkeit erkunden, die – wie es bei Małgorzata Czermin´ska heißt – »eine topographische Vorstellungskraft besitzen und dadurch zum Beobachten der Außenwelt neigen, deren große sinnliche Sensibilität ein Interesse am Reichtum des Konkreten und ein Gespür für die Bedeutung materieller Details bewirkt. Landschaften und Gegenstände beschäftigen sie, sie fragen nach Wert und Sinn von Formen, Farben, Klängen und Gerüchen, von Bewegung und Licht. Die sichtbare Welt macht sie neugierig – ihre schöne und seltsame oder auch schreckliche Vielfalt.«10

Im Schaffen Robert Walsers steht die Traumthematik nicht im Vordergrund (das muss eingeräumt werden); die Wirklichkeit beschäftigt ihn viel häufiger und nach der Poetik des Traumes sensu stricto greift er nur ausnahmsweise. Der Walsersche Protagonist erlebt eine Realität, die er wie einen Traum deutet (»liest«), indem er sie gewissermaßen filtert und dadurch die sinnlich erfahrbare Welt in einen Schleier traumhafter Seltsamkeiten hüllt. Man kann von einer Traumhermeneutik im speziellen Sinne des Wortes sprechen, die dem Lesen oder dem Erfahren der Welt immer dann dient, wenn man das Erleben nicht ausdrücken kann, wenn das Wort versagt und sich der Schriftsteller dessen Unvollkommenheit und Begrenztheit bewusst macht.11 Der Traumraum drückt zuweilen den inneren Geist aus oder er spiegelt – um mit Bataille zu sprechen – die »innere Erfahrung« wider. Man kann allerdings nicht sagen, dass der Protagonist einer Traumillusion zum Opfer fallen würde – wie in Calderóns Drama »Das Leben ist ein Traum«. Er bleibt nach wie vor überzeugt, dass die reale Welt – die physikalische Wirklichkeit – existiert, bemerkt aber auch gleichsam ihre andere, dem Traum zugewandte Dimension; er balanciert manchmal an der Grenze, erkennt diese aber mit aller Deutlichkeit. Da er die beiden Welten aus einem Abstand betrachtet, ist er fähig, sie auseinanderzuhalten; er steht beiseite, blickt im Vorbeigehen, als Zuschauer und Beobachter, auf das Spektakel, das ihm 10 Czermin´ska, Małgorzata: Miejsca autobiograficzne. Propozycja w ramach geopoetyki [Autobiographische Orte. Ein Vorschlag zur Geopoetik]. In: Teksty Drugie, 2011, H. 5, S. 188. 11 »Im Sprechen verlieren sich der Gehalt und die Qualität eines Ortes. Das Erzählen ist nicht wegen mangelhafter Kenntnisse über ein bestimmtes Objekt unvollkommen, sondern aufgrund der Begrenztheit der Worte. Es gibt Inhalte, die sich nicht mithilfe von sprachlichen Zeichen fassen lassen – dazu gehört das Empfinden und Erfahren eines Ortes.« (Buczyn´skaGarewicz, Miejsca, strony, okolice. 2006, S. 302).

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die Welt bietet. Der Topos »das Leben wie ein Traum«, d. h. die Wahrnehmung der Welt als einer Illusion, löste dagegen in seiner hauptsächlichen Bedeutung – verkürzt gesagt – ein epistemologisches Durcheinander aus.12 In Walsers Prosa kann man zwei grundlegende Entwürfe des Traumraumes unterscheiden: Zum einen wird das Träumen (die Traumvision) direkt aufgeschrieben und nimmt dann die Form der Gattung »Traum« an (als Aufzeichnung eines im Schlaf erfahrenen Ereignisses),13 zum anderen handelt es sich um eine nachahmende Projektion, um eine Verwendung der Traumpoetik, wodurch anderen Inhalten (einem Handlungsstrang, einem Gedicht), Erfahrungen, Landschaften usw. traumhafte Züge verliehen werden. Das Traumhafte besitzt in dem Falle eine nahezu magische Kraft, welche die rationale Weltordnung teilweise umwirft, indem sie die Aura einer irrationalen Unruhe schafft. Solche durch den Traum, durch seine undurchdringliche Atmosphäre »gezeichneten« Orte gestalten die Topographie mit, in der sich Walsers Protagonisten bewegen; es sind vom Geist des Außergewöhnlichen und Seltsamen geprägte Orte, die wie Träume gedeutet werden können. Einmal besteht ein solcher Raum aus assoziativ, im Widerspruch zu Logik und Ordnung gewählten Elementen; der Protagonist hat dann das Gefühl, als halte er sich an einem schwer bestimmbaren, an einen Traum erinnernden Ort auf. Ein anderes Mal bringt die Raumerfahrung es mit sich, dass der Protagonist – außerordentlich verguckt, verzückt und zutiefst begeistert – die Welt (eine Landschaft, eine Stadt) in diesem einzigartigen Augenblick subjektiv als Traum erlebt. Doch lassen wir die Texte selbst sprechen. In dem auf Walsers Jugenderinnerungen basierenden Roman »Jakob von Gunten« notiert die Titelfigur in einer der ersten Sequenzen ihres Tagebuches einen bemerkenswerten Satz, der die von ihr erfahrene Stimmung im Institut Benjamenta widergibt: »Weiß Gott, manchmal will mir mein ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher Traum vorkommen.«14

An einer anderen Stelle heißt es: 12 Zum Topos »das Leben wie ein Traum« vgl. u. a. Künstler-Langner, Danuta: Idea vanitas, jej tradycje i toposy w poezji polskiego baroku [Die Vanitas-Idee, ihre Traditionen und Topoi in der polnischen Lyrik des Barock]. Torun´: Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 1993; Pliszka, Marcin: W onirycznym teatrze. Topos »z˙ycie snem« w poezji barokowej [Im Traumtheater. »Das Leben wie ein Traum« als Topos in der Lyrik des Barock]. In: W onirycznym teatrze. Sen w poezji polskiego baroku [Im Traumtheater. Zum Traum in der polnischen Lyrik des Barock]. Siedlce: Wydawnictwo Naukowe UPH 2015. 13 Über den Traum als Gattung kann mehr u. a. in meinem Aufsatz nachgelesen werden: Pliszka, Marcin: Barokowy sen jako gatunek literacki [Der barocke Traum als literarische Gattung]. In: Pliszka, W onirycznym teatrze. 2015. 14 Walser, Robert: Jakob von Gunten. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 9f. (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 11; weiter zitiert mit Kürzel »JvG« und Seitenzahl).

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»Wir kauern, sitzen, stehen oder liegen immer irgendwo.« (JvG, S. 15)

Das Leben im Institut verläuft in einem Grenzbereich, wie im Abseits, neben der Wirklichkeit. Doch die Schüler »reichen« zuweilen wie im Halbschlaf »hinaus«, wenn die Wirklichkeit in eine traumhaft-geheimnisvolle und eine konkrete, sie mit den Krallen des Rationalen noch festhaltende, zerfällt. Wie ein Träumender haben sie dann quasi zwei Aufenthaltsorte zugleich: Sie sind da, wo es sie nicht gibt, während sie dort, wo es sie gibt, nicht da sind. Eine träge, schläfrige, verträumte Atmosphäre (»Er gab mir deutliche Beweise seiner Gedankenabwesenheit«; »[…] wie wir hier im Institut so träge, so gleichsam geistesabwesend dahinleben«; »Es ist hier alles so zart und man steht wie in der bloßen Luft, nicht wie auf festem Boden«; »JvG«, S. 19, 93 u. 126), ein permanentes Leben an einer schwer bestimmbaren und kaum greifbaren Grenze zwischen den Welten weckt bei den Protagonisten eine unwiderstehliche Lust, sich in eine vorgestellte Realität zu vertiefen oder – genauer gesagt – Illusionen zu kreieren und sich ihnen spielend hinzugeben, wobei das Spiel auf dem Aufweichen fester Umrisse der Wirklichkeit beruht; hinzugefügt sei, dass das Institut als »Traum-Ort« die Realität bereits von sich aus in Frage stellt und teilweise verwischt. Es ist unklar, wann die Regeln eines schlichten Realismus zu wanken anfangen. In seiner ganzen Existenzform ist das Institut jenseits dieser Welt verankert, jenseits ihrer »Leben« genannten äußeren Ordnung; nur ein Ersatzleben findet hier statt – das restliche läuft anderweitig ab. Gezeichnet auf eine andere Landkarte, hinterlässt es Spuren in einer anderen Umgebung (»Ja, wir warten und wir horchen gleichsam ins Leben hinaus, in diese Ebene hinaus, die man Welt nennt, aufs Meer mit seinen Stürmen hinaus«, in: »JvG«, S. 93). Einen Traumcharakter gewinnt auch die Runde durch das Schulgebäude mit Fräulein Benjamenta. Die scheinbar unbedenkliche Runde Jakobs mit der Lehrerin wird plötzlich zu einer außergewöhnlichen, sich allmählich anbahnenden Vision seiner Zukunft. Dem Gang durch rätselhafte und für die Zöglinge nach wie vor legendäre Institutsräume wird ein bizarrer Zug verliehen, sodass er stellenweise dem aus der Literatur bekannten mythischen Absteigen in die Hölle und einer Reise ins Jenseits ähnelt. Nach dem Wachwerden weiß man nicht, ob es sich um einen Tagtraum handelt oder man geschlafen hat: »Träumte ich?« (»JvG«, S. 103). Der Traumraum, in dem sich der Protagonist bewegt bzw. in den er auf einmal gerät (»der Traum schoß von der Höhe, ich erinnere mich, gewaltsam, mich mit Strahlen überwerfend, auf mich nieder«; »JvG«, S. 161), gibt nicht immer einen Gegenentwurf zu der rationalen Wirklichkeit ab, sondern ist sehr häufig einfach ein paralleler, nebenher existierender Raum, und die beiden oft komplementären Welten trennt voneinander nur eine dünne Grenze. Das ontologisch auf Parallelräume verteilte Institut, in dem die in der Regel rational denkbare Wirklichkeit aus dem Leim geht oder – besser gesagt – sich verzweigt

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und in ihrer traumhaften Unbestimmtheit und Unerkennbarkeit multipliziert wird, erscheint als ein düsterer, Unruhe und Furcht einflößender Ort (geisterhafte Figuren, geistig abwesende, im Halbschlaf versunkene, herumlungernde, nicht ansprechbare, schlafwandlerische Lehrkräfte). Was im Institut geträumt wird, ist zuweilen ein Albtraum, wie z. B. Jakobs Traum von dem bösen Jakob; die gesamte Ausbildung macht auf Jakob im Übrigen den Eindruck eines Traumes, eines »sinnlosen und zugleich sehr sinnreichen Märchens« (»JvG«, S. 62). Selbst der aus der Sicht des Instituts äußerliche und fremde Stadtraum, in dem das Leben anderen Regeln gehorcht, kommt Jakob wie ein »ganz wild anmutendes Märchen« vor, in dem sich städtische Räume bevölkernde Gestalten wie im Traum bewegen (»JvG«, S. 37). Das Albtraumhafte taucht übrigens auch in anderen Texten auf, so in der Kurzprosa »Eine Stadt«: »die ganze Stadt machte mir den kummervollen Eindruck eines traurigen, hoffnungslosen Traumes«, in dem »irrsinnige« Trams herumfuhren.15 Das Institut Benjamenta »kehrt« jedoch manchmal zu der Ordnung der Wirklichkeit »zurück« und macht den Eindruck einer gewöhnlichen, recht obskuren Bildungsanstalt – wird also zu einem rationalen und, sagen wir, wieder realen Raum. Alles scheint normal und nichtig. Warum? Weil alle Seltsamkeiten des Instituts Jakobs Fantasien sind, »irreführende Einbildungen«, die er nun beiseiteschiebt, um das Institut mit seinem analytischen Verstand zu betrachten. Das Aneinanderreihen von Fantasien und Vorstellungen, das Spinnen merkwürdiger Geschichten und das Wandern auf Traumpfaden mit dem steten Gefühl, im Land der Träume zu sein, ist eine Projektion des Protagonisten – er entwirft subjektive Räume, filtert die Wirklichkeit durch das Nebel der Einbildungen, Träume und Fantasien:16 »Ich fühle, wie wenig mich das angeht, was man Welt nennt, und wie mir groß und hinreißend vorkommt, das, was ich Welt nenne, ganz im stillen« (»JvG«, S. 116). Die Atmosphäre eines seltsam und negativ Traumhaften in dem Roman »Jakob von Gunten« erinnert, wie gesagt, an Grauenhaft-Labyrinthisches einer Bildungsanstalt und einer »in der Luft« schwebenden Existenz. In der Kurzprosa »Die Tante« erlebt der Protagonist einen ähnlichen Zustand durcheinandergeratener Ordnungen: »Die ganze Welt und ich selber kamen mir wunderbaralt und jung vor, Erde und Erdenleben wurden mir urplötzlich zum Traum, und es war 15 Walser, Robert: Eine Stadt (I). In: ders.: Kleine Dichtungen. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 130 (weiter wird aus diesem Band mit Kürzel »KD« und Seitenzahl zitiert). 16 An dieser Stelle erinnere ich mich an die Worte Robert Walsers über den subjektiven Charakter des Schreibens, das sich mit fantastischen Einbildungen vermischt: »Könnte ich noch einmal von vorn anfangen, würde ich mich darum bemühen, alles Subjektive zu beseitigen und mit meinem Schreiben etwas Gutes für die Menschen zu bewirken. Ich habe mich allzu sehr emanzipiert«; oder: »Wozu braucht ein Schriftsteller Reisen, solange er Fantasie hat?« (Robert Walser zu Carl Seelig, zitiert nach: Łukasiewicz, Robert Walser. 1990, S. 15, 19).

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mir, als sei mir alles ganz leicht verständlich und zugleich wieder völlig unerklärlich.«17 Der Protagonist lehnt sich völlig aus der Wirklichkeit hinaus und ist zugleich ganz bewusst ein Teil davon. Unter dem Einfluss einer Landschaft oder eines Ortes (wie seines Heimatdorfes) widerfährt ihm plötzlich das Gefühl einer kognitiven Unsicherheit, wobei ihm bewusst ist, dass sich die Welt nur für ihn verändert (die Erfahrung des Traumraumes ist etwas radikal Subjektives, es beeinflusst die Wahrnehmung und den Diskurs). Was heißt aber, dass ihm die Welt wie ein Traum vorkommt? Gebraucht man in der Traumwelt unverändert seinen Verstand, um die Wirklichkeit des Traumes zu erkennen und zu begreifen? Versteht das Subjekt dieses als gleichzeitig normal und »unerklärbar«? Plötzlich einzuschlafen heißt die »Seltsamkeit des Daseins« in dessen für den Schlafenden erkennbarer und doch einzigartiger, nicht erklärbarer und nicht begreifbarer Logik zu erfahren, die sich der bekannten Begrifflichkeit entzieht. Vieles ist hier paradox – man ist im Traum und versteht dieses Im-Traum-Sein als solches, kann aber den Raum nicht verstehen, der sich da auf einmal im eigenen Leben auftut und nach seinen eigenen Gesetzen richtet: »Was habe ich Merkwürdiges geträumt? Was widerfuhr mir? Welch eine seltsame Heimsuchung ist gestern nacht, als ich im Schlafe dalag, urplötzlich, wie aus einem hohen Himmel herab, dem fürchterlichen Blitz ähnlich, über mich gekommen? Ahnungslos und willenlos und gänzlich bewußtlos, der Sklave des Schlafes, der mich fesselte und mich in seinen Kerker schloß, lag ich da, ohne Wehr und ohne Waffen, ohne Voraussetzung und ohne Verantwortung (denn im Schlaf ist man unverantwortlich)« (»Der Kuss I, KD«, S. 24).

In einen fremden, unverständlichen, alogischen Raum geworfen, verliert der schlafende und träumende Protagonist das Gefühl der Zugehörigkeit zu der Ordnung der ratio. Ähnliches begegnet uns in einem anderen Text, einer der bei Walser seltenen autonomen Aufzeichnungen von Traumvisionen: »Ich war wie ein Traum mitten im Traum, wie ein Gedanke, gelegt in einen anderen« (»Der Traum (I), KD«, S. 38). Die Verlorenheit und fehlende Gewissheit über seinen ontologischen und epistemischen Status quo (das Aufheben der Persönlichkeit des Träumenden) führt in den Zustand eines nicht näher bestimmten Schwundes, wobei das Subjekt gleichzeitig gewissermaßen in den Traumraum integriert ist. Erreicht es den Freudschen »Kern des Unbewussten«? Oder hört die uns aufgezwungene symbolische Sprache auf, das Wesen des Ich zu verhüllen, sodass es im Unverstandenen sichtbar wird, betritt man den Traum ja bereits mit der Sprache als Instrument der Symbolisierung im Gepäck? Auch Fragen nach dem Wesen des Traumhaften kehren immer wieder: Wie soll man es verstehen? Bedeutet es den Zerfall jeder Form, das Unfertige und Freie, den unbändigen Fluss 17 Walser, Robert: Die Tante. In: ders.: Poeten leben. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 22 (weiter wird aus diesem Band mit der Kürzel »PL« und Seitenzahl zitiert).

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rein assoziativer Bilder, Motive, Ereignisse? In den aufgezeichneten Traumvisionen entdeckt man sicherlich die Assoziationstechnik, man muss allerdings fragen, was womit assoziiert werden soll? Bilder? Bestimmt, aber auch ganze Folgen fremdartiger, undurchdringlicher, in ihrem alogischen Dauern verschlossener Räume, die sich ex definitione nicht fassen und nur durch und durch subjektiv (in Form willkürlicher Traumaufzeichnungen) bezeugen lassen. Auch die schwer bestimmbare Metaphysik des Traumes hält Einzug in die literarischen Texte: Nicht immer ist klar, ob der Text seinen Ursprung in einer authentischen, tatsächlichen Erfahrung eines Schlafenden hat oder doch eine nach dem Muster einer Traumvision entworfene Simulation darstellt.18 Walser neigt dazu, ungewöhnliche Landschaften zu entwerfen, die auf den Gemütszustand seiner sich darin zuweilen nahezu auflösenden Protagonisten abgestimmt sind und damit koexistieren (z. B. »Seltsame Stadt«). Die Landschaft wird manchmal in der Tat als ungewöhnlich beschrieben (vgl. »Der Mond, KD«, S. 87f.), manchmal resultiert das Ungewöhnliche aber auch eher aus einer inneren Projektion, einer merkwürdigen geistigen Kraft, die den umgebenden Raum zu formen scheint. Hinter Landschaftsbeschreibungen verbirgt sich des Öfteren ein metaphysischer Geist, der eine dem Schein nach realistische Landschaft – sei es ein sonnenverbranntes Gebirge (»Reisebericht«), ein zugeschneites Dorf oder eine lebhafte städtische Straße (»Jakob von Gunten«) – mit einem träumerischen Schleier bedeckt. Es gibt Texte, in denen über der Landschaft ein »romantischer Geist« schwebt, wodurch eine traumhafte Stimmung verbreitet und die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum verwischt wird: »Hier hatte alles eine ganz andere und fremde Farbe. An derlei Ort, der völlig nur Ruhe, Zurückhaltung und Stille, feuchtes, liebes Rauschen und Rieseln ist, lebt eine hohe, seltene Romantik, die dir einredet, du seiest eingeschlafen und sähest nun im Traum solch eine Schlucht. […]Halb lebst du, halb wieder schläfst und träumst du« (»Reisebericht«, in: »Seeland«, S. 42f.; weiter wird aus diesem Band mit Kürzel SL und Seitenzahl zitiert).

Den Eindruck, dass sich zwei Welten durchdringen und übereinander lagern, dass zwei Räume gegeneinander »kämpfen«, weckt in dem Spaziergänger das Spiel zwischen Licht und Dunkelheit – zwischen hell erleuchteten Gipfeln und einem düsteren Tal. So nimmt Walser die Wirklichkeit wahr, so wird sie von ihm gesehen und dargestellt – halb real, halb traumhaft. Robert Walser gehört zweifelsohne zu den Geo-Grafen schöner Landschaften. In ihm schlummert ein impressionistischer Geist, der ihn Licht und Sekunde, 18 Vgl. Pliszka, Marcin: Sen – dos´wiadczenie – tekst. Mie˛dzy zapisem a konwencja˛ [Traum – Erfahrung – Text. Zwischen Schrift und Konvention]. In: ders.: Przestrzenie. Studia i szkice o literaturze [Räume. Untersuchungen und Skizzen zur Literatur]. Siedlce: Wydawnictwo Naukowe UPH 2018.

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Raum und Zeit einfangen lässt. Seine Prosa ist voller Weltbegeisterung, die Protagonisten wenden sich oft Unbedeutendem zu, bleiben stehen und betrachten entzückt das fragmentierte Leben, also seine kleinen Ausschnitte, die im Alltäglichen, in dessen für andere unsichtbaren Wundern, im kurzen Aufblitzen und Aufleuchten eines Augenblicks zum Vorschein kommen. Bei Małgorzata Łukasiewicz heißt es dazu: »Alles ist schön, hell, freundlich, heiter, süß. Diese Bezeichnungen tauchen immer wieder auf und bei dem für Walser charakteristischen Fehlen eigentlicher Beschreibungen wird die Welt oft einzig und allein auf diese Art und Weise dargestellt.«19 Auf das Allgemeine der Sprache, ihre Stillosigkeit beim Ausdrücken von Erlebtem, weist wiederum Jakub Ekier hin.20 Und in der Tat: Man gewinnt, wie bereits erwähnt, den Eindruck, dass die Worte nicht ausreichen, um Empfindungen oder auch Zustände – Aufregungen, Ekstasen – wiederzugeben, die all jene Plätze hervorrufen. Assoziationen mit Träumen können hierbei Abhilfe schaffen, denn sie enthalten unter anderem das, was nicht ausgedrückt werden kann, und verweisen paradoxerweise auf … reale menschliche Erfahrungen: Träume kennen ja die meisten Menschen, wenn man voraussetzt, dass jeder den Schlaf kennt. Hier einige Beispiele: »Eine in den weißen Felsen gehauene Treppe führte mich hinauf, und oben angekommen, schaute ich hinunter in die weiche, schleierhafte, milde Tiefe, die einer Traumerscheinung glich« (»Der Mond, KD«, S.87f.). »Rasch vergingen die Tage. Die Welt kam ihnen beiden als ein artiger, unschuldiger Traum vor« (»Der Wanderbursche, PL«, S. 54). »Vor die Augen trat mir dann ein Dorf, das in seinem Tale lag, ähnlich wie ein Traum, der im andern Traum, oder wie der Gedanke, der im andern Gedanken schlummert« (»Reisebericht, SL«, S. 37). »[…] so wirst du, wie ich es tat, aufs angenehmste betroffen, ja womöglich bezaubert stillstehen und lauschen, und eine gehörige Spanne Zeit verbringen, verwundert herumzublicken und dich fragen, ob dich ein Traum umgebe« (»Reisebericht, SL«, S. 42). »Die Häuser lagen wie in tiefem Schlaf, sahen aus, wie wenn sie träumten. […] Die gesamte müde Welt ruhte jetzt wie im Schlaf aus und freute sich im Schlummer über die tiefe Ruhe. […] Nach einiger Zeit kam ich in ein neues Dorf, das ein ähnliches sonderbares Aussehen von träumender Entrücktheit hatte.« (»Reisebericht, SL«, S. 56).

Interessant ist, dass Walser die Welt sehr oft wechselweise, manchmal parallel, mit einem Traum und mit einem Gedicht vergleicht, als entspräche das Außerordentliche des Gedichts dem Außerordentlichen des Traumes, als riefe die Lyrik dieselben Empfindungen und emotionalen Zustände hervor:

19 Łukasiewicz, Robert Walser. 1990, S. 52. 20 Ekier, Jakub: Text als Ausweg. Im vorliegenden Band, S. 161–173.

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»Alle Weiden lagen verträumt, versonnen da wie Gedichte« (»Reisebericht, SL«, S. 39). »Die Welt war ein Gedicht, und der Abend war ein Traum« (»Ein Nachmittag, KD«, S. 89). »Die holde Dichterin Natur dichtete immer größere und schönere Gedichte; indem ich so stand oder still davonging, war es mir, als spaziere und lustwandele ich in einem Gedicht, in einem tiefen, sonnenhellen, grünen und goldenen Traum herum, und ich war glücklich« (»Das Gebirge (I), KD«, S. 104f.).

Zuweilen enthält schon der Titel wie beispielsweise »Traumblick« eine Information darüber, dass der vom Protagonisten betrachtete Raum einem Traumbild ähnelt; der Titel legt zwar nahe, dass die gesamte Darstellung einer Traumerfahrung entnommen sei, die Worte des Protagonisten stehen aber im Widerspruch dazu: Von dem einzigartigen Ort bezaubert, kündigt er gewissermaßen sein Dasein in der Wirklichkeit auf, das versunkene Ich bleibt allein dem betrachteten Bild gegenüber: »Schweigend, ganz nur Auge, saß ich da und hatte alle Wirklichkeit vergessen« (»Das Traumgesicht, KD«, S. 27). Derart aus der Welt gefallenen Betrachtern werden nicht selten Vergessenheit und Desorientierung zuteil. In der Erzählung »Tobold (II)« fragt der Protagonist direkt: »,Wo bin ich denn jetzt eigentlich?’ mußte ich mich mitunter plötzlich fragen, wenn sich meine Umgebung vor meinen Sinnen und Augen in einen Traum verwandeln zu wollen schien« (in: »Der Spaziergang, Prosastücke und Keine Prosa«, S. 252). Das Gefühl des Fremdseins ist der Traumerfahrung analog. Im weitern Verlauf der Geschichte erlaubt sich Walser einen Scherz: Bei der Beschreibung seiner Traumvisionen schiebt Tobold den Umstand, dass er sich detailliert daran erinnert, auf den starken Kaffee, den er vor dem Schlafengehen zu trinken pflegt. An dieser Stelle durchdringen sich also zwei Räume, sie vermischen sich und interagieren miteinander – ein wenig wie bei Aristoteles, der behauptete, dass sich am Tage Gedachtes später im Traum offenbare. Die Landschaft, über die Walsers Protagonist »stolpert«, die ihm im Wege steht, wird in der Regel hic et nunc, während des Geschehens, absorbiert und tief verinnerlicht, und über dem Ort schwebt sein Genius Loci. Den Augenblick als »Ereignis der inneren Zeitrechnung«21 situiert Małgorzata Łukasiewicz nicht ohne Grund im Mittelpunkt des Walserschen Zeitraumes;22 darin leuchtet oft ein irrationaler, schwer fassbarer und flüchtiger Eindruck auf, wenn »[e]iner […] im Raum starkstill« steht (»Das erste Gedicht«)23 und sich die Welt um ihn in ihrer gesamten Außergewöhnlichkeit konsolidiert. Im Stillstand trifft Fantasie auf Wirklichkeit, wenn sich »Verschlafenheit und Bewunderung« – um für die 21 Buczyn´ska-Garewicz, Miejsca, strony, okolice. 2006, S. 255. 22 Łukasiewicz, Roberta Walsera przechadzki. 1975, S. 169. 23 Walser, Robert: Das erste Gedicht. In: ders.: Träumen. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 252 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 16).

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Marcin Pliszka

Stimmung der Walserschen Prosa eine Formulierung Łukasz Musiałs24 zu zitieren – komplementär zueinander verhalten; man ist im Traum und man hält sich in der Wirklichkeit auf – die beiden Topographien überlagern sich gegenseitig und bilden dabei die Stimmung und den Augenblick; in Walsers Texten ist man selten nur in einem der Räume. Können daher der Traum und das Traumhafte als schlichte Benennungen des Atmosphärischen und Gefühlsmäßigen einen Schlüssel zu der Welt sinnlicher Eindrücke liefern, die man nicht anders als durch ihren Bezug zu der wirklichen Welt, zu der Traumerfahrung als wirkliches Ereignis beschreiben kann? Eine einfache Antwort auf diese Frage fällt schwer. Elz˙bieta Rybicka stellt eine sehr interessante Frage nach den differentia specifica einer sinnlichen Rezeption literarischer Topographien: »Literarische Untersuchungen zu sinnlichen Repräsentationen sind großen Risiken ausgesetzt: Sie katalogisieren und handhaben Wahrheiten, die andere Wissenschaften herausgefunden haben. Wo kann man demzufolge originelle sinnliche Topographien in literarischen Werken finden? Eine Antwort könnte lauten: dort, wo die Literatur versucht, versteinerte Muster und kulturelle Codes hinter sich zu lassen, wo sie Sprachen und Ausdrucksmodi erfindet, die mit Konventionen brechen, die schematisches Wahrnehmen verhindern und stören.«25

Geht man weiter in diese Richtung, während man den ungewöhnlichen (sinnlichen) Landschaftsbeschreibungen Walsers nachforscht, kann man noch eine Frage stellen: Ist der von mir erwähnte Traumfilter, dieser spezielle Code zur Entwirklichung, nicht vielleicht ein neuer, ein anderer »Ausdrucksmodus« der Welterfahrung? Bricht er nicht mit Konventionen? Verhindert er nicht das festgelegte Schema der Wahrnehmung? Wir verharren aber nach wie vor an der Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem, denn: Kann eine konventionelle Bezeichnung, die nahelegt, ein Phänomen der Welt habe traumhafte Züge, die Grenzen unserer Wahrnehmung erweitern, kann sie unseren Sinnen neue Rezeptionsimpulse geben? Erzeugt die in Walsers Beschreibungen ja so häufige Traumaura einen Mehrwert, bereichert sie die Wahrnehmung des sinnlich erfahrbaren Raumes? Die Literatur kann dadurch zu einem Labor der Sensibilität werden – zu einer Art ›Bildungsinstitution der Sinne‹, die unsere sinnliche Wahrnehmung der Welt schärft. Dank der poietischen Invention kann das literarische Schaffen das menschliche sensorium formen, das Feld der Perzeption erweitern, uns auf einen vielseitigen, multisensorischen Empfang des geografischen Raumes einstellen. Sie kann aber auch einen Modus der Wahrnehmung anbieten, der mit der All24 Musiał, Beztroska albo najmniejszy pisarz s´wiata. 2016. 25 Rybicka, Elz˙bieta: Geopoetyka. Przestrzen´ i miejsce we współczesnych teoriach i praktykach literackich [Geopoetik. Raum und Zeit in der literarischen Theorie und Praxis der Gegenwart]. Kraków: Universitas 2014, S. 265f.

Traumräume in der Prosa Robert Walsers

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tagserfahrung nicht viel gemeinsam hat, sondern eher eine Herausforderung bzw. eine Aufforderung zu Experimenten der Vorstellungskraft darstellt.26 Wenn man die oben gestellte Frage bejaht, sieht man in dem Traumraum einen sprachlichen wie emotiven Code, mit dessen Hilfe Walser versucht, Unsagbares wiederzugeben. Die symbiotische Verbindung zwischen einer Landschaft (oder auch einem Stadtbild usw.) und einem anderen Gesetzen gehorchenden Traumbild verursacht, dass am Berührungspunkt der beiden Erfahrungen, an dem der eine Raum in den anderen übergeht, die Wahrnehmung dieses Ortes zum Ausdruck kommt. Eine bezaubernde Landschaft! Ja, ihre Einzigartigkeit, ihre emotionale Wirkung kann aber erst dank eines anderen Interpretationscodes ausgedrückt werden; es muss ein Geisteszustand hervorgerufen werden, der verborgene Emotionen aufdeckt und ihnen gleichsam analog zu einem Ausdruck verhilft. Die Existenz im Schlaf ist doch – wie gesagt – allgemein bekannt und (wie man annehmen darf) auch verständlich; einen analogen Zustand löst in den Walserschen Protagonisten die Rezeption einer Landschaft aus, auf die sie stoßen (man sieht das vor allem in verschiedenen Aufzeichnungen, die Wanderungen betreffen). Kann dabei von einem neuen Sinn gesprochen werden, der aus der Verzahnung zweier Räume entsteht und zur Aufgabe hat, Unsagbarem, aber doch irgendwie Begreifbarem und zwischenräumlich Existierendem einen Namen zu geben? Entsteht auf diese Art und Weise jene spezielle Walsersche energeia – eine nahezu vollkommene Repräsentanz eines Eindrucks? In ihrer Zusammenfassung der künstlerischen Konzeption im Sinne Walsers schreibt Małgorzata Łukasiewicz dazu Folgendes: »Die Kunst verwandelt die Wirklichkeit, verformt ihre alltägliche Aussage und ihren alltäglichen Sinn. Angesichts der Trägheit der Realität bringt der Künstler ein Bild der Bewegung, der Spontaneität, der Veränderlichkeit ins Spiel.«27 Wann und wie kommt es zu diesen Verwandlungen und Verformungen? Wie geschieht das und – vor allem – mit welchem sprachlichen Code wird die Wirklichkeit verändert? Beruht die Verbindung zwischen Text und Wirklichkeit darauf, dass ein Mehr an Sinn, ein Mehr an Bedeutung erscheint und Unbemerkbares, Unvorstellbares entdeckt wird? Ich lasse diese Fragen als Räume und Orte offen, und fülle sie nicht mit Inhalten. Und ich stelle sie schüchtern, weil es weiterer Nachforschungen bedarf, die den Rahmen der vorliegenden Skizze sprengen.

26 Ebd., S. 266. 27 Łukasiewicz, Robert Walser. 1990, S. 77.

Jakub Ekier

Text als Ausweg

Robert Walser, »Dziwne miasto. Historie i rozprawki« [Seltsame Stadt. Geschichten und Aufsätze], aus dem Deutschen von Małgorzata Łukasiewicz, Izabelin 2001.

Es ist paradox: Walsers intransparente Sprache zeigt Gestalten, die in ihrer Farblosigkeit manchmal nahezu transparent sind; der Erzähler macht auf den Vorgang des Erzählens aufmerksam, indem er scheinbar Belangloses erzählt. Ist das paradox? Oder vielleicht konsequent in der Umwertung dessen, woran uns die realistische Prosa gewöhnt hat? Wie auch immer – der Schriftsteller versucht nicht, wie Małgorzata Łukasiewicz in ihrer brillanten Untersuchung1 zu Walsers Werk unterstreicht, seine Fiktionen in einer uns bekannten außertextlichen Realität zu verankern, die der Erzählung Glaubwürdigkeit verleihen könnte. Als gäbe es um die dargestellten Dinge herum keine Welt, der sie angehören könnten und sollten; als gäbe es nichts außer dem Text. Vielleicht ist es Walser aber um eine andere Glaubwürdigkeit zu tun, nicht um den Glauben, etwas sei »wirklich« so? Selbstverständlich: In seinen kleinen Prosastücken wird die Fiktionalität des Vorstellens nicht versteckt, sondern – hier und da radikal – demonstriert. So in dem zweiten Satz von »Kleist in Thun«: »Genau weiß man ja das heute, nach mehr als hundert Jahren, nicht mehr, aber ich denke mir, er wird über eine winzige, zehn Meter lange Brücke gegangen sein«.2

»Ich denke mir« … Keine Mimesis also, sondern eine radikale Poiesis. Der Text deckt sich mit seinem schöpferischen Akt, wie ein Raum, der erst beim Beschreiten immer deutlicher hervortritt. Das Walsersche Subjekt wandert durch Vorstellungen und Sinngebungen, die sich mit jedem Schritt verändern, springt von einer Erzähltechnik zur anderen. Diese schöpferische Dynamik drückt sich in der bloßen, konkreten und für den Verfasser fundamentalen Tätigkeit des Schreibens aus; in den berühmten Mikrogrammen hat er sich eine eigene Technik der Notation er1 Łukasiewicz, Małgorzata: Robert Walser. Warszawa: Czytelnik 1990. 2 Walser, Robert: Kleist in Thun. In: ders.: Geschichten. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 70 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 2).

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arbeitet. Es ist kein Zufall, dass Elias Canetti in einer späten Aufzeichnung das Schaffen Walsers mit der Bewegung einer Schreibfeder gleichsetzt. Walsers Wirklichkeiten können ohne diese Bewegung nicht mehr leben, ohne einen Erzähler als das einzige Subjekt der Texte, wie es bei Łukasiewicz heißt. Manchmal ist er nur im Klang der Stimme einer nicht allein fiktiven, sondern meistens derart unbestimmten Figur vorhanden, als müsse sie sich gleich im Nichts auflösen – einer noch brüchigeren Figur also, als es die Eigenart der Erzählung und die conditio humana schlechthin nötig machen würden. Als Beispiel kann uns »Brief von Simon Tanner«3 dienen, der sich scheinbar an die Briefkonvention hält, zugleich aber auf ironische Art und Weise aller Wirklichkeitszüge beraubt ist. Den Anforderungen realistischer Dichtungstheorien gemäß müsste der Brief eine zumindest zu erahnende Vorgeschichte beinhalten, eine Prise Wissen über die Beziehung zwischen dem Absender und der Empfängerin, und – vor allem – Datum, Ort und Unterschrift. All das fehlt, wenn wir das kurze Prosastück als autonomen Text, ohne Bezüge zu dem Roman »Geschwister Tanner« lesen, und dieses Fehlen ruft um den Text den Eindruck einer gähnenden Leere hervor; den Eindruck, als hätte die schreibende Hand keine Kraft mehr gefunden, ihr Werk zu vollenden, als sei alles darin im Verschwinden begriffen. Die wenigen wirklichen Anhaltspunkte wie Straßennamen unterstreichen nur das Gegenteil: den Umstand, dass die in »unserer« Welt nicht verwurzelte Welt dieses Textes an der Grenze zum Nichtsein balanciert und verschwinden wird, sobald der Schreibende verstummt. Walser gibt das oft dank verschiedenartiger Gesten direkt zu verstehen; dank Gesten, die seine spezifischen Schöpfungsakte zurücknehmen oder aufheben, indem sie die dargestellte Welt zum Stillstand bringen. In dem Prosastück »Seltsame Stadt« erscheint nach einer ausführlichen Beschreibung der Stadt ein Junge in einem sonnendurchfluteten Park; dieser ist »wie ein Traum, wie ein bloßes Spiel, wie ein Bild«.4 Der Junge geht in dem Bild auf und geht bald wieder weg, wonach der Regen das Bild verwischt. In der Geschichte »Klavier« aus dem Zyklus »Sechs kleine Geschichten« wiederum, sind eine Musiklehrerin und ihr Schüler »eine Umarmung, ein Kuß, ein Zusammensturz, eine Träne – und was mehr ist: eine unerwartete schreckliche Überraschung für jemanden, der in diesem Augenblick die Türe des Zimmers öffnet, was sowohl der Süßigkeit von der beiden vergessener Liebe, als der Erzählung davon ein Ende bereitet«.5

3 Walser, Robert: Brief von Simon Tanner. In: ders.: Aufsätze. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 7 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 3). 4 Walser, Robert: Seltsame Stadt. In: ders., Geschichten. 1985, S. 32. 5 Walser, Robert: Klavier. In: ders., Geschichten. 1985, S. 10.

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Hört der hier beschriebene Mikrokosmos auf zu existieren oder dauert er an, festgehalten wie in einem Bild? Eins wissen wir: Konstant ist bei Walser – paradoxerweise – die unaufhörliche, schöpferische und auslöschende Bewegung der schreibenden Hand. Für eine vollständige Lesart seiner kleinen Prosa sind die Schrift und die schillernde Bedeutung der Worte wichtiger, auch greifbarer als die zumindest scheinbar nichtigen Gegenstände, von denen erzählt wird. Wer daher auf ihrer Oberfläche bleibt, die ihm ironisch einen Realismus vorgaukelt, lässt sich von dem Spiel des Verfassers irreleiten, statt es aufzudecken, statt zu begreifen, dass es eben auf das Spiel und eine dadurch zustande zu bringende gewandelte Weltsicht ankommt. (Zu denjenigen, die das nicht verstanden haben, gehört Jan Tomkowski6; in seiner Besprechung des ersten von insgesamt drei Bänden mit Walsers Kurzprosa in polnischer Übersetzung7 behauptet er, man könne sie »in der Pause zwischen dem Wickeln eines Babys und dem Kochen von Konfitüren« lesen – eine These, die uneingeweihten Lesern den Zugang zu dieser neuartigen, angeblich »altmodischen« Prosa, ihrer Andersartigkeit und Vielschichtigkeit sehr erschwert.) Man sollte sich von dem belanglosen Stoff dieser Prosa genauso wenig in die Irre führen lassen, wie wenig uns Walsers Kunst, in verschiedene Erzähler zu schlüpfen, von der grundsätzlichen Abhängigkeit der dargestellten Welt von ihrem Erzähler ablenken darf. Selbst wenn er sich in der heraufbeschworenen Wirklichkeit verliert, wie in »Paganini« oder »Laute«, in denen er gegen Ende hin ganz Ohr wird und verschwindet – und nur das neue Werk zurückbleibt. Es handelt sich jedes Mal um ein Kunststück eines Ironikers, das seine Kunst zum Teil verheimlichen, zum Teil – paradoxerweise – durch die Illusion des Gegensätzlichen unterstreichen soll. Wie oft hatten wir es bei diesem Autor bereits mit paradoxen Sachverhalten zu tun? Der Literaturwissenschaftler Ferrucio Masini beruft sich auf die Behauptung Friedrich Schlegels, wonach Ironie eine Form des Paradoxen sei,8 und betont gleichzeitig die Neuartigkeit, mit welcher der Ironiker Walser Texte ohne Kontexte, bloßen Vorstellungen gleich, schreibe. Ein solch demonstratives »Ich denke mir« erlaubt es den Walserschen Figuren zwangsläufig nicht, Personen aus Fleisch und Blut zu werden – auch davon ist bei Małgorzata Łukasiewicz die Rede. Ebenfalls an dieser Stelle erscheint uns ein 6 Tomkowski, Jan: Na czas smaz˙enia konfitur [Für das Kochen von Konfitüren]. In: Gazeta Wyborcza, 26. 09. 1990. 7 Walser, Robert: Przechadzka [Der Spaziergang]. Aus dem Deutschen von Małgorzata Łukasiewicz. Warszawa: Czytelnik 1990. Vor Kurzem erschien: Walser, Robert: Mały krajobraz ze s´niegiem [Die kleine Schneelandschaft]. Aus dem Deutschen von Małgorzata Łukasiewicz. Izabelin: S´wiat Ksia˛z˙ki 2003. 8 Masini, Ferrucio: Robert Walsers Ironie. In: »Immer dichter vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walser. Hrsg. von Paolo Chiarini/Hans Dieter Zimmermann. Königstein/Taunus: Athena¨ um 1987.

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Umstand auf ironische Art und Weise paradox: Hartnäckig täuscht Walser den Leser und gaukelt ihm vor, seine Figuren seien unter ad hoc herbeigeschafften Umständen »wirklich«; er lässt sie oftmals unter denselben Namen in verschiedenen Texten auftreten und alte Bekannte des Lesers spielen, die irgendwo außerhalb des Textes leben. Selbst historische Protagonisten wie Wilhelm Tell oder der Dramatiker Jakob Michael Reinhold Lenz scheinen keine auf die Gegenwart einwirkende Vorgeschichte zu haben. Die Fiktion ist dermaßen demonstrativ ausgedacht, als möchte sich der Verfasser selbst dabei ertappen. Immer wieder findet das unselbstständige Dasein der Walserschen Figuren und Erzähler seinen Ausdruck in der Sprache; sie sind nicht in der Lage, getrennt davon zu existieren, ihre Erlebnisse anders als in einem seltsam unpersönlichen Stil zu verbalisieren. Es ist, als hätten sie Gefühle – diese kommen uns allerdings gut bekannt vor, als stammten sie aus einem Repertoire der menschlichen Existenz, aus einer Art Wörterbuch emotionaler Synonyme oder – strenger genommen – aus zweit- oder drittklassigen Romanen, Gedichten und Dramen, die sich stets derselben psychologischer Abstrakta bedienen. »Fertige« Gefühle werden scheinbar selbsttätig zu Worten und diese zu Sätzen – zu einer bestimmten Form, die aber nicht die großgeschriebene Form Gombrowiczs ist. Ein Beispiel liefert das Prosastück »Allerlei«: »Das Sittsame fördert; das Rücksichtsvolle scheint es zu etwas zu bringen. der, der die Zeit niemals mit irgend etwas Ablenkendem verlieren will, trocknet und rostet ein. Es scheint, daß es unklug und bösartig ist, immer energisch zu sein. Mangel an Zuversicht gebärdet sich gern konstant energisch. Nun ist das alles so wunderbar. Fallen und seinen Posten verlieren heißt oft: einen neuen unter die Füße bekommen.«9

Einerseits wird die menschliche Singularität, das namenlose, aber nicht unpersönliche Subjekt, durch die Formulierung »nun ist das alles so wunderbar« charakterisiert, die sich aufgrund ihrer umgangssprachlichen Expressivität von dem Umfeld stilistisch abhebt. Andere Sätze kommen einem wiederum zuweilen wie vorgefertigt in ihrem Satzbau, Gedankengang und Dasein vor (die Übersetzerin gibt solche Stilschwankungen unfehlbar wieder). Es ist, als hätten Walsers Protagonisten keine Kraft, mit ihren Empfindungen zu einem eigenen sprachlichen Ausdruck durchzudringen, als blieben sie damit in einem allgemeinen, allen gemeinsamen Bereich voller Gemeinplätze oder Unklarheiten zurück. Der erste Satz in »Der Wald« beginnt beispielsweise: »Von allerlei seltsamen Empfindungen durchdrungen, ging ich langsam […].«

Formulierung »allerlei […] Empfindungen« hört sich an, als wären sie nicht einmal wert, aufgezählt zu werden, denn einem abstrakten Kopf reiche be9 Walser, Robert: Allerlei. In: ders., Aufsätze. 1985, S. 134.

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kanntlich eine Andeutung. Sind die bei Walser häufigen Beschreibungen sekundärer Theaterstücke, seine dramatischen Paraphrasen, die wie SecondHand-Klassik wirken, die Gestalten verhinderter oder erfolgloser Theaterschauspieler – einer davon war er einmal selber – nicht auf die Empfindlichkeit des Verfassers für fertige, lexikonmäßige Emotionen und konventionelle szenische Gesten zurückzuführen? Wie auch immer, wahrscheinlich ist auch die Umkehrung richtig: Der Kontakt mit dem provinziellen Theater führte Walser zu einer derart konsequenten Mittelmäßigkeit menschlicher Tragödien. Diese hat aber, wohl in erster Linie, eine gesellschaftliche Dimension und Begründung. Denn den durch herrschende Verhältnisse benachteiligten Protagonisten, insbesondere in Walsers Romanen, gelingt es nicht, das eigene Schicksal entschieden in die Hand zu nehmen; Małgorzata Łukasiewicz beschreibt es ausführlich. Im Kern lässt sich das in der im Roman »Geschwister Tanner« von Simon gestellten Frage zusammenfassen: »Sie gleichen sich alle und sind sich doch alle fremd […]. Und leben nicht tausende von Menschen so?«10

Wenn aber die zwischenmenschliche Realität, wie Walser sie erfuhr und in seiner Kunst konsequent einsetzte, wenn die gegenseitige Fremdheit in Vertrautheit, die gegenseitige Gleichheit der Menschen keine Chancen auf Veränderung kennt, dürfte dem bewussten Menschen nur eins übrigbleiben: Poiesis, die Bewegung der schreibenden Hand, die in jedem Text aufs Neue dem Bereich des unerbittlich Wirklichen entflieht. Ist das alles? Offensichtlich ja. Selbst wenn der Schriftsteller beim Eintauchen in den Text alle Beschränkungen zu überwinden scheint, zeigt er paradoxerweise eine ausweglose Wirklichkeit. Man kann ihre Schönheit erfahren – Walsers Figuren widerfährt das nicht selten –, aber man kann sie weder existentiell noch gedanklich überwinden. In Walsers Kurzprosa zeugen davon u. a. Pointen, die gewöhnlich keine sind. Den Leser überrascht die fehlende Überraschung, die fehlende Innovation in Handlung oder Gedankengang und die fehlende Zusammenschau des zuvor Dargestellten. So erfährt man in »Lustspielabend« über die »alte Bekannte« Anna von Wertenschlag, nachdem durch Genreszenen, zu denen sich verschiedenartige kleine Peripetien im Zuschauerraum zusammensetzen, die Erwartung gesteigert wurde, am Ende eine absolute Selbstverständlichkeit: »Die Baronin stieg in den Wagen, und die Kutsche rollte davon.«11

10 Walser, Robert: Geschwister Tanner. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 37 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 9). 11 Walser, Robert: Lustspielabend. In: ders., Geschichten. 1985, S. 56.

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Auf der anderen Seite: Klar, nach einem Lustspielabend fuhren in der Tat sicherlich die meisten Baroninnen einfachmit einer Kutsche nach Hause; die Welt ist, wie alle sie kennen. Oder es gibt gar keine – wenn Robert Walser sie nicht in einer seiner weiteren Geschichten ins Leben ruft, wenn er sie zurücknimmt oder gar mittels eines der für ihn typischen Katastrophenbilder zerstört. Der bereits erwähnte Ferrucio Masini zitiert in Bezug auf Robert Walser auch Kierkegaards Aussage über die Ironie, die jedes Mal, wenn sie etwas ins Leben rufe, sich darüber im Klaren sei, dass sie es wieder vernichten könne. Der Autor ist sogar imstande, am Ende der Kurzprosa »Welt« beiläufig das Bild eines sich auflösenden Gottes zu entwerfen, wodurch dem Nichts nicht einmal »der es bestimmende, färbende Charakter«12 bleibe; er ist imstande, das Dasein in Frage zu stellen – und ist zugleich hilflos seinem unbekannten oder eher nicht vorhandenen Wesen gegenüber. Die Walsersche Kurzprosa schildert weder einen höheren Sinn noch Aussichten auf Veränderung. Es gibt nur das, was es gibt und wie es das gibt. Oder besser gesagt: das, wovon die Rede ist. Denn nur in der Materie der Sprache, in einem gewöhnlich anonymen, an die lebendige Rede erinnernden Monolog nimmt Walsers Wirklichkeit, die keine Objektivität vorgaukelt, ihre Gestalt an und überschreitet für einen kurzen Augenblick die Grenze des Nichtseins. An dieser Stelle bemerkt man eine Spannung zwischen dem menschlichen Erleben der Mittelmäßigkeit und einem individuellen Wunsch nach Existenz in der Sprache, zum Beispiel in dem bereits genannten Text »Allerlei«. Und wenn dabei die Rede von einem »unpersönlichen« Stil auf der einen und einem »intransparenten« Stil auf der anderen Seite widersprüchlich erscheint, so kann es hoffentlich nur an einem so paradoxen Schriftsteller wie Robert Walser liegen. Dazu gehören in seiner Kurzprosa u. a. Figuren, die ins Unpersönliche geraten. Neben Feststellungen, die herkömmliche Wertehierarchien in Frage stellen, gibt es in »Allerlei« verblüffende Gemeinplätze und Banalitäten; man liest über persönlich Erlebtes eines Zugreisenden, aber auch über beunruhigend Unpersönliches. Durch umgangssprachliche Einschübe entfernt sich nicht allein der Sprechende, sondern auch der Lesende von dem im Text vorherrschenden Stil. Dadurch gewinnt man Distanz zu allem, was gesagt wurde. So wird gegen Ende die Anwesenheit eines Unbekannten mächtig hervorgehoben: »Wenn alles so leer, so leicht würde, daß man an gar nichts mehr zu denken brauchte? Anzeichen, daß die Menschen der Kultur und ihrer Peinlichkeiten überdrüssig werden, sind vorhanden. Eine Welt glatt wie Glas, ein Leben sauber wie eine Stube am Sonntag. Keine Kirchen und keine Gedanken mehr. Puh, mich friert. Es sollte doch wohl immer

12 Walser, Robert: Welt. In: ders., Geschichten. 1985, S. 27.

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noch allerlei in der Welt geben. Mich würde nichts bewegen, wenn nicht allerlei mich bewegte.«13

Keine Gedanken, also keine Vorstellungen vom Sinn. Nur das Dasein, nur die Tatsache, dass es »allerlei« gibt. Eine immer intensivere Vorstellung von der Leere, ja vom Nichts, die eine flüchtige und in Begriffen nicht fassbare Empfindung eines Kulturklimas darstellt, scheint gleichzeitig ein baldiges Ende des Textes anzukündigen; danach kommt bis zu einem nächsten Prosastück nichts außer einem unbeschriebenen weißen Blatt Papier. »Puh, mich friert« – das hört sich an, als schaudere es den Sprechenden sowohl wegen der in seiner Welt erfahrenen Leere als auch aufgrund der Vorahnung, dass er mit seiner Textwelt bald aufhören werde, zu sprechen und damit auch zu leben; dass er sich im Nichts auflösen werde. Und als wolle er in dem Augenblick, ehe es passiert, sich an eine letzte Gewissheit, an etwas Greifbares klammern: an die durch das Erfrieren ermöglichte Erfahrung des eigenen körperlichen Daseins. Wenn nur dank der Sprache die von Mittelmäßigkeit und Bedeutungslosigkeit bedrohten Figuren und Gegenstände der Walserschen Kurzprosa körperlich werden können, kommt der stilistischen Qualität der Texte, insbesondere der häufigen Intransparenz des Stils, eine besonders wichtige Rolle zu. Zumal sie, wie bereits erwähnt, auch auf die Erzählung selbst, auf ihre narrative Dimension hinweist, während der Erzählgegenstand – herkömmlichen epischen Erzählkonventionen entsprechend an sich schon unbedeutend – mithilfe verschiedenartiger Autokorrekturen des Autors einmal mehr aufgehoben wird. Walter Benjamin hat recht, wenn er sagt, bei diesem Schriftsteller breche »ein Wortschwall« aus, »in dem jeder Satz nur die Aufgabe hat, den vorigen vergessen zu machen«.14 Daher rührt jene sprachliche Lebhaftigkeit, jener unvollendete Stil, der Walsers Worte, er habe nie auch nur eine einzige Zeile korrigiert, glaubwürdig erscheinen lässt. Daher kommen das mannigfaltige Tempo und der prägnante Rhythmus im Satzbau und im Erzählfluss, womit die Objektwahrnehmung wiedergegeben wird – mal bei der Beschreibung einer Großstadtstraße, mal bei einer Naturbetrachtung; daher Elemente der Umgangssprache und der gesprochenen Sprache, Regionalismen und seltene Idiome. Ihre Quelle hat hier ebenfalls die Sensibilität für den Klang und die Herkunft der Worte, die Walser gern pflegt, indem er zum Beispiel bei der Beschreibung eines sonnigen Sonntags sich selbst und dem Leser die Etymologie dieses Wochentagnamens ins Gedächtnis ruft. Daher kommen nicht zuletzt Neuschöpfungen und Sprachspiele, die den Eindruck erwecken, der Erzähler habe keine Zeit gehabt, nach den Beständen in 13 Walser, Allerlei. 1985, S. 140. 14 Benjamin, Walter: Robert Walser. In: ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 326 (= Gesammelte Schriften. Bd. 2, Teil 1).

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Wörterbüchern zu greifen, sondern habe allein, ohne Vorbereitung, ein Wort für die vor unseren Augen entstehende Wirklichkeit finden müssen. Wird bei Walser deshalb das Subjekt wichtiger als das Objekt? Das Bezeichnende wichtiger als das Bezeichnete? Er arbeitet ohne Zweifel darauf hin und das trägt – neben Entdeckungen weiterer Texte und Ausgaben – zur wachsenden Resonanz seiner Werke bei der Leserschaft von heute bei; seine Streifzüge durch den Text entpuppen sich also als Spaziergänge in eine literarische Zukunft. Die Übersetzer stellt hier vieles vor besondere Herausforderungen: Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Erzählung selbst und auf kreative Möglichkeiten der deutschen Sprache, Ironisches und Paradoxes der Walserschen Ästhetik, Dynamik seiner unfertigen Form, die sich dialektisch aus Widersprüchen zusammensetzt, Konsequenz im Inkonsequenten. In der Zielsprache muss man beim Übersetzen, ähnlich wie es der Autor im Originalwerk getan hat, von Null an einen bestimmten, trotz der scheinbaren chaotischen Vielfalt einheitlichen Stil hervorbringen. Um mit John Christopher Middleton, Walsers britischem Übersetzer, zu sprechen: Man muss in aller Bescheidenheit den Windungen und Krümmungen des Originals nachspüren, jeder bedeutungsrelevanten rhythmischen Schwingung, und sich zugleich […] in der eigenen Sprache um eine präzise Aussage und ein leichtes Tempo bemühen15; man muss ein Ganzes schaffen. Małgorzata Łukasiewicz gelingt es, ihr Walser klingt, als hätte er seine Texte auf Polnisch geschrieben. Mit dieser Schlussfolgerung aus meinen zweisprachigen Lektüren möchte ich eventuellen Einwänden zuvorkommen. Wie denn?, könnte eine Gegenfrage lauten, in der Übersetzung von »Die kleine Berlinerin« habe sie doch zwei Sätze ausgelassen. Und den Satz: »Man erzieht mich, […], mit Vertraulichkeit und zugleich mit einer gewissengemessenen Strenge«16 habe sie ja falsch übersetzt, denn »Vertraulichkeit« – so der intime Widersacher – heiße auf Polnisch nicht »zaufanie«, sondern »poufałos´c´«, dafür sprächen nicht nur Wörterbücher, sondern auch der Kontext, also die Opposition zu dem Begriff »Strenge«. Naja, werde ich dann antworten und mein anderswo formuliertes Statement wiederholen, die Aufgabe des Übersetzers umfasst viel mehr als nur die Verpflichtung zur korrekten Wiedergabe, deren Erfüllung durch eine einfache Aufzählung von Fehlern nachgeprüft werden könnte. Wichtiger als dieses negative Kriterium ist ein anderes, ein positives: Wurde das im Original Geschaffene in der Übersetzung neu geschaffen? Selbst eine fehlerlose Übersetzung bietet dafür keine Garantie. Hört man in der polnischen Übersetzung die Stimme jenes Mädchens? Des Mädchens, das solange da ist, wie lange es spricht, bis es am 15 Vgl. Middleton, John Christopher: Notizen eines Walser-Übersetzers. In: Robert Walser. Hrsg. von Klaus-Michael Hinz/Thomas Horst. Frankurt/Main: Suhrkamp 1991. 16 Walser, Robert: Die kleine Berlinerin. In: ders., Aufsätze. 1985, S. 97.

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Ende fragen wird: »Was werde ich erleben?«17 Es fragt damit nicht nur nach seinem Schicksal zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem konkreten Ort, im Rahmen einer gesellschaftlicher Konvention und in einem Kulturkreis, sondern es fragt scheinbar naiv nach dem außertextlichen Dasein einer literarischen Schöpfung, nach dem tiefsten Wesen einer Fiktion, nach einer existierenden oder fehlenden Verbindung zwischen dem Text und der außertextlichen Welt. Gewinnt die kleine Erzählerin in dem polnischen Text Glaubwürdigkeit? Meine Antwort lautet »gewiss«, denn sie bedient sich desselben Stils, zu ihrem Vater sagt sie z. B. »papa« (das Wort ist ja viel treffender als das in kultureller Hinsicht genauso selbstverständliche »tata« [Vati]) oder verwendet das heute ein wenig altmodische Adverb »naturalnie« [natürlich], das ihr mit unfehlbarer Intuition von der Übersetzerin in den Mund gelegt wurde. Dank eines offenbar einem Erwachsenen nachgeplapperten Satzes wirkt ihre Person lebendiger: »Junge Damen sollen sich an das Feine und Edle gewöhnen«.18 Der ausgesuchte, spezielle Charakter des Feinen in der polnischen Übersetzung als »wykwint« macht aus dem Mädchen – im Gegensatz zu ihrem mehr oder weniger zweifelhaften Dasein – eine charakteristische Gestalt. Ähnlich ist es mit dem naiven starken Ausdruck und der idiomatischen Lebhaftigkeit der folgenden Sätze: »Ich reise gern, und ichglaube, daß fast alle Menschen gern reisen. Man steigt ein, der Zug fährt ab, und nun geht es ins Weite. Man sitzt und wird in ungewisse Ferne getragen.«19 Es ist die typisch Walsersche Sprache, die man hier findet … Seine Sprache? Ja, mir wird jetzt bewusst, dass ich eine besondere Tonart des Polnischen meine, eine Qualität, die sich den Übersetzungen von Małgorzata Łukasiewicz verdankt – das müsste eine ausreichende Empfehlung sein, nicht wahr? Jedenfalls ein ausreichender Grund, gewisse übersetzerische Fehler nicht überzubewerten. Ein Beispiel liefert die Phrase »als sei hier das Ende der Welt«20 in »Kleist in Thun«, der auf Polnisch die Worte »z˙e to musi byc´ koniec s´wiata« entsprechen; man assoziiert sie eher mit einem Weltuntergangsszenario als – korrekterweise – mit der provinziellen Lage des Ortes. Ein anderes Beispiel findet man in dem Aufsatz »Germer«, in dem sich die Übersetzerin bewusst oder unbewusst ausschließlich für die wortwörtliche Bedeutung eines weitverbreiteten Spruchs entscheidet: »No tak, z˙ycie jest cie˛z˙kie. Helbling potrafi nawet zas´piewac´ o tym piosenke˛« steht als polnische Entsprechung für »Ja, ja, das Leben ist hart, Helbling weiß auch ein Lied davon zu singen«21. Und obzwar der Bankangestellte bereit wäre, tatsächlich und wörtlich zu singen, hätte in der Übersetzung durchaus auch die übertragene Bedeutung anklingen müssen: Denn »ein Lied 17 18 19 20 21

Ebd. Ebd., S. 88. Ebd., S. 90. Walser, Kleist in Thun. 1985, S. 72. Walser, Robert: Germer. In: ders., Aufsätze. 1985, S. 120.

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von etwas singen« heißt ja, dass man etwas aus eigener unangenehmer Erfahrung zur Genüge kennt. Das Original lässt keine Zweifel zu, für die polnische Übersetzung hätte man zumindest eine Kompromisslösung wählen können, zumindest etwa »potrafi o tym niejedno zas´piewac´«. Angesichts des hervorragenden übersetzerischen Fingerspitzengefühls, dem die Übersetzerin sowohl lexikalisch als auch kulturell treffende Entsprechungen verdankt, fällt all das allerdings wenig ins Gewicht; sie beherrscht die Kunst des Nuancierens und kann dadurch das Zünglein an der Waage einmal in die eine, dann in die andere Richtung schnellen lassen. Soviel »Die kleine Berlinerin«. Einen andersartigen Versuch, die Walsersche Sprache im Polnischen wiederzugeben, stellt der Text »Der Greifensee dar« – ein Text, der auf allen Ebenen das Wesen der schöpferischen Natur des Autors verkörpert. Der Leser wird davon auf eine ähnliche Art und Weise verschlungen wie der Protagonist von dem Wasser des Sees. Ein um so erstaunlicheres Meisterstück, als es sich dabei um Walsers Debüt in diesem Genre handelt: Die Situation eines für den Schriftsteller typischen Spaziergangs, identisch mit einem Durchgang durch den Text, wurde auf ein erzählerisches Minimum reduziert, auf schliche Pseudo-Wirklichkeiten. Lauschen wir eine Weile dieser Prosa, ihrem aufgrund von beabsichtigten Wiederholungen etwas naiven Duktus, ihrem ruhigen Atem: »Es ist ein frischer Morgen und ich fange an, von der großen Stadt und dem großen bekannten See aus nach dem kleinen, fast unbekannten See zu marschieren. Auf dem Weg begegnet mir nichts als alles das, was einem gewöhnlichen Menschen auf gewöhnlichem Wege begegnen kann. Ich sage ein paar fleißigen Schnittern ›guten Tag‹, das ist alles; ich betrachte mit Aufmerksamkeit die lieben Blumen, das ist wieder alles; ich fange gemütlich an, mit mir zu plaudern, das ist noch einmal alles. […] Ich gehe immer weiter und werde zuerst wieder aufmerksam, wie der See über grünem Laub und über stillen Tannenspitzen hervorschimmert; ich denke, das ist mein See, zu dem ich gehen muß, zu dem es mich hinzieht.«22

Das Präsens hat hier eine besondere Kraft – es verleiht dem Dargestellten den Charakter eines Augenzeugenberichts, wodurch die Vorstellung des Spazierganges und seine Beschreibung – bei aller Leichtigkeit des Textes, seinem autothematischen und selbstironischen Aspekt – zu einem einzigen, vor unseren Augen stattfindenden metaphysischen Akt werden. Wie gelingt es Walser, die Fiktionalität mit einer anders aufgefassten, tieferen Realität dieser Landschaft einhergehen zu lassen? Wie verwischt er die Grenze zwischen dem Erzähler und dem Rezipienten, zwischen der Landschaft und dem sie wiedergebenden Text, zwischen den verschiedenen Ebenen, auf denen wir die Wirklichkeit zu erfahren pflegen? 22 Walser, Robert: Der Greifensee. In: ders., Geschichten. 1985, S. 32f.

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»Auf welche Weise es mich zieht, und warum es mich zieht, wird der geneigte Leser selber wissen, wenn er das Interesse hat, meiner Beschreibung weiter zu folgen, welche sich erlaubt, über Wege, Wiesen, Wald, Waldbach und Feld zu springen bis an den kleinen See selbst, wo sie stehen bleibt mit mir und sich nicht genug über die unerwartete, nur heimlich geahnte Schönheit desselben verwundern kann. Lassen wir sie doch in ihrer althergebrachten Überschwenglichkeit selber sprechen: Es ist eine weiße, weite Stille, die wieder von grüner luftiger Stille umgrenzt wird; es ist See und umschließender Wald; es ist Himmel, und zwar so lichtblauer, halbbetrübter Himmel; es ist Wasser, und zwar so dem Himmel ähnliches Wasser, daß es nur der Himmel und jener nur blaues Wasser sein kann; es ist süße blaue warme Stille und Morgen; ein schöner, schöner Morgen.«23

Auch an dieser Stelle verliert sich der Erzähler schlussendlich in dem Erzählten, das nun gleichsam ein Eigenleben entwickelt: »[…] und sinne hin und her, wie es an dem kleinen See sein wird, wenn das letzte Tageslicht über seiner Fläche schwebt, oder wie es sein wird hier, wenn unzählige Sterne oben schweben – und ich schwimme wieder hinaus«.24

Eine Untersuchung dessen, wie die Übersetzerin die Kraft der polnischen Phonetik, Lexik und Syntax in den Dienst der Walserschen Prosa stellt, würde zu viel Raum in Anspruch nehmen. Ich denke aber, dass die zitierten Stellen mit der folgenden Feststellung übereinstimmen: Der von Małgorzata Łukasiewicz übertragene Walser gehört zu Übersetzungen, die dem Fortleben sowohl des Originals als auch der Sprache dienen. Schauen wir uns nun ein Beispiel des übersetzerischen Erfindungsreichtums in sprachlich und semantisch besonders ungezähmten Texten des Schriftstellers an: »Kotzebue« bietet ein ironisches Porträt des bekannten Politikers und Dramatikers, dessen Lustspiele »mit glänzendem Kassensturzerfolg während der Zeit, da Kleist verzweifelte, aufgeführt worden sind«.25 Allein schon die Wendung »saubere Arbeit liefern«, mit »odwalał solidna˛ robote˛« hervorragend wiedergegeben, lässt den spöttisch-herablassenden Ton des Ganzen ahnen. Leitmotivisch werden Wortspiele verwendet, die mit den in Kotzebues Namen hörbaren Worten »kotzen« (»rzygac´«) und »Butz« (»diabełek«) zu tun haben. Wie solche auf klanglichen Parallelen basierende und deshalb scheinbar unübersetzbare Assoziationen dank situativ-bildlicher Analogien doch übertragen werden konnten, verblüfft den Leser; denn polnische Bezeichnungen »kociołbie nazwisko«, »klocowate i bułowate dzieła« oder »kucanie i bekanie« erinnern ja in der Tat an Übelkeit und Abscheu Erregendes. Am Ende steht dann zwar ein recht freier Vergleich, der allerdings gut zu der Dynamik der Walserschen Sprache passt: 23 Ebd., S. 33. 24 Ebd., S. 34. 25 Walser, Robert: Kotzebue. In: ders., Aufsätze. 1985, S. 105.

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»bucowaty jak Kotzebue« (im Original: »ein Kotzebukautz«). Wäre aber Walser selbst nicht genauso vorgegangen, hätte er auf Polnisch geschrieben? An einer anderen Stelle musste die Übersetzerin dem symbolischen Gehalt der Walserschen Sprache mit all ihren kulturellen Doppeldeutigkeiten die Stirn bieten. In einem anderthalb Seiten langen Prosastück führt ein unbekanntes Ich einen ergreifenden Monolog, von dem schwer gesagt werden kann, ob er den Sprechenden oder eher eine ebenfalls unbekannte, aus dem Fenster gesehene »dunkle, ungewisse, vom zauberischen Abendlicht umflossene Menschengestalt«26 betrifft – oder vielleicht das, was zwischen den beiden vorgefallen beziehungsweise eher nicht vorgefallen ist. Der Erzähler sagt nämlich: »Kalt habe ich den Gesellen, der mir vielleicht ein Freund hätte werden, und dem auch ich ein Freund hätte werden können, abziehen lassen.«27 Es ist nicht nötig zu erklären, was diese Worte aussagen; es ist nicht nötig, etwas hinzuzufügen. Es sollte nur erwähnt werden, dass der aus dem Fenster gesehene Mensch im Titel und an vielen Textstellen als »Geselle« bezeichnet wird – ein unübersetzbares und zugleich im Deutschen vielsagendes Wort. Es bedeutet viel mehr als das polnische Wort »czeladnik«. Ein Geselle ist der Vorläufer des späteren Arbeiters, organisiert in Zünften, nach deren Vorbild die Gewerkschaften entstanden sind. Es ist einer, der bereits frei ist, aber noch keine Unterstützung und keine Bleibe hat; der sich seine Freiheit mit Mühe erarbeitet hat und nun mit anderen den Wohnraum teilt (so die Wortherkunft im Deutschen). Sein Schicksal ist noch nicht entschieden, er ist ein »irgendjemand«, einer von denjenigen, die in der Welt herumziehen. Wie in Eichendorffs klassischer Ballade »Zwei rüstige Gesellen« oder auch noch in den »Liedern eines fahrenden Gesellen«, bei denen Gustav Mahler seine eigenen Texte vertonte. Mit der Zeit wurde daraus auch ein Schimpfwort, eine antiquierte Entsprechung zu dem polnischen »facet« oder gar »koles´«. Wie soll man die im Polnischen schwach verwurzelte gesellschaftliche Berufsbezeichnung, den literarischen Topos eines ungesicherten Daseins und die Vorstellung einer banalen, nicht unbedingt vertrauenswürdigen Fremdheit auf einen Nenner bringen? Die Übersetzerin fand dafür eine Lösung, die das Wort »Geselle« nicht nur optimal wiedergibt, sondern der polnischen Übersetzung überraschend einen neuen Sinn verleiht, indem deren normalerweise disjunkte Bedeutungen zusammengeführt werden. »Obcy gos´c´« – diese Bezeichnung versöhnt divergierende alltägliche und literaturbezogene Sinndeutungen und reicht gar bis zu biblischen Anklängen. So weit auseinanderliegende Bedeutungen zu verbinden, kommt der Kunst gleich, zwei Töne zu spielen, die man scheinbar unmöglich gleichzeitig hervorbringen kann. Sowohl Robert Walser, als auch Małgorzata Łukasiewicz ist das gelungen. 26 Walser, Robert: Der fremde Geselle. In: ders., Aufsätze. 1985, S. 144. 27 Ebd., S. 145.

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Einen scheinbar unmöglichen Akkord nehmen? Dafür war unter anderem Paganini berühmt, der Protagonist gleich zweier Texte Walsers in dem vorliegenden Band. Es handelt sich dabei einmal mehr um Texte ohne Kontext und ohne Hintergrund, die sich auf das Ereignis des Spielens konzentrieren und um das Spielen herum bildliche Assoziationen sowie dynamische Gefühlsbeschreibungen spinnen. Es sind Texte, die einander ähneln, bis hin zu dem nahezu identischen Satz: »Paganini wußte im voraus nie genau, wie und was er spielen wollte und würde«.28

Trifft das nicht ebenfalls auf Walsers Bewegung der schreibenden Hand zu? Dachte der Autor bei diesem Satz an sich selbst? Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass er ein Recht dazu gehabt hätte.

28 Walser, Robert: Paganini. In: ders., Aufsätze. 1985, S. 129. [Bei dem zweiten Text handelt es sich um: Walser, Robert: Paganini. Variation. In: ders., Geschichten. 1985, S. 92: »Paganini wußte nie zum voraus, was und wie er spielen würde« – I. S.].

Walser und andere

Katarzyna Szyman´ska (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu)

Robert Walser und Thomas Bernhard – Annäherungen

Der Mensch Robert Walser und sein Schaffen beeinflusste und beeinflusst literarische Texte einiger der wichtigsten Autoren der Gegenwart. Zu seinen Lebzeiten schätzten ihn u. a. Franz Kafka, Walter Benjamin, Robert Musil und Hermann Hesse. 2014 erschien in Russland Walsers »Spaziergang« in der Übersetzung Michail Schischkins zusammen mit einem Essay dieses von Walser faszinierten, angesehenen russischen Schriftstellers. Das Gesamtwerk des Schweizers bietet außerdem der Forschung zu W. G. Sebald einen bedeutenden Interpretationskontext. In dem Erzählband »Schwindel. Gefühle.« wird ein langer Spaziergang mit Ernst Herbeck beschrieben, der den Erzähler an seinen Großvater erinnert, auf dem daneben abgedruckten Foto ist allerdings weder der österreichische Autor noch der Verwandte des Erzählers abgebildet, sondern Robert Walser.1 Den Ausgangspunkt bilden hier Walsers lange Spaziergänge und Gespräche mit Carl Seelig, seinem Freund und Vormund. 1957, nach dem Tod des Schriftstellers, schrieb Seelig »Wanderungen mit Robert Walser«,2 die Percy Adlon im Winter 1978 auf Originalschauplätzen verfilmte: So entstand der Film »Der Vormund und sein Dichter«.3 Während Walser und Seelig stundenlang in der Gegend um die Schweizer Heilanstalt herumwandern (Seeligs Aufzeichnungen sind auf den Zeitraum zwischen Juli 1936 und Weihnachten 1956 datiert), verbringt Ludwig Wittgenstein seine Cambridger Zeit ähnlich. Der Philosoph Norman Malcolm, Wittgensteins Freund und Kommentator seiner Werke, erinnert sich daran mit folgenden Worten: 1 Vgl. Łukasiewicz, Małgorzata: My tylko filozofujemy [Wir philosophieren bloß]. In: Konteksty, 2014, H. 3/4, S. 76. 2 Ende 2018 wurde außerdem (traditionellerweise bei Suhrkamp) eine umfangreiche, neue, mit Fotos und Ansichtskarten geschmückte Auswahl des Walserschen Briefwechsels herausgegeben: Walser, Robert: Briefe 1–3. 1897–1956. Hrsg. von Peter Stocker/Bernhard Echte. Berlin: Suhrkamp 2018. 3 Die beiden Spaziergänger werden von Rolf Illig (Walser) und Horst Raspe (Seelig) gespielt, die schauspielerisch agieren, aber auch mit ihren Kommentaren die Zuschauenden direkt ansprechen.

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Katarzyna Szyman´ska

»Im Jahre 1939 kam Wittgenstein oft zu mir, um mich zu einem Spaziergang abzuholen. Gewöhnlich ging er auf den Midsummer Common und weiter den Fluß entlang. In der Regel hatte er Brot und Zucker mit, um die Pferde auf der Weide zu füttern. Ein Spaziergang mit Wittgenstein war sehr anstrengend. Worüber wir auch sprachen, er wandte sich dem Thema mit großem Ernst und voller Intensität zu, und es kostete mich einen enormen Kraftaufwand, mit seinen Gedanken Schritt zu halten. Er ging sehr ungleichmäßig, manchmal blieb er stehen, um irgendeine Bemerkung besonders zu betonen und mir mit durchdringendem Blick in die Augen zu sehen. Dann ging er ein paar Meter ganz rasch, dann wieder langsamer, einmal eilte er, dann wieder blieb er stehen, und so immer weiter. Und diese unstete Wanderung war verbunden mit einer Unterhaltung, die äußerst hohe Ansprüche stellte!«4

In der Literatur findet man dagegen derartige Spaziergänge in der Prosa Thomas Bernhards, worin sich unter anderem dessen Werk und dasjenige Walsers sehr ähneln. Doch zurück zu Sebald, über den Juliusz Kurkiewicz schreibt, er sei »vor allem ein großer Ironiker, der das Seltsame und Paradoxe der Existenz, die Unmöglichkeit der Welt- und Selbsterkenntnis, das Gefühl des unwiderruflichen Fehlens erzählt. Dadurch kann man ihn unter die großen Ironiker des 20. Jahrhunderts, die traurigen Clowns der Literatur – Svevo, Pirandello oder Robert Walser – einreihen«.5 Bernhards Namen könnte man in diesem Zusammenhang bestimmt auch nennen. Die Rolle des Humors im Schaffen des österreichischen Autors6 hob bereits zu Beginn seiner Kontakte mit Bernhards Werk Erwin Axer hervor, der bei dessen Stück »Ein Fest für Boris« Regie führte – Bernhards erstes Drama im Übrigen, das in Polen inszeniert wurde (1976, »Teatr Współczesny« in Warschau),7 und gleichzeitig sein großes Theaterdebüt überhaupt (Hamburg 1970). In einem Interview sagte Axer dazu nach Jahren: »Die polnischen Kritiker schätzten das Stück zuerst nicht allzu sehr und hielten Bernhard für einen 4 Malcolm, Norman: Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch. Mit einer biographischen Skizze von Georg Henrik von Wright. Aus dem Englischen von Claudia Frank. München: R. Oldenbourg Verlag 1960, S. 44f. 5 Kurkiewicz, Juliusz: Arcydzieło Sebalda [Sebalds Meisterwerk]. In: Zeszyty Literackie, 2005, H. 91, S. 176. 6 Ähnliches ist nachzulesen bei Janusz Majcherek, vgl.: Majcherek, Janusz: Thomas Bernhard. Powtórzenia tych samych powtórzen´ [Thomas Bernhard: Wiederholungen derselben Wiederholungen]. In: Dialog 28, 1983, H. 8, S. 123–132. 7 Die mit Bewunderung aufgenommene Uraufführung dieses Stückes fand 1973 in Axers Regie im Wiener Burgtheater statt. Der Erfolg hatte eine feste Zusammenarbeit des Dramaturgen mit der Wiener Bühne zur Folge, ein Jahr später wurde er mit der Josef-Kainz-Medaille für die beste Aufführung der Saison 1973/1974 ausgezeichnet. In Polen nahm man das Stück trotzdem kritisch auf – allerdings nicht aufgrund der Regie Axers, sondern wegen des Werkes selbst. Als Buch wurde von Bernhard zuerst »Ein Fest für Boris« veröffentlicht: 1975 in »Literatura na s´wiecie«. Das erste Werk Bernhards schlechthin, das dem polnischen Publikum zugänglich gemacht wurde, ist dagegen »Der Ignorant und der Wahnsinnige« (abgedruckt 1973 in der Zeitschrift »Dialog«).

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Nachahmer Becketts. Bernhards ›ernste‹ Dramen besitzen eine große Ladung an Komik und Satire. Ich konnte die Schauspieler in Polen nicht immer davon überzeugen, dass man das humorvoll spielen kann.«8 Ein verwandter Sinn für Humor, welcher den beiden Autoren großer Monologe zu eigen ist, wurzelt nicht selten in der Unangepasstheit des Protagonisten bzw. des Erzählers – bei Walser handelt es sich um eine Art Antiquiertheit; doch bei den beiden fällt vor allem eine innerliche, geistige Unangepasstheit auf, die häufig durch ein Kleidungsstück unterstrichen wird.9 Der Schweizer spricht von alltäglichen und (im besten Sinne des Wortes) einfachen Dingen mit einer individuellen und gut erkennbaren Sprache ohne überflüssige Umständlichkeiten, trotzdem aber stoßen seine Texte bei den Lesern nicht sofort auf Akzeptanz und Zustimmung. In ihren Essays zu Walser halten Walter Benjamin und W.G. Sebald Ähnliches in Bezug auf ein Merkmal in dessen Prosa fest – die spezifische Flüchtigkeit. Bei Benjamin heißt es: Jeder Walsersche Satz hat »nur die Aufgabe […], den vorigen vergessen zu machen«10, was die Texte nicht unwichtiger oder weniger tiefgehend macht, sondern nur davon zeugt, dass die Genialität dieses Autors unter anderem in einem besonderen Akt des Verschwindens zum Vorschein kommt. Walser schreibt, indem er versucht, die Bewegung der Gedanken einzufangen und ihr zu folgen; er schreibt keine fertigen, festen Bedeutungen auf. Die Abschweifung als Walsers Erzähltechnik wurde von Samuel Frederick in »Narratives Unsettled: Digression in Robert Walser, Thomas Bernhard, and Adalbert Stifter« (Evanston 2012) untersucht. Fredericks Bemühungen gelten nicht der Erarbeitung eines neuen universellen narrativen Modells – er verfolgt die drei Autoren vielmehr auf ihren individuellen Schaffenswegen, die das herkömmliche Paradigma des Erzählens herausfordern, und bemerkt bei jedem eine starke Tendenz zur abschweifenden Auflehnung gegen den Begriff der Ganzheit: Bei Thomas Bernhard nennt er sie »Bruch« bzw. »Riss« (rupture), bei Robert Walser – »Ausbreitung« bzw. »Wucherung« (proliferation).

8 Smolis, Michał/Axer, Erwin: Trudno o polskiego Tomasza Manna. Z Erwinem Axerem rozmawiał Michał Smolis [Es ist nicht leicht, einen polnischen Thomas Mann zu finden. Michał Smolis spricht mit Erwin Axer]. In: Dziennik.pl, 13. 10. 2007. (Zugriff am 15. 07. 2019). 9 Vgl. z. B.: »Sie müssen sich hier bei mir sogleich anders anziehen; denn mit Kleidungsstücken, wie die sind, die Sie da anhaben, spaziert man in Arkadien oder in irgendwelchen sonstigen eingebildeten Ländern, keineswegs aber in der Wirklichkeit und in unserer gegenwärtigen Zeit herum. Sie müssen die Zeit, in der Ihnen gegönnt ist zu leben, besser begreifen lernen. Abenteuerlich können Sie in Ihrem Innern nach Lust und Belieben sein.« (Walser, Robert: Würzburg. In: ders.: Poetenleben. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 42). 10 Benjamin, Walter: Robert Walser. In: ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 326 (= Gesammelte Schriften. Bd. 2, Teil 1).

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Sowohl Walser als auch Bernhard lassen den Leser des Öfteren ratlos zurück, denn manche ihrer Sätze sind mit keiner rationalen Bedeutung beladen; sie scheinen lediglich den (Sebaldschen) Schwindeleffekt hervorzurufen, den bei Walser zusätzlich die nicht seltene rezeptive Unsicherheit hinsichtlich seines Tons begleitet: Es ist durchaus nicht klar, wann er im Ernst spricht und wann er scherzt, ob er spielt oder bei sich bleibt. Präziser wird dieses Phänomen durch das deutsche Wort »Schwindel« bezeichnet, in dem – so Katarzyna Kon´czal in ihrer bislang unveröffentlichten Dissertation zu den Signaturen Sebalds – sowohl die entwirklichende »Benommenheit«, der »Taumel«, als auch die bewusste »Verstellung« enthalten sind.11 Dieser Bezeichnung bedient sich ebenfalls Peter Hamm in dem 1992 erschienenen Text zu Fernando Pessoa und Robert Walser; er findet sich in dem Band »Der Wille zur Ohnmacht«, in dem außerdem u. a. Werke von Nelly Sachs und Ingeborg Bachmann besprochen werden. Es heißt dort: »Sind nicht sogar Pessoas Heteronyme Verkörperungen solch goldener, idealer Lügen’ im Sinne Walsers? Nichts vermag freilich darüber hinwegzutäuschen, daß dieses Spiel mit Masken, dieser Zwang zur Kunst-Lüge, dieser Zwang, zu fingieren, bei Pessoa wie bei Walser aus einer fundamentalen Mangel-Erfahrung, einer beispiellosen IchSchwäche resultiert; beide können Selbstbewußtsein nur fingieren, nur auf Papier simulieren. Ein schwaches Selbst schafft sich, um von seiner Schwäche abzulenken, eben andere Selbste. Diese Heteronyme bleiben aber Ausdruck mangelnder Autonomie, sie bleiben Signen des Scheiterns.«12

Wenn man die eigene Schwäche nutzen und in einen solchen erzählerischen Schwindel ummünzen kann, handelt es sich um eine (zumindest für die Literatur) positive Schwäche. Der genannte Schwindeleffekt bedeutet auch eine Vielfalt an Varianten. Sowohl Walser als auch Bernhard und ihre Protagonisten probieren verschiedene Varianten aus und lassen begriffliche sowie räumliche Übereinstimmungen mitklingen; die häufigste Variante ist das Gehen. 11 Kon´czal, Katarzyna: Sygnatury Sebalda. Zwierze˛ta – Widma – Ruiny [Die Signaturen Sebalds. Tiere – Geister – Ruinen]. Dissertation, Poznan´ 2017. (Zugriff am 15. 07. 2019). Mit Verstellung hängt auch das von Justyna Sobolewska angesprochene Theatralische in Walsers Schaffen zusammen, vgl. ihre Besprechung seiner Prosa, die mit dem Titel »Dziwne miasto« [Seltsame Stadt] in polnischer Übersetzung herausgegeben wurde: »Walsers Prosa ist sehr theatralisch: Bilder stellen Schauspieler dar, Gespräche erinnern an dialogische Szenen, die Straße ähnelt der Bühne«. Vgl. Sobolewska, Justyna: Dziwne miasto Roberta Walsera. In: Gazeta Wyborcza, 15. 01. 2002. (Zugriff am 19. 12. 2019). 12 Hamm, Peter: Sieger im Scheitern – Fernando Pessoa und Robert Walser. Zwei entfernte Verwandte. In: Pessoa, Fernando: Algebra der Geheimnisse. Ein Lesebuch. Mit Beiträgen von Georg Rudolf Lind/Octavio Paz/Peter Hamm/Georges Güntert. Frankfurt/Main: Fischer 1990, S. 119.

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Die Mehrheit der Protagonisten der Walserschen Prosa bzw. ihr einziger Protagonist in seinen vielen Varianten ist unterwegs, d. h. er geht spazieren, streicht umher, flaniert.13 Er ist ein Schlenderer, ein Spaziergänger oder ein Wanderer, der manchmal mit der wechselnden Umgebung die Rollen tauscht. Das Gehen stellt die Antriebskraft der Walserschen Geschichten dar, viele davon könnte es sonst nicht geben – nicht allein, weil sie im Vorbeigehen gemachte Beobachtungen von Plätzen und Menschen enthalten, sondern auch weil der Rhythmus des Gehens das Denken und Sprechen in Bewegung setzt.14 Giorgio Agamben schreibt in »Walsers philosophischer Spaziergang«: »In den Werken Spinozas gibt es nur eine einzige Stelle, an der er sich der Muttersprache der sephardischen Juden bedient … Es handelt sich um eine Passage, in der Spinoza die Bedeutung der immanenten Ursache erklärt, das heißt einer Handlung, die sich auf den Handelnden selbst bezieht, in der aktiv und passiv ein und dieselbe Person sind. Um ein Beispiel für diesen sehr wichtigen Begriff zu finden, sieht sich Spinoza gezwungen, auf seine Muttersprache zurückzugreifen.15 Spazierengehen heißt in jenem Spanisch, das die Sepharden sprechen, pasearse – sich promenieren, also den Spaziergang begreifen als ein Sich-spazieren-führen, ein Sich-gehen-lassen. In diesem Sinn ist der Spaziergang16 Robert Walsers ein Mittelwesen zwischen Tun und Nichttun, Aktivität und Passivität, Sein und Nicht-Sein. Der Spaziergang ist das messianische Paradigma, das Walsers Kreaturen der Menschheit als Erbe hinterlassen.«17

Die Prosa des Schweizers enthält entschieden mehr Formen des Gehens, Flanierens und Wanderns als die Werke Bernhards, und immer beinhaltet sie eine reinigende Geste: »Jeder Schritt ist ein Erleben, und in jedem Augenblick liegt es wie ein Ereignis«18. 13 Das Gehen gibt in seinen unterschiedlichen Varianten ein wesentliches Thema der Walserschen Prosa ab; dazu gehören sowohl Werke mit einem darauf bezogenen Titel oder einleitenden Satz, aber auch Texte, die das Gehen erst im weiteren Verlauf thematisieren. Eine wichtige, wenn auch nicht selbstverständliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die kleine Prosadichtung »An den Bruder« (in: Walser, Robert: Kleine Dichtungen, Zürich/ Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 171f.). 14 Z. B. in »Die Landschaft (I)«, wo es heißt: »Ich ging, und indem ich ging, legte ich mir die Frage vor, ob es nicht besser sei, mich umzudrehen und wieder heimzugehen. Aber ein unbestimmtes Etwas zog mich an, und ich verfolgte meinen Weg durch all die düstere Verhängtheit weiter« (in: Walser, Kleine Dichtungen. 1985, S. 82); Ähnliches liest man in »Das Kätzchen (I)«: »[…] während ich so heimwärts ging, hatte ich immer noch in Gedanken mit dem gelben und weißen Kätzchen zu tun« (ebd., S. 135). 15 Spinoza, Baruch de: Compendium grammatices linguae hebraeae, Kapitel 12; vgl. dazu Agamben, Giorgio: La potenza del pensiero. Saggi e conferenze. Vicenza: Neri Pozza 2010, S. 396–398. 16 Vgl. Walser, Robert: Der Spaziergang. Prosastücke und Kleine Prosa. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 5). 17 Agamben, Giorgio: Walsers philosophischer Spaziergang. (Zugriff am 06. 04. 2020). 18 Walser, Robert: Schwärmerei. In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 162.

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Spaziergehen ist für Walser und seine Protagonisten eine lebensspendende Gewohnheit, ähnlich wie es für Reger aus Bernhards »Alte Meister« die Ausflüge in das Kunsthistorische Museum oder zum Botschafter sind. Wie der Protagonist bekennt, habe ihn diese Gewohnheit nach dem Tod seiner Frau gerettet – nach ihrem plötzlichen Tod, denn: »Nur wenn wir einen Menschen mit einer so hemmungslosen Liebe lieben, […] glauben wir tatsächlich, er lebt ewig und in die Unendlichkeit hinein.«19 Ein von der Liebe schreibender Bernhard (obwohl ihr Vorhandensein im Roman ebenfalls diskutiert werden kann) ist eine Seltenheit, eigentlich eine Sensation. Außer in »Alte Meister« kommt es dazu noch in der sieben Sätze langen Kurzgeschichte »Zwei junge Leute« aus dem Jahr 1957, die zusammen mit Walsers kleiner Prosadichtung »Das Liebespaar« gelesen werden kann. Die polnische Übersetzung der ersteren findet man in dem von Zbigniew Janeczek illustrierten, zweisprachigen bibliophilen Band »Zdarzenia/Ereignisse«20 mit Bernhards insgesamt 31 kleinsten Prosastücken, die in ihrer Knappheit an Zeitungsnotizen und durch das Listige des jeweiligen Handlungsausgangs an Schicksalsstreiche erinnern. Das idyllische Bild beginnt bei Walser mit einem gemeinsamen Spaziergang – der »Tag war schön, wie ein Kind, das in der Wiege oder im Arme seiner Mutter liegt und lächelt«21, und endete mit einem Kuss in »einem kleinen, aber wunderbaren Wald«22, »der ihnen wie ein Liebesort erschien«23. Bernhards Text ist deutlich düsterer, allein schon wegen des Wortes »Finsternis«, das in seinem Schaffen eine wichtige Position einnimmt24 und bei Walser zuweilen ebenfalls auftaucht. (Bei den beiden Autoren wird es bewusst von dem Wort »Dunkelheit« unterschieden.) In seinem gestörten Idyll spricht Bernhard von einem Mädchen und einem jungen Mann, die aus einem fensterlosen Turm, einem »Vorhof der Finsternis« fliehen. Der Spaziergang des Liebespaares findet dagegen bei Walser zuerst in einer Welt »aus lauter Hellgrün und Hellblau und Hellgelb«25 statt, danach in einer an eine uralte Kirche erinnernden Waldstille, die keine Unruhe, sondern ein erhabenes Geheimnis in sich birgt. »Die Finsternis« findet sich bei 19 Bernhard, Thomas: Alte Meister. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 30. 20 Bernhard, Thomas: Zdarzenia/Die Ereignisse. Illustriert von Zbigniew Janeczek. Aus dem Deutschen von Sława Lisiecka. Łódz´ 1981. Zugänglich auf der Homepage von The Book Art Museum: (Zugriff am 15. 07. 2019). Einige Prosastücke aus diesem Band wurden auch in der Zeitschrift »Kwartalnik Artystyczny« abgedruckt: Bernhard, Thomas: Zdarzenia. Aus dem Deutschen von Sława Lisiecka. In: Kwartalnik Artystyczny, 2009, H. 3 (63), S. 54–60. 21 Walser, Robert: Das Liebespaar. In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 85. 22 Ebd., S. 86. 23 Ebd. 24 Vgl. das mit einem Zitat überschriebene Interview mit Thomas Bernhard – »Der Wald ist groß, die Finsternis auch« – von Andre Müller aus dem Juni 1979: . 25 Walser, Robert: Das Liebespaar. In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 85.

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Walser in einem anderen Text derselben 1914 herausgegebenen und mit dem einzigen Preis, den der Schriftsteller je erhalten hat,26 ausgezeichneten Sammlung (»Kleine Dichtungen«): Sein Titel lautet »Die Schneiderin«. Das Zimmer der Titelfigur »war so groß, die Stille, die in dem Zimmer herrschte, war so sonderbar, und die Finsternis so dick, geheimnisvoll und unergründlich«27, dass der jungen Frau »wenn sie ins Bett stieg, […] die ängstlichen Einbildungen ins Ohr [flüsterten], daß sie in einen Sarg hineinsteige«.28 Und in einer stillen Nacht kam der Tod tatsächlich »um sie zu küssen mit seinen fürchterlichen Küssen«.29 Im selben Band wäre noch das Prosastück »Die Handharfe« zu nennen, in dem sich der Erzähler an eine »finstere, sternenlose Nacht«30und an den in der Dunkelheit ertönenden Klang einer Handharfe erinnert. Bernhard bewegt sich in Walsers Nähe vor allem in »Frost«31 und in »Ereignisse« sowie in drei Geschichten mit dem gemeinsamen Titel »An der Baumgrenze« – hier spürt man am deutlichsten das Außergewöhnliche, das Fantastische, obwohl es im nur für Augenblicke weichenden Alltäglichen oder gar Gewöhnlichen verankert ist. Der schlichte Realismus wird in den Texten der beiden Schriftsteller meistens auf der Ebene der Sprache überwunden: bei Bernhard mittels Vergrößerungen, Wiederholungen und Widersprüche bzw. Paradoxien, bei Walser dagegen dank einer den Gesetzen der Vorstellungskraft und Synästhesie gehorchenden Sprache. Für die beiden Autoren spielte der Surrealismus eine bedeutende Rolle; bei Bernhard sieht man das in Gedichten, vor allem in dem Gedichtband »Unter dem Eisen des Mondes« und dem Prosagedichtband »Die Irren. Die Häftlinge«. Weder die Protagonisten Walsers noch diejenigen Bernhards passen in den gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen, dessen Grenze der lauernde Wahnsinn in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen bildet. Sie bewohnen allerdings auch nicht den Gegenpol, das vollkommen Absurde – sonst hätte alles, was sie machen und sagen, keinerlei Verbindung mit der Wirklichkeit und keinerlei über 26 Vgl. dazu Erläuterungen im Band: Walser, Robert: Mały krajobraz ze s´niegiem [Die kleine Schneelandschaft]. Aus dem Deutschen von Małgorzata Łukasiewicz. Izabelin: S´wiat Ksia˛z˙ki 2003, S. 347f. 27 Walser, Robert: Die Schneiderin. In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 124. 28 Ebd., S. 125. 29 Ebd. 30 Walser, Robert: Die Handharfe. In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 139. 31 Im Zusammenhang mit dem Thema »Gehen« und der Variantenhaftigkeit des Textes spielt der Umstand eine Rolle, dass »Frost« (Bernhards erster, im Mai 1963 veröffentlichter Roman) nicht in einem Zug vom Anfang bis zum Schluss, sondern erst nach zwei vorbereitenden Arbeitsschritten niedergeschrieben wurde: Vorangegangen waren ihm die Fragmente »Argumente eines Winterspaziergängers« (geschrieben zwischen Mai und Juni 1962) und »Leichtlebig« (entstanden zwischen Januar und Februar 1962); beide wurden nachträglich im Suhrkamp Verlag unter dem Titel »Argumente eines Winterspaziergängers. Zwei Fragmente zu ›Frost‹« (Berlin 2013) zusammen herausgegeben.

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das Studium des Einzelfalls hinausgehende reale Bedeutung. In Bernhards Texten fehlt es nicht an Kommentaren zur gesellschaftlich-politischen Situation Österreichs und Europas, meistens handelt es sich jedoch lediglich um Andeutungen und nicht um Kernthemen der Monologe, welche seine Protagonisten führen. In dem Schaffen Walsers, der aufgrund seiner Isolation in Heilanstalten zuweilen neutraler als die Schweiz selbst genannt wird, können konkrete Bezüge zu in-und ausländischen Ereignissen nicht so leicht gefunden werden – der These vom vollständigen Mangel an Stellungnahmen der Erzähler, Protagonisten und des Schriftstellers selbst kann jedoch nicht zugestimmt werden. Das Schaffen Walsers und Bernhards hängt auf besondere Art und Weise mit der Persönlichkeit der beiden Schriftsteller und/oder den von ihnen kreierten Selbstbildern zusammen: Bei Bernhard ist es seine radikale und kritische Haltung, bei Walser –der von ihm gewählte Wahnsinn und eine Art Zartheit. Die Werke enthalten diese Merkmale in der Materie des Textes selbst, in dessen Sprachlichkeit. In Walsers Märchenprosa »Das Ende der Welt«32 steht der Titelort bzw. das Titelereignis ( je nach Auslegung) am Ziel der Wanderung eines Kindes. Die Waise beschließt, ihn oder es zu finden, und macht sich auf den Weg (die Wanderung wird, wie sich hinterher herausstellt, mehrere Jahre dauern). Sie wandert einsam, fühlt sich jedoch sehr frei, und gelangt zum Schluss an einen weit entfernten Ort, in ein Bauernhaus mit dem Namen »Ende der Welt«. Man liest diesen Text, in dem der Aspekt der Unschuld durch die Gestalt des Kindes unterstrichen wird, oft ähnlich wie viele Werke der modernen Kinderliteratur, die ihren Idealrezipienten weder in einem Kind noch in einem Erwachsenen erblickt. 1980 wurde im Insel-Verlag das idyllische Bilderbuch unter dem Titel »Robert Walser, Das Ende der Welt. Gemalt von Walter Schmögner«33 veröffentlicht. Walsers poetische Geschichte endet also zum einen mit dem erwarteten Happy End – die Waise gewinnt freundliche Menschen und ein Zuhause, die Bauersfrau dagegen – eine Gehilfin oder vielleicht gar eine adoptierte Tochter. Zum anderen darf allerdings nicht vergessen werden, dass jenes »Ende der Welt« auch (zumindest gewissermaßen) der Freiheit ein Ende setzt: Es bedeutet einen Anschluss an die Gesellschaft, in der das System und das Prinzip der Unterwürfigkeit regieren. So hören sich in der Walserschen Prosa revolutionäre Töne an: wie ein leises Gespräch mit der gesellschaftlich-politischkulturellen Wirklichkeit. Das Bauernhaus, zu dem das Kind gelangt, steht in dem Prosastück für ein Wirtshaus: Es hat einen Namen, seine Tür steht dem Wanderer offen. In den Texten Walsers und Bernhards bedeutet das Wirtshaus oder die Schenke immer einen wichtigen Ort – aufgrund von Geschichten der Reisenden und der Gäste, 32 Walser, Robert: Das Ende der Welt. In: ders., Der Spaziergang. 1985, S. 151–154. 33 Ein analoges künstlerisches Projekt dieses österreichischen Malers und Zeichners stellt das Buch »Die Stadt. Ein Märchen« zu einem Text von Hermann Hesse dar (Frankfurt/Main 1977).

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der (relativ) kurzen und zugleich intensiven Verweildauer, aber auch wegen der Reise bzw. der Wanderung dorthin, wegen des Weges und der Umgebung. Die Figur der Bauersfrau, derjenigen der Wirtin verwandt, verkörpert in dem Text sowohl Fürsorglichkeit und Schutz als auch Herrschaft. Am »Ende der Welt« demonstriert ein erwachsener Mensch seine Macht, denn er verteilt gesellschaftliche und geschlechtsspezifische Rollen: Aus dem »Kind« wird eine »Gehilfin« und »Tochter«, also auch eine Frau. Obgleich hier nur einige Gemeinsamkeiten zwischen dem Schaffen Robert Walsers und Thomas Bernhards aufgezeigt werden konnten, sind die literarischen Werke der beiden (und auch – als Hintergrund – ihre Biographien) meines Erachtens in einem viel stärkeren Grad miteinander verwandt. Beide betrachteten sie ihre Texte – es sind hauptsächlich kurze Prosastücke – als Teile eines zusammenhängenden Ganzen, in dem Motive und Themen wiederkehren. Gemeinsam ist ihnen außerdem auch eine nicht nur in biographischer Hinsicht bedeutsame Philosophie der Krankheit, die »gestörte Idylle«, oder das bereits erwähnte Wirtshaus, in dem die Protagonisten häufig einkehren. Diese Themen tauchen u. a. in drei kleinen Prosatexten Bernhards auf, die 1969 in dem Band »An der Baumgrenze« erschienen und denen der Autor ein Motto aus Walsers »Spaziergang (I)« vorangestellt hatte: »Das Land war wie versunken in ein tiefes, musikalisches Denken.«34 Bernhards Interesse an Walser hinterließ seine Spuren auch in dessen Briefwechsel mit dem Verleger Siegfried Unseld, der vermittels der Verlagshäuser Suhrkamp und Insel35 eine Art Bindeglied zwischen dem Österreicher und dem Schweizer darstellte. Beide waren sie, wie ich meine, Experten der Lesekunst an sich – sie parallel zu lesen erzeugt, so scheint es, keine Unklarheiten oder Schwindelgefühle, sondern bereichert die Lektüre und trägt auf wertvolle Art und Weise zur Erforschung der Werke bei.

34 Walser, Robert: Spaziergang (I). In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 133. Zu Bernhards Band vgl. meinen Aufsatz »Granica drzew. O les´nych dos´wiadczeniach granicznych w opowiadaniu ›An der Baumgrenze‹ Thomasa Bernharda«, S. 127–144, . 35 Die Verlagsgeschichte begann mit der 1899 gegründeten Zeitschrift »Die Insel«; zu ihren ersten Autoren zählten u. a. Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Robert Walser. 1901 gründete dann Alfred Walter Heymelden Verlag mit Sitz in Leipzig. Unter den ersten von ihm herausgegebenen Veröffentlichungen ist der 1904 erschienene Band Walsers mit dem Titel »Fritz Kochers Aufsätze« – das erste Buch des Schweizers überhaupt. 1963 wurde der Insel-Verlag von Suhrkamp mit Siegfried Unseld als Verleger übernommen.

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Literaturverzeichnis Primärliteratur Bernhard, Thomas, Alte Meister, Frankfurt a. Main 1985. Bernhard, Thomas, Amras, Frankfurt a. Main 2003. Bernhard, Thomas, Argumente eines Winterspaziergängers. Zwei Fragmente zu »Frost«, Berlin 2013. Bernhard, Thomas, An der Baumgrenze, Salzburg 1969. Bernhard, Thomas, Frost, Frankfurt a. Main 2003. Bernhard, Thomas, Gehen, Frankfurt a. Main 1971. Bernhard, Thomas, Auf der Erde und in der Hölle, Salzburg 1957. Bernhard, Thomas, Zdarzenia, aus dem Deutschen von S. Lisiecka, in: »Kwartalnik Artystyczny« 2009, Nr. 3 (63), S. 54–60. Bernhard, Thomas, Zdarzenia/Die Ereignisse, illustriert von Z. Janeczek, übersetzt von S. Lisiecka, Łódz´ 1981. Walser, Robert, Das Ende der Welt. Gemalt von Walter Schmögner, Frankfurt a. M. 1980. Walser, Robert, Geschwister Tanner, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Neunter Band). Walser, Robert, Jakob von Gunten, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Elfter Band). Walser, Robert, Kleine Dichtungen, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Vierter Band). Walser, Robert, Poetenleben, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Sechster Band). Walser, Robert, Der Spaziergang, Prosastücke und Kleine Prosa, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Fünfter Band).

Sekundärliteratur Agamben, Giorgio, Walsers philosophischer Spaziergang. Kurzvortrag auf der Podiumsdiskussion in der Akademie der Künste, Berlin, am 17. 04. 2005, https://www.mikrogram me.de/e945/e935/. Baranowska, Małgorzata, Proteusz na przechadzce [Prometheus bei einem Spaziergang], in: »Res Publica Nowa« 2004, Nr. 2, S. 132–137. Benjamin, Walter, Robert Walser, in: ders., Aufsätze, Essays, Vorträge, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main1991, S. 324–328 (= Gesammelte Schriften II.1). Der Wald ist groß, die Finsternis auch. Ein Gespräch mit Thomas Bernhard. Von Andre Müller, in: »Die Zeit« vom 29. 06. 1979, https://www.zeit.de/1979/27/der-wald-ist-grossdie-finsternis-auch (Zugriff am 15. 07. 2019). Frederick, Samuel, Narratives Unsettled: Digression in Robert Walser, Thomas Bernhard, and Adalbert Stifter, Evanston 2012.

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Hamm, Peter, Sieger im Scheitern – Fernando Pessoa und Robert Walser, zwei entfernte Verwandte, in: ders., ›Algebra der Geheimnisse‹. Ein Lesebuch. Mit Beiträgen von G.R. Lind, Octavio Paz, Peter Hamm und Georges Güntert, Frankfurt am Main 1990. Jakubowicz-Prokop, Zofia, Ruchome słowa Roberta Walsera: analiza zwia˛zków ruchu, kroków, materialnos´ci i słów w »Mikrogramach« [Robert Walsers bewegliche Worte. Eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Bewegung, Schritt, Materie und Wort in den Mikrogrammen], in: »Teksty Drugie« 2017, Nr. 4, S. 187–202. Kon´czal, Katarzyna, Sygnatury Sebalda. Zwierze˛ta – Widma – Ruiny [Die Signaturen Sebalds. Tiere – Geister – Ruinen], Diss. Poznan´ 2017, https://repozytorium.amu.edu.pl/ bitstream/10593/19273/1/KO%C5%83CZAL_KATARZYNA-PhD-18.05-TOPRINT.pdf (Zugriff am 15. 07. 2019). Kurkiewicz, Juliusz, Arcydzieło Sebalda [Sebalds Meisterwerk], in: »Zeszyty Literackie« 2005, Nr. 91, S. 174–177. Łukasiewicz, Małgorzata, My tylko filozofujemy [Wir philosophieren bloß], in: »Konteksty« 2014, Nr. 3–4, S. 76–80. Łukasiewicz, Małgorzata, Robert Walser, Warszawa 1990. Majcherek, Janusz, Thomas Bernhard: powtórzenia tych samych powtórzen´ [Thomas Bernhard: Wiederholungen derselben Wiederholungen], in: »Dialog« 1983, Nr. 8, S. 123–132. Ludwig Wittgenstein: Ein Erinnerungsbuch / Norman Malcolm, mit einer biographischen Skizze von Georg Henrik von Wright, aus dem Englischen von C. Frank, München 1960. Niccolini, Elisabetta, Der Spaziergang des Schriftstellers. »Lenz« von Georg Büchner, »Der Spaziergang« von Robert Walser, »Gehen« von Thomas Bernhard, Stuttgart und Weimar 2000. Pasic, Ana-Marija/Polmans, Sebastian, Der Spaziergang in der Literatur – Exemplarische Untersuchung anhand der Texte von Robert Walser, »Der Spaziergang«, und Thomas Bernhard, »Gehen«, München 2008. W. G. Sebald, Le Promeneur Solitaire. Zur Erinnerung an Robert Walser, in: ders., Logis in einem Landhaus, München, Wien 1998, S. 127–168. Sobolewska, Justyna, [Buchbesprechung] Dziwne miasto Roberta Walsera, in: »Gazeta Wyborcza« vom 15. 01. 2002, http://wyborcza.pl/1,75517,645736.html (Zugriff am 19. 12. 2019). Szyman´ska, Katarzyna, Granica drzew. O les´nych dos´wiadczeniach granicznych w opowiadaniu An der Baumgrenze Thomasa Bernharda, [Die Baumgrenze. Zu Grenzerfahrungen im Wald in Thomas Bernhards Erzählung An der Baumgrenze], in: »Czytanie Literatury« 2017, Nr. 6, S. 127–144. Trudno o polskiego Tomasza Manna, z Erwinem Axerem rozmawiał Michał Smolis[Es ist nicht leicht, einen polnischen Thomas Mann zu finden. Michał Smolis spricht mit Erwin Axer], in: »Dziennik.pl« vom 13. 10. 2007, http://kultura.dziennik.pl/teatr/artykuly/2148 28,trudno-o-polskiego-tomasza-manna.html (Zugriff am 15. 07. 2019). Walser, Robert, Briefe 1–3. 1897–1956, hrsg. von P. Stocker, B. Echte, Berlin 2018.

Natalia Chwaja (Uniwersytet Pedagogiczny) / Jakub Kornhauser (Uniwersytet Jagiellon´ski)

»Ich kann nur in den untern Regionen atmen« – Claudio Magris und Robert Walser

Zu dem wissenschaftlichen Werk von Claudio Magris, einem italienischen Schriftsteller, Essayisten und Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Triest, gehören neben einer umfangreichen Studie zum habsburgischen Mythos in der modernen österreichischen Literatur1 und einer Monographie über das Schaffen Joseph Roths2 auch der Text »Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur«3 sowie der literaturkritische Band »Das Alphabet der Welt« mit dem Essay »Die Freuden des Deklassiertseins«4. Das Leitmotiv der beiden Texte, die dem Schaffen deutschsprachiger Schriftsteller, aber auch Henrik Ibsen oder Italo Svevo gewidmet sind, ist in der Krise des Subjekts an der Schwelle der Moderne zu sehen – einer Krise, die nicht allein den post-kartesianischen Glauben an das Vernunftmäßige des menschlichen Daseins anzweifelte, sondern vor allem die Homogenität und Souveränität des Ichs in Frage stellte. Seitdem sollte das unvollständige, beeinträchtigte Subjekt in einem System von Abhängigkeiten im Vordergrund stehen – und Sigmund Freuds Psychoanalyse, die Konzepte von Henri Bergson und Gaston Bachelard oder formalistische Theorien5 werden dies bekräftigen. Der von Magris zitierte und kommentierte Friedrich 1 Vgl. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Aus dem Italienischen von Madeleine von Pásztory. Salzburg: Otto Müller 1966. 2 Vgl. Magris, Claudio: Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Aus dem Italienischen von Jutta Prasse. Wien: Europa 1974. 3 Vgl. Magris, Claudio: Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur. Aus dem Italienischen von Christine Wolter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987. 4 Vgl. Magris, Claudio: Die Freuden des Deklassiertseins. In: ders.: Das Alphabet der Welt. Von Büchern und Menschen. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. München: Hanser 2011, S. 107–127. 5 An dieser Stelle sollte Viktor Sˇklovskijs »Literatur und Kinematograph« aus dem Jahr 1923 zitiert werden: »Wir leben in einer armen, abgeschlossenen Welt. Wir fühlen die Welt nicht, in der wir leben, wie wir die Kleidung nicht fühlen, die wir tragen. […] Wir leben wie mit Gummi überzogen.« Sˇklovskij, Viktor: Literatur und Kinematograph. In: Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Zur Literaturtheorie und Methodologie in der Sowjetunion, CSSR, Polen und Jugoslawien. Hrsg. von Aleksander Flaker/Viktor Zˇmegac. Kronberg/Taunus: Scriptor 1974, S. 27.

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Nietzsche schreibt in »Der Fall Wagner«, »dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt«6 und der Totalität beraubt sei7, und richtet gleichzeitig seine Aufmerksamkeit auf das Fragmentarische des menschlichen In-der-Welt-Seins und der in lose Teile zerfallenen Welt selbst. Zerfallensein kennzeichnet auch das Subjekt, das nicht in der Lage ist, aus der zufallsgesteuerten Wahrnehmung der Wirklichkeit resultierende identitätsbezogene Dilemmata zusammenzuführen. Für einen der rücksichtslosesten, obgleich selbstverständlich nicht einzigen Enthüller einer wesens- und bedeutungslosen Wirklichkeit hält Magris Robert Musil, der in »Der Mann ohne Eigenschaften« Österreich als ein Staatsgebilde zeichnet, das im luftleeren Raum und ohne Mittelpunkt einer zunehmenden Unbestimmtheit entgegentreibt. Musils Protagonisten suchen nach symbolischen Überbleibseln einer ihnen bekannten Welt, nach »Totalität« oder »Zentrum«, welche die Wirklichkeit in verständliche Strukturen organisieren würden. Stattdessen reiben sie sich an Nietzsches »Anarchie der Atome«8 (so Musil in seinen Tagebüchern in Anknüpfung an Nietzsche), indem sie dem »chaotischen Wirrwarr«9 autonomer Teile, frei von jedweder übergeordneten Idee oder Wertehierarchie, ins Gesicht blicken. Angesicht dessen verliert das Individuum ebenfalls seine bisherige Bedeutung, seine bedeutungsverleihende und benennende Kraft, und ähnelt nun dem anonymen, verstreuten und zusammenhanglosen Areal einer Metropolie.10 »Das Individuum wird sich allmählich bewusst – so Magris in dem Essay »Die Freuden des Deklassiertseins« – dass es nicht eine kompakte Einheit ist, sondern eine zentrifugale Vielheit […], dass es in einer Welt lebt, die es ununterbrochen Reizen aussetzt und unaufhörlich mit Botschaften und Aufforderungen bedrängt, auch unterschwellig, ohne dass man es bemerkt.«11

Bei den Autorinnen und Autoren, die Magris bespricht, sucht er demzufolge nach Spuren von Reaktionen auf ein Dasein, das als eine »Reihe von Belästigungen, quälenden Gedanken, Trieben«12 empfunden wird. So bemerkt er in Elias Canettis »Masse und Macht« einen autodestruktiven Reflex der Selbstverdinglichung13, bei Jens Peter Jacobsen eine Vorstellung vom Leben als »Poten-

6 Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin/New York: De Gruyter 1967f.. Bd. 6, S. 27; Magris, Claudio: Großer Stil und Totalität. In: ders., Der Ring der Clarisse. 1987, S. 7. 7 Magris, Großer Stil und Totalität. 1987, S. 7. 8 Nietzsche, Der Fall Wagner. 1967f., S. 27. 9 Magris, Großer Stil und Totalität. 1987, S. 9. 10 Ebd., S. 13. 11 Magris, Die Freuden des Deklassiertseins. 2011, S. 115. 12 Ebd., S. 116. 13 Ebd., S. 118.

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tialität, die keine Verwirklichung kennt«14. Bei Italo Svevo, einem Landsmann und Klassiker der Triester Literatur, arbeitet Magris die Strategie einer »Literaturisierung« der Existenz heraus: Das Niederschreiben des Lebens und auch das spätere Lesen bieten Schutz vor dem »grauenvollen wirklichen Leben«15. Für Magris spielen in diesem Zusammenhang Robert Walsers Prosa und natürlich ihr Autor selbst eine Schlüsselrolle; die in den Romanen des Schweizers behandelte Problematik wird gewissermaßen zur Synekdoche des Nachdenkens über die Krise des Subjekts. Den Walserschen Protagonisten diagnostiziert Magris ein Bedürfnis nach »den unteren Regionen«, wie es im Titel des Walser gewidmeten Kapitels im Band »Der Ring der Clarisse« heißt.16 Zu dieser Metapher verhilft Magris die folgende Aussage von Jakob von Gunten, der Titelfigur in Walsers 1909 erschienenem Roman: »Klein sein und bleiben. Und höbe und trüge mich eine Hand, ein Umstand, eine Welle bis hinauf, wo Macht und Einfluß gebieten, ich würde die Verhältnisse, die mich bevorzugten, zerschlagen, und mich selber würde ich hinabwerfen ins niedrige, nichtssagende Dunkel. Ich kann nur in den untern Regionen atmen.«17

Magris zufolge schrumpfen die Gestalten in Walsers Mikrowelt im Übrigen bis zum völligen Verschwinden, sie zerstreuen sich in der flüssigen Struktur der Dinge, ohne Anspruch auf individuelles Bewusstsein, Charakter, Würde oder rationalen Einblick in die eigene Subjektivität zu erheben. Der paradoxe Gewinn einer derart vielschichtigen Auflösung kann darin liegen, dass sich das Leben »nur in Ungreifbarkeit retten kann«18, dass man ein Leben, das »mild und wild zugleich« ist, und ein flüchtiges, aber doch eindringliches Glück wie die Vorstellung von »etwas Süße[m] […], etwas Lose[m], Lustige[m], Flatterhafte[m]«19 wiedergewinne, wie es Walser in dem Prosastück »Das Traumgesicht« aus dem Zyklus »Kleine Dichtungen« beschreibt. In Walsers »unteren Regionen« begegnen sich, gehen aneinander vorbei oder werden zuweilen eins zwei Arten der »Lebensdeserteure«: der Diener (Angestellter, Verkäufer, Gehilfe) und der Streuner (Spaziergänger, Beobachter, Flaneur). »Ein richtiger Diener«, lesen wir in der Prosa »Aus Tobolds Leben«, »ist still, schweigend, fleißig und bescheiden, sagt höflich gute Nacht und guten Tag;

14 Ebd., S. 117. 15 Ebd., S. 126. 16 Magris, Claudio: In den unteren Regionen. Robert Walser. In: ders., Der Ring der Clarisse. 1987, S. 221–239. 17 Walser, Robert: Jakob von Gunten. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 145 (= Sämtliche Werke. Bd. 11). 18 Magris, In den unteren Regionen. 1987, S. 223. 19 Die beiden Zitate in: Walser, Robert: Das Traumgesicht. In: ders.: Kleine Dichtungen. Zürich/ Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 26 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 4).

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aber es ist nichts in ihm, das nach sonderbaren Erlebnissen trachtet.«20 Joseph Marti denkt: »Demütig werden […], wie ist das für so manchen der letzte Zufluchtsort«;21 in Toblers Tyrannei erblickt er Güte und Herzlichkeit (»War der Herr spaßig aufgelegt, so verwandelte man sich augenblicklich in einen Pudel«22) und bekennt: »Das irgendwo Gefesselt- und Gebundensein sei zuweilen wärmer und reicher voll zärtlicher Heimlichkeiten als die offene, Tür und Fenster der ganzen Welt offenstehen-lassende Freiheit«.23 Unterwürfigkeit gegenüber einer Autorität (dem Kaiser, dem Imperiumsträger, dem direkten Vorgesetzten, aber auch der hyperbolisierten Ordnung) bedeutet daher Befreiung von der aus Verantwortung resultierenden Angst, von der Qualeiner aktiven Teilnahme an der abstoßenden Machtausübung. Walsers Protagonist bemüht sich, so Magris, ein Niemand, ein Objekt, ein Gegenstand zu sein, um der unmöglichen Verpflichtung zur Verdinglichung zu entgehen.24 Einige Gedanken Joseph Martis drücken jenen – paradoxerweise begehrten – Zustand der Vergegenständlichung gut aus: »Er schien mit seiner ganzen Persönlichkeit nur ein Zipfel, ein flüchtiges Anhängsel zu sein, ein nur einstweilen geschlungener Knoten«25, »da war er nur ein Knopf, der nur lose hing«26, seine Existenz »nur ein provisorischer Rock, ein nicht recht passender Anzug«.27 Der Walsers Figuren charakterisierende Hang zur Vergegenständlichung und Selbstvergegenständlichung ist dabei kaum eindeutig, was von Magris höchstens am Rande gestreift wird. Einerseits zielt er tatsächlich auf Entmenschlichung des Subjekts und dessen unrealistischer Bestrebungen, indem diesem eine sichere Funktion als Rädchen im gut geölten Getriebe zugewiesen wird. Andererseits wird dadurch eine Verbindung zwischen Gegenständen und Affekten hergestellt, denn alle positiven Gedanken und Gefühle des Subjekts werden darauf projiziert. Die für die Dinge empfundene Zärtlichkeit kommt sowohl in ihren verniedlichenden Beschreibungen als auch in der beispielsweise in Walsers Kurzprosa wiederkehrenden rhetorischen Figur der Belebung zum Ausdruck. Damit erscheinen sie gleichzeitig als notwendiges Ventil der Entropie und – umgekehrt – als Indiz für die Zerstreutheit und das Zerfallene der Welt. »Lieber, kleiner Knopf«, heißt es in der »Rede an einen Knopf«,

20 Walser, Robert: Aus Tobolds Leben. In: ders.: Poetenleben. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 88 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 6). 21 Walser, Robert: Der Gehülfe. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 131 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 10). 22 Ebd., S. 77. 23 Ebd., S. 128. 24 Vgl. Magris, In den unteren Regionen. 1987, S. 229. 25 Walser, Der Gehülfe. 1985, S. 22. 26 Ebd., S. 23. 27 Ebd.

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»wie viel Dank und gutes Zeugnis ist dir der schuldig, dem du nun schon manche Jahre, ich glaube, daß es über sieben sind, treulich, fleißig und ausharrlich gedient, und den du bei aller Vergeßlichkeit und Nichtbeachtung, die er sich dir gegenüber zuschulden kommen ließ, nie daran gemahnt hast, daß er dich einmal ein bisschen loben soll. […] Lieber! Vortrefflicher! Dich sollten Leute als Muster nehmen, die aus lauter Sucht nach immerwiederkehrendem Beifall krank sind, die vor Gram, Unlust und Gekränktheit nur gleich hinsinken und sterben möchten, wenn sie nicht von jedermanns Gewogenheit und hoher Meinung immerfort gehätschelt, gefächelt und liebkost werden.«28

An dieser Stelle kommt es zu etwas Paradoxem, interessant und gewissermaßen vorhersehbar zugleich: Die Auslöschung einzelner individualisierender Wesenszüge durch die systematische Verringerung ihrer Rolle und Bedeutung führt zur Hervorhebung, Benennung und (das ist besonders frappierend) zur Intimisierung dieser Züge. Indem man unscheinbaren und nostalgiebehafteten Gegenständen eine abstrakte Identität zuschreibt, versucht man dem allgegenwärtigen Chaos ein Gegenmittel entgegenzuhalten. Das Provisorische derartiger »Persönlichkeitsnippes« steckt nicht allein das (Handlungs- und Erwartungs-) Horizont im Dasein des fragmentarischen und instabilen Subjekts ab, sondern drückt auch seine Sehnsucht nach einem – fassbaren, materiellen, letztlich taktilen – Stützpunkt aus. Je kleiner, je enger der Wirkungskreis eines Menschen ist, desto weniger potentielle Enttäuschungen und Verwirrungen drohen ihm aufgrund seiner Unangepasstheit. In Walsers kleiner Prosa findet man Formen des gleichzeitigen Ausharrens in der Entfremdung und eines versuchten Ausbruchs daraus dank Naturbetrachtungen: Während seiner einsamen Spaziergänge entledigt sich der Protagonist fernab des Alltags der notwendigen Beteiligung am routinemäßigen Empfinden seiner Unangepasstheit, indem er sich einer lyrischen Bewunderung für Berge, Täler, Bäche und Bäume widmet. Mit dem Fluchtcharakter des Spaziergangs, der durch die Flüchtigkeit der Eindrücke und das Sich-Verlieren in einem kunstvollen, nicht selten scheinbar zu expressiven, in dem lauernden Rückkehrzwang begründeten Besingen der Umgebung hervorgehoben wird, geht seine therapeutische Dimension einher. Denn die Konkretisierung des betrachteten Gegenstandes (sei er auch noch so geringfügig und banal – ein Knopf, ein Baum) fördert eine zeitweilige Identifizierung mit ihm, eine Aufwertung der eigenen »gegenständlichen Existenz«. Demzufolge kompensiert eine solche Überhöhung einer einzelnen Sache, die über andere ähnliche Exemplare ihrer Art erhoben wird, die für die nötige Balance unabdingbare Unterwürfigkeit im Alltag. Der kurze Augenblick einer metaphysischen Entzückung entspricht außerdem dessen knapper Beschreibung, die selbstverständlich auf die Traumdimension einer derartigen Begegnung mit der Materie hindeutet. 28 Walser, Robert: Rede an einen Knopf. In: ders., Poetenleben. 1985, S. 108f.

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Der Blick des Walserschen Spaziergängers »in den unteren Regionen« hat anders als das Schauen eingebildeter Flaneure in den europäischen Großstädten nichts Egozentrisches – er verschmilzt mit dem Äußeren. Magris zufolge kommt der Spaziergang bei dem Schweizer Schriftsteller einer Wahrnehmungsart gleich, in der die Welt in ihren fragmentarischen, instabilen und losen Teilen erfahren wird. Es handelt sich um einen »zusammenhanglosen Katalog von Epiphanien«29, die der Spaziergänger mit seinem Blick zu durchdringen sucht: »[…] ging ich munter weiter, und indem ich so marschierte, kam es mir vor, als bewege sich die ganze runde Welt leicht mit mir fort. Alles schien mit dem Wanderer zu wandern: Wiesen, Felder, Wälder, Äcker, Berge und schließlich noch die Landstraße selber.«30 Die aus dieser Empfindung resultierende Freude und Befriedigung ist, so Magris, auf das Gefühl des »Verharrens in der Gegenwart« zurückzuführen – einer strukturlosen und dadurch nicht bedrängenden, unbestimmten und bedeutungsfreien Gegenwart. »Ich will keine Zukunft, ich will eine Gegenwart haben. Das erscheint mir wertvoller«31, bekennt Simon Tanner nach seiner Entlassung. Der Spaziergang bei Walser erfüllt das Bedürfnis nach einer aus der Zeit als System gefallenen Dauer, nach der Befreiung vom Schema einer Individualbiographie, nach einem formund definitionslosen Erleben: »Am schönsten ist es, wenn man scheinbar das Schöne gar nicht empfindet und nur so ist wie anderes auch.«32 Verzicht, Unterordnung, aber auch Ordnung (Magris nimmt dabei z. B. auf die Szene Bezug, in der Joseph Marti den bescheidenen Inhalt seines Koffers planvoll ordnet) stellen allerdings nicht nur ein sicheres Refugium und eine Art Flucht von frustrierenden Ansprüchen und Erwartungen dar, sondern bedeuten gleichermaßen eine subversive Wirklichkeitsdiagnose mit nihilistischer Aussage. Obgleich das zerstreute Bewusstsein des Angestellten nur ein »einstweilen geschlungener Knoten« ist, entwirft das Unbewusste ähnliche Visionen wie in dem Prosastück »Der Traum (II)«: »Mir war, als sei ich im Begriff, in dem Meer der Befremdung zu ertrinken. Freundschaft, Liebe und Wärme waren verwandelt in Haß, Verrat und Tücke, und das Mitempfinden schien gestorben seit tausend Jahren oder schien in unendliche Entfernungen gestoßen. Eine Klage wagte ich nicht zu äußern. Ich hatte zu keinem, zu keinem dieser unverständlichen Menschen ein Vertrauen. Jeder hatte seine strenge, enge, stumpfe, wohlabgemessene Beschäftigung, und darüber hinaus stierte er wie in eine

29 Magris, In den unteren Regionen. 1987, S. 232. 30 Walser, Robert: Wanderung. In: ders., Poetenleben. 1985, S. 7. 31 Walser, Robert: Geschwister Tanner. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 44 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 9). 32 Walser, Robert: Der Park. In: ders.: Geschichten. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 40 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 2).

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grenzenlose Leere. […] Tot, wie sie waren, setzten sie nur Tote voraus. Endlich erwachte ich aus all dem Hoffnungslosen. O wie freute ich mich, daß es nur ein Traum war.«33

Die größte Schlagkraft solcher Bilder sieht Magris überraschenderweise in Walsers traditionell und linear erzähltem Roman »Der Gehülfe«. In seiner dezenten Treue gegenüber den Konventionen spielt dieser mit in Misskredit geratenen Ansprüchen auf »Totalität« oder »Ganzheitlichkeit« und verspottet verkümmerte Formeln narrativer Kommunikation bzw. der Kommunikation schlechthin. Das scheinbare Glatte und Einfache der Erzählung, der Verzicht auf Parabeln zugunsten eines zahmen, gleichsam »defensiven« Realismus verleiht einzelnen Schnappschüssen des aufkeimenden Schreckens zusätzliche Schärfe. Das geschieht beispielsweise in der Szene des Bootsausflugs, als der See der Familie Tobler für kurze Zeit nicht mehr den Anblick einer freundlichen, wohlbekannten Wasseroberfläche bietet, sondern die Ausflügler wie ein schweigender, unheilverkündender Abgrund umtost. »Steige, hebe dich, Tiefe! Ja, sie steigt aus der Wasserfläche singend empor und macht einen neuen, großen See aus dem Raum zwischen Himmel und See. Sie hat keine Gestalt, und dafür, was sie darstellt, gibt es kein Auge. Auch singt sie, aber in Tönen, die kein Ohr zu hören vermag. Sie streckt ihre feuchten, langen Hände aus, aber es gibt keine Hand, die ihr die Hand zu reichen vermöchte. Zu beiden Seiten des nächtlichen Schiffes sträubt sie sich hoch empor, aber kein irgendwie vorhandenes Wissen weiß das. Kein Auge sieht in das Auge der Tiefe. Das Wasser verliert sich, der gläserne Abgrund tut sich auf, und das Schiff scheint jetzt unter dem Wasser ruhig und musizierend und sicher fortzuschwimmen.«34

Magris, der als Prosaautor 1984 debütierte, also zeitgleich mit der Veröffentlichung des hier mehrmals angeführten Bandes »Der Ring der Clarisse«, ist vor allem für seine fiktional-essayistischen literarischen Berichte von Reisen durch Mitteleuropa bekannt (vgl. »Donau. Biographie eines Flusses«, 1986 erschienen und in viele Sprachen übersetzt). Man kennt auch die nostalgischen Skizzen über den schwer greifbaren genius loci seiner heimatlichen Gegend um Triest, »die Papierstadt«, welche aus palimpsestartig geschichteten urbanen Erzählungen entsteht und von der Vielzahl der Darstellungen verwischt wird (»Die Welt en gros und en détail« wurde im Original 1997 herausgegeben und erhielt den angesehenen Preis Premio Strega). Sowohl »Donau«, als auch »Die Welt en gros und en détail« zeichnen sich durch epische Breite, Belesenheit im Erzählstil mit seinem dicht gewebten Netz literarischer Bezüge und Dominanz des intellektuellen Diskurses im Vergleich zu erzählerischen oder dichterischen Passagen aus. Einen Nebenstrang machen in Magris’ Werk dagegen kleine, bruchstückhafte

33 Walser, Robert: Der Traum (II). In: ders., Kleine Dichtungen. 1985, S. 107. 34 Walser, Der Gehülfe. 1985, S. 53f.

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und verstreute Prosastücke mit einer völlig unterschiedlichen Poetik aus35 (publiziert in »Corriere della Sera«, aber auch in kleineren lokalen Zeitschriften) – »Produkte der Schlaflosigkeit« und eines »nächtlichen Schreibens«, wie es der Autor selbst bezeichnet.36 Es handelt sich dabei vorwiegend um (»unvollständige« und, so die Literaturkritiker, »unvollkommene«37) Mikrobiographien anonymer oder quasi-anonymer Gestalten, um skizzenhafte Porträts von Nebenfiguren, von nomadischen und illegalen »Stützen« für überragende Persönlichkeiten (wie zum Beispiel Goethes Sekretär Stadelmann oder Enrico, ein nicht näher bekannter Freund des italienischen Philosophen Carlo Michelstaedter). Magris Bekenntnis lautet: »Ich ziehe Statisten denjenigen vor, welche die Hauptrollen spielen«.38 »Der Pförtner«39 aus dem Jahr 1994 hat in diesem Zusammenhang einen in vielerlei Hinsicht sinnbildlichen Charakter, stellt er doch die Geschichte des freiwilligen Verschwindens eines Subjektes dar, der sich nicht mehr für das Leben interessiert. Ein alternder hoher Beamter in Triest beginnt in dem bis dahin von ihm geleiteten Immobilienunternehmen als Pförtner zu arbeiten. Auf seinem täglichen Weg zur Arbeit wählt er absichtlich Straßen, die parallel zu der ihn beunruhigenden übermäßigen Weite des Meeres verlaufen und diese so vor ihm hinter den Häuserreihen verstecken. Bei der neuen Tätigkeit unterwirft er sich in aller Ruhe einer Art Vergegenständlichung – er beginnt, einem dekorativen Gummibaum zu ähneln, und wartet tagelang auf den Briefträger. Interessant ist der Triester Kontext der Erzählung: Ein ehemaliger habsburgischer Hafen an der Peripherie der Zivilisation und somit ein Brennpunkt von Identitätskrisen wird von Magris oft als ein Phantasma im »Nirgendwo« beschrieben, als Zufluchtsort für Pechvögel und Nomaden, als Wartesaal in der Leere einer monotonen Kaffeehaus- oder Büroexistenz. Das Triest des Claudio Magris ist sozusagen eine untere Region par excellence, in der Menschen auf der Suche nach einem vorübergehenden Trost sanft dahindriften. »Die Ausstellung«40, ein kurzer dramatischer Text von Magris, wurde als Libretto für eine Melodie des Triester Komponisten Fabio Nieder41 verfasst und liefert gleichsam die Vivisektion eines Intellektuellen in den »unteren Regionen«, 35 Magris, Claudio: Głosy. Monologi [Stimmen. Monologe]. Übersetzt von Joanna Ugniewska. Warszawa: PIW 2010. 36 Ebd., S. 7. 37 Pellegrini, Ernestina: Epica sull’acqua. L’opera letteraria di Claudio Magris. Bergamo: Moretti & Vitali 1997, S. 172. 38 Magris, Głosy. 2010, S. 20. 39 Magris, Claudio: La portineria [Der Pförtner]. In: Tra le rughe. Storie di nonni che si fanno ricordare. Trieste: Lint 1995. 40 Magris, Claudio: Die Ausstellung. Aus dem Italienischen von Hanno Helbling. München/ Wien: Hanser 2004. 41 Pellegrini, Epica sull’acqua. 1997, S. 245.

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einer aufgrund ihres inneren Selbstzerstörungsimpulses unwiederbringlich zerfallenen Persönlichkeit. Zum Protagonisten wurde der in Wien geborene Triester Maler Vito Timmel gewählt, den mit Robert Walser wichtige biographische Gemeinsamkeiten verbinden – ein im Hinblick auf unser Thema durchaus bemerkenswerter Umstand. Beide gehören derselben Generation an (der 1886 geborene Timmel ist nur unwesentlich jünger als Walser) und vor allem erleiden beide an ihrem Lebensende eine psychische Krise. Timmel stirbt 1949 in der Triester psychiatrischen Klinik und hinterlässt das erst viel später veröffentlichte Notizbuch »Il Magico Taccuino« – bruchstückhafte Aufzeichnungen eines psychotischen Deliriums in Gestalt aufeinanderfolgender Bilder und Erinnerungen, deren Zufälligkeit und Zerfallensein den Geisteszustand des Schreibenden widerspiegeln. In »Die Ausstellung« legt Magris eine Rekonstruktion der Geschichte Timmels vor, indem er die chaotische Struktur seines Notizbuches nachahmt. Zu Wort kommen dabei Chöre lebender und toter Menschen: Freunde des Künstlers, Krankenpfleger, Mitpatienten, auch der Maler selbst, der an dem Spektakel als Gast aus dem Jenseits teilnimmt. Timmels Figur entspricht zwar dem historischen Vorbild und die Handlung stützt sich auf Episoden aus dem Leben des Künstlers sowie auf seine Aufzeichnungen, das Werk hat aber trotzdem einen Emblemcharakter: Entworfen wurde eine existentielle Haltung, die in ihren Einzelheiten auf überraschende Art und Weise derjenigen Walsers ähnelt und in beabsichtigter »Selbstauslöschung« besteht. In Timmels Monologen betont Magris dieselben defensiven Überlebensstrategien, die er den Walserschen Protagonisten in ihren »niederen Regionen« attestiert. Als eine idée fixe des Malers wird das Linderung und Vergessenheit bringende Ablegen der eigenen Subjektivität geschildert: »Abdanken, ja. Tausend Tage in San Giovanni, zehnmal länger als Napoleon, Seine Majestät das Ich legt die Krone nieder, den Hermelin, das Pinsel-Szepter und zieht sich zurück, hängt das eigene Bildnis ab, und dahinter ist nichts, bloß eine rissige Wand. […] Abdanken, die einzige königliche Geste.«42

Als unmittelbare Konsequenz dieser Geste erscheint der Impuls der Selbstverdinglichung, der mit dem Versprechen einer bedingungslosen Abhängigkeit und einer besänftigenden, gegen die Erschütterungen einer feindseligen Wirklichkeit immunisierenden Apathie zusammenhängt. In Timmels Monolog schaltet sich deshalb zuweilen ein Chor aus Stühlen ein, wodurch das ontologische Spiel zwischen dem Privileg der Belebung und der Anpreisung der Vergegenständlichung beginnt: »Sei wie wir, Vittorio, wie wir, wie einer von uns. Untätig, gleichgültig, da und dort hingeschubst, wie’s grad kommt – Uns geht’s gut, uns können’s hauen, wie’s wollen, weh tut’s nicht«43. Last but not least findet man in 42 Magris, Die Ausstellung. 2004, S. 21f. 43 Ebd., S. 31.

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dem von Magris gezeichneten Porträt Timmels das Motiv des therapeutischen Spaziergangs oder des ziellosen Herumstreichens und der dadurch erreichten sorgenfreien Bewunderung für die sinnlich erfahrene Welt: für das Naturschauspiel, den in einer Schenke am Wegesrand getrunkenen Wein, das urbane Flanieren. Die Tür zu derartigen »Mikrowelten der Flucht« öffnet sich vor dem Protagonisten der »Ausstellung« bemerkenswerterweise dank auf Papierfetzen gemalten Bildern; denn gewandert wird lediglich in Traumräumen maximal verkleinerter Landschaften, in denen die menschliche Gestalt (und demzufolge das Bewusstsein des Flaneurs) glücklicherweise auf einen einzelnen schwarzen Punkt reduziert ist, der zerfließt und in der Landschaft verschwindet: »[Timmel] widmet sich Tag für Tag der Arbeit an jenen Mikrogrammen auf winzigen quadratischen Blättchen, zeichnet mikroskopische Männchen, minuziös komponierte Bauelemente, Ziegel um Ziegel, labyrinthische Straßen, Zäune, Zellen, Alleen. Mikrogramme, Mikrokosmen. Träume, wie er sie nennt. Stille Straßen, hohe Ziegelmauern, menschenleere Städte, Strände, Gaststätten, die wie Gefängnisse aussehen, Bäume. […] Timmel wird Wanderer in der Irrenanstalt; eingesperrt in seine Zelle, zieht er umher auf Wegen und Stränden, er geht und geht«.44

In dem angeführten Abschnitt findet nicht zufällig, wie man vermuten kann, das Mikrogramm Erwähnung – eine sehr stark an den Schweizer Schriftsteller erinnernde Form.45 Bei Magris’ Entwurf der Gestalt Timmels scheint Walser Pate gestanden zu haben; das Ergebnis ist eine Art Triester Alter Ego des Schweizer Autors, das sich allerdings geschmeidig in die habsburgische Mythologie der Hafenstadt an der Adria einfügt. Und mehr: Die in »Die Ausstellung« geschilderte Funktion der Mikrogramme, verstanden allgemein als merkwürdiger, künstlerischer Mikrokosmos und als Vorstellungsraum für die Verwirklichung des Traumes vom Verschwinden, kann nicht nur als interessanter literarischer Kommentar zur Rolle der minimalisierten Walserschen Prosa gelesen werden, sondern als Metaaussage des Schriftstellers über seinen autobiographischen Essayband mit dem (im Original) charakteristischen Titel »Microcosmi«46. Obgleich die hier besprochene Affinität der beiden Autoren zwar dezent ist und Magris’ wenige einschlägige Texte kaum an Walsers lapidaren und humorvollen Stil heranreichen, fällt es nicht schwer, Verwandtschaften zwischen den »in den unteren Regionen atmenden« und »sich selbst auslöschenden« Figuren aufzuzeigen, die – um mit Magris zu sprechen- »das Leben auftrennen als hätte es

44 Ebd., S. 28f. 45 In dem zitierten Essay aus dem Band »Der Ring der Clarisse« spricht Magris übrigens, allerdings nur nebenbei, Walsers Mikrogramme an; vgl. Magris, In den unteren Regionen. 1987, S. 230. 46 Der Band liegt auch auf Deutsch vor, vgl. Magris, Claudio: Die Welt en gros und en détail. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. München/Wien: Hanser 1999.

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jemand gestrickt«47. In diesem Sinn wurzeln die Protagonisten der beiden Schriftsteller gleichzeitig in dem stark dekadenten Subjektivitätsmodell der Moderne (als Figuren, welche die Wirklichkeit eher meiden, als dass sie willens wären, diese zu beeinflussen; als Randgestalten; als Personen, die nach ihrem eigenen Rhythmus leben bzw. sich dem Rhythmus des Alltags fügen, wie z. B. bei Franz Kafka oder Max Blecher) und in dem postmodernen Konzept mit seinem fragmentarischen, zerfallenen Subjekt, das gemäß den Theorien von Freud und Nietzsche durch irrationale, die aufklärerischen Ideale eines in eine intellektuelle Beziehung zu der Welt gesetzten Individuums verletzende Kräfte bedingt ist. Geht man einen Schritt weiter, müsste man feststellen, dass der Walsers und Magris’ Protagonisten auszeichnende Hang zur Selbstvergegenständlichung weniger den Beweis für eine Subjektivitätskrise liefert und als Metapher für die gleichsam sporenartig komprimierte Identität steht, als vielmehr einem Versuch gleichkommt, die Entropie zu überwinden und das eigene individuelle In-derWelt-Sein zu konkretisieren.

Literaturverzeichnis Madieri Marisa [u. a.], Wassergrün. Eine Kindheit in Istrien, aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend, Wien 2004. Magris Claudio, Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums, aus dem Italienischen von Jutta Prasse, Wien 1974. Magris Claudio, Głosy. Monologi [Stimmen. Monologe], übersetzt von J. Ugniewska, Warszawa 2010. Magris Claudio, Großer Stil und Totalität, in: ders., Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur, aus dem Italienischen von Christine Wolter, Frankfurt am Mai 1987, S. 7–50. Magris Claudio, Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur, aus dem Italienischen von Christine Wolter, Frankfurt am Mai 1987. Magris Claudio, Die Ausstellung, aus dem Italienischen von Hanno Helbling, München/ Wien 2004. Magris Claudio, La portineria, in: M. Madieri [u. a.], Tra le rughe. Storie di nonni che si fanno ricordare, Trieste 1995. Magris Claudio, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, aus dem Italienischen von Madeleine von Pásztory, Salzburg 1966. Magris Claudio, In den unteren Regionen: Robert Walser, in: ders., Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur, aus dem Italienischen von Christine Wolter, Frankfurt am Mai 1987, S. 221–239.

47 Magris, Głosy. 2010, S. 21.

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Magris Claudio, Die Freuden des Deklassiertseins, in: ders., Das Alphabet der Welt. Von Büchern und Menschen, aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend, München 2011, S. 107–127. Nietzsche Friedrich, Der Fall Wagner, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967f., Bd. 6, S. 9–53. Pellegrini Ernestina, Epicasull’acqua: l’operaletteraria di Claudio Magris, Bergamo 1997. Sˇklovskij Viktor, Literatur und Kinematograph, in: Aleksander Flaker, Viktor Zˇmegac (Hg.), Formalismus, Strukturalismus und Geschichte: zur Literaturtheorie und Methodologie in der Sowjetunion, CSSR, Polen und Jugoslawien, Kronberg/Taunus 1974. Walser Robert, Aus Tobolds Leben, in: ders., Poetenleben, Zürich und Frankfurt am Main 1985, S. 83–91 (= Sämtliche Werke. Sechster Band). Walser Robert, Das Traumgesicht, in: ders., Kleine Dichtungen, Zürich und Frankfurt am Main 1985, S. 26f. (= Sämtliche Werke. Vierter Band). Walser Robert, Der Gehülfe, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke. Zehnter Band). Walser Robert, Der Park, in: ders., Geschichten, Zürich und Frankfurt am Main 1985; S. 38– 41 (= Sämtliche Werke. Zweiter Band). Walser Robert, Der Traum (II), in: ders., Kleine Dichtungen, Zürich und Frankfurt am Main 1985, S. 105–107 (= Sämtliche Werke. Vierter Band). Walser Robert, Geschwister Tanner, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke. Neunter Band). Walser Robert, Jakob von Gunten, Zürich und Frankfurt am Main 1985 (= Sämtliche Werke. Elfter Band). Walser Robert, Rede an einen Knopf, in: ders., Poetenleben, Zürich und Frankfurt am Main 1985, S. 108–110 (= Sämtliche Werke. Sechster Band). Walser Robert, Wanderung, in: ders., Poetenleben, Zürich und Frankfurt am Main 1985, S. 7–10 (= Sämtliche Werke. Sechster Band).

Simona Vanni (Università degli Studi di Firenze / Uniwersytet Florencki)

S wie Spazierengehen und Schreiben in der Bieler Prosa Robert Walsers1 Ich experimentiere auf sprachlichem Gebiet in der Hoffnung, in der Sprache sei irgendwelche unbekannte Lebendigkeit vorhanden, die es ein Freude sei zu wecken.2

Einführung Wie ich ein Blatt fallen sah3 »Hätte ich mich nicht nach/zum Teil bereits nackten/Zweigen umgedreht, so würde mir/ der Anblick des langsam/-goldig zu Boden fallenden,/aus üppigem/Sommer stammenden Blattes/entgangen sein. Ich hätte etwas/Schönes nicht gesehen und etwas Liebes,/Beruhigendes und Entzückendes,/Seelenfestigendes nicht empfunden. Schaue öfter/zurück, wenn es dir/dran liegt, dich zu bewahren./Mit Gradausschauen ist’s nicht getan./Die sahen nicht alles, die nicht rund um sich sah’n.«

Dieses Gedicht ist eine Momentaufnahme, die Walser in der Betrachtung eines fallenden Blattes wiedergibt. Es ist ein Moment, der die intime Beziehung des Dichters mit der Welt, mit der er verbunden ist, entfaltet. Es ist ein Bild, in dem das Ich innehält und in seinem kleinen Dasein, das im Verschwinden ist, die vielen anderen kleinen Existenzen, die sonst zum Verschwinden bestimmt wären, aufhält. In dieser langsamen Bewegung des golden zu Boden fallenden Blattes grüßt das Blatt alle, die im Verlaufe eines üppigen Sommers mit ihm waren, und macht sich vor dem wachen Auge des Wanderers bemerkbar. In dieser langsamen Bewegung kann sich ein kleines Wunder vollziehen bezie1 Meine spezielle Danksagung geht an Professor Enrico De Angelis für seine Projekt- und Textrevision und Doktor Massimo Libardi für seine philosophische Unterstützung. Für die sprachliche Unterstützung danke ich Susanne Schmitz und Rüdiger Behschnitt. 2 Walser, Robert: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Jochen Greven. Frankfurt/ Zürich: Suhrkamp 1986. Bd. 20, S. 459. Von nun an mit der Sigle »SW« und der Bandzahl zitiert (1985–86). 3 Gedicht von 1927 (SW 13, S. 96).

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hungsweise das, was den Seh-Sinn zu einem anderen Sinn erhebt, den man als »empfindendes Sehen« bezeichnen könnte. Dieser neue sinnliche und empfindsame Weg streift durch die Dinge und dringt bis in ihre intimsten Fasern ein, um ihre tiefste Bedeutung zu enthüllen. In der Tat ist das Blatt Symbol aller anderen Millionen anonymen Leben dieser Erde: Es ist Schönheit, Liebe, Beruhigung, Zauber, die mit ihrer speziellen Energie die Seele stärken. Der Blick auf das fallende Blatt zeigt dem Dichter die kleinen und großen Dinge, die in die Seele dringen – und umgekehrt; Walser, Flechter von Worten und Gefühlen, blickt über den Abgrund des goldenen Lebens, den er mystisch wahrnimmt, in dem Sinne, dass er die verschiedenen Harmonien und die geheimnisvollen Sympathien spürt, die alles das verbinden, was im Leben existiert.4 Und dies ist jener Walser, den wir in einigen Erzählungen der sogenannten »Bieler Prosa« entdecken wollen.

Der Mystizismus Walsers und die Mystik der Jahrhundertwende Wer auch immer die Erzählungen des Bieler Autors liest, ist von beseelten Wäldern, Klängen und unbestimmten Düften, anthropomorphen Häusern, sprechenden Mauern oder Wiesen fasziniert. Der poetische und märchenhafte Ton gewisser erzählerischer Abschnitte treffen auf den Leser ohne Maskierung, weil dieser Ton von der Natur kommt, die der Autor dank seiner kontinuierlichen Spaziergänge perfekt kennt. Es ist eine animierte Natur, Ergebnis einer sorgfältigen Beobachtung und eines totalisierenden Eintauchens, in der der Wanderer-Poet im Einklang mit der Welt atmet, in der er als Beobachter zum Beobachteten überwechselt, in der die eigenen Schritte Klänge zwischen den Klängen werden, in der sich das Zuhören in der Stille des Waldes verliert, in der sich die eigene Farbe mit denen der Natur vermischt. Es handelt sich um eine Wahrnehmung, Vision, Erfahrung und Teilnahme einer durchgeistigten, mystisch erlebten Wirklichkeit, die durch das literarische Werk wiedergegeben wird. Walser ist sicher nicht der einzige Autor der Jahrhundertwende, der Zeichen dieser gottlosen Mystik5 aufzeigt, der im Hier und Jetzt die verlorene Einigkeit zwischen Seele und Welt finden will. Durch das Wort sucht er ein ausdrucksstarkes Potenzial wiederherzustellen, das die Sprache über ihre Grenzen hinaus bis zum Unsagbaren drängt. 4 »Seitdem sollen, wie die Sage lautet, erst die mannigfaltigen Töne und die sonderbaren Sympathien und Ordnungen in die Natur gekommen sein, indem vorher alles wild, unordentlich und feindselig gewesen ist« (Novalis: Heinrich von Ofterdingen. (Zugriff am 07. 04. 2020)). 5 Im Sinne von immanent und säkularisiert.

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In »Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende« spricht Uwe Spörl von Neomystik6 beziehungsweise einer Mystik, die sich nicht mehr Gott oder anderen dogmatischen Wahrheiten zuwendet, weil diese Instanzen nunmehr jeglichen Sinn verloren haben. In dieser Epoche kommen viele Intellektuelle auf die mystische Literatur zurück, vor allem auf die deutsche mittelalterliche, insbesondere auf die Meister Eckharts, um der Sprache neues Leben einzuhauchen: Sie fühlen, dass die Sprache nicht mehr in der Lage ist, die in allen Dingen verborgenen Wahrheiten auszudrücken und die verlorene Einheit zwischen einer inneren und einer äußeren Dimension wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang sind die Werke Eckharts wegen ihrer sprachlichen Aspekte besonders geschätzt und infolgedessen werden sie übersetzt und neu veröffentlicht: Eckhart schöpft neue Worte und neue semantische Werte, die noch heute fast vollständig in der religiösen, rationalistischen und säkularisierten Spracheaufbewahrt sind. Zudem reift die Überzeugung, dass nur die Kunst als eine totalisierende Erfahrung die verlorene Einheit wiederherstellen kann: »Hinter das Bildhafte der Erscheinung kommen; das große Symbol, welches Welt heißt, ahnend errathen, es durch Intuition verstehen und durch Intuition darstellen, […] dies ist die Welt- und Kunstconzeption der Decadenten, die sich reflexionsmüde aus einem kalt nüchternen Jahrhundert geflüchtet [hat, …] am liebsten gleich in die Kabbala einer symbolistischen Zeichensprache, die nicht Gedanken und Gefühle reproducieren will; es handelt sich um viel zartere Dinge in der neuen Kunst, – um Sensationen, die nicht durch Begriffe suggerriren lassen, sondern durch musikalische und malerische wirken; man muß diese Farben- und Klangmystik nur recht verstehen, – aber ich glaube, es gehört Prädestination dazu.«7

Diese Ästhetik, die sich von synästhetischen Begegnungen ernährt, in der Mitte zwischen Musikalität und Malerei, lässt sich gut bei einem Autor wie Walser finden, den die Kritik gerade wegen der Verschmelzung von Wort, Klang und Farbe schätzt. Mit den folgenden Worten bestätigt der schweizerische Schriftsteller selbst die Existenz von vielfältigen Empfindungsebenen: »Die Vorstellung von einer besonders schönen Farbe kann ich wie eine köstlich zubereitete Speise oder wie eine zauberisch duftende Blume kosten […] Sind denn nicht alle Sinne durch wunderbare Kanäle untereinander verbunden?«8

6 Spörl, Uwe: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn: Schöningh 1997. 7 Zitat aus dem Essay »Fin-de-siècle« von Marie Herzfeld (1893) nach der Transkription Uwe Spörls (ebd., S. 15). 8 Walser, Robert: Das Gesamtwerk. Hrsg. von Jochen Greven. Frankfurt: Suhrkamp 1978. Bd. 1, S. 75.

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Es gibt also eine unbestreitbare Affinität zwischen der ästhetischen Sensibilität Robert Walsers und jener einer Epoche, die in der Neomystik die Möglichkeit einer neuen Sichtweise hervorhebt, die tiefgründig und wesentlich in all ihren Ausdrucksformen ist. Nun können wir uns fragen, ob ein Autor mystisch oder neomystisch ist, nur weil er sich an Texte großer Meister anlehnt und das von ihnen hinterlassene Erbe in Besitz nimmt, oder aber ob es daran liegt, dass er einfach die Gabe besitzt, einen anderen Blick für die Wirklichkeit zu haben. Eine Sache schließt die andere nicht aus: Nur der, der zwischen den Winkeln der Dinge sehen kann, bemerkt einen Weg, der zu geheimnisvoller Tiefe leitet. Damit teilt Robert Walser mit vielen Intellektuellen der Jahrhundertwende die Tendenz des Neomystizismus, denken wir an Musil, Hoffmannsthal, Rilke, Heinrich Mann, Peter Altenberg und Nietzsche. Dies zeigt darüber hinaus die engen Kontakte Walsers zur Kultur der Moderne. Sehr wahrscheinlich haben ihn die Jahre in Berlin,9 die lebhaftesten und leidvollsten im Hinblick auf seine Produktivität, in diesem Sinne bestimmt. In Berlin besucht und kennt er zahlreiche Intellektuelle des Neomystizismus wie beispielsweise Franz Blei. Gerade diesem verdankt er den Kontakt zu anderen Neomystikern wie Julius Hart, Bruno Wille, Wilhelm Bösche, Christian Morgenstern, Maximilian Dauthendey, Richard Dehmel, Carl Hauptmann und anderen. In der Metropole Berlin, die Anfang des 20. Jahrhunderts ein intensives Verlagswesen kennzeichnet, wird 1903 eine Sammlung der Schriften Meister Eckharts von Gustav Landauer herausgegeben: »Meister Eckharts mystische Schriften in unsere Sprache übertragen«. Es ist unmöglich, dass Walser nichts davon gehört haben sollte. Ebenso unmöglich ist es, dass Walser im literarischen Salon von Franz Blei nicht die mystischen Gespräche gehört haben sollte, die ihren Ursprung im Zeitgeist finden. Außerdem schlägt Blei Walser vor, Novalis zu lesen, einer der wichtigsten Vertreter der mystischen Romantik. Blei kennt das Werk dieses Dichters sehr gut: 1901 veröffentlicht er eine Monografie über Novalis und schreibt 1904 weiter über ihn: Auf die Frage nach der Mystik und dem, was mystisch gehandelt werden kann, gibt er [Novalis] die Antwort: »›die Religion, die Liebe, die Natur, der Staat;‹ und: ›wenn alle Menschen ein paar Liebende wären, so fiele der Unterschied zwischen Mystizismus und Nichtmystizismus weg.‹ Es ist, als ob er aus einer fremden ihm ganz vertrauten Welt in die unsere ge-

9 1901–1902 und 1905–1912.

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kommen wäre und er sich diese neue nur mit den Erinnerungen aus der anderen vertrauten zu erklären suchte, um heimisch zu werden, wo nicht seine Heimat ist.«10

Möglicherweise hat Walser Blei persönlich über all das sprechen hören, höchstwahrscheinlich hat er die oben zitierten Publikationen gelesen, ebenso höchstwahrscheinlich hat er auch Eckhart in den Ausgaben gelesen, welche in dieser Epoche erschienen.11 Diese intensiven Lektüren von Eckhart und den deutschen Romantikern wären nicht überraschend, weil Walser immer viel gelesen hat. Es ist aber auch bekannt, wie schwer es ist, zu seinen Quellen zu gelangen, welche er perfekt zwischen Wort- und intertextuellen Verknüpfungen versteckt. Dies gilt zum Beispiel auch für sein Zusammentreffen mit Nietzsche, auch dieser ein Vertreter der verbreiteten weltlichen Mystik und des Habitus der Zeit,12 welcher Spuren auch im Werk Walsers hinterlassen hat. Hierzu beobachtet Peter Utz: »[Es] ist kaum nachweisbar, daß Walser Nietzsche intensiv gelesen hätte. Anders als bei jenen zahlreichen Autoren, die Walsers Werk zitierend verarbeitet und weiterspinnt, lassen sich nur sehr vereinzelt »intertextuelle« Bezüge zwischen Walsers und Nietzsches Werk herstellen, die über die gängigen Nietzsche-Schlagwörter hinausgingen.«13

In »Leopold Zieglers Zarathustra-Glossen« bemerkt Sebastian Strinz darüber hinaus, dass einige Texte von Nietzsche zeitgleich mit Erzählungen Walsers in Zeitschriften wie »Die Insel« (1901) oder »Die neue Rundschau« (1916)14 erscheinen. Auch aus diesem Grund ist ein Zusammentreffen der beiden Schriftsteller unausweichlich. Wir wissen, dass Nietzsche Eckhart studiert hat, wenn auch nicht sehr intensiv. Er hat ihn wenige Male in seinem Werk zitiert, trotzdem gibt es einige signifikante Übereinstimmungen zwischen den beiden, beispielsweise die Struktur des Übermenschen und des edlen Menschen.15 10 Novalis: Schriften. Hrsg. von Ludwig Tieck/Friedrich Schlegel. Paris: Felix Loequin 1837. Bd. 2, S. 310. 11 In seiner »Pienezza del vuoto. Tracce mistiche nei testi di Robert Walser« hat Francesco Roat Spuren des deutschen Mystikers in den Berliner Romanen, »Geschwister Tanner«, »Der Gehülfe« und »Jakob von Gunten«, aufgezeigt (vgl. Roat, Francesco Pienezza del vuoto. Tracce mistiche nei testi di Robert Walser. Trento: Vox Populi 2012). 12 Utz, Peter: Robert Walsers Spiel mit Nietzsches Schatten. In: Nietzsche und die Schweiz. Hrsg. David Marc Hoffmann. Zürich: OZV 1994, S. 151. 13 Ebd. 14 Vgl. Strinz, Sebastian: Leopold Zieglers Zarathustra-Glossen. Robert Walsers Mikrogramme und Friedrich Nietzsche. Überlegungen zu einer philosophisch-ästhetisch fundierten Poetologie. In: Poetica in permanenza. Studi su Nietzsche. Hrsg. von Gabriella Pelloni/Claus Zittel. Pisa: ETS 2017, S. 212. 15 Vgl. Vannini, Marco: Meister Eckhart. Commento al Vangelo di Giovanni. Milano: Bompiani 2017, S. 44, 47.

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Daher können wir annehmen, dass das neomystische Berliner Umfeld, mit welchem Walser in engem Kontakt ist, die Begegnung mit den deutschen Romantikern, mit Nietzsche und schließlich auch mit Meister Eckhart, in der Tradition des beginnenden Jahrhunderts, für ihn das Instrument bilden, über welches er ein neomystischer Schriftsteller wird, welcher das Wort, die Erweckung eines neuen Menschen und/oder das Wiederfinden einer verlorenen Einheit in den Mittelpunkt stellt.

S wie Spazierengehen und Schreiben Spazierengehen und Schreiben sind zwei von gleicher Kraft beseelte Realitäten, die Walser zur Bewegung anregen, immer auf der Suche nach Naturräumen, für ihn Garantie einer unendlichen Inspirationsquelle.16 Diese fließende und kinetische Kraft führt den Wanderer erst durch die Natur, dann offenbart sie seinen Augen ihre Geheimnisse, die er bildlich als harmonischen Form-, Klang- und Farbzusammenhang mit dem Wortzeichen beim Schreiben wieder verwirklicht. Spazierengehen, lauschen und in die Naturtiefe tauchen zeigen dem Wanderer eine Zauberdimension17 auf, die nicht nur zauberisch, sondern auch durchgöttlicht18 ist. Der Spaziergang ist also selbst verzauberte Bewegung, und in Übereinstimmung mit der Etymologie des Wortes Zauber ist der Spaziergang von einer geheimnisvollen Ausstrahlung:19 mysteriös, mystisch und teilnehmend bis zum Unsagbaren.20 Wie Stefano Beretta beobachtet, besteht die ästhetische Erfahrung Walsers in einer engen Konsonanz mit den Dingen,21 die der Schriftsteller beim Gehen erfährt und die er später in seinen Erzählungen wieder beschwört. Die ästhetische Erfahrung ist also auch ekstatisch im Sinne einer immanenten und zugleich 16 Die Forscher des Werks Robert Walsers haben diese Natur-Spaziergang-Verbindung mehrmals analysiert, z. B. unter dem Zeichen der Kreativität (vgl. Stefani, Guido: Der Spaziergänger. Untersuchungen zu Robert Walser. Zürich/München: Artemis 1985) oder im Sinne der Bildung von Sprachräumen (vgl. Wellmann, Angelika: Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes. Würzburg: Neumann 1991). 17 Walser verwendet mehrmals Komposita wie »Zauberglanz« und »Zauberlichtern« (vgl. Walser, Robert: Naturschilderung. In: Deutsche Monatshefte (Die Rheinlande) 16, 1916, H. 1, S. 27–31). 18 Ebd. 19 (Zugriff am 07. 04. 2020). 20 Walser, Naturschilderung. 1916, S. 27–31. Für Wittgenstein ist das Unaussprechliche mystisch: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische« (Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. 7. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, S. 115). 21 Beretta, Stefano: Una sorta di racconto. La scrittura poetica e l’itinerario dell’esperienza in Robert Walser. Udine: Campanotto 2008, S. 156.

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kinetischen Ekstatik, die das Ich dynamisiert, es in die Natur tauchen lässt und bis zum Sich-Vergessen und zum Herzen der Dinge drängt. Auch für Walser – wie für Meister Eckhart, den Mystiker der Abgeschiedenheit – ermöglicht das Sich-Vergessen, einen oberen Seinszustand22 zu erreichen. Diese hohe Bewusstseinsebene ist nur jenen Menschen zugänglich, die dank einer stetigen Bewegung durch die Welt diese anders sehen können. Dieser andere Blick ist Studium und Beobachtung: »Höchst liebevoll und aufmerksam muß der, der spaziert, jedes kleinste lebendige Ding […] studieren und betrachten. Die höchsten und niedrigsten, die ernstesten und lustigsten Dinge sind ihm gleicherweise lieb und schön und wert. Keinerlei Eigenliebe und Leichtverletzlichkeit darf er mit sich tragen. Uneigennützig und unegoistisch muß er seinen sorgsamen Blick überallhin schweifen und herumstreifen lassen; ganz nur im Anschauen und Merken der Dinge muß er stets fähig sein, aufzugehen […]. Geist und Hingabe beseligen ihn und heben ihn hoch über seine eigene unscheinbare Spaziergängerperson hinaus […].«23

Der Spaziergang und die dabei so intensiv hineingezogenen Sinne des Sehens und Hörens stellen eine Art Einweihungsweg dar bis zum Sich-Vergessen und zur Überwindung jeder sinnlosen egoistischen Lebensform. Durch diesen Weg erweitern sich die menschlichen Lebenshorizonte: Sie gehen über die Linie der Selbstreferenzialität bis auf den Grund der Dinge. Oder wie Meister Eckhart sagen würde, bis zum Seelengrund. In Walsers Zitat klingen in der Tat die Worte des deutschen Mystikers über den edlen, abgeschiedenen, sich vergessenden Menschen an.24 Das Echo Eckharts taucht zweifellos auch in Sätzen auf wie »Ich vergaß den Menschen in mir und alle anderen Menschen«.25 Solche Aussagen sind aber frei von jeglichen religiösen, dogmatischen Verwicklungen. Verwandt sind also Walser und Eckhart nicht nur in Worten, sondern auch im Sinne fortlaufender Wanderungen auf den Pfaden der Erde – und überdies hinaus: hin zur Weltseele oder Gottheit.26 Hoch interessant ist die Überdieshinaus-Dimension, die das Netz der geistigen Verwandtschaften bis zu Nietzsche weiterspannt. Auch Nietzsche ist wie Walser einsamer Wanderer, und auch er ist wie dieser davon überzeugt, dass die größten Ideen nur im Unterwegssein entstehen. Gehend erscheint auch der Übermensch, dessen Wesen gerade im Präfix über zu finden ist – ein Präfix, das die Mystiker häufig verwenden, um einen vollkommenen, transzendentalen, übernatürlichen, oberen Seelenzustand auszudrücken. Eine Dimension also des Überdieshinaus, 22 Ebd., S. 153. 23 SW 5, S. 51–52. 24 Vgl. Eckhart, Meister: La via del distacco. Hrsg. von Marco Vannini. Firenze: Lorenzo de’ Medici 2017, S. 15. 25 Walser, Naturschilderung. 1916, S. 27–31. 26 Vgl. Ruth, Kurt: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. München: Beck 1989, S. 27.

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die auch in Nietzsche nach der Befreiung eines egoistischen und deterministischen Willens27 strebt. Dem einsamen Wanderer Zarathustra, auf dem Weg zu sich selbst und über sich hinaus, ist der größte Feind sein eigenes Ich. Das sagt Nietzsche klar, wenn er schreibt: »Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!«28 Und dieser Satz ist dem Eckhart’schen Gedanken über die Notwendigkeit, sich von jedweder menschlichen, irdischen, äußerlichen Eigenschaft zu befreien, sehr nah. Diese Erlösung ist die conditio sine qua non für jede Person, die die Reise zu den Wurzeln ihres Daseins unternehmen will. Das Zitat aus Zarathustra ist nicht so fern vom Weg, den Walser in seinem Werk gestaltet, und zwar über jeden Egoismus bis zur Weltseele, wie er schreibt, jenseits des Bösen, des Schmerzes und der Enttäuschungen. Das sympathetische Netz der Verwandtschaften Walsers spannt sich noch weiter bis zu einem zweiten Wanderer, und zwar bis zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. Auch er zielt bei seiner Wanderung auf das Herz der Welt, das die Geheimnisse einer nunmehr vergangenen Urwelt hütet. Einer Urwelt, die sich nur auserwählten Menschen, wie dem Bergmann, enthüllt. Er stellt mit wenigen anderen eine EingeweihtenGesellschaft dar, für die sich der alchemistische Erdhöhlenraum öffnet. Die Erdhöhle ist somit ein symbolischer Raum und in ihrer Symbolik ist sie mit dem Heidensteineng verbunden, der in der Nähe von Biel steht und dem Walser eine Erzählung widmet (1914): »In dem Wald, der, weil er so schön ist, mich immer wieder zu sich zieht, steht unter den hohen, schlanken, ernsten Tannen ein Stein, den die Leute den Heidenstein nennen, ein schwärzlicher, moosüberzogener Granitblock, auf welchen oft die Schulknaben klettern, ein wundersamer Zeuge aus uralten, wundersamen Zeiten, bei dessen sonderbaren Anblick man unwillkürlich stillsteht, um über das Leben nachzudenken. Still und hart und groß steht er inmitten des lieben grünen heimeligen Waldes da, gewachsen von 27 »Comunque stia la questione della dipendenza di Nietzsche da questo, o altri maestri, non c’è dubbio che il filosofo tedesco abbia esercitato con singolare profondità e radicale onestà il suo sguardo penetrante all’interno dei contenuti e delle passioni, riconoscendo fino in fondo il dominio dell’egoismo, il peso del determinismo naturale. Ma proprio questa è la »saggezza« nietzscheana: riconoscere il male che è al fondo vuol dire […] scoprire un »fondo« più profondo di quel male stesso, e che sta proprio in questa capacità di riconoscerlo pienamente senza minimamente identificarsi con esso, anzi distogliendosene per quanto possibile con tutte le forze – capacità che non appartiene al regno dell’egoismo, al dominio della volontà, o dell’amor proprio. […] Perciò il filosofo tedesco esalta sempre la potenza dell’amore, giacché è in esso soltanto che l’anima apprende lo sguardo chiaro, che distingue e che disprezza, ma anche il desiderio di guardare oltre sé, e di cercare un Sé più alto, ancora nascosto. Alla discesa nel profondo corrisponde allora la scoperta dello spirito e la »grande salute« che ne deriva« (Vannini, Marco: Mistica e filosofia. Firenze: Le Lettere 2007, S. 155). 28 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Erster Teil. Vom Wege des Schaffenden. (Zugriff am 08. 04. 2020).

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unzählbaren Regengüssen, versteckt im Bereiche der schweigenden treuherzigen Tannen, Bild der Vergangenheit, Ausdruck der schier ewigen Beständigkeit und als ein Beweis vom unausdenklichen Alter der Erde.«29

Im Gegensatz zur Novalischen Höhle gehört der Stein keinem geschlossenen auserwählten Raum an. Jeder, der durch den heimeligen Wald geht, kann auf diesen alten Stein, Zeugnis einer alten, im Sonnenlicht lebenden Welt, stoßen. Und nicht zufällig lebt dieses Weltbruchstück auf einem heimeligen Boden weiter, also auf dem Boden einer nur scheinbar gestorbenen Urheimat. Der Wanderer, und mit ihm jede andere Lebensform, ist im Vergleich mit dem großen alten Waldfelsblock, »der […] vom Beginn der Welt an bis heute« lebt und »der […] leben und stehen« wird »bis an das fragwürdige Ende alles Lebens«,30 sehr klein und schwach. Dem Wanderer ist es, als ob alle menschlichen Zeitdimensionen über die Schranken des irdischen Lebens hinaus, von seinen Anfängen kontinuierlich weiter durch die Zukunft bis zum Ende der Zeiten, gerade in diesem Stein zusammenflössen. Das menschliche Maß an Zeit wird an diesem Punkt unterbrochen, wo aller Anfang als mit der Zukunft verschlungene Gegenwart in fortlaufender Zeitdauer lebt, frei von Zerteilungen eines Vorher, eines Nachher und eines Dann. Dieser eigentümliche Zeitsinn verbindet Walser mit der sogenannten geistigen Gegenwart von Novalis, die Vergangenheit und Zukunft durch »Auflösung identifiziert«.31 Der oben zitierte Satz aus dem »Heidenstein« verbindet Walser auch mit Eckhart und seinem Ewig Nun, das der Mystiker als Loslösung von der Zeitlichkeit und schließlich allem zeitlichen Ablauf versteht.32 Das Zitat verbindet Walser auch mit Nietzsches Augenblicksmetapher,33 die, wie Susanne Ledanff beobachtet, direkt aus der Mystik kommt.34 Ein mystischer Augenblick also, der 29 SW 4, S. 148. 30 Ebd. 31 Novalis: Aphorismen. (Zugriff am 08. 04.2020). Vgl. auch Versari, Margherita: Enrico di Ofterdingen. Iniziazione poetica. Bologna: Clueb 2011, S. 55. 32 Vgl. Eckhart, Meister: Predigten und Traktate. Zürich: Diogenes 1979, S. 308. 33 »Siehe, sprach ich weiter, diesen Augenblick! Von diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit.« (Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. (Zugriff am 08. 04. 2020)). 34 »Augenblick und Metapher können somit nach Ledanffs Auffassung ›das Vorhandensein einer mystischen Überwirklichkeit andeuten, in der die Widersprüche in einer Einheit versöhnt sind‹«. Die Augenblicksmetapher, Ausdruck der mystischen Ekstase, ist typisch in der Moderne, weil sie vom »Bewußtsein der Relativität geprägt ist«. In der Literatur der Moderne ist so etwas wie ein »›absoluter Augenblick‹ möglich«, eng verbunden mit »Vision, Ekstase und mystischer Erfahrung«. Dieser Augenblick besitzt eine »synthetisierende Allmacht«, da er »Disparate« vereint, »das Transitorische, aus dem er selbst hervorgegangen ist, in eine fragile Harmonie« verwandelt (Spörl, Gottlose Mystik. 1997, S. 238–39).

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alle Dinge eng miteinander verknüpft.35 Und obgleich die Zeit im Stein reine Gegenwart ist, läuft sie dennoch auf das Ende der Welt hin: Obwohl Walser dem mystischen bzw. romantischen Zeitweg folgt, bleibt sein Zeitsinn dennoch stark in der Immanenz verwurzelt: Der schweizerische Schriftsteller bleibt der Ewigkeitsdimension fern, weil seine Dichtung die Zeit der Welt als Summa Temporis begrüßt.36 Der Stein erregt im Wanderer romantisch unbestimmte Ahnungen und Gefühle, die zu einer geistigen Gemeinschaft zwischen dem Ich und dem hier nicht zufällig als Geselle bezeichneten Stein das Fundament legen. Der Wanderer fühlt, dass der Stein ein »Zauberer« ist, der »de[n] Wald […] verzaubert«.37 Dieses gesellig-geistige Gefühl ist letztendlich Wissen, oder ein modus cognoscendi, das eng mit der Zauberdimension verbunden ist. Das Wort Zauber bedeutet nach seiner Etymologie geheimnisvolle Ausstrahlung und erhellt hier in der Tat einen eigentümlichen und geheimnisvollen Sinn der Zeit und überwindet somit die phänomenologische Wissensdimension.38 In »Der Spaziergang« klingen die Töne einer unbestimmten Vorwelt durch die Stille des Waldes. Der Spaziergänger schenkt diesen Klängen aufmerksam Gehör und ist plötzlich wie in Ekstase von einem unsagbaren Welt- und Dankbarkeitsgefühl ergriffen: »Die Tannen standen wie Säulen da, und nicht das geringste rührte sich im weiten, zarten Walde, den allerlei unhörbare Stimmen zu durchhallen und -klingen und allerlei sichtbar-unsichtbare Gestalten zu durchstreifen schienen. Töne aus der Vorwelt kamen, von ich weiß nicht woher, an mein Ohr.«39

Das Zitat stammt aus der in »Seeland«40 veröffentlichten Fassung der Erzählung: Im Gegensatz zur Erstfassung41 spricht der Erzähler hier von sichtbar-unsichtbaren Gestalten, die dazu beitragen, den geistigen Wert des Raums hervorzuheben. Es geht in der Tat um einen geistigen Raum, den das malerische bzw. musikalische Wort des Autors gestaltet: Die Tannen sind Säulen einer reglosen Wirklichkeit, wodurch die Stimme einer Vorwelt erklingt. Im Wald, einem natürlichen und epiphanischen Tempel, der ein uraltes Atmen in seinen Geräuschen aufbewahrt, lässt sich eine Welt vor der Welt spüren, eine Art Hoffmannsthal’sche Präexistenz, ein Eckhart’scher Urgrund oder eine novalische Urwelt, die dank dem Dichter weiterlebt. Bei der Beschreibung dieses Raums

35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Riccio, Biagio: Fugaci ritratti. Catanzaro: Rubbettino 2018. Vgl. Beretta, Una sorta di racconto. 2008, S. 123. SW 4, S. 149. Vgl. Beretta, Una sorta di racconto. 2008, S. 19–20. SW 7, S. 105–106. 1919. 1917.

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verwendet Walser viele Verben, die mit dem Präfix durch gebildet werden und die in der mystischen Sprache die enge Verbindung zwischen Gott und Seele im Sinn einer gegenseitigen Durchdringung darstellen.42 Walser beweist damit, dass er die mystische Sprache kennt, beherrscht und sicherlich nicht in einem dogmatischen Sinn verwendet. Aus der immanenten mystischen Sichtweise des Autors ist in der Tat nicht von Gott die Rede: Man kann nur vom Göttlichen sprechen, da die Erde, so Walser in »Naturschilderung« (1916) »ebenso göttlich wie alles Göttliche«43 ist. Das Göttliche muss also auf der Erde gesucht werden, da alles Irdische durchgöttlicht ist. Hier ist Walser Eckhart sehr nah, weil auch für Letzteren »alle Winkel« unserer Welt Gott offenbaren.44 Wenn es wahr ist, dass ohne diese ständige Bewegung, an die Walser fest glaubt, die Weltseele nicht erreichbar wäre, ist es ebenso wahr, dass der Wanderer ohne eine Rastan keinen Ort gelangen k֊önnte. Um zum Herzen der Welt zu gelangen, muss man in deren Atem eintauchen, in ihren Rhythmus, der aus Flüssen und Rückflüssen und vor allem aus Pausen besteht, ohne welche das Herz selbst zerreißen würde. Eine Wahrheit, welche die Hauptfigur von »Der Spaziergang« thematisiert, indem er die Spaziergangsphasen mit seinen Pausen beschreibt. Pausen, die die bewegende Tätigkeit mit einer Art »offenbarender Ekstatik« unterbrechen. Der Wanderer hält inne und horcht, weil er rund um sich eine starke geistige Kraft spürt: »Geheimnisvoll schleichen dem Spaziergänger allerlei Einfälle und Ideen nach, derart, daß er mitten im fleißigen, achtsamen Gehen stillstehen und horchen muß, weil er, über und über von seltsamen Eindrücken, Geister-Gewalt benommen, plötzlich das bezaubernde Gefühl hat, als sinke er in die Erde hinab, indem sich vor den geblendeten, verirrten Denker- und Dichteraugen ein Abgrund öffne.«45

Innehalten und Horchen sind die notwendige Bedingung, die es erlaubt, in einen ekstatischen Zustand zu geraten, in dem der Spaziergänger von einem bezaubernden, also magischen, mystischen, geheimnisvollausstrahlenden Gefühl beherrscht wird. Auf der Welle dieses Gefühls ist es ihm, als ob er in die Erde hinabsänke und sich vor ihm ein Abgrund öffne. Mit diesem Wort taucht das mystische Wort par excellence auf, welches bei Eckhart den Seelengrund bezeichnet.46 Und diesen Abgrund kann man paradoxerweise nur dann sehen, wenn das äußerliche Sehen außer Kraft gesetzt ist, um Platz für das innere Sehen zu machen. 42 43 44 45 46

Walser, Naturschilderung. 1916. Ebd. Eckhart, Predigten und Traktate. 1979, S. 260. SW 7, S. 128. Vgl. Bremer, Donatella: La lingua mistica nell’opera tedesca di Meister Eckhart. In: Studi Medievali 33, 1992, H. 1, S. 378.

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Durch diese gesteigerte Sehkraft kann das Auge des Protagonisten »Erde und Himmel fließen« sehen. Sie stürzen »in ein blitzend übereinanderwogendes, undeutlich schimmerndes Nebelbild zusammen«47 und kehren also zum »Chaos« zurück, also zum Anfang aller Anfänge, zur »vollendeten Schöpfung«, wie Novalis sagen würde.48 Von der Beschreibung der offenbarenden Ekstase führt Walser uns dann in ein paar Schritten zur echten ekstatischen Erfahrung. Der Wanderer hält bei einem Bahnübergang an. Es ist nicht wichtig, ob es eine Eisenbahn ist oder nicht. Es ist eine Bahn, eine Linie, ein Weg, ein Höhepunkt und Zentrum: »Hier beim Bahnübergang sei etwas wie der Höhepunkt oder das Zentrum, von wo aus es leise wieder sinken würde«,49 kommentiert der Erzähler. Gerade jetzt, in diesem Moment des Anhaltens, spürt der Spaziergänger die Gegenwart eines stillen und hohen50 Gottes, der sich ätherisch als Hauch offenbart, also als liebender, schöpferischer Atem. Der Wanderer kann uralte Klagen wahrnehmen, da sich sein Gehörsinn auch verfeinert hat. Er kann Geister sehen, die plastisch Gestalt annehmen, kann sogar Jesus herumwandern sehen, gerade dort, wo Dinge und Menschen fließen51 und in eine »von Zärtlichkeit erfüllte Seele«52verwandelt werden. In diesem Erfüllungszustand öffnet sich die Weltseele und »alles Böse, Leidvolle und Schmerzliche sei im Entschwinden begriffen […]«.53 Der Protagonist von »Der Spaziergang« erreicht das Ziel seiner Wanderschaft, das auf den »Quell des Guten und Schönen« zielt.54 Es geht um einen Ursprung, einen Anfang, der sich ständig erneuert, wenn »der Himmel sich hoch empor und tief herab zu neigen schien«.55 Himmel und Erde vereinigen sich in einem erfüllenden Liebesgebärden,56 das die Grenzen zwischen einer oberen und unteren Dimension auslöscht. Auch der Wanderer hebt die gleiche Barriere auf, indem er »das Geringste und Bescheidenste«57 beim Gehen schaut und beobachtet und es auf diese Weise bis zu seinem Blick emporhebt. Hier ist vielleicht ein impliziter Bezug vorhanden auf die Spiegel- und Sonnenmetapher Eckharts. Diese Metapher ist dreiwertig: in Bezug auf die Gottheit, Spiegel aller Dinge, die irdische Welt, Spiegel des Übernatürlichen, und die 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

SW 7, S. 128. Novalis: Das Allgemeine Brouillon. Hamburg: Meiner 1993, S. 41. SW 7, S. 130. Ebd. Mystisches Wort, verwendet z. B. von Mechthild von Magdeburg in »Das Fließende Licht der Gottheit«. SW 7, S. 131. Ebd. Ebd., S. 126. Ebd., S. 131. SW 5, S. 57. SW 7, S. 131.

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menschliche Seele, in der Gott sich widerspiegelt. Walser geht über die Metapher hinaus, indem er sie in einer Vision/Erfahrung verwirklicht, die letztendlich einen Akt der Liebe zwischen Menschen, Erde und Himmel darstellt. Wenn also keine Grenzen mehr zwischen äußerer und innerer Sphäre bestehen, wie es im Übrigen natürlich ist bei der Liebe, so muss jeder Unterschied zwischen Äußerem und Innerem verschwinden, wie derselbe Wanderer bestätigt: »ich selbst war ein Inneres geworden und ging wie in einem Innern herum. Alles Äußere verlor sich«.58 An diesem Punkt, wo alles Äußere seinen Wert verloren hat, kann das Ich in die innige Tiefe tauchen, die, wie die Philosophin María Zambrano schreibt, nichts anderes als ein liebevoller Ruf ist, auf den man nur antworten kann.59 Dieses Eintauchen ins Unermessliche und das Licht der Liebe verwandelt den Spaziergänger: Er ist nicht mehr er selbst, sondern ein anderer, doch gerade darum erst recht wieder er selbst. Und er fühlt, dass »der innerliche Mensch der einzige sei, der wahrhaft existiert«.60 Nichts könnte so eckhartisch, so mystisch klingen.61 Walser geht im Gleichschritt mit Eckhart und dessen innerem, edlem, abgeschiedenem Menschen, aber auch mit Nietzsche und dessen Übermenschen. Er bemächtigt sich der Gedanken, Worte, Paradoxa mystischer Herkunft, die höchstwahrscheinlich von einer direkten Lektüre des dominikanischen Meisters, durch den Filter romantischer Dichter wie Novalis und von der Konfrontation mit Nietzsche herrühren. Wie die Romantiker ist Walser Protagonist seiner eigenen Revolution, die über die Transzendenz hinausgeht und immer den Duft der Erde trägt. Wie Nietzsche vollzieht auch er eine Umwertung durch das Wort, das ihn zurückführt, wo alles begann. Im Zeichen einer immanenten Mystik ersetzt er Gott mit »Quell des Schönen und Guten«, aber dieses errungene Ziel kristallisiert sich nicht in einem kontemplativen Zustand. Der Wanderer beginnt sofort seine Rückreise von einem unbestimmten Anderswo zur Erde: Er bringt die Schätze dieser anderen Welt mit sich zurück, um sie dann in seinen Schriften auftauchen zu lassen. Und sein Schreiben, Wächter des Eindrucks und auf der Erinnerung begründet, ist im Wesentlichen kinetisch. Spazierengehen und Schreiben also, zwei Verben, zwei Bewegungen, und die spiralförmige Linie des Buchstabens »S«: Sie halten die Fäden einer vergessenen 58 59 60 61

SW 5, S. 57. Zambrano, María: Verso un sapere dell’anima. Milano: Raffaello Cortina Editore 1996, S. 51. SW 5, S. 57. Eckhart, Meister: Von der Abgeschiedenheit. In: Mystische Schriften. (Zugriff am 08. 04.2020): »Hier sollst du erfahren, was die Meister sprechen, dass in einem jeden Menschen zweierlei Menschen sind: Der eine heißt der äußere Mensch, das ist die Sinnlichkeit; diesem Menschen dienen fünf Sinne, doch wirkt er mit der Kraft der Seele. Der andere Mensch heißt der innere Mensch, das ist des Menschen Innerlichkeit«.

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Urdimension zusammen, die sich jedes Mal erneuert, wenn das Auge des Lesers den Zeichen der Buchstaben folgt – hinzu einem beweglichen unendlichen Kontinuum, bis zum Ende der Welt.

Bibliografie Primärliteratur Meister Eckhart, Predigten und Traktate, Zürich, Diogenes 1979. Meister Eckhart, La via del distacco, hg. von Marco Vannini, Firenze, Lorenzo de’ Medici 2017. Robert Walser, Naturschilderung, in »Die Rheinlande. Deutsche Monatshefte«, Januar 1916, S. 27–31. Robert Walser, Das Gesamtwerk, hg. von Jochen Greven, Frankfurt, Suhrkamp 1978, Bd. I. Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hg. v. Jochen Greven, Frankfurt, Suhrkamp 1985–1986.

Sekundärliteratur Guido Stefani, Der Spaziergänger. Untersuchungen zu Robert Walser, Zürich und München, Artemis 1985. Kurt Ruth, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München, Beck 1989. Angelika Wellmann, Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg, Neumann 1991. Donatella Bremer, La lingua mistica nell’opera tedesca di Meister Eckhart, in »Studi Medievali«, I–XXXIII (1992), Spoleto, CISAM. Novalis, Das Allgemeine Brouillon, Hamburg, Meiner 1993. Peter Utz, Robert Walsers Spiel mit Nietzsches Schatten, in Nietzsche und die Schweiz, Zürich, OZV 1994. María Zambrano, Verso un sapere dell’anima, Milano, Raffaello Cortina Editore 1996. Uwe Spörl, Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn, Schöningh 1997. Marco Vannini, Mistica e filosofia, Firenze, Le Lettere 2007. Stefano Beretta, Una sorta di racconto. La scrittura poetica e l’itinerario dell’esperienza in Robert Walser, Udine, Campanotto 2008. Margherita Versari, Enrico di Ofterdingen. Iniziazione poetica, Bologna, Clueb 2011. Francesco Roat, Pienezza del vuoto.Tracce mistiche nei testi di Robert Walser, Trento, Vox Populi 2012. Sebastian Strinz, Leopold Zieglers Zarathustra-Glossen: Robert Walsers Mikrogramme und Friedrich Nietzsche. Überlegungen zu einer philosophisch-ästhetisch fundierten Poetologie, in Poetica in permanenza. Studi su Nietzsche, Pisa, ETS 2017.

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Marco Vannini, Meister Eckhart. Commento al Vangelo di Giovanni, Milano, Bompiani 2017. Biagio Riccio, Fugaci ritratti, Catanzaro, Rubbettino 2018.

Internetquellen http://gutenberg.spiegel.de/buch/aphorismen-5232/1 https://gutenberg.spiegel.de/buch/heinrich-von-ofterdingen-5235/5 http://www.marschler.at/eckhart-landauer/meister-eckhart-mystische-schriften.pdf https://gutenberg.spiegel.de/buch/novalis-8588/6 https://www.gutenberg.org/files/5740/5740-pdf.pdf https://www.projekt-gutenberg.org/nietzsch/zara/als3017.html https://www.dwds.de/wb/Zauber

Tomasz Waszak (Uniwersytet Mikołaja Kopernika w Toruniu)

Robert Walser und die Tugend der Unzuverlässigkeit

Im Jahre 1961 hat die Unzuverlässigkeit, präziser gesagt: ihr englischsprachiges Äquivalent, aufgehört, ein nur pejorativer Terminus zu sein. Indem Wayne C. Booth in seiner »Rhetoric of Fiction« den »unreliable narrator« als eine wertneutrale narratologische Kategorie etablierte1, nahm er dem Wort, zumindest in seinen erzähltheoretischen Kollokationen, das Odium einer defizitären, moralisch suspekten Qualität. Seitdem ist zur Unzuverlässigkeit als ästhetische Kategorie ein beträchtliches Volumen an Forschungsliteratur entstanden2. Neben einer ausdifferenzierten Sicht auf Wirkungsbereiche und Funktionen des Phänomens vermittelt sie auch eine wertende Haltung: Die Unzuverlässigkeit in der Kunst ist nicht nur ein gewollter, sondern auch ein anspruchsvoller Effekt, dessen überzeugende Verwirklichung konzeptuelle und formale Geschicktheit voraussetzt. Anders als in nichtkünstlerischer Kommunikation, ist sie also als Tugend anzusehen. Eine Gestalt so zu malen, dass die den Rahmen des Bildes zu verlassen scheint3; einen inneren Vorgang als objektive Wirklichkeit zu erzählen4; eine unsichtbare Filmfigur so zu schildern, als wäre sie sichtbar5: All das verlangt Können und wird mit Anerkennung prämiert. 1 Booth, Wayne Clayson: The Rhetoric of Fiction. Second Edition. Chicago/London: The University of Chicago Press 1982, S. 158–160. 2 Einen Einblick in aktuelle Positionen sowie einen Rückblick auf Forschungsentwicklung bieten: Nünning, Vera (Hrsg.): Unreliable narration and trustworthiness. Intermedial and interdisciplinary perspectives. Berlin: De Gruyter 2015; Aumüller, Matthias (Hrsg.): Journal of Literary Theory 12, 2018, H. 1 (Special Issue: Narrative Unreliability. Scope and Limits). Als maßgebende Darstellungen in deutscher Sprache seien erwähnt: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Unreliable narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT 1998; Liptay, Fabienne/Wolf, Yvonne (Hrsg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: Edition Text + Kritik 2005; Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2008. Immerhin fehlt noch eine einheitliche Monographie des Phänomens. 3 Siehe das Gemälde von Pere Borrell del Caso: »Der Kritik entfliehend« (1874). 4 Siehe die Erzählung »Zwischenfall auf der Eulenfluss-Brücke« von Ambrose Bierce (1891). 5 Siehe die Restaurantszene in M. Night Shyalamans »The Sixth Sense« (1999).

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Zwei der genannten Beispiele lassen erkennen, dass die künstlerische Unzuverlässigkeit älter ist als ihr Name. In der Tat reicht die Tradition der Illusionskunst in die Antike, wovon die Legende von Parrhasius’ gemalten Vorhang, den ein anderer Maler zu heben versuchte6, das ausdruckvollste Zeugnis ablegt. Auch Robert Walser starb, bevor Booth dem Begriff eine neue Bedeutung einprägte; dennoch weist ihn sein Oeuvre als wahren Virtuosen der Unzuverlässigkeit aus. Trotzdem wurde diesem Aspekt seines Schaffens noch keine systematisierende Studie gewidmet. Der vorliegende Aufsatz versucht, diese Forschungslücke zu füllen. Ausgehend vom aktuellen Theorierahmen, das vor allem um das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens aufgebaut worden ist, setzt es sich zum Ziel, unterschiedliche Facetten des Phänomens in Walsers Prosa ordnend nachzuweisen: von rhetorischer Taschenspielerei und fragwürdigen Werturteilen bis hin zur Infragestellung der Realität und Selbstthematisierung als unzuverlässige Instanz.

1.

Der Theorierahmen

Booths Definition des unzuverlässigen Erzählens lautet wie folgt: »For lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not.«7

Obwohl recht allgemein formuliert, hat diese erste Charakteristik fast bis zur Jahrtausendwende die Entwicklungslinie der Forschung determiniert. Diese war nun erstens auf Narrative mit einem in Wort und Tat deutlich zum Vorschein kommenden, sprich: homodiegetischen Erzähler konzentriert; zweitens galt ihr Interesse der unzuverlässigen Vermittlung von Normen und Werten. Für einen Höhepunkt der so orientierten Untersuchungen kann man William Riggans Monographie: »Pícaros, Madmen, Naı¯fs, and Clowns: The Unreliable First-person Narrator« von 19818 halten. Riggans Figurengalerie (der »Wahnsinnige« wohl am stärksten) deutet bereits an, dass neben Normen und Werten auch die Fakten unzuverlässig erzählt werden können. Doch erst in den späten 1990er Jahren wurde diese Erkenntnis theoretisch formalisiert, indem der Unterschied zwischen unzuverlässigem In-

6 Vgl. Plinius Secundus, C. (der Ältere): Naturkunde. Lateinisch-Deutsch. Buch 25: Farben – Malerei – Plastik. Hrsg. und übersetzt von Roderich König/Gerhard Winkler. München: Heimeran 1978, Abschnitt 65, S. 54. 7 Vgl. die erste Anmerkung zu diesem Text. 8 Norman: University of Oklahoma Press.

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terpretieren und Bewerten einer- und unzuverlässigem Berichten andererseits9 oder, nach einer anderen Nomenklatur, zwischen dem theoretisch und mimetisch unzuverlässigen Erzählen10 etabliert wurde. Zur selben Zeit wurde auch der heterodiegetischen Erzählinstanz die Fähigkeit zum unzuverlässigen Erzählen eingeräumt11. Neben der Bestimmung der Unzuverlässigkeit vom Objekt her wurde auch versucht, sie als Rezeptionsproblem zu problematisieren, einerseits durch die Frage nach zuverlässigen Erkennbarkeitskriterien12, andererseits durch Mutmaßungen über die möglichen Funktionen des Kunstgriffs13. Mit der Ausarbeitung der obigen Aspekte wurde für die Bedürfnisse von Fallanalysen wie die im Folgenden vorzunehmende ein praktikabler Fragenkatalog bereitgestellt: – Aus welchem (intrafiktionalen) Grunde wird unzuverlässig erzählt? Hierzu bietet sich von Riggan etablierte, möglicherweise noch zu erweiternde Figurentypologie als Erklärung der Veranlagungen und Motive an. – Was wird unzuverlässig erzählt? Ist nur Interpretationen und Bewertungen der Realität zu misstrauen (theoretisch unzuverlässiges Erzählen) oder wird der Leser auch bezüglich der Tatsachen (mimetisch unzuverlässiges Erzählen) in die Irre geführt? – Wo ist der unzuverlässige Erzähler? Nimmt er an den Ereignissen teil (Homodiegese) und setzt sich somit leichter dem Verdacht auf Zuverlässigkeitsdefizit aus oder hält er sich aus dem Geschehen heraus (Heterodiegese), um mit dem Anschein der Auktorialität seine Leserschaft umso zielsicherer zu täuschen? – Wie macht sich die Unzuverlässigkeit bemerkbar? Gibt es objektive Textmerkmale, die auf sie schließen lassen (rhetorischer Zugang) oder muss der 9 Vgl. Phelan, James/Martin, Mary Patricia: The Lessons of »Weymouth«. Homodiegesis, Unreliability, Ethics, and »The Remains of the Day«. In: Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis. Hrsg. von David Herman. Columbus: Ohio State UP 1999, S. 88–109. 10 Vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2012 [1999], S. 99–110. Die Einteilung theoretisch/mimetisch hat sich, mit Modifikationen, in der späteren Forschung etabliert, vgl. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2008, S. 28–67; Uri Margolin: Theorising Narrative (Un)reliability. A Tentative Roadmap. In: Unreliable narration and trustworthiness. Intermedial and interdisciplinary perspectives. Hrsg. von Vera Nünning. Berlin: De Gruyter 2015, S. 31–58. 11 Explizit von: Cohn, Dorrit: Discordant Narration. In: Style 34, 2000, H. 2, S. 307–316, hier S. 310; implizit etwa von: Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2012, S. 105f. 12 Vgl. Nünning, Ansgar: Reconceptualizing Unreliable Narration. Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches. In: A companion on narrative theory. Hrsg. von James Phelan/Peter Rabinowitz. Malden/Oxford/Carlton: Blackwell Publishing Ltd. 2005, S. 89–107. 13 Vgl. Bläß, Ronny: Satire, Sympathie und Skeptizismus. Funktionen unzuverlässigen Erzählens. In: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Hrsg. von Fabienne Liptay/Yvonne Wolf. München: Edition Text + Kritik 2005, S. 188–203.

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Leser seinen eigenen Sinn für Normen, Werte und Tatsachen mit dem des jeweiligen Textes konfrontieren (kognitiver Zugang)? – Zu welchem Zwecke wird unzuverlässig erzählt? Soll sich der Leser vom Erzähler distanzieren (Satire) oder im Gegenteil mehr Verständnis für ihn aufbringen (Sympathie) oder mit ihm an der Zuverlässigkeit der vorgefundenen Realität zweifeln (Skepsis)? Zu diesen, aus der bestehenden Forschung ableitbaren Untersuchungskriterien sei noch eines hinzugefügt, das explizit bislang kaum thematisiert wurde, und zwar den Umfang der Unzuverlässigkeit. Der Begriff kann zweierlei verstanden werden. Zum einen geht es um den Anteil der Unzuverlässigkeit an der thematischen Struktur des Werkes; die Skala reicht hier von episodischer Verwendung bis hin zu Texten, deren Thematik durchweg von Unzuverlässigkeit bestimmt ist14. Zum zweiten ist auch die Unzuverlässigkeit als rhetorischer Kunstgriff ein Phänomen von variierender Frequenz: Sie mag punktuell zum Einsatz kommen, aber auch die Stabilität des gesamten Textes in Frage stellen15. Wie weiter im Text gezeigt wird, ist gerade dieses Kriterium für die Erfassung der Unzuverlässigkeit im erzählerischen Werk Walsers durchaus behilflich.

2.

Die Unzuverlässigkeit im erzählerischem Werk Walsers

Im Folgenden werden die oben dargestellten kategoriellen Instrumente an den Hauptgegenstand der vorliegenden Studie angelegt.

14 Bislang hat nur Britta Hartmann (Von roten Heringen und blinden Motive. Spielarten Falscher Fährten im Film. In: Falsche Fährten im Film und Fernsehen. Hrsg. von Patric Blaser/ Andrea Braidt/Anton Fuxjäger/Brigitte Mayr. Wien/Ko¨ ln/Weimar: Bo¨ hlau 2007, S. 33–52, hier S. 37 (= Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft 53, 2007, H. 2)) auf diesen Aspekt hingewiesen, indem sie eine Opposition zwischen Mikro- und Makrostrategie der »falschen Fährten« im Film aufstellte. 15 Martínez/Scheffel (Einführung in die Erzähltheorie. 2012, S. 197f.) sprechen in dem letzteren Falle von mimetisch unentscheidbarem Erzählen. Freilich lässt sich das Merkmal der Unentscheidbarkeit auch auf die theoretische Variante der Unzuverlässigkeit ausdehnen. In beiden Fällen ist die Unzuverlässigkeit dann einer höheren Instanz als dem Erzähler zuzuschreiben: dem Autor oder seiner werkimmanenten Repräsentanz; eine Frage, die erst seit Kurzem die Forschung beschäftigt, vgl. Kindt, Tom/Köppe, Tilmann: Unreliable Narration With a Narrator and Without. In: Journal of Literary Theory 5, 2011, H. 1 (Special Issue: Unreliable Narration), S. 81–93; Pettersson, Bo: Kinds of Unreliability in Fiction. Narratorial, Focal, Expositional and Combined. In: Unreliable narration and trustworthiness. Intermedial and interdisciplinary perspectives. Hrsg. von Vera Nünning. Berlin: De Gruyter 2015, S. 109– 129, hier S. 115–125.

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2.1

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Fragwürdige Werturteile

Die Voranstellung dieser Unzuverlässigkeitsvariante will gerechtfertigt werden. Erstens wird damit der Werkchronologie Walsers Tribut gezollt, weil sein Buchdebüt – »Fritz Kochers Aufsätze« (1904) – im Zentrum der Betrachtungen steht. Was allerdings wichtiger ist: Auch die Entwicklungsgeschichte des Zentralterminus der vorliegenden Studie wird mit der Modifikation der Reihenfolge (gegenüber der in der Einführung angenommenen) gewürdigt. Wie bereits berichtet, war die Forschung zum unzuverlässigen Erzählen zunächst auf dessen homodiegetisch-theoretische Variante konzentriert. Im Fokus der Untersuchungen standen Ich-Erzähler, deren Worte und Handlungen keine Übereinstimmung mit den Normen des Werkes aufwiesen. Nach der Terminologie von Riggan fallen vornehmlich die Typen »Picaro« und »Naiver« unter den so bestimmten Unzuverlässigkeitsverdacht, also Erzähler, die entweder aus moralischer Veranlagung oder wegen fehlender Weltkenntnis ihre Umwelt mangelhaft oder falsch interpretieren bzw. bewerten. Für Standardbeispiele gelten hier die Erzähler von Dostojewskis »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« und Nabokovs »Lolita« (erstere Variante) oder Twains »Huckleberry Finn« und Manns »Doktor Faustus« (letztere Variante). Es dürfte nicht verwundern, dass Robert Walsers Fritz Kocher in diese Gesellschaft aufgenommen wird. Schon die Tatsache, dass es sich hier um eine Herausgeberfiktion handelt, lässt auf Distanz von der auktorialen Instanz schließen, die nach Booth ein konstitutives Merkmal des unzuverlässigen Erzählens ist16. Zudem handelt es sich um einen minderjährigen Erzähler, der als solcher geradezu automatisch in den Verdacht gerät, die naive Subvariante der theoretischen Variante des unzuverlässigen Erzählens zu verkörpern17. Tatsächlich werden die so begründeten Erwartungen nicht enttäuscht. Ein explizites Unzuverlässigkeitssignal ist bereits in der Vorrede des »Herausgebers« enthalten, die ansonsten kein Mittel der Distanzerzeugung ist, sondern den früh

16 Die Präsenz einer Herausgeberfigur ist freilich eine – günstige – Ausnahmsituation. Im Normalfall wird die Unzuverlässigkeit des Erzählers an seinem Verhältnis zum impliziten Autor gemessen, einer Kategorie, die Booth erfunden hat, um nicht den empirischen Autor in die Werkanalyse einzubeziehen (vgl. Booth, The Rhetoric of Fiction. 1982, S. 70f.). Allerdings wurde dieser Schritt als überflüssige Instanzenmehrung kritisiert (vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. Übersetzt von Andreas Knop. München: W. Fink 1998, S. 284–292). Im Falle des fiktiven Herausgebers ist aber eine mit dem Erzähler nicht-identische Instanz explizit gegeben, die gewöhnlich als Sprachrohr des Autors fungiert, und somit die auktoriale Stellungnahme zum Erzählten mit weniger Spekulationsgefahr als im Falle des »reinen« impliziten Autors rekonstruieren lässt. 17 Vgl. hierzu: Spielmann, Monika: Aus den Augen des Kindes. Kinderperspektive im deutschsprachigen Roman seit 1945. Innsbruck: Universität 2002, S. 36f.

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verstorbenen »Autor« möglichst sympathisch erscheinen lässt. Dennoch heißt es in ihr auch: »Ein Knabe kann sehr weise und sehr töricht fast im selben Moment reden: so die Aufsätze.«18

Der Satz liest sich wie ein Programm: Der Naivität (»töricht«) wird unmittelbare Nähe (»fast im selben Moment«) zu einem überdurchschnittlichen Geistesniveau (»weise«) zugesprochen. Dies weist auf eine Funktionalisierung des unzuverlässigen Erzählens hin; eine Spur, die wie ebenfalls verfolgen werden. Zunächst seien aber die Erscheinungsformen der Unzuverlässigkeit, also hier des »Törichten«, als solche betrachtet. Es sei mit einem krassen Beispiel angefangen. In dem Aufsatz über Armut ist u. a. Folgendes zu lesen: »Arm ist man, wenn man mit zerrissener Jacke in die Schule kommt. Wer wollte dem widersprechen? Wir haben in unserer Klasse mehrere arme Knaben. Sie tragen zerfetzte Kleider, frieren an ihren Händen, haben unschöne, schmutzige Gesichter und unsaubere Manieren. Der Lehrer behandelt sie rauher als uns und er hat recht. Ein Lehrer weiß, was er tut. Ich möchte nicht arm sein, ich würde mich totschämen. Warum ist Armut eine solche Schande? Ich weiß es nicht. Meine Eltern sind wohlhabend. Papa hat Wagen und Pferde. Wenn er arm wäre, könnte er das nicht haben. Ich sehe oft auf der Straße arme zerlumpte Frauen, und sie dauern mich. Arme Männer rufen dagegen eine gewisse Entrüstung in mir wach. Armut und Schmutz steht den Männern schlecht und ich habe kein Mitleid mit einem armen Manne. Für arme Frauen habe ich dagegen eine Art Vorliebe. Sie können so schön um eine Gabe bitten. Die Männer, die betteln, sind häßlich und verlegen und deshalb verabscheuungswürdig. Es gibt nichts Häßlicheres als Betteln. Jede Art Bettelei zeugt von einem unsoliden unstolzen, ja sogar unredlichen Charakter.«19

Es fällt nicht schwer, die Naivität dieser Passage unter Beweis zu stellen. Oberflächlichkeit der Beobachtungen, klischeehaftes Denken, Verkennung sozialer und wirtschaftlicher Zusammenhänge, mangelndes (oder bestenfalls parteiisches) Einfühlungsvermögen und Anmaßung der Allwissenheit liegen auf der Hand. Die Irritation des Rezipienten scheint in diese Mitteilung einkalkuliert zu sein. Um dies festzustellen, braucht man sich nicht bloß auf eine hypothetische Lesergemeinschaft zu berufen, wie das die Anhänger der Rezeptionsästhetik tun20. Auch ist es nicht nötig, die Meinung der realen Leser zu erfragen, wie das 18 Walser, Robert: Fritz Kochers Aufsätze. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 7 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 1). 19 Ebd., S. 16f. 20 Vgl. hierzu: Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Übersetzt von Heinz-Georg Held. München: Carl Hanser Verlag 1987. Ecos Theorie ist nominell nicht der Rezeptionsästhetik zugeordnet, bietet aber dieser Forschungsrichtung das denkbar ausgefeilteste Instrumentarium.

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die Vertreter der Empirischen Literaturwissenschaft in ihrer Polemik gegen die rezeptionsästhetischen Ansätze forderten21. Es genügt, auf die herausgeberische Klassifikation der Kocherschen Texte als »töricht« zu rekurrieren: Welchen Stellen sollte sie ansonsten gelten? Der in der Vorrede gegebene Unzuverlässigkeitssignal hat an Aussagen wie diese sein Referenzobjekt gefunden. Die einwandfreie Feststellung des unzuverlässigen Erzählens in Bezug auf theoretische Aussagen, fällt in der Regel (d. h. bei Abwesenheit textinterner Signale) viel schwerer und widerspiegelt auf eine kondensierte Weise alte und neue Dilemmas der Rezeptionsforschung22. Auch in dem vorliegenden Falle würde die textintern feststellbare Präsenz der Unzuverlässigkeit nichts Eindeutiges über deren Wirkung und Funktionen vermitteln. Wäre den Aufsätzen nur Torheit zu attestieren, könnte man sich leicht den idealen Rezipienten als einen Befürworter der sozialen Gerechtigkeit vorstellen, der zu Ungleichheit perpetuierenden Aussagen folgerichtig auf Distanz geht. Ein Anhänger neoliberaler Lösungen, der in Kochers Ausführungen die Bestätigung der »Natürlichkeit« des Wettbewerb orientierten Denkens sähe, würde dagegen als Exempel einer inadäquaten Rezeption fungieren. Doch dem ist nicht ganz so. Indem der »Herausgeber« die »törichte« Rede in das Verhältnis einer zeitlichen Beinahe-Deckungsgleichheit mit der »weisen« setzt, legt er auch eine inhaltliche Überschneidung beider Diskurse nahe. Theoretisch würde es heißen: Die Wahl einer als unzuverlässig geltenden Erzählinstanz mag auch der verkappten Bejahung der Werturteile dienen, zu denen man sich offen nicht gerne bekennen will. Immerhin kann man sie dann auf bekenntnishafte Art und Weise aussprechen, ohne sich zugleich auf sie festzulegen, da die Unterstellung der Unzuverlässigkeit sie jederzeit annullierbar macht. Technisch betrachtet, ist die axiologische Zweideutigkeit durch das Gleichgewicht zwischen Distanz- und Akzeptanzsignalen erreichbar. Ob diese Hypothese auf die fragliche Aussage zutrifft, lässt sich anhand bloßer Textdaten nicht feststellen. Aufgrund biographischer und literarischer Daten, sprich gelebter und besungener Unscheinbarkeitsverehrung wäre Robert Walser alles andere als Verachtung dürftiger Verhältnisse zuzumuten. Andererseits ist die Annahme der überheblichen Rhetorik mit solchen typisch Walserschen Topoi wie ironische Selbstdistanz und Aristokratie des Geistes vereinbar. Andere Erscheinungsformen des theoretisch unzuverlässigen Erzählens der Aufsätze sind nicht mehr so kontrovers. An einer Stelle lässt sich die Kolportage nationaler Eigen- und Fremdstereotypen nachweisen: 21 Vgl. hierzu: Groeben, Norbert: Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft. Paradigma- durch Methodendiskussion an Untersuchungsbeispielen. Tübingen: Narr 1980, Teil 2B (S. 45–73). 22 Vgl. Nünning (A.), Reconceptualizing Unreliable Narration. 2005, S. 92–99.

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»Die Untertanen anderer Länder sehen oft Haustieren ähnlich. Nicht, als ob Freiheit und Stolz unter anderen Völkern nicht auch heimlich wären, aber uns sind sie angeboren.«23

Ansonsten aber manifestiert sich die Unzuverlässigkeit an der Häufung von Binsenweisheiten: »Welsch eine kostbare Blume ist die Freundschaft.«24 »Nichts, das besteht, ist nutzlos.«25 »Um in der Welt ein rechtschaffenes Leben führen zu können, muß man einen Beruf haben.«26 »Der Nutzen eines Jahrmarktes ist groß, das Vergnügen daran fast noch größer.«27

Auch hier kann man sagen, dass die Unzuverlässigkeit in den Dienst einer zweifellos Zuverlässigkeit voraussetzenden Aufgabe gestellt wird: der der Neuerschaffung der Welt28. Mit einfachen Worten die banalsten Erkenntnisse zu vermitteln: Um sich mit diesem Unterfangen nicht dem Kitschverdacht auszusetzen, muss man bestimmte Vorkehrungen treffen. Matsuo Basho¯s Erwachung zum Dichter der unverfremdeten Realität war Resultat eines harten Zen-Trainings29. Günter Eichs »Inventur« ging eine Weltkatastrophe voraus. Wer keine Grenzerfahrung im Hintergrund hat, die die Einfalt rechtfertigen würde, muss die Stimme einem leihen, der gegen derartige Bedenken immun ist. Was die theoretische Variante des hierbesprochenen Kunstgriffs anbetrifft, wird Fritz Kocher die unzuverlässigste Erzählerfigur in Walsers Schaffen bleiben. Die anderen Ich-Erzähler, mit wenigen Ausnahmen30 namenlos, mögen schon fragwürdige Urteile aussprechen, Hinweise auf fehlende Distanz seitens des impliziten Autors sind jedoch nicht festzustellen.

23 24 25 26 27 28

Walser, Fritz Kochers Aufsätze. 1986, S. 31. Ebd., S. 14. Ebd., S. 19. Ebd., S. 28. Ebd., S. 40. Vgl. hierzu die folgende Passage aus »Ein Maler«, einem Text, der in Walsers Bucherstling mit veröffentlicht wurde: »Ein Maler ist ein Mensch, der einen Pinsel in der Hand hält. Am Pinsel ist Farbe. Die Farbe ist nach seinem Geschmack gewählt. Die Hand hat er, um den Pinsel geschickt nach den Befehlen des sehenden und fühlendes Auges zu führen« (Walser, Fritz Kochers Aufsätze. 1986, S. 73). 29 Vgl. Ulenbrook, Jan: Ein Haiku entsteht. In: Insel-Almanach auf das Jahr 1961. Frankfurt/ Main: Insel 1960, S. 59–62, hier S. 59. 30 Die am sorgfältigsten ausgearbeitete Erzählerfigur ist zweifelsohne Jakob von Gunten aus dem gleichnamigen Roman (1909); vereinzelt deuten Kurzprosatitel Erzähler mit Vornamen wie »Fritz« (1917) oder »Tobold« (1917) an.

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2.2

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Selbstthematisierung als unzuverlässige Erzählinstanz

In der Einleitung wurde dieser Aspekt der Walserschen Unzuverlässigkeit zuletzt erwähnt und scheint auch jetzt, da er auf einen metasprachlichen Charakter der Problemmanifestation andeutet, deren letzte erreichbare Stufe darzustellen. Es ist in der Tat auch so – soweit von der Unzuverlässigkeit des Erzählers die Rede ist, deren Besprechung im vorliegenden Abschnitt tatsächlich zu Ende gebracht wird. Die übrigen Aspekte gelten einem anderen Agens der Unzuverlässigkeit, zu dessen Identität an einer gehörigen Stelle Überlegungen angestellt werden. Inzwischen soll die Selbstthematisierung thematisiert werden. Diese gilt bei Walser der anderen der beiden Hauptvarianten des unzuverlässigen Erzählens, und zwar der mimetischen. Zwar reflektiert auch Fritz Kocher mehrmals über seine Schreibgewohnheiten31, stellt aber seine Urteilskraft nirgends in Frage. Die expliziten Unzuverlässigkeitsdiagnosen sind bei Walser im Zusammenhang mit der Vermittlung von Fakten, nicht von Urteilen feststellbar. Mimetisch unzuverlässiges Erzählen ist bei Walser in der Regel transparent. Imaginäre Zustände geben sich nicht für Wirklichkeit aus, folglich fehlen auch Überraschungseffekte, die aus der Aufdeckung dieser Vortäuschungen resultieren. Diese Behauptung mag ihrerseits überraschend für diejenigen klingen, die etwa »Jakob von Gunten« (1909) für eine kaum verkappte Traumgeschichte halten, meint doch die Titelgestalt selber: »Weiß Gott, manchmal will mir mein ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher Traum vorkommen«32. Freilich kann der Ich-Erzähler Traum und Wirklichkeit präzise auseinanderhalten, wie das seine Niederschrift des Traumes von sich als schlechtem Menschen33 oder vom Auszug in die Wüste34 zeugt. Und wenn er manchmal die Grenze nicht eindeutig zu ziehen vermag – wie bei der Erinnerung an das nächtliche Mysterium mit Fräulein Benjamenta35, an den Anfall übermenschlicher Raserei des Institutvorstehers36 oder an die Überzeugung von der Wirklichkeit der »inneren Gemächer«37 – so liegt das nur zum Teil an seinem Geis-

31 Hierzu eine kleine Auswahl: »Ich habe es nötig, mich im Stil zu verbessern« (Walser, Fritz Kochers Aufsätze. 1986, S. 10); »Mich reizt nicht das Suchen eines bestimmten Stoffes, sondern das Aussuchen feiner, schöner Worte« (ebd., S. 24); »Wir? Ei, spreche ich in der Mehrzahl? Das ist eine Schriftstellergewohnheit und ich komme mir, wenn ich einen Aufsatz schreibe, immer wie ein Schriftsteller vor« (ebd., S. 28). 32 Walser, Robert: Jakob von Gunten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 9 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 11). 33 Ebd., S. 87–89. 34 Ebd., S. 161–164. 35 Ebd., S. 97–103. 36 Ebd., S. 142f. 37 Ebd., S. 130–133.

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teszustand, den er übrigens selber explizit als unzuverlässig diagnostiziert38, vor allem aber an der Natur der dargestellten Welt, zu dessen Normalausstattung erstens realitätsinkompatible Entitäten, wie die scheintoten oder versteinerten Lehrer39, zweitens die Unschärfe der Wahrnehmung (»Ort der Umnebelung und Finsternis«)40 gehören. Von diesen Zuständen gebührend Rechenschaft zu geben, ist alles andere als unzuverlässig41. Doch »Jakob von Gunten« bleibt in Walsers Werk hinsichtlich der Realitätskompatibilität eine Ausnahme42. Normalerweise gibt es in seinen Texten keine krassen Verstöße gegen die herrschende Realitätsvorstellung, und wenn schon, dann werden sie sofort naturalisiert. Dies lässt sich gut an Hand der Kurzgeschichte »Na also« (1917) vorführen, die mit dem folgenden Absatz beginnt: »Eine reizende, distinguierte Bourgeoisfamilie, die eines Morgens, zirka vier Uhr, bei bezauberndem Mondschein, während draußen vor dem Fenster heller Sonnenschein lächelte, wobei es leider Gottes in Strömen regnete, vergnügt beim Tee saß, saß bei was? Beim Tee! Und trank bei dieser Gelegenheit was? Ei, der Tausend, Tee! Wenn die zahlreiche zierliche Familie, indem sie so beim Tee saß irgendwas anderes trank als Tee trank, so soll mich der Teufel holen, und wenn selbige liebenswürdige Familie, indem sie Tee schlürfte, bei irgend etwas sonstigem saß als beim Tee saß, so verzichte ich darauf, als gescheiter und kluger Mensch zu gelten, als welcher ich bis heute Gott sei Dank noch immer gegolten habe.«43

Die Transparenz des unzuverlässigen Erzählens braucht da nicht eigens bewiesen zu werden: Man begegnet nicht einer Welt, die anders ist als die dem Leser bekannte – als eine solche hätte sie sich immer noch zuverlässig erzählen lassen –, sondern einer, die schier unmöglich ist. Oder, vorsichtiger ausgedrückt: einer, deren Existenzvoraussetzung schwerer fällt, als eine Umstufung der ihr geltenden Erzählung von einer über Ereignisse zu einer über Worte44. Wovon im zitierten Text berichtet wird, ist nicht die bourgeoise Familie, sondern die Rede über sie;

38 39 40 41

Ebd., S. 131. Ebd., S. 9, 58. Ebd., S. 19. Zum zuverlässigen Erzählen unzuverlässiger Wahrnehmung am Beispiel von Ron Howards Film »A Beautifiul Mind« von 2001 vgl. Bareis, Alexander: Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe. Acta Universitatis Gothoburgensis 2008, S. 177, Anm. 511. Im Vergleich mit Howards ist Walsers Erzählweise freilich noch um einen Grad zuverlässiger, da sie auch gegenüber anderen fiktionalen Figuren und dem Rezipienten ihre Illusionsbezogenheit nicht verheimlicht. 42 Man kann ihm zur Seite nicht einmal Tobold stellen, der vom Überleben des eigenen Todes berichtet (vgl. Walser, Robert: Tobold (II). In: ders.: Der Spaziergang. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 224–258, hier S. 225 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 5)), da es sehr wahrscheinlich ist, dass er sich der uneigentlichen Rede bedient. 43 Walser, Robert: Na also. In: ders., Der Spaziergang. 1986, S. 171–175, hier S. 171f. 44 Vgl. Genette, Die Erzählung. 1998, S. 120.

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sie ist es auch, der aufgrund der wiederholten offenen Widersprüche der Befund der Unzuverlässigkeit gilt. Ist diese dann noch als mimetisch einzustufen? In diesem Falle durchaus, da die Redeweise zur histoire geworden ist. Ob man dem reinen discours Unzuverlässigkeit attestieren kann – und in der Folge eine weitere Grundvariante des unzuverlässigen Erzählens einführen muss –, ist auf jeden Fall überlegenswert, sei aber aus Platzgründen dahingestellt. Die Unzuverlässigkeit in »Na also« ist nicht nur transparent, sondern wird auch reflektiert. In den zwei auf das Zitat folgenden Abschnitten heißt es: »Herr Verfasser! Mensch! Was ist mit ihnen? Sind Sie närrisch? Was mit mir sei? Gar nichts, gar nichts. Bitte sehr. Und närrisch bin ich ganz und gar nicht. Ich bitte tausendmal um Verzeihung, wenn ich zu behaupten wage, daß ich vollkommen in Ordnung bin. Ich bin normal und in jeder Hinsicht zuverlässig, nur bin ich vielleicht heute sonderbarerweise nicht ganz so schriftstellermäßig aufgelegt, wie ich sonst aufgelegt und abgestimmt zu sein pflege. Ich bin vielleicht heute ausnahmsweise allerdings ein wenig so so und la la. Im übrigen bin ich ganz gesund, das darf ich versichern. Zur Schriftstellerei gehört Witz und exakt das, was man Witz nennt, scheint mir heute bedauerlicherweise sozusagen zu fehlen.«45

Nach diesem Prinzip ist der gesamte Text (eine Kurzgeschichte ist er gemäß der vorliegenden Zusammenfassung nicht) aufgebaut: Auf Aussagen zu recht heterogenen Themen (neben der bourgeoisen Familie sind es Quasi-Werbetexte für das Mundwasser Odol sowie – ohne Markenempfehlung – Hühneraugenringe, ferner der Ansatz eines Berichts vom Berliner Szeneleben) folgen explizite oder (im letzten Falle) vorweggenommene Vorwürfe seitens eines ansonsten nicht geschilderten Publikums, auf die die Verfasserfigur jeweils mit Gelassenheit reagiert. Am Ende heißt es: »Nur keine Aufregung! Ich sagte ja deutlich, daß ich heute scheinbar ein wenig so so und la la sei und na ja doch schon und vielleicht ein wenig na-nu dazu. Ist denn das so schlimm? Na also! Und demnach schönen guten Tag oder gute Nacht und die teuersten Empfehlungen, denn ich habe meine Pflicht getan und bin fertig und darf einstweilen wieder spazieren gehen.«46

Zweifelsohne liegt hier der Typ des unzuverlässigen Erzählers vor, den Riggan einen Clown nannte. Charakteristisch für ihn ist erstens die Transparenz seiner dekonstruktiven Praktiken, zweitens die souveräne Beherrschung der Unzuverlässigkeit stiftenden Techniken. Damit unterscheidet er sich sowohl vom Wahnsinnigen, der seine falsche Realitätswahrnehmung verheimlicht, weil er ihr selber zum Opfer fällt als vom Lügner, der seine Manipulation an der Wirklichkeit freilich souverän, aber keinesfalls transparent – und zu keinem guten Zweck – 45 Vgl. Walser, Na also. 1986, S. 172. 46 Ebd., S. 175.

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vornimmt. Der Zweck des Clowns ist, seine Rezipienten direkt zu unterhalten (der Wahnsinnige und der Lügner tun es auf dem Umweg der Irreführung) und in diesem Sinne ist ihm bereits als Figur die Virtuosität zuzuschreiben, die man im Falle insouveräner Typen (neben dem Wahnsinnigen gehört auch der Naive dazu) erst dem Autor attestieren muss. Dass der Erzähler in »Na also« konsequent als »Autor« tituliert wird, hat also eine besondere Berechtigung: Natürlich nicht in dem Sinne, dass er mit dem empirischen Autor Walser identifizierbar ist, wohl aber mit der auktorialen Instanz, die selbst nach ihrem metaleptischen Eintritt in die Welt der Geschichte alle Fäden der Leserlenkung in der Hand behält47, wie das übrigens die bekanntesten clownesken Erzähler wie Sternes Tristram Shandy oder die Erzählinstanzen bei Jean Paul taten, in deren Fußstapfen Walsers Erzähler mittels der besagten Technik ebenbürtig tritt. Was sich in »Na also« in einer komprimierten Form vollzieht, wird im postum (1972) veröffentlichten Roman »Der Räuber« zum makrostrukturellen Gesetz. Auch hier gibt es einen Ich-Erzähler, der seine Arbeit an der Geschichte des namenlosen »Räubers« laufend kommentiert. Auch er setzt mitunter nicht viel auf seine Zuverlässigkeit: Er bezeichnet sich als »vergeßlich«48 gesteht Wissenslücken ein49; tut gar so, als könnte er seine eigene geschlechtliche Identität nicht bestimmen50. Dies hat voraussehbare Konsequenzen für die dargestellten Inhalte. Uneingelöste Versprechen51, unbeantwortete Fragen und Ungenauigkeiten begegnen im Text auf Schritt und Tritt, wie das die folgende Passage demonstriert: »Die Schwäne dort im Schloßteich, die Renaissancefassade. Wo sah ich das? Vielmehr, wo hat es der Räuber gesehen? An Stämmen von alten Bäumen herauf führten Treppen. Ganze Teegesellschaften konnten da heraufgehen, um unter grünem Dache Cercle abzuhalten. Und jene Wirtschaft auf einsamer Berganhöhe, jene Wäldchen von Birken, oder was es sonst für eine Baumart gewesen ist.«52

47 Hierzu eine signifikante Stelle: Auf die Aufforderung des mutmaßlichen Publikums, er möge augenblicklich »dieses nur für anständige Leute bestimmte Zimmer« verlassen, antwortet der »Autor«: »Aber welches Zimmer denn?« (ebd., S. 174). Damit bringt er unmissverständlich zum Ausdruck, dass er die volle Gewalt über das Bestehen oder Nichtbestehen des Zimmers behält, das wie die gesamte dargestellte Welt seine fiktionale Konstruktion ist. 48 Walser, Robert: Der Räuber. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 15 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 12). 49 »Ich weiß nicht zu welcher Tageszeit es war und was für eine Stimmung dabei obwaltete, als der Räuber eine Treppe herablief, die mit einem Dach versehen ist« (ebd., S. 101). 50 »Für ein Mädchen hielt ich mich ein paar mal, weil ich gern schuhputze und weil mich häusliche Arbeiten lustig anmuten« (ebd., S. 142). 51 Vgl. hierzu: Jürgens, Martin: Nachwort. In: Walser, Der Räuber. 1986, S. 200–207, hier S. 200. 52 Walser, Der Räuber. 1986, S. 93.

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Auch der zwischen dem 2. und dem 3. Satz geleistete mimetische Sprung ist lediglich einer von vielen. Dieser braucht freilich nicht automatisch Signal der Unzuverlässigkeit zu sein, mag er doch sowohl der scheinbaren Verselbstständigung der Figur als auch der Demonstration erzählerischer Souveränität dienen. Diese wird im Roman auch nicht selten angesprochen, wie z. B. in der folgenden Beteuerung: »Und so behalte ich denn jedenfalls über diese Räubergeschichte hier die Direktion«53. Im Endeffekt stören die selbstkritischen Aussagen den Erzähler nicht daran, die Beendigung des Romans als »Sieg der Kunst« zu feiern54. Offensichtlich zu Recht, denn die Diffusität des Textes ist alles andere als ein Kunstfehler. Ebenso wenig sind die Rechtfertigungen des Erzählers das Eingeständnis eines solchen, sondern Teil eines Spiels, dessen Fäden der Erzähler sicher in Hand hat. Nicht umsonst attestiert ihm Jochen von Greven »glänzende Unzuverlässigkeit«55. Allerdings wird sie nicht bloß zu spielerischen Zwecken genutzt, wie die folgende Passage bezeugen mag: »Haben Sie kein Gedächtnis für das, was die Offiziere im Krieg Unmögliches leisteten? Indem sie ihr Möglichstes taten, verrichteten sie das Menschenunmögliche und aßen namentlich ihren Untergebenen nicht so sehr das Brot auf, als daß sie das Brot, das sie den Soldaten verpflichtet waren, zu geben, an Schieber verkauften, um dafür Champagner zu bekommen, dessen Genuß ihnen für die Verteidigung ihres Vaterlandes wichtig schien. Doch was sage ich das in der vollendeten Zerstreutheit? Vergessen Sie, was ich da gesagt habe.«56

Wie im Falle Fritz Kocher dient hier die Unzuverlässigkeit (die diesmal allerdings intrafiktional nicht verbrieft, sondern evident vorgetäuscht wird) zur Absicherung kontroverser Aussagen, nun geht es freilich nicht um die Rettung der Naivität, sondern im Gegenteil: um scharfsinnige politische Kritik. Es ist eine Funktion des unzuverlässigen Erzählens, die den Erzählertypen Naiver und Clown attestierbar ist: als unzuverlässig eingestuft, können sie ihre Narrenfreiheit zum Artikulieren subversiver Inhalte (theoretischer wie mimetischer Natur)57 nutzen. Ein wichtiger Befund für diejenigen, die dem Kunstgriff nur Unterhaltungswerte zutrauen.

53 54 55 56 57

Ebd., S. 145. Ebd., S. 188. Vgl. Jürgens, Nachwort. In: Walser, Der Räuber. 1986, S. 200. Walser, Der Räuber. 1986, S. 156. Das »Räuber«-Zitat tut beides: Indem es von den Praktiken der Offiziere erzählt, spricht es ein implizites Urteil über deren Haltung aus.

230 2.3

Tomasz Waszak

Rhetorische Taschenspielerei

Wie im vorausgehenden Abschnitt angekündigt, wird nun das Gebiet der erzählerischen Unzuverlässigkeit zugunsten der Fälle verlassen, in denen die fraglichen Qualität auf andere Instanzen zurückzuführen ist. Zugleich wird im vorliegenden Abschnitt den Minimalformen des untersuchten Phänomens die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie bislang kaum genossen haben (vgl. oben den Schlussabsatz des Abschnitts 1.). Gemeint sind rhetorische Figuren: Ausdrücke, die zuweilen aus ein paar Worten bestehen können und, selbst wenn zu Sätzen ausgedehnt, nicht unbedingt Erzählvorgänge widergeben. Dennoch sind manche von ihnen, wie z. B. Ironie, Aposiopese, Dubitatio, Correctio oder Praeteritio (Paraleipse) wie dazu geschaffen, den sie gebrauchenden Redner als unzuverlässig auszuweisen. Die erstere der erwähnten Techniken ist bereits zum Objekt der Unzuverlässigkeitsstudien geworden58; an dieser Stelle sei die diesem Aspekt noch nicht beachtete letztere näher betrachtet. Mit der Paraleipse bzw. Praeteritio ist nach Edgar Papp das angekündigte, aber nicht eingehaltene Übergehen eines Redegegenstandes gemeint, nach dem Muster: »Ich will nicht reden von seiner Unzuverlässigkeit«59. Die Unzuverlässigkeit dieser Aussage ist evident und ihr Mechanismus präzise nachweisbar. Und zwar ergibt sie sich aus dem performativen Dementi des rein verbalen Statements: Indem der zu verschweigende Gegenstand im selben Satz genannt wird, der dessen Nicht-Nennen verspricht, wird die Gültigkeit des Versprechens außer Kraft gesetzt. Die Eigenschaft »unzuverlässig« steht insofern fest, ist aber der Text, dem sie eignet, ein Erzählen? In seiner Kürze könnte er allenfalls dessen elementare Form darstellen, wie sie je nach gewählter Typologie als »Geschehen«, »Motiv« oder »Funktion« definiert wird60. Seinem Inhalt nach stellt sie allerdings eine Absichterklärung dar, die herkömmlich nicht unter Erzählen im Sinne von »Hergänge bzw. Verläufe in Worten w weitergeben«61 fällt; es sei denn, man gehe von einem sehr weiten Erzählungsbegriff aus, wozu die moderne Narratologie übrigens tendiert62. Hier wird freilich nicht so weit gegangen, stattdessen lautet 58 Vgl. Vogt, Robert: Combining Possible-Worlds Theory and Cognitive Theory. Towards an Explanatory Model for Ironic-Unreliable Narration. Ironic-Unreliable Focalization, Ambiguous-Unreliable and Alterated-Unreliable Narration in Literary Fiction. In: Nünning, Vera (Hrsg.): Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives. Berlin: De Gruyter 2015, S. 131–153. 59 Vgl. Papp, Edgar: Taschenbuch Literaturwissenschaft. Ein Studienbegleiter für Germanisten. Berlin: Erich Schmid 1995, S. 56. Die Wahl gerade dieser Quelle mag durch das zitierte Beispiel ausreichend begründet worden sein. 60 Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2012, S. 27f. 61 Vgl. ebd., S. 11. 62 Vgl. die neueren Beiträge über das Erzählen außerhalb epischer Texte: Hühn, Peter: Lyrik und Erzählen. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. Stutt-

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der Vorschlag, die von der Paraleipse/dem Praeteritio hergestellte Unzuverlässigkeit eine rhetorische oder eine auktoriale zu nennen; schließlich ist es der Autor, der für die Wahl der rhetorischen Mittel in letzter Instanz verantwortlich ist. Wie viele andere rhetorische Figuren (z. B. Ironie, Metapher) hat auch die besprochene Form ihre erweiterte Variante, d. h. sie kann zum Strukturprinzip eines längeren Textes werden. Ein bekanntes Beispiel erweiterter Paraleipse ist Robert Gernhardts »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« (1981): eine vehemente Kritik an der Formenstrenge des Sonetts, die durch die Wahl und konsequente Erfüllung der Regeln dieses Lyrikgenres unterminiert wird. Zugleich liegt hier eine dezidiert nicht-erzählerische Unzuverlässigkeit vor, da das Gedicht keine Handlung, sondern eine Stellungnahme vermittelt. Eine komplexe Paraleipse in Prosa ist mit Walsers Kurztext »Dickens« (1911/ 1917) gegeben. Auch in diesem Falle wird kaum erzählt, vielmehr ist die Sprachhandlung als Geständnis aufzufassen: »Ich habe ein volles Vierteljahr nichts anderes getan als Dickens gelesen und es ist jetzt aus mit mir, ich zweifle nicht daran, und ich bin überzeugt, daß ich verloren bin. Zerrissen, zerschmettert und vernichtet bin ich, und den Schriftstellerberuf kann ich jede Minute an den Nagel hängen. Dickens hat mir die bisher so geläufige und scheinbar so gewandte Schreibfeder aus der Hand genommen und nun bin ich verurteilt, Schuster zu werden, das sehe ich ein. An meinen Ruin glaube ich fest; meinen Untergang vermag ich keine Minute mehr zu bezweifeln.«63

Und so geht es weiter, noch volle drei Seiten lang, mit typisch Walserschen Schnörkeln und Manierismen. Immer wieder beteuert der Erzähler, vor Dickens Größe verstummt zu sein und immer weniger kann man es ihm glauben, redet er doch fortwährend, sich selber an rhetorischer Effekthascherei überbietend: »Weil ich Dickens las, der ein Fürst, Lord und Graf ist, wo andere Leute nur arme Schelme und arme Schlucker sind, sehe ich mich auf die unerquicklichste und unerfreulichste Art und Weise in einen Pfannenflicker und Scherenschleifer verwandelt und ich bin daher begreiflicherweise im hohen oder höchsten Grad bestürzt. Glaube ich gart: Metzler 2011, S. 58–62; Horstmann, Jan: Theaternarratologie. Ein erzähltheoretisches Analyseverfahren für Theaterinszenierungen. Berlin/Boston: De Gruyter 2018; Döhl, Frederic/ Feige, Daniel Martin (Hrsg.): Musik und Narration. Philosophische und musikästhetische Perspektiven. Bielefeld: transcript 2015. Spezifisch zur Unzuverlässigkeit nicht-narrativer Gattungen siehe: Hühn, Peter: Unreliability in Lyric Poetry. In: Nünning, Vera (Hrsg.): Unreliable narration and trustworthiness. Intermedial and interdisciplinary perspectives. Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 173–188; Nünning, Ansgar/Schwanecke, Christine: The Performative Power of Unreliable Narration and Focalisation in Drama and Theatre. Conceptualising the Specificity of Dramatic Unreliability. In: Nünning (V.), Unreliable narration and trustworthiness. 2015, S. 189–220. 63 Walser, Robert: Dickens. In: ders., Der Spaziergang. 1986, S. 186–189, hier S. 186.

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noch etwa im geringsten an meine Sendung? I woher! Jammervoll und erbärmlich muß ich verzagen. Doch ich will mäuschenstill sein, kein Wort sagen und das Elend, das ich Dickens zu verdanken habe, möglichst säuberlich und geduldig ertragen.«64

Die Kluft zwischen Schweigegelübde und dessen Einhaltung kann kaum größer sein. Dabei ist die Opposition vom versprochenen und ausbleibenden Schweigen nicht die einzige Paraleipse dieses Textes. Ein vielleicht noch größerer Widerspruch liegt darin, dass der sich als Dickens’ Lob ausgebende Text keine einzige Information über Dickens’ Schaffen vermittelt. Das einzige, was man von Dickens erfährt, ist, dass er derjenige ist, der den Erzähler angeblich zum Schweigen gebracht hat. Angeblich, denn die Lektüre beweist, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Beschwörung Dickens’ setzt einen atemberaubenden Redeschwall in Gang, der Stil, Humor und Brillanz eines ganz anderen Autors zum Vorschein bringt – von Robert Walser selbst. So erscheint die finale Aufforderung »lesen Sie Dikkens«65 als eine Umkehrung der Ausgangsfigur, eine Art Anti-Paraleipse: Ein Gegenstand wird genannt, um über-redet zu werden. Denn im Lichte der Tatsache, dass der Text keine sachlichen Argumente für diese Empfehlung liefert, dagegen aber alles tut, um die Wortkunst des Autors zum Besten zu geben, lautet seine faktische Botschaft wie folgt: »Lesen Sie Walser, er hat soeben zur Genüge nachgewiesen, dass er es wert ist«. Das ist der eigentliche Sinn und Zweck der Paraleipse in diesem Text, und somit auch der Unzuverlässigkeit, in deren Dienst die fragliche Figur gestellt wird. Sie entspricht der üblichen Funktion dieses rhetorischen Mittels, die in der Hervorhebung eines Redegegenstands beruht. In diesem Falle ist dieser Gegenstand das Schaffen von Walser, das, nominell als gescheitert erklärt, reell alle seine Trümpfe ausspielt. Dickens wird dabei zu einem bloßen Redeanlass degradiert, es sei denn, man bemüht Harold Blooms Einflussangsttheorie, um die These aufzustellen, der englische Dichter, möglicherweise stellvertretend für den gesamten Literaturkanon66, avanciere hier zur Vaterfigur, die trotz aller Verehrung getötet werden muss, damit der Sohn die ungeteilte Gunst der Muse genießen, sprich: sich als Original profilieren könne67. Vielleicht soll man daher diesem Stück als symbolischer Geburtsstätte des Dichters Walser mehr Beachtung schenken? Und dabei der rhetorischen Unzuverlässigkeit doch mehr als Taschenspielerkünste zutrauen?

64 Ebd., S. 188. 65 Ebd., S. 189. 66 Andererseits wird im Text doch zwischen starken und schwachen Dichtern ausdifferenziert, von Dostojewski gehe nämlich keine vernichtende Kraft aus, vgl. ebd., S. 186. 67 Bloom, Harold: Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung. Übersetzt von Angelika Schweikhart; Frankfurt/Basel: Stroemfeld 1995, S. 56–58.

Robert Walser und die Tugend der Unzuverlässigkeit

2.4

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Infragestellung der Realität

Alle drei zu Lebzeiten veröffentlichten Romane Walsers enden mit einem Auszug aus unerträglich gewordenen Verhältnissen. Wohin? Das kann man in jedem der Fälle nur vage bestimmen. Hier allerdings enden die Gemeinsamkeiten, denn der Weg führt jeweils nicht nur durch eine andere Gegend, sondern auch in eine eigene ontische Ordnung. Der Gehülfe Josef Marti verlässt die Villa zum Abendstern und geht auf die Landstraße68, die in diesem Zusammenhang zum Symbol wird, einerseits für sein unstetes Leben, andererseits für dessen ontologische Bodenhaftigkeit: Egal, ob Marti ein vagabundierendes Dasein fristet oder eine neue Stelle findet oder gar die erworbenen Erfahrungen zu etwas ganz Neuem verwertet69, wird sich sein Leben allem Anschein nach weiter innerhalb der ausdrücklich vom Prinzip der Realität gekennzeichneten dargestellten Welt abspielen. Das kann man nicht mehr mit solcher Sicherheit von Jakob von Gunten sagen, wenn er im Schlussabschnitt ankündigt, mit Herrn Benjamenta in die Wüste zu gehen70. Dass er damit eine Landschaft meint, die auf gleicher textintern-ontischen Ebene liegt wie die Großstadt, in der er sich gegenwärtig befindet, ist anzuzweifeln: Als er mit dem Institutsdirektor über die Zukunft spricht, wird das Ziel der Reise mit keinem Wort erwähnt71; die Wüste taucht erst in dem darauf folgenden Traum auf, der eine Art Fortsetzung des besagten Gesprächs ist72. Demnach ist anzunehmen, dass der Ich-Erzähler nach dem Erwachen sie als ein Symbol dafür funktionalisiert, wovon er mit Herrn Benjamenta im wachen Zustand sprach – und was im Traum auf den Begriff gebracht wurde: offene Zukunft, Freiheit, Lebensunmittelbarkeit, Kulturflucht. Eine andere, etwas weniger wahrscheinliche, Erklärung der Wüste bringt sie in Verbindung mit visionären Zuständen, die Jakob, wie früher erwähnt, am Institut zuweilen erlebte, und die ihm in Gesellschaft des Herrn Benjamenta wohl auch beschieden sein werden. Jedenfalls wird hier eine andere Dimension betreten: da des discours (metaphorische Rede), hier der histoire (Wechsel der ontischen Ebene). Dass der Übergang, wie in »Der Gehülfe«, sich innerhalb ein und derselben ›Realität‹ vollzieht, ist, wie gesagt, am wenigsten wahrscheinlich. Wie aus den obigen Mutmaßungen hervorgeht, ist der Bericht zuverlässigkeitsmäßig einigermaßen unscharf; wird aber die Entscheidung zugunsten einer der vermutlichen Deutungen getroffen, ist die Zuverlässigkeit wiederhergestellt: Anwendung von Metaphern braucht nicht eigens signalisiert zu werden; Ankün68 Vgl. Walser, Robert: Der Gehülfe. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 294 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 10). 69 Vgl. ebd., S. 280. 70 Vgl. Walser, Jakob von Gunten. 1986, S. 163. 71 Vgl. ebd., S. 158–161. 72 Vgl. ebd., S. 162.

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digung von Visionen schon eher, manchmal aber macht der Kontext sie überflüssig. Demzufolge qualifiziert sich der Romanschluss eher für einen – milden – Fall mimetisch untentscheidbaren als einen dezidiert unzuverlässigen Erzählens. Ist die Realität in »Jakob von Gunten« auch mehrdimensionaler als in »Der Gehülfe«, handelt es sich dennoch um Dimensionen ein und desselben intrafiktionalen Universums. Das – und somit auch der kategorielle Charakter der damit verbundenen Unzuverlässigkeit – ist in »Geschwister Tanner« (1907) radikal anders. Freilich bedarf es einer Lesart, die den Status der dargestellten Welt grundsätzlich umdeutet. Denn oberflächlich gelesen gibt sich die Schilderung der Schicksale von Simon Tanner und seiner Geschwister durchaus realistisch. Bis zu der letzten Wendung, die freilich nicht unzuverlässig, sondern unwahrscheinlich wirkt. Mittel- und obdachlos geworden, findet Simon eine ausgerechnet »um die Weihnachtszeit herum«73 unerwartete Rettung: In einem »Kurhaus für das Volk«74 angelangt, legt er vor dessen Vorsteherin eine Art Lebensbeichte ab, und bekommt im Gegenzug Folgendes zu hören: »Sie werden nicht untersinken. Sonst, wenn das geschähe, wäre es schade für Sie. Sie dürfen niemals wieder so verbrecherisch, so sündhaft über Sie selber urteilen. Sie achten sich zu wenig und andere zu hoch. Ich will Sie davor behüten, gegen sich selber so allzustreng vorzugehen. Wissen Sie, was Ihnen fehlt? Sie müssen es eine Zeitlang ein bißchen wieder gut haben. Sie müssen in ein Ohr hineinflüstern und Zärtlichkeiten erwidern lernen. Sie werden sonst zu zart. Ich will Sie lehren; das alles, was Ihnen fehlt, will ich Sie lehren. Kommen Sie. Wir gehen hinaus in die Winternacht. In den brausenden Wald. Ich muß Ihnen soviel sagen. Wissen Sie, daß ich ihre arme, glückliche Gefangene bin? Kein Wort mehr, kein Wort mehr. Kommen Sie nur.«75

Alles scheint gut zu enden, macht aber auf einmal einen völlig unwirklichen Eindruck. Selbst unter Berücksichtigung, dass es eine sozialdienstliche Institution ist, in deren Obhut der Protagonist wie selbstverständlich gerät, sieht die Szene nicht nach einer Standardbehandlung aus. Und selbst bei der Annahme, dass die zitierte Dame auf einmal einem Faible für Simon verfallen ist, bleibt der Hinweis auf einen winterlich-nächtlichen Waldspaziergang beunruhigend – solange man das Realitätsprinzip für maßgebend hält. Man kann freilich, einem frühen Bewunderer Walsers folgend, einen ganz anderen Schlüssel für die letzte Wendung finden. Im Erscheinungsjahr des Romans schreibt der damals als Schriftsteller kaum noch bekannte Franz Kafka an seinen Bürovorgesetzten Dr. Eisner:

73 Walser, Robert: Geschwister Tanner. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 309 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 9). 74 Ebd. 75 Ebd., S. 332.

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»Simon ist, glaube ich, ein Mensch in jenen Geschwistern. Läuft er nicht überall herum, glücklich bis an die Ohren, und es wird am Ende nichts aus ihm als ein Vergnügen des Lesers? Das ist eine sehr schlechte Karriere, aber nur eine schlechte Karriere gibt der Welt das Licht, das ein nicht vollkommener, aber schon guter Schriftsteller erzeugen will […].«76

Das Vergnügen des Lesers werden heißt: seinen Status als Romanheld transparent machen. Würde dies innerhalb der dargestellten Welt geschehen, hätte man es evident mit einer Manifestation des unzuverlässigen Erzählens zu tun, und zwar eines Typus, der von Riggan nicht berücksichtigt wird der als »Schöpfer« zu bezeichnen wäre. Hier beruht die Unzuverlässigkeit, oder vielmehr deren Aufdeckung darauf, dass ein Handlungsablauf, bislang fiktionsintern als Realitätsbasis des erscheinend fungierend, als künstlerische Fiktion, zumeist in Buchform, enthüllt wird (für ein besonders eindrucksvolles Beispiel siehe François Ozons Film »Swimming Pool« von 2003), folglich liegt hier ein weiterer Falle teilweise mimetisch unzuverlässigen Erzählens vor. Allerdings findet in Walsers Roman eine derartige Enthüllung nirgends statt; explizit scheint sich die Handlung bis zum Schluss, wie in »Der Gehülfe«, auf nur einer Wirklichkeitsebene abzuspielen. Wovon geht also die Versuchung aus, mit Kafka dem Text eine realitätstranszendente Leistung zu gönnen? Einerseits vom Eindruck eines Kompositionsbruchs: Wie bereits angedeutet, ist Simons Schicksalswendung an sich alles andere als wahrscheinlich, zudem scheinen ihre Details von den Usancen der dargestellten Wirklichkeit abzuweichen. Da drängt sich schon der Verdacht auf, jemand wolle sich über diese Usancen auf einmal hinwegsetzen, nach dem Motto: Es ist meine Geschichte, ich kann sie nach Belieben gestalten. Ist dieses Jemand noch der Erzähler oder schon der Autor? Da die Allmachtserklärung außerhalb der Textgrenzen verortet werden muss, kann es nur der letztere sein. Hätte er sie freilich an einen intrafiktionalen Erzähler delegiert, müsste dieser ihm mindestens in Sachen schöpferischer Freiheit ähneln. In beiden Fällen hieße diese Freiheit: Schluss mit der mimetischen Illusion zugunsten der manifesten Textualität. Als unzuverlässig dargeboten erweisen sich dann nicht die Einzelereignisse oder Stränge, sondern der gesamte Text. Eine solche Lösung kann im Falle des Simon Tanner nur postuliert werden. Hinweise auf Textwerdung der Welt gibt es hier nicht einmal implizit, wie etwa am Schluss von Ransmayrs »Die letzte Welt«. Vielmehr ähnelt der Schluss des Romans dem des Films »Heaven« von Tom Tykwer, wo die Rettung der Haupthelden in ihrer Absurdität ebenfalls den Gedanken an Machtdemonstration der auktorialen Instanz nahelegt. Nach objektiven Kriterien kann man »Geschwister

76 Zitiert nach: Greven, Jochen: Nachwort des Herausgebers. In: Walser, Geschwister Tanner. 1986, S. 335–354, hier S. 353f.

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Tanner« höchstens als mimetisch unentscheidbar einstufen. Doch selbst dann dürfen die alternativen Lösungen zumindest hypothetisch besprochen werden. Welche Deutungen können gegen die Annahme, Simon werde eine bloße Textfigur, in Konkurrenz treten? Als erstes kommt ein Wunder in Frage: Wird der Roman auf einmal ein phantastischer, dann bleibt er sogar zuverlässig erzählt. Doch für ein Märchen ist Simon Tanner wohl zu alt und seine Leser zu modern. Dann kann man es vielleicht mir der Naturalisierung versuchen: Womöglich stellen die letzten Erlebnisse des Protagonisten einen Wunschtraum oder gar eine Halluzination dar, die bis zum Schluss konsequent unzuverlässig erzählt wird. Doch für diese Wendung ist Simon Tanner einem vielleicht zu schade. Übrigens nicht nur er; auch die Unzuverlässigkeit, die dann die Chance verliert, ihre originellere Facette zu zeigen und sich als recht raffinierte, der condition postmoderne gerechte Tugend zu erweisen? Die Entscheidung sei dem Leser überlassen. Robert Walsers Prosawerk enthält nicht nur markante Beispiele für die Haupttypen des unzuverlässigen Erzählens; mehrfach lädt es dazu ein, den Begriff der Unzuverlässigkeit auf neue Motive, Erzählsituationen und -instanzen anzuwenden. Auch das Spektrum der Unzuverlässigkeitsfunktionen lässt sich dank manch einer von seinen Texten angeregten Fallanalyse erweitern und nuancieren. Vielleicht wird damit nur bewiesen, dass jede Theorie in der Begegnung mit konkreten Beispielen ihre kategorische Stringenz auflockern muss, um dem zur Analyse stehenden Objekt gerecht zu werden. Dass es unmöglich war, Robert Walser Unzuverlässigkeit in reiner Form ihrer Varianten und Typen zu attestieren, mag aber auch am Dichter liegen, dessen existentielle und ästhetische Exzentrizität es nie erlauben würde, selbst die Unzuverlässigkeit nach zuverlässigen Mustern und Rastern wirken zu lassen. Ein Virtuose bestätigt die Theorie nicht nur, er fordert sie auch heraus; eben diese Anregung sei abschließend dem Autor Robert Walser als seine zuverlässigste Tugend angerechnet.

…und Ausgang

Michał Paweł Markowski

Spuren im Schnee

1. Weihnachten 1956, Herisau – ein kleiner Ort im Kanton Appenzell Ausserrhoden, der an St. Gallen grenzt. Schön sieht es hier aus, die Erde dicht wie mit einer weißen Decke bedeckt. Leichter Frost. Die Patienten und Insassen der Heilanstalt haben gerade gefrühstückt. Einer von ihnen, der 78-jährige Robert Walser, macht sich gerade wie immer zu einem Spaziergang auf. »Das Sehnen und Suchen. das Niebefriedigtsein und der Durst nach Schönheit treiben ihn vorwärts, und hinter, weit hinter ihm schlummerten die bilderreichen Erinnerungen.«1 Mehr als 40 Jahre sind vergangen, nachdem Walser diese Worte geschrieben hat – das ist lange her, er erinnert sich bestimmt nicht mehr daran. Nach Herisau ist er in dem Jahr der Machtübernahme durch Hitler gekommen. Vier Jahre vorher hat man ihn auf die Bitte seiner durch den Seelenzustand des Bruders alarmierten Schwester hin in die Klinik Waldau in der Nähe von Bern eingeliefert. Diagnose: irreversible Schizophrenie. Der Autor eines Gesamtwerkes, das posthum in 25 Bändern erscheinen wird, schreibt seit 23 Jahren nicht mehr. Er spielt Billard, plaudert mit den anderen Insassen, liest und – vor allem – er geht in den Bergen spazieren. »Ich bin nicht hier, um zu schreiben, sondern um verrückt zu sein.«2Seine mehrere Kilometer langen Wanderungen macht er (seit 1936) zusammen mit dem Zürcher Journalisten Carl Seelig, der sie später in einem schönen Bändchen beschreiben wird. 2. Hier in Herisau ist nun der Mittag vorbei. Ein alter Mann im fadenscheinigen Anzug und abgetragenen Hut will spazieren gehen. Walser besaß nie etwas, er wohnte in gemieteten Zimmern, hatte höchstens zwei Anzüge zur selben Zeit, nicht einmal Bücher besaß er – und ebenso wenig, wie er einmal bekannte, nannte er je eine Frau sein Eigen, gab sich auch seinerseits keiner hin. In dem 1 Walser, Robert: Fußwanderung. In: ders.: Kleine Dichtungen. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 22f. (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 4). 2 Diese gegenüber Carl Seelig gemachte Aussage Robert Walsers findet sich in: Kerr, Katharina (Hrsg.): Über Robert Walser. 3 Bände. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979. Bd. 3, S. 47.

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Prosastück »Ich habe nichts« bekennt der Protagonist, »ein guter Bursche mit einer dummen Nase«, welcher Tieren, die zu ihm kommen, nichts geben kann: »Aber ich bin ja nichts, kann ja nichts, habe in Gottes Namen nichts, und in dieser weiten großen Welt bin ich nur ein armer, schwacher, machtloser Mensch«.3 Walser ist schon alt, die Ärzte warnen ihn vor eventuellen Symptomen der Arteriosklerose und bitten, er möge sich beim Spaziergehen nicht überanstrengen. Wie soll man aber auf die Ärzte hören, wenn die Welt heute so schön ist! Walser marschiert forsch, wohl zu forsch, los in Richtung Norden, auf die Ruine auf dem Rosenberg zu. Er geht an dem Bahnhof vorbei, lässt Herisau hinter sich. Oben vor ihm liegt der Rosenwald. Er biegt nach links ab und erreicht den Weiler Burghalden. Vorbei am Haus der Familie Manser, Nummer 1681. Etwa 150 Meter westlich davon fällt er plötzlich auf den Rücken, der Hut ist ihm vom Kopf geflogen. In dieser Haltung bleibt er liegen. Gefunden wird er vom Hund einer Frau aus der Nachbarschaft, welche die Mansers besuchen kommt. Der herbeigerufene Rathausangestellte Kurt Giezendanner macht ein paar Fotos. Der Arzt stellt die Diagnose Herzinfarkt. Betretenes Schweigen bei den Kindern. 3. Carl Seelig schaut sich das Foto seines toten Freundes an und schreibt: »Ausgestreckt liegt der linke Arm neben dem rasch erkaltenden Leib. Die linke Hand ist etwas verkrallt, als wollte sie den jähen, kurzen Schmerz, der den Wanderer wie ein Panther im Sprung überfallen hat, mit den Handballen zerdrücken.«4 Weiter schreibt er, dass das Bild des toten Walsers weihnachtliche Ruhe ausstrahle. Vielleicht. Walsers Gesicht ist für immer in einer seltsamen Grimasse erstarrt. Ob Schmerz, ob Freude – das werden wir nie erfahren. In der kleinen Prosa »Schneien« beschreibt Walser eine sanfte Schneelandschaft und plötzlich, völlig unerwartet, verliert er, wie er das nun so macht, den Faden (soll es dort vorher einen Faden gegeben haben) – und in dem Text, der bis dahin eine bloße Beschreibung war, taucht ein Protagonist auf, »der sich tapfer gegen eine Übermacht wehrte« und dabei in den Schnee fiel. Seine Frau wartet vergeblich auf seine Rückkehr, während es demjenigen, »der unterm Schnee liegt«, wohl ist, er »hat Ruhe, er hat Frieden und er ist daheim«.5 4. Weihnachten, aber ein anderes Mal, früher. Anno 1908. Der Schriftsteller Robert Walser gewinnt langsam Anerkennung. Wenn kurz danach Kafka debütieren wird, wird sich Robert Musil freuen, dass endlich einer wie Walser da sei. Im Frühjahr desselben Jahres gibt Bruno Cassirer »Den Gehülfen« heraus – das Buch wird 3 Walser, Robert: Ich habe nicht. In: ders.: Der Spaziergang. Prosastücke und Kleine Prosa. Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 125 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 5). 4 Seelig, Carl: Wanderungen mit Robert Walser. Hrsg. im Auftrag der Carl-Seelig-Stiftung. Mit einem Nachwort von Elio Fröhlich. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 172. 5 Walser, Robert: Schneien. In: ders., Der Spaziergang. 1985, S. 161.

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wohlwollend aufgenommen. Walser beginnt die Arbeit an »Jakob von Gunten«, einem Roman, in dem er die Erlebnisse seiner Jugend – wie immer – mithilfe der dichterischen Vorstellungskraft filtert. Der mit seinem Autor zufriedene Cassirer bereitet ein Weihnachtsgeschenk vor: eine bibliophile Ausgabe der Gedichte Walsers (300 nummerierte Exemplare), illustriert durch 16 schmuckvolle Graphiken seines Bruders Karl. Den Blick des Lesers fesselt die Seite 17. Ein winzig kleines Bild eines Jünglings, der im Schneegestöber einen Hügel erklimmt und drei Spuren zurücklässt; es trennt den ersten Zweizeiler von den dreidarauffolgenden. Das ganze Gedicht lautet: Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde Mit weißer Beschwerde, so weit, so weit. Es taumelt so weh, hinunter vom Himmel, Das Flockengewimmel, der Schnee, der Schnee. Das gibt dir, ach, eine Ruh’, eine Weite, Die weißverschneite Welt macht mich schwach. So daß erst klein, dann groß mein Sehnen Sich drängt zu Tränen, in mich hinein.

Fast wie bei Celan: Wer ist das Du dieses Gedichts? Man weiß es nicht. Vielleicht ein wirklicher Jemand, vielleicht aber ein Teil von Robert Walser, der mit Verkleidungen, Masken und Decknamen nicht sparte. Wesentlich ist, dass das für den Dichtenden beschwerliche Schneien jenem Du »eine Ruh« gibt und dass dieses zugleich einen geistigen Schwung, einen Raum, »eine Weite« gewinnt. Denn der Schnee ist bei Walser zweideutig, von Anfang an. Er beschwert, aber auch beruhigt. 5. Über Walser wurden wenige bedeutende Dinge geschrieben, an die man sich erinnern würde. Mit sehr ähnlichen Worten begann Walter Benjamin seinen Essay, der im Jahre der Aufnahme des Schriftstellers in die Klinik Waldau (1929) entstand: »Man kann von Robert Walser viel lesen, über ihn aber nichts.«6 Der schillernde Benjaminsche Essay öffnet dem verwirrten Leser die Augen – plötzlich begreift er, dass das scheinbare Fehlen des Inhalts der wichtigste Inhalt ist und das Verwerfen eines Stils von stilistischer Meisterschaft zeugen kann. Zusammengefasst: Walser schreibt so, dass alles, was er zu sagen hat, hinter das zurücktritt, wie er es sagt, während das, wie er es sagt, in einer fundamentalen Zurückhaltung begründet ist. Er spricht und verdeckt gleichzeitig mit dem Ge-

6 Benjamin, Walter: Robert Walser. In: ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 324–328 (= Gesammelte Schriften. Bd. 2, Teil 1).

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sprochenen das, was er sagen will – nicht weil es unwichtig wäre, sondern weil er sich dessen schämt. Benjamin sagte einmal, Kafkas Werke würden mit einer Moral schwanger gehen, die sie nie zur Welt bringen würden, und fügte sofort hinzu, dass Kafkas Lieblingsschriftsteller Robert Walser gewesen sei. Genauso schreibt Walser: Er streut Zeichen, hinterlässt Spuren, stellt Wegweiser auf, um danach mit einem Mal alles zu verwischen, als vergessen und nie dagewesen zu verwerfen, um neu anzufangen, als beginne jeder Text bei den Urquellen der Existenz, in einer Zeit vor allen Zeiten, an einem Ort, für den erst etwas Platz geschaffen werden muss. So schreibt über Walser auch W.G. Sebald. Aus seinem umfangreichen Essay (mit dem Titel »Le Promeneur Solitaire«) 7, der genauso viel über Walser wie über den Autor selbst sagt (oder umgekehrt), wähle ich nur einen Faden. An einer Stelle bemerkt Sebald, Walser habe stets an einem und demselben Roman geschrieben (obwohl er sich nie wiederholt habe) und dessen Hauptfigur – er selbst – komme dort beinahe gar nicht vor. Es folgt ein interessanter Vergleich mit Gogol, der hier nicht weiter beschäftigen wird; wir beschränken uns darauf, eine Behauptung Sebalds zu zitieren: Die beiden Autoren ähneln einander durch einen »unaufhörlich sich fortsetzenden Maskenzug zum Zweck der autobiographischen Mystifikation« und – wichtig! – durch das beiden gemeinsame Streben nach dem Zustand der »reinen Amnesie«. »Schreibend haben sie ihre Depersonalisierung vollzogen, schreibend sich abgeschnitten von der Vergangenheit.« Dieser Gedankengang geht mit dem Satz zu Ende: »[…] und wirklich wird, gleich nach den »Geschwistern Tanner«, die noch eine Familienerinnerung sind, der Erinnerungsstrom immer dünner und mündet schließlich in ein Meer der Erinnerungslosigkeit.« Der erste Satz lautet dagegen: »Die Spuren, die Robert Walser auf seinem Lebensweg hinterlassen hat, waren so leicht, daß sie beinahe verweht worden wären.« Das ist es, was dem Leser der Walserschen Texte widerfährt, sobald er sie beiseitelegt, sobald er anfängt, Walsers Leben zu betrachten, sobald er – beiläufig, leichtsinnig – einen Blick in sein Inneres wirft. Verwehen, verwischen, vergessen. Schweigen. Tod unter dem Deckmantel des Enthusiasmus. Große Sehnsucht – zuerst nur leicht, dann immer größer. 6. »Jedes Kind, sollte ich meinen, kann die Schönheit einer Schneelandschaft im Herzen verstehen, das feine saubere Weiß ist so leicht verständlich, ist so kindlich. Etwas Engelhaftes liegt jetzt über der Erde, und eine süße, reizvolle Unschuld liegt weißlich und grünlich ausgebreitet da.«8 7 Sebald, Winfried Georg: Le promeneur solitaire. Zur Erinnerung an Robert Walser. In: ders.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. München/Wien: Hanser 1998, S. 127–168, hier S. 147f., 129. 8 Walser, Robert: Die kleine Schneelandschaft. In: ders.: Kleine Dichtungen, Zürich/Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 90 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Bd. 4).

Spuren im Schnee

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Das liest man in »Die kleine Schneelandschaft«. »Wo es Vielerlei und Mancherlei war, ist nur noch eines, nämlich Schnee; und wo Gegensätze waren, ist ein Einziges und Einiges, nämlich Schnee. Wie süß, wie friedlich sind alle mannigfaltigen Erscheinungen, Gestalten miteinander zu einem einzigen Gesicht, zu einem einzigen sinnenden Ganzen verbunden.«9

Das steht in der kleinen Prosa »Schneien«. Bei Walser bedeckt der Schnee alles mit einem Tuch des Vergessens, er glättet und besänftigt alles. Carl Seelig erinnert sich daran, wie Walser beseelt stehenbleiben konnte, den zugeschneiten Wald betrachtete und nur noch flüsterte: »Wie im Märchen!« Oder beim Fotomachen auf dem kleinstädtischen Platz: Er steht mit demselben Hut, den er zu seiner letzten Wanderung aufsetzen wird, einen Schirm hinter dem Rücken, schaut unter den wirbelnden Schneeflocken in die Kamera und seufzt aus halbgeöffnetem Mund: »Wie im Traum!« Traum, Märchen, Kindheit, Verständnis, Vergessen. Walser wiederholte häufig, dass er Mehrdeutigkeiten liebe und dass volles Verständnis in der Welt der Bücher und der Menschen nicht von Vorteil sei. Gleichzeitig wünschte er sich jedoch, dass die Welt, mit der er sein Leben lang rang, ihre Türen vor ihm öffnen und ihn hereinlassen möge, so wie seine Protagonisten von all den schönen und klugen Frauen hereingelassen werden; Frauen, welche von denselben, dem Instinkt unverbesserlicher Wanderer folgenden Jungen und Männern nach einiger Zeit wieder verlassen werden. Benjamin zufolge beginne Walser dort, wo die Märchen enden. Als er an einem weihnachtlichen Nachmittag des Jahres 1956 forsch (wohl zu forsch) in Richtung der Ruine Rosenberg losmarschiert, soll sein Märchen erst beginnen. 7. Das letzte Foto von Walser, gemacht von der Halde aus. Der tote Körper liegt im Schnee, unweit der Absperrung aus Holz, der Hut etwas weiter oben, der Kopf ist zur Seite geneigt. Es führen Spuren dahin, vierzehn Abdrücke im weißen Schnee. Zwischen dem Körper und den Spuren tut sich aber ein Abgrund auf. Es ist unklar, ob es seine Spuren sind oder die des Rathausangestellten Kurt Giezendanner, der nah herangetreten ist, um ein Foto von Walsers Gesicht zu machen. Sollten es Spuren des Fotografen sein, müssten sie erst dicht beim Körper enden, dem ist aber nicht so. Was befindet sich zwischen den Spuren und dem Körper? Was ist das für eine seltsame, unverständliche, weiße Tiefe, dieser bedeutungslose Fleck zwischen dem Körper und seiner Vergangenheit? Man kann es unterschiedlich verstehen – mich spricht am meisten die folgende Erklärung an: Es ist eine weiße Passage, die endgültige Niederlage der Bedeutung, die Auslöschung, eine leere Brücke zwischen Leben und Tod, die Amnesie des Sinnes. Etwas, wonach Walser sein Leben lang strebte, indem er ständig neu begann, als könnte 9 Walser, Schneien. 1985, S. 161.

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Michał Paweł Markowski

die Welt unendlich viele Anfänge haben, die man unbestraft vergessen darf. In jener leeren Passage leuchtete für einen einzigen Augenblick und mit einer blassen, trockenen Flamme das Nichts auf, um – von niemandem bemerkt – für immer zu erlöschen. Der Hund, der die Leiche fand, soll sich merkwürdig verhalten haben. Man musste Kinder schicken, einfach so, damit sie nachsahen, was passiert war.

Editorische Notiz

Die Texte von Jakub Ekier und Michał P. Markowski erschienen zuerst: Jakub Ekier, Tekst jako wyjs´cie, »Literatura na S´wiecie« 2003, nr 7/8, S. 414–425. Michał P. Markowski, S´lady na s´niegu, [in:] Michał Paweł Markowski, Kiwka, Kraków 2015.

Materialien zur polnischen (und in polnischer Sprache verfassten) Walser-Bibliographie

Werke Robert Walsers in polnischer Übersetzung »Willa pod wieczorna˛ gwiazda˛«, übers. von T. Je˛tkiewicz, Warszawa 1972. »Rodzen´stwo Tanner«, übers. von M. Łukasiewicz, Warszawa 1984. »Jakub von Gunten«, übers. von M. Łukasiewicz, Warszawa 1988. »Przechadzka i inne utwory«, übers. von M. Łukasiewicz, Warszawa 1990. »Dziwne miasto. Historie i rozprawki«, übers. von M. Łukasiewicz, Warszawa 2001. »Mały krajobraz ze s´niegiem«, übers. von M. Łukasiewicz, Warszawa 2003. »Niedzielny spacer«, übers. von M. Łukasiewicz, Warszawa 2005. »Mikrogramy«, übers. von M. Łukasiewicz, Ł. Musiał, A. Z˙ychlin´ski, Kraków 2013. »Zbój«, übers. von Małgorzata Łukasiewicz, Warszawa 2020.

Monographien Małgorzata Łukasiewicz, »Robert Walser«, Warszawa 1990.

Aufsätze und übergreifende Darstellungen Małgorzata Łukasiewicz, Roberta Walsera przechadzki, »Literatura na S´wiecie« 1975, Nr 8, S. 168–172. Marian Holona, Minimalizm Roberta Walsera, »Literatura« 1978, Nr 33, S. 5. Jan Koprowski, Wielki samotnik, »Argumenty« 1979, Nr 16, S. 7. Jan Koprowski, Z˙ycie na marginesie, »Literatura« 1979, Nr 34, S. 11. Maja Jurkowska, W cieniu zapomnienia i w blasku sławy, »Twórczos´c´« 1994, Nr 6, S. 146– 147. Maja Jurkowska, Robert Walser – szalen´stwo bycia nikim, »Twórczos´c´« 1995, Nr 10, S. 121– 126. Jerzy Łukosz, Człowiek czyli sługa (O pisarstwie Roberta Walsera), »Twórczos´c´« 1997, Nr 4, S. 70–76. Małgorzata Łukasiewicz, Mała scena, »Znak« 2000, Nr 12, S. 138–141.

248

Materialien zur polnischen Walser-Bibliographie

Piotr Kajewski, Nie trac´ otuchy, »Odra« 2003, Nr 3, S. 79–80. Urszula Kozioł, O Robercie Walserze, »Odra« 2003, Nr 10, S. 96. Zygmunt Mielczarek, Echa romantyzmu w twórczos´ci Roberta Walsera, [in:] Problemy komunikacji mie˛dzykulturowej. Lingwistyka, translatoryka, glottodydaktyka, hrsg. von Barbara Z. Kielar, Tomasz P. Krzeszowski, Jurij Lukszyn, Tadeusz Namowicz, Warszawa 2000, S. 166–175. Łukasz Musiał / Arkadiusz Z˙ychlin´ski, Znikaja˛cy punkt. O Robercie Walserze, https://www. tygodnikpowszechny.pl/znikajacy-punkt-o-robercie-walserze-140714. Michał P. Markowski, S´lady na s´niegu, [in:] idem, Kiwka, Kraków 2015. Łukasz Musiał, Beztroska albo najmniejszy pisarz s´wiata (zamiast kilku słów na koniec), [in:] Łukasz Musiał, Do czego uz˙ywa sie˛ literatury?, Kraków 2016, s. 111–115. Łukasz Musiał, Literatura kontra historia literatury. Przypadek Roberta Walsera, »Odra« 2017, Nr 12, S. 34–38.

Rezensionen und Besprechungen [»Willa pod wieczorna˛ gwiazda˛« [Der Gehülfe], 1972] Włodzimierz Bialik, »Literatura« 1972, Nr 27, S. 21. [»Rodzen´stwo Tanner« [Geschwister Tanner], 1984] Jan Koprowski, »Nowe Ksia˛z˙ki« 1985, Nr 1, S. 110–111. Boz˙ena Chołuj, »Miesie˛cznik Literacki« 1986, Nr 12, S. 138–141. [»Jakub von Gunten« [Jakob von Gunten], 1988] Krzysztof Me˛trak [Km], Z rodziny Kafki, »Literatura« 1988, Nr 9, s. 70. Krystyna Kamin´ska, »Nowe Ksia˛z˙ki« 1989, Nr 2, S. 76–78. Leszek Bugajski [L.B.], »Z˙ycie Literackie« 1988, Nr 25, S. 15. [»Przechadzka i inne utwory« [Kurzprosa. Auswahl], 1990] Tomasz Fiałkowski [Lektor], »Tygodnik Powszechny« 1991, Nr 3, S. 8. Jan Koprowski, Twórczos´c´ Roberta Walsera, »Nowe Ksia˛z˙ki« 1991, Nr 3, S. 45–46. Jan Tomkowski, Na czas smaz˙enia konfitur, »Gazeta Wyborcza« 1990, Nr 224, S. 5. [»Dziwne miasto. Historie i rozprawki« [Kurzprosa. Auswahl], 2001] Janusz Drzewucki, Porza˛dek pie˛kna, »Rzecz o Ksia˛z˙kach« 2002, Nr 3, S. E4. Jakub Ekier, Tekst jako wyjs´cie, »Literatura na S´wiecie« 2003, Nr 7/8, S. 414–425. Piotr Herbich, Prosastuecke, »Nowe Ksia˛z˙ki« 2002, Nr 5, S. 24–25. Jerzy Łukosz, Znikaja˛ca uroda s´wiata, »Polityka« 2002, Nr 9, S. 53. Justyna Sobolewska, Tancerz, »Gazeta Wyborcza« 2002, Nr 13, S. 16. Adam Wiedemann, Homilia, »Res Publica Nowa« 2002, Nr 8, S. 78–81.

Materialien zur polnischen Walser-Bibliographie

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[»Mikrogramy« [Mikrogramme. Auswahl], 2013] Justyna Sobolewska, Mistrz tan´ca, »Polityka« 2013, Nr 32. Bartosz Sadulski, Pie˛kna poraz˙ka: bas´niowy gos´c´, http://www.dwutygodnik.com/artykul/ 4502-piekna-porazka-basniowy-gosc.html.

Varia Jerzy Łukosz, O Robercie Walserze w Radziejowicach, »Twórczos´c´« 1991, Nr 2, S. 137–138. Małgorzata Łukasiewicz, Rozmowa oryginału z przekładem, »Literatura na S´wiecie« 1994, Nr 3, S. 305–306.

Personenregister

Adorno, Theodore W. 95, 124 Agamben, Giorgio 36, 181 Albes, Claudia 52, 54 Altieri, Charles 65 Arendt, Hannah 38–40 Ashbery, John 70, 82 Attridge, Derek 117 Axer, Erwin 178f. Bachelard, Gaston 189 Bachmann, Ingeborg 180 Barthes, Roland 93f. Basho¯, Matsuo 224 Bataille, Georges 150 Baudelaire, Charles 130 Baßler, Moritz 107 Beckett, Samuel 47, 179 Benjamin, Walter 27–29, 32, 34, 36, 43, 55, 66, 68, 93, 103–107, 167, 177, 179, 241– 243 Beretta, Stefano 206, 210 Bergson, Henri 189 Bernhard, Thomas 44f., 52 Bernofsky, Susan 67f., 70f., 73, 82 Bernstein, Charles 70 Bialik, Włodzimierz 15, 20, 248 Białoszewski, Miron 13, 18, 22 Bläß, Ronny 219 Blecher, Max 199 Bleckmann, Ulf 88, 99 Blei, Franz, 123, 204f. Bloom, Harold 69, 232 Boehm, Gottfried 89, 96, 103 Booth, Wayne C. 217f., 221

Bosch, Hieronymus 136 Bourdieu, Pierre 53, 55f. Brecht, Bertolt 69 Bremer, Donatella 211 Brod, Max 123 Buczyn´ska-Garewicz, Hanna Bugajski, Leszek 16, 248 Bullock, Michael 70 Burgin, Christine 71 Burska, Lidia 15

147, 150

Calderon, Pedro de la Barca 150 Canetti, Elias 162, 190 Cassirer, Bruno 87, 240 Cassirer, Paul 87, 93, 102 Cervantes, Miguel de 117 Che˛c´ka-Gotkowicz, Anna 141 Childish, Billy 71 Coetzee, Maxwell Jon 70 Debord, Guy 124 Deleuze, Gilles 90f., 94, 128 Derrida, Jacques 117f. Didi-Huberman, Georges 94f., 110 Duchamp, Marcel 71 Echte, Bernhard 65, 87, 93, 96f., 124, 129, 177 Eco, Umberto 222 von Eichendorff, Joseph 172 Ekier, Jakub 19–21, 29, 149, 156, 248 Enzensberger, Hans Magnus 61f. Evans, Tamara S. 88, 93, 96, 99, 108

252 Fähnders, Walter 43 Finck, Almut 51 Flaubert, Gustav 125 Foucault, Michel 46–50, 121 Frederick, Samuel 69–71, 179 Freud, Sigmund 189, 199 Fuchs, Annette 107, 111 Gadamer, Hans-Georg 44f. Gass, William Howard 70 Gees, Marion 127f. Genette, Gérard 221, 226 Geulen, Eva 110f Giezendanner, Kurt 240, 243 Gigerl, Margit 88, 93, 96, 99, 101 Gisi, Lucas Marco 44, 47, 51–56, 60, 62–64, 70, 88, 90, 94, 96, 110–112 Giuriato, Davide 125 Gloor, Lukas 96 Głowin´ski Michał 59 Goethe, Johann Wolfgang von 45, 136 Gogol, Mikołaj 36, 242 Gombrowicz, Witold 56–64, 68, 164 Greven, Jochen 43, 45, 47, 52, 58, 61, 68, 229, 235 Groddeck, Wolfram 87, 89–92, 98, 111, 124 Groeben, Norbert 223 Guattari, Felix 128 Gumbrecht, Hans Ulrich 131 Hamm, Peter 180 Harman, Mark 96 Hartmann, Britta 220 Hädecke, Wolfgang 57 Heffernan, Valerie 69, 71 Herbich, Piotr 19, 21, 149f., 248 Hesse, Hermann 7, 68, 123, 138f., 145, 177 Hessel, Franz 66 Hirschhorn, Thomas 71f. Hitler, Adolf 239 Hobus, Jens 90f. von Hochberg, hr. Konrad 7f. Holona, Marian 14, 247 Horn, Christoph 49f. Hölderlin, Friedrich 17, 44–46 Husserl, Edmund 35f.

Personenregister

Ibsen, Henrik 189 Imdahl, Max 104 Iser, Wolfgang 37f. Jacobsen, Jens Peter 190 Janeczek, Zbigniew 182 Jelinek, Elfriede 43 Je˛tkiewicz, Teresa 12 Joyce, James 68, 79 Jurkowska, Maja 13, 16f., 247 Kafka, Franz 16f., 38, 43, 67–69, 122f., 129, 132, 177, 199, 234–236, 240, 242 Kajewski, Piotr 19–21, 30, 248 Kamin´ska, Krystyna 16, 248 Keller, Gottfried 125f. Kierkegaard, Søren Aabye 166 Kimmich, Dorothee 103, 105 Kindt, Tom 217, 219f. Klee, Paul 71 Kleinschmidt, Erich 48 Koprowski, Jan 13f., 16, 20, 247f. Kon´czal, Katarzyna 180, 187 Kornhauser, Julian 15 Kozioł, Urszula 11, 22f., 248 Köngeter, Nicole 70 Köppe, Tilmann 220 Kraus, Karl 66, 98 Kurkiewicz, Juliusz 178, 187 Künstler-Langner, Danuta 151 Lamping, Dieter 107f., 230 Lobin, Henning 119f. Łukasiewicz, Małgorzata 12–16, 20, 32, 34, 36, 69, 149, 153, 156–159, 161–165, 168f., 171, 173, 177, 187, 247–249 Łukosz, Jerzy 13–19, 247–249 Magris, Claudio 189–200 Malcolm, Norman 177f. Mallarmé, Stephane 130 Manet, Edouard 92–94 Mann, Heinrich 67, 204 Mann, Thomas 67 Margolin, Uri 219

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Personenregister

Marinetti, Filippo Tommaso 73 Markowski, Michał Paweł 30, 149f., 248 Marszałek, Magdalena 49f. Martin, Mary Patricia 219 Martínez, Matías 219f., 230 Martus, Steffen 48 Massini, Ferrucio 163, 166 Meister, Eckhart 203–206 Meizoz, Jérôme 56 Melville, Herman 36 Merleau-Ponty, Maurice 103 Me˛trak, Krzysztof 16, 248 Michelstaedter, Carl 196 Middleton, John Christopher 70f., 168 Morlang, Werner 18, 65 Morrison, Toni 131 Musiał, Łukasz 11f., 19, 32, 69, 85, 148, 158, 248 Musil, Robert 43, 67f., 123, 130, 177, 190, 204, 240 Müller, Andre 182 Müller, Dominik 87f. Nelson, Joan 71 Niccolini, Elisabetta 44, 51–53, 58, 63, 187 Nieder, Fabio 196 Nietzsche, Friedrich 46, 61, 63, 100, 112, 128, 133, 137, 145, 190, 199f., 204–209, 213 Novalis 202, 204f., 208–210, 212–215 Nünning, Ansgar 217, 219 Oesterle, Günter 98 Ozon, François 235 Paganini, Niccolò 143f., 163, 173 Pantano, Daniele 70 Papp, Edgar 230 Pellegrini, Ernestina 196 Perloff, Marjorie 70, 72f., 80f. Pessoa, Fernando 180 Pettersson, Bo 220 Phelan, James 219 Pinthus, Kurt 123 Pirandello, Luigi 126, 178 Poe, Edgar Allan 130

Polgar, Alfred 66 Pope, Alexander 80 Pound, Ezra 79, 81 Proust, Marcel 68 Przybylak, Feliks 22 Riccio, Biagio 210 Rilke, Rainer Maria 70, 92, 94, 112, 185, 204 Rimbaud, Jean Arthur 80f. Roat, Francesco 205 Roth, Joseph 189 Roussel, Martin 110 Ruth, Kurt 207 Rybicka, Elz˙bieta 158 von Sacher-Masoch, Leopold 90 Sachs, Nelly 180 Sarasin, Philipp 49f. Schäfer, Wilhelm 123 Scheffel, Michael 219f., 230 Schmidt, Jochen 44 Schmitz, Walter 49, 57 Schuller, Marianne 94, 127 Schweiger, Susanne 90 von Schwerin, Kerstin Gräfin 102, 107 Searls, Damian 70 Sebald, Winfried Georg 43f., 63, 177–180, 187, 242 Seelig, Carl 13, 47, 69, 127, 153, 177, 239f., 243 Shakespeare, William 117 Sławek, Tadeusz 147 Sobolewska, Anna 19 Sobolewska, Justyna 180, 248f. Sontag, Susan 70f. Sorg, Reto 45, 47, 63, 88 Spielmann, Monika 221 Spinoza, Baruch 181 Spörl, Uwe 203, 209 Stadler, Ulrich 93 Stefani, Guido 206 Stein, Gertrude 81 Steinecke, Hartmut 67 Strauß, Botho 57f. Strinz, Sebastian 205

254 Strube, Werner 106 Svevo, Italio 178, 189, 191 Timmel, Vito 197f. Tischner, Józef 18 Todorow, Almut 87, 108 Tomkowski, Jan 163, 248 Tommek, Heribert 48f. Trump, Donald 72 Tucholsky, Kurt 123 Ulenbrook, Jan 224 Ullmann, Regina 43, 67 Ulrich, Wolfgang 109 Unseld, Siegfried 185 Utz, Peter 45, 64, 85, 98, 106, 125f., 205, Valéry, Paul 130 van Gogh, Vincent 38, 77, 96–102 Vannini, Marco 205, 208 Versari, Margherita 209 Vogt, Robert 230

Personenregister

Wagner-Egelhaaf, Martina 50 Walser, Karl 87 Walt, Christian 91 Walzel, Oskar 109 Weber, Werner 92 Wellmann, Angelika 206 Whalem, Tom 70 Wiedemann, Adam 19, 21f., 248 von Wiese, Benno 108 Wilson, Steven 138 Wittgenstein, Ludwig 177f., 206 Wittlin, Józef 18 Wirth, Andrzej 59 Wyka, Kazimierz 18 Young, Donald Zambrano, María

71 213

Z˙ychlin´ski, Arkadiusz

32, 69, 85, 248