Spanien heute: Politik, Wirtschaft, Kultur 9783968692814

Das Standardwerk „Spanien heute“ erscheint nun bereits in 6., vollständig neu konzipierter und aktualisierter Auflage. D

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German Pages 674 [676] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Einführung
Politik und Konfliktfelder
Fragmentierte Einheit: Bruchstellen in Staat und Gesellschaft Spaniens
Von der demokratischen Transition zu neuen Konfrontationen – die politische Entwicklung Spaniens im 21. Jahrhundert
Wandel und Kontinuität in der Europaund Außenpolitik Spaniens
Kataloniens Griff nach der Unabhängigkeit. Sackgasse oder Perspektive?
Die Ausfahrt aus dem Labyrinth. Nationalismus, Gewalt und Erinnerung im Baskenland (2005-2021)
Gesellschaft im Umbruch
Widerstreitende Erinnerungskulturen in einem gespaltenen Land
Kirche, religiöser Pluralismus und Laizität
Migration in Spanien zwischen Wirtschaftskrise und Pandemie
Fünfzig Jahre Frauenund LGTBIQ-Bewegung in Spanien
Die Rückkehr der Staatsnation? Verfassungspatriotismus und spanischer Nationalismus im 21. Jahrhundert
Wirtschaft und gesellschaftliche Herausforderungen
Spaniens Wirtschaft zwischen Strukturschwächen und opportunistischer Politik
Gesellschaftliche Folgen der Krise(n) seit 2008
Landnutzung im Veränderungsprozess – Herausforderungen einer nachhaltigen Zukunft
Alles unter der Sonne? Tourismus in Spanien: eine Bilanz
Die Folgen der COVID-19-Pandemie in Spanien
Kultur, Medien und Sport
Die Außenkulturpolitik Spaniens – Vergangenheit, Gegenwart und Perspektiven eines umstrittenen Politikfeldes
Alle versammeln sich um das Lagerfeuer. Kultur, Terrorismus und die narrative Erinnerung nach dem Ende von ETA
Literatur als Reflex gesellschaftlicher Debatten und aktuellen Wertewandels
Zur Rolle der Medien in der spanischen Demokratie
Sportbegeistert und fußballverliebt: Zur Sozialgeschichte des spanischen Sports als Massenphänomen
Siglenverzeichnis
Autoren und Autorinnen
Recommend Papers

Spanien heute: Politik, Wirtschaft, Kultur
 9783968692814

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Walther L. Bernecker Carlos Collado Seidel (Hgg.)

Spanien heute

Politik, Wirtschaft, Kultur

6., vollständig neu bearbeitete Auflage

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27/09/2022 22:30:10

BIBLIOTHECA IBERO-AMERICANA Veröffentlichungen des Ibero-Amerikanischen Instituts Preußischer Kulturbesitz Band 188

Wissenschaftlicher Beirat Peter Birle (Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin) Sandra Carreras (Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin) Ulrike Mühlschlegel (Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin) Héctor Pérez Brignoli (Universidad de Costa Rica, San José) Janett Reinstädler (Universität des Saarlandes, Saarbrücken) Friedhelm Schmidt-Welle (Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin) Liliana Weinberg (Universidad Nacional Autónoma de México) Nikolaus Werz (Universität Rostock)

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Walther L. Bernecker Carlos Collado Seidel (Hgg.)

Spanien heute

Politik, Wirtschaft, Kultur

6., vollständig neu bearbeitete Auflage

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2022

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27/09/2022 22:30:10

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. © Vervuert 2022 Elisabethenstr. 3-9 D-60594 Frankfurt am Main ©Iberoamericana 2022 c/ Amor de Dios, 1 E-28014 Madrid [email protected] www.iberoamericana-vervuert.es ISSN 0067-8015 ISBN 978-3-96869-280-7 (Vervuert) ISBN 978-84-9192-336-7 (Iberoamericana) ISBN 978-3-96869-281-4 (E-Book) Depósito legal: M-23228-2022 Umschlaggestaltung: Rubén Salgueiros Satz: Juan Carlos García Cabrera Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier. Gedruckt in Spanien.

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Inhalt Einführung

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Politik und Konfliktfelder Fragmentierte Einheit: Bruchstellen in Staat und Gesellschaft Spaniens Günther Maihold

Von der demokratischen Transition zu neuen Konfrontationen – die politische Entwicklung im 21. Jahrhundert Nikolaus Werz

Wandel und Kontinuität in der Europa- und Außenpolitik Spaniens Susanne Gratius/Marie Brockmann

15

47 75

Kataloniens Griff nach der Unabhängigkeit. Sackgasse oder Perspektive?

Carlos Collado Seidel 99 Die Ausfahrt aus dem Labyrinth. Nationalismus, Gewalt und Erinnerung im Baskenland (2005-2021)

Ludger Mees 131

Gesellschaft im Umbruch Widerstreitende Erinnerungskulturen in einem gespaltenen Land Walther L. Bernecker

171

Kirche, religiöser Pluralismus und Laizität

Mariano Delgado 203 Migration in Spanien zwischen Wirtschaftskrise und Pandemie

Axel Kreienbrink 239 Fünfzig Jahre Frauen- und LGTBIQ-Bewegung in Spanien Werner Altmann

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Inhalt

Die Rückkehr der Staatsnation? Verfassungspatriotismus und spanischer Nationalismus im 21. Jahrhundert Xosé M. Núñez Seixas

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Wirtschaft und gesellschaftliche Herausforderungen Spaniens Wirtschaft zwischen Strukturschwächen und opportunistischer Politik Holm-Detlev Köhler

Gesellschaftliche Folgen der Krise(n) seit 2008 Julia Macher

335 365

Landnutzung im Veränderungsprozess – Herausforderungen einer nachhaltigen Zukunft

Sabine Tzschaschel 391 Alles unter der Sonne? Tourismus in Spanien: eine Bilanz Raimund Allebrand

Die Folgen der Covid-19-Pandemie in Spanien

Marta Latorre Catalán/Juan Ignacio Rico Becerra/Héctor Romero Ramos

433 467

Kultur, Medien und Sport Die Außenkulturpolitik Spaniens – Vergangenheit, Gegenwart und Perspektiven eines umstrittenen Politikfeldes Christian Pfeiffer

Alle versammeln sich um das Lagerfeuer. Kultur, Terrorismus und die narrative Erinnerung nach dem Ende von ETA Paul Ingendaay

Literatur als Reflex gesellschaftlicher Debatten und aktuellen Wertewandels Dieter Ingenschay

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Inhalt Zur Rolle der Medien in der spanischen Demokratie Helene Zuber

Sportbegeistert und fußballverliebt: Zur Sozialgeschichte des spanischen Sports als Massenphänomen

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7

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Julian Rieck

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Siglenverzeichnis

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Autoren und Autorinnen

671

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Einführung Walther L. Bernecker / Carlos Collado Seidel Mit dieser Ausgabe liegt das Standardwerk „Spanien heute“ bereits zum sechsten Mal vor. Die letzte Ausgabe stammt aus dem Jahr 2008, seitdem ist viel passiert, hat sich vieles verändert. Eine grundlegende Überarbeitung, thematische Erweiterung und Aktualisierung des Bandes erwiesen sich somit als dringend erforderlich – nicht nur, um frühere Themen auf den neuesten Stand zu bringen, sondern auch, um all die neuen Entwicklungen aufzunehmen, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten Spanien zu einem in vielerlei Hinsicht anderen Land gemacht haben. Dazu gehört die 2008 einsetzende Finanz- und Wirtschaftskrise, die Spanien weitaus tiefgreifender erfasste als andere Industrienationen und drastische ökonomische Maßnahmen zu deren Bewältigung erforderte, eine Krise, die in ihren soziopolitischen Auswirkungen das etablierte Parteiensystem erschütterte, zum Aufkommen der breiten Protestbewegung 15-M und in der Folge zur Entstehung der heute auf Staatsebene sowie in vielen Autonomen Gemeinschaften und Kommunen mitregierenden Partei Podemos führte. In den letzten fünfzehn Jahren wallte darüber hinaus eine Sezessionsbestrebung in Katalonien auf, die im Herbst 2017 nicht nur in einer ­ephemeren Unabhängigkeitserklärung mündete und die grundsätzliche Frage der Verfasstheit des spanischen Staates aufwarf, sondern auch maßgeblich dazu beigetragen hat, den eingedenk der Diktaturerfahrung unter Franco bis dahin überwunden geglaubten spanischen Nationalismus in ungeahnter Weise zu befeuern. Ein Zutun hatte hierbei nicht zuletzt jedoch auch der seit zwei Dekaden im Rahmen vielfältiger Erinnerungskulturen intensive zivilgesellschaftliche Aufschwung in der Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit und den während der Diktatur begangenen Verbrechen sowie den beklagten Defiziten des Übergangsprozesses zur Demokratie nach dem Tod Francos. In der Folge verstärkte sich nachhaltig die Polarisierung in Politik und Gesellschaft mit zwei sich mehr denn je unversöhnlich gegenüberstehenden ideologischen Lagern. In den letzten eineinhalb Jahrzehnten sind unter sozialistisch geführten Regierungen darüber hinaus gesellschaftliche Forderungen ­hinsichtlich

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der Durchsetzung der Geschlechtergerechtigkeit und der Akzeptanz von in der Vergangenheit diskriminierten sexuellen Orientierungen in der Gesetzgebung aufgegriffen worden und haben Spanien auf diesem Feld – wenngleich innenpolitisch umstritten – international zu einem Vorreiter mit Vorbildfunktion gemacht. Dem schlägt wiederum nicht zuletzt der schwindende und dennoch nach wie vor starke Einfluss der katholischen Kirche mit ihrer Moraldoktrin entgegen, einer Kirche, der darüber hinaus der Drang anderer Konfessionen und Religionen gegenübersteht, einen gleichberechtigten soziopolitischen Status zu erreichen. Dazu gehört nicht zuletzt die aufgrund einer massiven Zuwanderung aus dem afrikanischen Raum wachsende Präsenz des Islams. Gerade diese kontinuierliche Zuwanderung aus dem Maghreb, Ländern des Subsahara und Lateinamerika sowie die damit einhergehende Integration von Menschen vielfältiger kultureller Herkunft stellt für Spanien eine wachsende Herausforderung dar. Dazu gehört aber nicht minder die Entvölkerung des Binnenraums, die in den letzten Jahren zu einem lautstarken Aufschrei in den betroffenen Regionen geführt hat und im Schlagwort des „entleerten Spaniens“ bildhaft zum Ausdruck kommt. Gewaltige anstehende Aufgaben sind aber auch die sich zuspitzende Wasserknappheit, nicht zuletzt bedingt durch den unaufhörlich wachsenden Bewässerungsbedarf in der Landwirtschaft, sowie die Erschließung regenerativer Energiequellen angesichts eines klimatischen Wandels, der Spanien längst stärker erfasst hat als andere europäische Gegenden. Not least und aktuell steht in diesem Zusammenhang auch die Bewältigung der gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der Covid19-Pandemie. Der vorliegende Band bildet damit in Zielsetzung, Aufbau und Inhalt ein sehr breites Themenspektrum ab, zu dem weitere Felder kommen, wie die gesellschaftliche Bewältigung der Jahrzehnte des Terrors der baskischen Untergrundorganisation ETA, die Kultur als Spiegel gesellschaftlicher Debatten, die Rolle der Medien in einer polarisierten Gesellschaft, die Probleme einer endemischen Neigung zu Klientelismus und Korruption sowie zur Politisierung der Justiz, strukturelle Defizite der spanischen Wirtschaft, die Verschiebungen in der Ausrichtung der Tourismusbranche als einem der bedeutendsten Wirtschaftssektoren, der Sport als Massenphänomen mit soziopolitischer Tragweite, sowie der internationale Handlungsrahmen Spaniens als Staat sekundären Gewichts im Mächtekonzert, doch mit einem beachtlichen regionalen Einfluss aufgrund traditionell bedeutender kultureller Verbindungen zum Maghreb und vor allem zu Lateinamerika.

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Einführung

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Der Sammelband enthält zwanzig Beiträge zum heutigen Spanien, die sich somit mit der Aktualität des Landes beschäftigen, gleichzeitig aber auch immer (in unterschiedlicher Intensität) den historischen Hintergrund miteinbeziehen, der zum Verständnis der Gegenwart erforderlich ist. Der Schwerpunkt des Buches liegt gleichwohl auf den letzten fünfzehn Jahren spanischer Geschichte. Es ist gelungen, herausragende spanische sowie deutsche Spezialisten und Spezialistinnen für die einzelnen Themenbereiche zu gewinnen, die in wissenschaftlich fundierten und zugleich gut lesbaren Darstellungen komplexe Zusammenhänge kompakt darbieten. Die unterschiedlichen Zugänge und Fragestellungen der Autoren und Autorinnen stellen darüber hinaus sicher, dass sich vor den Augen der Leser und Leserinnen ein wissenschaftlich solide recherchiertes und pluralistisch ausdifferenziertes Bild einer höchst komplexen Wirklichkeit von Spaniens jüngster Vergangenheit und Gegenwart auftut. Wie schon im Falle früherer Ausgaben hat sich auch dieses Buch allem voran zum Ziel gesetzt, dem Titel Spanien heute gerecht zu werden. Alle Beiträge wurden daher bis in die unmittelbare Gegenwart (Frühjahr 2022) fortgeschrieben. Konzeptionell und mit der Aufnahme einer Vielzahl an neuen Themenstellungen ist ein gegenüber der vorangegangenen Ausgabe grundlegend neuer Band entstanden. Natürlich bleibt jeder Sammelband unvollständig; auch im vorliegenden Fall konnte keine erschöpfende Erfassung aller relevanten Aspekte der Entwicklung der letzten Jahre erfolgen. Allerdings werden in den verschiedenen Beiträgen die wichtigsten Probleme, die krisenhaften Zuspitzungen und deren Lösungsversuche behandelt; mitunter – und das verweist einmal mehr auf die Komplexität des Geschehens und das Erfordernis, die Themen mittels verschiedener Disziplinen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln darzustellen – kommen bestimmte Aspekte in unterschiedlichen Aufsätzen zur Sprache, so dass sich zur vollständigen Erfassung eines Themenfelds eine transversale Lektüre mehrerer Beiträge empfiehlt. Den Aufsätzen vorangestellte Abstracts ermöglichen einen schnellen Überblick über die jeweiligen Inhalte. Die den Beiträgen angefügten Literaturangaben eröffnen die Möglichkeit einer vertieften Befassung mit den behandelten Materien. Aufgrund der zwischen dem Termin zur Abgabe der M ­ anuskripte und der Drucklegung dieses umfangreichen Bandes ­erforderlichen redaktionellen Abläufe konnten die Auswirkungen des ­Ukraine-Krieges bedauerlicherweise keine Berücksichtigung mehr finden.

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Walther L. Bernecker / Carlos Collado Seidel

Zum Gelingen des Bandes hat die Hans Frisch Stiftung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg durch die Finanzierung einer studentischen Hilfskraft beigetragen. Diese, Frau Katharina Danisch, hat aktiv an den redaktionellen Arbeiten mitgewirkt und ihre sachliche wie fachliche Kompetenz in vielerlei Hinsicht eingebracht. Frau Rosa Philipp hat ihre technisch-organisatorischen Fähigkeiten bei verschiedenen PC-Problemen immer wieder unter Beweis gestellt. Ihnen allen, ebenso wie den Autoren und Autorinnen für die Überlassung der Beiträge und dem Verlag ­Vervuert für die reibungslose Zusammenarbeit, sei herzlich gedankt. Die Herausgeber

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Politik und Konfliktfelder

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Fragmentierte Einheit: Bruchstellen in Staat und Gesellschaft Spaniens Günther Maihold Abstract Spaniens Einheit ist in der vergangenen Dekade von massiven zentrifugalen Kräften herausgefordert worden, die sich nicht nur mit den Autonomiebewegungen und der dezentralen Anlage des politischen Systems beschreiben lassen. Der Regierung in Madrid gelingt es immer weniger, den Zusammenhalt des Landes zu stärken. Die bislang wirksamen Elemente, etwa die Monarchie, aber auch die gemeinsame Verfassungstradition haben ihre Bindungskraft eingebüßt. Hinzu tritt eine Polarisierung der politischen Kräfte, die gemeinsames Handeln – selbst in der Pandemiekrise – beinahe unmöglich macht. Hinzu kommt, dass auch die Justiz zunehmend in den Strudel parteipolitischer Interessen geraten ist und öffentliche Räume sich dem Zugriff der extremen politischen Kräfte kaum erwehren können. Gleichzeitig hat sich die Erwartung an ein harmonisches Zusammenleben im spanischen Autonomiestaat bewahrt, die aber angesichts der wachsenden Asymmetrien sozialer und wirtschaftlicher Art immer weniger artikuliert wird. Die Anzeichen einer zunehmenden Fragmentierung haben sich verstärkt, ohne dass bislang dem Bestreben nach Sicherung von politischer Kohäsion und sozialem Zusammenhalt für die Umsetzung von unabdingbaren Reformen die notwendige Aufmerksamkeit eingeräumt worden ist.

Spanien leidet seit Jahrzehnten an ungelösten Konflikten, institutionellen Blockaden und Bruchstellen im Regierungsgefüge, die in immer wieder neu auftretenden Krisen erkennbar werden. Diese drei Krisenphänomene überlagern sich und stehen in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. Zudem werden sie noch befördert durch eine weit verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die neben sozialen Dimensionen (sehr hohe Arbeitslosenquote, steigende Ungleichheit) auch kulturelle Dimensionen annimmt, insofern die Akzeptanz zentraler Akteure des Landes verfällt und das Vertrauen in die Konfliktlösungsfähigkeit der Institutionen weiter schwindet. Dies projizierte sich zunächst auf die fehlende ­Repräsentativität

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Günther Maihold

des dominanten Zweiparteiensystems (Subirats/Vallespín 2015: 19  ff.), das jedoch mit neuen politischen Kräften eine deutliche Erweiterung erfuhr. Die drei Blockaden, die das iberische Land seit mehr als zehn Jahren begleiten und stabile Regierungen in Madrid unmöglich machen, sind (1) eine politische Polarisierung, die sich in einem Lagerdenken verfestigt hat, das keine übergreifenden Koalitionen zulässt; (2) die Folgen der Katalonienkrise, die diese politischen Lager weiter befestigt und (3) die innere Konfrontation als Folge des Migrationsdrucks aus Afrika, die zu massiven innenpolitischen Verwerfungen geführt hat. Auch wenn das medial und politisch stark wahrgenommene Muster der Konfrontation zwischen der katalanischen Regionalregierung in Barcelona und der Zentralregierung in Madrid im Vordergrund der Wahrnehmung stand, ist doch deutlich geworden, dass sich die Tendenzen eines destruktiven Musters zwischen den verschiedenen Regierungsebenen verstärkt haben und die Tendenz zu Partikularismus und Blockadepolitik sich nicht hat bremsen lassen. Die Rolle multipler Machtzentren und ihrer Interessenpolitik beeinträchtigt dabei nicht nur die Leistungsfähigkeit des spanischen Staates in Bezug auf Kompetenzkonkurrenzen, sondern verhindert auch die Umsetzung der notwendigen politischen und sozialen Reformen. Selbst im Rahmen einer so fordernden Situation wie der Coronapandemie gelang es nicht, eine komplementäre Kompetenzverflechtung für die Wahrnehmung von übergreifender Politikgestaltung durch die verschiedenen Regierungsebenen herzustellen. Die Konfliktdynamiken reichen deutlich über einfache Abstimmungsprobleme zwischen den Parteien, aber auch hier zwischen deren Zentral- und Regionalstrukturen hinaus; damit konnten die politischen Akteure auch nicht als Kräfte der ­Kohäsion wirksam werden; sie wurden ebenso in Spanien geschwächt, wie das nicht zuletzt für die Monarchie gilt, die ihre Funktion als einheitsstiftende Instanz für die spanische Gesellschaft aufgrund eigener Verfehlungen eingebüßt hat. Das Ausmaß an gegenseitiger Akzeptanz und Anerkennung hat sich verringert, Fundamentalopposition schien sich auch wahlpolitisch als besonders erfolgversprechende Strategie zu erweisen. Konsens bleibt weiterhin eine knappe Ressource in einem Regierungssystem, dessen zentrifugale Tendenzen auch weiterhin ohne geeignete Auffangmechanismen und gegenläufige Kräfte auf das Zusammenleben durchschlagen. Die Rückkehr aus der „großen Verfeindung“ (Macher 2020) zum in den ersten zwei Dekaden der Demokratie nach Francos Tod vorherrschenden

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­ onsensgedanken braucht Zeit und den Einsatz von politischem Kapital, K das viele Akteure gegenwärtig nicht bereitstellen wollen. Trotz einer Vielzahl aufeinander folgender Wahlgänge (2008; 2011; 2015; April 2019; November 2019) konnte das Wählervotum nicht dazu beitragen, die innere Spaltung des Landes zu überwinden und klare Mehrheitsverhältnisse zu schaffen. Der politischen Polarisierung entspricht eine gesellschaftliche Polarisierung, die sich trotz erweiterter politischer Angebote durch Neuparteien wie Unidas Podemos, Ciudadanos, Vox in sich weitgehend unversöhnlich gegenüberstehenden politischen Lagern niederschlägt. Den Parteien der nationalen Minderheiten fällt bei Abstimmungen über den Haushalt immer wieder eine Schlüsselrolle zu, so dass Einzelinteressen weiter die Oberhand behalten. Die Wahrung der Einheit – wofür formal noch immer die spanische Krone steht – ist damit immer wieder einer Debatte ausgesetzt, die sich aus den Unklarheiten der spanischen Verfassung von 1978 ableiten lässt, aber auch aus den Defiziten jener Einrichtungen speist, die, wie der Senat, nicht dazu beitragen, den Zusammenhalt im Institutionengefüge zu stärken. Die zentrifugalen Kräfte von 17 regionalen Machtzentren werden daher oftmals ohne wirkliches Gegengewicht wirksam und verursachen massive Spannungen zwischen den verschiedenen Regierungsebenen. Auch wenn immer wieder Bündnisse gefunden werden, die die Stabilität einer Regierung sichern, bleibt doch die grundsätzliche Frage der Autonomien als Problem der staatlichen Organisation ungeklärt. Als Erkenntnis der politischen, juristischen und sozialen Auseinandersetzung der vergangenen Jahre ist festzuhalten, dass Regierbarkeitspakte nicht hinreichend sind, um Probleme der staatlichen Organisation zu lösen – zumal unter Bedingungen extremer Polarisierung zwischen den politischen Kräften des Landes, die durch die Pandemie noch weiter verschärft wurden. Pandemiefolgen und Konfrontation zwischen den Regierungsebenen

Rekordziffern bei Coronatoten, erneut steigende Infektionszahlen trotz hoher Impfrate, eine erwartete Arbeitslosenquote von 21 % und ein tiefer Absturz des Wirtschaftswachstums in den zweistelligen negativen Bereich – das war die Bilanz der ersten zwei Wellen der Coronakrise in Spanien. Die Pandemie und die Versuche zu ihrer Kontrolle haben die S­ trukturdefizite

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innerhalb des spanischen Regierungssystems wie auch die negativen Folgen der politischen Polarisierung im Lande erneut deutlich gemacht. Trotz einer massiven Krise gelang es nicht, eine gemeinsame Linie in der Pandemiebekämpfung durchzuhalten, vielmehr hat die Pandemie wie in einem Brennglas die bestehenden Konflikte weiter befeuert. Die tiefe Spaltung des politischen Spektrums und die Unfähigkeit der politischen Elite zum Kompromiss, der bei den eigenen Anhängern als Gesichtsverlust angesehen werden könnte, blockieren auch die Kontrolle der Krise und die Überwindung der Krisenfolgen. Grafik 1: Entwicklung der täglichen Neuinfektionen mit Covid-19 in Spanien, April 2020 bis Januar 2022

Quelle: Datenarchiv der Johns Hopkins Universität (Center for Systems Science and Engineering -CSSE), https://github.com/CSSEGISandData/COVID-19 (20-02-22).

Nach sechsmaliger Verlängerung des am 14. März 2020 verkündeten „Alarmzustandes“ mit einem rigiden Lockdown ging die Verantwortung für die Kontrolle der Pandemie von der Zentralregierung zum 9. Mai 2021 wieder auf die 17 Regionalregierungen über. Gerade die Regierungen des Baskenlandes und Kataloniens hatten sich bei der Verteilung von medizinischem Material benachteiligt gefühlt. Nun standen sie allerdings selbst – angesichts stark angestiegener Infektionszahlen in Katalonien, Navarra und Aragonien – an vorderster Front und zeigten sich überfordert; die eingeleiteten Lockerungsmaßnahmen mussten regional wieder zurückgenommen werden. Zum Jahreswechsel 2021/2022 wies das Land in der

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Omikron-Welle erneut hohe Infektionszahlen auf, ohne dass eine gemeinsame Linie in der Pandemiebekämpfung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen durchsetzbar gewesen wäre. So überrascht es nicht, dass das Land dringend auf die Freigabe der Mittel aus dem europäischen Wiederaufbauprogramm wartete, nachdem schon zwei nationale Programme für Direkthilfen im Umfang von insgesamt 45 Milliarden Euro im Jahr 2020 aufgelegt wurden; die Mittel für Liquiditätssicherung wurden auf 153 Milliarden Euro aufgestockt. Mit der Bestätigung des spanischen Wiederaufbauplans durch die EU am 16. Juni 2021 kann das Land mit Mitteln in Höhe von rund 140 Milliarden Euro zusätzlich rechnen. Spanien ist von der Coronakrise sozial und wirtschaftlich tief getroffen und zudem politisch gespalten. Die linke Minderheitsregierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez muss sich in stetig wechselnden Allianzen ihre Mehrheiten im Parlament mühsam zusammensuchen, um ihre Maßnahmen durchzubringen. Die Opposition blockiert ein gemeinsames Handeln oder begleitet die Ausbreitung der Pandemie mit Verschwörungstheorien wie im Falle der ultrarechten VoxPartei. Im Großraum Madrid fuhr die von der Volkspartei (PP) geführte Stadt- und Regionalregierung unter dem Motto „Madrid – Stadt der Freiheit“ einen konträren Kurs zur sozialistisch geführten Nationalregierung und versuchte damit, im eigenen Lager eine auf Öffnung zentrierte Politik durchzusetzen und damit politisch an Boden zu gewinnen. Hoch umstritten ist dabei die Frage, ob es seitens der konservativen Madrider Stadtregierung und der Regierung Kataloniens eine Anordnung gab, wegen der Überlastung der Krankenhäuser keine Patienten aus Alten- und Pflegeeinrichtungen aufzunehmen, so dass sich für diesen Personenkreis eine außerordentlich hohe Todesrate in der ersten Pandemiewelle ergab (Amnistía Internacional 2020). Die juristische Aufarbeitung dieser Pandemiefolgen hat nun begonnen: Sie bezieht sich vor allem auf die Sterbezahlen, weshalb bei den Gerichten viele Klagen wegen unterlassener Hilfeleistung anhängig sind, da auf dem Höhepunkt der Krise erkrankte Senioren nicht mehr zur Behandlung in Krankenhäusern zugelassen wurden. Dies wurde von den Behörden angesichts der überlasteten Hospitäler so entschieden; zugleich waren die Ausrüstung und die Personaldecke vor allem in privaten Pflegeeinrichtungen unzureichend oder zeitweise nicht vorhanden. An diesem Punkt entzündeten sich viele Proteste der Bevölkerung, die sich auf die, nach massiven Einsparungen in den vorangegangenen Jahren, unzureichende Ausstattung des Gesundheitswesens

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des ­Landes und die fehlende staatliche Fürsorge für Ärzte und das Pflegepersonal bezogen, das wegen des Mangels an Ausrüstung einen hohen Grad von Ansteckungen aufwies. Die politischen Akteure in Madrid und in den Autonomieregierungen blockierten sich weiterhin selbst und damit das Land. Die rechtsextreme Vox-Partei konnte sich durch Autokorsos farbenreich als Krisengewinner mit der Forderung nach Freiheit und dem „Argument“ der Verteidigung des Vaterlandes inszenieren. Vereinbarungen gelangen der Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez nur mit Arbeitgebern und Gewerkschaften mit dem Ziel gemeinsamer Maßnahmen für Beschäftigung und zur Reaktivierung der Wirtschaft, doch der Dialog der Sozialpartner reichte nicht bis ins Parlament; dort sperrte sich die Volkspartei (PP) gegen eine gemeinsame Erklärung. „Zeit, Einheit und Loyalität“ war die Bitte, die Regierungschef Sánchez zu Beginn der Coronakrise an sein Volk und die politischen Parteien im Parlament richtete.1 Seine Aufforderung zu gemeinsamem Handeln nach dem Vorbild der Moncloa-Verträge des Jahres 1977, als der Übergang zur Demokratie paktiert wurde, verhallte ohne Resonanz. Das Bild der Regierung aus PSOE, der Partei von Ministerpräsident Pedro Sánchez, und der linken Unidas Podemos-Partei (auch nach dem Ausstieg ihrer zentralen Führungsfigur Pablo Iglesias aus der Regierung) ist von Rivalität und Zerstrittenheit geprägt – Ausdruck der Unerfahrenheit mit Koalitionsregierungen in Spanien. Das Bestreben beider Parteien, in der Abgrenzung zum Partner gleichzeitig auch die eigene Identität bewahren zu wollen, bricht die vom Regierungschef geforderte „rigorose Solidarität“. Die einzelnen Ressortchefs konkurrieren um die Schlagzeilen und vermitteln den Eindruck, in der Krise nicht zusammen an einem Strang zu ziehen. Der Streit darüber, welche Signale an die Unternehmer und Märkte gegeben werden sollen und ob durch rigide Regelungen wie ein Kündigungsverbot Erleichterung verschafft werden kann, vollzieht sich auf offener Bühne. Einig ist man sich indes, dass von der EU ein Rettungsimpuls kommen muss, entsprechend der Forderung von Pedro Sánchez nach gemeinsamem Zusammenstehen im europäischen Kontext. Spanien wie auch seine Regierung brauchten dieses politische Zeichen, aber auch die entsprechenden finanziellen Ressourcen, schnell und effektiv, um einen tiefen Absturz des Landes und einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust der K ­ oalitionäre 1 (12-12-2021).

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zu verhindern. Die Wirtschaftskrise wird – nicht zuletzt aufgrund der hohen Staatsverschuldung – zum Dauerzustand, die Erholung nach dem Einbruch des Wachstums im Jahr 2008 ist verflogen, die soziale Lage hat sich trotz Auffangmaßnahmen mit Kurzarbeitergeld massiv verschlechtert. Topfschlagen auf den Balkonen hat sich als Protestform gegen die Einschränkungen im Lockdown und die massive Wirtschaftskrise etabliert. Die Erwartung, ansteigender Tourismus könne die negativen Folgen des Lockdowns mildern, ist ins Wanken geraten. Das Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts um 10,8 % im Jahr 2020 markierte einen erneuten wirtschaftlichen Einbruch. Im Herbst 2021 senkte die EU-Kommission ihre Erwartungen auf real 4,6 % Wachstum für jenes Jahr und auf 5,5 % für 2022; die wirtschaftliche Erholung ließ jedoch angesichts des Ausbruchs der Omikron-Welle weiter auf sich warten. Mit der Genehmigung des Wiederaufbauplans durch die Europäische Kommission ist jedoch ein externer Impuls gesetzt worden, der Chancen für den wirtschaftlichen Neuanfang eröffnete und gleichzeitig auch das Kalkül der konservativen Opposition erschüttern könnte, dass die Krise die Regierung Sánchez aufreiben werde. Ein zentraler Baustein dieses Wiederaufbauprojektes war, angesichts der Notsituation, die Einführung einer sozialen Grundsicherung (Ingreso Mínimo Vital – IMV) im Mai 2020 als Regierungsdekret; dessen Text wurde als Gesetz allerdings erst im Dezember 2021 veröffentlicht. Trotz der gewaltigen politischen Polarisierung gelang es der Linksregierung von Pedro Sánchez schließlich, ihren Vorschlag eines Grundsicherungseinkommens in seltener Einmütigkeit durch das Parlament zu bringen; es garantiert in Abhängigkeit von vorherigem Einkommen und Familiengröße armen Bevölkerungsschichten eine Unterstützung zwischen 462 und 1.015 Euro. Bereits bis September 2021 sollen in einer ersten Phase insgesamt 800.000 Personen begünstigt und ihr Abstieg in völlige Mittellosigkeit verhindert worden sein.2 In der weiteren Ausbaustufe sollen mit dem Mindesteinkommen insgesamt etwa 850.000 Haushalte erreicht werden, in denen etwa 2,3 Millionen Menschen leben. Die Regierung beabsichtigt, dadurch insbesondere einen Beitrag zur Reduzierung der Kinderarmut zu leisten. Doch entscheidend wäre es, mehr Personen wieder in feste Arbeitsverhältnisse zu bringen, was angesichts des dominanten Systems von ­Zeitverträgen 2 (15-12-2021).

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in Spanien ein ohnedies schwieriges Unterfangen ist. Allerdings ist es der Linksregierung mit Hilfe der Coronakrise damit gelungen, zum einen ein Wahlversprechen einzulösen und zum anderen allen Personen, die aus der Arbeitslosenversicherung herausfallen, erstmals einen Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung zu gewähren (Badenes-Plá/Gambau-Suelves 2020). Zuvor waren sie ausschließlich auf die Unterstützung durch die Familie sowie Nothilfe durch Kirchen und karitative Einrichtungen angewiesen gewesen. Das schon in der Wirtschaftskrise des Jahres 2008 besonders ausgeprägte Problem der Jugendarbeitslosigkeit steht ganz oben auf der Problemliste; mehr als 33 % der Jugendlichen unter 25 Jahren sind arbeitslos, bei mehr als 14 % dauert dieser Status bereits mehr als ein Jahr an. Die rechtsradikale Oppositionspartei Vox sieht indes in der Grundsicherung nur einen zusätzlichen Anreiz für Migranten aus dem Mittelmeerraum, sich auf den Weg zu machen und Spaniens Küsten zu erreichen. Fragile Faktoren der Einheit: Monarchie und Verfassung

Artikel 2 der spanischen Verfassung spricht von der „unauflöslichen Einheit der spanischen Nation als gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier“. Artikel 56 beschreibt seinerseits die Rolle des Königs mit folgenden Worten: „Der König ist Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Beständigkeit“. Die Frage der spanischen Nationalidentität ist angesichts der vielfältigen historischen Verwerfungen durch Bürgerkrieg und Diktatur ein sehr umkämpftes Feld, das in Abhängigkeit von spezifischen politischen Konjunkturen immer wieder neu aufgerollt und debattiert wird (Núñez Seixas 2019). Dies gilt zumal angesichts der virulenten Rolle, die seitens der katalanischen, galicischen und baskischen Nationalbewegung in der jüngeren Geschichte immer wieder mit Strategien der Abgrenzung, Autonomie, Unabhängigkeit und Gewalt gepaart war. Dies bedeutet, dass die Einheit stets neu herausgefordert wird und daher die Frage zu stellen ist, inwieweit die traditionellen Klammern der nationalen Identität heute noch wirksam sind: die Monarchie und die Verfassung. So ist der spanische König seit der Demokratisierung ein Symbol der Einheit des Landes; unter seiner Ägide vollzog sich der Übergang zur Demokratie – er war in der schwierigen Phase des „Tejero-Putsches“ im Februar 1981 ein zentraler Stabilitätsanker für den erreichten Wandel Spaniens. Mit der Person des Königs verband sich schnell ein Narrativ der

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Demokratisierung und des Aufstiegs Spaniens in Europa (CIS 2000), so dass in der Folge die Meinung entstand, dass es vor allem auf die Person von Juan Carlos, aber nicht so sehr auf die Monarchie im Allgemeinen ankomme. Diese Bindung an die Person des Königs entfaltete so lange eine hinreichende Tragfähigkeit, wie das Königshaus insgesamt nicht von Skandalen erschüttert und der König selbst in die Schlagzeilen von Affären und Korruption geriet; genau an diesem Punkt bewahrheitete sich in einem bestimmten Umfang die Einschätzung, dass es in Spanien mehr Juan Carlos-Anhänger (juancarlistas) als Monarchisten gebe (Moreno Luzón 2013: 160). Mit der Haltung des Königs, sich gegenüber nationalen Konflikten neutral zu verhalten und nur in wenigen Situationen mit eigenen Auffassungen in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden, geriet die Krone jedoch auch immer stärker in den Strudel der Auseinandersetzungen mit den Autonomieregierungen. Durch das Erstarken nationalistischer Strömungen, die den Monarchen als Emblem des spanischen Staates bekämpfen, wurde gerade seine symbolische Funktion zum Problem: Da der König Spanien repräsentiert, halfen Angriffe gegen ihn im Kampf für die angestrebte Unabhängigkeit. Damit geriet die Person des Königs wie auch seine Rolle als Symbol der Einheit unter Druck, so dass die Monarchie immer weniger als Klammer der Versammlung aller Identitäten hinter dem König angesehen wurde. Nach der von Skandalen getriebenen Abdankung von König Juan Carlos I. im Juni 2014 ist das Königshaus nicht aus den Schlagzeilen herausgekommen; die erhoffte Beruhigung der politischen Lage (der Monarchie) ist seit dem Thronwechsel zu Felipe VI. nicht eingetreten. Weiterhin beschäftigt das Leben von Juan Carlos I. die Gazetten, und auch der neue König hat sich nicht als Wahrer der Einheit Spaniens im Rahmen der Katalonien-Krise bewähren können. Vielmehr haben die Stimmen für eine Abschaffung der Monarchie und die Errichtung einer Republik auch jenseits der traditionellen Befürworter dieser Option an Gewicht gewonnen. Eine Sammlungsbewegung mit dem Namen Plataforma Consulta Popular Estatal Monarquía o República beabsichtigt die Durchführung einer Volksbefragung im Jahr 2022 zu diesem Thema, um den entsprechenden Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen. Nach Umfragen zeichnet sich für den Übergang zu einer Republik eine Mehrheit ab (39,4  % gegenüber 31 % für die Beibehaltung der Monarchie), allerdings bei einer recht hohen Zahl von Unentschiedenen (Plataforma de Medios Independientes 2021). Da das staatliche spanische Umfrageinstitut CIS seit mehr als sechs

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Jahren keine Untersuchungen mehr zum Vertrauen der Bevölkerung in die Monarchie durchgeführt hat und damit keine Aussage über die Akzeptanz des Königshauses möglich war, haben sich unabhängige Medien zusammengefunden, um gemeinsam eine solche in Auftrag zu geben. Das Ergebnis ist für den König nicht ermutigend, da die Monarchie bzw. das Königshaus selbst tendenziell eher als Problem denn als Faktor für die Lösung der Probleme des Landes angesehen wird. Zumindest gilt dies angesichts der Autonomiefrage, in der es dem Königshaus nicht gelang, eine vermittelnde Rolle oder zumindest eine Brückenfunktion zwischen den verfeindeten Lagern einzunehmen. Nicht zuletzt die Skandale in der königlichen Familie haben das Vertrauen in seine Integrität massiv beeinträchtigt, wie die Zahlen der Umfrage verdeutlichen. Tab. 1: Meinungen zur Monarchie Meinungen zur Monarchie in Prozent der „eher einverstanden“-Haltungen

Die Monarchie sorgt für Ordnung und politische Stabilität Die Monarchie ist eine Institution aus anderen Zeiten; sie macht in einer Demokratie keinen Sinn Die Skandale der Königsfamilie beschädigen das internationale Bild Spaniens Ohne Monarchie würden die Spannungen mit den katalanischen, baskischen… Nationalismen schlechter verlaufen.

2020

2021

48,1 %

42,6 %

47,9 %

53,0 %

74,1 %

72,6 %

39,1 %

38,2 %

Quelle: (10-12-2021).

Damit verbunden ist das Paradox der politischen Geschichte Spaniens, dass einerseits der repressive Charakter des Franco-Regimes den sozialen Rückhalt für die seinem Nationalgedanken entgegenstehenden Nationalismen gestärkt hat; gleichzeitig ist aber auch der demokratische Verfassungsstaat in Spanien seit 1978 unfähig gewesen, so etwas wie einen „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Sternberger) zu begründen (Núñez Seixas 2018: 196), der die Bevölkerung der peripheren Nationalismen an eine Identität gebunden hätte, die sich auf Normen, Prinzipien und Werte als ­integrierende und kohäsionsstiftende Kraft stützt. Der hohe Stellenwert,

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der der Verfassung im öffentlichen Diskurs zugewiesen wird, kann daher trügen: Im Falle Spaniens wurde – wie Núñez Seixas (2010: 138) ausführt – die Betonung mehr auf die Verfassung selbst und ihre konkrete Formulierung als auf die in ihr verankerten universellen Werte gelegt, nicht zuletzt, weil die Verfassung selbst kategorisch feststellt, dass die Nation vor der Magna Carta existierte, also als eine ihr vorausgehende Tatsache anzusehen ist. Auch die Genese des spanischen Autonomiestaates auf den in der Verfassung vorgesehenen Wegen mittels eines administrativen und politischen Dezentralisierungsprozesses nach Art. 143 oder alternativ im Wege des Kompetenztransfers nach Art. 151 mit höherem Kompetenzniveau und unmittelbarer politischer Autonomie hat die Ambivalenz des Verfassungsdiskurses in einer zentralen Frage der Nation unterstrichen. Damit bewegte sich das spanische Staatskonzept von vorneherein zwischen den Polen eines dezentralen Einheitsstaats und eines Föderalstaats, was die Frage der Konfiguration rechtlich offenließ, politisch aber schnell zugunsten der Autonomieregelungen entschieden wurde (Cordes/Kleiner-Liebau 2011: 190). Dies wird in besonderem Maße in der Ambivalenz der Rolle des Senats deutlich, der nach Art. 69 Abs. 1 der Verfassung von 1978 als „Kammer der territorialen Repräsentation“ angesehen wurde. Die immer wieder aufflammende Debatte über dessen Funktion, die als überflüssig oder rein formal wahrgenommen wird (Nohlen/Kölling 2020: 326) und seine hybride Zusammensetzung sind dafür ein sehr deutliches Zeichen. So geht es bei den allgemeinen Wahlen in Spanien nicht nur um die Mehrheiten im Abgeordnetenhaus: Die Abstimmung über die Zusammensetzung der zweiten Kammer des spanischen Parlaments gewann zuletzt eine besondere Bedeutung, da diese dafür verantwortlich ist, mit absoluter Mehrheit auf Antrag der Regierung die Anwendung von Artikel 155 der Verfassung zu billigen, der die Auflösung einer Regionalregierung ermöglicht, und in die Autonomen Gemeinschaften einzugreifen, wie es am 27. Oktober 2017 in Katalonien nach der Unabhängigkeitserklärung dieser Autonomen Gemeinschaft geschehen ist. In der letzten Legislaturperiode bestand der Senat aus 208 direkt – hier nach dem Mehrheitswahlrecht – gewählten Senatoren (unabhängig von der Größe jeweils vier Mandate pro Provinz) und 48 von den Regionalparlamenten benannten Mitgliedern. Damit stoßen hier zwei territoriale Gliederungsprinzipien aufeinander: Zum einen die Provinzen (materiell rein administrative Einheiten ohne politische ­Relevanz), deren Zahl pro regionaler Gebietskörperschaft stark variiert,

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zum anderen die Parlamente der Autonomen Gemeinschaften, die eine Vertretung ihrer Interessen wahrnehmen sollen. Damit wurde für den Senat ein Mischsystem gewählt, das sich historisch zunächst in gegenläufigen Mehrheiten in beiden Kammern manifestierte und insbesondere vom PP oftmals als ein Boykottinstrument genutzt wurde. Indes hat sich dies mit den Veränderungen in der sozialen Repräsentation beider Großparteien zunehmend in gleichgerichtete Mehrheiten gewandelt, so dass auch in dieser Hinsicht eine Entwertung seiner Bedeutung in den Gesetzgebungsprozessen, wo er die Rolle der zweiten Lesung von Gesetzesinitiativen mit entsprechend eher technischen Verbesserungselementen übernimmt, eingetreten ist. Trotz verschiedener Reformimpulse ist eine grundlegende Neuordnung des Senats im Gefüge des spanischen politischen Systems bislang ausgeblieben; sein Beitrag zur Steigerung des „Autonomiegehalts“ im spanischen Gesetzgebungsprozess hat sich als sehr begrenzt erwiesen, nicht zuletzt da ihm beispielsweise hinsichtlich der Verteilung und Regulierung des Interterritorialen Ausgleichsfonds (Fondo de Compensación Interterritorial) sowie bezogen auf das Finanzierungssystem der Autonomen Gemeinschaften nur die Kompetenz der Gesetzesinitiative geblieben ist, die aber durch das Abgeordnetenhaus realiter ausgehöhlt wurde. Damit erweist sich auch in der Frage des politischen Ausgleichs zwischen der Zentralregierung und den Autonomen Gemeinschaften die Verfassung als weitgehend beschränktes Instrument, um die Spannungen im politischen System aufzufangen und institutionell zu bearbeiten; der Senat ist aufgrund seiner unvollständigen Rolle als echte zweite Kammer für den Ausgleich der verschiedenen Interessenssphären zwischen den unterschiedlichen Gebietskörperschaften dysfunktional geblieben. Justizialisierung der Politik – Politisierung der Justiz

Auch in der Coronakrise wiederholte sich das alte Spiel, wie es sich schon im Umgang mit den Autonomiebestrebungen Kataloniens eingebürgert hatte: Politische Konflikte landen mit Klagen bei der Justiz, die Justiz wiederum wird politisiert und verliert zunehmend an Akzeptanz in der Bevölkerung. Juristische Verfahren ersetzen die politische Debatte zwischen den Parteien der Mitte, die politischen Fronten verfestigen sich, und alte Konflikte werden so in die Zukunft hinein verlängert. Damit setzt sich die Tendenz fort, dass politische Probleme unter dem Blickwinkel

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von ­Organstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Regierungsebenen betrachtet werden und damit der Weg zu einer justiziellen Bearbeitung zum ersten Mittel der Wahl wird. Die Justiz wird damit unmittelbar zu einem zentralen Akteur in der politischen Auseinandersetzung und sieht sich gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die oftmals nicht dem Ziel der Befriedung eines Konflikts dienen, sondern ihn selbst erneut anfachen. Insgesamt bewerteten nur 38 % der Gesamtbevölkerung und 39 % der Unternehmen im Jahr 2021 die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter als „eher gut“ oder „sehr gut“, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Werten des Jahres zuvor, die noch bei 44 % bezogen auf die Gesamtbevölkerung und bei 42  % der Unternehmen gelegen hatten (). Da die Justiz von der Politik immer stärker in den Meinungskampf hineingezogen wurde bzw. auch „Star-Richter“ selbst, die sogenannten jueces estrella, politische Themen aufgreifen, die angesichts der Polarisierung der Parteien nicht vorankommen und Teil des Reformstaus bilden, hat sich eine wachsende Machtverlagerung von der legislativen und exekutiven zur rechtsprechenden Gewalt herausgebildet. Damit sind zum einen Policy-Entscheidungen auf die Gerichte übergegangen, zum anderen ist auch die Streitbeilegung dem politischen Prozess entzogen und in die formalen Strukturen des Justizsystems verschoben worden. Dabei kommt traditionell den Verfassungsgerichten eine zentrale Rolle zu (Stone 2000). Im spanischen Fall haben jenseits der Gerichte einzelne Richter, Ermittlungsrichter oder Staatsanwälte eine besondere mediale Präsenz erreicht, da sie durch ihr Handeln nationale Sichtbarkeit erlangen konnten. Da sie zudem auch bestimmten politischen Positionen zuzurechnen sind, agieren sie ihrerseits jedoch auch nicht als Akteure der Beruhigung in der politischen Auseinandersetzung; vielmehr gerät ihr Amt wiederum selbst in die Mühlen der Konfrontationsstrategien der politischen Akteure. Kompetenzstreitigkeiten vor das Verfassungsgericht zu tragen, bedeutet jedoch gleichzeitig auch, dass der Handlungsspielraum politischer Akteure sich einschränkt bzw. für die Zukunft mit begrenzten Handlungsmöglichkeiten zu rechnen ist. So hat die Verurteilung der katalanischen Protagonisten des Unabhängigkeitsprozesses zu hohen Gefängnisstrafen zunächst eine Veränderung der politischen Landschaft in Spanien zur Folge gehabt, die Machtverhältnisse in Katalonien blieben indes unverändert. Die hoch umstrittene Begnadigung der neun Separatisten stellte Ministerpräsident Pedro Sánchez unter den Titel „Wiederbegegnung: Ein Zukunftsprojekt

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für ganz Spanien“ (Sánchez 2021); er versuchte damit, ein Zeichen für den Aufbruch zu einem neuen Modell des Zusammenlebens zu geben. Der Freiheitsentzug wurde damit beendet, jedoch nicht die Beschränkungen zur Bekleidung öffentlicher Ämter. Die Begnadigung stieß auf die Kritik sowohl der Staatsanwaltschaft3 wie der Richter des Obersten Gerichtshofes, die sich dadurch bloßgestellt fühlten: Es werde durch dieses Eingreifen der Exekutive die Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt und der Eindruck erweckt, dass der Vorwurf einer „politischen Verfolgung“ durch die Anführer der Unabhängigkeitsbewegung gerechtfertigt sein könne. Zudem werde damit die Strafverfolgung gegen die im Ausland weilenden Anführer wie Carles Puigdemont unterminiert. Auch die für Strafsachen zuständige Kammer des Obersten Gerichts sprach sich in ihrer für ­Begnadigungsverfahren üblichen Stellungnahme gegen eine derartige Maßnahme aus4; der Regierungschef setzte sich jedoch über die Stellungnahme des Gerichts hinweg. Aus Sicht der Richter sprächen für diese Entscheidung weder Gründe der Gerechtigkeit noch der Billigkeit oder des öffentlichen Nutzens. Damit stand die Justiz erneut im Kreuzfeuer des politischen Meinungskampfes; die Friedensfunktion des Rechts konnte sich nicht gegenüber den politischen Interessen behaupten. Anders formuliert: Die ­Justizialisierung politischer Streitfragen endete in einer Politisierung der Justiz, die sich noch anhand anderer Elemente nachzeichnen lässt. So artikuliert sich die Politisierung der Justiz an den immer wieder aufflammenden Auseinandersetzungen um die Besetzung von Posten im Generalrat für das Justizwesen (Consejo General del Poder Judicial, CGPJ), dem zentralen Organ der richterlichen Selbstverwaltung. Seit dem Regierungswechsel im Juni 2018 blockiert ein erbitterter Streit zwischen PP und PSOE die Besetzung der wichtigsten Posten des Justizapparats. Die fehlende Verständigung zwischen den beiden großen Parteien über die Erneuerung der Mitglieder des CGPJ, deren Mandat im Jahr 2018 auslief, droht das Funktionieren des spanischen Justizwesens ernsthaft zu beeinträchtigen. Der PP macht sich Forderungen auch internationaler Gremien zu eigen (Europäische Kommission 2021; GRECO 2021: 8 ff.), dass das System für die Wahl der 20 Mitglieder zu ändern sei, die bislang mit den Stimmen 3 (27-12-2021). 4 (27-12-2021).

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von 3/5 des Parlaments (Cortes) zu wählen sind. Stattdessen sollen diese im Sinne der Unabhängigkeit der Justiz von ihren Amtskollegen selbst ausgewählt und der Einfluss politischer Interessen so zurückgedrängt werden. Der CGPJ nimmt die zentrale Rolle im spanischen Justizwesen ein, da er die Vorsitzenden der höheren Gerichte bestellt und zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts wählt. Zugleich entscheidet das Kontrollorgan, dessen Vorsitzender gleichzeitig der Präsident des Obersten Gerichtshofs ist, über Beförderungen. Mit einem Parlamentsbeschluss hat die Regierungskoalition verhindert, dass interimistisch von einem geschäftsführenden CGPJ Neubesetzungen vorgenommen werden können. Im Oktober 2021 gelang nur eine Einigung zwischen beiden Parteien über die Benennung von vier Verfassungsrichtern, den Obersten Rechnungshof sowie die Posten des Datenschutzbeauftragten und des nationalen Ombudsmanns. Dann erstarb die Bereitschaft zum Kompromiss zwischen den politischen Kräften erneut, da man sich über entsprechende Quoten bei der Besetzung zentraler Positionen im Justizwesen nicht einigen konnte. Zentrifugale Tendenzen im spanischen Parteiensystem: Wahlen als Ausweg?

Spaniens Parteiensystem hat sich in der letzten Dekade massiv verändert. Die Zeiten eines Zweiparteiensystems von PP und PSOE mit mehreren Kleinparteien sind vorüber; das Regieren mit absoluten Mehrheiten einer der beiden Großparteien gehört der Vergangenheit an. Mit Unidas ­Podemos und Ciudadanos sind zwei politische Kräfte aktiv geworden, von denen eine Neubelebung des Parteiensystems, ja sogar dessen Neuanfang erwartet wurde (Bernecker 2017). Zudem konnte sich mit der Rechts­ außen-Partei Vox ein neuer politischer Player etablieren, der insbesondere die beiden konservativ ausgerichteten Parteien PP und Ciudadanos in ­ihrem eigenen Wählerspektrum erfolgreich bedrängen und bei den Wahlen vom 10. November 2019 sogar ein Ergebnis von 15,09  % erreichen konnte. Somit hat sich zwar die Zahl der Parteien deutlich vergrößert, was in gewissem Umfang auch eine bessere Repräsentativität im politischen System andeutet, gleichwohl hat sich damit aber die antagonistische Qualität der politischen Auseinandersetzung nicht vermindert, vielmehr weiter verschärft (Pfeiffer/Werz 2020). Insoweit kann die Frage, ob die Öffnung des Parteiensystems mit neuen Optionen die Verkrustung eines

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­ nbeweglich gewordenen Zwei-Parteien-Systems aufgebrochen hat, posi­ u tiv beantwortet werden. Ob dadurch indes die disruptiven Dynamiken für den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft überwunden wurden, muss eher negativ eingeschätzt werden. Es gelang trotz wiederholter Wahlgänge im Jahr 2019 nicht, den Konsens zur Lösung anstehender nationaler Themen wie der Reduzierung der Arbeitslosigkeit, natürlich auch des Autonomiethemas sowie der Bewältigung der Pandemiefolgen, zu bewahren oder gar erst möglich zu machen. Die parteipolitischen Konfrontationsstrategien wurden von den politischen Akteuren – durchaus in der Tradition des Zweiparteiensystems und der crispación der vergangenen Jahre – als vielversprechender angesehen (Maihold 2007), so dass sich das Lagerdenken weiter verfestigen konnte. Die Gemeinsamkeiten der Opposition gegen die PP-Regierung waren für das Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Mariano Rajoy am 1. Juni 2018 hinreichend. Es gelang jedoch nicht, aus dieser Negativkoalition heraus ein gemeinsames konstruktives Regieren zu begründen. Stattdessen wurde das Muster von Minderheitsregierungen weiterverfolgt, die sich nach Bedarf ihre Mehrheiten suchen mussten bzw. diese Mehrheiten ihnen vorenthalten wurden. Der Ausweg, mit einem neuen Wählervotum auch neue Mehrheiten zu finden, erwies sich als nur beschränkt tragfähig; vielmehr waren die jeweiligen politischen Lager immer wieder in der Lage, ihre eigene polarisierende Haltung auf die Wählerschaft zu übertragen und die Zusammenarbeit an bestimmten „roten Linien“ scheitern zu lassen. Statt Einheit und Konvergenz zu ermöglichen, wurden Unvereinbarkeiten und Abschottung produziert – die Leistungsfähigkeit von Regierung und Staat blieb auf der Strecke. Dass die beiden früheren Ministerpräsidenten Felipe González (PSOE) und José María Aznar (PP) gemeinsam eine Besinnung auf das politische Zentrum von ihren Parteiführern forderten5, mag nicht nur auf ihrer Ausrichtung an den traditionellen Mustern politischer Pakte, sondern auch auf der Überzeugung beruhen, dass zentrale Themen der politischen Agenda durch einen Kompromiss zwischen den wichtigen politischen Kräften angegangen werden sollten, um das Wechselbad von Wahlergebnissen nicht jeweils auf Grundsatzentscheidungen für die Gesellschaft durchschlagen zu lassen.

5 (27-12-2021).

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Doch ist es angesichts des Drucks insbesondere von Vox auf den PP unter der Führung von Pablo Casado bislang nicht gelungen, die Konsensfähigkeit der Parteien des politischen Zentrums zu stärken. Die Ansetzung der Parlamentswahlen durch Ministerpräsident Pedro Sánchez im April 2019 war eine direkte Folge der Blockade, in der sich die Minderheitsregierung des PSOE befand, insbesondere aber ihrer Abhängigkeit von den Stimmen der Parteien der nationalen Minderheiten und Autonomien. So konnte Sánchez den Gesamthaushaltsplan im Februar 2019 nicht durchsetzen, da die katalanischen Parteien, die für die Unabhängigkeit eintraten, sich weigerten, ihre Stimmen für die notwendige Mehrheit abzugeben. Hintergrund dafür war die Weigerung der sozialistischen Regierung, der Forderung nachzukommen, das Recht auf Selbstbestimmung in die Tagesordnung der Verhandlungen zwischen der Regierung in Madrid und der Regionalregierung von Katalonien aufzunehmen, um eine politische Lösung für die katalanische Frage zu finden. Die Unmöglichkeit, den Haushalt zu verabschieden, und der Druck, den PP, Ciudadanos und Vox bei einer Massendemonstration in Madrid für die Einheit Spaniens und gegen die sozialistische Regierung am 10. Februar 2019 ausübten, waren für die Entscheidung der Regierung Sánchez maßgeblich, fünf Tage später vorzeitig Neuwahlen anzusetzen. Damit endete die erste Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez und des PSOE schneller als gedacht, nachdem sie 2018 die Macht durch einen Misstrauensantrag gegen die Regierung von Mariano Rajoy (PP) mit insgesamt 180 Stimmen errungen hatte. Pedro Sánchez war am 1. Juni 2018 von einer parlamentarischen Minderheit zum neuen spanischen Ministerpräsidenten ernannt worden. Hintergrund war die Veröffentlichung des Gerichtsurteils zum Korruptionsfall „Gürtel“ am 24. Mai 2018, in dem die Volkspartei und ihre Führung in direktem Zusammenhang mit einem Komplott zu Korruption und illegaler Finanzierung der Partei standen. Unmittelbar nach seiner Abwahl trat Mariano Rajoy von seinem Amt als PP-Vorsitzender zurück. So begann eine Periode der Erneuerung des Partido Popular, die mit der Wahl von Pablo Casado zum neuen Präsidenten der Partei auf einem außerordentlichen Kongress am 21. Juli 2018 in Madrid gipfelte. Unter Casados Führung betonte die Partei wieder stärker konservative Positionen, in denen die Einheit Spaniens und ein aggressiverer Diskurs zur Verteidigung traditioneller Werte die relevanten Achsen sind. Diese Wende hat den gemäßigteren Kräften im PP

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nicht gefallen, die Casado beschuldigen, das politische Zentrum Ciudadanos und PSOE zu überlassen. Dieser als Aufbruch und Verjüngung der Parteiführung gedachte Moment erwies sich jedoch als Wendepunkt für den PP, da mit der rechtsextremen Partei Vox ein neuer Konkurrent auf dem rechten Flügel des Parteienspektrums auftrat, der massiv in das Wählerpotential des PP eindringen konnte. Diese im Dezember 2013 von ehemaligen PP-Mitgliedern gegründete Partei hat zu einer stärkeren Polarisierung der politischen Debatte beigetragen, insbesondere in Bezug auf die territoriale Einheit Spaniens, die Vergangenheitsbewältigung und die katalanische Frage. Vox ist eine spanische „sui generis“-Partei, die von der ideologischen Grundlage der Franco-Diktatur lebt. Sie schließt an konservative Werte des Katholizismus mit Bezug auf ein traditionelles Familienbild an und spricht sich gegen Abtreibung und den „linken Feminismus“ aus. Darüber hinaus hat sie einen klaren Diskurs gegen die muslimische Einwanderung in der Öffentlichkeit geprägt. Trotz des Diskurses gegen die Einwanderung und zur Verteidigung der traditionellen christlichen Werte Europas ist Vox jedoch keine euroskeptische Partei; sie verteidigt das Projekt der Europäischen Union und tritt in Wirtschaftsfragen für liberale Positionen wie die Reduzierung des Einflusses des Staates und die Privatisierung von Unternehmen und öffentlichen Dienstleistungen ein. Die politische Bedeutung von Vox wurde im Ergebnis der Regionalwahlen in Andalusien vom 2. Dezember 2018 offenbar, das zu einer Ablösung des dort 37 Jahre regierenden PSOE führte. Dazu bildete sich erstmals die sogenannte „Andalusische Allianz“, die aus PP, Ciudadanos und Vox besteht. Durch die formelle Koalition von PP und Ciudadanos bei Duldung durch Vox wurde am 16. Januar 2019 der PP-Kandidat José Manuel Moreno Bonilla als Präsident der Junta de Andalucía eingesetzt. Die Bedeutung dieser Regionalwahlen besteht darin, dass es der rechtsextremen Partei Vox aus dem Stand gelang, zwölf Regionalabgeordnete zu stellen und damit zur entscheidenden politischen Kraft für die Regierungsbildung in Andalusien zu werden. Darüber hinaus wurde mit Vox das Parteiensystem Spaniens einmal mehr erweitert, das sich bereits im Dezember 2015 mit dem Auftreten von Ciudadanos und Unidas Podemos im spanischen Parlament massiv verändert hatte. Mit dieser Ausweitung des Wahlangebots von zwei auf fünf große Parteien kam es zu einer Fragmentierung der Stimmen in den jeweiligen Lagern (etwa zwischen PP, Ciudadanos und Vox), wobei sich bei den November-Wahlen des Jahres 2019 die Traditionsparteien PSOE

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(120 Sitze) und PP (88 Sitze) jedoch konsolidieren konnten, während die newcomer Unidas Podemos (von 42 auf 35 Sitze), aber vor allem Ciudadanos (von 57 auf 10 Sitze) deutliche Einbußen erlitten. Damit ist die von vielen Beobachtern bereits als grundlegende Transformation des Parteiensystems betrachtete Ausweitung der Zahl der Parteien zwar eingetreten, gleichzeitig aber keine grundsätzliche Neuaufstellung des politischen Spektrums sichtbar geworden (Lemmer 2020). Bis zum Antritt der dritten Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez im Januar 2020 auf der Basis einer Koalition von PSOE/Unidas Podemos hatte es keine Tradition von Koalitionsregierungen gegeben; vielmehr wurde meist auf der Grundlage von Duldungsvereinbarungen und der Aushandlung von punktuellen Unterstützungspakten regiert. Auch nach der Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CIS vom November 2021 ist gegenwärtig von keiner politischen Kraft die absolute Mehrheit von 176 Abgeordneten zu erreichen, um allein in einem Parlament mit insgesamt 350 Abgeordneten regieren zu können. Ob vor dem regulären Wahltermin im November 2023 erneut ein Wahlgang angesetzt wird, dürfte davon abhängen, als wie tragfähig sich die bestehende Regierungskoalition erweist und ob es ihr gelingt, fehlende Mehrheiten durch Vereinbarungen mit Kleinparteien zu beschaffen. Aus heutiger Sicht (Frühjahr 2022) könnte der PSOE keine solide und stabile Mehrheit durch die Bildung eines linken Blocks zusammen mit Unidas Podemos erlangen, da sich die Präferenz der Wähler weitgehend stabil zu verhalten scheint: Demnach könnten der PSOE mit 19,7 %, der PP mit 14,1 %, Vox mit 8,5 %, Unidas Podemos mit 10,6 % und Ciudadanos mit 3,0 % rechnen (CIS 2021: 15). Damit wäre aber die letztgenannte Partei aller Voraussicht nach nicht mehr im Parlament vertreten. Die Stimme der España vaciada: die strukturelle territoriale Spaltung

Der massive Prozess der Verschiebung großer Bevölkerungsgruppen durch die Entvölkerung ländlicher Räume beeinträchtigt seit Jahren eine ausgewogene territoriale Entwicklung und die Gleichheit der Lebenschancen im Land. Zunächst wurde, bezogen auf den in zentraler Weise betroffenen Binnenraum der spanischen Halbinsel, von dem „leeren Spanien“ (España vacía) gesprochen (Del Molino 2016), später wurde der Begriff „entleertes

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Spanien“ (España vaciada) eingeführt. Statt den „Kampf gegen die Entvölkerung“ des ländlichen Raumes einzufordern, wurde der Schwerpunkt auf „Maßnahmen zur Wiederbevölkerung“ gelegt. Dies wird vom Bild eines Spaniens der zwei Geschwindigkeiten eingefangen: Auf der einen Seite das boomende städtische Spanien mit Städten wie Madrid, Barcelona, Valencia, Zaragoza, Málaga und Bilbao, auf der anderen Seite das ländliche und provinzielle Spanien, dem es an Bevölkerung und Ressourcen mangelt (Bandrés/Azón 2021). Dieses Auseinanderfallen von wirtschaftlicher und sozialer Dynamik im Territorium wird als ein seit langem ablaufender Prozess des „Ausblutens“ empfunden; er schlug sich zunächst politisch im Kampf um Mittelzuweisungen der Zentralregierung und um Prioritäten für die nationale Entwicklungsplanung nieder. Die Überbevölkerung in den Städten, insbesondere die Verdichtung der Besiedlung städtischer Räume und deren Versorgung mit Wasser und Energie lässt sich nicht vom Aufbegehren insbesondere in jenen Landesteilen trennen, die sich als España vaciada zu Wort gemeldet haben. Diese durch Abwanderung der Bevölkerung in die Städte entvölkerten spanischen Provinzen, denen es an Dienstleistungen und Infrastruktur mangelt, versuchen heute ihr Stimmengewicht in politische Forderungen umzumünzen. Dafür ist die Bedeutung ihrer kleinen Wahlkreise maßgeblich, auf welche die Parteien angewiesen sind, um bei knappen Mehrheiten im Endergebnis erfolgreich sein zu können. Dafür haben die betroffenen Provinzen ihre politische Organisationsmacht in die Waagschale geworfen. Vertreter von 23 Provinzen und 90 Gemeinden der España vaciada organisierten am 31. März 2019 in Madrid eine Demonstration, bei der sie Verbesserungen ihrer Situation forderten. Damit ist es ihnen gelungen, dass das Thema der España vaciada – neben der traditionellen Konfrontation in der Frage der Autonomieregelungen – auch in die Wahlkampfdebatte der großen politischen Parteien aufgenommen wurde. Mit einem nationalen Streik der benachteiligten Regionen wurde Druck seitens eines marginalisierten Teils der Gesellschaft aufgebaut, die sich gegen eine wachsende Abkoppelung von der staatlichen Daseinsfürsorge wehrt. Die Ausdünnung der Bevölkerungsdichte in vielen Provinzen auf weniger als zehn Personen pro km2 kann damit nicht länger als rein demographisches Problem wahrgenommen werden; die Einheitlichkeit der Lebensbedingungen im Territorium ist schon so weit in Frage gestellt, dass von einer Umkehr dieses Prozesses kaum mehr ausgegangen werden kann.

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Der Bewegung España vaciada gelang der Aufbruch in eine Debatte über das Entwicklungsmodell des Landes, über die einzelnen Landesteile und deren Zugang zu bzw. Versorgung mit Infrastrukturleistungen, angefangen von Bahnlinien bis zu ärztlicher und sozialer Versorgung. Die durch eine Vielzahl sozialer Organisationen inzwischen als soziale Bewegung (www.españavaciada.org) konstituierte Weigerung, das eigene Territorium aufzugeben, fordert die Anerkennung der Entvölkerung weiter Landesteile als ein staatliches Problem, das zwei Drittel Spaniens bedroht. Gegenwärtig ist die Bewegung nach eigenen Angaben in 30 Provinzen und zwölf Autonomen Gemeinschaften vertreten und setzt sich aus 140 verschiedenen Plattformen, Verbänden, Vereinen und Organisationen zusammen. Diese umfassen Akteure aus Bereichen des sozialen Sektors, aber auch Primärsektor-, Umwelt-, Infrastruktur-, Kultur-, Gesundheits- und Landfrauenorganisationen. Mit der zunehmenden Politisierung der Bewegung ist die Aufstellung von Kandidaten und Listen bei anstehenden Wahlen geplant, dies nicht nur im regionalen, sondern auch im nationalen Maßstab. In der Folge fürchten Beobachter eine weitere Zersplitterung der Parteienlandschaft und wachsende Schwierigkeiten, Mehrheiten in den Parlamenten zu organisieren. Grenzen der Machtteilung im asymmetrischen Autonomiestaat

Der Spaltpilz der ungleichen Finanzierung und Begünstigung durch die jeweiligen Regierungen kennzeichnet den spanischen Autonomiestaat, insbesondere das Verhältnis unter den 17 Regionalregierungen sowie zwischen ihnen und der Zentralregierung. Diese Asymmetrie ist Folge von unpräzisen und zweideutigen Formulierungen in der Verfassung Spaniens, die jeder zu seinem Vorteil zu interpretieren oder über die jeweiligen Autonomiestatute zu verhandeln versucht. Letztlich war diese Präferenz für eine prozedurale Lösung des komplizierten Verhältnisses von Zentralstaat und Autonomien ein Weg, der in der Phase der Transition zur Demokratie funktionierte, da alle Beteiligten einem Muster der Konsenspolitik folgten, um den Franquismus zu überwinden. Doch dieser Weg begann dann brüchig zu werden, als die eingeleitete Regionalisierung zum einen mit den fiskalischen Grenzen der verfügbaren Mittel konfrontiert wurde und zum anderen der eskalierende Parteienwettbewerb mit der wachsenden Abhängigkeit der beiden Großparteien PP und PSOE von den nationalistischen

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Kleinparteien die Konflikte zwischen Zentralregierung und den Regierungen der Autonomen Gemeinschaften verschärfte. Die mit der politischen Polarisierung einhergehenden Konfrontationsstrategien manövrierten die spanische Innenpolitik in eine verfahrene Situation, in der keine nachhaltigen Kompromisse zwischen den politischen Lagern mehr möglich waren. Zugeständnisse wurden unmittelbar als Gesichtsverlust interpretiert, nicht zuletzt, da an beiden politischen Extremen mit Unidas Podemos und Vox radikalere Optionen an Gewicht gewannen und den politischen Spielraum in der Mitte des politischen Spektrums reduzierten. Die Erwartungen, dass es zu einer Lösung der Probleme in der Finanzverfassung des Landes kommen könnte, die einen Weg in Richtung von mehr Gleichbehandlung eröffnen und den Grundsätzen aus Art. 156 der Verfassung, nämlich Finanzautonomie, Koordinierung und Solidarität, mehr Gültigkeit verleihen würden, haben sich zerschlagen. Funktionale Erfordernisse der Rationalisierung der öffentlichen Verwaltung und Politik blieben damit auf der Strecke; für kurzfristige Machtarrangements wurden die Übertragung von Kompetenzen und finanziellen Ressourcen neu geordnet und institutionelle Reformen durchgeführt. Hinzu kamen immer wieder neue Urteile des Verfassungsgerichtshofs zur Kompetenzaufteilung, welche die Erwartungen auf Gleichbehandlung zwischen den 17 Autonomen Gemeinschaften zerstörten – nicht zuletzt auch bezogen auf die drei historischen Autonomien des Baskenlandes, Galiciens und Kataloniens. Doch hat die verwinkelte Struktur der Kompetenzverteilungen zwischen Zentralregierung und Autonomen Gemeinschaften zu Doppelstrukturen und Rivalitäten geführt, die zudem durch Transferzahlungen aus Madrid für die Wahrnehmung bestimmter übergreifender Aufgaben kompliziert gestaltet worden ist. Der früher exzessiv genutzte jurisdiktionelle Weg der Klärung von Streitfällen vor dem Verfassungsgericht wird inzwischen auch deshalb weniger häufig beschritten, weil etwa die katalanische Autonomieregierung das Gericht nicht mehr anerkennt und daher auf dessen Anrufung verzichtet. Da fast die Hälfte der öffentlichen Ausgaben in Spanien von den regionalen und lokalen Regierungen verwaltet wird, weitere 31 % in das Sozialversicherungssystem fallen, das zwar eine zentralstaatliche Kompetenz darstellt, aber in getrennten Haushalten geführt wird, und in der Folge der Anteil der Zentralregierung an den Staatsausgaben bei circa 20 % liegt (Colino/Hombrado 2016: 361), wird deutlich, dass sich eine vertikale Gewaltenteilung zwischen den Gebietskörperschaften herausgebildet hat, die indes nicht durch eine e­ ntsprechende

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­ ewaltenverschränkung für übergreifende gemeinsame Aufgaben ergänzt G wird. Vielmehr hat sich ein Aushandlungssystem ergeben, in dem der Zugriff auf einzelne Steuerquellen, die Bereitstellung von Ausgleichszuschüssen und die Regionalsteuern verhandelt werden, ohne dass sich bei den Autonomen Gemeinschaften der Eindruck ergeben würde, ihre Finanzen seien auskömmlich gestaltet. Vielmehr sehen sie sich dem Versuch der Zentralregierung ausgesetzt, mit einer Re-Zentralisierung die eigenständige Politikgestaltung zu beschneiden. In letzter Instanz begründen die Interventionsrechte der Zentralregierung gegenüber den Autonomen Gemeinschaften nach Art. 150 (3), 153 und 155 der Verfassung ein „duales Machtsystem“ bzw. eine „kontrollierte Autonomie“ (Vérgez 2011), die zu den bekannten Verwerfungen im Falle Kataloniens beigetragen haben. Aus zentralstaatlicher Sicht dominiert indes eher der Eindruck einer „Erosion der fiskalischen Disziplin“ seitens der Autonomen Gemeinschaften (Salazar-Morales/Hallerberg 2018: 15), die verstärkte Koordinationsinstrumente erforderlich machen, die jedoch meist nur als bilaterale Verhandlungsmechanismen sichtbar geworden sind. Die Asymmetrie ist damit zu einem konstitutiven Bestandteil der spanischen Verfassungswirklichkeit geworden, die zugleich durch die politische Polarisierung noch verschärft wird bzw. sich von einer Lösung in Richtung einer Konvergenz immer weiter entfernt. Die Machtteilungsmechanismen zwischen den Gebietskörperschaften sind daher kaum belastbar und auch im europäischen Maßstab nicht zukunftsfähig, da die von den Autonomen Gemeinschaften angehäuften Defizite die Regeln europäischer Stabilitätspolitik erheblich beeinträchtigen. Die Wege zu einer politischen Verständigung sind gleichzeitig weitgehend blockiert, so dass ein gemeinschaftliches Handeln erschwert wird. Mit dem seit dem 12. Februar 2019 durchgeführten Prozess gegen die Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, der am 14. Oktober 2019 mit dem Schuldspruch von neun Protagonisten, die wegen Rebellion, Aufruhrs, Unterschlagung und Ungehorsams zu Haftstrafen zwischen neun und 13 Jahren verurteilt wurden, endete, ist die Einheit in Spanien nochmals auf eine harte Belastungsprobe gestellt worden. Mit seiner Entscheidung vom Juni 2021, die Verurteilten zu begnadigen, hat Regierungschef Pedro Sánchez zumindest das emotional aufgeheizte politische Klima zwischen Madrid und Barcelona abkühlen können. Die Opposition kritisierte Sánchez’ Vorgehen indes scharf und verwies auf die Abhängigkeit seiner Regierungsmehrheit von den Stimmen der ­linken

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Unabhängigkeitspartei ERC, die durch die Begnadigung begünstigt wurde. Die katalanischen Regionalwahlen im Februar 2021 führten zwar zu keinen grundsätzlichen Verschiebungen in den regionalen Machtverhältnissen; sie erlaubten allerdings die Wiederaufnahme von Gesprächen zwischen Barcelona und Madrid. Zwar ist die Gesprächsagenda weiterhin mit schwierigen Fragen belastet, etwa nach einer generellen Amnestie für die ins Ausland geflüchteten Protagonisten des Unabhängigkeitsreferendums wie Carles Puigdemont sowie die Klärung der Rückzahlungsansprüche für internationale Aktivitäten der katalanischen Regierung (Diplocat) in Höhe von 5,4 Millionen Euro, die vom Rechnungshof des Landes mit dem Argument des Missbrauchs öffentlicher Gelder zurückgefordert wurden. Der identitäre Populismus der Unabhängigkeitskoalition ist jedoch ungebrochen, allerdings hat sich unter ihren Anführern Erschöpfung breit gemacht. Sie fordern zwar kontinuierlich einen erneuten Anlauf für ein Unabhängigkeitsreferendum, sind aber wohl nicht mehr bereit, dies „mit der Brechstange“ in Szene zu setzen. Die Pandemie und die Folgen des Einbruchs bei den Tourismus-Einnahmen haben zwar die Forderungen an Madrid verstärkt, einen finanziellen Ausgleich zu schaffen und den Transfer von Kompetenzen an die Regionalregierung wieder aufzunehmen, allerdings dürfte auch den Autonomiekräften deutlich geworden sein, dass sich die Frage der Unabhängigkeit nicht einseitig klären lässt und diese Frage aufgrund der vergangenen Erfahrungen eine ganz Spanien betreffende Angelegenheit ist. Nach dem Scheitern des einseitigen Weges zur Unabhängigkeit scheinen sich die tragenden Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung (ERC und JxCat) darauf zu konzentrieren, eine straffreie Rückkehrmöglichkeit für diejenigen Politiker zu erwirken, die sich außerhalb des Landes aufhalten. Zudem fordern sie das Recht auf Selbstbestimmung für Katalonien und Verhandlungen mit der Regierung in Madrid über ein vereinbartes, rechtlich verbindliches Referendum über die Unabhängigkeit als Lösung für die katalanische Frage. Aber jede der wichtigsten katalanischen politischen Parteien weist interne Spannungen auf, die strategischer, aber auch politischer Natur sind. Die katalanische Frage bestimmt weiterhin die politische Agenda und provoziert die Polarisierung in den Positionen der großen Parteien und stark divergierende Ansätze, um sie anzugehen. Von Regierungsseite wird ein Ton des Dialogs und der Versöhnung angeschlagen, während die Opposition in einer Verhandlungslösung für die katalanische Frage die Aufkündigung der nationalen Einheit Spaniens sieht.

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Gesellschaftliche Spaltung und der Kampf um öffentliche Räume

Jenseits der parteipolitischen Polarisierung wird der Zusammenhalt der spanischen Gesellschaft und des Staates auch durch weitere gesellschaftliche cleavages in Frage gestellt. Solche Konfliktlinien innerhalb von Gesellschaften können historisch bedingt sein (etwa der schon angesprochene scharfe Gegensatz zwischen Metropolen und „flachem Land“), oder sie basieren auf dem Bestreben mobilisierbarer Interessengruppen, den Status Quo einer Gesellschaft (etwa durch eine Revolution) entscheidend zu verändern und führen damit zu einer politischen Aufladung von Gegensätzen. Blickt man auf die Entwicklung solcher Konfliktlinien in Spanien, so wird deutlich, dass der religiöse cleavage in der Gesellschaft zunehmend an Bedeutung für das politische Leben verliert. Die katholische Kirche hat in der spanischen Gesellschaft eine wichtige Position, ihr Einfluss reicht dabei durchaus auch in die Politik. Traditionell stand der konservative PP der katholischen Kirche nahe, der PSOE pflegte mit ihr meist ein recht gespaltenes Verhältnis – nicht zuletzt wegen seiner laizistisch motivierten Positionen wie der Verbannung religiöser Symbole aus öffentlichen Einrichtungen, der Abschaffung der Befreiung der Kirche von der Grundsteuer und der Streichung des Fachs Religion im Lehrplan der Schulen, d. h. der Ablösung der Verträge aus dem Jahr 1979, in denen die katholische Kirche viele Vorrechte aus der Zeit des Franquismus bewahren konnte. (Zur Kirche im heutigen Spanien vgl. auch den Beitrag von Mariano Delgado in diesem Band.) Aber auch gerade Unidas Podemos ist von der Kirche als Gefahr eingeordnet worden; konkret wird der Parteiführung ein Interesse an der „Entfernung der Religion aus dem öffentlichen Raum“ vorgeworfen (Daniele 2021, o.S.). Dies scheint sich jedoch neuerdings zu ändern. Die Exekutive verhält sich für eine sozialistische Regierung ungewohnt offen und respektvoll gegenüber der katholischen Kirche – was nicht bedeutet, dass die Ansichten der katholischen Kirche nun in den Positionen aller Parteien zu finden wären. Eher das Gegenteil ist der Fall, wie am Beispiel der Einführung der „Homo-Ehe“ im Jahr 2005 zu sehen war. Auch wenn die Religion weiterhin eine recht wichtige Rolle in der spanischen Gesellschaft spielt, nimmt doch ihre Relevanz im täglichen politischen Geschäft weiter ab. Die politische Debatte in Spanien ist seit den Regierungen Zapatero und Rajoy stark von einer Polarisierung der Positionen geprägt, die nicht einfach auf den ideologischen Gegensatz zwischen den beiden großen

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­ arteien zurückzuführen ist. Auch wenn die politischen Protagonisten sich P geändert haben und nun Sánchez und Casado heißen sowie das Parteienspektrum sich um neue Parteien erweitert hat, so bleiben doch Gegensätze und Konfliktlinien präsent, die die Gesellschaft immer weiter auseinandertreiben. Man kann von mehreren ineinandergreifenden, sich durch die Gesellschaft ziehenden Gegensätzen ausgehen, die von einem Riss in der öffentlichen Meinung begleitet werden, was sich auch so in der Bevölkerung manifestiert. Der Kampf um den öffentlichen Raum, der sich um die Kontrolle der staatlich betriebenen Medien, um öffentliche Denkmäler und die Umwidmung von Straßen bis zur Umbettung von Opfern des Bürgerkrieges dreht, wird nicht nur als taktisches Manöver der Parteien betrieben, um im ständigen Wettbewerb um Wählerstimmen einen entscheidenden Vorteil für sich verbuchen zu können. Die verschiedenen Wahlgänge konnten keinen Ausweg aus dieser inneren Spaltung Spaniens weisen, eine wirkliche Befriedung in Richtung auf mehr Gemeinsamkeit ist nicht eingetreten. Trotz aller Bemühungen konnte Ministerpräsident Pedro Sánchez nicht verhindern, dass die beiden Urnengänge des Jahres 2019 von der katalanischen Frage dominiert wurden. Seine Versuche, Vorschläge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stärker zu positionieren, sind auch durch die Präsenz von Vox und die von ihr betriebene Mobilisierung des Themas Migration konterkariert worden. Der wahlpolitische Erfolg von Vox mit ihrem „islamfeindlichen“ Diskurs und gegen irreguläre Einwanderung hat dazu geführt, dass sowohl PP als auch Ciudadanos ihre Positionen in der Migrationspolitik verhärtet haben, indem sie die Rückführung aller irregulär eingetroffenen Einwanderer und die Stärkung der Grenzkontrollen verlangten. Diese Parteien wollen nur legale und kontrollierte Einwanderung aus den Herkunftsstaaten nach den Bedürfnissen Spaniens akzeptieren. Dieser Diskurs wurde durch die harte italienische Migrationspolitik mit der Abweisung von Bootsflüchtlingen verstärkt, die dazu geführt hat, dass immer mehr Migranten den Weg nach Spanien suchen. Als im Jahr 2018 über 64.000 Personen aufgenommen wurden, wuchs der Druck auf die Regierung Sánchez massiv, die mit ihrer Präferenz für eine europäische Migrationspolitik mit geordneten Strömen von Einwanderern im Rahmen der Europäischen Union viel Kritik erntete. Im Jahr 2021 kamen 39.835 Migranten illegal auf dem Seeweg auf die spanische Halbinsel; die kanarischen Inseln sowie die Exklave Ceuta waren ebenfalls Brennpunkte dieser Migrationsströme.

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Das Migrationsthema besitzt auch in Spanien ein hohes Mobilisierungspotential, das insbesondere durch Vox immer wieder vorangetrieben wird, indem die Gleichsetzung von Migration und wachsender Delinquenz in den Vordergrund gerückt wird (González Enríquez/Rinken 2021). Eng damit verbunden ist das Thema Arbeitslosigkeit. Im Januar 2022 gab es 3,6 Millionen Arbeitslose, die Jugendarbeitslosigkeit liegt noch immer bei über 30 % und erreicht damit den höchsten Wert in der Europäischen Union. Weiterhin ist die Arbeitslosigkeit laut Umfragen eine der Hauptsorgen der Bürger. Bedenkt man, dass diese hohe Arbeitslosenquote die Sozialversicherungsbeiträge beeinflusst und Druck auf den Wohlfahrtsstaat und das spanische Rentensystem (bei einer alternden Bevölkerung) ausübt, so werden die Aufwendungen der Sozialkassen auch in Zukunft weiter drastisch steigen. Für die Wiederbelebung der Beschäftigung nach dem erneuten Einbruch in der Pandemie, für die Reform des Arbeitsmarktes (insbesondere mit dem Ziel des Abschlusses längerfristiger Arbeitsverträge), die Aufrechterhaltung und Verbesserung des Wohlfahrtsstaates sowie die Stärkung des Rentensystems wird eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben unvermeidlich sein. Damit steht die Frage von Steuererhöhungen im Raum, wobei PSOE und Podemos auf eine Erhöhung der Steuern auf größere Einkommen und Unternehmen abzielen. Gleichzeitig setzen sie sich für eine Erhöhung des Mindestlohns (Salario Mínimo Interprofesional, SMI) auf 965 € ein. Auf der anderen Seite schlagen sowohl PP als auch Ciudadanos eine Steuersenkung vor und wollen den Arbeitsmarkt flexibilisieren, so dass Unternehmen mehr Mitarbeiter einstellen und ihre Produktivität verbessern können. In diesem Sinne stellen sie die Wirksamkeit des SMI in Frage, da sie der Ansicht sind, dass er die Beschäftigungsförderung erschwert und besser an das Wirtschaftswachstum gekoppelt werden sollte. Sie befürworten auch eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben. Vox spricht sich auch für eine Steuersenkung aus, aber, im Gegensatz zum Rest des rechten Blocks, verbunden mit einer drastischen Senkung der öffentlichen Ausgaben und der Privatisierung öffentlicher Unternehmen. Zentral ist für Vox eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge, um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stärken, die Kaufkraft und die Binnennachfrage zu erhöhen; außerdem fordert die Partei eine Reform des Rentensystems in Richtung eines gemischten Modells von Umlagesystem und Kapitalisierung, eine Maßnahme, die im Gegensatz zu den Vorschlägen der anderen vier großen Parteien steht. Alle diese Vorschläge und vor allem deren Anwendung werden jedoch davon abhängen, ob sich

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der ­wirtschaftliche Aufschwung in Europa fortsetzt und die Wachstumsprognosen nicht weiter gesenkt werden müssen. Ausblick

Bei Durchsicht unterschiedlicher Politikfelder im Spannungsbogen von Einheit und Fragmentation wird schnell deutlich, dass sich die spanische Gesellschaft in einer Phase des Übergangs mit vielfältigen Verwerfungen befindet. Diese beziehen sich auf ihr Selbstverständnis, insbesondere vor dem Hintergrund der aufgelaufenen Problemlast aus der Vergangenheit durch kurzfristige und kurzsichtige politische Arrangements zur Machtsicherung, was zu Lasten der langfristigen Aufgaben ging. Zu diesen inneren Brüchen tragen gegenwärtig die politischen Parteien durch Polarisierungsstrategien nachhaltig bei; Tendenzen zu einer Verständigung werden dabei immer wieder verschüttet. Ob es gelingen kann, bestimmte Fragen, z. B. der Ankurbelung der Wirtschaft nach der Pandemie, vor einer Indienststellung für parteipolitische Interessen zu bewahren, muss gegenwärtig eher bezweifelt werden. Dafür sind die politischen Akteure zu sehr einer Pfadabhängigkeit und der Organisationslogik ihrer Parteien verhaftet, so dass ggf. erst mit einer Richtungsentscheidung durch den Wähler ein Weg gefunden werden kann, um eine Neujustierung der Strategien zu erzwingen. Dies gilt nicht zuletzt für die Oppositionsparteien, die sich seit dem Wahlverlust im Jahr 2019 im permanenten Wahlkampf zu befinden scheinen. Der frühere Grundkonsens der spanischen Gesellschaft erodiert zusehends. Es ist davon auszugehen, dass es aufgrund der stark innenpolitisch akzentuierten Polarisierung nicht gelingen wird, gemeinsame Positionen zu erarbeiten, die überparteiliche Tragfähigkeit aufweisen. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass damit nicht eine Perspektive von Unberechenbarkeit der spanischen Politik eintreten wird, sondern auch weiterhin zentrale Zukunftsaufgaben nicht angepackt werden (können). Dass zentrale Akteure wie die Krone selbst als Instabilitätsfaktoren wirken, belastet zusätzlich das politische Klima. Angesichts der innenpolitischen Agenda sind die Impulse zur Erarbeitung gemeinsamer Positionen zwischen den Protagonisten der Polarisierung eher als sehr begrenzt einzuschätzen. Trotz andauernder Niederlagen der Opposition bei den Abstimmungen und Wahlen und (nur relativ

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überzeugender) Erfolge der Regierung dürfte das politische Kalkül beider politischer Lager eher auf den Wahlgang im Jahr 2023 gerichtet sein. Bis dahin wird sich die innere Spaltung der spanischen Gesellschaft und die Polarisierung zwischen den politischen Kräften jedoch noch weiter vertiefen, so dass die Konsensbildung keine großen Chancen haben dürfte. Die „Sehnsucht nach vermeintlich organisch-harmonischen Zeiten“ (Aschmann 2021: 39) dürfte damit auf allen Seiten weiterhin fortbestehen, ohne sich in näherer Zukunft zu erfüllen. Literaturverzeichnis Amnistía Internacional (2020): Abandonadas a su suerte. La desprotección y discriminación de las personas mayores en residencias durante la pandemia Covid-19 en España. (22-02-2022). Aschmann, Birgit (2021): Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus. Göttingen: Wallstein. Badenes Plá, Nuria/Gambau-Suelves, Borja (2020): The New ,Minimum Vital Income‘ in Spain: Distributional and Poverty Effects in the Presence and Absence of Regional Minimum Income Schemes. Essex: EUROMOD Working Paper Series EM 22/20. (2202-2022). Bandrés, Eduardo/Azón, Vanessa (2021): La despoblación de la España interior. Madrid: Funcas. Bernecker, Walther L. (2017): „España: crisis, postcrisis y un nuevo comienzo político“, in: Jochen Mecke/Ralf Junkerjürgen/Hubert Pöppel (Hgg.): Discursos de la crisis: respuestas de la cultura española ante nuevos desafíos. Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert, 41-66. CIS [Centro de Investigaciones Sociológicas] (2000): „25 años después. Estudio nº 2401. Diciembre de 2000“. (27-12-2021). — (2021): „Barómetro de noviembre 2021. Estudio nº 3340”. (20-052022). Colino, César/Hombrado, Angustias (2016): „Machtteilung in Spanien – Formelle und informelle Prozesse, gegenwirkende Kräfte und impliziter Wandel“, in: Anna Gamper, et al. (Hgg.): Föderale Kompetenzverteilung in Europa. Baden-Baden: Nomos, 349376. Cordes, Sandra/Kleiner-Liebau, Désirée (2011): „Der spanische Senat – Wandel territorialer Repräsentation zwischen dezentralem Einheitsstaat und Föderalstaat“, in: Gisela Riescher/Sabine Ruß/Christoph M. Haas (Hgg.): Zweite Kammern. München: Oldenbourg, 189-210.

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Daniele, Laura (2021): „El PSOE fue el partido que más atacó la libertad religiosa durante la pandemia“, in: Diario ABC, 21. September. (2812-2021). Del Molino, Sergio (2016): La España vacía. Viaje por un país que nunca fue. Madrid: Turner. Europäische Kommission (2021): „Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2021. Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Länderkapitel zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Spanien“, Bruxelles, 20. Juli 2021 SWD (2021) 710 final. (22-05-2022). Garrido López, Carlos (2019): El Senado ante el enigma de la representación territorial. Madrid: Marcial Pons. González Enríquez, Carmen/Rinken, Sebastian (2021): „La opinión pública ante la inmigración y el efecto de VOX“. Análisis del Real Instituto Elcano 33. Madrid: Real Instituto Elcano. (22-05-2022). GRECO [Grupo de Estados contra la Corrupción] (2021): „Cuarta Ronda de Evaluación: Prevención de la corrupción con respecto a los parlamentarios, jueces y fiscales. Segundo Informe de Cumplimiento España“, Strasbourg: Europarat. (22-05-2022). Lemmer, Daniel (2020): „Das spanische Parteiensystem von 1977 bis 2019: Veränderung oder Transformation?“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 51,1, 166-188. Macher, Julia (2020): „Spanien: die große Verfeindung“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 65, 7, 21-24. Maihold, Günther (2007): „La crispación. Instrumentos y efectos de la polarización política en España“, in: Walther L. Bernecker/Günther Maihold (Hgg.): España: del consenso a la polarización. Cambios en la democracia española. Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert, 393-408. Moreno Luzón, Javier (2013): „¿‘El rey de todos los españoles’? Monarquía y nación“, in: Javier Moreno Luzón/Xosé M. Núñez Seixas (Hgg.): Ser españoles. Imaginarios nacionalistas en el siglo xx. Barcelona: RBA, 133-167. Nohlen, Dieter/Kölling, Mario (2020): Spanien. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik. Wiesbaden: Springer. Núñez Seixas, Xosé M. (2010): „La nación en la España del siglo xxi: Un debate inacabable“, in: Pasado y Memoria. Revista de Historia Contemporánea, 9, 129-147. — (2018): Suspiros de España. El Nacionalismo Español. 1808-2018. Barcelona: Planeta. Pfeiffer, Christian/Werz, Nikolaus (2020): „Die spanischen Parlamentswahlen vom 28. April und 10. November 2019 und die politische Blockade“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 51, 1, 139-165.

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Von der demokratischen Transition zu neuen Konfrontationen – die politische Entwicklung Spaniens im 21. Jahrhundert Nikolaus Werz Abstract Die nach dem Tod des Diktators Franco 1975 einsetzende demokratische Transition galt lange als modellhaft. Sie wurde begleitet von einer Integration in die EG, einem wirtschaftlichen Aufschwung und einem stabilen Parteiensystem mit dem sozialdemokratischen PSOE und dem konservativ-liberalen PP. Die Wirtschaftskrise von 2008 hatte starke politische Auswirkungen: 2011 entstand die Bewegung der „Empörten“ (indignados), Ende 2015 kamen mit Ciudadanos und Podemos zwei neue Gruppierungen ins Parlament, an die Stelle eines Systems mit zwei dominierenden Parteien trat ein Mehrparteiensystem. Mit dem Einzug von Vox 2019 ist auch in Spanien eine rechtspopulistische Partei im Parlament vertreten. Ab 2018 amtierte Pedro Sánchez (PSOE) nach dem ersten geglückten Misstrauensvotum der neueren Landesgeschichte zunächst als Chef einer Minderheitsregierung. Nach erneuten Wahlen besteht seit Anfang 2020 eine Mitte-links-Regierung aus PSOE/UP-IU mit Unterstützung von Regionalparteien. Die EU-Mittel zur Bekämpfung der Folgen der Coronapandemie werden von der Regierung Sánchez als Chance zur Erneuerung des Landes und für einen green deal betrachtet.

„Das 20. Jahrhundert endete für Spanien gut“, so heißt es im Schlussteil einer Landesgeschichte (Bernecker 2010: 330), und dieser wirtschaftliche und politische Trend schien sich auch zu Beginn des neuen Jahrhunderts fortzusetzen. Für den unerwarteten Wahlverlust des Partido Popular (PP) 2004 wurde die einseitige Informationspolitik von Regierungschef José María Aznar nach dem Terroranschlag am Bahnhof Atocha in Madrid kurz vor den Wahlen verantwortlich gemacht. Aznar hatte die baskische ETA als Urheber verdächtigt, tatsächlich handelte es sich um islamistische Terroristen. Entgegen den Umfragen gewann der Partido Socialista Obrero

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Español (PSOE) die Wahlen, José Luis Rodríguez Zapatero initiierte eine Reformregierung, die aufgrund ihrer verspäteten Reaktion auf die Finanzkrise 2008 in unruhiges Fahrwasser geraten sollte. Die Krise traf das Land hart und hatte starke gesellschaftspolitische Auswirkungen. 2011 kam die Protestbewegung der „Empörten“ (indignados) auf, die gegen Korruption und für eine andere Politik plädierte. Gleichwohl gewann Mariano Rajoy vom Partido Popular (PP) im selben Jahr mit absoluter Mehrheit die vorgezogenen Wahlen und begann ein Anpassungs- und Stabilisierungsprogramm. In Folge von Wirtschaftskrise sowie P ­ arteispenden- und ­Korruptionsaffären tauchten mit der linkspopulistischen Partei Podemos und den liberalen Ciudadanos neue politische Organisationen auf; die Wahlen von 2015 beendeten dann mit dem Einzug der beiden ­Parteien in den Kongress das mit der Transition zur Demokratie nach 1975 entstandene Quasi-Zweiparteiensystem. Nach einem Urteil in der sog. „Gürtel-­ Affäre“, von dem hohe PP-Politiker betroffen waren, gelang 2018 das erste konstruktive Misstrauensvotum in Spaniens Demokratie, seit Juni 2018 amtiert Pedro Sánchez vom PSOE als Regierungschef. ­Nachdem Sánchez mit seinem Haushaltsentwurf scheiterte, folgten im April 2019 ­vorgezogene Parlamentswahlen und nach einer fehlenden Mehrheit zu seiner Wahl (­investidura) erneute Parlamentswahlen im November. Sie führten zur ersten (linken) Koalitionsregierung der neueren Demokratie Spaniens. Mit Vox zog zeitgleich eine rechtspopulistische bzw. in Teilen rechtsradikale Partei als drittstärkste Kraft ins Abgeordnetenhaus ein. Die Phase der im Ausland vielbeachteten demokratischen Transition ging damit definitiv zu Ende, die Auseinandersetzung im Parlament gewann an Schärfe. Die Linkskoalition aus PSOE und Unidas Podemos/Izquierda Unida (UP-IU) konnte sich nach internen Turbulenzen und einer Kabinettsumbildung 2021 vorerst stabilisieren; die größte Herausforderung bleibt der Katalonien-Konflikt. Von José María Aznar (1996-2004) zu José Luis Rodríguez Zapatero (2004-2011)

Anfang des 21. Jahrhunderts galt Spanien in ökonomischer Hinsicht als Vorzeigeland und die Transition als Erfolgsmodell. Der Regierungschef in der Gründungsphase Adolfo Suárez (1932-2014) und der damals hochangesehene König Juan Carlos (geb. 1938) waren die Schlüsselfiguren, Felipe

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González (geb. 1942) vom PSOE wurde 1982 erster Regierungschef der Partei, die im Spanischen Bürgerkrieg für die Republik eingetreten war. Bestandteil der Transition waren eine schnelle Annäherung an Europa und das Atlantische Bündnis in den folgenden Schritten: 1978 Referendum über die Verfassung, 1982 Beitritt Spaniens zur NATO, 1986 Vollmitgliedschaft Spaniens in der EG, NATO-Referendum und damit Verbleib in der NATO. 1992 stand Spanien mit den Olympischen Spielen in Barcelona, der Weltausstellung in Sevilla und der Ernennung Madrids zur europäischen Kulturhauptstadt in der Weltöffentlichkeit. Das Land profitierte von den EU-Geldern und blieb noch für den Zeitraum von 2007 bis 2013 NettoEmpfänger von Mitteln aus dem Kohäsionsfonds. Zwischen 1996 und 2007 belief sich das durchschnittliche Wachstum der Wirtschaft auf 3,7 % und erreichte 2000 mit 5 % einen Höhepunkt. Beim BIP hatte es sogar Italien überholt; bald werde man, so hieß es in Regierungskreisen, das Niveau Frankreichs erreichen. Allerdings war es kein tragfähiges Wachstum. Die Aussicht auf den Beitritt hatte die Zinsen sinken lassen und führte zu billigen Krediten. Nun setzte ein unglaublicher Bauboom ein. Von einer economía del ­ladrillo („Backsteinwirtschaft“) war die Rede bzw. von der Kombination von ladrillo und sombrilla („Sonnenschirm“), da viele der Neubauten an Stränden entstanden. Während sich in der Bundesrepublik zur gleichen Zeit die Realzinsen verteuerten und Deutschland nach Ansicht von The Economist zum „kranken Mann Europas“ avancierte, galt der spanische Boom einigen Ökonomen als Modell. Dabei entwickelte sich die Baubranche zum Wirtschaftsmotor, die Arbeitslosigkeit sank von 20 % (1994) auf 8 % (2007). Das BIP pro Einwohner lag 2008 bei 24.300 Euro und die Zahl der Beschäftigten bei 20,45 Millionen (Juliá 2019: 352). Zwischen 2002 und 2006 sollen 600.000 Wohnungen pro Jahr gebaut worden sein. Zunächst konnten die beiden ersten Regierungschefs im 21. Jahrhundert davon profitieren. José María Aznar (geb. 1953) hatte Jura studiert und als Finanzinspektor gearbeitet. Seine Karriere begann in der rechtskonservativen Alianza Popular (AP), später übernahm er Führungspositionen im PP. Bei den Wahlen 2000 erreichte der PP die absolute Mehrheit; Aznar leitete in der Folgezeit eine Annäherung an die USA ein. „Spanien geht es gut“, erwähnte er gerne, der anhaltende wirtschaftliche Aufschwung sorgte für Popularität. Die Teilnahme an der von den USA angeführten „Koalition der Willigen“ im Irak-Krieg 2003, sein aufwendiger Lebensstil und

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eine Politik der Zuspitzung (crispación) im Parlament führten jedoch zu einem Stimmungsumschwung, der sich in dem unerwarteten Wahlverlust 2004 niederschlug. Sein Nachfolger José Luis Rodríguez Zapatero (geb. 1960) hatte ebenfalls Jura studiert und erlebte einen schnellen Aufstieg im PSOE. Mit 26 Jahren wurde er als jüngster Abgeordneter ins Parlament gewählt, 2000 übernahm er das Amt des Generalsekretärs, schon 2002 avancierte er zum Spitzenkandidaten. Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten bezeichneten ihn politische Gegner als Presidente por accidente („Präsident durch Zufall“) oder „Bambi“. Zapatero suchte nach der atlantischen Phase Aznars wieder die Annäherung an die europäischen Länder und startete weitreichende innenpolitische Reformen (Colino/Cotarelo 2012). Dazu zählten Maßnahmen gegen die häusliche Gewalt 2004, die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe 2005, die sog. „Blitz-Scheidung“ sowie eine Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses und die Einbürgerung von Migranten 2005. Die Hälfte der Kabinettsposten besetzte er mit Frauen. Der Economist veröffentlichte kurz nach seinem Amtsantritt einen Artikel, in dem von einer zweiten Transition die Rede war, was wissenschaftliche Analysen so nicht bestätigten (Field 2011). Im Unterschied zu seinen Vorgängern griff er das Thema der Vergangenheit mit einem Gesetz zur Erinnerung (Ley de la Memoria) auf. Allerdings kam die Umbettung des Leichnams von Franco aus dem Valle de los Caídos nicht voran, erst ein Jahrzehnt später konnte Regierungschef Sánchez diese Initiative vollenden. Der Schwachpunkt der zweiten Amtszeit von Regierungschef Zapatero war der verspätete Beginn eines Krisenmanagements, der Ministerpräsident hatte die 2008 einsetzende Weltfinanzkrise zwei Jahre lang nicht wahrnehmen wollen. „Die fiesta ist vorbei“, hieß es damals in der internationalen Presse. Bei den vorgezogenen Wahlen Ende 2011 erlebte der PSOE die größten Einbußen in der jüngeren Geschichte, die Zahl seiner Abgeordneten sank von 169 auf 110. Die Auswirkungen der Finanzkrise 2008 und die Regierungen von Mariano Rajoy (2011-2018)

Mariano Rajoy (geb. 1955) hatte Jura studiert und wurde 1979 zum jüngsten Grundbuchbeamten Spaniens (Vallespín 2015: X). Ab 1989 war er Mitglied des Parlaments, im Kabinett Aznar nahm er ­verschiedene

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­ inisterposten bis hin zum stellvertretenden Ministerpräsidenten ein. M Schon 2004 wurde er von Aznar als Nachfolger auserkoren, der PP verlor jedoch die Wahlen. „Du und Dein verdammter Krieg“, soll er ihm deswegen zugerufen haben, womit er Aznars Teilnahme an der sog. „Koalition der Willigen“ im Irakkrieg meinte, die in Spanien höchst unpopulär war. Auch vom Lebensstil bildete er einen Gegensatz zu Aznar. Rajoy lebt unauffällig, liest gerne die Sport- und Fußballzeitung Marca und meidet die Presse, was er in den Wahlkämpfen 2015/16 nur vorübergehend aufgab. Bei seiner Wahl zum Regierungschef Ende 2011 wurde er in deutschsprachigen Medien als „ernsthaft, solide, seriös und wenig charismatisch“ dargestellt (Werz/Gratius 2017: 40). Diese Attribute stießen zu Hause nicht in gleichem Maße auf Beifall, zumal Rajoy einen Austeritätskurs umsetzte. Dort wurde ihm vorgehalten, sich zu wichtigen politischen Fragen nicht zu äußern oder seine Vizepräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría (geb. 1971), „La Merkel“ genannt, vorzuschicken um auf diese Weise Probleme auszusitzen. Hinzu kam ein ostentativer Optimismus bei der Überwindung der Wirtschaftskrise. „Wir haben getan, was getan werden musste. Das Verdienst gebührt Spanien und den Spaniern“, erklärte Rajoy in der Debatte zur Lage der Nation 2015. „Den Spaniern muss man die Wahrheit sagen […]. Mit Demagogie erhält man nicht den Sozialstaat.“ Ziel müssten drei Millionen neue Arbeitsplätze sein. Der schwerste Teil liege hinter ihnen, so der Ministerpräsident, umso sinnloser sei es, diesen Weg zu verlassen. Mit dieser Botschaft gingen Rajoy und der PP auch 2015/16 in den Wahlkampf. Allerdings rief das Thema der politischen Korruption seit der Krise von 2008 wachsenden Unmut hervor. Vereinfacht lassen sich bei der Korruption drei Ebenen unterscheiden: Erstens die verdeckte Finanzierung von Parteien, was etwa mit Firmen wie Filesa durch den PSOE zwecks einer Wahlkampffinanzierung 1989, der sog. B-Kasse (caja B) beim PP und den Drei-Prozent-Abgaben bei der Erteilung von öffentlichen Aufträgen für die Convèrgencia Democràtica de Catalunya (CDC) zum Ausdruck kam. Zweitens der Aufbau von klientelistischen und kazikenhaften Strukturen mit dem Ziel des Machterhalts einzelner Gruppen in den Organisationen. Drittens spielt die Geldgier einiger Berater und Politiker eine Rolle (Pérez Medina 2021: 16; Wieland 2014). Nur einzelne Personen und Fälle seien hier erwähnt: Rodrigo Rato (geb. 1949) war unter der Regierung Aznar von 1996 bis 2004 ­Minister

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für Wirtschaft und Finanzen und galt als Vater des „Spanischen Wirtschaftswunders“. Als Nachfolger von Horst Köhler amtierte er von 2004 bis zu seinem vorzeitigen Ausscheiden aus persönlichen Gründen als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Ab 2009 war er Mitglied des Vorstandes der Caja Madrid und avancierte 2010 zum Vorstandsvorsitzenden von Bankia, d. h. der Fusion spanischer Sparkassen. In dieser Zeit entstand ein System „schwarzer Kreditkarten“ (tarjetas black), das ihm und 20 Führungskräften bzw. 63 Verwaltungsmitgliedern zu ihrem privaten und steuerfreien Konsum zur Verfügung stand. Nach Ermittlungen wurde er 2015 verhaftet und später zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Sein Vorgänger Miguel Blesa, dessen schwarze Kreditkarte sich auf 436.000 Euro belief, beging nach einer Verurteilung zu sechs Jahren Gefängnis 2017 Selbstmord. Francisco Correa (geb. 1955), ein Unternehmer, der mit seiner Firma Special Events enge Beziehungen zum PP unterhielt, avancierte zum Namensgeber des sog. Caso Gürtel. So nannten die Strafverfolgungsbehörden sein Netzwerk, wobei sie seinen Nachnamen Correa (deutsch „Gurt“) ins Deutsche übertrugen. Sein Spitzname lautet Don Vito, nach dem ­Protagonisten des Romans Der Pate von Mario Puzo. Das Gürtel-Netzwerk hatte z. B. 2006 rund 3,6 Millionen Euros aus öffentlichen M ­ itteln anlässlich der Organisation des Besuches von Papst Benedikt XVI. in Valencia abgezwackt und finanzierte u.  a. die Wahlkämpfe des PP in der Region 2007/08. Nach dreijähriger Haft wurde Correa unter Auflagen freigelassen, erhielt aber 2018 eine Haftstrafe von 51 Jahren. Alles in allem wurden bislang 67 Personen zu insgesamt 570 Jahren Haft verurteilt, dabei handelt es sich bei 25 um Politiker, die mit dem PP in Verbindung gebracht werden (El País, 1. Dezember 2020). Luis Bárcenas (geb. 1956), der bis 2009 Schatzmeister des PP war, soll monatlich Schwarzgelder im Wert von jeweils 5.000 bis 15.000 Euro an hochrangige PP-Mitglieder in Briefumschlägen ausgehändigt haben. Der passionierte Skifahrer besaß eine Wohnung in der Schweiz. Eine auf AntiKorruption spezialisierte Polizeieinheit leitete die sog. Operación Kitchen gegen ihn ein; in diesem Fall wählte man einen englischen Decknamen, nachdem sein Adressbuch und andere belastende Dokumente aufgetaucht waren. Die Perzeption der Korruption steigt im Vorfeld von Wahlen meist stark an. So war es bereits 1995, wobei die Wahrnehmung der Korruption nach dem Wahlsieg von Aznar und dem folgenden R ­ egierungswechsel

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wieder sank. Auch der PSOE in Andalusien, die Convergència Democràtica de Catalunya (CDC) in Katalonien und selbst einzelne der neuen Linkspolitiker waren von Korruptionsverfahren betroffen; im Zentrum der Untersuchungen stand und steht jedoch der PP. Ab 2010 tauchten mehrfach Sicherheitsbeamte in der Parteizentrale Génova in Madrid auf. Wohl aus diesem Grund kündigte der damals amtierende Parteichef Pablo Casado 2021 einen Umzug aus dem Traditionsgebäude an. Bei den großen Bauvorhaben in Madrid ab 2000 wurde ein Prozent für sog. Publizitätsmaßnahmen reserviert, in Katalonien waren es unter dem derzeit angeklagten Jordi Pujol (geb. 1930), der von 1980 bis 2003 als Regierungschef Kataloniens amtierte, sogar drei Prozent (Pérez Medina 2021: 169). Einzelne Autoren, wie der englische Spanien-Historiker Paul Preston, veröffentlichte kürzlich eine Darstellung, in der die Landesgeschichte als eine Abfolge von Korruption, politischer Inkompetenz und sozialer Spaltung erscheint (Preston 2020). In Spanien wird die Korruption vor allem mit Politikern assoziiert, was auch an ihrer hohen Zahl liegen mag. Schätzungen reichen bis zu 125.000 Politiker (Vallespín 2015: X). In die Bauvorhaben in Zeiten des Booms waren auch etliche Bürgermeister in den Küstenregionen involviert, die Liberalisierung des Bodenrechts 1996 und die durch den Beitritt zum Euro erleichterten Transfers leiteten eine Spekulationsblase ein. Die staatliche Verwaltung wird in der Regel nicht mit der Korruption in Verbindung gebracht. Als Parteivorsitzender wurde Rajoy in Teilen der Presse und von der Opposition für die Korruption im PP verantwortlich gemacht. Die Parteiführer des PSOE und die neue Gruppierung Ciudadanos erklärten, dass sie politisch nicht mit ihm zusammenarbeiten könnten. Zunächst hatten ihm solche Vorwürfe bei den Wählern nicht nachhaltig geschadet, 2018 sollten sie jedoch seinen Amtsverlust durch ein konstruktives Misstrauensvotum herbeiführen. Die Folgen der Krise: Vom Zweiparteien- zum Mehrparteiensystem

Ministerpräsident Rajoy sprach in der Debatte zur Lage der Nation 2014 davon, dass man „Kap Horn umschifft habe“ und die Anzeichen für einen Aufschwung unübersehbar seien. Allerdings kamen die Verbesserungen bei den Betroffenen offenbar nicht an. Bei den Europawahlen 2014 und

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bei den Regionalwahlen in Andalusien 2015 gab es starke Einbußen bei PP und PSOE und einen Aufschwung neuer Parteien. In den Jahren seit 2015 hat die spanische Politik ihre wohl grundlegendsten Veränderungen seit der Transition, d.  h. dem erfolgreichen, paktierten Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie ab 1975, durchlaufen. Im Zuge der Nachwehen der Krise 2008 kam es zu politischen, sozialen und institutionellen Verwerfungen, die das Parteiensystem mit einer unangefochtenen Dominanz von PP und PSOE – die bei der Wahl 2008 zusammengenommen noch 84,7 % der Stimmen und 92 % der Sitze im Abgeordnetenhaus erlangen konnten – veränderten. Zu den Herausforderungen gehörten zunächst vor allem die Gefährdung des sozialen Friedens durch Massenarbeitslosigkeit und steigende Ungleichheit, eine Krise der Institutionen durch die Aufdeckung zahlreicher Korruptionsskandale sowie die Infragestellung der territorialen Souveränität durch Separatisten in Katalonien. Die Überschneidung von unterschiedlichen Prozessen und Problemen und deren gegensätzliche Beurteilung durch die politischen Akteure führten zu einer Blockadesituation. Seit der Europawahl im Mai 2014, als mit Podemos („Wir können es“) eine neue linke Bewegung mit einem guten Ergebnis von acht Prozent bzw. fünf erlangten Sitzen im Europaparlament quasi aus dem Nichts die politische Bühne betrat, kamen Zweifel an einer anhaltenden Vorherrschaft von PP und PSOE, des sog. bipartidismo, im nationalen Parteiensystem auf. Sie schienen sich kurz darauf zu bestätigen, als Podemos zum meist-diskutierten Thema der Öffentlichkeit wurde und zwischenzeitlich gar die Umfragen vor den beiden etablierten Parteien anführte. Die Partei Podemos, die sich zunächst vor allem als Vertreterin der „Bewegung der Empörten“ (15-M) aus dem Jahr 2011 gegen die alteingesessene „Kaste“ sah (Werz/ Gratius 2017: 106 ff.), bekam mit der bis dahin nur regional in Katalonien agierenden Partei Ciudadanos („Bürger“) ab Anfang 2015 Konkurrenz. Die zunächst eher liberal aufgestellten Ciudadanos konnten ihre Anhänger ebenso wie Podemos mit einer jungen und dynamischen Führungsriege, einem charismatischen Anführer (Ciudadanos: Albert Rivera; Podemos: Pablo Iglesias) sowie einem neuartigen Diskurs gewinnen. Dadurch sprachen sie damals Wähler an, die nach einer Alternative jenseits von PP, PSOE oder den großen Regionalparteien im Baskenland (Partido Nacionalista Vasco - PNV) und Katalonien (Convergència i Unió - CiU) suchten, die in den Vorjahren bis auf den PNV allesamt in K ­ orruptionsskandale verwickelt waren. Somit zogen bei den Wahlen vom 20. Dezember 2015

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mit Ciudadanos und Podemos gleich zwei neue ­Parteien ins Parlament ein. Während Podemos mit 20,68 % bzw. 69 Sitzen aus dem Stand heraus drittstärkste Kraft hinter dem Wahlsieger PP (28,71 %, 123 Sitze) und dem PSOE (22 %, 90 Sitze) wurde, schaffte es Ciudadanos mit 13,94 % und 40 Sitzen auf einen beachtlichen vierten Platz. Das spanische Zweiparteiensystem war damit vorerst beendet, an seine Stelle trat zunächst ein Vierparteiensystem plus die kleinen Regionalparteien. Bei Podemos nährte das spektakuläre Wahlergebnis sogar Hoffnungen auf einen sorpaso, d. h. ein Vorbeiziehen am PSOE, weshalb sie ein Wahlbündnis von Unidas Podemos, wie sie sich als Bekenntnis zum Feminismus mittlerweile nennt, und der seit 1986 bestehenden Vereinigten Linken (Izquierda Unida) betrieben (UP-IU). Bei der Beurteilung des hier verkürzt geschilderten politischen Wandels dominierten zunächst die positiven Sichtweisen. Mit den beiden Gruppierungen seien neue Ideen und eine jüngere Generation in den Kongress gelangt. An die Stelle des bei der Regierungs- (nicht bei der Partei-)Führung soliden, jedoch etwas buchhalterisch auftretenden Rajoy traten junge Gesichter, die eine ganz andere Politik versprachen. Dies galt besonders für Podemos mit medial versierten und eloquenten Politologen an der Spitze, aber auch für Ciudadanos mit dem sportlich und offen auftretenden Rivera sowie telegenen Politikerinnen wie Inés Arrimadas und Begoña Villacís. Sie waren meist in ihren Berufen erfolgreich, bevor sie in die Politik wechselten, allerdings waren die Erfahrungen mit und die Vorlieben für institutionelle Verfahren weniger ausgeprägt. In der Folge kam es jedoch zu einer politischen Blockade, da der PP unter Rajoy in dem veränderten Umfeld nicht in der Lage war, eine Regierungsmehrheit für seine Wahl zum Ministerpräsidenten zu finden. Ausschlaggebend waren mehrere Gründe: In der spanischen Politik war wegen der Vorherrschaft von PSOE oder PP sowie einer Kooperationsbereitschaft der großen Regionalparteien CiU und PNV (gegen entsprechende Konzessionen) bis dahin die Regierungsbildung relativ einfach gewesen. Dies war vor allem dann der Fall, wenn die spätere Regierungspartei bei den Wahlen die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament (mindestens 176 Sitze) erlangen konnte (PSOE 1982: 202 Sitze; PSOE 1986: 184 Sitze; PP 2000: 183 Sitze; PP 2011: 186 Sitze). Für die großen Regionalparteien wiederum war eine Tolerierung der Regierungspartei bei lediglich relativer Mehrheit eine willkommene Option, um auf die nationale Politik Einfluss zu nehmen sowie Privilegien für ihre jeweilige Autonome Gemeinschaft

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herauszuschlagen. Damit entstand ein informelles „Zweieinhalb“-Parteiensystem, d. h. PSOE und PP mit einzelnen Regionalparteien. Dass formelle Koalitionen auf nationaler Ebene gebildet werden, war in Spanien dagegen bis vor kurzem unüblich, anders als auf kommunaler und regionaler Ebene, wo Koalitionen keine Seltenheit sind (Pfeiffer/Werz 2015). Durch den Übergang von einem „Zweieinhalb“-Parteiensystem zu einem Mehrparteiensystem ist es einerseits schwerer geworden, eine Mehrheit zu erlangen, andererseits ist durch den Konflikt zwischen Zentralregierung und Separatisten die Kooperationsbereitschaft der katalanischen Regionalparteien gesunken. Im Zuge der ersten politischen Blockade nach der Wahl vom 20. Dezember 2015 kam es zu Positionskämpfen zwischen alten und neuen Parteien, die zur Folge hatten, dass keine alternative Mehrheit für die Wahl eines anderen Politikers als Rajoy zum Ministerpräsidenten zustande kam. Rajoy konnte zwar mit seiner pragmatischen Regierungspolitik die wirtschaftliche Situation stabilisieren, ihm wurden aber Schwächen in der politischen Kommunikation und im Umgang mit Katalonien vorgehalten, wo er die rechtlichen Fragen in den Vordergrund rückte. Sánchez, seit 2014 Generalsekretär und Parteichef des PSOE, versuchte zunächst, eine Koalitionsregierung mit Ciudadanos zu initiieren, scheiterte aber mit diesem Unterfangen u. a. an dem Unwillen von Podemos, eine solche Allianz im Parlament mitzutragen. Somit wurden für den 26. Juni 2016 Neuwahlen ausgerufen, die erneut vom PP gewonnen wurden und an den parlamentarischen Kräfteverhältnissen nichts änderten. In der Folge der Wahl vom 26. Juni 2016 kam es innerhalb des PSOE zu einem Machtkampf. Dabei ging es um die Frage, ob die Partei mit einer Enthaltung im Abgeordnetenhaus eine Fortführung der Amtszeit von Rajoy und seines PP ermöglichen solle. Sánchez meinte, er müsse sein vor der Wahl gegebenes Versprechen halten, eine Verlängerung der PP-Regierung zu verhindern („no es no“). Ein anderer personell zu dieser Zeit vermeintlich stärkerer Parteiflügel plädierte dafür, die Regierungsfähigkeit zu gewährleisten und eine Koalition mit UP zu vermeiden. Alfredo Pérez Rubalcaba (1951-2019), ehemaliger PSOE-Generalsekretär, sprach mit Blick auf eine eventuelle Koalition mit Iglesias von einer „Frankenstein-Regierung“, die es zu verhindern gelte (ABC, 01. Juni 2018). So kam es zum Sturz von Sánchez als Parteichef, der gleichzeitig sein Abgeordnetenmandat niederlegte. Seine politische Karriere schien beendet. Er startete indessen eine Ochsentour durch die Kommunalverbände seiner Partei und trat selbstbewusst gegen seine ärgste Konkurrentin, die damalige ­andalusische

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Ministerpräsidentin Susana Díaz, bei der erforderlich gewordenen Wahl um den Parteivorsitz an, die er entgegen allen Erwartungen deutlich gewinnen konnte. Dieses einmalige Comeback krönte er schließlich, als er am 1. Juni 2018 mit dem ersten erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum in Spanien gegen Rajoy zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Sánchez nutzte dabei die Empörung, die in der Öffentlichkeit und im Kongress anlässlich der Urteile in der sog. „Gürtel-Affäre“ gegenüber dem PP entstanden war. Daraufhin stellte der PP die Legitimität von Sánchez als Regierungschef in Frage, da diese anfangs nicht aus allgemeinen Wahlen herrührte, was das Klima zwischen den beiden traditionell staatstragenden Parteien verschlechterte. Sánchez selber hat diese Jahre und seinen Weg an die Regierungsspitze in vorgezogenen Memoiren mit dem suggestiven Titel Manual de resistencia (2019) beschrieben. Der Katalonien-Konflikt hatte sich währenddessen keineswegs beruhigt. Zwar zeigen neuere Darstellungen, dass ein Teil der Elite Kataloniens den Konflikt für ihre Interessen instrumentalisierte und die Frage der Unabhängigkeit in unzutreffender Weise mit der der Demokratie verbindet, dies hat aber noch nicht zu einem allgemeinen Umdenken geführt. Hierbei spielt einerseits eine Rolle, dass Teile der Linken als eine Nachwirkung der zentralistischen Franco-Diktatur an ihrer Sympathie mit den sog. peripheren Nationalismen festhalten, auch wenn sich die äußeren Rahmenbedingungen über 40 Jahre nach der Verabschiedung der demokratischen Verfassung von 1978 verändert haben und sowohl das Baskenland als auch Katalonien zu den wohlhabendsten Regionen des Landes zählen. Andererseits hatte die PP-Regierung die Katalonien-Frage lange Zeit bloß als ein juristisches Problem betrachtet. Während also innenpolitisch ein enormes Problem heranwuchs, waren die Parteien mit internen Konflikten beschäftigt: Alle auf nationaler Ebene tätigen Parteien wurden von internen Grabenkämpfen heimgesucht, die entweder zur Ablösung der „alten Garde“ wie im PP und dem PSOE oder zum Parteiaustritt einiger vormals wichtiger Politiker führten, wie bei Podemos und Ciudadanos. Iñigo Errejón, neben Iglesias das bekannteste Gesicht von Podemos, gründete mit Más Madrid eine zunächst nur in der Stadt und Autonomen Gemeinschaft Madrid antretende neue Partei, die bei den Regionalwahlen 2019 Podemos dort als bestimmende Kraft der regionalen Linken ablösen konnte. Eine gesamtnationale Wirkung hatten bereits die Parlamentswahlen in Andalusien am 2. Dezember 2018. Die vorgezogenen Wahlen der

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­ inisterpräsidentin Díaz, einer Sánchez-Rivalin, wurden notwendig, M nachdem Ciudadanos ihrer PSOE-Minderheitsregierung eine weitere Unterstützung verweigerte. Seit 1982 hatten linke Parteien stets die Mehrheit in der Autonomen Gemeinschaft Andalusien gehalten. Zur allgemeinen Überraschung zog mit Vox (ca. 400.000 Stimmen, fast 11 %, 12 Abgeordnete) erstmals eine Partei rechts vom PP in ein Regionalparlament ein. Ciudadanos legte von neun auf 21 Abgeordnete zu. Der PSOE gewann zwar die Wahl (33 Abgeordnete), regiert aber zum ersten Mal seit der Transition nicht mehr in Andalusien. Vox wurde 2013 von ehemaligen PP-Mitgliedern und PP-Funktionären um Santiago Abascal gegründet, blieb aber zunächst unauffällig (Rama et al. 2021). Ihre Anhänger träumen von einem imperialen Spanien, sie treten ultranationalistisch, aber auch wirtschaftsliberal auf. Sie sind gegen Separatisten und für Zentralismus, gleichzeitig wollen sie aber die staatliche Administration beschneiden. Sie werden teilweise von alten franquistischen Eliten bzw. ihren Nachkömmlingen getragen, die sich durch den PP und dessen zu europakonformen und „weichen“ Kurs gegenüber Katalonien nicht mehr repräsentiert sahen und den Partido Popular als komplexbeladene und weiche Rechte betrachten. Sie treten gegen Feminismus und die LGBTI-Bewegung auf und verteidigen die katholische Tradition sowie alte spanische Bräuche wie den Stierkampf. Vox präsentiert sich zudem als Anti-Migrationspartei und bekennt sich zur Reconquista. Im Wahlkampf 2019 entfaltete sie großen Einfluss auf Ciudadanos und den PP mit Blick auf eine Zentralisierung sowie auf Migrations- und Gleichstellungsfragen, was einen Rechtsruck im Mitte-rechts-Lager bewirkte. Insbesondere im Falle von Ciudadanos führte dies zu einer Enttäuschung bei liberalen ­Beobachtern und Mitbegründern der Partei, die sich von ihr eine Alternative zu PP und PSOE erhofft hatten. Einige verließen deswegen die Partei. Anfang 2019 fand auf der Plaza Colón in Madrid eine Demonstration für die Einheit Spaniens und gegen Regierungschef Sánchez statt. Auf einem Foto finden sich die Spitzenpolitiker von PP, Ciudadanos und Vox. Von linker Seite wurden sie daraufhin als trifachito bezeichnet, d. h. als Beleg für eine vermeintliche Allianz zwischen drei Rechtsparteien. Der Terminus setzt sich zusammen aus tripartito („Dreiparteienherrschaft“) und facha (umgangssprachlich für „Faschist“), was als ein weiterer Beleg für eine Radikalisierung der sprachlichen Auseinandersetzung gelten kann. Wahrscheinlich spielte dieses Bild bei der Entscheidung der PSOEPolitiker im Regierungssitz Moncloa für die Ausrufung von Neuwahlen

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eine Rolle, sodass diese nicht nur eine Reaktion auf die Nicht-Verabschiedung des Haushaltes am 13. Februar 2019 waren. Dadurch entstand das Schreckgespenst einer geeinten Rechten, was wiederum zur Mobilisierung des linken bzw. gemäßigt progressiven Elektorats beitragen sollte. Aufstieg und Fall von König Juan Carlos

In der Berichterstattung über die parlamentarische Monarchie Spanien haben König Juan Carlos und seine Familie in den letzten Jahren eine zentrale Rolle eingenommen. 1931 wurde die Zweite Republik proklamiert und die Monarchie abgeschafft. Die spanische Königsfamilie ging ins Exil nach Italien, später in die Schweiz und nach Portugal, von einem König ohne Land war die Rede. Schon in dem „Gesetz über die Nachfolge in der Staatsführung“ von 1947 wurde die Monarchie wieder eingeführt. Don Juan de Borbón (Conde de Barcelona), Sohn des letzten Königs Alfons XIII., galt als liberal, General Franco ernannte deshalb Prinz Juan Carlos de Borbón zu seinem königlichen Nachfolger in der Hoffnung, in dem Sohn des dynastischen Thronanwärters einen loyalen Anhänger zu besitzen. In der Transition erwies sich die Monarchie jedoch als eine positive, die Gegensätze überbrückende Kraft. Lange Zeit profitierte Juan Carlos von seiner auch international gefeierten Rolle bei der Niederschlagung des Putschversuches von 1981 sowie von einem impliziten Pakt mit der Presse, die nicht über seine privaten Affären berichtete. Er erschien als Garant der Transition, in dieser Hinsicht empfand die Mehrheit der älteren Spanier eine Form von Dankbarkeit ihm gegenüber. Hinzu kam sein Einsatz zur Anbahnung von Aufträgen für die nationale Industrie, wie dem Bau einer Zugstrecke für den Hochgeschwindigkeitszug AVE (Alta Velocidad Española) zwischen Medina und Mekka in Saudi-Arabien. Gerade zu arabischen Staaten, wo zahlreiche Monarchien und Sultanate bestehen, unterhielt Juan Carlos als Handlungsreisender ausgezeichnete Kontakte. Lange Zeit und erneut nach dem Wechsel an der Spitze des Königshauses 2014 besaßen Juan Carlos I. und sein Haus hohes Ansehen. Mehrere Faktoren führten zwischenzeitlich zu einem Ansehensverlust der Monarchie. Einmal waren da die zahlreichen amourösen Eskapaden des alternden Monarchen. Hinzu kam die Verstrickung eines Teils der Familie in Geldgeschäfte, u.  a. als Folge der Kontakte mit dem internationalen

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Jet-Set, das sich an spanischen Küsten niedergelassen hatte. Dies gilt besonders für Iñaki Urdangarín, der nach seiner Hochzeit mit der Infantin Cristina zunächst als der perfekte Schwiegersohn erschien: gutaussehend, groß und sportlich, von baskischer Abstammung und Katalane per Adoption, da ihm und seiner Frau vom König der Titel „Herzöge von Palma“ verliehen worden war – ein Titel, der den Eheleuten inzwischen wieder aberkannt worden ist. Nach dem Ende seiner Karriere als Handballer engagierte er sich im Bank- und Immobiliengeschäft, u.  a. im Instituto Nóos, dem von der Justiz später die massenhafte Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen wurde. Das Beratungsinstitut warb mit Iñakis Status als Mitglied der königlichen Familie und kassierte für seine Auftritte bei Seminaren hohe Honorare. 2017 wurde er zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt. Nach einer Elefantenjagd von Juan Carlos 2012 in charmanter Begleitung, die erst durch einen danach erforderlichen Krankenhausaufenthalt des Monarchen bekannt wurde, ließ sich die wohltuende, besonders in Zeitschriften wie Hola und Vanity Fair verbreitete Erzählung von einem rund um die Uhr um die Bürger besorgten König nicht länger aufrechterhalten. Immerhin fand der Ausflug auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise statt. Zwar beging Juan Carlos keine großen politischen Fehler, legte aber privat einen Lebensstil an den Tag, der im 21. Jahrhundert unangemessen erscheint. So erlebte die Monarchie, die bis 2007 in den Umfragen zur Beliebtheit von Institutionen stets an erster Stelle lag, zwischen 2011 und 2014 einen Ansehensverlust und wurde erstmals negativ bewertet. Nun kritisierten sittenstrenge Royalisten, Altfranquisten, Tierschützer und Intellektuelle den Monarchen. Während in der Presse bis zu dem afrikanischen Jagdunfall Stillschweigen über seine Eskapaden herrschte, war dies in Büchern und im Netz nicht der Fall. Dort ist von verschiedenen und teilweise jahrelang anhaltenden Affären die Rede, u. a. mit der deutschen Unternehmerin Corinna zu Sayn-Wittgenstein. Mit ihr soll der König seit 1979 ein Verhältnis gehabt haben. Es sei der Versuch unternommen worden, ihn mit Videoaufnahmen zu erpressen. Deshalb wurde der Wechsel zu Kronprinz Felipe im Jahr 2014 nach 38 Jahren Regentschaft begrüßt. In der Presse wurde das Stühlerücken an der Spitze herausgestellt und die Leistungen von Juan Carlos in El País, der Zeitung der Transition, umfangreich und außerordentlich positiv gewürdigt. Der Monarch erschien als Schutzherr und Bewahrer der Demokratie, für seine Verfehlungen habe er sich beim Volk entschuldigt.

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Sein Sohn Felipe VI. wurde 1968 in Madrid geboren, seit der Proklamation von Juan Carlos zum König von Spanien im November 1975 war er Kronprinz und seit 1977 Príncipe de Asturias. Nach verschiedenen in den bunten Magazinen behandelten Beziehungen heiratete er 2004 die geschiedene bürgerliche Fernsehjournalistin Letizia Ortiz. Die ehemalige Nachrichtensprecherin von Televisión Española war in der Bevölkerung bekannt und verfügt über Beziehungen zur Medienlandschaft. Man erwartete sich von ihr u. a. eine Veränderung der bisherigen Kommunikationspolitik. Zusammen mit den beiden Töchtern präsentieren sie sich als moderne königliche Familie. Drei Generationen – ein Auftrag: So stellte sich das Königshaus im Netz vor. Das Budget von rund acht Millionen Euro (2013) weise sie als das billigste Königshaus in Europa aus. Bei seiner Ernennung zum König 2014 umriss Felipe VI. vor dem Parlament aus seiner Sicht die Lage und Herausforderungen Spaniens. Er nahm Bezug auf das Projekt der nationalen Übereinkunft nach 1975, das die „besten Jahre unseres Landes“ einleitete. Gleichzeitig sprach er sich für eine moderne Monarchie in einer neuen Zeit aus. Er ging auf die Opfer der Krise ein; nun gehe es darum, in die Zukunft zu schauen und die Demokratie zu revitalisieren. Dabei sei die Krone ein Symbol der Einheit. Spanien sei vereint und divers und mittlerweile fest in Europa verankert. Auf Platz eins der spanischen Thronfolge steht die 2005 geborene Prinzessin Leonor, die schon repräsentative Aufgaben übernimmt. Felipe VI. wuchs nach den knappen Wahlergebnissen von 2015/16 eine gewisse politische Rolle zu, denn ihm oblag es, nach Gesprächen mit allen Parteienvertretern einen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs vorzuschlagen. Der König bleibt indessen zur politischen Neutralität verpflichtet. In der Vergangenheit war zuweilen der Eindruck entstanden, dass Juan Carlos mit den sozialdemokratischen Regierungschefs des PSOE besonders gut auskam. Auch zwischen Felipe VI. und Pedro Sánchez vom PSOE besteht ein relativ enges Verhältnis. Seit der Abdankung von Juan Carlos kamen immer mehr Skandalund Korruptionsvorwürfe auf, die zuvor unter der Decke gehalten worden waren (statt vieler Quintans 2016). Das Bild von einem sympathischen König für das Volk und als Retter der Demokratie begann sich ins Negative zu wenden. Um weiteren Schaden von der Monarchie abzuwenden, lebt der „emeritierte“ König seit 2020 in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

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Der Aufstieg und die Regierungen von Pedro Sánchez (2018-)

Pedro Sánchez (geb. 1972) studierte Betriebswirtschaftslehre in seiner Heimatstadt Madrid, erwarb 1998 einen Master in Politischer Ökonomie der EU in Brüssel und promovierte 2012 an der Universität Camilo José Cela in Wirtschaftswissenschaften. Als Nachrücker kam er 2009 für den PSOE in den Kongress. 2014 wurde er zum Parteichef des PSOE gewählt, den Posten errang er nach seinem Rücktritt 2017 von Neuem. Abbildung 1: Der Regierungswechsel von Mariano Rajoy (PP) zu Pedro Sánchez (PSOE) – Chronologie der Wahlen und Ereignisse 2015-2020 Vom 21. Dezember 2011 bis zum 01. Juni 2018 amtierte Mariano Rajoy (PP) als Ministerpräsident. Von Juli 2014 bis Oktober 2016 war und erneut seit Mai 2017 ist Pedro Sánchez Generalsekretär des PSOE. 20. Dezember 2015: Nationale Wahlen, Ende des bisherigen Zweiparteiensystems, langwierige Koalitionsverhandlungen. Im Februar 2016 schlägt der König Sánchez für die Wahl zum Ministerpräsidenten vor, was Anfang März in zwei Wahlgängen (die sog. investidura) scheitert. 03. Mai 2016: Das Parlament wird aufgelöst, da keine Koalition zustande kommt, deshalb erfolgen erneut Wahlen am 26. Juni 2016, die der PP deutlich mit 33,01 % gewinnt. Regionalwahlen im Baskenland und in Galicien am 25. September 2016 verstärken die innerparteiliche Kritik an Sánchez, der Anfang Oktober 2016 vom Posten des Generalsekretärs zurücktritt, da er eine Unterstützung durch den PSOE für Mariano Rajoy ablehnt. Aus Protest legt er sein Abgeordnetenmandat nieder. 29. Oktober 2016: Nach Enthaltung der meisten PSOE-Abgeordneten wird Rajoy im Kongress nach zehn Monaten geschäftsführender Regierung zum Chef einer Minderheitsregierung gewählt. Am 21. Mai 2017 wird Sánchez erneut zum Generalsekretär des PSOE gewählt. 01. Oktober 2017: Referendum in Katalonien; das regionale Parlament erklärt am 27. Oktober 2017 Katalonien für unabhängig. Die Urteile in der „Gürtel-Affäre“, einem Parteispendenskandal, treffen hohe PPPolitiker; am 1. Juni 2018 gelingt vor diesem Hintergrund das erste konstruktive Misstrauensvotum in Spanien; seit dem 2. Juni 2018 amtiert Sánchez als Chef einer Minderheitsregierung. Regionalwahlen in Andalusien am 2. Dezember 2018, Ablösung des PSOE durch die sogenannte „Andalusische Allianz“ aus PP und Ciudadanos unter Tolerierung von Vox. Massendemonstration von PP, Ciudadanos, Vox u. a. für die Einheit Spaniens und gegen die PSOE-Regierung am 10. Februar 2019 in Madrid. Der „Prozess gegen den Procés“, das Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen des illegalen Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien, beginnt am 12. Februar 2019 am Obersten Gerichtshof. Der Gesamthaushaltsplan scheitert im Februar 2019. 28. April 2019: Vorgezogene Parlamentswahlen.

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26. Mai 2019: Europa-, Regional- und Munizipalwahlen. 22. und 23. Juli 2019: Die Wahl von Sánchez im Kongress (investidura) scheitert aufgrund der ausbleibenden Unterstützung von Unidas Podemos. 10. November 2019: erneute Parlamentswahlen, es folgt eine geschäftsführende Regierung bis zur Bildung einer Koalitionsregierung aus PSOE/UP-IU Anfang 2020. Quelle: Eigene Zusammenstellung auf der Basis von Pfeiffer/Werz (2020): 148.

Nachdem Ministerpräsident Sánchez und der PSOE nicht in der Lage waren, den Staatshaushalt zu verabschieden, rief dieser Neuwahlen für Ende April 2019 aus. Die Anberaumung von Wahlen war ein weiteres Kapitel einer Blockade der spanischen Politik, die diese fast fünf Jahre lähmte. Dies wurde in den folgenden Verhandlungen nochmals deutlich, da es erneut zu keiner Regierungsbildung kam: Am 10. November 2019 mussten die vierten nationalen Wahlen innerhalb von vier Jahren abgehalten werden. Tabelle 1: Ergebnis der Wahl zum spanischen Abgeordnetenhaus am 10. November 2019 Partei/Allianz Stimmen (in %) PSOE PP Vox UP* ERC Ciudadanos JxCat PNV EH Bildu Más País** CUP CC NA+ BNG PRC ¡Teruel Existe!

28 20,8 15,1 12,8 3,6 6,8 2,2 1,6 1,1 2,4 1,0 0,5 0,4 0,5 0,3 0,1

Sitze 120 89 52 35 13 10 8 6 5 3 2 2 2 1 1 1

Differenz zur Wahl am 18. April 2019 (Sitze) -3 +23 +28 -7 -2 -47 +1 ±0 +1 +3 +2 ±0 ±0 +1 ±0 +1

Stimmen (insgesamt) 6.752.983 5.019.869 3.640.063 3.097.185 869.934 1.637.540 527.375 377.423 276.519 577.055 244.754 123.981 98.448 119.597 68.580 19.696

*Unter UP fungieren die Parteien Unidas Podemos und Izquierda Unida (IU). **Zu Más País gehören Equo, vorheriger Bündnispartner innerhalb von UP, und die nur in der valencianischen Gemeinschaft angetretenen Compromís. Quelle: Ministerio del Interior de España; eigene Darstellung. 

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Die Wahlbeteiligung von 69,9 % lag nahezu sechs Punkte hinter der vom 28. April 2019 (75,5  %) und sank auf das zweitniedrigste Niveau seit den ersten allgemeinen Wahlen im Jahr 1977. Aufgrund der politischen Agitation von rechts, die mit den Unruhen und der zeitweise fast außer Kontrolle geratenen Lage in Katalonien immer lautstärker wurde, war auch mit einer Schwächung des linken Flügels des Parteiensystems zu rechnen, der von einer schwachen Wahlbeteiligung traditionell am stärksten getroffen wird, was allerdings nur in einem geringen Maße eintrat. So summierten PSOE, UP, Más País sowie Compromís insgesamt 158 Abgeordnete und verloren gegenüber der vorherigen Wahl insgesamt sieben Sitze. Fast alle verlor der Block jedoch durch die Teilnahme von Más País und die Bestrafung der Fragmentierung durch das Wahlsystem. In Prozentzahlen sank das linke Lager nur geringfügig von 43,6 % auf 43,2 %. Das rechte Lager, bestehend aus PP, Ciudadanos und Vox, konnte von 147 auf nun 151 Abgeordnete nur leicht zulegen, wobei es in Prozenten gegenüber der vorherigen Wahl wenig gewann (von 42,9 % auf 43,1 %). Allerdings kam es innerhalb des Blockes zu Verschiebungen und zur Stärkung einer teilweise rechtsradikalen Agenda. So ging Vox als Gewinner aus der Wahl hervor. Die höchsten Ergebnisse erzielt die Partei regelmäßig in dem in Nordafrika gelegenen Ceuta (bei den Wahlen 2019 ganze 35 %), die niedrigsten im Baskenland (mit 2,5 %), trotz der baskischen Herkunft ihres Parteiführers Abascal. Vox konnte mit einem Sprung von 24 auf 52 die Zahl ihrer Sitze mehr als verdoppeln und wurde zur drittstärksten Kraft im Abgeordnetenhaus; auch der PP legte von 66 auf 89 Sitze deutlich zu. Diese Entwicklung ging vor allem zu Lasten von Ciudadanos. Die Partei von Rivera war damit der große Verlierer der Wahl und wurde Opfer der starken Polarisierung, da anscheinend Vox und in geringerem Maße dem PP ein energisches Durchgreifen gegen die katalanischen Separatisten zugetraut wurde. Zudem kann vermutet werden, dass Ciudadanos für ihre blockierende Haltung in der Verhandlungsphase nach der vorangegangen Wahl 2019 abgestraft wurde. In der Geschichte Spaniens seit der Transition hat es mit der ehemaligen Regierungspartei Unión de Centro Democrático (UCD) 1982 nur eine Partei gegeben, die ein ähnliches Wahldebakel erlebte. Zwei Tage danach trat Ciudadanos-Chef Rivera als Parteivorsitzender zurück. Einen Zuwachs durch die Neuwahlen erfuhren die regionalistischen Kräfte, d. h. Parteien, die anders als die katalanischen Parteien nicht die Unabhängigkeit von Spanien als oberstes politisches Ziel haben, sondern

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sich für eine Stärkung ihrer jeweiligen Regionen einsetzen. Zu diesem Block gehören nun zusätzlich der BNG aus Galicien und ¡Teruel Existe!, die lediglich 19.696 Stimmen für einen Sitz benötigte und stellvertretend für die drängenden Probleme des entvölkerten Landesinneren steht, das als Wirtschaftsstandort nur mit substanziellen Infrastrukturmaßnahmen überleben kann. Durch den Einzug der linksradikalen und separatistischen Candidatura d’Unitat Popular (CUP) sind nun zum ersten Mal neben Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) und Junts per Catalunya (JxCAT) drei katalanische Parteien im Abgeordnetenhaus. Die CUP hat bereits angekündigt, dass ihre Aufgabe in der neuen Legislaturperiode vor allem darin besteht, einen Beitrag zur Unregierbarkeit des Landes zu leisten. Zudem verfügt die baskische Partei EH Bildu, die von vielen konservativen Beobachtern und Wählern oft mit der aufgelösten terroristischen Organisation ETA in Verbindung gebracht wird, zum ersten Mal seit ihrer Existenz über eine eigene Fraktion, da sie fünf Sitze erlangen konnte. Aufgrund einer Stärkung der separatistischen und regionalistischen Kräfte präsentiert sich der spanische Kongress noch fragmentierter als zuvor. Wie die Daten zur Wählerwanderung zeigen, haben sich wie bei der vorherigen Wahl die größten Veränderungen innerhalb des rechten bzw. linken Blockes ergeben, während es zwischen den Lagern zu wenig Stimmenaustausch kam. Die Links-Rechts-Achse im spanischen Parteiensystem bleibt somit anders als in einigen anderen europäischen Ländern äußerst stabil. Auffällig sind die Veränderungen im rechten Block zu Gunsten von Vox. Sowohl Ciudadanos als auch der PP haben einen wesentlichen Teil ihrer Verluste der Stärke von Vox zuzuschreiben. Etwa ein Viertel der Wähler von Ciudadanos wanderte allerdings ins Nichtwählerlager ab. Unidas Podemos wiederum verlor 9,6 % ihrer vorherigen Wähler diesmal an den PSOE, während UP nur 2,5 % der PSOE-Wähler zu einem Stimmwechsel bewegen konnte. 10,3 % der UP-Wähler wählten gar eine andere politische Option als die fünf aufgeführten Parteien. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil dieser Stimmen an Más País ging. Nach komplizierten Verhandlungen, die im Grunde einen mehr als einjährigen turbulenten Vorlauf hatten, konnte Sánchez im Januar 2020 eine linke Koalition mit Unidas Podemos (UP) und damit die erste Koalitionsregierung der neuen spanischen Demokratie bilden. Die Koalition aus PSOE und UP bleibt allerdings zur Verabschiedung des Haushaltes auf die Stimmen von kleineren Regional- und Linksparteien angewiesen. Das

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rechte Lager, d.  h. PP und Vox, warfen der Koalitionsregierung deshalb Verrat an Spanien vor, was zu einer neuen crispación („Spannung“, „Gereiztheit“) beitrug. Die Zahl der Ministerien stieg aufgrund der schwierigen Koalitionsbildung auf 21 an, davon 14 Minister vom PSOE, vier von IU Podemos und drei Unabhängige. Ende 2020 gelang es Sánchez und der Linkskoalition mit Hilfe der katalanischen ERC und der linksnationalistischen baskischen EH Bildu nach dreijährigem Anlauf einen eigenen Haushalt zu verabschieden. Ausblick: Anhalten der Blockade oder Neustart?

Seit 2015 erfolgten erhebliche Veränderungen in der spanischen Politik, einige Aspekte waren indessen schon zuvor aufgetreten. So hatte es eine crispación bereits unter der Regierung Aznar gegeben (Bernecker/Maihold 2007). Die jüngste Entwicklung war und ist allerdings dadurch gekennzeichnet, dass die crispación nicht von Regierungsseite ausging, wie es bei Aznar der Fall war, sondern zunächst von der linkspopulistisch auftretenden Podemos und später vor allem von der rechtspopulistischen Vox, die seit 2019 im Parlament vertreten ist. Damit endete eine Besonderheit der spanischen Demokratie, denn wie in der Bundesrepublik Deutschland war lange Zeit keine rechtspopulistische Partei im Parlament vorhanden. Die nun einsetzende Polarisierung im Parlament und den Medien war so stark, dass die Jahre 2015-2020 in einem Buchtitel als „politischer Wutanfall“ (Molina 2021) bezeichnet worden sind. In der von Podemos während ihrer Oppositionszeit betriebenen Polarisierung war von einer von dem „Regime von 1978“ verursachten Blockade die Rede. Podemos stellte die positive Transitionserzählung in Frage, die bis dahin nahezu alle Akteure in Spanien vertraten und die innerhalb der politikwissenschaftlichen Transitionsforschung vorherrscht. Dabei wurde damals suggeriert, dass die amtierenden Regierungen nach 1978 eine alternative Entwicklung vereitelt hätten, ohne dass Podemos allerdings die eigenen Optionen inhaltlich konkretisiert hätte. Diese Attitüde brachte besonders Iglesias mit seinem plebiszitär-personalistischen Auftreten und Diskurs ins Abgeordnetenhaus ein. Im politischen System Spaniens fehlt – mit Ausnahme der Transition – eine Tradition der Kompromiss- und Koalitionsbildung. Damals dürfte eine Rolle gespielt haben, dass einige ihrer Protagonisten, wie der

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­ ommunist Santiago Carrillo, der Ex-Falangist Adolfo Suárez und der K Sozialist Felipe González, entweder den Bürgerkrieg, das Franco-Regime und den Übergang vom autoritären System noch selbst erlebt hatten oder um deren Nachwirkungen wussten. In der Folgezeit kam hinzu, dass bis 2016 aufgrund klarer Mehrheitsverhältnisse nach den Wahlen Koalitionen für die Regierungsbildung auf nationaler Ebene nicht erforderlich waren. Bemerkenswerterweise trat im vergangenen Jahrzehnt diese Kompromisslosigkeit gerade bei jüngeren Politikern auf, die sonst gerne auf die moderne Arbeitswelt bzw. ihre eigene Modernität verweisen. Bei den Hauptkontrahenten des Jahrzehntes 2010-2020 Sánchez, Casado, Iglesias und Rivera war der Drang zum höchsten politischen Amt unverkennbar. Bezeichnenderweise sind sowohl Rivera als auch Iglesias zurückgetreten, als klar war, dass diese Chance nicht mehr bestand. Dies verhinderte eine Kooperation selbst im eigenen Lager, so hat erst der Zuwachs von Vox bei den Wahlen 2019 den Schulterschluss der Linkskräfte PSOE und UP besiegelt. Lachender Dritter blieb vorerst die „alte“ Volkspartei PSOE, die einen gewissen Wiederaufschwung erlebte. Zur Erklärung der Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung 2019 wurde in der Literatur u. a. die politische Kultur angeführt (Werz/Gratius 2017: 158 ff.). Ältere essayistische Interpretationen verweisen auf eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkennbare Tendenz eines „Alles oder nichts“ und auf die beiden Spanien, die im Bürgerkrieg aufeinanderstießen. Die politische Kultur bleibe personenorientiert, nach wie vor dominieren persönliche Bekanntschaften und Absprachen. Transparenz spielte bis zum Ausbruch der Krise 2008 keine große Rolle. Darüber hinaus bestehen Regionalkulturen und die identitären Entwürfe der peripheren Nationalismen; seit Jahren vertritt ein Teil der Katalanen einen victimismo, d. h. eine Opferrolle, die viele Spanier nicht teilen. Empirische Untersuchungen zeigen seit den 1960er Jahren einen rasanten Wertewandel und eine Hinwendung zu einer modernen Gesellschaft, was auch in dem von Regierungsseite entworfenen Bild einer Marca España zum Ausdruck kommt. Im World Value Survey 2015 sind die befragten Spanier überzeugte Anhänger der Demokratie: 90  % bekundeten ihre Präferenz für ein demokratisches System. Hingegen bleibt die Bereitschaft zur Mitgliedschaft in Vereinigungen und zur Mitarbeit in Parteien vergleichsweise schwach ausgeprägt. Unter einer modernen Außendarstellung verbergen sich also nach wie vor traditionelle Muster, die möglicherweise auch in

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dem Verhalten der nahezu gleichaltrigen Konkurrenten um das Amt des Regierungschefs zum Ausdruck kamen. Der im Zuge der Krisen der Globalisierung aufgetretene weltweite Trend, politische Gegner als Feinde anzusehen, zeigte sich auch in Spanien. Bei Podemos funktionierte dies in der linkspopulistischen Aufstiegsphase, als sie unter dem Eindruck der Finanzkrise von 2008 das „gute Volk“ und die „politische Kaste“ gegenüberstellten. Sie folgten dabei einer von den Theoretikern Ernesto Laclau und Chantal Mouffe propagierten linken Auslegung von Carl Schmitt. Die lateinamerikanischen Erfahrungen der Regierungsübernahme linkspopulistischer Präsidenten Anfang des 21. Jahrhunderts spielten dabei eine Rolle, mehrere aus der mittlerweile auseinandergefallenen Podemos-Führungsriege waren dort als Berater tätig (dazu freimütig Errejón 2021). Mit dem Einzug von Vox in den Kongress 2019 sind dort nun ebenfalls Rechtspopulisten präsent, die einen gesamtspanischen Nationalismus vertreten und die Monarchie hochleben lassen, die indessen nur von einem Teil der Linken bzw. den Separatisten in Frage gestellt wird. Auch wenn Podemos und Vox auf der regionalen Ebene jeweils mit Parteien des linken bzw. rechten Lagers zusammenarbeiten, beruht ihr Erfolg bei nationalen Wahlen doch auf einem antagonistischen Prinzip. Mit dem 2021 erfolgten Rückzug von Iglesias aus der Politik hat Unidas Podemos-IU, die nun von Frauen geführt werden, gemäßigtere Positionen eingenommen. Gegen die Polarisierung wandte sich die 2019 gewählte Parlamentspräsidentin Meritxell Batet vom PSOE bei ihrer ersten Ansprache: „Jeder von uns kommt aus dem Volk, aber keiner ist das Volk.“ Allerdings halten sich bislang selbst die Spitzenpolitiker der Parteien des Verfassungsbogens, d. h. PSOE und PP, nicht immer daran. Ein Druck in diese Richtung geht eher von ehemaligen Regierungschefs wie Felipe González und Mariano Rajoy, Teilen der Presse, der Unternehmerschaft und von der EU aus. Rajoy plädiert in seinen Erinnerungen mit dem Titel „Politik für Erwachsene“ (2021) für eine Konsenspolitik und warnt vor einem (Links-) Populismus. Die Zustimmung zu Europa in Spanien bleibt hoch, alle Parteien bekennen sich zu Europa. Deshalb verweisen Kommentatoren zuweilen darauf, dass die Bevölkerung weiter sei als die Politiker. Innerhalb der Parteien lässt sich beobachten, dass interne Differenzen selten ­konstruktiv ausdiskutiert werden, sondern zu Austritten oder eigenen Kandidaturen führen. Dies führt zur Fragmentierung des Parteiensystems und einer

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g­eringen programmatischen Flexibilität. Verhandlungen zwischen den Parteien werden dadurch nicht einfacher. Ein weiteres Merkmal kommt hinzu: Die Parteien wechselten in den vergangenen fünf Jahren zügig ihre Führungskräfte. Muss ein Parteiführer bzw. Spitzenpolitiker gehen, rücken in der Regel seine engsten Vertrauten zumindest in das zweite Glied oder verlassen erst einmal die Politik, wobei sich das vergleichsweise niedrige Durchschnittsalter der Politiker als hilfreich erweist. Manchmal erklären sie gar ihre politischen Karrieren für beendet, wie die ehemalige Vize-Ministerpräsidentin Sáenz de Santamaría, die im Kampf um die Rajoy-Nachfolge an der Spitze des PP Casado unterlag. Damit ist die Fluktuation der tonangebenden Personen hoch, die Erfahrung mit institutionellen und parlamentarischen Verfahren hingegen kurz. Ein Hindernis, das die Regierungsbildung erschwert, ist die institutionelle Architektur, die zwar im Falle der Zweiparteienherrschaft (bipartidismo) funktionierte, aber mit dem Fünfparteiensystem an ihre Grenzen geriet. Genannt wird u. a. die Dominanz des Ministerpräsidenten, die semi-präsidentialistische Züge annimmt und dadurch mit der Logik einer Koalitionsregierung kollidiert. Dabei erwies sich die Häufigkeit, mit der in Spanien zuletzt Neuwahlen stattfanden, als kontraproduktiv. König Felipe VI. hat in seiner überschaubaren Amtszeit schon fast so viele Gespräche zur Regierungsbildung geführt, wie sein Vater in 30 Jahren. In anderen parlamentarischen Systemen – wie in der Bundesrepublik nach der Bundestagswahl 2017 – bestehen höhere Hürden für bzw. Gegenkräfte gegen eine schnelle Wiederholung von Wahlen. In Spanien haben der König oder andere Verfassungsorgane keinen vergleichbaren Einfluss entwickeln können oder wollen. Die erste Koalitionsregierung der spanischen Demokratie unter Sánchez steht vor beträchtlichen Herausforderungen. Aufgrund der Blockade und der fehlenden Mehrheiten entstand ein erheblicher Reformstau in verschiedenen Bereichen, der erst langsam aufgelöst werden kann. Zudem ist der PSOE in einzelnen Punkten auf die Zustimmung des PP als Verfassungspartei angewiesen. Die spanische Politik steht mit dem Katalonien-Konflikt insgesamt vor einer weiteren Prüfung. Sánchez hat bei seiner Amtsübernahme eine „Regierung des Dialogs“ angekündigt und versucht diesen mit Blick auf Katalonien auch zu führen. Neben dem Widerstand der Separatisten muss er mit dem lautstarken Protest von PP und Vox rechnen.

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Unklar bleibt, wohin der künftige Kurs des PP geht. Casado hatte eine Kooperation mit Sánchez meist abgelehnt; immerhin konnten sich die beiden Traditionsparteien 2021 auf die Besetzung wichtiger Stellen im Justizwesen verständigen, die seit 2017 ausstand. Nachdem sich Casado 2020 bei einem Misstrauensantrag von Vox gegen Sánchez klar von den Rechtspopulisten absetzte und einen Kurs in der politischen Mitte anpeilte, rückte er in der Katalonien-Frage und bei der Frage der Einheit Spaniens wieder in die Nähe von Ultrarechten. Innerparteilich erwuchs ihm Konkurrenz von dem „Phänomen Ayuso“, d. h. Isabel Díaz Ayuso (geb. 1978), der Präsidentin der Autonomen Gemeinschaft Madrid, die bei den vorgezogenen Regionalwahlen 2021 mit ihrer Öffnungspolitik in der Coronapandemie zur Heldin der Gastronomie, der Feierfreunde und vieler Bürger avancierte. Ihr letztlich gegen die nationale Regierung gerichteter Slogan lautete: „Freiheit oder Kommunismus“. Nach ihrem klaren Wahlsieg werden der Politikerin, die dem Aznar-Flügel im PP nahesteht und eine Zusammenarbeit mit Vox keineswegs ausschließt, weitergehende Ambitionen nachgesagt. Anlässlich der Wahl in Madrid hatte der damalige Podemos-Vorsitzende Iglesias in einer seiner spektakulären Aktionen sein Amt als stellvertretender spanischer Regierungschef niedergelegt und sich unter der Parole „Demokratie oder Faschismus“ zum Anführer einer linken Allianz gegen Ayuso proklamiert. Er scheiterte u. a. daran, dass die Spitzenkandidatin der regionalen Linkspartei Más Madrid dies als männliche Bevormundung ansah. Schließlich lagen Iglesias und Podemos-IU mit etwas über 7  % an letzter Stelle der im Regionalparlament vertretenen Parteien, während Más Madrid mit fast 17 % den zweiten Platz erreichte, knapp vor dem in der Hauptstadt geschwächten und dort im Wahlkampf widersprüchlich auftretenden PSOE. Kurz nach der Bekanntgabe des schwachen Wahlergebnisses für Podemos-IU verkündete Iglesias seinen Rückzug aus der Politik. Bald erschien in der Presse ein Bild von ihm, wo man ihn nicht mehr mit seinem legendären Zopf (deshalb: el coletas), sondern mit kürzeren Haaren sah. Er wolle seine Tätigkeit an der Universität und als Publizist wieder aufnehmen. In einem autobiographischen Rückblick beklagte er die escraches, d. h. die Proteste vor seinem Wohnhaus (Iglesias 2022); in der Vergangenheit hatte Podemos diese Protestform gegen einzelne Politiker propagiert. Wie bei Rivera, dem vormaligen Spitzenmann von Ciudadanos, war der Ausflug in die Politik eher eine Zwischenphase. Bei beiden kann vermutet werden, dass der harte politische Alltag und die Arbeit im Kongress mit ihren Vorstellungen von einem

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schnellen Weg an die Spitze kollidierten. Anfang 2022 trat auch Pablo Casado aufgrund mangelnden Rückhaltes in der PP als Parteivorsitzender und Abgeordneter zurück. Sein Nachfolger Alberto Núñez Feijóo, erfolgreicher galicischer Regionalpräsident, tritt gemäßigter auf und hat eine Kooperation mit Sánchez in Aussicht gestellt, was im besten Fall zu einer gewissen Beruhigung der im Kongress und Senat überaus hitzig geführten Debatten beitragen könnte. Wie wird sich die Politik in Zukunft gestalten? Zwischenzeitlich sprachen sich bis zu 70 % der Bevölkerung für eine Reform der Verfassung aus. Allerdings besteht kein Konsens darüber, was reformiert werden soll. Was die Gesellschaft anbelangt, hat es in den Bereichen der Frauenrechte und der gleichgeschlechtlichen Ehe weitgehende Veränderungen gegeben. Bei der Besetzung der Ministerposten mit Frauen zählen die Regierungen Zapatero und Sánchez weltweit zu den Vorreitern. Nun wird die Koalitionsregierung versuchen, auch bei den Sozialleistungen weitere Verbesserungen zu erreichen, wobei es beim Arbeitsrecht zu Spannungen zwischen PSOE und UP-IU und deren charismatischer Arbeitsministerin Yolanda Díaz kommt. Nach dem Rückzug von Iglesias und Casado aus der Politik besteht die Chance, dass sich der Ton im Parlament etwas normalisiert, auch wenn es bei den Oppositionsparteien Vox und phasenweise beim PP nur geringe Anzeichen dafür gibt. Sánchez unternimmt seinerseits den Versuch, sich mit einer starken Medienpräsenz und einer häufig bekundeten Gesprächsbereitschaft als Mitte-links-Regierungschef zu profilieren. In der Katalonien-Frage setzt er auf Verzögerung, wohl in der Hoffnung, dass die Separatisten langsam an Zuspruch verlieren. 2021 gelang ihm bei einem PSOE-Parteitag die Versöhnung mit Kritikern aus der Partei wie Felipe González. Bei seinen Auftritten setzt er enorme Hoffnungen in die von der EU zur Bewältigung der Pandemie ausgezahlten Gelder, die sich insgesamt auf 140 Milliarden Euro belaufen sollen. Diese Finanzspritze soll quasi zu einem Neustart führen und einen nachhaltigen Aufschwung einleiten. Diesen Optimismus teilen nicht wenige Spanierinnen und Spanier. Immerhin hat das Land im 20. Jahrhundert stark von EU-Zuwendungen profitieren können. Die Regierung präsentiert sich dabei als Klimaschützerin und als Vertreterin eines Green New Deal. Mit einem präsidialen Auftreten als vermeintlicher Vertreter der Aspirationen aller Bürger möchte Sánchez den Separatisten in Katalonien und den Nationalisten im rechten Lager den Wind aus den Segeln nehmen. Gleichzeitig versucht er, die Position des PSOE innerhalb des

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l­inken ­Wählerlagers auszubauen. Die Aussichten dafür sind besser als 2015, nachdem die Aufstiegsphase von Podemos vorbei zu sein scheint. Im ­Mitte-rechts-Lager bleibt ungewiss, ob der PP ein weiteres Anwachsen von Vox bremsen kann. Dies könnte von der Entwicklung in Katalonien und dem Ausmaß der Migration über das Mittelmeer abhängen. Außenpolitisch dürfte Sánchez auf eine verstärkte Kooperation mit den Mittelmeeranrainern setzen. Literaturverzeichnis Bernecker, Walther L. (2010): Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert. München: Beck. — (2020): „¿Existe una urgente necesidad de reformar la Constitución española de 1978?“, in: Birgit Aschmann/Christian Waldhoff (Hgg.): Die Spanische Verfassung von 1978. Entstehung-Praxis-Krise? Münster: Aschendorff, 167-176. Bernecker, Walther L./Maihold, Günther (Hgg.) (2007): España: del consenso a la polarización. Cambios en la democracia española. Madrid/Frankfurt a. M.: Iberoamericana/ Vervuert. Colino, César/Cotarelo, Ramón (Hgg.) (2012): España en crisis. Balance de la segunda legislatura de Rodríguez Zapatero. Valencia: Tirant. Errejón, Íñigo (2021): Con todo. De los años veloces al futuro. Barcelona: Planeta. Field, Bonnie N. (Hg.) (2011): Spain’s ‘Second Transition’? The Socialist Government of José Luis Rodríguez Zapatero. New York: Routledge. Iglesias, Pablo (2022): Verdades a la cara. Recuerdos de los años salvajes. Barcelona: Navona. Juliá, Santos (2019): Demasiados retrocesos. España 1898-2018. Barcelona: Galaxia Gutenberg. Leguina, Joaquín (2021): Pedro Sánchez. Historia de una ambición. Barcelona: Espasa. Molina, Estefanía (2021): El berrinche político 2015-2020. Los años que sacudieron la democracia española. Barcelona: Planeta. Muro, Diego/Lago, Ignacio (Hgg.) (2020): The Oxford Handbook of Spanish Politics. Oxford: Oxford University Press. Nohlen, Dieter/Kölling, Mario (2020): Spanien. Wirtschaft-Gesellschaft-Politik. Wiesbaden: Springer. Pérez Medina, Alfonso (2021): No lo sé, no recuerdo, no me consta. Crónica de la corrupción en la España democrática. Barcelona: Arpa. Pfeiffer, Christian/Werz, Nikolaus (2015): „Spanien vor den nationalen Wahlen 2015 – Eine erste Analyse der Regional- und Kommunalwahlen“, in: Rostocker Informationen zu Politik und Verwaltung, 34, Rostock: Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften. (13-05-2022). — (2020): „Die spanischen Parlamentswahlen vom 28. April und 10. November 2019 und die politische Blockade“, in: ZParl 51, 1, 139-165.

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Preston, Paul (2020): A People Betrayed. A History of Corruption, Political Incompetence and Social Division in Modern Spain. London: Collins. Quintans, Rebeca (2016): Juan Carlos I. La biografía sin silencios. Madrid: Akal. Rajoy, Mariano (2021): Política para adultos. Barcelona: Plaza & Janés. Rama, José et al. (2021): Vox. The Rise of the Spanish Populist Radical Right. London: Routledge. Sánchez, Pedro (2019): Manual de resistencia. Barcelona: Península. Urquizu, Ignacio (2021): Otra política es posible. Barcelona: Penguin. Vallespín, Fernando (2015): „Estudio introductorio: La corrupción en la democracia española“, in: Javier Pradera (Hg.): Corrupción y política. Los costes de la democracia. Barcelona: Galaxia Gutenberg, I-XXVIII. Werz, Nikolaus/Gratius, Susanne (2017): Spanien. Schwalbach/Ts.: Wochenschau. Wieland, Leo (2014): „Korruption in Spanien“, in: FAZ (Leitartikel), 21. Oktober 2014.

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Wandel und Kontinuität in der Europaund Außenpolitik Spaniens Susanne Gratius/Marie Brockmann Abstract Seit dem EU-Beitritt 1986 steht Europa im Mittelpunkt der spanischen Außenpolitik, die in den letzten Jahrzehnten vielfältiger und globaler geworden ist. Als Mitgliedsstaat der NATO, der OECD und der Vereinten Nationen übernimmt Spanien auch internationale Verantwortung und beteiligt sich an internationalen Friedensmissionen. Durch seine Grenze zu Nordafrika und die noch immer engen Beziehungen zu Lateinamerika hat Spanien in Europa strategisches Gewicht sowie Präsenz und Einfluss in der EU-Außenpolitik.  Einleitung

Spanien ist eine demokratische Mittelmacht in Europa mit einer globalen Außenpolitik und Sonderbeziehungen zu Lateinamerika und Nordafrika. Geographisch und geopolitisch gesehen befindet sich das Land zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik sowie den drei Kontinenten Europa, Afrika und Amerika. Diese strategisch bedeutende Lage nutzt Spanien derzeit für die Eigenprofilierung als Knotenpunkt, Netzwerk oder, auf Spanisch, país nodal (Morillas 2020), ein Konzept, das die ehemalige Außenministerin Arancha González Laya erstmals in einer Rede vor dem Kongress aufgriff und das auch in den außenpolitischen Plan 2021-2024 aufgenommen wurde (MAEC 2021). Demgegenüber ist die extreme Abhängigkeit Spaniens von externen Energiequellen, die über 70 % des nationalen Verbrauchs abdecken, im internationalen Vergleich ein deutlicher strategischer Nachteil, der Abhängigkeiten von politisch wenig stabilen Staaten wie Algerien, Marokko oder Nigeria schafft. Eine öffentliche Verschuldung von mehr als 125  % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowie eine Inflationsrate von über 5 % im Jahr 2021 stellen eine weitere Bürde dar, die Spaniens europäisches und internationales Gewicht verringert.

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Die Mitgliedschaften in internationalen Bündnissen und Organisationen unterstreichen, zusammen mit der Rolle Spaniens als elftgrößter Beitragszahler der Vereinten Nationen und fünfmaliges nichtständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates, die Westbindung und die multilaterale Ausrichtung der Außenpolitik seit der Demokratisierung 1975 nach dem Tod von Diktator Francisco Franco. Die über Europa hinausgehende internationale Präsenz des Landes erklärt sich durch die Verbreitung der spanischen Sprache, unter anderem in den einstigen Kolonien in Lateinamerika, Äquatorialguinea und den Philippinen sowie in der von Spanien gegründeten Iberoamerikanischen Staatengemeinschaft (Gratius 2021 und 2017). Bis heute betreibt Spanien in Nordafrika und Lateinamerika eine weitgehend autonome Außenpolitik, die einen Mittelweg zwischen europäischen Werten und nationalen Belangen sucht (Gratius 2017). Die einstige Welt- und Kolonialmacht Spanien konzentriert ihre Außenbeziehungen seit der Demokratisierung vor allem auf Europa und hat den Status einer regionalen Mittelmacht mit Einfluss in Lateinamerika und eher konfliktiven Beziehungen zu seinen nordafrikanischen Nachbarstaaten. Die spanische Außenpolitik hat sich seit der Transition stetig „europäisiert“, und heute bestimmt die EU weitgehend die Außendarstellung und die internationalen Beziehungen des Landes. Sowohl die thematische als auch die geographische Ausrichtung der Außenpolitik haben dadurch einen grundlegenden Wandel erfahren: Einerseits spielen Werte, Normen und Prinzipien eine größere Rolle, andererseits sind traditionelle Regionen der spanischen Außenpolitik stärker in den Hintergrund gerückt, wohingegen die spanischen Beziehungen zu Asien, Russland oder Indien die Folge der steten Europäisierung der nun globalen Außenpolitik sind. Thematische Schwerpunkte bilden die auf die europäischen Nachbarstaaten konzentrierten Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die Sicherheits-, Migrations- und Energiepolitik gegenüber den nordafrikanischen Nachbarstaaten (Algerien und Marokko) sowie die politisch-kulturelle Ausrichtung auf Lateinamerika und der Ausbau der wirtschaftlichen und politischen Interdependenzen mit China, anderen asiatischen Staaten und Russland. Ebenso wie andere EU-Mitgliedsstaaten, die keine ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind, verfügt Spanien als traditionelle Kulturmacht mit einer Dienstleistungswirtschaft (Tourismus) über ein internationales branding.

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Grundzüge der spanischen Außenpolitik

Spanien bildet die Südgrenze der EU zu Afrika und hat lediglich drei europäische Nachbarstaaten: Andorra und Frankreich im Norden und Portugal im Westen. Während die spanisch-französischen Beziehungen durch Zusammenarbeit und Rivalität geprägt sind, gehören Andorra und Portugal der von Spanien angeführten Iberoamerikanischen Staatengemeinschaft an, auch wenn weder dieses Forum noch der gemeinsame EU-Beitritt 1986 Spanien und Portugal wesentlich nähergebracht hätten. Beispielsweise gibt es bis heute kaum gemeinsame Infrastrukturprojekte, und es besteht keine reguläre Zugverbindung zwischen den Hauptstädten Madrid und Lissabon. Die Einbindung Spaniens in die Europäische Gemeinschaft bzw. Union, die seit Ende der 1970er Jahre im Mittelpunkt der Außenpolitik steht, hat sowohl die Identität des Landes als auch seine Beziehungen zum Rest der Welt grundlegend verändert. So ist die heutige Außenpolitik Spaniens vor allem Europapolitik. Dem EG-Beitritt Spaniens ging die Einbindung in die NATO 1981 voraus, die 1986 per Volksabstimmung unter der Regierung von Felipe González bestätigt wurde. Im selben Jahr wurde Spanien nach mehrjährigen Verhandlungen Mitglied der einstigen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und war bis vor kurzem ein Nettoempfänger, der vor allem von den mit EG- bzw. EU-Geldern finanzierten Infrastrukturprojekten profitierte, aber in der Landwirtschaft und der heimischen Industrie vor allem in den 1980er Jahren erhebliche Verluste erlitt. Diese gingen einerseits auf notwendige strukturelle Anpassungsprozesse angesichts einer nicht konkurrenzfähigen Industrie und andererseits auf Vorgaben der EG hinsichtlich der landwirtschaftlichen Produktion zurück. Der Beitritt Spaniens in die heutige Europäische Union (EU) im Jahr 1986 verschob die geographischen und inhaltlichen Prioritäten einer Außenpolitik, die sich zuvor vor allem auf Lateinamerika und Nordafrika reduziert hatte. Spätestens seit der Schaffung der Eurozone 2002 stehen die EU und die Beziehungen zu ihren Mitgliedstaaten im Zentrum einer vordergründig europäischen Außenpolitik, die teilweise kaum noch von der Innenpolitik zu unterscheiden ist, beispielsweise in der Migrations-, Umwelt- oder Energiepolitik. Vor allem Lateinamerika trat im Zuge der „Europäisierung“ der spanischen Außenpolitik und der neuen Identität des Landes in den Hintergrund. Die Politik gegenüber den einstigen

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­ olonien reduziert sich hauptsächlich auf begrenzte Wirtschaftsinteressen K und rhetorische Floskeln oder gelegentliche Dispute über die historische Nähe zwischen den „iberoamerikanischen“ Ländern. Hinzu kamen Auseinandersetzungen mit Marokko im Zusammenhang mit dem annektierten ehemaligen spanischen Kolonialgebiet West-Sahara. Die Mitgliedschaft in der EG/EU hat nicht nur die spanische Außenpolitik, sondern auch die Eigenwahrnehmung und die Identität des Landes verändert. Trotz der Nähe zu Afrika versteht sich Spanien heute als eine europäische Mittelmacht, die seit dem Austritt Großritanniens aus der EU in Brüssel an Bedeutung gewonnen hat und zusammen mit Italien und anderen Mittelmeerstaaten ein gewisses Gegengewicht zum deutsch-französischen Tandem bildet. Spanien stellte zweimal den Hohen Vertreter der Außen- und Sicherheitspolitik der EU: 1999 bis 2009 hatte dieses Amt der vormalige NATO-Generalsekretär und spanische Außenminister Javier Solana inne, und seit 2019 Josep Borrell, zuvor Außenminister in der ersten Regierung (2018) von Pedro Sánchez (PSOE). Spanien verfügt vor allem über soft power durch die Verbreitung der spanischen Sprache in Lateinamerika, Äquatorialguinea oder den Philippinen, durch den internationalen Tourismus, den Einfluss in Lateinamerika und Nordafrika sowie das Engagement in internationalen Organisationen. Spaniens hard power in Form von militärischer Stärke oder Sanktionen ist gering. Durch seine duale Identität als europäischer und iberoamerikanischer Staat hat Spanien traditionell eher Vorbehalte gegenüber Sanktionen oder die Anwendung von Demokratieklauseln.1 Das Militärbudget hat sich seit der Aufnahme in die EG stetig verringert: betrug es 1988 noch 2,4 % des Gesamthaushalts, so sank der Anteil 2019 auf 1,2 % und stieg im Folgejahr leicht auf 1,4 %.2 Trotz des geringen ­Verteidigungsbudgets nahm Spanien 2021 an insgesamt 21 internationalen Friedensmissionen teil (u. a. zehn der EU, zwei der Vereinten Nationen und sechs der NATO). Die wichtigsten Instrumente der Außenpolitik sind Kulturpolitik einschließlich des auf allen Kontinenten vertretenen spanischen Kulturinstituts Cervantes, Handel und Investitionen, Wahlbeobachtung sowie Entwicklungspolitik, die allerdings nach der Finanzkrise 2008 so drastisch 1 2

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So sind alle lateinamerikanischen Staaten, unabhängig von ihren jeweiligen politischen Regimen, Mitglieder der Iberoamerikanischen Gipfeltreffen, die alle zwei Jahre unter spanischer Führung stattfinden. SIPRI Military Expenditure Database: (0511-2021).

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gekürzt wurde, dass Spanien heute nicht mehr zu den zehn größten Geberländern der OECD zählt. Im Vergleich mit den großen Wirtschaftsmächten bewegt sich Spanien im Mittelfeld: Im Jahre 2020 belegte das Land Rang 14 unter den bedeutendsten Ökonomien und den vierten Platz innerhalb der EU, nach Deutschland, Frankreich und Italien. Seit dem EU-Austritt Großbritanniens spielt Spanien zwar eine bedeutendere Rolle bei der gemeinsamen europäischen Entscheidungsfindung, das BIP und die Größe des Landes haben aber bislang keine proportionale Entsprechung auf institutioneller Ebene gefunden, da Spanien in Brüssel mit Ausnahme des Hohen Außenvertreters der EU, Josep Borrell, derzeit ansonsten eher unterrepräsentiert ist (Steinberg 2019). Die außenpolitischen Schwerpunkte der Regierungen seit der Demokratisierung

Während des Franco-Regimes war Spanien weitgehend isoliert, unterhielt aber gute Beziehungen zu lateinamerikanischen Ländern, nicht zuletzt mit denjenigen, in denen ebenfalls autoritäre Regime herrschten, einschließlich Kuba. Damals entstand die Idee von Spanien als Brücke zwischen Westeuropa einerseits und Lateinamerika, Afrika und der Arabischen Welt andererseits (Gunther/Montero 2009: 87). Die 1955 erfolgte Aufnahme in die Vereinten Nationen verbesserte den internationalen Status Spaniens zwar, das Land blieb aber in Europa weiterhin isoliert (Gratius 2017). Während der Franco-Diktatur wurde die Andersartigkeit Spaniens betont, die zu Beginn der Tourismuskampagne unter Minister Manuel Fraga in den 1960er Jahren im Slogan „Spain is different“ zum Ausdruck kam. Damals endete Europa an den Pyrenäen bzw., aus katalanischer Sicht, begann Europa an den Pyrenäen. Diese pessimistische Vision eines von Europa isolierten Spaniens wurde durch die autoritäre Herrschaft gefördert und diente dem Regimeerhalt. Der Übergang zur Demokratie ermöglichte nach 1975 erstmals die Integration Spaniens in ein gemeinsames Europa und beendete die Sonderstellung des Landes als einer der wenigen Diktaturen in der Region. Die Einbindung in Europa veränderte auch die Außenwahrnehmung des Landes und seine Beziehungen zu den USA und dem Rest der Welt. Spanien vollzog die Wende von einer Nachbarschafts- zu einer globalen

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Außenpolitik und übernahm mehr regionale und internationale Verantwortung in internationalen Organisationen. Neben den Vereinten Nationen ist das Land seit 1982 Mitglied der NATO (dies wurde in einer Volksabstimmung von 1986 bestätigt), der OECD, der OSZE sowie ständiges Gastland der G-20. Der damalige Regierungschef, der Vorsitzende der konservativen Volkspartei Partido Popular (PP), José María Aznar, befand eine Mitgliedschaft Spaniens zum damaligen Zeitpunkt, als die Gruppe im Rahmen der G-7 entstand, nicht für notwendig. Insgesamt wurde die spanische Außenpolitik seit der Demokratie vor allem vom PSOE (Partido Socialista Obrero Español) geprägt, der länger an der Regierung war als der PP (Gratius 2017). Tabelle 1: Spanische Außenminister seit der Demokratisierung (1976-2022) Zeitraum 1976-1981 1981-1982

Regierung Adolfo Suárez Leopoldo Calvo-Sotelo

Außenminister Marcelino Oreja José Pedro Pérez Llorca Fernando Morán (1982-1985), Francisco Fernández Ordóñez (19851982-1996 Felipe González 1992), Javier Solana (1992-1995), Carlos Westendorp (1995-1996) Abel Matutes (1996-2000), Josep 1996-2004 José María Aznar Piqué (2000-2002), Ana Palacio (2002-2004) José Luis Rodríguez Ángel Moratinos (2004-2010) 2004-2011 Zapatero Trinidad Jiménez (2011) José María García-Margallo (20112011-2018 Mariano Rajoy 2016), Alfonso María Dastis (2016(Misstrauensvotum) 2018) Josep Borrell (2018-2019), Margarita Pedro Sánchez Robles (2019-2020) Arancha González 2018(Koalition mit Podemos) Laya (2020-2021), José Manuel Albares (2021-) Quelle: eigene Darstellung.

In dieser langen Phase der Transition und anschließenden Konsolidierung der Demokratie lässt sich die Außenpolitik in drei Etappen und sechs Regierungen (drei konservative und drei sozialdemokratische) einteilen:

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Erstens, eine multilaterale, sozialdemokratische und europäische Außenpolitik der Regierungen von Adolfo Suárez und Felipe González, die im Wesentlichen auch von José Luis Rodríguez Zapatero und Pedro Sánchez mit jeweils eigenen politischen Akzenten fortgesetzt wurde, im Rahmen einer liberalen Politik des europäischen Konsenses. Felipe González prägte die spanische Außenpolitik in seiner 14-jährigen Amtsperiode (1982-1996) durch den Eintritt in die Europäischen Gemeinschaften und den Verbleib in der NATO. Außerdem verhalfen die Weltausstellung in Sevilla und die Olympischen Spiele in Barcelona im Jahr 1992 Spanien zu einer größeren Sichtbarkeit in der Welt. Auch die Institutionalisierung der Beziehungen zu Lateinamerika durch die Gründung der Iberoamerikanischen Gipfeltreffen sowie die Gründung des Cervantes-Instituts im Jahr 1991 im Vorfeld des 500. Jahrestages der Entdeckung Amerikas waren wichtige außenpolitische Ereignisse unter seiner Regierung. Zweitens, eine kurze Periode des Atlantizismus unter dem konservativen Vertreter der Volkspartei PP, José María Aznar (1996-2004), der nach einer schwachen und von Korruptionsaffären geprägten letzten Amtszeit von Felipe González die Wahlen gewann. Der europäische Konsens endete mit dem Irak-Krieg, den Spanien an der Seite seiner neuen Alliierten Großbritannien und USA aktiv unterstützte. Die Irak-Frage spaltete Europa zeitweilig, und Aznar ersetzte die traditionelle Europapolitik seiner Vorgänger durch eine atlantizistische, auf die USA und Großbritannien ausgerichtete Außenstrategie. Dies spiegelte sich auch in der Kubapolitik wider, als José María Aznar 1996 den diplomatischen Druck auf die Castro-Regierung verschärfte und den gemeinsamen Standpunkt der EU gegenüber Kuba durchsetzte, der zwanzig Jahre lang die europäisch-kubanischen Beziehungen bestimmen sollte und erst 2016 durch ein bilaterales Abkommen ersetzt wurde (Ayuso/Gratius 2017). Seine umstrittene Außenpolitik war u. a für seine Wahlniederlage 2004 verantwortlich, da die Mehrheit der spanischen Bevölkerung eine Beteiligung am Irak-Krieg und den von den USA angeführten „Krieg gegen den Terrorismus“ ablehnte. Drittens, eine von der Finanzkrise bestimmte Außenpolitik. Die sozialdemokratische Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero setzte durch die Ernennung des Nahost-Experten Miguel Ángel Moratinos den außenpolitischen Schwerpunkt auf die arabischen Nachbarstaaten, die erstmals neben Europa im Zentrum der spanischen Außenpolitik standen. Die

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UN-„Allianz der Zivilisationen“ (des Dialogs zwischen westlichen und arabischen Staaten), die seit 2019 Miguel Ángel Moratinos leitet, war die wohl bedeutendste internationale Initiative der Regierung von Rodríguez Zapatero, der im Vergleich zu seinen PSOE-Vorgängern eine zwar ebenfalls auf Europa gerichtete, insgesamt aber globalere, multilaterale Außenpolitik bevorzugte. Am Ende seiner vorzeitig beendeten Amtszeit stand die Finanzkrise (2008-2011), die Rodríguez Zapatero zunächst ignorierte und der eine lange Phase der Sparpolitik, auch unter der konservativen PP-Regierung von Mariano Rajoy folgte, die Spaniens Rolle in der Welt und in Europa verringerte. Die Außenpolitik des konservativen Mariano Rajoy (PP) wurde seit 2011 im Wesentlichen vom Protagonismus seines ersten Außenministers, des ehemaligen Europaabgeordneten José María García-Margallo sowie von den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise infolge der Immobilienkrise geprägt. Drastische Einsparungen im Budget der Entwicklungsund Außenpolitik von etwa 80  % (Gratius 2017) reduzierten Spaniens Rolle in der OECD, und im Ranking der Geberländer fiel das Land von Rang 6 auf die Position 16 zurück. Die Sparpolitik traf vor allem Lateinamerika als bedeutendsten Empfänger der spanischen Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Gleichzeitig rückte die EU in den Mittelpunkt der Außenbeziehungen, die im übrigen nur wenig Spielraum für die spanische Profilierung in der Welt ließen. So setzte Mariano Rajoy die atlantische Außenpolitik seines Parteigenosssen José María Aznar nicht fort, sondern konzentrierte sich im Zuge der Finanz- und nachfolgenden Flüchtlingskrise 2014 fast ausschließlich auf Europa. Gleichzeitig bemühte sich die konservative Regierung, das Bild des Landes im Ausland zu verbessern. Eine wichtige Maßnahme war hierbei die Einrichtung des ressortübergreifenden Programms Marca España, das Spanien als moderne Export- und Wirtschaftsnation fördern sollte. Die Krise der spanischen Demokratie nach 2008 hatte einerseits eine Erweiterung des Parteiensystems nach den Protesten des 15. Mai 2011 und der späteren Gründung von Podemos, andererseits den territorialen Konflikt mit Katalonien und die Gründung von Ciudadanos zur Folge, so dass sich Spanien in dieser Phase der Sparpolitik im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigte und außerhalb Europas keine deutlichen außenpolitischen Akzente setzte. Die politische und wirtschaftliche Krise beeinträchtigte das Außenbild des Landes und führte zur ersten Koalitionsregierung (PSOE und Podemos) in der jüngeren Geschichte des Landes (vgl. Molina 2015: 11 ff.).

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Durch das Misstrauensvotum gegen Mariano Rajoy Ende Mai 2018 wurde Pedro Sánchez (PSOE) spanischer Ministerpräsident. Durch den Regierungswechsel von Rajoy zu Sánchez und seinem Koalitionspartner Podemos veränderten sich dementsprechend auch die Ziele und Schwerpunkte der Außenbeziehungen, die zunächst vom innenpolitischen Stillstand der elfmonatigen Übergangsregierung geprägt waren. Nach dem Wahlsieg von Pedro Sánchez am 10. November 2019 wurde ein Pakt zwischen PSOE und Unidas Podemos ausgehandelt, der es Sánchez zusammen mit der Unterstützung kleinerer Parteien ermöglichte, am 7. Januar 2020 erneut das Vertrauen des Kongresses zu gewinnen. Seine Amtszeit wurde von vier Elementen geprägt: erstens stand er erstmals einer linken Koalitionsregierung vor; zweitens verfügte die Regierung über keine absolute Mehrheit und war auf den Kompromiss mit problematischen Verbündeten wie Podemos oder den katalanischen Nationalisten der ERC angewiesen; drittens stand die Regierung in der ständigen Kritik der teilweise aggressiv auftretenden Oppositionsparteien (PP, Vox und Ciudadanos); und viertens stand die Pandemie seit März 2020 im Zentrum der Innen- und Außenpolitik mit Schwerpunkt auf Europa. Ständige Wechsel im Außenamt führten zu unterschiedlichen Prioritäten und zeitweiligen Konflikten im Kabinett. In nur drei Jahren (2018-2021) hatte Spanien vier Außenminister: der Hohe Vertreter der Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Josep Borrell, die spätere Verteidigungsministerin Margarita Robles, die Handelsexpertin Arancha González Laya und der Berufsdiplomat José Manuel Albares, der am 10. Juli 2021 ernannt wurde. Ursache der vierten Neubesetzung des Außenamtes war ein bilateraler Konflikt mit Marokko, nachdem die Außenministerin González Laya entschieden hatte, den Führer der Befreiungsbewegung Polisario für die Westsahara, Brahim Ghali, in einem Krankenhaus wegen Covid-19 behandeln zu lassen. Daraufhin reagierte Marokko, das den Unabhängigkeitsanspruch der Polisario über das Gebiet der Westsahara nicht anerkennt, im Sommer 2021 mit der Öffnung der Grenzen zu den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Der erneute Grenzkonflikt belastete die bilateralen Beziehungen, die Ministerin trat zurück und musste sich sogar vor Gericht für die Entscheidung rechtfertigen, den Polisario-Führer aus humanitären Gründen in Spanien aufgenommen zu haben. Die jeweiligen Minister setzten wichtige institutionelle Reformen in der Außenpolitik durch. Eine größere Umstrukturierung war die Herausnahme des von Mariano Rajoy geschaffenen Programmes Marca España

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aus dem Organisationsplan des Außenministeriums und seine 2018 unter Josep Borrell erfolgte Integration in das Staatssekretariat España global. Im selben Jahr entstanden auch drei Strategiepapiere: zu Spaniens Rolle in der Welt, zu den Beziehungen mit Lateinamerika und zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Minister Albares entschied, das aufgelöste Staatssekretariat für Iberoamerika und die Karibik wiederherzustellen und eine Generaldirektion für „Spanisch in der Welt“ hinzuzufügen. Mit Blick auf die spanische EU-Präsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2023 wurde auch das Generalsekretariat für die EU wieder eingerichtet. Graphik 1: Organigramm des spanischen Außenministeriums (November 2021)

Quelle: eigene Darstellung, Webseite des spanischen Außenministeriums (November 2021).

In seiner zweiten Legislaturperiode setzte die Regierung Sánchez vier inhaltliche außenpolitische Schwerpunkte: mehr europäische Integration, ein besseres multilaterales System, solidarischer Kompromiss und strategischer Bilateralismus (MAEC 2021: 34 f.). Diese vier Achsen der Außenpolitik Sánchez’ spiegeln die proeuropäische Haltung des PSOE wider, das Bild einer liberalen Weltordnung der Zusammenarbeit innerhalb der Internationalen Organisationen und die Stärkung der strategischen Partnerschaften, vor allem mit den lateinamerikanischen Ländern, die bislang lediglich Teil der Iberoamerika-Politik Spaniens waren. Darüber hinaus will Spanien mehr internationale Verantwortung übernehmen, u. a. mit Blick auf die entwicklungspolitische Agenda 2030, den Klimawandel sowie Genderfragen und Feminismus (MAEC 2021). Eine „feministische

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Außenpolitik“, in der Genderfragen ein horizontales Thema aller außenpolitischen Bereiche sein sollen, unterstreicht die linksideologische Ausrichtung der Koalitionsregierung unter Pedro Sánchez und geht auf die langjährige innenpolitische Debatte zu Feminismus und Genderidentitäten zurück, die zuvor keine Rolle in der Außenpolitik gespielt hatten. Unter Pedro Sánchez wurde 2021 das Budget für Außenpolitik um 17 % und 2022 um weitere 19,4 % erhöht, um den Etat von vor der Krise 2008 nach der drastischen Kürzung seitens der Regierung Rajoy allmählich wiederherzustellen (Molina 2021). Auch die Höhe der Entwicklungsgelder stieg im Vergleich zum Vorjahr 2020 von 2.891 auf 3.487 Millionen US-Dollar 2021, um mehr als 20 %.3 Damit stand Spanien auf Platz 12 der OECD-Geberstaaten und gab 0,25 % des Bruttonationalprodukts für Entwicklungshilfe aus. Bis 2023 will Spanien die 0,5 %-Zielmarke erreichen. Dennoch bleibt das Land auch mit diesem Budget weit hinter dem Etat für Außen- und Entwicklungspolitik von vor der Finanzkrise 2008 zurück (Gratius 2017). Prioritäten der Entwicklungszusammenarbeit richten sich nach den globalen Vorgaben der Agenda 20304, und geographisch sind die lateinamerikanischen Staaten der mittleren und oberen Einkommensstufe noch immer Hauptempfänger der spanischen EZ. Damit steht die spanische Politik im Widerspruch zur gesamteuropäischen Entwicklungspolitik, die die ärmsten Staaten in den Mittelpunkt stellt und kaum noch Hilfe an Länder der mittleren und oberen Einkomensgrenze, wie z. B. Brasilien oder Mexiko, vergibt. Insgesamt gesehen behält die außenpolitische Strategie unter Sánchez (MAEC 2020) die traditionellen geographischen Schwerpunkte bei: 1. Europa, 2. Lateinamerika, 3. Mittelmeerraum, 4. Transatlantik, 5. Asien und 6. Afrika. Spanien in der EU

Spaniens Integration in die Europäischen Gemeinschaften hat den Demokratisierungsprozess zweifellos beschleunigt und zur Modernisierung des Landes beigetragen. Der einstige spanische Außenminister und heutige 3 4

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Siehe (05-11-2021). Sieben Schwerpunkte stehen im Mittelpunkt der spanischen EZ: 1. Null Hunger, 2. Gesundheit, 3. Bildungsqualität, 4. Geschlechtergleichheit, 5. Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen, 6. Arbeit und Wirtschaftswachstum, 7. Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen (Donor Tracker, Spain).

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Hohe Vertreter der EU-Außenpolitik Josep Borrell umschreibt dies folgendermaßen: „Die Europäische Union verankerte unser Land definitiv in einer demokratischen politischen Option und in einer multilateralen Weltsicht“, und „heute ist es unmöglich, die spanische von der europäischen Idee zu trennen“ (Borrell 2018). Spanien profitierte politisch, sozial, wirtschaftlich und international von der Mitgliedschaft in der EU, musste bei den Beitrittsverhandlungen aber auch herbe Verluste in den Bereichen der Industrie, Fischerei und Landwirtschaft hinnehmen, in denen das Land nur bedingt konkurrenzfähig war oder Produktionsbeschränkungen akzeptieren musste. Demgegenüber trugen die zu einem Großteil von Brüssel finanzierte Infrastruktur, der Aufbau eines Sozialstaates sowie die fortschreitende Demokratisierung zur Modernisierung und gleichzeitigen Europäisierung des Landes bei (Gratius 2017). Die Aufnahme in die EG veränderte die spanische Wirtschaftsstruktur von einem Industriestaat zu einer Dienstleistungsökonomie, die seither vor allem auf der Immobilienbranche, dem Gastgewerbe und der Tourismusindustrie basiert (Rodríguez Martín 2012: 90 ff.). Bis zur EU-Osterweiterung war Spanien noch ein Nettoempfänger innerhalb der Union und erhielt Mittel aus dem europäischen Kohäsionsfonds. Auch war das Land nach Italien der zweitgrößte Empfänger der Kompensationszahlungen des EU-Fonds Next Generation zur sozialen Abfederung der wirtschaftlichen Kosten der Covid-19-Pandemie. Erst 1986 war Spanien EG-Mitglied geworden und zeigte sich alsbald als großer Anhänger der Europäischen Integration. Diese EuropaEuphorie wurde nur 2008, während der Finanzkrise, von der das Land stark betroffen wurde, zeitweilig durch die Austeritätspolitik Brüssels, für die man vorwiegend Deutschland und die Troika verantwortlich machte, gedämpft. Aktuelle Umfragen zeigen, dass 61 % der Bürger in Spanien der Meinung sind, der Pandemie-Fonds „helfe dem Land“ und sei positiv zu bewerten, und lediglich 12 % bewerten die EU negativ (European Parliament 2021). Spanien befürwortet eine stärkere europäische Integration und ist Teil „Kerneuropas“, der Gruppe der Länder, die sich an allen europäischen Iniativen, von der gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zum Schengen-Vertrag (der Reisefreiheit innerhalb der EU) und der Gemeinsamen Währungsunion beteiligen. Als (nach dem Brexit) viertbedeutendste europäische Wirtschaftsmacht übernahm Spanien immer wieder Schlüsselrollen in der EU: Das Land stellte zweimal den Hohen Vertreter der Außen- und ­Sicherheitspolitik

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der EU, der ehemalige Wirtschaftsminister des PP, Luis de Guindos, ist Mitglied des Aufsichtsrats der Europäischen Zentralbank; 1999 stelle Spanien den Präsidenten der Europäischen Kommission, den ehemaligen EUKommissar Manuel Marín. Hinzu kamen die Kommissare Abel Matutes (PP), Marcelino Oreja (PP), Loyola de Palacio (PP), Pedro Solbes (PSOE), Joaquín Almunia (PSOE) und Miguel Arias Cañete (PP). Außerdem hatten drei Spanier das Amt des Präsidenten des Europa-Parlamentes inne: Enrique Barón, José María Gil-Robles und Josep Borrell. Die Einbindung in Europa veränderte Spaniens Rolle in der Welt und seine Außenhandelsbeziehungen, die sich 2021 auf Frankreich, Deutschland und Italien konzentrierten. Das Land wickelt 61,5 % der gesamten Im- und Exporte mit EU-Mitgliedstaaten ab. Lateinamerika, vormals der bedeutendste Wirtschaftspartner des Landes, machte 2020 lediglich noch 6 % des gesamten spanischen Handels aus, ähnlich der Bedeutung Lateinamerikas in anderen europäischen Kernstaaaten wie Frankreich oder Italien. Sowohl die Investitionen als auch der Außenhandel und die Tourismusindustrie Spaniens konzentrieren sich auf die europäischen Staaten Frankreich, Deutschland, Italien, Portugal und Großbritannien. Zudem kamen (Stand 2017) 90 % der Direktinvestionen in Spanien aus EU-­ Mitgliedstaaten.5 Die Idee des downloading und uploading der Außenpolitik im Rahmen der EU-Mitgliedschaft (Börzel 2002) lässt sich am Beispiel Spaniens gut nachvollziehen: Das Land kopiert (downloading) die europäische Außenpolitik in Regionen oder gegenüber Ländern, die vormals keine außenpolitische Rolle spielten, wie Russland, Indien und teilweise die USA; und die EU übernimmt Teile der spanischen Außenpolitik (uploading) in Regionen wie Lateinamerika oder Nordafrika, den traditionellen Prioritäten Spaniens. Dies geschah vor allem in der Venezuela- und Kubapolitik, die jahrelang von Madrid nach Brüssel exportiert wurde. Madrid spielt wiederum kaum eine Rolle in der einzigen strategischen Partnerschaft der EU mit den USA. Die bilateralen Beziehungen beschränken sich auf die die amerikanische Militärbasis in Rota betreffenden Angelegenheiten sowie sporadische und unverbindliche Staatsbesuche. Die Europäisierung der spanischen Außenbeziehungen infolge der gemeinsamen europäischen Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik 5 Siehe (05-11-2021).

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seit dem Maastricht-Vertrag 1992 vollzog sich langsam, aber stetig. Von Anfang an übernahm Spanien als eines der pro-europäischsten Länder des Kontinents außenpolitische Verantwortung innerhalb der EU und stellte sowohl den ersten Hohen Vertreter, Javier Solana, als auch den letzten, Josep Borrell, der nach der Vereidigung der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, ernannt wurde. Die Kompetenzen des Hohen Vertreters wurden in den letzten zwanzig Jahren ständig erweitert, und er musste die schwierige Aufgabe übernehmen, ein globales Europa der 27 Nationalstaaten zu vereinen und in der Welt zu repräsentieren. Spanien beteiligt sich aktiv an allen Initiativen der EU, vom Schengen-Abkommen über die Eurozone (der Spanien als Gründungsmitglied beitrat) bis zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. So wurde beispielsweise die Debatte zur strategischen Autonomie der EU vor allem von Spanien bzw. von Josep Borrell und dem regierungsnahen Think-Tank Real Instituto Elcano geprägt (Borrell 2020; Arteaga et al. 2021; Arteaga 2017). Spanien nimmt, zusammen mit Frankreich, hier eine Vorreiterstellung ein und drängt, unabhängig von der politischen Couleur der Regierungen, mit Blick auf die Grenzsicherung und eine gemeinsame Militärindustrie geradezu auf ein kollektives europäisches Sicherheits- und Verteidigungssystem, das von der spanischen Waffenlobby und den Streitkräften befürwortet wird. Der Beginn der Covid-19-Pandemie hat Spaniens Rolle in der EU verändert. Im ersten Halbjahr 2020 war das Land zusammen mit Italien am stärksten von der Gesundheitskrise betroffen: In nur wenigen Monaten stieg die Zahl der Covid-19-Todesfälle auf über 80.000; etwa 10 % der Bevölkerung infizierte sich mit dem Virus, und die Krankenhäuser kollabierten ebenso wie die Bestattungsunternehmen. Makabre Szenen, wie aufgestapelte Särge in Madrids Eispalast, wo normalerweise Schlittschuh gelaufen wird, und ein strenger, dreimonatiger Lockdown zeigten bis zum Sommer 2020 eine hochdramatische Lage. Das im Juni von der Europäischen Kommission beschlossene und von der Regierung Sánchez angeregte EU-Next Generation-Finanzpaket in einer Gesamthöhe von 850 Milliarden Euro kam nach Italien vor allem Spanien zugute, das 2021 die ersten Gelder erhielt, um die Rezession von -12,5 % 2020 sozial abzufedern, die öffentliche Verschuldung nicht noch weiter zu erhöhen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln (Molina 2021: 11 ff.). Spanien profitierte auch von der gemeinsamen europäischen Impfpolitik und war im Herbst 2021 der EU-Mitgliedsstaat mit der höchsten

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Impfquote gegen Covid-19: Etwa 90 % der Bevölkerung waren zu diesem Zeitpunkt vollständig geimpft. Alle überschüssigen Impfstoffe in Spanien gingen an Entwicklungsländer, vor allem nach Lateinamerika im Rahmen der Solidarität innerhalb der Iberoamerikanischen Staatengruppe (Molina 2021). Nach der, aus spanischer Sicht, erfolgreichen gemeinsamen Pandemiepolitik der EU wird Brüssel in Zukunft eine noch größere Rolle in der spanischen Politik spielen, wobei die Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik durch die geteilte Souveränität in vielen Politikfeldern noch weiter verwischen wird. Beziehungen und Grenzkonflikte mit Nordafrika

Durch die geographische Nähe zu Afrika nimmt Nordafrika und vor allem Marokko einen strategischen Platz in der spanischen Außenpolitik ein. Neben seinem wichtigsten Nachbarn Marokko unterhält Spanien seit mehr als 15 Jahren eine enge Zusammenarbeit im Bereich der Grenzsicherheit mit Algerien und Mauretanien, den Transit- und Herkunftsländern der Einwanderer aus Afrika. Algerien ist auch als wichtigster Gaslieferant des Landes von strategischer Bedeutung. Zwischen Spanien und Marokko kommt es immer wieder zu Grenzund Migrationskonflikten, zuletzt 2021, als Marokko aus Protest gegen die Aufnahme eines Polisario-Führers in Spanien zeitweilig die Grenzen öffnete. Spanien hält bis heute seine Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika sowie die nicht weit vom afrikanischen Festland entfernten sieben kanarischen Inseln, verlor aber schon im 18. Jahrhundert Gibraltar an Großbritannien. Der Konflikt um den Peñón („Felsen“) belastet die bilateralen Beziehungen noch immer. Bis heute besteht das spanische Außenministerium auf der Zugehörigkeit Gibraltars zu Spanien und bezeichnet die britische Besetzung als „letzte europäische Kolonie“ (Webseite des Außenministeriums). Zwar fanden nach der bilateralen Erklärung von Lissabon 1980 bis 2001 bilaterale Verhandlungen statt, danach aber zog sich Großbritannien aus dem Prozess zurück. Der Brexit hat den Konflikt erneut aktiviert, da die Mehrheit der Bewohner von Gibraltar sich für einen Verbleib in der EU aussprach, dies aber durch die Zugehörigkeit zu Großbritannien nicht möglich ist. Aufgrund seiner Lage übernimmt Spanien eine Brückenfunktion zwischen Europa und Nordafrika, wobei die Beziehungen zu seinen südlichen Nachbarstaaten aber auch von ­Spannungen

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und Asymmetrien geprägt sind. Grenzsicherheit, Migration und der Westsahara-Konflikt zwischen Spanien und Marokko stehen dabei im Mittelpunkt. Nach Angaben der OECD erhielt die Region 2019 etwas mehr als 15 % der gesamten spanischen EZ. Während für die meisten EU-Länder der Nahe Osten im Mittelmeerraum die höchste Priorität hat, sind die Beziehungen zum Maghreb und insbesondere zu Marokko für Spanien am relevantesten aufgrund der geographischen Nähe und des Ressourcenreichtums der Region. (Soler i Lecha 2021). Zwischen Spanien und diesem Teil der arabischen Welt herrschen teilweise permanent soziale sowie politische Spannungen und Emotionen. Auch in der aktuellen Strategie für die Außenpolitik 2021-2024 (MAEC 2021) wird bestätigt, dass die Region weiterhin eine hohe Priorität für die spanische Außenpolitik hat. Darüber hinaus haben die Geschehnisse dort und die Qualität der bilateralen Beziehungen einen Einfluss auf die Stabilität, Sicherheit und Entwicklung des Landes. Die vorrangigen Themen der spanischen Außenpolitik in Bezug auf den Maghreb sind die Migrationskontrolle, der Drogenhandel, die Bekämpfung des Terrorismus, Fischereipolitik und Handel, die Stärkung des Energie- und Klimadialogs und die Neuausrichtung der EZ nach der Covid-19-Pandemie. Marokko ist Spaniens wichtigste Verbindung nach Nordafrika. Hierbei übernimmt der spanische König als Gegenspieler von König Mohamed VI. eine besondere Rolle. Dies geschah vor allem unter der Regentschaft von Juan Carlos, der inzwischen aufgrund von Korruptionsskandalen in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebt, in kritischen Situationen oder bei strategisch bedeutenden Themen wie Grenzsicherheit, Terrorismusoder Drogenbekämpfung. Es gibt aufgrund der Migration und der weiterhin bestehenden Grenzstreitigkeiten immer wieder Spannungen zwischen beiden Ländern. Marokko erhebt ständig einen Anspruch auf die Städte Ceuta und Melilla sowie auf die kleinen spanischen Mittelmeerinseln vor der afrikanischen Küste, während Spanien die Beibehaltung des Status Quo in diesen Gebieten einfordert. Auch der West-Sahara-Konflikt sorgt für häufige bilaterale Konflikte, und territoriale Fragen sind in den spanisch-marokkanischen Beziehungen stets präsent. Nach dem bilateralen Streit um den Polisario-Führer, der die marokkanische Regierung veranlasste, zeitweilig die Grenzen nach Spanien zu öffnen, bemühte sich 2021 der neue Außenminister Albares im Rahmen mehrerer Besuche um eine Verbesserung der Beziehungen zu Marokko, auch um eine erneute Einwanderungswelle nach Spanien zu verhindern. Innenpolitisch geriet er

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deshalb in die Kritik des ehemaligen Vizeregierungschefs Pablo Iglesias, der ihn am 7. Dezember 2021 mit den Außenministern des PP verglich und ihn ironisch als „besten Außenminister.... für Marokko“ bezeichnete. Von Iberoamerika zu Lateinamerika

Die historisch engen kulturellen Beziehungen stehen im Mittelpunkt einer eher emotional, von identitären Elementen geprägten Partnerschaft mit den lateinamerikanischen Staaten, die für Spanien von besonderer Bedeutung sind, wie Kuba als letzte Kolonie oder Mexiko durch das jahrzehntelange Exil vieler Spanier, die im Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner standen. Noch heute ist Mexiko für Spanien neben dem historisch mit Portugal verbundenen Brasilien der bedeutendste Partner in Lateinamerika. Als ehemalige Kolonialmacht pflegt Spanien noch immer eine Sonderbeziehung zu Lateinamerika, die in den seit 1991 abgehaltenen Iberoamerikanischen Gipfeltreffen zum Ausdruck kommt. Der Gemeinschaft gehören 22 Staaten an, 19 lateinamerikanische und drei europäische (Andorra, Portugal und Spanien), die eine gemeinsame Geschichte, kulturelle, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Interessen vereint. Eine Demokratieklausel gibt es nicht, so dass auch das sozialistische Kuba oder autoritär regierte Staaten wie Nicaragua unter Daniel Ortega oder Venezuela unter Nicolás Maduro der Staatengemeinschaft angehören, was, je nach politischer Couleur der spanischen Regierungen, immer wieder für politische Spannungen sorgte, die andererseits aber im Rahmen eines konstruktiven Dialogs abgebaut werden konnten. Das 2005 geschaffene Iberoamerikanische Sekretariat SEGIB hat seinen Sitz im exklusiven Madrider Stadtviertel Recoletos, in unmittelbarer Nähe zur Casa de América („Amerika-Haus“), das zahlreiche kulturelle und politische Veranstaltungen durchführt. Die Organisation der Staatengemeinschaft wird zu über 70 % von Spanien finanziert und basiert auf einem konstanten politischen Dialog auf allen Regierungsebenen, einschließlich der seit 2014 nur noch alle zwei Jahre stattfindenden Gipfeltreffen. Nach einer Krisenperiode (20122018), die wirtschaftlich durch die geringere Nachfrage Chinas nach lateinamerikanischen Rohstoffen und Agrarprodukten entstanden war, aufgrund der multidimensionalen innenpolitischen Krise in Venezuela zu einer Polarisierung innerhalb der Region geführt und sich negativ auf die

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lateinamerikanischen Integrationsprozesse ausgewirkt sowie sogar zur de facto Auflösung der UNASUR (Unión de Naciones Suramericanas) geführt hatte, hat die Iberoamerikanische Staatengemeinschaft als eines der wenigen Dialog- und Kooperationsforen Lateinamerikas und Brücke zu Europa wieder an Bedeutung gewonnen (Rodríguez Pinzón 2021). Die Iberoamerikanische Staatengemeinschaft wurde 1991 von Spanien und Mexiko gegründet und bildet bis heute das Herzstück der spanischen Lateinamerikapolitik. In diesen dreißig Jahren fand ein allmählicher Wandel von einer identitären Iberoamerika- zu einer europäischen Lateinamerikapolitik statt, bei der Madrid zwar noch immer eine Führungsrolle übernimmt, sich aber immer weniger als Teil der iberoamerikanischen Staatengemeinschaft versteht und die Beziehungen zum Subkontinent rationalisiert und als extern versteht (Malamud 2019). Der Fokus soll mit einer stärkeren Bilateralisierung der Beziehungen (MAEC 2021) einhergehen und zu einem Ausbau der strategischen Partnerschaften mit Argentinien, Brasilien, Chile und Peru führen. Das strategische Lateinamerika-Konzept von Josep Borrell sieht außerdem eine engere kulturelle, entwicklungspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit vor, um Spanien auch weiterhin als wichtigsten europäischen Partner Lateinamerikas zu erhalten. Außerhalb Europas ist Lateinamerika der zweite Wirtschaftspartner des Landes, und umgekehrt ist Spanien nach den USA der zweitwichtigste Direktinvestor in der Region (Gratius 2017), so dass die beiderseitigen, vielfältigen Beziehungen auch in Zukunft fortbestehen werden, wenn auch aus größerer Distanz und aus einem europäischen Blickwinkel. Auch der entwicklungspolitische Schwerpunkt auf Lateinamerika bestand 2019 fort, als die Region 34 % aller spanischen Mittel für die EZ erhielt. Spanien und die USA

Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der NATO und der amerikanische Militärstützpunkt in Rota bilden seit Mitte der 1980er Jahre die wichtigste Achse der bilateralen Beziehungen zwischen Spanien und den USA. Darüber hinaus erlangte Spanien einen gewissen Protagonismus innerhalb der EU, da das erste Transatlantische Gipfeltreffen mit der Idee einer künftigen gemeinsamen Freihandelszone 1995 erstmals in Madrid stattfand.

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Ansonsten sind die bilateralen Beziehungen zwischen Spanien und den USA zwar korrekt, aber nicht besonders intensiv. Dies erklärt sich durch die bilaterale und ideologische Distanz während der Franco-Diktatur und die historisch bedingte Rivalität beider Staaten in Lateinamerika. Sozusagen als Gegenentwurf zur Hegemonialstellung der USA im interamerikanischen System der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat Spanien mit der Iberoamerikanischen Staatengemeinschaft unter Einbeziehung Kubas eine horizontale Gemeinschaft ohne Vorbedingungen geschaffen. Bis heute wird die Sanktionspolitik der USA gegenüber Havanna in zahlreichen Erklärungen der iberoamerikanischen Gipfeltreffen abgelehnt. Mit Ausnahme der kurzen atlantischen Außenpolitik unter José María Aznar, der sich auch in der Kubapolitik den USA annäherte, unterhält Spanien keine strategischen Beziehungen zu den USA. Selbst die gegenseitige Besuchsdiplomatie ist sehr begrenzt, und gemeinsame Erklärungen sind selten. Wirtschaftlich gesehen standen die USA bei den spanischen Ausfuhren mit 4,5 % im Jahre 2020 nach Frankreich, Deutschland, Italien, Portugal und Großbritannien nur an fünfter Stelle und belegten den vierten Platz bei den Einfuhren6 sowie mit 4,4 % lediglich einen siebten Rang im Bereich der Direktinvestitionen (2017). Im Pandemiejahr 2020 waren US-Bürger nach Touristen aus Frankreich die zweitgrößte Besuchergruppe in Spanien. Zwar gehört Spanien der NATO an und ist schon allein deshalb ein enger Verbündeter der USA, doch trotz anderer Gemeinsamkeiten, wie die wachsende Gruppe spanischsprachiger (meist aus Mexiko stammender) Einwanderer in den USA, den so genannten Hispanics, unterhält das Land keine strategischen Beziehungen zu den USA. Stattdessen bedient sich Spanien in zahlreichen Bereichen der bilateralen Beziehungen des downloading der gemeinsamen EU-Politik gegenüber ihrem strategischen Partner USA. Spanien und der Rest der Welt: Asien und Afrika

Durch die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO hat sich die spanische Außenpolitik, die sich zuvor auf das Dreieck Europa, ­Lateinamerika 6

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Siehe (05-11-2021).

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und Nordafrika konzentrierte, stärker globalisiert. Unter anderem beteiligte sich Spanien seit 1989 mit über 150.000 Soldaten an fünfzig Friedensmissionen in allen Weltregionen, u. a. in Afghanistan oder im Libanon. Darüber hinaus unterhält Spanien heute Beziehungen zu nahezu allen Ländern der Welt, auch in Regionen wie Osteuropa, Zentralasien oder Südostasien, wo die Politik im Wesentlichen aus dem downloading der europäischen Strategie gegenüber diesen Partnern besteht. Dies gilt auch für die spanischen Beziehungen zu Asien, die sich vor allem auf China als globale Macht konzentrieren. Die Wirtschaftsbeziehungen zu China, mit dem Spanien schon 1973 diplomatische Beziehungen aufnahm, ohne bis Anfang der 1990er Jahre größere Fortschritte verzeichnen zu können, sind heute wesentlich bedeutender als während des Kalten Krieges. China steht im Mittelpunkt der spanischen Asien-Strategie, die sich weitgehend an der EU-Politik ausrichtet, aber eine intensivere wirtschaftliche Zusammenarbeit einschließt. So ist China beispielsweise der bedeutendste Gläubiger des Landes außerhalb der EU und war 2020 nach Deutschland der zweitbedeutendste Lieferant Spaniens. Während der Covid-19-Pandemie war China zudem Spaniens Hauptlieferant medizinischer Ausrüstung, einschließlich der Schutzmasken, die inzwischen allerdings in Spanien selbst hergestellt werden. Indien ist trotz mehr als sechs Jahrzehnten diplomatischer Beziehungen ein relativ unbekannter außenpolitischer Partner, der vor allem als Exportmarkt interessant ist. Die Einrichtung der Casa India und eines Cervantes-Instituts in Neu Delhi zeugt von einem beidseitigen Interesse an einer Intensivierung der Beziehungen (Gratius 2017). Abgesehen von den historischen Beziehungen zur ehemaligen Kolonie Philippinen haben die übrigen Staaten Asiens einschließlich Russlands kaum eine Bedeutung in der spanischen Außenpolitik, die in dieser Hinsicht der europäischen gleichgesetzt werden könnte. Mit Ausnahme von Nordafrika und der ehemaligen spanischen Kolonie Äquatorialguinea hat auch Afrika für Spanien keine außenpolitische, aufgrund der steigenden Einwanderungszahlen zunehmend aber eine größere entwicklungspolitische Priorität. Die drei Strategieprogramme für Afrika des spanischen Außenministeriums (das letzte entstand 2019) konzentrieren sich auf die EZ und setzen vier Schwerpunkte: Frieden und Sicherheit, Wirtschaftswachstum, Good Governance und „geordnete Mobilität“ (Einwanderung). Mit 13 % der gesamten spanischen Entwicklungshilfe bildet Afrika jenseits der Sahara im Gegensatz zu den Schwerpunkten

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der meisten EU-Mitgliedstaaten das Schlusslicht der EZ, die Gelder werden aber stetig erhöht. Schlussfolgerungen: Wandel und Kontinuität

Die spanische Außenpolitik wird oft mit dem Bild des Dreiecks umschrieben: an der Spitze steht Europa, Nordafrika und Lateinamerika bilden die beiden Eckpfeiler (Soler i Lecha 2021: 72). Seit der Demokratisierung ab 1975 ist Spanien ein in Europa verankertes Land, das darüber hinaus Sonderbeziehungen zu Lateinamerika und Nordafrika unterhält und über erheblichen Einfluss auf die EU-Politik gegenüber beiden Regionen verfügt (uploading). Allerdings haben sich generell nationale Faktoren im Zuge der gemeinsamen europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik verringert. Hatte Spanien die Kuba- und Venezuelapolitik der EU bis vor kurzem weitgehend bestimmt, lässt sich seit dem Lissabon-Vertrag und der Kompetenzübertragung auf die Hohen Außenvertreter der EU ein Wandel zugunsten einer stärkeren Europäisierung der Außenbeziehungen feststellen, die beispielsweise im Verhandlungsmandat und späteren Abkommen Brüssel-Havanna oder aber in der gemeinsamen Initiative International Contact Group über Venezuela zum Tragen kommt. Die Europäisierung der spanischen Außenpolitik ist ein langfristiger Prozess, der nationale Kompetenzen immer stärker einschränkt. Im Gegensatz zu anderen EU-Mitgliedstaaten, wie Deutschland oder Frankreich, ist die Transatlantische Achse kein Mittelpunkt der spanischen Außenpolitik, und die USA spielen eine untergeordnete Rolle, so dass Spanien die EU-Politik gegenüber deren wichtigsten strategischen Partnern weitgehend übernimmt (downloading). Die asymmetrischen, nicht prioritären bilateralen Beziehungen zwischen Madrid und Washington sind eine Konstante in der spanischen Außenpolitik, ebenso wie die engen und teilweise spannungsreichen Partnerschaften mit Lateinamerika und Nordafrika (vor allem Marokko und Algerien), die neben der gemeinsamen Politik der EU als strategischer Bilateralismus bezeichnet werden können. Der eigentliche Wandel in der spanischen Außenpolitik begann in den 1980er Jahren durch die Übernahme einer liberalen, der Demokratie und Marktwirtschaft verbundenen sowie multilateralen und werteorientierten Außendarstellung. Darüber hinaus bewahrte sich das Land ein deutliches Eigenprofil mit geographischem Schwerpunkt auf Lateinamerika

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und Nordafrika sowie einem deutlichen Akzent auf den spanischen Wirtschaftsinteressen, beispielsweise durch das Programm Marca España, der auswärtigen Kulturpolitik und einer Entwicklungspolitik, die entgegen der Maxime der EU auch weiterhin Staaten der mittleren und oberen Einkommensgrenze (vor allem in Lateinamerika) unterstützt. Der nicht unerhebliche Einfluss und die Präsenz des Landes außerhalb Europas bilden dabei einen strategischen Vorteil, der Spaniens außenpolitischem Gewicht in Europa zugute kommt. Literaturverzeichnis Amirah Fernández, Haizam (2021): „Crisis entre Marruecos y España: los riesgos del regalo de Trump“, in: Comentario Elcano, 22. Madrid. Ayuso, Anna/Gratius, Susanne (2017): Nueva etapa entre Cuba y la UE: Escenarios de Futuro. Barcelona: CIDOB. Borrell, Josep (2018): „La política exterior de la España constitucional“, in: Política Exterior, 186, 1. November. (05-11-2021). European Parliament (2021): Flash Eurobarometer: State of the European Union. Bruxelles. Gratius, Susanne (2017): „Spanien in der Welt“, in: Nikolaus Werz/Susanne Gratius (Hgg.): Spanien. Analyse politscher Systeme. Schwalbach: Wochenschau, 265-298. — (2021): „Iberoamérica en el sistema internacional: ¿cómo crear una marca propia?“, in: Erika Rodríguez Pinzón (Dir. und Koord.): Informe Iberoamérica 2021: El sistema iberoamericano y el multilateralismo: una perspectiva de Progreso. Madrid: Fundación Alternativas, 53-63. Gunther, Richard/Montero, José Ramón (2009): The Politics of Spain. Cambridge: Cambridge University Press. Malamud, Carlos (2019): „España entre América Latina e Iberoamérica“, in: Análisis del Real Instituto, 12. Madrid: Real Instituto Elcano. Manzano, Cristina (2013): „Es hora de que los españoles salgan de su aislamiento“, in: Política Exterior, 152, 98-106. Ministerio de Asuntos Exteriores y Cooperación (MAEC) (2021): Plan de Acción Exterior (2021-2024). Madrid. Molina, Ignacio (Koord.) (2014): „Hacia una renovación estratégica de la política exterior española“, in: Informe Elcano 15. Madrid: Real Instituto Elcano. — (2021): „España en el mundo en 2021: Perspectivas y desafíos“, in: Elcano Policy Paper. Madrid: Real Instituto Elcano. Morillas, Pol (2020): „Una política exterior nodal“, in: El País, 6. März 2020. Muñiz, Manuel (2021): „Por una España más global“, in: Política Exterior 200, (06-11-2021).

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Kataloniens Griff nach der Unabhängigkeit. Sackgasse oder Perspektive? Carlos Collado Seidel Abstract Ende Oktober 2017 machte der Sezessionsversuch Kataloniens weltweit Schlagzeilen und stieß nicht zuletzt auf Verwunderung und Unverständnis: Wieso strebt eine hoch industrialisierte Region, die im Rahmen einer demokratischen Verfassung über weitgehende Autonomie verfügt, mit derartiger Vehemenz in die Unabhängigkeit? Der vorliegende Aufsatz will Antworten auf diese Frage geben. Im Mittelpunkt stehen die Debatten um die katalanische Nation sowie das seit der Errichtung der katalanischen Autonomen Gemeinschaft Ende 1979 dezidiert geförderte Nationalbewusstsein: Die nach den durch das spanische Verfassungsgericht im Jahr 2010 erzwungenen Änderungen an einem vier Jahre davor neu ausgehandelten Autonomiestatut sowie eine kompromisslose Haltung der konservativen Regierung unter Mariano Rajoy brachten eine emotional aufgeladene Bewegung in Gang, die in den Ereignissen vom Herbst 2017 gipfelte. Die Gemüter haben sich zwischenzeitlich beruhigt, doch die kaum zu vereinbarenden Grundhaltungen lasten auf dem zwischen der Madrider Zentralregierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez und dem Präsidenten der Generalitat, Pere Aragonès, begonnenen Dialog. Die Wurzeln des Konflikts

Im Herbst 2017 stand Katalonien im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Hintergrund war der durch die Generalitat, die katalanische Regionalregierung, unternommene Sezessionsversuch. Damals rief vor allem die Kompromisslosigkeit Befremden hervor, die von beiden Seiten an den Tag gelegt wurde: Während die Befürworter einer katalanischen Unabhängigkeit Urteile des spanischen Verfassungsgerichts missachteten und ihr Vorhaben staatsstreichartig vorantrieben, scheute die Zentralregierung nicht davor zurück, die volle Härte des Gesetzes anzuwenden, bis hin zur Übernahme der Regierungsgewalt in Katalonien und der Anordnung eines

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massiven gewaltbegleiteten Polizeieinsatzes zur Verhinderung eines zuvor angesetzten Unabhängigkeitsreferendums. Damals entstanden Bilder, die in fataler Weise an die Repression in der Spätphase der Franco-Diktatur erinnerten. Auch die Justiz reagierte hart und verurteilte die Hauptbeteiligten zu langjährigen Haftstrafen. In der deutschen Öffentlichkeit war aber nicht zuletzt die Überraschung darüber groß, dass es überhaupt zu einer solchen Eskalation gekommen war und in Katalonien ein derart machtvoller Drang nach Unabhängigkeit bestand. Die Öffentlichkeit jenseits der Pyrenäen betrachtete die dramatische Entwicklung mit Fassungslosigkeit. Es wirkte widersinnig, dass in einem hochindustrialisierten, wohlhabenden und auf demokratischen Grundsätzen basierenden Land ein derartiger Konflikt in einer Schärfe ausgetragen wurde, die die begründete Sorge vor einem militärischen Eingreifen aufkommen ließ. Bei der Analyse der Ursprünge des Sezessionsversuchs vom Oktober 2017 wird vor allem auf das Jahr 2006 verwiesen, als ein überarbeitetes Autonomiestatut für Katalonien verabschiedet wurde, sowie auf das Jahr 2010, als das spanische Verfassungsgericht einige darin enthaltenen Artikel als verfassungswidrig verwarf. Die damals sowohl seitens der spanischen als auch der katalanischen Bevölkerung besonders emotional debattierte Frage bezog sich auf die in der Präambel des Statuts enthaltene, rechtlich jedoch unverbindliche Bezeichnung Kataloniens als Nation. In der Folge des Verfassungsgerichtsurteils kam es zu Massendemonstrationen, insbesondere anlässlich des katalanischen Nationalfeiertags am 11. September, bei denen mitunter weit über eine Million Menschen auf den Straßen Barcelonas zusammenströmten, um für das Recht auf Selbstbestimmung einzutreten. Parallel hierzu verschärfte sich sukzessive der Tonfall zwischen der Zentralregierung und der Generalitat bis hin zu den dramatischen Ereignissen von 2017, die in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober und der darauffolgenden Absetzung der katalanischen Regierung sowie der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Madrider Exekutive gipfelten. Tatsächlich reichen die Wurzeln des Konflikts jedoch weit in die Geschichte zurück (vgl. hierzu Balcells 2004). Sie liegen im Entstehungsprozess moderner Nationalstaaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts: Parallel zum sich herausbildenden spanischen Zentral- und Verwaltungsstaat verstärkte sich in Katalonien eine Rückbesinnung auf eigene kulturelle und historische Traditionen. So lebte nicht nur der Gebrauch der katalanischen

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Sprache wieder auf, sondern auch die Erinnerung an die eigenständige politische Verfasstheit als Prinzipat innerhalb der einst aus verschiedenen Reichen zusammengesetzten frühneuzeitlichen hispanischen Monarchie. Aus dieser zunächst romantisierenden und verklärenden Rückbesinnung entwickelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wiederum ein nach und nach wachsendes nationales politisches Bewusstsein in Abgrenzung zum spanischen Nationalstaat, das wiederum auf eine zunehmende Gegenwehr aus Madrid stieß, die sich gegen eine als unerträglich verstandene Zersplitterung der unauflösbaren Einheit der spanischen Nation wandte. Die entstehende katalanische Nationalbewegung ist dabei durchaus vergleichbar mit jener von anderen „verspäteten” Nationen wie etwa Irland. Dabei fußte sie nicht zuletzt auf dem Selbstbewusstsein des katalanischen Bürgertums, waren doch in der Frühphase der Industrialisierung etwa achtzig Prozent der spanischen Produktion in Katalonien, insbesondere im Bereich der Textilverarbeitung, angesiedelt (vgl. Balcells 2006: 602 ff.). Die Vorreiterfunktion der katalanischen Industrie in der wirtschaftlichen Entwicklung bildet auch in der Gegenwart eines der Narrative des katalanischen Nationalismus, versteht sich doch Katalonien als Motor der Wirtschaftsleistung Spaniens. Der Drang nach Erreichung größerer politischer Spielräume zeitigte sukzessive Erfolge, etwa die Einrichtung der Mancomunidad im Jahr 1914 als Bündelung von Kompetenzen auf kommunaler Ebene oder vor allem das Inkrafttreten eines Autonomiestatuts im Jahr 1932 im Spanien der Zweiten Republik (1931-1939) und dann noch einmal jenes des Jahres 1979 im Zuge der Demokratisierung des Landes nach dem Ableben des Diktators Franco. Dieses Streben nach Anerkennung der eigenen Singularität verlief jedoch mühselig und wurde durch teilweise gewaltbegleitete Konflikte durchbrochen. 1874 (Staatsstreich gegen die Erste Republik), 1917 (Scheitern des Projekts einer Verfassungsreform), 1925 (Auflösung der Mancomunidad), 1934 (Aufhebung des katalanischen Autonomiestatuts von 1932), 1939 (Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg und Abschaffung des Autonomiestatus) sind Jahreszahlen, die Rückschläge und tiefe Einschnitte markierten und zusammen mit Ereignissen der Jahre 1640 (Aufstand gegen die Einquartierung spanischer Truppen im Krieg gegen Frankreich) und 1714 (Kapitulation Barcelonas am Ende des Spanischen Erbfolgekriegs) zur Entstehung eines bis in die Gegenwart hinein wirkenden Opfermythos führten. Die Jahrzehnte der Unterdrückung jeglicher als politische Äußerung verstandenen katalanischen Identität

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­ ährend der Franco-Diktatur (1936/39-1975) gruben sich wiederum tief w in das kollektive Gedächtnis ein. Hieraus speisen sich noch heute das Verständnis im Verhältnis zwischen Madrid und Barcelona und vor allem die Grundhaltung, durch einen Unterdrückerstaat beherrscht zu werden. In diesem Narrativ stand auch der Herbst 2017 als bisheriger Höhepunkt in dieser Auseinandersetzung. Aus einer katalanischen Perspektive lesen sich die Beziehungen zum spanischen Zentralstaat als Abfolge von Niederlagen im Ringen um die Verwirklichung einer durch die Bevölkerung ersehnten Unabhängigkeit (Vgl. hierzu: „Immer Opfer“, Die Zeit, 01.11.2017). So ist erklärlich und bezeichnend, dass aufgrund des permanenten Gegenwindes, der der Durchsetzung eines größeren politischen Spielraumes entgegenschlug, gerade solche Ereignisse in der katalanischen Geschichte zum zentralen Bezugspunkt im eigenen nationalen Selbstverständnis avancierten, in denen die Auseinandersetzung mit einer als Joch wahrgenommenen Zentralmacht zum Ausdruck kamen. Dazu gehört der Aufstand am Fronleichnamstag des Jahres 1640, in dessen Folge sich die katalanischen Stände von der spanischen Krone lossagten. Dieser Aufstand bildet das Sujet der heutigen katalanischen Nationalhymne, deren Text in einer drastischen Wortwahl eine kommende Erhebung gegen eine als selbstherrlich beschriebene Zentralmacht beschwört. Der katalanische Nationalfeiertag erinnert wiederum an die Kapitulation Barcelonas als Schlussakkord im Spanischen Erbfolgekrieg im Jahr 1714, in deren Folge das Prinzipat die eigene politische Verfasstheit verlor und im absolutistischen Spanien der Bourbonen aufging. Während also die spanische Nation mit dem 12. Oktober einen Nationalfeiertag begeht, der an die Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 erinnert und Spaniens Aufbruch in ein positiv besetztes imperiales Zeitalter markierte, wird in Katalonien bezeichnenderweise am 11. September ein Tag der Niederlage und des Verlustes als nationaler Referenzpunkt zelebriert. In der Geschichtswissenschaft werden moderne Nationalstaaten als Konstrukte verstanden, wobei ein vages Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft durch ein Elitenhandeln gelenkt wird (vgl. u. a. Anderson 2006 sowie Hobsbawm/Ranger 1992). Hierzu gehören auch die Einführung von Symbolen, wie etwa Fahnen und Hymnen, und nicht zuletzt historische Bezüge. Im katalanischen Fall spielt eine zentrale Rolle, sich als Schicksalsgemeinschaft zu verstehen, die einem übermächtigen kastilischen Staat gegenübersteht, der die Verwirklichung der nationalen Aspirationen verhindert. Damit rückt der angesprochene Opferdiskurs in den

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Mittelpunkt, der in beeindruckender Mächtigkeit im katalanischen Kultur- und Erinnerungszentrum El Born zum Ausdruck kommt, das auf den freigelegten Fundamenten des nach 1714 zum Bau einer Festungsanlage zur militärischen Kontrolle Barcelonas abgerissenen Stadtviertels errichtet wurde.1 Diese historischen Rückbezüge kommen auch in der katalanischen Selbstverwaltung zum Tragen. Diese sieht sich in einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Traditionslinie, als im Jahr 1359 mit der Diputació del General eine ständige Kommission als Ausführungsorgan der durch die Ständeversammlung verabschiedeten Beschlüsse eingerichtet wurde. Damit versteht sie sich als älter, als die unter den Katholischen Königen begründete spanische Monarchie. Hierauf bezieht sich auch ausdrücklich die Präambel des katalanischen Autonomiestatuts aus dem Jahr 2006,2 und in diesem Sinn wird Pere Aragonès, der gegenwärtige Präsident der Generalitat, offiziell als 132. Amtsinhaber gezählt. Die Jahre des ersten Autonomiestatuts nach dem Ende der Franco-Diktatur

Mit dem Tod Francos am 20. November 1975 begann die Phase des Übergangs von der Diktatur zu einem demokratisch-parlamentarischen System. Es handelte sich um einen Prozess, der zwar von einer überwältigenden Mehrheit der spanischen Bevölkerung unterstützt wurde und gewaltige Menschenmassen mobilisierte, doch von großer sozialer und politischer Instabilität begleitet war, befand sich Spanien in jenen Jahren doch nicht nur in einer tiefen Wirtschaftskrise, die im „Ölschock“ des Jahres 1973 ihren Ausgang genommen hatte und das Land aufgrund der Abhängigkeit von Energieeinfuhren besonders hart traf. Hinzu kamen grundlegende strukturelle Wirtschaftsreformen, die sich aus den Anforderungen einer freien Marktwirtschaft ergaben und nicht zuletzt Katalonien mit seiner textil- und metallverarbeitenden Industrie betrafen (vgl. Balcells 2006: 829 ff.). Auf der politischen Agenda in Katalonien stand nach 1975 an oberster Stelle jedoch die Ausarbeitung und Verabschiedung eines ­Autonomiestatuts. 1 2

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Siehe hierzu die Website: . Vgl. den Text des Autonomiestatuts von 2006: , 19.

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Nach allzu zaghaften Schritten unter dem Ministerpräsidenten Carlos A ­ rias ­Navarro (1973-1976), dem zunächst die Wiederbelebung der Mancomunidad von 1914 vorschwebte, kam der Dezentralisierungsprozess auch nach der Verabschiedung des grundlegenden „Gesetzes zur politischen Reform“ von November 1976 unter dem neuen Ministerpräsidenten Adolfo Suárez (1976-1981) zunächst nur schleppend in Gang (Vgl. Bernecker/Collado Seidel 1993: 127 ff.). Nach den ersten demokratischen Parlamentswahlen am 15. Juni 1977, bei denen sich in Katalonien jene Parteien durchsetzten, die mit Nachdruck für eine Autonomieregelung eintraten, wuchs indes der gesellschaftliche Druck: Während Ende April 1977, am Tag des Heiligen Georg als Schutzpatron Kataloniens, bereits 100.000 Personen in Barcelona auf die Straße gegangen waren, um für politische Autonomie zu demonstrieren, feierten am 11. September bis zu einer Million den katalanischen Nationalfeiertag und unterstrichen damit eindrucksvoll diese Forderung. Dieser deutlich zum Ausdruck gebrachte Wille beflügelte schließlich die politischen Gespräche. Gleichzeitig radikalisierte sich aber auch der „Katalanismus“, und in der Folge kam es zu Akten terroristischer Gewalt: Im Mai 1977 wurde ein Unternehmer und im Jahr darauf der ehemalige Bürgermeister von Barcelona, Josep Viola, ermordet. Anders als im Baskenland erfuhr der Terrorismus in Katalonien jedoch keine vergleichbare institutionelle Verstetigung. Suárez setzte auf Josep Tarradellas, den Präsidenten der Generalitat im Exil, der sich damit gegenüber jenen politischen Kräften als Verhandlungspartner durchsetzte, die aus der innerspanischen Opposition während der Franco-Diktatur stammten. Während auf gesamtspanischer Ebene der Regimewechsel aus der Legalität der Franco-Diktatur heraus angegangen wurde und die spanische Exilregierung in Mexiko im Juni 1977 in der Folge ihre Selbstauflösung bekanntgeben musste, knüpfte der katalanische Weg zur Erlangung von Autonomie somit an die Legalität des während der Zweiten Republik bestandenen Autonomiestatuts an. Am 29. September 1977 wurde schließlich die zunächst mit beschränkten Kompetenzen ausgestattete Generalitat provisorisch wiederhergestellt. Knapp einen Monat später kehrte dann Josep Tarradellas als Präsident der Generalitat triumphal nach Barcelona zurück. Am 23. Oktober 1977 rief er vom Balkon seines Amtssitzes vor 300.000 versammelten Menschen die berühmt gewordenen Sätze aus, die das Ende der seit dem Bürgerkrieg bestehenden politischen Entrechtung signalisierten: “Ciutadans de

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­ atalunya! Ja sóc aquí!“ (Bürger Kataloniens! Hier bin ich wieder!).3 AnC ders als in der Zweiten Republik wurde das Autonomiestatut allerdings erst nach der Verabschiedung der spanischen Verfassung fertiggestellt. Zunächst, so der Wille Madrids, sollte die Verfassung den Handlungsrahmen vorgeben, innerhalb dessen sich die Autonomie zu bewegen hatte. An der Ausarbeitung des Verfassungstextes beteiligten sich auch zwei Katalanen: Miquel Roca für die liberal-konservative Convengència Democràtica de Catalunya (CDC) und Jordi Solé für den kommunistischen Partit Socialista Unificat de Catalunya (PSUC). Während der katalanische Nationalist Roca dabei für möglichst umfangreiche Autonomierechte für die drei „historischen Regionen“ (Katalonien, Baskenland und Galicien) eintrat, machte sich Manuel Fraga Iribarne als Vertreter der postfranquistischen Rechten für eine lediglich „maßvolle“ Dezentralisierung der Verwaltung stark. Im Rahmen der nach zähem Ringen schließlich vorgesehenen Regionalisierung des Staatsgebietes wurden in der Verfassung in langen Katalogen jene Bereiche aufgelistet, in denen der Staat die ausschließliche Kompetenz behielt, sowie jene, die im Rahmen von Statuten durch künftige Autonome Gemeinschaften übernommen werden könnten (vgl. hierzu Collado Seidel 2018: 194 ff.). Der ausgehandelte Verfassungskompromiss enthielt aber letztlich eine Vielzahl von Widersprüchen und offenen Fragen, die in der praktischen Umsetzung unweigerlich zu heftigen Auseinandersetzungen führten. So wurde Spanien in der nach einer Volksabstimmung am 29. Dezember 1978 in Kraft getretenen Verfassung einerseits als unteilbare Nation definiert, gleichzeitig aber im Hinblick auf die Regionen der Begriff Nationalitäten verwendet. Auch scheiterte das Projekt der Schaffung einer mit weitreichenden Kompetenzen versehenen zweiten parlamentarischen Kammer in Analogie zum deutschen Bundesrat als Vertretung der Autonomen Gemeinschaften. Die Verfassung sah zwei unterschiedliche Wege zur Bildung von Autonomen Gemeinschaften vor. So hatten die Verfassungsväter den „historischen“ Regionen Katalonien, Baskenland und Galicien zunächst einen vereinfachten Weg vorgezeichnet, nachdem diese Regionen bereits in der Zweiten Republik ihren Autonomiewillen kundgetan hatten. Die zweite Vorgehensweise enthielt eine Reihe zusätzlicher Hürden. Letztlich entstanden in der Folge jedoch binnen weniger Jahre siebzehn Autonome 3 Siehe eine Videosequenz der Ansprache unter: .

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­ emeinschaften, was wiederum auf Unbehagen in Katalonien und im BasG kenland stieß, da die „historischen Regionen“ damit ihre S­ onderstellung verloren. Gleichwohl erhielten die verschiedenen Autonomen Gemeinschaften nicht alle in der Verfassung vorgesehenen Kompetenzen. Jede legte im Entwurf einen eigenen Rahmen für die Übertragung von Befugnissen vor, über den wiederum im spanischen Parlament debattiert und der meist erst nach Einbringung von Änderungen angenommen wurde. Die dabei weitaus größeren Ambitionen Kataloniens und des Baskenlandes führten in der Praxis zu einem „asymmetrischen Föderalismus“ (vgl. Aja 2007). Der im nordkatalanischen Sau erarbeitete Entwurf eines Autonomiestatuts für Katalonien wurde im September 1978 fertiggestellt und Ende Dezember den Madrider Cortes zugeleitet. Dort erhielt er nach zähem Ringen die endgültige Gestalt: Die katalanische Regierung übernahm die Zuständigkeit für das Gesundheitswesen und das Erziehungssystem, ­darüber hinaus ein weites Mitspracherecht bei öffentlichen Baumaßnahmen sowie in Fragen der Landwirtschaft, der Industrieansiedlung, des Binnenhandels, der Justiz, der territorialen Verwaltungsgliederung sowie der Kultur. Die Generalitat bekam darüber hinaus die Befugnis, eigene Polizeikräfte aufzustellen. Die Erhebung von Steuern blieb indes weitestgehend dem spanischen Staat vorbehalten, so dass die Regionalregierung auf ausgehandelte Zuweisungen von Geldern zur Finanzierung des katalanischen Haushalts angewiesen blieb. Die Autonomieregelung für Katalonien fiel hinter die Erwartungen vieler „Katalanisten“ zurück und erreichte in manchen Bereichen nicht das Kompetenzniveau des Jahres 1932, als die Generalitat die alleinige Zuständigkeit für die Sicherheitsorgane und die Justiz gehabt hatte (vgl. Guibernau 2012). Auch blieben die Provinzialverwaltungen bestehen, was mit der späteren Einführung eigener katalanischer Gemarkungen zu Auseinandersetzungen um Kompetenzen führen würde. Im Bereich des Erziehungswesens gingen die Befugnisse indes über die des Jahres 1932 hinaus, was auf längere Sicht ebenfalls Konflikte mit sich bringen würde. Die ersten Wahlen zum katalanischen Regionalparlament im März 1980 führten zum erwarteten klaren Sieg für Parteien, die für den „Katalanismus“ standen, allen voran für die bürgerliche Parteienvereinigung Convergència i Unió (CiU) unter der Führung von Jordi Pujol, der als Präsident der Generalitat für mehr als zwei Jahrzehnte (1980-2003) die unumstrittene Führungspersönlichkeit des katalanischen Nationalismus

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werden würde und sich zwischen 1984 und 1995 sogar auf die absolute Mehrheit seiner CiU-Abgeordneten im katalanischen Parlament stützen konnte. Insgesamt kamen diese Parteien, unter Einschluss der Sozialisten des Partit dels Socialistes de Catalunya (PSC), bei den ersten Wahlen auf einen Stimmenanteil von knapp achtzig Prozent, ein Anteil, der in den folgenden Wahlen sogar über neunzig Prozent erreichte. Parteien, die für den Madrider Zentralismus standen, blieben in Katalonien indes eine Randerscheinung. Innerhalb Kataloniens ließ sich wiederum ausmachen, dass die Anhänger von CiU im ländlichen Raum dominierten, während in den großen Städten und industrialisierten Gebieten, in die in den vorangegangenen Jahrzehnten zudem eine starke Zuwanderung aus anderen Gegenden Spaniens stattgefunden hatte, mehrheitlich die Sozialisten gewählt wurden. So stellten diese über dreißig Jahre lang den Bürgermeister Barcelonas. Für über zwanzig Jahre bildete sich damit ein politisches Spektrum heraus, in dem CiU und PSC innerhalb einer breit gefächerten Parteienlandschaft tonangebend waren. Den Regierungen unter Jordi Pujol kam nun die Aufgabe zu, das Autonomiestatut mit Leben zu füllen, die katalanischen Verwaltungsorgane aufzubauen und die Übertragung der vereinbarten Kompetenzen zu regeln. Der Putschversuch vom 23. Februar 1981 markierte eine tiefe Zäsur im Übergangsprozess zur Demokratie. Hiervon war in besonderer Weise die Dezentralisierung des Staates als ein politisch außerordentlich sensibler Bereich betroffen. Aus Sorge um die Stabilität des Landes versuchte der Zentralstaat in der Folge, dem Dezentralisierungsprozess Zügel anzulegen: Die regierende Unión de Centro Democrático (UCD) verabschiedete gemeinsam mit dem PSOE das „Gesetz zur Harmonisierung des Autonomieprozesses“ (LOAPA), das darauf abzielte, die gesetzgebende Gewalt der Cortes gegenüber den Parlamenten in den Autonomen Gemeinschaften zu stärken, und dabei auch massiv in bereits bestehende Autonomiestatute eingriff (vgl. Bernecker/Collado Seidel 1993: 117 ff.). Der Widerstand aus Katalonien ließ nicht auf sich warten. Schließlich wurde die LOAPA im Jahr 1983 durch das spanische Verfassungsgericht in zentralen Punkten verworfen. Gleichwohl blieb den Madrider Cortes weiterhin die Möglichkeit, mittels der Kompetenz in der Rahmengesetzgebung den Regionalisierungsprozess zu zügeln. Damit verlagerte sich wiederum die Auseinandersetzung an die Gerichte: Der Verfassungsgerichtshof musste in der Folgezeit über eine Vielzahl von Kompetenzstreitigkeiten entscheiden.

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In Zeiten absoluter Mehrheiten in den Cortes, etwa ab 1982 mit einer Regierung des PSOE, blies zudem ein rauerer politischer Wind aus Madrid. Dann wurden offene Fragen wie die Verteilung der Staatseinnahmen oder Streitfälle in Kulturangelegenheiten meist zu hoffnungslos umstrittenen Zankäpfeln. Als die Sozialisten 1993 die absolute Mehrheit verloren und im spanischen Parlament auf eine kooperative Haltung der Katalanen angewiesen waren, gelang es Jordi Pujol wiederum, der Zentralregierung Zugeständnisse abzuringen. Auch der Partido Popular (PP) sah sich unter José María Aznar zunächst gezwungen, mit den katalanischen Nationalisten Kompromisse einzugehen, nachdem er bei den Cortes-Wahlen von 1996 keine absolute Mehrheit erreicht hatte und somit im Parlament die Unterstützung durch die Abgeordneten der CiU als Mehrheitsbeschaffer benötigte. Als jedoch im Jahr 2000 der PP die absolute Mehrheit der Abgeordneten stellte und zudem die CiU auf katalanischer Ebene auf die Zusammenarbeit mit der konservativen Volkspartei angewiesen war, vollzog Ministerpräsident Aznar eine Kehrtwende, die von Beobachtern als eine Rückkehr zum überwunden geglaubten spanischen Nationalismus gewertet wurde (Bernecker/Maihold 2007: 379  ff.) Entsprechend folgte nun eine Frontstellung Madrids gegenüber Barcelona. Katalanisierung der Gesellschaft

Eines der Hauptanliegen der katalanischen Regierung war die Durchsetzung des Katalanischen als Amts- und Verkehrssprache. Die Verfassung von 1978 garantiert, dass Regionalsprachen neben dem Kastilischen den Rang einer Amtssprache erhalten können. Dies wurde auch im Autonomiestatut festgeschrieben. Eine besondere Herausforderung stellte aber die Etablierung des Katalanischen im allgemeinen Sprachgebrauch dar. So war es während der Diktatur nicht nur zu einer Marginalisierung des Katalanischen gekommen, die wiederum zu einem Rückgang der Sprachkenntnisse geführt hatte. Hinzu kam, dass seit den 1950er Jahren eine große Anzahl an spanischen Immigranten in Katalonien heimisch geworden war. Anfang der 1980er Jahre gaben etwa zwanzig Prozent der in Katalonien lebenden Personen an, Katalanisch nicht einmal zu verstehen; in Barcelona lag dieser Anteil sogar noch deutlich darüber.4 Hier setzte das „Gesetz 4

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Vgl. hierzu .

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zur sprachlichen Normierung“ (Llei de Normalització Lingüística) aus dem Jahr 1983 an, in dessen Folge eine Bildungs- und Werbeoffensive in Gang kam, die vom Unterricht auf Katalanisch an Schulen und Universitäten über die Förderung aller Arten von Sprachmedien wie Rundfunk, Fernsehen und Periodika bis hin zur Subventionierung der Übersetzung von Büchern ins Katalanische reichte. Mit der Llei de Política Lingüística aus dem Jahr 1997 zielte die katalanische Regierung darauf ab, die Verwendung des Katalanischen im öffentlichen Raum mit Nachdruck weiter voranzutreiben und nun vor allem in Bereiche wie die in Katalonien angesiedelte Verwaltung des spanischen Staates, die Rechtsprechung oder die Fernsehund Kinoproduktion vorzudringen, in denen die Verwendung des Kastilischen unverändert dominierte. Gleichzeitig verlegte die Kulturpolitik unter Pujol von Anbeginn starke Anstrengungen darauf, so nicht zuletzt im Rahmen des Schulunterrichts, das katalanische Nationalbewusstsein in Abgrenzung zum spanischen zu fördern und zu verankern (vgl. Aschmann 2021: 127 ff.). In diesem Sinn präsentierte sich die katalanische Hauptstadt anlässlich der olympischen Sommerspiele des Jahres 1992 nicht nur leistungsstark und selbstbewusst; die Generalitat ergriff damals vielmehr die Gelegenheit, um Katalonien einem Weltpublikum als aufstrebende und eigenständige Nation vorzustellen. Angesichts des in jener Zeit erwarteten Bedeutungsverlusts der Nationalstaaten im Rahmen des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses verglich die Generalitat die dynamische katalanische Wirtschaftsregion nicht nur gerne mit anderen leistungsstarken Gegenden Europas, sondern suchte im Einklang mit dem Konzept des „Europas der Regionen“ auch den europäischen Schulterschluss. So war Katalonien im Jahr 1988 Gründungsmitglied des Netzwerks „Vier Motoren für Europa“, mit dem ganz im Sinne der Generalitat die regionale Ebene im Integrationsprozess gestärkt werden sollte und in dem sich neben Katalonien die Lombardei, die Region Auvergne-Rhône-Alpes und Baden-Württemberg zusammenschlossen. Während in der Vergangenheit stets ein Klagen über die Zwangskastilisierung Kataloniens zu hören gewesen war, verkehrte sich das Bild nun teilweise ins Gegenteil. Jetzt waren Klagelieder zu vernehmen, die wiederum den Katalanen eine sprachliche und kulturelle Diskriminierung zur Last legten. Bereits 1981 unterschrieben 2.300 in Katalonien lebende Intellektuelle und spanische Beamte eine Erklärung, die sich gegen die Katalanisierung der Gesellschaft wandte. Als Gegenreaktion entstand die noch

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im gleichen Jahr gegründete Crida a la Solidaritat en Defensa de la Llengua, la Cultura i la Nació Catalana, die mittels einer lautstarken und weithin sichtbaren öffentlichen Präsenz und unter dem Schlagwort „Som una nació“ (Wir sind eine Nation) für die idiomatische Durchdringung der Gesellschaft und für die nationale Identität Kataloniens eintrat (­Ucelay-Da Cal 2018). Die Auseinandersetzung wurde auch im Bereich des Symbolischen ausgetragen, so etwa durch die von Aktivisten mit Spraydosen vorgenommene Katalanisierung der Beschilderung von Staatsstraßen oder im Hinblick auf die Siglen der katalanischen Autokennzeichen. Mitunter wurden aus Protest auch die gesetzlich vorgeschriebenen spanischen Fahnen von den Fassaden der Rathäuser entfernt. Von katalanischer Seite hieß es, dass angesichts einer Situation, in der Kenntnisse des Kastilischen Pflicht seien, während es im Hinblick auf die Verwendung des Katalanischen nur ein verfassungsmäßig garantiertes Recht gebe, nicht einmal von Gleichberechtigung beider Sprachen die Rede sein könne (Balcells 2004: 263). Dieses Wehklagen offenbarte aber auch, dass die Generalitat trotz unbestrittener Erfolge in ihrer Sprachpolitik weit hinter den eigenen Ansprüchen zurückgeblieben war: So verstanden um 2003 zwar bereits nahezu alle in Katalonien ansässigen Menschen mehr oder minder gut die katalanische Sprache. Dennoch war das Kastilische im landläufigen Gebrauch, insbesondere in den großen Städten, unverändert stark verbreitet. Etwa die Hälfte aller Einwohner Kataloniens benutzte Kastilisch nach wie vor als Verkehrssprache; im Großraum Barcelona lag der Anteil sogar bei über sechzig Prozent. Der Anteil derjenigen, die wiederum die katalanische Schriftsprache beherrschten, betrug im Landesdurchschnitt ebenfalls lediglich an die fünfzig Prozent.5 Vor dem Hintergrund der mit allem Nachdruck betriebenen Sprachpolitik muss auch das Ansinnen der Generalitat verstanden werden, auf der Frankfurter Buchmesse 2007 mit dem katalanischen Sprach- und Kulturraum als Ehrengast ausschließlich solche Autoren und Autorinnen der Literaturwelt vorzustellen, die auf Katalanisch schrieben, womit Erfolgsautoren wie Eduardo Mendoza oder Carlos Ruiz Zafón zur Verwunderung der deutschen Öffentlichkeit nicht vertreten waren. Zu dem Zeitpunkt war etwa lediglich ein Fünftel aller in Katalonien verkauften Bücher auf Katalanisch erschienen, ein Prozentsatz, der bis 2017 nur langsam auf etwas über 25 Prozent wuchs (vgl. El Periódico, 06.09.2017). 5

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Vgl. hierzu .

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An diesen Zahlen zeigt sich die unveränderte Dominanz des Kastilischen. Das wurde Ende des Jahres 2021 einmal mehr deutlich, als Zahlen zum Sprachgebrauch unter Jugendlichen bekannt wurden und dabei nicht nur keine Fortschritte in der Verwendung des Katalanischen vermeldet werden konnten. Vielmehr ist in den letzten Jahren ein Rückgang im Gebrauch des Katalanischen durch Jugendliche im eigenen sozialen Umfeld zu konstatieren. Weit über die Hälfte der Befragten gaben an, dabei nie oder fast nie Katalanisch zu sprechen – Zahlen, die keineswegs allein durch die massive Zuwanderung durch außereuropäische Immigranten erklärt werden können (vgl. La Vanguardia, 03.12.2021). Hiervon abgesehen hat es der katalanische Kulturkreis, zu dem auch die Autonomen Gemeinschaften Valencia und Balearen gehören, nicht vermocht, die eigenen Kräfte zu bündeln. In beiden Regionen wird eine Variante des Katalanischen gesprochen. Beide suchten allerdings im Rahmen des Demokratisierungsprozesses keinen kulturellen Anschluss an Katalonien, sondern wehrten sich gegen eine sprachliche Vereinnahmung und strebten vielmehr eine Eigenständigkeit an. Dementsprechend wird die in diesen Landesteilen gesprochene Variante des Katalanischen als eigene Sprache mit zum Teil eigener Rechtschreibung betrachtet. Im Fall von Valencia kommt allerdings erschwerend hinzu, dass diese Region traditionell kein sprachlich homogenes Gebilde darstellt. So ist vor allem im Hinterland das Kastilische die seit jeher gesprochene Sprache. Das Spannungsverhältnis zwischen Nation und Kultur hat darüber hinaus zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. So pochte die Generalitat wiederholt auf eine uneingeschränkte Kulturhoheit und vertrat damit die Position, dass ein zentralspanisches Kulturministerium keine Existenzberechtigung habe. Dieser Anspruch Kataloniens führte in Zusammenhang mit dem Nachlass von Salvador Dalí und der Errichtung des beeindruckenden Dalí-Museums in Figueres zu heftigen emotionalen Auseinandersetzungen,6 da die Werke dieses katalanischen Künstlers wie auch die anderer Künstler, etwa Joan Miró, genauso als nationales spanisches Kulturerbe verstanden werden. Es brach zudem ein heftiger Streit um die im Januar 2006 schließlich begonnene Rückübertragung von Archivbeständen der Generalitat aus, die nach dem Spanischen Bürgerkrieg von Barcelona nach Salamanca verfrachtet worden waren, um dort zur Beweisführung bei politischen Prozessen genutzt zu werden. 6

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Siehe hierzu: „Visca Catalunya… pero ¿visca Dalí?“, El País, 19.02.2014.

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Die identitätsstiftende Bedeutung von Geschichte und Geschichtsvermittlung wurde ebenfalls zum Gegenstand einer heftig geführten Auseinandersetzung: Eine von der königlich-spanischen Akademie der Geschichte vorgenommene Prüfung der Inhalte der Geschichtslehrwerke an den Schulen der „historischen Regionen“ brachte Ende Juni 2000 ein aus Madrider Perspektive beklagenswertes Ergebnis. So sei die Geschichtsvermittlung häufig tendenziös und parteiisch und diene vorrangig den regionalen Nationalismen. Besonderen Anstoß nahm die Akademie am Umstand, dass in Lehrbüchern der Begriff „Spanien“ oftmals bewusst vermieden werde, auch wenn es im Kontext unumgänglich sei. Demnach sei der spanische Staat nicht viel mehr als eine ideologisch bedingte Fiktion, die kaum etwas mit der plurinationalen Realität auf der Iberischen Halbinsel zu tun habe.7 Der Streit strahlte weit über Fachkreise hinaus. Dabei bezichtigten sich Regionalisten und Zentralisten gegenseitig des Nationalismus. Die katalanische Regierung wies die Ergebnisse des Berichts zurück. So hieß es unmissverständlich: „Von unserer Geschichte aus können wir die Geschichte des spanischen Staates erklären. Und wir tun dies aus unserer Perspektive und nicht aus der, die man uns aufzwingen will und in der wir nur einen Teil darstellen“ (vgl. El País, 28.06.2000). Namhafte Historiker verwahrten sich wiederum gegen eine politische und ideologische Instrumentalisierung der Geschichte, zuweilen jedoch, ohne die eigene nationale Verortung verbergen zu können. So stellte Antonio Domínguez Ortiz fest, dass die Geschichtsvermittlung dienen solle, um zu einen und nicht um zu trennen (vgl. El País, 28.06.2000). Und wenngleich historische Ereignisse eine unverrückbare Tatsache darstellen, bleibt die Frage nach deren Kontextualisierung, Gewichtung und Interpretation, die unweigerlich von der politischen und ideologischen Einstellung der jeweiligen Vermittler und deren sozialem Umfeld als Ausdruck des Zeitgeistes beeinflusst werden. So formulierte der britische Historiker Paul Preston pointiert, dass allein der Versuch, festzustellen, es gebe eine einzige Version der Geschichte, die vermittelt werden müsse, durch und durch lächerlich sei (vgl. El País, 04.07.2020). Die Diskussion flaute zwar alsbald wieder ab, der hinter diesem Streit liegende grundsätzliche Konflikt hat allerdings nichts an Virulenz verloren.

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Zum Wortlaut des Berichts siehe: .

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Auf dem Weg in die Konfrontation

2003 kam es in der Geschichte Kataloniens zu einer Zäsur, als sich Jordi Pujol nach über zwei Jahrzehnten an der Spitze der Generalitat aus der Politik zurückzog und die CiU in diesem Jahr zudem die Regierungsverantwortung abgeben musste. Diesem Wechsel war der Aufstieg der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) vorangegangen, die für den Separatismus stand und damit dem „Katalanismus“ nicht nur eine neue Stoßkraft verlieh, sondern ihn fortan auch nachhaltig beeinflusste. Bei den Regionalwahlen von 1995 hatte die ERC bereits knapp zehn Prozent der Stimmen erreicht. Dieser Trend setzte sich fort, und bei den Wahlen von November 2003 konnte sie bereits über sechzehn Prozent auf sich vereinen. Diese im politischen Spektrum links von den Sozialisten verortete und während der Zweiten Republik tonangebende Partei war damit nicht nur wieder unter den Schwergewichten der katalanischen Parteienlandschaft; sie trug auch zur Ablösung von CiU bei, als mit Unterstützung von ERC der Sozialist und langjährige Bürgermeister von Barcelona, Pasqual Maragall, zum ­neuen Präsidenten der Generalitat gewählt wurde. Während für Pujol der Schwerpunkt bei den Beziehungen zur Madrider Zentralregierung in Verhandlungen auf bilateraler Ebene gelegen hatte, um auf diese Weise eine Erweiterung der Kompetenzen der Generalitat und eine Erhöhung der Zuweisungen aus den Steuereinnahmen zu erreichen, nahm die neue Regierung die Ausarbeitung eines neuen Autonomiestatuts in Angriff. Damit sollte das Beziehungsgeflecht zwischen Madrid und Barcelona auf eine neue Grundlage gestellt werden – ein Vorhaben, das schließlich alle im Regionalparlament vertretenen Parteien bis auf den PP unterstützten. Zu den erklärten Zielen gehörten der Abbau der nach wie vor wahrgenommenen Hindernisse zur freien Entfaltung in den Bereichen Kultur, Sprache und Erziehung sowie die Neuregelung der Verteilung des Steueraufkommens. Ein weiteres Anliegen war die seit Jahren diskutierte Reform des weitgehend bedeutungslosen Senats, um ihn als eine zweite Kammer zu gestalten, in der die Autonomen Gemeinschaften auch auf nationaler Ebene legislative Kompetenzen übernehmen. Damit sollte die Föderalisierung des Staates vorangebracht werden. Auch wurden Stimmen laut, die eine stärkere Beteiligung der Autonomen Gemeinschaften an der Besetzung des spanischen Verfassungsgerichts anmahnten, da der Rechtsprechung vorgehalten wurde, tendenziell zugunsten der Zentralregierung zu entscheiden. Zudem klang immer wieder eine ­grundlegende

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Unzufriedenheit mit der bestehenden Dezentralisierung des Staates an, da alle Autonomen Gemeinschaften dem Prinzip nach gleichgestellt sind. Dies entspreche nicht der nationalen Verfasstheit Spaniens. Vielmehr stehe Katalonien als „historischer Region“ (sowie dem Baskenland und Galicien) das Recht auf weiterreichende Kompetenzen zu (Balcells 2004: 275 ff.). Nachdem das Projekt der Ausarbeitung eines neuen Statuts zunächst auf die Verweigerungshaltung der in Madrid regierenden Konservativen stieß, die sich gegen Zugeständnisse sträubten, und damit die notwendige Unterstützung durch das spanische Parlament mehr als fraglich schien, entspannte sich die Lage mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Sozialisten im März 2004, hatte sich doch der sozialistische Spitzenkandidat und spätere Ministerpräsident, José Luis Rodríguez Zapatero, im Wahlkampf für die Unterstützung des Vorhabens ausgesprochen. Der im September 2005 in Barcelona verabschiedete Entwurf eines neuen Statuts8 stieß in Madrid allerdings zunächst auf massive Kritik: Regierung, Richter, Bischofskonferenz, Zentralbank, Arbeitgeberverband, Gewerkschaften und sogar einzelne Militärs hatten zum Teil gravierende Einwände und lösten inmitten einer ohnehin ideologisch aufgeheizten Stimmung zwischen den beiden großen Volksparteien heftige Gegenreaktionen aus. Dabei wurden von Seiten des PP die Gespenster der Vergangenheit in ­Erinnerung gerufen, nachdem in den 1930er Jahren gerade die Frage der regionalen Autonomie zur politischen Radikalisierung beigetragen hatte und das projektierte Autonomiestatut als Anfang vom Ende der nationalen Einheit Spaniens gebrandmarkt worden war. Die Kritik wandte sich dabei nicht zuletzt gegen die im ursprünglichen Entwurf wiederholt und prominent enthaltene Feststellung, Katalonien sei eine Nation. Zudem entstand eine breite gesellschaftliche Front gegen die als zu weit gehend empfundenen Ansprüche Kataloniens. Als im Zuge der Beratungen in der spanischen Abgeordnetenkammer deutliche Abstriche an der ursprünglichen Fassung des Statuts gemacht wurden und sich die Esquerra mit dem „verwässerten“ Ergebnis nicht zufriedengeben wollte, kam es in der Folge auch zu heftiger Kritik seitens der im spanischen Parlament vertretenen nationalistischen Kräfte Kataloniens. So wurde das überarbeitete Autonomiestatut zwar schließlich durch die Cortes angenommen, doch zu den Gegenstimmen des PP kamen nun auch noch jene von ERC hinzu. Mitte

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Zum Wortlaut siehe: .

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Juni 2006 folgte die Annahme durch einen Volksentscheid in Katalonien.9 Das Abstimmungsergebnis war mit einer Dreiviertelmehrheit zwar eindeutig, doch lag die Wahlbeteiligung unter fünfzig Prozent. In diesem letztlich zwiespältigen Ergebnis spiegelt sich aber nicht nur die Kritik an den erzwungenen Korrekturen, sondern auch der Grad des damaligen Interesses der katalanischen Bevölkerung an der Autonomiefrage sowie deren Identifikation mit Katalonien: Als die Diskussionen über das neue Autonomiestatut auf den Höhepunkt zusteuerten, sprachen sich über siebzig Prozent der Befragten in einer Ende Oktober 2005 in Katalonien durchgeführten Umfrage für ein neues Statut aus, doch nur weniger als fünfzig Prozent waren mit dem vorgelegten Entwurf zufrieden. Im Hinblick auf die heftig umstrittene Frage der Nation, vertraten wiederum über sechzig Prozent die Ansicht, dass Katalonien zwar eine eigenständige Nation, doch innerhalb des spanischen Staates darstelle (vgl. El Mundo, 29.10.2005). Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass eine Doppelidentität, Katalane und Spanier gleichermaßen zu sein, hohe Akzeptanz hatte. Über vierzig Prozent der in Katalonien lebenden Bevölkerung bejahte dies. Zählt man jene hinzu, die sich eher als Katalane oder als Spanier verstanden, lag der Anteil sogar bei drei Viertel der Befragten – allerdings bei einer deutlichen Tendenz, sich eher als Katalane zu fühlen (28 Prozent). Zu diesem Zeitpunkt spielte die Frage der Unabhängigkeit indes keine besondere Rolle: Zwischen 2005 und 2009 lag der Anteil der Befürworter noch relativ konstant bei etwa 15 Prozent (vgl. Clua i Fainé 2014). Trotz aller Kritik stellte das neue Statut für Katalonien einen deutlichen Fortschritt gegenüber dem des Jahres 1979 dar. So wurde zwar das Ansinnen, Katalonien als Nation zu bezeichnen, nicht im ursprünglich geforderten Rahmen erreicht, doch immerhin ein entsprechender, rechtlich allerdings nicht wirksamer Passus in die Präambel aufgenommen. Darüber hinaus wurden für den Eintritt in den Staatsdienst Kenntnisse in beiden offiziellen Sprachen verpflichtend. Dies betraf nun auch Richter und Notare, die bislang in der Verwendung des Katalanischen zurückhaltend gewesen waren. Auch wurde das katalanische Justizwesen gestärkt. Und wenngleich weiterhin das in der Verfassung verankerte, den innerspanischen Entwicklungsunterschieden geschuldete Solidaritätsprinzip zwischen den Regionen zum Tragen kam, erhielt Katalonien auch einen deutlich größeren Anteil an den Steuereinnahmen. Im neuen Statut wurde aber vor allem 9

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Zum Wortlaut siehe .

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eine deutlichere Abgrenzung der Kompetenzen von Z ­ entralregierung und Generalitat vorgenommen, was der Tendenz zur Erosion von Zuständigkeiten zugunsten der Madrider Gesetzgebung einen Riegel vorschob. Der Präsident der Generalitat, Maragall, zeigte sich jedenfalls über das Ergebnis sehr zufrieden, indem er feststellte, dass der spanische Staat in Katalonien nunmehr lediglich eine residuale Erscheinung darstelle (vgl. 20minutos, 10.08.2006). Insgesamt schritt die Generalitat im Sinne der Verwirklichung der Idee eines Europas der Regionen voran: Eine nachhaltige Stärkung infranationaler politischer Ebenen innerhalb der Europäischen Union sollte den Bürgern angesichts des faktischen Bedeutungsverlustes der traditionellen Nationalstaaten lebensnahe Identifikationsmöglichkeiten bieten. Der Partido Popular gab sich jedoch mit dem ausgehandelten Ergebnis nicht zufrieden und reichte Verfassungsklage ein, der sich weitere von den Konservativen gestellte Regionalregierungen anschlossen. Die ab Juni 2010 schließlich verkündeten Entscheidungen des Gerichts10 verwarfen wiederum einige der im Statut enthaltenen Bestimmungen. Die beanstandeten Passagen betrafen vor allem Kompetenzen in Fiskalfragen sowie des Obersten katalanischen Gerichtshofes. An der in der Präambel enthaltenen Erwähnung Kataloniens als Nation wurde zwar ebenfalls Anstoß genommen, doch aufgrund der fehlenden Verbindlichkeit keine Korrektur verfügt. Wenngleich nicht alle durch die Konservativen beanstandeten Artikel kassiert wurden, war der Richterspruch aus der Sicht der katalanischen Nationalisten zutiefst enttäuschend und setzte in der Folge eine Dynamik in Gang, die zu einem sich dramatisch aufschaukelnden Konflikt in den Beziehungen zwischen Madrid und Barcelona führte und schließlich in den Ereignissen vom Herbst 2017 gipfelte. Vor allem die Auseinandersetzung um die Frage des Nationscharakters Kataloniens wurde dabei zum zentralen Punkt in der außerordentlich emotional geführten und die Gesellschaft aufwühlenden Debatte. So rief eine Vielzahl von katalanischen Organisationen, Parteien und Verbänden im Juli 2010 zu einer Demonstration in Barcelona unter dem Motto „Wir sind eine Nation. Wir entscheiden das“ auf, an der je nach Quelle zwischen einer halben und eineinhalb Millionen Menschen teilnahmen. Nun rückte auch die Frage 10 Wortlaut der Urteile veröffentlicht in Boletín Oficial del Estado (BOE) 172, 16.07.2010; BOE 246, 11.10.2010 und BOE 16, 19.01.2011.

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der Unabhängigkeit in den Mittelpunkt: Die durch die großen zivilgesellschaftlichen Organisationen Assemblea Nacional Catalana (ANC) und Òmnium Cultural diesbezüglich orchestrierten Demonstrationszüge verwandelten Barcelona fortan alljährlich in ein Meer von katalanischen Fahnen. Anlässlich des Nationalfeiertages am 11. September 2012 stand die Demonstration unter dem Motto „Katalonien, ein neuer Staat Europas“, an der sich nach Schätzungen der Organisatoren zwei Millionen, nach Regierungsangaben 600.000 Menschen beteiligten. Auch Fußballspiele des FC Barcelona im Camp Nou wurden zu politischen Manifestationen, insbesondere wenn der Rivale Real Madrid hieß. Dann füllten sich die Ränge der Stadien mit zahllosen Fahnen der Unabhängigkeitsbewegung sowie Spruchbändern, auf denen „Catalonia is not Spain“ zu lesen war. In dieser Zeit stieg auch die Zahl derer sprunghaft in die Höhe, die sich bei Meinungsumfragen für die Unabhängigkeit Kataloniens aussprachen. 2013 lag der Anteil bei 47 Prozent; damit hatte er sich innerhalb von nur vier Jahren mehr als verdreifacht (vgl. Clua i Fainé 2014). Ein weiteres Ereignis, das wiederum den Unabhängigkeitsprozess auf politischer Ebene in Gang setzte, war die im September 2012 erfolgte Zusammenkunft in Madrid des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy mit dem Präsidenten der Generalitat, Artur Mas. Damals erteilte Rajoy der Forderung nach einer grundlegenden Neuordnung der Finanzverfassung Kataloniens eine endgültige Absage. Die katalanische Regierung hatte eine Regelung entsprechend dem bestehenden Fiskalpakt mit den baskischen Provinzen eingefordert: Bislang wird nahezu das gesamte katalanische Steueraufkommen zunächst einmal nach Madrid transferiert und von da aus ein Teil Katalonien zur Wahrnehmung der hoheitlichen Aufgaben zugewiesen. Das Baskenland wiederum verfügt über die Hoheit in Fiskalfragen und überlässt Madrid seinerseits nur einen ausgehandelten Anteil (cupo). Katalonien erwirtschaftet in etwa ein Fünftel des spanischen Bruttoinlandsproduktes und gehört zusammen mit Madrid, dem Baskenland und Navarra zu den Regionen mit dem höchsten Pro-Kopfeinkommen. Entsprechend wurde unter der Losung „Spanien raubt uns aus“ polemisch argumentiert, dass der von Madrid nach undurchsichtigen Berechnungen überwiesene Betrag unverhältnismäßig niedrig sei und die Zentralregierung die katalanische Bevölkerung entsprechend ­übervorteile, um ärmere Regionen in unerträglicher Weise zu subventionieren (vgl. hierzu Schreiber 2015: 187-202). Das sollte nach dem Willen der Generalitat auf der Grundlage einer neuen Fiskalverfassung anders werden.

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Rückblickend kann durchaus argumentiert werden, dass ein substantielles Entgegenkommen in dieser Frage der nun folgenden Eskalation hätte entgegenwirken können. Die schroffe Ablehnung der Forderung nach einem Fiskalpakt kann somit als Initialzündung für die nationalistisch-konservative CiU unter Artur Mas verstanden werden, den Weg in die Sezession zu beschreiten. Zwischen 2009 und 2011 waren bereits in Hunderten von Gemeinden Befragungen über die Unabhängigkeit durchgeführt worden. Nach den auf Ende November 2012 vorgezogenen Regionalwahlen, die die Machtverhältnisse bestätigten, wurde in dieser Frage seitens der Generalitat nun auch für ganz Katalonien ein Referendum angesetzt. Auf massiven Druck der Zentralregierung hin und nachdem das Verfassungsgericht ein solches Referendum für illegal erklärt hatte, kam es im November 2014 indes lediglich zur Durchführung einer unverbindlichen Befragung. Über achtzig Prozent sprachen sich dabei für einen unabhängigen katalanischen Staat aus, was die Generalitat wiederum als Auftrag wertete, auf diesem Weg voranzuschreiten. Die Wahlbeteiligung lag indes deutlich unter vierzig Prozent. Gemessen an der Gesamtheit der katalanischen Bevölkerung spiegelte sich in diesem Ergebnis ein Kräfteverhältnis, das sich in der Folge immer wieder aufs Neue bestätigte: Etwas weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten tritt für die Unabhängigkeit Kataloniens ein. Darüber hinaus schuf die Generalitat Verwaltungsstrukturen zur Vorbereitung der Übernahme von Kompetenzen, die bis dahin dem spanischen Staat vorbehalten waren. Dazu gehörten insbesondere Diplocat, eine außerhalb Spaniens agierende politische Interessensvertretung, sowie die Rahmenbedingungen für eine eigenständige Steuer- und Finanzverwaltung. Der Weg zur Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober 2017

Der Wahlkampf zu einem erneut vorgezogenen Urnengang Ende September 2015 fand in einer emotional stark aufgeladenen Stimmung statt, zumal das Datum bewusst auf zwei Wochen nach dem katalanischen Nationalfeiertag gesetzt worden war. Damit fiel der Auftakt des Wahlkampfes mit der in jenem Jahr unter dem Motto „Freier Weg zur katalanischen Republik“ stehenden Großdemonstration zusammen, womit die für die Sezession eintretenden Parteien den Wahlgang als Unabhängigkeitsplebiszit inszenierten. Trotz aller Bemühungen verschob sich das Wahlergebnis

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jedoch nicht zugunsten der Separatisten, die zwar auch diesmal eine knappe Mehrheit im Parlament errangen, deren Stimmenanteil zusammengenommen jedoch wieder einmal unter fünfzig Prozent lag. Zudem handelte es sich um ein ideologisch äußerst heterogenes Bündnis, das von konservativen Kräften bis zur radikal antikapitalistischen Gruppierung CUP reichte und dessen einzige programmatische Gemeinsamkeit in der Erreichung der Unabhängigkeit bestand. Als Königsmacher erwies sich wiederum die letztgenannte Gruppierung, indem sie die Wiederwahl des mit Korruptionsvorwürfen konfrontierten Artur Mas verhinderte. Die kompromisslose Haltung der CUP-Abgeordneten forcierte darüber hinaus aber auch eine Radikalisierung der weiteren Entwicklung. Mit Bildung der neuen Regierung, nun unter Carles Puigdemont, wurde das Vorhaben einer einseitig vollzogenen Unabhängigkeit mit Nachdruck weiterverfolgt, und ein im Wahlkampf neuerlich angekündigtes Referendum wurde trotz verschiedener Urteile des spanischen Verfassungsgerichts, das es für illegal erklärte, schließlich für den 1. Oktober 2017 angesetzt. Die Zeichen standen auf Sturm, denn während die Generalitat trotz aller Warnungen aus Madrid diesmal an der Durchführung des Referendums festhielt, setzte die Zentralregierung alles daran, die Volksbefragung zu verhindern. Auf internationaler Ebene versuchte die katalanische Regierung wiederum, Verbündete zu finden und vor allem die Europäische Kommission in eine Vermittlerrolle zu drängen, während in Madrid gebetmühlenartig das Argument wiederholt wurde, wonach der Konflikt eine rein innerspanische Angelegenheit sei, die keine Einmischung von außen zulasse. Auf europäischer Ebene stieß das Anliegen der Separatisten teilweise durchaus auf Sympathien, wozu eine über viele Jahre hinweg erfolgte intensive Lobbyarbeit der katalanischen Regierung sowie deren klares Bekenntnis zu Europa beigetragen hatten. Der Versuch, die Unabhängigkeitsfrage auf die europäische Ebene zu heben, scheiterte dennoch. Die Europäische Kommission, das Europaparlament sowie Staaten wie Frankreich oder Deutschland vertraten die Position, dass es sich um einen innerstaatlichen Konflikt handelte und eine einseitig erfolgte Aufkündigung der Verfassung durch die Generalitat nicht akzeptiert werden würde. Aus Brüssel hieß es zudem unmissverständlich, dass Katalonien im Fall einer Abspaltung von Spanien aus der Europäischen Union ausgeschlossen werden würde und auch auf die Gemeinschaftswährung Euro verzichten müsste. Nachdem zur Aufnahme in die europäische Staatengemeinschaft

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die ­Zustimmung aller Mitgliedsstaaten erforderlich ist, wäre bei einer zu erwartenden negativen Haltung Madrids eine EU-Mitgliedschaft Kataloniens nicht einmal in Aussicht gestanden (The Economist, 14.10.2017). Zu dieser klaren Haltung hat sicherlich auch beigetragen, dass der Separatismus allenfalls von der Hälfte der Bevölkerung Kataloniens unterstützt wird. Hinzu kamen aber vor allem die Sorgen vor den für die Europäische Union destabilisierenden Folgen einer Abspaltung angesichts der bestehenden regionalen Nationalismen in anderen Mitgliedsländern. So standen auch Befürchtungen im Raum, dass der Katalonien-Konflikt auf das als Nordkatalonien bezeichnete französische Roussillon ausstrahlen könnte (El País, 26.09.2017). Die aufgeheizte Stimmung zeigte sich aber nicht nur an der Sichtbarkeit der Unabhängigkeitsbefürworter. Nachdem die Gegner einer Sezession bislang kaum in Erscheinung getreten waren, strömten im Oktober 2017 mehrfach Hunderttausende auf die Straßen Barcelonas, um für die Einheit Spaniens einzutreten. Aber nicht nur in Katalonien: Auch in anderen Städten Spaniens säumten mit einem Mal Abertausende spanische Nationalfahnen die Balkone der Wohnblöcke, und eine bis dahin kaum in Erscheinung getretene rechtsextreme Partei namens Vox konnte sich im Kielwasser einer emotionalisierten Gesellschaft völlig überraschend profilieren, indem sie im Dezember 2018 in das Regionalparlament von Andalusien einzog. Das war der Auftakt zu weiteren Wahlerfolgen, auch auf nationaler Ebene. Die Zeit, in der die spanische Gesellschaft angesichts der eigenen diktatorischen Vergangenheit als immun gegen Rechtsextremismus gegolten hatte, war vorbei. Ein überwunden geglaubter Nationalismus ist in Spanien zurück. Mehr noch, er erfasste vor dem Hintergrund des Konflikts um Katalonien weite Teile der konservativen Bevölkerung und den PP. Die sich zuspitzende Entwicklung hatte aber auch dramatische Folgen für Katalonien als Wirtschaftsstandort. In jenen Wochen wurden Bankeinlagen in zweistelliger Milliardenhöhe nach außerhalb Kataloniens verschoben und an die 4.500 Unternehmen verlegten bis März 2018 laut ­offiziellen Daten ihren Firmensitz in andere Autonome Gemeinschaften, vor allem nach Madrid (vgl. Expansión, 13.03.2018). Dazu gehörten Schwergewichte wie die großen Banken Sabadell und CaixaBank, der Energieversorger Gas Natural, der Infrastrukturbetreiber Abertis, der Versicherer Allianz Seguros, der Schaumweinhersteller Codorníu oder das Verlagshaus Grupo Planeta. Eine starke Signalwirkung hatte, dass das ­Konsortium Agbar (Aguas

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de Barcelona), Eigentümerin des gleichnamigen, die Skyline Barcelonas überragenden Wahrzeichens der Stadt, der M ­ etropole den Rücken kehrte. Hierbei handelte es sich vor allem um Unternehmen, die für den Absatz ihrer Produkte auf den spanischen und den europäischen Markt angewiesen sind. Die politische Krise wirkte sich darüber hinaus negativ auf die Investitionsneigung in Katalonien aus. Ein auf die Unabhängigkeit folgender Ausschluss aus der EU und dem Euroraum hätte den Wirtschaftsaustausch massiv beeinträchtigt und unabsehbare Folgen für eine Region gehabt, deren Anteil an der gesamten spanischen Wirtschaftsleistung gerade aufgrund dieses Austauschs bei etwa zwanzig Prozent liegt.11 Wenngleich vor diesem Hintergrund die von den Separatisten vorgelegten und ohnehin als sehr fragwürdig beurteilten Rechenmodelle hinfällig wurden, wonach ein unabhängiges Katalonien wirtschaftlich stärker als zuvor prosperieren würde, hielt die Generalitat, getragen durch eine gewaltige gesellschaftliche Mobilisierung, unverdrossen an der Durchführung des Referendums am 1. Oktober fest. In einer teilweise extrem spannungsgeladenen Atmosphäre, die seitens der spanischen Sicherheitskräfte in Gewaltausübung mündete, gaben nach Angaben der Generalitat schließlich über zwei Millionen Menschen ihre Stimme ab, von denen sich wiederum neunzig Prozent für die Abspaltung Kataloniens aussprachen. Obwohl die irreguläre Durchführung des Referendums und die niedrige Wahlbeteiligung von 42 Prozent dem Ergebnis keine besondere Aussagekraft verliehen, leitete die katalanische Regierung hieraus einmal mehr einen klaren Handlungsauftrag ab. Dieser wurde trotz aller Warnungen aus Madrid, trotz der eindeutig ablehnenden Haltung der europäischen Institutionen sowie der massiven Abwanderung von Unternehmen nach enorm emotionsgeladenen Wochen in die Tat umgesetzt: Am 27. Oktober verkündete das katalanische Parlament die Unabhängigkeit Kataloniens. Diese Unabhängigkeitserklärung stellt den bisherigen Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen dem katalanischen Nationalismus und der Madrider Zentralregierung dar. Die spanische Regierung, getragen durch eine breite Parlamentsmehrheit, zu der nach intensiven innerparteilichen Auseinandersetzungen auch die Sozialisten des PSOE gehörten, reagierte wiederum umgehend: Auf der Grundlage des Artikels 155 der spanischen Verfassung, der im deutschen Grundgesetz in den ­Bestimmungen 11 Vgl. hierzu .

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zum Bundeszwang eine Entsprechung hat, übernahm die Zentralregierung die Funktionen der katalanischen Exekutive. Diese Maßnahme bedeutete nach dem Putschversuch des Jahres 1981 den tiefsten Einschnitt in der Geschichte des seit 1978 demokratisch verfassten spanischen Gemeinwesens. Entsprechend hatte die Regierung nicht nur einen breiten parlamentarischen Konsens gesucht, um auf einen Prozess zu reagieren, der über Jahre hinweg auf die Sezession abzielte. Auch ergriff sie die in der Verfassung vorgesehenen Zwangsmaßnahmen erst nach Ausrufung der katalanischen Republik. Die Maßnahmen richteten sich zudem nicht gegen das bestehende Autonomiestatut als solches. Vielmehr beschränkte sich die Zentralregierung im Wesentlichen darauf, die katalanische Exekutive abzusetzen und deren Kompetenzen den jeweiligen Madrider Ressorts zu übertragen, die Befugnisse des katalanischen Parlamentspräsidenten zu beschneiden und die katalanischen Polizeikräfte dem Madrider Innenministerium zu unterstellen. Selbst auf die zunächst angestrebte Intervention der Medien ist, allerdings erst auf Druck des PSOE hin, verzichtet worden. Damit unterschied sich das Vorgehen Madrids grundlegend von jenem der nationalkonservativen Regierung während der Zweiten Republik, als der Ausrufung eines katalanischen Staates im Zuge der revolutionären Ereignisse vom Oktober 1934 harte, von Willkür geprägte repressive Maßnahmen mit der Verhaftung Tausender, der Schließung von Presseorganen und der Außerkraftsetzung des Autonomiestatuts folgten (Balcells 2006: 744 ff.). Hiervon ungeachtet wurden von Katalonien aus massive Vorwürfe an die Madrider Regierung gerichtet. Die verhängten Zwangsmaßnahmen wurden als „Putsch“ sowie als „Angriff auf das katalanische Volk“ bezeichnet; die konservative Regierung wurde wiederum mit Begriffen wie „Totalitarismus“ und „Faschismus“ belegt.12 Solche drastischen Formulierungen verknüpften die Ereignisse mit der Erfahrung der Franco-Diktatur, als die während der Zweiten Republik bestehende Autonomie abgeschafft worden war, sich eine brutale Repression gegen die Gegner des Regimes gerichtet hatte und die katalanische Gesellschaft für Jahrzehnte dem Joch der Diktatur unterworfen worden war. Gerade die Bilder der Polizeigewalt vom Tag des Referendums am 1. Oktober, mit denen sich die Botschaft verband, dass die Zentralregierung die Katalanen daran gehindert hat, das 12 So auch Carles Puigdemont in einer Ansprache. Vgl. hierzu: .

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Wahlrecht als Ur-Recht der Demokratie auszuüben, weckten in fataler Weise die Erinnerung an die Spätphase des Franco-Regimes, als sich die Polizeiknüppel gegen all jene gerichtet hatten, die unter dem Dreiklang „Freiheit, Demokratie, Autonomie“ für eine Überwindung der Diktatur eingetreten waren. Entsprechend wurden ideologische Kontinuitätslinien gezogen und der Zentralregierung das Handlungsmuster der Franco-Diktatur attestiert. Solche vermeintlichen Analogien zwischen der Diktatur und der bestehenden, demokratisch verfassten Grundordnung entbehren jeglicher Grundlage. Der auf dem Boden der Verfassung stehenden, allerdings unnachgiebigen Haltung des spanischen Ministerpräsidenten Rajoy stand zudem gegenüber, dass sich die Generalitat unter Puigdemont über die bestehende Verfassungsordnung bewusst hinweggesetzt, sie handstreichartig den Weg in die einseitig verkündete Unabhängigkeit beschritten und sich damit in eine ausweglose Situation manövriert hat. Angesichts der Aussichtslosigkeit des Vorhabens drängt sich vielmehr der Schluss auf, dass der katalanische Nationalismus dem eigenen Opfernarrativ erlegen ist. Hieran ändert auch nichts, dass sich in großen Teilen der Unabhängigkeitsbewegung bis zum Schluss die Hoffnung auf eine Rückendeckung durch Institutionen der Europäischen Union hielt. Die mit der Verhängung der Zwangsmaßnahmen erwartete weitere Eskalation der Lage blieb jedoch aus. Der seines Amtes enthobene Präsident der Generalitat, Carles Puigdemont, setzte sich zwei Tage später zusammen mit weiteren Regierungsmitgliedern nach Brüssel ab. Andere flohen nach Schottland oder in die Schweiz. Demonstrationen zur Verteidigung der katalanischen Republik verliefen im Sande. Ein befürchteter revolutionärer Impetus der Massen kam nicht zum Durchbruch. Das Kartenhaus der Republikgründung stürzte vielmehr in sich zusammen, und in Spanien verbliebene führende Köpfe der Unabhängigkeitsbewegung wurden inhaftiert. Die durch die Zentralregierung umgehend für den 21. Dezember 2017 angesetzten Neuwahlen, die eine Rückkehr zur Normalität ermöglichten, erbrachten wiederum keine Veränderung auf politischer Ebene: Erneut erreichten die Separatisten die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, doch konnten sie auch diesmal keine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen. Zwar bekundeten die beiden großen politischen Gruppierungen der Unabhängigkeitsbewegung, die durch Carles Puigdemont angeführte Parteienvereinigung Junts per Catalunya sowie ERC, nun eine Rückkehr

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zur Legalität innerhalb der spanischen Verfassung. Die Gräben zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Unabhängigkeit bestanden indes fort, zumal die Separatisten an ihrem Ziel der Gründung einer katalanischen Republik festhielten. Das zeigte sich nicht zuletzt daran, dass nach der Wahl von Quim Torra nicht nur ein entschiedener Verfechter der Unabhängigkeit im Mai 2018 an die Spitze der Generalitat trat, sondern darüber hinaus der im Exil weilende Carles Puigdemont unverändert als legitimer Präsident und Torra als dessen Statthalter verstanden wurden. Während bis dahin die Esteladas, die mit einem blauen Dreieck und weißen Stern bestückten Fahnen der Unabhängigkeitsbewegung das Bild in der Öffentlichkeit dominiert und die Fassaden der Wohnhäuser gesäumt hatten, kamen nun gelbe Schleifen als Zeichen der Solidarität mit den als „politische Gefangene“ wahrgenommenen Inhaftierten hinzu. Ernüchterung und Dialogbereitschaft

Der ab Februar 2019 im Web live übertragene fünfmonatige Prozess gegen die Anführer des Sezessionsversuchs wurde von einem gewaltigen medialen Interesse begleitet, und die Justiz tat sich schwer, die mit den Anklagepunkten des Aufruhrs verbundene Gewalt nachzuweisen. Die schließlich verhängten langjährigen Haftstrafen stießen in der Folge auf heftige Reaktionen: Während sie von den Befürwortern der Unabhängigkeit als indiskutabel und unverhältnismäßig hart empfunden wurden und es in Katalonien in der Folge zu massiven Ausschreitungen kam, waren sie für die Rechte allzu milde ausgefallen.13 Doch wenngleich sich Teile der Unabhängigkeitsbewegung radikalisierten und die 2017 entstandenen „Komitees zur Verteidigung der Republik“ (Comitès de Defensa de la República, CDR) mit Gewaltaktionen, etwa gegen Mautstellen des Autobahnnetzes, mit der Blockade der BahnHochgeschwindigkeitstrasse oder des Flughafens Barcelona, allesamt staatliche Einrichtungen, sowie anlässlich der Tagung des spanischen Kabinetts unter Ministerpräsident Pedro Sánchez in Barcelona, in Erscheinung traten und damit vor allem die Generalitat unter Druck setzten, beruhigten sich in der Folgezeit die Gemüter. Vielmehr machte sich Ernüchterung breit, was sich auch an der Mobilisierung der Massen zeigte. So gingen am 13 Eine Zusammenstellung unter: .

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11. September 2021 zwar einmal mehr weit über 100.000 Menschen auf die Straßen, doch handelte es sich hierbei um einen Bruchteil dessen, was noch fünf Jahre zuvor erreicht worden war. Hieran änderte auch nichts Grundlegendes, dass Quim Torra im September 2020 gerichtlich des Amtes enthoben wurde, nachdem er sich während des nationalspanischen Wahlkampfes vom April 2019 geweigert hatte, die Zeichen der Solidarität mit den „politischen Gefangenen“ an seinem Amtssitz zu entfernen und damit die vorgeschriebene Neutralitätspflicht verletzt hatte. Die in der Folge für Februar 2021 angesetzten Neuwahlen zur Generalitat bestätigten einmal mehr die Mehrheitsverhältnisse, obgleich nun unter neuer Führung: Erstmals seit der Verabschiedung des Autonomiestatuts im Jahr 1980 stellte die ERC mit Pere Aragonés den Präsidenten der Regionalregierung. Dieser schlug wiederum mildere Töne an und trat in einen Dialog mit der Madrider Zentralregierung. Die durch Ministerpräsident Sánchez verfügte und von konservativer Seite heftig kritisierte ­Begnadigung der Inhaftierten trug zudem dazu bei, das Klima weiter zu entspannen und die Basis für den Dialog zu festigen. Hiervon abgesehen steht Sánchez auch unter Zugzwang, ist er doch auf die Stimmen von ­Esquerra angewiesen, um im Madrider Parlament eine Mehrheit für die Verabschiedung von Gesetzen und nicht zuletzt des Haushalts zu erreichen. Am kaum zu überbrückenden Dissens in den strittigen Fragen hat sich indes nichts geändert. Von katalanischer Seite lauten die Kernforderungen weiterhin: Abhaltung eines verbindlichen Referendums über die Unabhängigkeit und Straffreiheit für die ins Ausland geflüchteten Anführer des Sezessionsversuchs. Das Angebot aus Madrid, Verhandlungen zur Überarbeitung des Autonomiestatuts zu beginnen, die sicherlich auch die Frage des 2012 diskutierten Fiskalpaktes umfassen würden, wird indes in Barcelona abgelehnt. Hierzu trägt zweifellos bei, dass die ERC auch innerhalb Kataloniens unter Druck steht. Ende 2021 kündigte die linksextreme Partei CUP, die seit zehn Jahren als Mehrheitsbeschafferin fungierte und weiterhin auf einen radikalen Bruch mit Madrid setzt, die Zusammenarbeit mit den Regierungsparteien ERC und Junts auf. Schließlich hat aber auch die Covid-19-Pandemie die Auseinandersetzung um die Zukunft Kataloniens überlagert. Wenngleich es hierbei auch zu einem lautstarken Gerangel um die Kompetenzen bei der Bekämpfung der Pandemie kam und gegenseitige Schuldzuweisungen in Zusammenhang mit Missmanagement bei der Bewältigung der Gesundheitskrise

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erfolgten, rückte der politische Konflikt angesichts der dramatischen gesellschaftlichen Folgen der Pandemie in den Hintergrund. Bei aller Dialogbereitschaft und Mäßigung in den Äußerungen seitens der Regierungen in Madrid und Barcelona bleiben die Fronten verhärtet. Zudem ist die katalanische Gesellschaft in der Frage nach der Zukunft Kataloniens tief gespalten, das gesellschaftliche Klima ist unverändert polarisiert. Das lässt sich schon allein daran ablesen, dass CUP bei den Wahlen von 2021 die Anzahl an Sitzen im katalanischen Parlament mit neun Abgeordneten nahezu verdoppeln konnte, während die Partei Vox, die bei diesen Wahlen und mit dem Slogan „Recuperemos Cataluña“ (Holen wir uns Katalonien zurück) erstmals angetreten war, mit elf Abgeordneten einzog und damit den ohnehin nie stark vertretenen PP mit nun gerade noch drei Abgeordneten vollends an den Rand drängte. Das programmatische Schlusswort der Erklärung des Vorsitzenden von Òmnium Cultural, Jordi Cuixart, vor dem Obersten Gerichtshof im Juni 2019: „Ho tornarem a fer“ (Wir werden es erneut tun), wurde wiederum zu einem Wahlspruch der radikalen Unabhängigkeitsbefürworter. Am Tag seiner Freilassung im Juni 2021 ließen er und die übrigen Mitinhaftierten keinen Zweifel daran, dass der Kampf um die Unabhängigkeit ab diesem Tag fortgesetzt werde (vgl. 20minutos, 23.06.2021). Das sind unversöhnliche Töne von Links und Rechts. Zwischen diesen Polen, die überdies einen jeweils beträchtlichen gesellschaftlichen Rückhalt genießen, bewegt sich der fragile Dialog zwischen Madrid und Barcelona auf der Suche nach einem Weg zur Verständigung, die von Dauer sein möge. Ausblick

Angesichts der historischen Entwicklung ist es nicht gerade wahrscheinlich, dass es in den seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert geführten und sich kontinuierlich verschärfenden Auseinandersetzungen um Kompetenzen und nicht zuletzt um die Frage der katalanischen Nation in absehbarer Zeit zu einer dauerhaften Beruhigung kommen wird. Der katalanische Nationalismus hat, abgesehen von der Unabhängigkeitsforderung, stets eine Sonderstellung für sich reklamiert, die über das hinausging, was durch die Zentralregierung letztlich zugestanden wurde. Hinzu kommt, dass sich nicht allein die Anhängerschaft des katalanischen Nationalismus radikalisiert hat; auch hat der spanische nationalistische Diskurs in und

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außerhalb Kataloniens deutlich an Schärfe gewonnen. In Katalonien stehen sich wiederum in der Frage der Unabhängigkeit zwei ungefähr gleich große Lager gegenüber mit klar auszumachenden regionalen Schwerpunkten: Während der ländliche Raum weit überwiegend für den Separatismus steht, bilden die Gegner in der großen Metropolregion Barcelona, in der ein Großteil der seit den 1950er Jahren zugezogenen Familien leben, eine deutliche Mehrheit. Dies bedeutet nicht zuletzt auch eine konfliktträchtige Spaltung zwischen „Alt-“ und „Neu-Katalanen“. Die Massendemonstrationen zeigten wiederum, dass die Unabhängigkeitsbewegung besonders stark durch eine junge Generation getragen wird. Das bedeutet, dass auf der Grundlage des katalanischen Autonomiestatuts und der dezidiert betriebenen Kulturpolitik in den vergangenen vier Jahrzehnten eine Generation herangewachsen ist, die überwiegend Katalonien als nationalen Referenzpunkt hat. Spanien ist für weite Teile dieser Generation nicht nur emotional negativ besetzt, sondern existiert erst gar nicht als nationale Bezugsgröße. So steht durchaus zu erwarten, dass im weiteren Zeitverlauf der Anteil jener, die für eine eigenständige katalanische Nation eintreten, kontinuierlich wachsen wird und die emotionalen Bindungen an Spanien weiter abnehmen werden. Bei aller Lagerbildung in der Frage der Unabhängigkeit und dem dazwischen verlaufenden tiefen Riss durch die Gesellschaft bietet eine differenzierte Betrachtung der Grundhaltungen indes ein komplexeres Gesamtbild. So ist das Selbstverständnis, zu einer katalanischen Nation zu gehören, für einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung durchaus mit der Vorstellung vereinbar, Mitglied der spanischen Nation zu sein (vgl. Clua i Fainé 2014). Hinzu kommt, dass ein Teil jener, die für die Unabhängigkeit eintreten, nicht dem katalanischen Nationalismus verhaftet ist, sondern vielmehr auf einen ideologisch links verorteten politischen Neuanfang im Sinne einer gerechteren Gesellschaftsordnung setzt. Hierzu haben nicht zuletzt massive Korruptionsskandale um die ehemaligen Präsidenten der Generalitat, Jordi Pujol und Artur Mas, beigetragen, die das Selbstverständnis erschütterten, wonach Korruption eine endemisch spanische und keine katalanische Erscheinung sei. Bei aller Binnendifferenzierung wird auch künftig die Frage nach der katalanischen Nation als Grundproblem bestehen bleiben und weiterhin den Dreh- und Angelpunkt der künftigen Auseinandersetzung bilden. Aus spanischer Perspektive ist Katalonien ein integraler Bestandteil der spanischen Nation, während aus katalanischer Sicht ein eigener, hiervon

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losgelöster nationaler Bezugsrahmen sehr wohl existiert. Beide Nationsverständnisse sind kaum miteinander vereinbar. Nationalismen speisen sich außerdem vor allem aus Emotionen und Projektionen und sind damit rational nicht zu fassen. Und so geboten es auch ist, dass die Konfliktparteien mit kühlem Kopf gemeinsam einen Weg ausloten, stimmt sehr bedenklich, dass die Auseinandersetzung im Herbst 2017 derart auf die Spitze getrieben wurde, dass eine massive Entladung von Gewalt zu befürchten war (González i Vilalta et al. 2017: 91, 118). Gleichwohl hat die Vergangenheit aber auch gezeigt, dass trotz aller Reibungsflächen die gemeinsam gewachsenen politischen, historischen und kulturellen Wurzeln gegenseitig befruchtend wirkten und in diesem Sinne auch zukunftsgerichtet zur Gestaltung einer zeitgemäßen und lebenswerten gemeinsamen Gesellschaftsordnung beitragen können. Ausgewählte Literatur Aja, Eliseo (2007): El estado autonómico. Federalismo y hechos diferenciales. Madrid: Alianza. Amat, Jordi (2018): Largo proceso, amargo sueño. Cultura y política en la Cataluña contemporánea. Barcelona: Tusquets. Anderson, Benedict (2006): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso. Aschmann, Birgit (2021): Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus. Göttingen: Wallstein. Balcells, Albert (2004): Breve historia del nacionalismo catalán. Madrid: Alianza. — (Hg.) (2006): Historia de Cataluña. Madrid: La Esfera de los Libros. Bernecker, Walther L./Collado Seidel, Carlos (Hgg.) (1993): Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1975-1982. München: Oldenbourg. Bernecker, Walther L./Maihold, Günther (Hgg.) (2007): España: del consenso a la polarización. Madrid/Frankfurt a. M: Iberoamericana/Vervuert. Bernecker, Walther L./Esser, Torsten/Kraus, Peter A. (2007): Eine kleine Geschichte Kataloniens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Billig, Michael (1995): Banal Nationalism. London: Sage. Brinkmann, Sören (2007): Katalonien und der Spanische Bürgerkrieg: Geschichte und Erinnerung. Berlin: tranvía. Byrne, Steven (Hg.) (2021): Identity and Nation in 21st Century Catalonia: El Procès. Cambridge: Cambridge Scholars. Canal, Jordi (2015): Historia mínima de Cataluña. Madrid: Turner. — (2018): Con permiso de Kafka. El proceso independentista en Cataluña. Barcelona: Península.

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Die Ausfahrt aus dem Labyrinth. Nationalismus, Gewalt und Erinnerung im Baskenland (2005-2021)1 Ludger Mees Abstract Seit den 1980er Jahren genießt die Metapher des „baskischen Labyrinths“ eine beachtliche Prominenz als einprägsame Formel für eine verfahrene, unübersichtliche und offenbar ausweglose Situation: ein Irrgarten ohne Ausgang, ein Problem ohne mögliche Lösung. Erst in den letzten gut anderthalb Jahrzehnten, die in vielerlei Hinsicht den Beginn einer neuen Epoche in der baskischen und spanischen Geschichte markierten, konnten viele der dunklen Ecken im Labyrinth ausgeleuchtet und Ausfahrtmöglichkeiten angezeigt werden. Wie war das nach so vielen Jahren der Frustration und Ausweglosigkeit möglich? Der Beitrag soll einige Antworten auf diese Fragen anbieten. Der Fokus liegt dabei erstens auf der Entwicklung des baskischen PNV-Mehrheitsnationalismus weg von der Radikalität hin zum moderaten Pragmatismus. Danach wird zweitens die Verschiebung der politischen Machtverhältnisse durch die Bildung der ersten sozialistischen Regionalregierung im Jahr 2009 untersucht. Im dritten Schwerpunkt geht es schließlich um den zähen und langwierigen Prozess, der zur Auflösung von ETA und zur Eingliederung des politischen Umfeldes der Organisation in die demokratischen Institutionen führte. Abschließend werden die wichtigsten Herausforderungen der baskischen Gesellschaft im neuen post-ETASzenarium diskutiert.

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Dieser Text ist ein Ergebnis eines breiteren Forschungsprojektes, das von der Universität des Baskenlandes (GIU 20/02) und vom spanischen Ministerium für Forschung, Innovation und Universitäten (PGC2018-094133-B-100 MCIU/AEI/FEDER, EU) gefördert wird.

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Einleitung: 16 Jahre Wandel

Es gibt immer wieder Perioden in der Geschichte, in denen sich die Dinge überstürzen. Wenige Jahre reichen aus, um eine lang gereifte Realität komplett zu verändern und durch neue Tatsachen zu ersetzen. Die 16 Jahre zwischen 2005 und 2021 gehören sicherlich zu diesen tiefgreifenden Wandlungsperioden in der baskischen Geschichte. In diesem Zeitraum wurde der Weg für das definitive Ende des ETA-Terrorismus geebnet, und auch die politische Landschaft veränderte sich nachhaltig: Die Mehrheitsnationalisten vom Partido Nacionalista Vasco – Euzko Alderdi Jeltzalea (PNV/EAJ, im Weiteren: PNV) ließen einem Jahrzehnt der Radikalität eine Phase des moderaten Pragmatismus folgen; der ehemalige politische Flügel von ETA entmilitarisierte sich und fand den Weg zurück in die parlamentarische Legalität; und mit Podemos präsentierte sich eine neue linksalternative Gruppierung mit überraschendem Erfolg als Akteur auf der politischen Bühne. Bald jedoch wurden alle diese Transformationsprozesse von einem noch radikaleren Bruch in den Schatten gestellt: Wie im Rest der Welt, so beherrschte nach dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie auch im Baskenland das Thema Gesundheitspolitik die Regierung, das Parlament und die Öffentlichkeit, bis dann die Erfolge bei der Immunisierung durch die massiven Impfkampagnen endlich wieder mehr Spielraum für eine Rückkehr zur „neuen Normalität“ schufen. Der Begriff „neue Normalität“ war ursprünglich eine Wortschöpfung, mit der eine Situation beschrieben werden sollte, in der die Menschen wieder weitgehend an den Lebensstil anknüpfen konnten, der vor dem Beginn der Pandemie herrschte, ohne jedoch zu vergessen, dass die Gefahr des Virus nicht vollständig gebannt war und daher noch bestimmte Vorsichtsmaßnahmen eingehalten werden mussten. Im baskischen Kontext könnte man diesen Begriff aber sicherlich auch auf die politische und gesellschaftliche Konstellation anwenden, die 2011 mit dem permanenten Waffenstillstand oder, mehr noch, nach 2018 nach der definitiven Auflösung von ETA entstand. Nach einem halben Jahrhundert politisch motivierter Gewalt, die alle gesellschaftlichen Bereiche betroffen und nach der Entschärfung des nordirischen Konfliktes das Baskenland als Sonderfall in Europa herausgestellt hatte, wurde die Region endlich wieder „normal“ im Sinne einer wirtschaftlich entwickelten, wohlhabenden parlamentarischen Demokratie, in der die entstehenden Konflikte im freien Diskurs erörtert und mit friedlichen Mitteln gelöst bzw. geschlichtet werden. Ähnlich wie

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im Bereich der Pandemie, so war diese neue Normalität aber nicht komplett, denn die lange, oft blutige Vergangenheit war noch zu präsent, um einfach vergessen werden zu können. Nicht nur die Opfer – von ETA, aber auch der rechtsextremen Killerkommandos oder der polizeilichen Foltermethoden – verlangen eine Aufarbeitung dieser Vergangenheit. Im Winter 2021, als diese Zeilen geschrieben wurden, ist noch kaum eine der unbequemen Fragen, die die baskische Vergangenheitsbewältigung aufwirft, wirklich geklärt. Klar scheint glücklicherweise nur, dass die baskische Gesellschaft nach jahrzehntelangen erfolglosen Versuchen nun endlich die Ausfahrt aus dem Labyrinth gefunden hat. Seit den 1980er Jahren genießt die Metapher des „baskischen Labyrinths“ eine beachtliche Prominenz als einprägsame Formel für eine verfahrene, unübersichtliche und offenbar ausweglose Situation: ein Irrgarten ohne Ausgang, ein Problem ohne mögliche Lösung (Lang 1983; Caro Baroja 1985; Mees 1992). ETA’s Auflösung 2018 hat die Ausfahrt aus dem Labyrinth ermöglicht, wenngleich damit der baskische Konflikt in seiner komplexen Gesamtheit nicht wirklich gelöst ist. An anderer Stelle habe ich die drei Dimensionen, die meines Erachtens diesen Konflikt ausmachen, in ihren historischen Entstehungsbedingungen bis zur gegenwärtigen Situation analysiert (Mees 2020; Mees 2021).2 Da gibt es zunächst einmal die externe Dimension der politisch-administrativen Beziehung zwischen dem Baskenland und dem spanischen (oder französischen) Staat. Dazu kommt zweitens die interne Dimension der Artikulation eines inner-baskischen Konsenses über die Art dieser Beziehung zwischen den beiden Polen der staatlichen Unabhängigkeit auf der einen, und einer stärkeren Anbindung an den spanischen (oder französischen) Staat auf der anderen Seite. Die dritte Dimension der politisch motivierten Gewalt ist (war) selbstredend eng mit den beiden anderen Dimensionen verwoben, entwickelte aber im Laufe der Zeit eine starke Eigendynamik und lässt sich daher nicht stringent von einer der beiden anderen Dimensionen ableiten: Die Existenz eines politischen Konfliktes über das Ausmaß der regionalen Selbstverwaltung mündet nicht notwendigerweise in Gewalt. Dieses dreidimensionale Verständnis des baskischen Konfliktes schließt selbstredend alle simplifizierenden, 2

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Um die Lektüre dieses Textes zu erleichtern, habe ich mich bemüht, den Anmerkungsapparat auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Ich verweise alle interessierten Leser und Leserinnen auf die beiden zitierten Monographien, die zahlreiche Hinweise auf Quellen und neuere Fachliteratur zu den einzelnen hier behandelten Themenbereichen enthalten.

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und oft von politischen Interessen geleiteten Narrative des Konfliktes aus, sei es, wenn dieser zu einer Auseinandersetzung zwischen dem für seine Freiheit kämpfenden baskischen Volk und dem spanischen (und französischen) Staat reduziert wird, oder auch wenn der Konflikt als vermeintliche Kreation des Terrorismus (oder des baskischen Nationalismus) seiner real existierenden politischen Basis beraubt wird. Ausgehend von diesen konzeptuellen Grundüberlegungen sollen im Folgenden die letzten anderthalb Jahrzehnte der neueren baskischen Geschichte analysiert werden. Der Focus liegt dabei erstens auf der Entwicklung des baskischen PNV-Mehrheitsnationalismus. Danach werde ich zweitens die Verschiebung der politischen Machtverhältnisse durch die Bildung der ersten sozialistischen Regionalregierung im Jahr 2009 untersuchen. Im dritten Schwerpunkt geht es schließlich um den zähen und langwierigen Prozess, der zur Auflösung von ETA und der Eingliederung des politischen Umfeldes der Organisation in die demokratischen Institutionen führte. Abschließend sollen die wichtigsten Herausforderungen der baskischen Gesellschaft im neuen post-ETA Szenarium diskutiert werden. 1. Ein neuer Schwung des patriotischen Pendels: Von der Radikalität zum Pragmatismus

In mehrerlei Hinsicht kann das Jahr 2005 als ein Wendepunkt in der neueren Geschichte des Partido Nacionalista Vasco verstanden werden. In der Forschung hat sich der Ausdruck des „patriotischen Pendels“ etabliert, mit dem die nun weit über 100-jährige Geschichte der Partei seit ihrer Gründung 1895 beschrieben und verstanden werden soll (Pablo/ Mees 2005). Seit den Zeiten ihres 1903 früh verstorbenen Gründervaters Sabino Arana Goiri oszillierte die Strategie des PNV wie ein Pendel zwischen den zwei äußeren Polen des radikalen Unabhängigkeits-Nationalismus auf der einen und des kompromissbereiten, moderaten Pragmatismus auf der anderen Seite. Die strategische Pendelbewegung war eine wesentliche Grundlage des politischen Erfolges, denn sie ermöglichte es, sowohl radikale als auch gemäßigte Nationalisten zu rekrutieren und, bei politischem Gegenwind, durch einen neuen Ausschlag des Pendels adäquat zu reagieren. Dieses patriotische Pendel wurde 2005 erneut in Bewegung gesetzt, um – langsam und nicht ohne innere Widersprüche – dem um 1995 eingeleiteten „radikalen Jahrzehnt“ ein Ende zu setzen und eine neue

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Phase der ­pragmatischen Kompromissbereitschaft einzuleiten (Mees 2020: 182-209; Bernecker 2008: 183-189). Am Ende des radikalen Jahrzehnts, in dem der 1999 designierte neue Präsident der baskischen Regionalregierung Juan José Ibarretxe sich zum wahren leader und Chefideologen des PNV entwickelt hatte, hatte sich die Partei in eine der schwersten Krisen ihrer Geschichte hineinmanövriert. Der fatale Ausgang des sogenannten „Paktes von Lizarra“ (1998), eines mit fast ausschließlich nationalistischen Parteien und Organisationen ausgehandelten Abkommens, das eine gemeinsame Strategie auf dem Weg zur baskischen Souveränität und territorialen Einheit aller sieben baskischen Gebiete auf beiden Seiten der spanisch-französischen Grenze ermöglichen sollte, war ein erster heftiger Rückschlag. In vorherigen Geheimtreffen mit Vertretern von ETA war ausgehandelt worden, dass die Untergrundorganisation diese nationalistische Entente durch die Verkündung eines Waffenstillstandes begünstigen sollte. ETA machte die Dauer des Waffenstillstandes von der Implementierung bestimmter Bedingungen abhängig (Bildung einer gesamt-baskischen Institution als Embryo eines späteren gesamt-baskischen Parlaments; Aufkündigung der Zusammenarbeit mit allen „anti-baskischen“ Parteien). Als die Führung von ETA den Eindruck bekam, dass die demokratischen Nationalisten nicht genügend Fortschritte bei der Erfüllung dieser Forderungen machten, kündigte sie den Waffenstillstand auf. Pedro Antonio Blanco, ein Oberstleutnant des spanischen Militärs, war im Januar 2000 das erste tödliche Opfer nach 14-monatigem Waffenstillstand. Euskal Herritarrok, ETA’s politischer Flügel im baskischen Parlament, weigerte sich, diese Wiederaufnahme des „bewaffneten Kampfes“ zu verurteilen. Dennoch brach Präsident Ibarretxe das Regierungsabkommen, das er mit den Radikalnationalisten unterzeichnet hatte, erst einen Monat später, als ETA den ehemaligen Erziehungsminister der baskischen Regierung, den Sozialisten Fernando Buesa, und seinen Leibwächter ermordete. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte der PNV alle Brücken zu den anderen nicht-nationalistischen Parteien abgebrochen. Die Partei, die dafür bekannt war, wenn nötig mit allen anderen Parteien des politischen Spektrums paktieren zu können, geriet nun ins Kreuzfeuer vor allem der konservativen Regierung unter José María Aznar, den sie vorher noch parlamentarisch unterstützt hatte und der sie nun, gemeinsam mit den konservativen Medien, als Steigbügelhalter der Terroristen geißelte. Ibarretxe inszenierte geschickt seine Rolle als Opfer einer ungerechten Schmähkampagne und triumphierte in den Wahlen zum baskischen Parlament im Mai

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2001. Hier präsentierte und verabschiedete er – wieder mit Hilfe einiger Stimmen der ETA-nahen Radikalnationalisten – seinen „Vorschlag für ein Politisches Statut der Baskischen Gemeinschaft“, allgemein bekannt als „Plan Ibarretxe“, der unter großer Polemik im Februar 2005 vom spanischen Parlament abgelehnt wurde. Im Gegensatz zu dem, was einige Jahre später in Katalonien geschehen sollte, ließ es der baskische Lehendakari („Regierungschef“) nicht bis zum totalen Bruch mit den spanischen Institutionen kommen, ruderte zurück und kündigte Neuwahlen für den April 2005 an. Zu diesem Zeitpunkt war der PNV nicht nur äußerlich isoliert, sondern auch innerlich gespalten. Der moderate Flügel beurteilte den radikalen Kurs Ibarretxes, die Marginalisierung der Partei, die Polarisierung der Gesellschaft und die trotz allen Zugeständnissen fortdauernde TerrorKampagne von ETA immer kritischer. Dieses interne Zerwürfnis hatte sich schon in der Wahl des neuen Vorsitzenden bemerkbar gemacht. Josu Jon Imaz, ein Vertreter der gemäßigten PNVler, hatte sich im Januar 2004 nur äußerst knapp gegen Joseba Egibar, den Ibarretxe-Vertrauten und Kandidaten des langjährigen Vorsitzenden Xabier Arzalluz, durchsetzen können. Damit war eine Verschärfung des parteiinternen Konfliktes angesagt und, zum ersten Mal seit 1986, eine Spaltung der Partei nicht mehr ausgeschlossen. Die Ergebnisse der Wahlen zum baskischen Parlament 2005 verschärften den Konflikt, nachdem die von Ibarretxe geführte Koalition mit dem nationalistischen Partner Eusko Alkartasuna (EA) vier Sitze und insgesamt 140.000 Stimmen verlor. Dennoch wurde der PNV- Spitzenkandidat im Juni des Jahres, erneut mit zwei Stimmen der radikalen Nationalisten, abermals zum Lehendakari gewählt. Zu diesem Zeitpunkt hatte die seit 2004 vom Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero geführte spanische Regierung schon damit begonnen, hinter den Kulissen mit ETA über ein Ende des bewaffneten Kampfes zu verhandeln. Obwohl der PNV in diesen Verhandlungen nur eine passive Statistenrolle spielte, verhielt die Partei sich insgesamt loyal zu Zapatero. Im spanischen Parlament unterstützten die PNV-Abgeordneten dessen Bemühungen, als diese bekannt wurden, ganz im Gegensatz zur konservativen Opposition, die nun auch den sozialistischen Regierungschef als einen verantwortungslosen Politiker kritisierte, der vor dem Terrorismus in die Knie gegangen sei und die ETA-Opfer verraten habe. Auch Ibarretxe unterstützte Zapatero; dennoch war er nicht bereit, nach dem Scheitern

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seines Plans auf die Durchführung seiner Wahlversprechen und weiteren Protagonismus zu verzichten. Das Ergebnis war ein von ihm im baskischen Parlament vorgelegtes „Gesetz zur Volksbefragung“, das im Baskenland eine Art Referendum ermöglichen sollte, in dem sich die wahlberechtigten Einwohner zu zwei Fragen äußern sollten: „Sind Sie bereit, einen Prozess zur Beendigung der Gewalt auf dem Wege des Dialogs zu unterstützen, wenn ETA zuvor unmissverständlich ihre Bereitschaft erklärt, die Gewalt ein für alle Mal zu beenden? Stimmen Sie zu, dass die baskischen Parteien ohne Ausnahmen einen Verhandlungsprozess einleiten sollten, um ein demokratisches Abkommen über die Ausübung der Entscheidungshoheit [derecho a decidir] des baskischen Volkes zu erreichen, und dass dieses Abkommen vor Ende 2010 einem Referendum unterzogen werden sollte?“ Es waren im Wesentlichen drei Probleme, die diese neue Initiative des Lehendakari von Anfang an zum Scheitern verurteilten. Erstens sah die spanische Verfassung keine Art von „Entscheidungshoheit“ für einen Teil des Staates vor. Zweitens lag auch das Recht, Referenden zu organisieren, nicht bei den Regional-, sondern bei der Zentralregierung. Und drittens war es vom ethisch-moralischen Standpunkt äußerst zweifelhaft, wie denn die baskische Bevölkerung demokratisch und frei ihre Meinung äußern sollte, wenn gleichzeitig ETA potenziell alle Basken, die gegenteilige Meinungen vertraten, mit dem Tod bedrohte. Das war auch der Tropfen, der für den PNV-Vorsitzenden Imaz das Glas zum Überlaufen brachte. In einer in der Parteigeschichte einmaligen Aktion machte Imaz seine Kritik am baskischen Regierungschef Ibarretxe in einer unabhängigen Tageszeitung öffentlich: Eine Bürgerbefragung als Szenarium für die Akkumulation von Kräften für eine politische Konfrontation ist höchst fragwürdig [...]. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen ist die Lage noch ernster. Es könnte der ‚Plan B‘ von ETA sein, einen ‚permanenten‘ Waffenstillstand wie die vorherigen zu erklären und zu warten, bis die Bürgerbefragung durchgeführt wird. Was würde am nächsten Tag passieren, wenn es keine politische Einigung mit dem Staat gibt? Man muss kein Wahrsager sein, um sich vorzustellen, dass ETA dann im Namen der Verteidigung eines angeblich nicht beachteten Volkswillens wieder tötet. Die Folgen all dessen könnten teuflisch sein. Nicht in unserem Namen. (El Diario Vasco, 15. Juli 2007. Meine Übersetzung.)

Imaz und Ibarretxe waren jetzt definitiv inkompatibel und daher kündigte der Parteivorsitzende an, er werde sich nicht zur Wiederwahl stellen, um eine Spaltung der Partei zu verhindern. Auf ihn folgte Ende 2007

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Iñigo Urkullu, bis dahin Vorsitzender des mächtigen PNV-Verbandes von Bizkaia, der Imaz politisch zwar näherstand als Ibarretxe, aber von seinem Naturell her diplomatischer und ausgleichender auftrat und so die Unterstützung der beiden zerstrittenen Parteiflügel gewinnen und eine Spaltung verhindern konnte. Urkullu verlegte die Debatte wieder von den Medien in die Parteigremien und unterstützte öffentlich die Ley de Consulta des Lehendakari, wohl wissend, dass diese trotz der Verabschiedung im baskischen Parlament eine Totgeburt war.3 Das bestätigte sich im September 2008, als das spanische Verfassungsgericht das Gesetz als nicht verfassungskonform außer Kraft setzte. Am 25. Oktober kam die Antwort: Ibarretxe und die Nationalisten begnügten sich mit der Organisierung einer symbolischen Menschenkette an einem Datum mit ebenfalls hoher symbolischer Bedeutung für die Nationalisten, denn im Narrativ ihres Parteigründers galt der 25. Oktober 1839 als der Tag, an dem das spanische Parlament die von den Fueros verbriefte baskische politische Eigenständigkeit abgeschafft hatte.4 Doch schon vor diesem erneuten juristischen und politischen Rückschlag gab es einen neuen eindeutigen Hinweis darauf, dass die radikale Strategie Ibarretxes offenbar einen Teil der PNV-Stammwählerschaft abschreckte. Bei den Wahlen zum spanischen Parlament im März 2008 verzeichneten die baskischen Sozialisten einen Sieg in allen drei Provinzen der Autonomen Baskischen Gemeinschaft (Comunidad Autónoma del País Vasco). Der PNV verlor einen Sitz in seiner Hochburg Bizkaia, und in der gesamten Comunidad Autónoma lag die Partei nun gut 120.000 Stimmen hinter den Sozialisten. Ibarretxes Regierungspartner EA verlor seinen einzigen Sitz im spanischen Parlament. Urkullu nahm diese Warnung sehr ernst und begann, die schon unter Imaz initiierte Kehrtwende fortzusetzen, um in den vom Lehendakari angekündigten Neuwahlen diesen Stimmenverlust zu stoppen. Ausgestattet mit einem feinen Gespür für politische Großwetterlagen, erkannte Urkullu sehr schnell, dass im neuen 3

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In einem später veröffentlichten Interview wurde allerdings klar, dass Urkullu weitgehend die Kritiken an Ibarretxes Ley de Consulta teilte, diese aber nicht öffentlich machte. Vgl. El Diario Vasco, 29. Januar 2009. Das Interview erschien zuerst in Iglesias (2009). In Wirklichkeit waren 1839 die Fueros nicht abgeschafft, sondern bestätigt worden, was allerdings mit dem Zusatz geschah, dass in der Zukunft über die Anpassung derselben an die spanische Verfassung verhandelt werden sollte, um so die „konstitutionelle Einheit der Monarchie“ sicherzustellen. Die definitive Abschaffung der baskischen Selbstverwaltungsrechte wurde erst 1876 beschlossen. Vgl. dazu Rubio (2012).

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Kontext der weltweiten Wirtschaftskrise die Menschen mehr mit sozialpolitischen als mit identitätsgeleiteten Themen zu mobilisieren seien. Nach dem erneuten Fiasko der Bürgerbefragung verschwanden im Wahlkampf für die Wahlen zum baskischen Parlament plötzlich fast alle Hinweise auf identitätspolitische Themen und Forderungen. Ibarretxe und seine Regierung wurden nun als persönliche und institutionelle Schutzschilder dargestellt, die die soziale Sprengkraft der Wirtschaftskrise abfedern, die dennoch betroffenen Bürger und Bürgerinnen unterstützen und die baskische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit möglichst bald wieder aus der Krise herausführen würden. Baskische Selbstverwaltung bedeutete nun nicht mehr ein in die Zukunft projektiertes Souveränitätsideal, sondern ein für die Bewältigung der krisengeschüttelten Gegenwart unabdingbares politisches Instrument. Es gab genug Zahlen, die diesen neuen Diskurs unterfütterten und ihm in den Augen vieler Plausibilität verliehen: Laut offiziellen Statistiken der spanischen Regierung war Euskadi mit 414 € per capita die von allen Autonomen Gemeinschaften am wenigsten verschuldete Region. Die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte belief sich auf 1,3 % des Bruttosozialprodukts, während dieser Prozentsatz im spanischen Durchschnitt bei 6,2 % lag. Seit dem Jahr 2002 lag die Arbeitslosigkeit im autonomen Baskenland permanent unter dem spanischen Durchschnitt. Im Jahr 2007, einem Jahr vor Beginn der Krise, verzeichneten die Statistiken eine Differenz von fünf Punkten. 2011 hatte sich dieser Prozentsatz auf zehn Punkte erhöht: Während in Euskadi 10,6  % der aktiven Bevölkerung arbeitslos waren, befanden sich im spanischen Durchschnitt 21,5 % in dieser Situation (Mees 2020: 227). Zu dieser Betonung der sozialpolitischen Bedeutung der Selbstverwaltung kam nun auch eine strategische Öffnung in der Zusammenarbeit mit anderen Parteien mit dem Ziel, das PNV-Image als radikale, vom pan-nationalistischen Bündnis gefesselte und isolierte Partei zu überwinden. Kurzum: Der neue Ausschlag des Pendels sollte die Mehrheitsnationalisten zurück zu ihrer historisch so erfolgreichen Position der pragmatischen Mitte führen. Urkullu gelang es, mehrere Abkommen mit den baskischen und spanischen Sozialisten zu schließen. Dadurch konnte u. a. der Haushalt der Regionalregierung, aber auch der der Provinzregierungen (diputaciones) und einiger der wichtigsten Munizipien verabschiedet werden. Im Gegenzug verhalfen die Stimmen der PNV-Abgeordneten im spanischen Parlament der sozialistischen Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero, den Haushalt zu verabschieden.

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Dieses neue Ambiente, noch wenige Monate vorher undenkbar, kristallisierte sich auch in den Verhandlungen zwischen Regional- und Zentralregierung heraus, die mit dem Abkommen zur Übertragung der Forschung in die Kompetenzhoheit der baskischen Regierung erfolgreich abgeschlossen wurden. Auch im juristischen Bereich gab es Berührungspunkte zwischen PNV-Nationalisten und Sozialisten. Im Januar 2009 wurde das Verfahren gegen den Lehendakari Ibarretxe und den Vorsitzenden der baskischen Sozialisten, Patxi López, eingestellt. Beide hatten sich vor Gericht verteidigen müssen, da sie sich mit dem leader der „Patriotischen Linken“ (Izquierda Abertzale), Arnaldo Otegi, getroffen hatten. Da Otegis Partei Batasuna aufgrund ihrer Abhängigkeit von ETA illegalisiert worden war, hatten die Kläger des Foro de Ermua5 den beiden Politikern vorgeworfen, durch das Treffen mit Otegi und seinen Genossen gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Ibarretxe nutzte im Wahlkampf dieses Urteil geschickt, um sich als Opfer einer ungerechten (und juristisch letztendlich nicht zu haltenden) Verleumdungskampagne darzustellen. Das Wahlergebnis vom März 2009 zeigte, dass viele Wähler die Dinge ähnlich sahen und gleichzeitig die von Urkullu vollzogene strategische Kehrtwende begrüßten. Ibarretxe und der PNV, die sich dieses Mal allein und ohne Koalitionspartner zur Wahl stellten, landeten mit 38,56 % der abgegebenen Stimmen und 30 Sitzen einen beeindruckenden Wahlsieg. Das war ein Sitz mehr, als die gesamte PNV/EA-Koalition in den vorherigen Regionalwahlen von 2005 erzielt hatte. Schnell wurde aber deutlich, dass dieser Triumph wohl am Ende nicht viel mehr als ein Pyrrhussieg sein sollte, denn die Stimmen, die Ibarretxe gewann, gingen zu Lasten seiner traditionellen Partner: Sowohl der nationalistische EA, als auch die Linksgruppierung Ezker Batua-Berdeak verloren deutlich an Stimmen und Sitzen. Dazu kam, dass alle Versuche der Izquierda Abertzale, eine legale Wahlplattform aufzustellen, scheiterten, womit der Lehendakari für die notwendige Mehrheitsbeschaffung nicht mehr, wie in den Jahren zuvor, wenn nötig auf diesen Rettungsring zurückgreifen konnte. Nach dem glänzenden Wahlsieg befand sich Ibarretxe bei dem Bemühen, die für seine Wiederwahl nötige Mehrheit zu organisieren, in einer politischen Sackgasse: Trotz des schon genannten Tauwetters zwischen PNV und baskischen Sozialisten waren diese unter keinen Umständen bereit, eine 5 Das Foro de Ermua war ein 1998, nach der Ermordung des konservativen Stadtrates Miguel Ángel Blanco gegründeter, dem Partido Popular nahestehender Verein.

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neue ­Regierung unter dem PNV-Kandidaten zu ermöglichen. Diese Priorität, Ibarretxe wie auch immer aus dem Amt zu jagen, wurde auch von den baskischen Konservativen geteilt. So entstand die merkwürdige, aber aufgrund der spezifischen baskischen Umstände nachvollziehbare Konstellation einer neuartigen Entente von zwei Parteien, die im spanischen Parlament bis aufs Messer verfeindet, im baskischen Parlament aber zur Zusammenarbeit verdammt waren, sollte das gemeinsame Ziel der Absetzung von Ibarretxes Regierung mehr als wishful thinking sein. Es erwies sich, dass diese geteilte strategische Priorität politische Berge versetzen konnte. Die seit Mitte der 1990er Jahre sich verschärfende Bipolarisierung des baskischen politischen Systems, eine Konsequenz des Zusammentreffens von nationalistischer Radikalisierung, ETA-Terror und – oft pathetisch überzogener – konservativer und sozialistischer Anti-PNV-Polemik, machte das normalerweise Unmögliche möglich. 2. Ein Sozialist in Ajuria Enea

Nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses benötigten die baskischen Sozialisten und Konservativen nicht besonders lange, um die Gunst der Stunde zu nutzen und einen Vertrag auszuhandeln, der die Grundlage der neuen Regierung sein und dieser in den vier Jahren der Legislaturperiode eine bequeme Mehrheit im Parlament verschaffen sollte. Die beste Ausgangslage dabei hatten die Sozialisten, die mit ihren 25 Mandaten nach dem PNV das zweitbeste Wahlergebnis erzielt hatten. Der konservative Partido Popular kam auf insgesamt 13 Stimmen. Zusammengerechnet waren das genau die 38 Mandate, die im baskischen Parlament für die absolute Mehrheit ausreichten. Der einzige Vertreter der radikal anti-(baskisch)-nationalistisch orientierten Unión Progreso y Democracia (UPyD) unterstütze das Vorhaben, Ibarretxe und den PNV zu entmachten. Im April 2009 konnte das Dokument (Bases para el cambio democrático al servicio de la sociedad vasca) von beiden Parteien unterzeichnet werden.6 Er setzte Ziele und formulierte Maßnahmen in insgesamt sechs großen Themenbereichen. An oberster Stelle stand, wie nicht anders zu erwarten, die „Politik zur Verteidigung der Freiheiten und gegen den Terrorismus“. Es folgten die Bereiche Wirtschaft und Kampf gegen die Arbeitslosigkeit; Weiterentwicklung 6

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Der Text ist wiedergegeben in (02-11-2021).

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der Selbstverwaltung; Erziehung; Sprachpolitik; Gesundheitswesen; Wohnungsbau, Infrastruktur und Umwelt; Fernsehen und öffentliche Medien. Der Weg war frei für die Wahl des sozialistischen Kandidaten Patxi López als neuer Lehendakari. Im Gegenzug ermöglichten die Stimmen der Sozialisten der PP-Vertreterin Arantxa Quiroga den Vorsitz des baskischen Parlaments. López löste Juan José Ibarretxe ab, der nach dem Scheitern seiner Versuche, eine Regierungsmehrheit zu bilden, seinen Rückzug aus der Politik bekannt gab. Für seine Partei war der Gang in die Opposition eine traumatische Demütigung. Seit Carlos Garaikoetxea 1980 die erste baskische Regionalregierung gebildet hatte, war der PNV an allen folgenden Regierungen führend beteiligt gewesen und hatte bis 2009 immer den Lehendakari gestellt, selbst nach der traumatischen Parteispaltung von 1986 und der Gründung der Konkurrenzpartei Eusko Alkartasuna. Nun residierte zum ersten Mal ein Sozialist in Ajuria Enea, dem offiziellen Sitz des baskischen Regierungschefs. Der charismatische Politiker I­barretxe, der gut ein Jahrzehnt lang die Ideologie und Strategie der Partei und der Regierung bestimmt hatte, war trotz seines eindrucksvollen Wahlsieges gezwungen, von der politischen Bühne abzutreten. Seine Rolle als Oppositionsführer wurde von Iñigo Urkullu übernommen, der den Parteivorsitz abgeben musste, da die PNV-Statuten traditionell die gleichzeitige Ausübung von Ämtern in der Partei und in den Institutionen ausschlossen. Sein Nachfolger wurde Urkullus Vertrauter Andoni Ortuzar. In seiner neuen Funktion als Oppositionsführer verlor Urkullu keine Minute, das ungewohnte Bündnis zwischen dem Partido Socialista de Euskadi (PSE), der Linkspartei Euskadiko Ezkerra (EE) und dem Partido Popular (PP) als ein unnatürliches Kunstgebilde zu geißeln, dessen einziges Ziel es sei, die Machtgier zweier politischer Parteien auf Kosten des eindeutigen Wahlsiegers zu befriedigen. Trotz dieser radikalen Rhetorik setzte Urkullu, unterstützt vom neuen Parteichef Ortuzar, seine Strategie der politischen Öffnung und Mäßigung fort, eine Strategie, die in der postIbarretxe-Ära für unabdingbar für die möglichst baldige Rückeroberung der alten Stärke gehalten wurde. Sozialisten und Konservative waren sich ihrerseits sehr wohl der enormen Hindernisse bewusst, die von Anfang an das neue Bündnis begleiteten. Gerade im Umfeld der Sozialisten war es schwer zu vermitteln, wie man mit einer Partei sinnvoll kooperieren sollte, die in der spanischen Politik einen totalen Konfrontationskurs gegen Zapateros sozialistische Regierung fuhr. Aus genau der entgegengesetzten Perspektive gab es natürlich ähnliche Zweifel auch unter vielen baskischen

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PP-Anhängern. Die Einsicht jedoch, einen historischen Moment zu erleben, der sich in dieser Form vermutlich so schnell nicht noch einmal präsentieren würde, war der Kitt, der beide Parteien erstaunlich lange Zeit zusammenhielt. Die Zusammenarbeit ermöglichte nicht nur ein deutliches Zurückschneiden der PNV-Hegemonialmacht. Auch im Kampf gegen den Terrorismus und seine politischen Steigbügelhalter sollten nun durch die baskische Regierung neue, deutliche Akzente gesetzt werden. Schnell etablierte sich für diese Sicht der Terrorismusbekämpfung die Formel der „Null-Toleranz“ für alle Aktivitäten, die den ETA-Terrorismus in irgendeiner Form tolerierten, legitimierten oder im öffentlichen Raum symbolisch repräsentierten. ETA reagierte prompt und wie üblich: Die gesamte neue Regierung und ihre politischen Partner erhielten Morddrohungen. Im Juni 2009 tötete die Organisation einen Polizisten in Bizkaia; einen Monat später wurden auf Mallorca zwei Mitglieder der Guardia Civil getötet; und 2010 wurde in Frankreich ein französischer Polizist bei der Verfolgung eines ETA-Kommandos erschossen. Das ungleiche Bündnis zwischen Sozialisten und Konservativen überstand die ersten beiden Regierungsjahre in relativer Geschlossenheit trotz der Dauerkonfrontation beider Parteien im Madrider Parlament. Zu stark war das Gefühl, als potenzielle Opfer des ETA-Terrorismus im gleichen Boot zu sitzen. Auch die Erfolge der „Null-Toleranz“-Strategie, die z. B. recht erfolgreich dabei war, alle Versuche, den „bewaffneten Kampf“ von ETA im öffentlichen Raum etwa durch Wandmalereien und Plakate zu legitimieren oder die ETA-Gefangenen zu aufopferungsvollen Helden im Kampf gegen den spanischen Unterdrückerstaat zu stilisieren, schweißten beide Parteien lange aneinander. Zwei Ereignisse im Jahr 2011 trugen dazu bei, diese relative Harmonie zu unterminieren. Im Januar jenes Jahres verkündete ETA einen „permanenten, allgemeinen und überprüfbaren“ Waffenstillstand. Im Mai desselben Jahres erlitten die baskischen Sozialisten dramatische Einbußen bei den Kommunal- und Provinzialwahlen. Vor allem der drastische Stimmenverlust bei den Kommunalwahlen (2007: 24,87 %; 2011: 16,71 %) provozierte einen deutlichen Rückgang der institutionellen Präsenz.7 Während Patxi López und seine Genossen eigentlich damit gerechnet hatten, den Regierungsbonus und die Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus in Stimmen zu verwandeln, war genau 7 Wahlergebnisse in (0211-2021).

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das Gegenteil eingetreten. Besonders schmerzte der Verlust emblematischer Hochburgen wie Basauri, Rentería, Lasarte-Oria oder vor allem auch San Sebastián, Provinzhauptstadt von Gipuzkoa. Klare Wahlsieger waren ausgerechnet der PNV und Bildu, die inzwischen legalisierte Koalition der „Patriotischen Linken“. Dieses enttäuschende und unerwartete Ergebnis gab den parteiinternen Kritikern Auftrieb, die das zu unkritische Zusammengehen mit dem baskischen PP für das Debakel verantwortlich machten. Einflussreiche Stimmen wie die des Parteipräsidenten Jesús Eguiguren oder des nun aus dem Amt gejagten langjährigen Bürgermeisters von San Sebastián, Odón Elorza, forderten eine klarere sozialistische Profilierung gegenüber den Konservativen, vor allem in der Frage der Terrorismusbekämpfung, in der nun nach Meinung dieser Kritiker neue Schritte zur Herstellung eines demokratischen und friedvollen Zusammenlebens aller Basken von Nöten waren. Dazu gehörte etwa auch die Legalisierung der „Patriotischen Linken“, deren neue Formation Sortu sich in ihren Statuten ausdrücklich gegen die Anwendung jeglicher Gewalt zur Erreichung von politischen Zielen ausgesprochen hatte. Dieses Plädoyer einflussreicher Sozialisten für die lange Zeit politisch und juristisch umstrittene Legalisierung der Batasuna-Nachfolger trug weiter zur Entfremdung von Sozialisten und Konservativen bei. Zum endgültigen Bruch kam es dann im Dezember 2011, als sich das spanische politische Szenarium nach dem mit absoluter Mehrheit eingefahrenen Wahlsieg von Mariano Rajoys Partido Popular grundlegend veränderte. Die baskische Regierung machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie die vom neuen Ministerpräsidenten angekündigten Kürzungen öffentlicher Mittel, besonders in den Bereichen der Erziehung und im Gesundheitswesen, nicht mittragen würde. Als López ankündigte, gegen einige dieser Maßnahmen vor dem Verfassungsgericht klagen zu wollen, weil diese seiner Meinung nach die durch das Autonomiestatut garantierte Kompetenzhoheit der baskischen Regierung missachteten, kündigte der PP-Vorsitzende im Baskenland, Antonio Basagoiti, das Regierungsbündnis mit den baskischen Sozialisten. Nach dem Verlust seiner Parlamentsmehrheit blieb dem ersten sozialistischen Lehendakari nichts anderes übrig, als vorgezogene Neuwahlen für den Oktober 2012 anzukündigen. Aus historischer Perspektive wird die über dreijährige Regierungszeit des ersten sozialistischen Regierungschefs sicherlich vor allem aufgrund der Fortschritte im Kampf gegen den Terrorismus und dessen soziale

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­ egitimierung erinnert werden. Ein noch ausstehender, unparteilicher L und wissenschaftlich fundierter Vergleich zwischen der Regierung López und ihren Vorgängern wird vermutlich kaum bahnbrechende Unterschiede bei der Verabschiedung und Implementierung einzelner Maßnahmen feststellen. López erfand kaum etwas, was nicht vorher schon dagewesen wäre. Der Unterschied ist wohl eher im Gesamtbild der Regierungspolitik und ihrer öffentlichen Inszenierung und Wahrnehmung zu verorten. López ließ keinen Zweifel daran, dass unter seiner Beteiligung keinerlei Zusammenarbeit mit Parteien möglich war, die nicht bereit waren, sich von den Terroristen zu distanzieren. Er schenkte den Opferverbänden größere Aufmerksamkeit und Nähe. Er machte klar, dass die Untergrundorganisation und ihre Sympathisanten die Schlacht um die – auch symbolische – Besetzung des öffentlichen Raumes in einem demokratischen Gemeinwesen wie Euskadi nicht gewinnen durften: Sein Abkommen mit der Vereinigung der baskischen Munizipien verpflichtete diese, jegliche proETA-Wandmalereien oder Plakate zu verhindern oder sofort zu entfernen. Durch diese kompromisslose Strategie symbolisierten López und seine Regierung, dass der Kampf gegen den Terrorismus mit den demokratischen Mitteln des Rechtsstaates gewonnen werden konnte. Die Ankündigung des permanenten Waffenstillstandes 2011 verifizierte diese These. López wurde diese historische Nachricht auf einer Reise in die USA übermittelt. Obwohl sein Beitrag zum Ende des Terrorismus unbestritten ist, waren es andere Faktoren, die ETA zum „induzierten Selbstmord“ (Mees 2020: 243) bewegten. Die Wurzeln dieser Entwicklung entstanden schon Jahre vor López’ Regierungsantritt. 3. Von der Gewalt zur Politik

Nach dem dramatischen Scheitern des Lizarra-Paktes hatten selbst im radikalnationalistischen Milieu viele Sympathisanten große Probleme, die Gründe für ETA’s Rückkehr zur Waffengewalt nachzuvollziehen. Die Rechnung kam bei den Wahlen zum baskischen Parlament im Mai 2001: Euskal Herritarrok, die Partei der Izquierda Abertzale, verlor über 80.000 Stimmen und sieben Sitze. Neben dem politischen erhöhte sich auch der juristische Druck: Batasuna, die Nachfolgeorganisation, wurde nach der Verabschiedung des neuen Parteiengesetzes 2002 knapp ein Jahr später

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vom spanischen Obersten Gerichtshof als Bestandteil einer Terrororganisation illegalisiert. Dieses Zusammentreffen von ETA-Terror, sozialer und politischer Marginalisierung und juristischem Druck löste bei einigen der noch politisch denkenden Köpfe der Izquierda Abertzale einen strategischen Umorientierungsprozess aus, den es in dieser Form in der langen Geschichte von ETA und ihres politischen Flügels noch nie gegeben hatte. Er basierte auf dem Gedanken, dass es für die politische Arbeit der radikalen Nationalisten keine Zukunft geben könne, solange ETA aktiv war. Arnaldo Otegi entwickelte sich im Laufe der Zeit zum herausragenden Vertreter und Chefideologen dieser Strömung. Seine frühere Mitgliedschaft in ETA und seine Vergangenheit als Gefangener verliehen ihm die nötige Autorität dazu. Otegi war 1997 in die Parteiführung von Herri Batasuna aufgestiegen, nachdem praktisch der gesamte vorherige Vorstand wegen Terrorismus-Apologie zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Seit 2001 begann Otegi sich heimlich auf einem versteckten Bauernhof in den gipuzkoanischen Bergen mit dem baskischen Sozialisten Jesús Eguiguren zu treffen und über mögliche Wege aus dem baskischen Labyrinth zu diskutieren. Zum Teil in Begleitung von anderen (nationalistischen und sozialistischen) Politikern, trafen sich die beiden Männer in den nächsten Jahren etwa 25-mal, eine Routine, die auch von neuen Attentaten oder der Illegalisierung von Otegis Partei nicht unterbrochen wurde. Beide sprachen Baskisch und entwickelten im Laufe der Zeit, trotz ihrer vollkommen unterschiedlichen politischen Überzeugungen, ein freundschaftliches und vertrauensvolles Verhältnis, das schon 2002 die gemeinsame Verabschiedung eines ersten Grundsatzpapiers ermöglichte. Der Kerngedanke dieser Erklärung bestand in der Forderung einer Lösung des Konfliktes durch Verhandlungen, was an sich nichts Neues war und auch von ETA verlangt wurde. Neu war jedoch die Konkretisierung dieser Forderung durch die Idee der Einrichtung von zwei unterschiedlichen und voneinander getrennten Verhandlungsgruppen: Die erste sollte aus Vertretern der spanischen Regierung und ETA bestehen und hatte zum Ziel, die „militärischen“ Folgen des Konfliktes zu diskutieren (Niederlegung und Übergabe der Waffen; Rolle der Opfer und der Gefangenen). Die zweite Gruppe sollte den Vertretern der baskischen politischen Parteien zur Verhandlung politischer Inhalte dienen. Diese duale Verhandlungskonzeption griff einen Gedanken auf, der in embryonaler Form schon Ende der 1980er Jahre bei den Verhandlungen zwischen ETA und der sozialistischen Regierung

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in Algerien, und dann deutlicher 1998 im Friedensplan des damaligen Lehendakari Ardanza aufgetaucht war. In beiden Fällen hatten sowohl ETA als auch ihr politischer Flügel diesen Vorschlag abgelehnt, da ETA sich selbst ja als politischen Akteur und Vertreter des baskischen Volkes begriff, der das baskische Recht auf Selbstbestimmung gegenüber dem allmächtigen spanischen Staat sowohl militärisch als auch politisch zu verteidigen vorgab. Otegi war sich bewusst, dass diese Vorstellung sich überlebt hatte und nicht mehr durchzusetzen war, zumal ja gerade auch das so oft zitierte Vorbild des nordirischen Befreiungskampfes mit der Verabschiedung des Good Friday Agreement 1998 erst nach dem Rückzug der paramilitärischen Gruppen aus den politischen Verhandlungen möglich geworden war. Der beeindruckende Wahlsieg des Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero im März 2004 schuf den notwendigen institutionellen Rahmen, in dem diese bislang eher privaten Gespräche und Übereinkünfte eine neue politische Wirkung entfalten konnten. Der neue Regierungschef war zu der Überzeugung gekommen, dass der Brief, den die ETA-Führung mit der Bitte um Gespräche an ihn geschickt hatte, diesmal aufrichtig gemeint war. Zapatero war entschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen um, wenn alles gut ging, in den Geschichtsbüchern als derjenige erinnert zu werden, der dem ETA-Terror ein Ende gesetzt hatte. Vor seiner Verhaftung im Oktober 2004 hatte sich der langjährige ETA-Chef Mikel Antza mit der Schweizer NGO Center Henri Dunant for Humanitarian Dialogue in Verbindung gesetzt, um die erfahrene Organisation zu bitten, als Vermittler einen Dialog mit der neuen spanischen Regierung einzuleiten und zu betreuen. Auch Otegi war nicht untätig gewesen. Im November versammelte er gut 15.000 Sympathisanten in San Sebastián, um dort die Declaración de Anoeta zu verkünden. Dieses Manifest war nichts anderes als die öffentliche Taufe der Thesen, die Otegi mit Eguiguren ausgehandelt hatte und die er vorher auch mit Vertretern der ETA-Führung konsultiert hatte. So schaffte es die Forderung einer doppelgleisigen Verhandlung zum ersten Mal in ein offizielles Dokument der Izquierda Abertzale. Diese Verhandlungen, so hieß es weiter, müssten in einem demokratischen Umfeld und unter Einsatz von ausschließlich friedlichen Mitteln durchgeführt werden.8 Im Mai 2005 erteilte das spanische Parlament mit den Gegenstimmen der konservativen Oppositionspartei die Erlaubnis, Gespräche mit 8

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Der Text ist verfügbar auf (04-11-2021).

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ETA einzuleiten, sollte die Organisation ihren „klaren Willen“ bekunden, ihre gewaltsamen Aktivitäten zu beenden und ohne dass dabei irgendwelche politischen Konzessionen an die Terroristen gemacht werden sollten. Diese Entscheidung löste eine brutale Kampagne des PP gegen Zapatero und seine Regierung aus, der vorgeworfen wurde, die Opfer verraten zu haben und vor den Terroristen in die Knie gegangen zu sein. Zapatero sei eine „Marionette“ in den Händen der Terroristen. So lautete die Anschuldigung des PP-Sprechers in den Cortes, Ignacio Astarloa (El País, 15. Mai 2005). Der frühere Innenminister unter Aznar, der Baske Jaime Mayor Oreja, ging später noch weiter: „Es ist schrecklich, aber es ist die Wahrheit. Wir haben eine Regierung, die für ihr politisches Projekt eine Terrorbande braucht“ (El País, 18. Mai 2007). Diese politische Kampagne des PP wurde in der Öffentlichkeit von der Vereinigung der Terrorismusopfer mit gut einem Dutzend z. T. massiver Demonstrationen gegen Zapateros AntiTerrorismuspolitik unterstützt. Trotz dieser oft auch persönlich verletzenden Frontalopposition beauftragte der sozialistische Regierungschef im Juni 2005 seinen baskischen Vertrauten Jesús Eguiguren, in Genf die vom Center Henri Dunant vorbereiteten und gecoachten Treffen mit der ETA-Führung zu beginnen. Eguigurens Gegenüber war ein alter Bekannter: Josu Urrutikoetxea, einer der historischen ETA-Aktivisten, den Eguiguren im baskischen Regionalparlament kennengelernt hatte, als dort beide Parlamentarier waren, bevor Urrutikoetxea, besser bekannt unter seinem Pseudonym Josu Ternera, im November 2003 wieder in den Untergrund abgetaucht war, um einer erneuten Verhaftung zu entgehen. Nach anfänglich fast täglichen Gesprächen, die später auch in Lausanne und Oslo fortgesetzt wurden, erreichten beide Delegationen eine erste förmliche Übereinkunft über das weitere Vorgehen, das zum Niederlegen der Waffen führen sollte. ETA erklärte sich bereit, die in Anoeta geforderten zwei unterschiedlichen und unabhängigen Verhandlungsforen zu akzeptieren und ein permanentes Ende aller „bewaffneten Aktivitäten“ zu verkünden. Im Gegenzug verpflichtete sich die Regierung, die ständig von Eguiguren über den Verlauf der Gespräche gebrieft wurde, jedweden von den Basken demokratisch gefassten Beschluss über ihre politische Zukunft zu akzeptieren; andere politische Kräfte in diesen Konsens mit einzubeziehen, um das Erreichte nicht durch einen möglichen Regierungswechsel zu gefährden; die politische Aktivität der Izquierda Abertzale zu respektieren und den polizeilichen und

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j­uristischen Druck auf ETA und ihren politischen Flügel zu reduzieren.9 Im März 2006 verkündete ETA den Waffenstillstand. In den folgenden Wochen und Monaten verkomplizierten sich die Dinge allerdings deutlich. Es stellte sich heraus, dass ETA nicht wirklich bereit war, sich aus den politischen Verhandlungen herauszuhalten und darauf zu verzichten, Einfluss auszuüben. Eguiguren wurde von seinem neuen Verhandlungspartner Javier López Peña, alias Thierry, der den offenbar kompromissbereiteren Josu Ternera abgelöst hatte, mit schweren Vorwürfen konfrontiert, wonach die Regierung ihr Wort gebrochen habe. Laut Thierrys Interpretation würde ETA erst in die Verhandlungen mit der Regierung einsteigen, wenn von der politischen Verhandlungsrunde zuvor deutliche Fortschritte erzielt worden waren. Weiterhin sei weder die Legalisierung von Batasuna ermöglicht noch der polizeiliche und juristische Druck reduziert worden. Das waren deutliche Hinweise darauf, dass die Organisation, die sich in einem internen Machtkampf zwischen Vertretern von pragmatischeren und radikalen Positionen befand, sich auf eine Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes vorbereitete. Um dieser fatalen Entscheidung zuvorzukommen, schlug Otegi Eguiguren vor, einfach mit den politischen Verhandlungen zu beginnen und so das wichtigste Argument für die Rückkehr zu den Waffen zu entschärfen. Eguiguren stimmte zu, forderte aber die Einbeziehung des Partido Nacionalista Vasco. Der neue PNV-Chef Imaz sah zwar diese Initiative kritisch, gab aber letztendlich auch sein Einverständnis. So begannen im September 2006 im Jesuitenkloster von Loiola die Geheimverhandlungen der drei Parteien. Bis zur letzten Sitzung im November trafen sich die Verhandlungspartner insgesamt zwölfmal. Obwohl kaum jemand es für möglich gehalten hatte, wurde in der vorletzten Sitzung ein Konsenspapier verabschiedet, in dem verschiedene Maßnahmen auf dem Weg zur politischen Lösung des baskischen Problems als Voraussetzung für die Beendigung des bewaffneten Kampfes festgelegt wurden. Der Text beinhaltete Konzessionen von allen Seiten. Die Nationalisten, einschließlich Batasuna, akzeptierten, dass jede eventuelle Modifizierung des politischen und administrativen Status Quo innerhalb des gültigen gesetzlichen Rahmens durchgeführt werden 9

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Das Originaldokument ist nicht bekannt. Es existiert eine Fassung, die im September 2007 von ETA in ihrem Publikationsorgan Zutabe veröffentlicht wurde. Auch wenn man nicht ausschließen kann, dass der Text im Sinne der Untergrundorganisation manipuliert wurde, scheint die Tatsache, dass keiner der direkt beteiligten Sozialisten öffentlich den Wahrheitsgehalt der Veröffentlichung bestritten hat, auf die Echtheit des Textes hinzudeuten.

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sollte. Die Sozialisten erklärten sich bereit anzuerkennen, dass alle demokratischen politischen Projekte legitim seien und deren Implementierung möglich sein sollte. In diesem Sinne verpflichteten sie sich dafür zu sorgen, dass der spanische Staat eine vom baskischen Volk demokratisch gefasste Entscheidung über den politisch-administrativen Status respektieren würde. Die drei Parteien beschlossen auch die Gründung einer gemeinsamen Institution für alle baskischen Territorien auf spanischem Gebiet als ersten Schritt hin zu einer möglichen baskischen Vereinigung in unbestimmter Zukunft. Da diese Entschlüsse noch von den jeweiligen Partei-Leitungsgremien abgesegnet werden mussten, wurde ein neues Treffen für den 8. November angesetzt. Als es soweit war, überraschte die Batasuna-Delegation den Rest der Anwesenden mit der Forderung, dem ausgehandelten Text einige Zusatzklauseln hinzuzufügen. Diese bezogen sich auf die im nationalistischen Diskurs so symbolgeladene Provinz von Navarra. Batasuna verlangte, dass die vorgesehene neue Institution der vier Territorien ausdrücklich mit dem Auftrag ausgestattet werden sollte, ein neues gesamtbaskisches Autonomiestatut auszuarbeiten. Zweitens sollte dieser institutionelle Zusammenschluss der vier Provinzen in maximal zwei Jahren geschehen. Den überraschten Verhandlungspartnern vom PNV und PSE/EE war sofort klar, dass diese Forderungen vollkommen unrealistisch und utopisch waren. Es war absolut undenkbar, dass solch eine grundlegende juristische Transformation des baskischen (und auch des gesamtspanischen) institutionellen Gefüges in zwei Jahren durchzuführen sei. Das war auch aus einem anderen Grund der Fall: In Navarra waren die Nationalisten beider Seiten in der Minderheit, während es in der Bevölkerung und im politischen System historisch gesehen immer einen starken Sektor gegeben hatte, der jede Annäherung an die anderen drei Provinzen vehement abgelehnt hatte. Mehr noch: Wie demokratisch war es, die Zukunft von Navarra zu planen, ohne dass bei dieser Planung auch nur ein einziger Vertreter dieser Region anwesend war? Die einzige Erklärung für derart problematische und unrealisierbare Forderungen war, dass jemand Interesse daran hatte, die Gespräche in Loiola zu boykottieren und scheitern zu lassen. Obwohl die genauen Hintergründe dieser überraschenden Batasuna-Forderungen nicht bekannt sind, lässt sich aus den vorhandenen Quellen und Aussagen der direkt Beteiligten doch klar erkennen, dass die ETA-Führung und der radikale Batasuna-Flügel das Abkommen von Loiola abgelehnt und Otegi gezwungen hatten, entgegen seiner eigenen Überzeugung zu handeln und

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die ihm oktroyierten Forderungen auf der letzten Sitzung in Loiola zu verteidigen (Mees 2020: 220-224). Wie zu erwarten, lehnten sowohl die baskischen Sozialisten als auch der PNV diese Modifizierung des gemeinsam ausgehandelten Textes ab. Die Bombe am Flughafen von Madrid-Barajas, die ETA im Dezember explodieren ließ und bei der zwei Migranten aus Ecuador zu Tode kamen, setzte den dramatischen Schlussstrich unter den in Loiola unternommenen Versuch, auf dem Verhandlungsweg eine demokratische Lösung des baskischen Problems zu finden und der Gewalt ein Ende zu setzen. Auch wenn die Untergrundorganisation danach sowohl in ihren veröffentlichten Communiqués als auch in einem neuen Brief an Ministerpräsident Zapatero bekräftigte, sie habe niemanden töten wollen und stehe weiterhin für Verhandlungen zur Verfügung, gab es dafür nach dem Barajas-Attentat kaum noch Spielraum. Zapatero versuchte zwar durch neue Geheimkontakte noch zu retten, was zu retten war, und wurde dabei auch von internationalen Vermittlern wie etwa dem irischen Republikaner Gerry Adams unterstützt. Am Ende war alles vergeblich: Im Juni 2007 beendete ETA offiziell den formal immer noch gültigen Waffenstillstand, und im März des darauffolgenden Jahres tötete ein Kommando den ehemaligen sozialistischen Stadtrat Isaías Carrasco, einen persönlichen Freund des sozialistischen Unterhändlers Jesús Eguiguren. Die Torpedierung des Loiola-Abkommens, die Bombe von Barajas und die darauffolgenden tödlichen Attentate hinterließen deutliche Spuren auch im politischen Umfeld der Izquierda Abertzale. Der Umdenkprozess, der nach dem Scheitern des Lizarra-Paktes eingesetzt hatte, erhielt Anfang 2007 neue Impulse. Nicht nur Otegi war klar, dass auf absehbare Zeit die Idee einer Lösung des Problems auf dem Verhandlungsweg ausgeschlossen war. Wie konnte man die Entscheidungsträger von ETA aber davon überzeugen, auf diese in ihrer langen Geschichte zentrale Vorstellung einer erfolgreichen Verhandlung mit der spanischen Regierung als Voraussetzung für das Ende des bewaffneten Kampfes zu verzichten, ohne gleichzeitig eine gefährliche Spaltung nicht nur der Untergrundorganisation, sondern der gesamten radikalnationalistischen Linken zu provozieren? Otegi fand nur eine Antwort auf diese Frage, und diese Antwort sollte sich im Nachhinein als ein erfolgreicher, geschickt eingefädelter und rhetorisch attraktiv präsentierter Schachzug erweisen. Es handelte sich hier um die Erarbeitung eines neuen Narrativs, das den Terroristen erlauben sollte, sich erhobenen Kopfes zurückzuziehen, ohne dabei den Eindruck

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zu v­ ermitteln, dieser Rückzug sei das Eingeständnis einer vollkommenen Niederlage und die Folge der von Polizei und Richtern verursachten eigenen Schwäche. Die Grundstruktur dieses Narrativs lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Im Kampf für die baskische Freiheit ist eine neue historische Phase angebrochen, und diese neue Phase benötigt auch neue Strategien, um erfolgreich zu sein. Angesichts der Tatsache, dass der spanische Staat die Möglichkeit einer friedlichen Verhandlungslösung verweigert und nur auf die Karte der Repression setzt, um so einen Keil zwischen das baskische Volk und seine bewaffnete Avantgarde zu treiben, ist es nötig, dieses Vorhaben zu entlarven und durch kreative Gegenmaßnahmen zu stoppen. Da in dieser neuen historischen Situation innerhalb des baskischen Volkes die Fortführung des bewaffneten Kampfes immer schwerer zu vermitteln ist und ein großes Bedürfnis nach einer möglichst breit gefächerten, demokratischen Mobilisierung für die baskischen Freiheitsrechte besteht, wird ETA diesem Wunsch des Volkes nachkommen und freiwillig beschließen, die Waffen niederzulegen. Dieser durch ein Zusammengehen aller für das Selbstbestimmungsrecht eintretenden Sektoren ermöglichte demokratische Prozess wird für den Staat viel gefährlicher sein, als der durch den bewaffneten Kampf verursachte Schaden. Zunächst existierte dieses Narrativ lediglich in den Köpfen von Otegi und seinen Gleichgesinnten. ETA musste noch von dessen Plausibilität und Wirkungskraft überzeugt werden. Wie? Der leader der Izquierda ­Abertzale, der noch in Loiola die alten hierarchischen Strukturen akzeptiert und entsprechend gehandelt hatte, verfügte über ein As im Ärmel, das er einsetzen konnte, sollte es von Seiten der ETA-Führung Probleme geben. Otegi wusste um seine Popularität und Autorität, die er aufgrund seiner persönlichen Biographie und auch seiner oratorischen Fähigkeiten bei breiten Teilen der linksnationalistischen Bewegung genoss. Die spanischen Gerichte trugen ihren Teil dazu bei, diese Popularität noch zu vergrößern. Der Anführer der Izquierda Abertzale wurde gerade in dem Moment, als er sich anschickte, dieses neue Narrativ umzusetzen und die Voraussetzung für ein Ende von ETA zu schaffen, zweimal zu längeren Haftstrafen verurteilt, deren juristische Begründungen mehr als zweifelhaft waren. Im Sommer 2007 musste er für 15 Monate in Haft. Im Oktober 2009 wurden es dann sechseinhalb Jahre wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Otegi war zusammen mit anderen Genossen verhaftet worden, als sie über eine Neugründung der illegalisierten

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­ atasuna-Partei diskutierten. Da Batasuna laut Parteiengesetz ein Teil von B ETA war, reichte diese Logik, um Otegi und seine Mitstreiter hinter Gitter zu bringen. Er musste die Strafe absitzen, und erst 2018 wurde diese vom Europäischen Gerichtshof annulliert, da Otegi kein „gerechtes“ Strafverfahren gehabt habe: Der Prozess war von einer Richterin geleitet worden, die in einem früheren Verfahren gegen ihn wegen Befangenheit hatte zurücktreten müssen.10 Diese nicht nur künstlich konstruierte Opferrolle steigerte seine Autorität und ermöglichte es Otegi, teils aus dem Gefängnis, teils in Freiheit, Schritt für Schritt seine Strategie zu implementieren, und dabei eine nie ausgesprochene, aber im Gesamtbild deutlich erkennbare Botschaft an die ETA-Führung zu schicken. Diese Botschaft, sein As, bestand in der Drohung, der Untergrundgruppe die Gefolgschaft aufzukündigen, sollte sie im „demokratischen Prozess“ nicht mitspielen wollen und auf Fortführung des bewaffneten Kampfes bestehen. In diesem Fall drohte die lange Geschichte von ETA mit dem Kapitel zu enden, in dem die Gruppe durch den Verlust ihrer (aktiven und passiven) Sympathisanten wie eine Art Rote Armee Fraktion gezwungen wurde, ihre Aktivitäten einzustellen: komplett isoliert, politisch irrelevant, ohne jegliche Unterstützung in der Gesellschaft, von der Polizei besiegt. Für eine Organisation wie ETA, die lange Jahre von ihrem Mythos als mutige anti-franquistische Widerstandskämpferin gezehrt hatte und die es in der Tat geschafft hatte, einen Teil der baskischen Gesellschaft zu mobilisieren und in einem breit gefächerten sozio-kulturellen Milieu an sich zu binden, musste das selbstverständlich eine Horrorvorstellung sein. Otegi und seine Gefolgsleute ließen keine Gelegenheit ungenutzt, um die in Anoeta 2004 vor 15.000 begeisterten Anhängern initiierte Kampagne fortzuführen und jedem sichtbar zu machen, dass die große Mehrheit der Izquierda Abertzale hinter dem neuen Kurs des „demokratischen Prozesses“ stand. In den folgenden Monaten und Jahren reihte sich ein Meeting an das nächste, ein offizielles Manifest bereitete den Weg für ein Folgedokument. In keinem dieser Texte findet sich ein einziges kritisches Wort zu ETA, aber die Botschaft, oft eingehüllt in pompöse Milieu-typische Prosa, war eindeutig: Die neue Epoche des baskischen Befreiungskampfes erfordert ein Ende der Gewalt, und diese Überzeugung wird von der großen Mehrheit der Izquierda Abertzale geteilt. Im Oktober 2009 10 Teresa Whitfield spricht von einer “eklatanten Politisierung des spanischen Justizsystems” in dieser Zeit (Whitfield 2014: 248).

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veröffentlichte der pragmatische Flügel um Otegi seine Thesen in einem Richtungspapier (Argitzen, auf Deutsch etwa: „erleuchten“, „Licht werfen auf etwas“, „etwas klären“), das allen Gruppen der Izquierda Abertzale zur Diskussion und Abstimmung zugesandt wurde. Der orthodoxe Flügel antwortete mit dem Thesenpapier Mugarri („Meilenstein“), in dem die Komplementarität von politischem und bewaffnetem Kampf verteidigt wurde. Im November des gleichen Jahres versammelten sich 100 bekannte Vertreter der Izquierda Abertzale in der navarresischen Stadt Altsasu, um dort ein Manifest vorzustellen, in dem u.  a. das nordirische Beispiel als Lehre für die Basken herangezogen wurde. Die Forderung, der „unilaterale demokratische Prozess“ müsse unter Beachtung der vom amerikanischen Vermittler George Mitchell in Nordirland formulierten Bedingungen durchgeführt werden, war eine unausgesprochene Aufforderung an ETA, die Waffen schweigen zu lassen. Ein ähnliches Manifest wurde zeitgleich in Venedig vorgestellt. ETA fühlte sich auch durchaus angesprochen, unterstützte im Prinzip die Thesen von Altsasu, erklärte aber gleichzeitig, dass die Zeit noch nicht reif für so einen Schritt sei. Ähnlich war die Reaktion, als im Februar 2010 nach einer langen Debatte an der Basis eine klare Mehrheit für Argitzen als neues Grundsatzprogramm der Izquierda ­Abertzale stimmte, das dann offiziell unter dem Titel Zutik Euskal Herria („Stehe auf, baskisches Volk!“) verabschiedet wurde. Auch hier begrüßte ETA die intensive Debatte an der Basis, verweigerte aber weiterhin eine klare Antwort unter dem Hinweis, das Dokument sei einzig und allein von Batasuna verfasst worden. Der Druck auf die Untergrundorganisation wurde immer größer, als im März 2010 eine Gruppe von 21 hoch angesehenen Persönlichkeiten und Organisationen im Europäischen Parlament die sogenannte „Brüsseler Erklärung“ vorstellte. Zu den Unterzeichnern gehörten z. B. die Nelson-Mandela-Stiftung; der südafrikanische Bischof und Anti-ApartheidKämpfer Desmond Tutu; Frederik W. De Klerk, ehemaliger Präsident Südafrikas; John Hume, Friedensnobelpreisträger und eine der zentralen Figuren im nordirischen Friedensprozess. Die kurze, feierliche Erklärung unterstützte die neue demokratische und friedfertige Strategie der Izquierda Abertzale, forderte ETA auf, einen permanenten Waffenstillstand zu verkünden, und richtete sich an die spanische Regierung mit der Bitte, diese hoffnungsvolle neue Situation zu nutzen und die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um auf dem Verhandlungsweg die bestehenden „Differenzen

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zu beseitigen und einen dauerhaften Frieden zu ermöglichen“ (El País, 29. März 2010). Nach diesem neuen Schritt hin zur Internationalisierung des baskischen „demokratischen Prozesses“ fehlte noch eine letzte Geste, die ETA das Niederlegen der Waffen schmackhaft und plausibel machen sollte. Im Juni 2010 trafen sich im eleganten Kongresszentrum von Bilbao über 1.000 Anhänger der Radikalnationalisten, der demokratischen nationalistischen Partei Eusko Alkartasuna (EA) und zahlreiche internationale geladene Gäste, um feierlich die strategische Allianz der Izquierda Abertzale und EA aus der Taufe zu heben. Die ehemalige Regierungspartei EA befand sich in einem Prozess des zunehmenden politischen Bedeutungsverlustes und war bemüht, diese Tendenz durch eine stärkere Abgrenzung vom PNV und eine Akzentuierung der baskischen Unabhängigkeit als Parteiziel zu stoppen. Das Hauptinteresse der Izquierda Abertzale galt nicht den relativ wenigen Stimmen der EA-Wähler, sondern dem Prestige einer demokratischen Partei, die sich immer eindeutig gegen ETA’s politisch motivierte Gewalt positioniert und in ihren Reihen populäre und charismatische Politiker wie etwa den ehemaligen Lehendakari Carlos Garaikoetxea hatte. EA war nun zur Zusammenarbeit mit der Izquierda Abertzale bereit, da ihre Leitung über vertrauliche Informationen verfügte, nach denen die Verkündung des permanenten Waffenstillstands nur eine Frage von Tagen oder Wochen war. ETA’s Reaktion kam aber erst im September mit der Verkündung eines Waffenstillstandes, der aber noch nicht „permanent und überprüfbar“ war, so wie es die Erklärung von Brüssel gefordert hatte. Der definitive Schub kam kurz darauf mit einem neuen Manifest, das über 20 Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen aus dem Umfeld der Izquierda Abertzale in Gernika, dem emblematischen Erinnerungsort der Basken, unterzeichneten. Zum ersten Mal wurde im Text nicht lediglich ein Waffenstillstand gefordert, sondern dieser wurde nur als Zwischenschritt verstanden, der den Weg zur definitiven Niederlegung der Waffen ebnen sollte. Ansonsten enthielt das Manifest, das eine Woche später von 50.000 Demonstranten auf den Straßen von Bilbao unterstützt wurde, altbekannte Forderungen wie die der Legalisierung von Batasuna, der Änderung der Strafvollzugspolitik und der Anerkennung des baskischen Rechtes auf Selbstbestimmung. Im Januar 2011 folgte ETA’s Reaktion mit der Verkündung einer „permanenten, allgemeinen und überprüfbaren“ Waffenruhe, wobei jedoch die Frage unbeantwortet blieb, ob diese Waffenruhe das endgültige Ende des bewaffneten Kampfes, und damit

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der Untergrundorganisation als solcher, bedeutete.11 Die positiven Erwähnungen der Manifeste von Brüssel und von Gernika erlaubten aber eine optimistische Interpretation. Die Gründung einer „Internationalen Kontaktgruppe“ mit dem Ziel, vermittelnd im baskischen „demokratischen Prozess“ tätig zu werden, war ebenfalls ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser Waffenstillstand eine neue Qualität besaß. Im Oktober desselben Jahres bestätigte sich dann dieser Eindruck. Auf einer mit hochkarätigen prominenten internationalen Teilnehmern veranstalteten „Friedenskonferenz“ im Aiete-Palast von San Sebastián, wurde ein neues Manifest verabschiedet, in dem ETA aufgefordert wurde, den bewaffneten Kampf definitiv zu beenden und so den Weg für Gespräche mit der spanischen Regierung freizumachen, in denen es ausschließlich um „die Folgen des Konfliktes“ (Waffen, Gefangene, Opfer) gehen sollte. Eine neue „Internationale Kommission zur Überprüfung der Waffenruhe“ sollte als Vermittler dazu beitragen, diese Gespräche zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Teresa Whitfield hebt mit Recht das „theatralische Element“ der Friedenskonferenz von Aiete hervor (Whitfield 2014: 257), denn als das Schlusskommuniqué bekannt gegeben wurde, war allen Beteiligten schon klar, dass ETA’s Entscheidung längst gefallen war. Drei Tage später, am 20. Oktober, verkündete die baskische Untergrundorganisation „die definitive Einstellung der bewaffneten Aktivität“.12 Exakt einen Monat nach dieser historischen Entscheidung änderten sich die Koordinaten der spanischen Politik komplett: Mariano Rajoys konservativer Partido Popular gewann mit absoluter Mehrheit die Wahlen zum spanischen Parlament und löste damit den Sozialisten Rodríguez Zapatero ab, der sein gesamtes politisches Kapital aufs Spiel gesetzt hatte, um – auch durch direkte Kontakte mit der Terrororganisation – ETA dorthin zu bringen, wo die Organisation im Oktober 2011 endlich angekommen war. Rajoy ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er jeglichen Kontakt mit Terroristen ablehne und auch nicht bereit war, irgendwelche Schritte zu unternehmen, um die Entwaffnung der ETA-Kommandos zu bewerkstelligen. Trotz dieser konservativen Blockade überschlugen sich seit Herbst 2011 die Ereignisse regelrecht, auch wenn bis zur endgültigen Auflösung von ETA noch gut sieben Jahre vergehen sollten. Im März 2011 hatte sich 11 Siehe den gesamten Text auf (08-11-2021). 12 Siehe den gesamten Text auf (08-11-2021).

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der spanische Oberste Gerichtshof noch mit knapper Mehrheit gegen eine Legalisierung von Sortu, der neuen Partei der Izquierda Abertzale, ausgesprochen, obwohl sich diese in ihren Statuten ausdrücklich verpflichtet hatte, für ihre politische Arbeit ausschließlich demokratische und friedliche Mittel einzusetzen. Erst im Juni 2012 wurde diese Entscheidung vom Verfassungsgericht, auch hier nach einer knappen Abstimmung der Richter, gekippt. Ähnliches geschah mit der neuen Wahlplattform Euskal Herria Bildu, die Sortu und EA zusammen mit den linksnationalistischen Parteien Alternatiba und Aralar gegründet hatten. Das Verfassungsgericht hob erst zwei Wochen vor den Kommunal- und Provinzialwahlen die vorherige Entscheidung des Obersten Gerichtshofes auf und legalisierte Bildus Kandidaturen. Die Empörung über diese kaum nachvollziehbaren und allem Anschein nach eher politisch als juristisch fundierten Entscheidungen bewirkte eine enorme Mobilisierung der Wähler, die Bildu zu einem überraschend guten Wahlergebnis verhalfen. Bei den Provinzwahlen kam die Koalition in den drei baskischen Territorien der Autonomen Gemeinschaft auf insgesamt 26 % der Stimmen und landete damit auf dem zweiten Platz hinter dem PNV mit 32 %. In Gipuzkoa war Bildu sogar Spitzenreiter und begann sowohl in der Diputación als auch in der Hauptstadt San Sebastián zu regieren. Otegis Diskurs vom Schulterschluss nationalistischer Kräfte zur Durchsetzung von gemeinsamen politischen Zielen hatte also erste Früchte getragen: Neue politische Mehrheiten waren möglich, und der bewaffnete Kampf daher überflüssig. Die Polizei hatte schon in den Jahren vorher ihren Beitrag dazu geleistet, um auch den nostalgischen Hardlinern der Untergrundorganisation klarzumachen, dass eine Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes immer schwieriger sein würde. Zwischen 2008 und 2010 wurden in immer kürzeren Zeitabständen mehrere Führer von ETA verhaftet, darunter auch einige, die den Abschied von den Waffen abgelehnt hatten. Dennoch verstand es die Organisation, ihre Auflösung nicht als Niederlage, sondern als neuen Schritt hin zur baskischen Freiheit zu inszenieren. Die Verweigerung jeglicher Mitarbeit in dieser letzten Phase von ETA’s Geschichte, die Ministerpräsident Rajoy zum Programm gemacht hatte, führte dazu, dass neben der Internationalen Kommission zur Überprüfung der Waffenruhe auch andere Organisationen und Initiativen der Zivilgesellschaft diese Rolle übernahmen. So agierten die sogenannten „Handwerker des Friedens“ als Vermittler zwischen ETA und der französischen Regierung, um die Übergabe der Waffen in die Wege zu

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leiten. Im April 2017 konstatierte auf einem feierlichen Event in Bayonne der Sprecher der Internationalen Kommission, ETA sei „keine bewaffnete Gruppe“ mehr, nachdem die Organisation der französischen Regierung die genauen geographischen Daten ihrer Waffenarsenale mitgeteilt hatte. Einen Monat später verkündete Josu Ternera, der historische ETA-Leader, die Auflösung der Organisation in einer der BBC übermittelten Sprachnachricht. Genau ein halbes Jahrhundert war vergangen, seitdem ETA das erste tödliche Attentat begangen hatte. Dem Beamten der Guardia Civil José Antonio Pardines folgten fast 850 weitere tödliche Opfer. Als Josu Ternera ETA’s Auflösung verkündete und den Beginn eines neuen historischen Zyklus im Kampf für die baskische Freiheit konstatierte, hatte die Organisation keines ihrer Ziele erreicht. War das die Folge einer schmerzlichen und absoluten Niederlage, zugefügt durch die Instrumente des spanischen Rechtsstaates? Oder war dieses Ende ein freiwillig gefasster Entschluss, ein neuer Beweis für die Verbindung zwischen ETA und dem baskischen Volk, dessen Rechte die Organisation seit ihrer Gründung zu verteidigen vorgab? Diese letzte Sichtweise ist nicht völlig absurd und aus der Luft gegriffen. ETA hätte trotz ihrer militärischen Schwäche durchaus noch eine Zeitlang weiter aktiv bleiben können: Waffen gab es genug, ebenso wie untergetauchte Mitglieder, die bereit waren, die verhafteten Genossen zu ersetzen. Wenn nach dem internen Diskussionsprozess dennoch mehrheitlich und aus Eigenverantwortung die Entscheidung getroffen wurde, die Waffen ein für alle Mal niederzulegen, so kann das als ein von außen induzierter Selbstmord verstanden werden. Der letztendliche Entscheidungsträger bei jedem Selbstmord ist immer die betroffene Person oder, in diesem Fall, Organisation. Im Fall von ETA trafen die Verantwortlichen aber erst diese letzte Entscheidung, nachdem sie erkannt hatten, dass ihnen kein anderer Ausweg blieb: Der Druck der Gerichte auf den politischen Flügel machte jede politische Arbeit in der Legalität unmöglich; die Polizei erzielte immer häufiger spektakuläre Erfolge bei der Verhaftung von Aktivisten oder der Verhinderung von Attentaten; die baskische Bevölkerung verurteilte in ihrer großen Mehrheit die Fortführung des bewaffneten Kampfes; die Friedensbewegung hatte den linken Radikalnationalisten die Straße strittig gemacht; und, last but not least, der von Otegi geführte politische Flügel war dabei, sich vom militaristischen Diktat zu emanzipieren und drohte ETA mit dem Entzug der sozialen Basis. Es gab keinen Ausweg aus dem Dilemma. Der induzierte Selbstmord ermöglichte den ETA-Paramilitärs

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wenigstens, öffentlich das von Otegi angebotene Narrativ vom einseitig beschlossenen Rückzug als letzten, selbstlosen Beitrag zum Kampf des baskischen Volkes zu inszenieren. Damit hatte der Kampf um die Deutungshoheit der jüngsten baskischen Geschichte in der neuen post-ETA-Ära begonnen. 4. Die neue Ära: Politik und Erinnerung nach der Auflösung von ETA

Was änderte sich im Baskenland nach dem Ende des ETA-Terrorismus? Die wichtigste Veränderung liegt auf der Hand: Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert sind die Voraussetzungen für einen freien, demokratischen und pluralistischen Dialog aller unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte gegeben, ohne dass einige Teilnehmer um ihr Leben fürchten und andere damit rechnen müssen, im Gefängnis zu landen. Gerade für die Izquierda Abertzale hat diese Situation neue Möglichkeiten der Profilierung als demokratische und kompromissbereite politische Kraft geschaffen, mit der man verhandeln und Übereinkünfte treffen kann. So gehörte Bildu, ebenso wie der PNV, im Juni 2018 zum Parteienbündnis, das das Misstrauensvotum gegen den konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy unterstützte und den Sozialisten Pedro Sánchez zum neuen Regierungschef machte. Auch als Sánchez im März 2020 den „Alarmzustand“ (Estado de Alarma) verkündete, um zur Bekämpfung der Pandemie freie Hand zu haben, erhielten Bildu und der PNV diese parlamentarische Unterstützung von Sánchez auch in den folgenden Monaten aufrecht, als der neue Regierungschef Mehrheiten für die Verlängerung des Alarmzustandes benötigte. Das war nicht unbedingt so vorauszusehen, da der Alarmzustand eine weitgehende Rezentralisierung der Politik zu Ungunsten der Autonomen Gemeinschaften mit sich brachte. Aber auch nach der Beendigung des Alarmzustandes im Juni 2020 hatte die seit den Regionalwahlen von 2012 wieder vom PNVler Iñigo Urkullu in Koalition mit den Sozialisten geführte baskische Regierung große Probleme, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Die stark besiedelten baskischen Provinzen gehörten über Monate hinweg zu den Gebieten mit den höchsten Inzidenzwerten und den proportional meisten Todesfällen. Bis Anfang November 2021 steckten sich in der Comunidad Autónoma del País Vasco 265.000 Menschen mit dem Virus an, in Navarra waren es 84.000. Die

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Todesfälle summierten sich auf 5.027 in Euskadi und 1.295 in Navarra. Erst die Erfolge bei der Impfkampagne ermöglichten eine zeitweilige Lockerung bzw. Aufhebung der restriktiven Schutzmaßnahmen. In beiden Autonomien lag der Prozentsatz der über zwölfjährigen komplett geimpften Bevölkerung um die 90 %, und damit leicht über dem im europäischen Vergleich relativ hohen spanischen Gesamtdurchschnitt (88,8 %).13 Die Bekämpfung der Pandemie ließ wenig Spielraum für andere Themen, wie etwa die Diskussion über die Reform des Autonomiestatuts, bei der es bis Ende 2021 trotz der Einrichtung verschiedener spezifischer Parlaments-Kommissionen kaum nennenswerte Fortschritte gegeben hat. Inwieweit hat das Ende des Terrorismus die politische und identitäre Landschaft des Baskenlandes verändert? Eine perspektivische Rückschau auf die jüngste Geschichte vermittelt den Eindruck, dass insgesamt gesehen die langfristig gefestigten Beharrungskräfte stärker waren als die Erneuerungsimpulse. Diese These kann zunächst einmal am Status des PNV veranschaulicht werden. Die Partei eroberte sich seit den Wahlen von 1933 eine mehr oder weniger ausgeprägte und regional stark variierende Hegemonialposition. Weder der Franquismus noch die ETA-Gewalt haben vermocht, das zu ändern. Der Verlust der baskischen Regierungsgewalt durch die Wahlen von 2009 war ein den besonderen Umständen geschuldeter Ausnahmefall, der 2012 mit einem Wahlsieg wieder korrigiert wurde. Seitdem führt die Partei wieder die baskische Regierung zusammen mit den Sozialisten: Auch eine Art Déjà-vu, denn diese Koalition zwischen den beiden wichtigen und konträren Parteien hatte schon 1936 José Antonio Aguirre, der Präsident der ersten baskischen Regionalregierung, eingeführt, was dann zwischen 1986 und 1998 von einem seiner Nachfolger, José Antonio Ardanza, mit Erfolg wiederholt wurde. Wenn es eine nennenswerte Verschiebung im baskischen politischen System gab, so waren das die Wahlsiege der neuen links-alternativen Partei Podemos-Ahal Dugu bei den spanischen Parlamentswahlen 2015 und 2016. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass die Kräfteverhältnisse der beiden Blöcke (baskische Nationalisten versus Nicht-Nationalisten bzw. spanische Nationalisten) über die Zeit auch nach dem Ende der ETA-Gewalt relativ stabil blieben. 13 Zahlen nach und (09-11-2021).

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Wahlen zum baskischen Parlament (PV) und zum spanischen Parlament (PE) in der Autonomen Gemeinschaft des Baskenlandes (Resultate in Prozent der abgegebenen Stimmen)14 PNV-EAJ EH Bildu PSE-EE PP PodemosAhal Dugu

2012 PV 34,61 25,00 19,14 11,75

2015 PE 24,90 15,17 13,34 11,71

2016 PE 25,03 13,37 14,32 12,96

2016 PV 37,60 21,26 11,94 10,18

2019 PE 31,21 16,78 20,02 7,49

2019 PE 32,19 18,78 19,31 8,9

2020 PV 39,07 27,86 13,65 6,77

26,17

29,28

14,86

17,70

15,51

8,05

PNV-EAJ: Partido Nacionalista Vasco-Euzko Alderdi Jeltzalea; EH Bildu: Euskal Herria Bildu; PSE-EE: Partido Socialista de Euskadi-Euskadiko Ezkerra; PP: Partido Popular.

In fast zwei Dekaden, zwischen 1998 und 2016, stieg der Anteil der nationalistischen Stimmen bei den Wahlen zum baskischen Parlament um nur knapp 4  %, wenn man dabei auch berücksichtigen muss, dass der Erfolg einer Partei wie Podemos, die offen für das baskische Selbstbestimmungsrecht eintritt, den nationalistischen Block insgesamt gestärkt hat. Nationalistischer Stimmenanteil bei den Wahlen zum baskischen Parlament, 1998-2020 (in %)15

14 Quelle: (09-11-2021). Bei den Wahlen zum baskischen Parlament von 2020 kandidierte der PP in Koalition mit der rechts-liberalen Partei Ciudadanos. 15 Quelle: (09-11-2021). Es sei daran erinnert, dass der überraschende Rückgang der nationalistischen Stimmen 2009 auf die Abwesenheit einer legalen Kandidatur der Izquierda Abertzale zurückzuführen ist.

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Der politische und identitäre Pluralismus der baskischen Gesellschaft spiegelt sich auch in den Präferenzen bezüglich der politisch-administrativen Struktur des Baskenlandes wider. Laut einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2019 strebten 22 % der erwachsenen Bevölkerung von Euskadi ein unabhängiges Baskenland an. Mehr als zwei Drittel der Befragten optierten für alternative Modelle mit unterschiedlichen Selbstverwaltungsgraden innerhalb des spanischen Staates wie der gegenwärtigen Regionalautonomie (37  %) oder einem föderalen System (34  %). Nur 4  % der Befragten sprachen sich für mehr Zentralismus aus.16 Für die Politiker, die gegenwärtig über die Reform des Autonomiestatuts verhandeln, sollten diese Zahlen eine klare Botschaft enthalten: Das Modell, das vermutlich den größten Konsens erwarten kann, dürfte wohl irgendeine Zwischenstufe zwischen der gegenwärtigen und einer in Richtung Föderalismus erweiterten Regionalautonomie sein. Nicht weniger komplex als die Aushandlung eines neuen Autonomiestatuts ist die Aufarbeitung der jüngsten, von der politischen Gewalt geprägten baskischen Vergangenheit. Diese Vergangenheitsbewältigung umfasst nicht nur die etwa 850 von ETA getöteten Menschen. Auch die Opfer der illegalen oder exzessiven Polizeigewalt und der rechtsextremen Killerkommandos gehören selbstverständlich dazu. Kritische Fragen müssen sich nicht nur die direkt Beteiligten stellen lassen, sondern auch der Rest der Bevölkerung, der zu lange einfach weggeschaut hat und durch diese Passivität nicht von einer gewissen Mitschuld freigesprochen werden kann. Wie soll man mit diesem hoch sensiblen Thema umgehen zu einem Zeitpunkt, an dem viele der Wunden noch offen sind? Wäre es eine Lösung, so wie sie David Rieff vorschlägt, die Vergangenheit erst einmal zu vergessen, da das Erinnern anstatt zum Frieden zu häufig erneut zu Kriegen, Konflikten und Ressentiments geführt hat? (Rieff 2016) Oder hat der baskische Sozialist Jesús Eguiguren Recht, wenn er behauptet, „den Frieden erreicht man mit 50 % Erinnerung und 50 % Vergessen“? (El Diario Vasco, 18. Dezember 2018). Ein Historiker kann selbstredend nicht vorhersagen, welche Antworten auf diese Fragen die baskische Gesellschaft formulieren wird. Klar scheint allerdings im Winter 2021/22 schon zu sein, dass das komplette Vergessen der jüngsten Vergangenheit für niemanden eine wirkliche Option ist. Eher ist das Gegenteil der Fall. 16 Vgl. die letzte Umfrage vom Euskobarómetro aus dem Jahr 2019: (09-11-2021).

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Mit Gogora gibt es z. B. schon eine von der baskischen Regierung eingerichtete Institution, die sich mit dem Aufarbeiten der Vergangenheit beschäftigt.17 Das vom spanischen Innenministerium finanziell unterstützte Memorial de las Víctimas del Terrorismo arbeitet dafür, dass die Schicksale der Opfer nicht in Vergessenheit geraten.18 Selbst die nun demokratisch agierenden Nachfahren von ETA’s politischem Flügel haben erste Schritte unternommen, um sich den Opfern empathisch zu nähern, auch wenn sie noch nicht bereit sind, allgemein die ETA-Gewalt als Unrecht zu verurteilen. Die Leiden der unterschiedlichen Opfer haben Eingang in den Schulunterricht gefunden. Alle diese Formen der Erinnerung werden logischerweise in einer demokratischen Gesellschaft sehr heterogen und z. T. sogar widersprüchlich ausfallen. Daher ist es unabdingbar, dass die distanzierte und wissenschaftlich fundierte Historie das immer stark subjektiv geprägte Erinnern begleitet, um die Subjektivität nicht zur absurden und oft auch politisch geleiteten Realitätsverleugnung verkommen zu lassen. Das im bekannten Diktum von Reinhart Koselleck so brillant eingeforderte „Vetorecht der Quellen“ gilt auch, gerade im Zeitalter der Fake News, im baskischen Fall (Koselleck/Mommsen/Rüsen 1977: 17-46). Die abschließenden, fast telegraphisch komprimierten Fragen und Thesen sollen einen ersten Beitrag dazu leisten: 1. Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts existiert ein politisches „baskisches Problem“. Die demokratische Diskussion und – wenn auch nur zeitweilige – Lösung dieses Problems wurde immer wieder von verschiedenen Arten der Gewalt (Diktaturen, Bürgerkrieg, ETA, Staatsterrorismus) verhindert. Dennoch ermöglichte die große Zustimmung der baskischen Gesellschaft zur 1979 etablierten Autonomie einen Modus Vivendi, in dem sich ein Großteil der Bevölkerung wohl fühlt. Die These von ETA und ihrer politischen Vertreter, der bewaffnete Kampf sei auch nach Francos Tod notwendig, weil die Transition und die Demokratie den Basken aufgezwungen worden seien, ist eine eindeutige Verfälschung der Tatsachen. 2. Auch das Narrativ von der historischen und einzelne politische Konjunkturen überlebenden Unterdrückung der Basken durch den spanischen (oder französischen) Staat ist nicht viel mehr als eine interessengeleitete Legende. Der schon konstatierte politische Konflikt 17 Hier mehr Information: (12-112021). 18 Siehe auch: (12-11-2021).

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artikulierte sich nicht nur zwischen dem Baskenland und dem spanischen Staat. Er existierte auch als interner Konflikt innerhalb der pluralistischen baskischen Gesellschaft. Und außerdem: Es gibt keinen kausal notwendigen Zusammenhang zwischen der Existenz eines politischen Konfliktes und dem Aufkommen einer gewaltsamen Konfliktdimension. Dass ETA auch nach 1975 weiter mordete, war nicht die Reaktion auf die vermeintliche Unterdrückung, sondern die Folge einer freien Entscheidung von bestimmten Individuen und gesellschaftlichen Gruppen. 3. ETA’s langer Lebenszyklus war nicht zuletzt dem Erfolg beim Aufbau eines breiten, hierarchisch strukturierten und lebensweltlich verwurzelten gesellschaftlichen Sympathisanten-Netzwerkes geschuldet. Ein bedeutender Sektor der baskischen Gesellschaft beteiligte sich – aktiv oder passiv – an der Legitimation der ETA-Gewalt sowohl innerhalb dieses Netzwerkes als auch in seinen Außenbeziehungen. Wie konnte dieses Netzwerk so erfolgreich sein? Wieso war es über einen so langen Zeitraum bis praktisch ganz zum Schluss fast vollkommen von äußeren, nicht-konformen Einflüssen abgeschirmt? ETA waren nicht nur die Kommandos, sondern auch die willigen Mitläufer. Dieses Phänomen muss eines der zentralen Themen bei jedem Versuch der Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung sein. 4. Nicht nur die Izquierda Abertzale, sondern auch die anderen Teile der baskischen Gesellschaft oder des politischen Systems werden diese Debatte zu führen haben: Wieso wurde es zugelassen, dass über Jahrzehnte die ETA-Opfer in absoluter Einsamkeit und fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit beerdigt werden mussten? Wo waren die Parteien und die Institutionen? Wo die Organisationen der Zivilgesellschaft? Gibt es eine Partei, die der Versuchung widerstanden hat, die Gewaltproblematik für die eigenen politischen Ziele zu instrumentalisieren? Wie ist es zu erklären, dass in einem demokratischen europäischen Staat hohe Regierungsmitglieder nachweislich anti-ETA-Terrorismus organisieren und finanzieren konnten? Was sagt das aus über die Gesundheit der spanischen Demokratie? Auch die oft vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisierte Passivität der verschiedenen spanischen Regierungen bei der Untersuchung und Bestrafung von Foltermethoden in den Polizeiquartieren wirft kein gutes Licht auf die Solidität der spanischen Demokratie.

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5. Die Anerkennung dieser unterschiedlichen Arten von Gewalt und die Gleichstellung aller unschuldigen Opfer darf jedoch nicht in die Schlussfolgerung münden, im baskischen Konflikt seien alle schuldig. Wenn alle schuldig sind, ist am Ende keiner wirklich schuldig. Daher müssen diese Formen der Gewaltausübung bei der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit rigoros kontextualisiert werden. Und dieser Kontext änderte sich 1975 mit Francos Tod drastisch. Die neuen politischen Partizipationsmöglichkeiten entzogen der Fortsetzung des bewaffneten Kampfes jegliche Legitimität, ebenso wie im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie jede Form von mit den elementaren Menschenrechten unvereinbarer, illegaler Staatsgewalt gegen vermeintliche Staatsfeinde inakzeptabel ist. In diesem Sinne sind alle Opfer gleich und verdienen Anerkennung und Wiedergutmachung. Das alles sollte nicht dazu führen, den entscheidenden Anteil von ETA und ihres gesellschaftlichen Umfeldes an der Fortdauer der Gewalt und dem Leiden der zahlreichen Opfer nach Francos Tod zu relativieren. Literaturverzeichnis Bernecker, Walther L. (2008): „Souveränität und Territorialität: Das ‘baskische Problem’ zwischen Pragmatismus, Ethnonationalismus und Separatismus“, in: Ders. (Hg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt a.M.: Vervuert [5. Auflage], 169215. Bullain, Iñigo (2011): Revolucionarismo patriótico. El Movimiento de Liberación Nacional Vasco (MLNV). Origen, Ideología y Organización. Madrid: Tecnos. Caro Baroja, Julio (1985): El laberinto vasco. San Sebastián: Txertoa. Casquete, Jesús (2009): En el nombre de Euskal Herria. La religión política del nacionalismo vasco radical. Madrid: Tecnos. Domínguez, Florencio (1998): De la negociación a la tregua. ¿El final de ETA? Madrid: Taurus. — (2012): La agonía de ETA. Una investigación inédita sobre los últimos días de la banda. Madrid: La Esfera de los Libros. Eguiguren, Jesús/Rodríguez Aizpeolea, Luis (2011): ETA. Las claves de la paz. Confesiones del negociador. Aguilar: Madrid. Elias, Anwen/Mees, Ludger (2017): „Between Accommodation and Secession: Explaining the Shifting Territorial Goals of Nationalist Parties in the Basque Country and Catalonia“, in: Revista de Estudios Autonómicos y Federales, 25, 129-165. Fernández Soldevilla, Gaizka (2016): La voluntad del gudari. Génesis y metástasis de la violencia de ETA. Madrid: Tecnos.

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Widerstreitende Erinnerungskulturen in einem gespaltenen Land Walther L. Bernecker Abstract Die „Vergangenheitsaufarbeitung“ gehört in Spanien seit dem Tode Francos (1975) zu den umstrittensten Themenbereichen in Politik und Gesellschaft. Nach einer ersten Phase relativen Konsenses, in der politische Instanzen Debatten über die Vergangenheit (Bürgerkrieg und Franquismus) weitestgehend vermieden, sind spätestens seit der Jahrhundertwende die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Vergangenheit in aller Härte aufeinandergeprallt und haben das Land politisch-ideologisch gespalten. Die Aussage gilt für nahezu alle umstrittenen Themen der memoria histórica: für die Frage nach der Verantwortung für den Bürgerkrieg, nach der Einordnung des franquistischen Regimes in die spanische Geschichte, nach der Behandlung der Unterlegenen im Bürgerkrieg und der Verantwortlichen für Menschenrechtsverbrechen, nach der Zulässigkeit einer Amnestie, nach der Rolle des Staates im Aufarbeitungsprozess etc. Der Beitrag analysiert die einzelnen Phasen der Vergangenheitsaufarbeitung während der letzten 50 Jahre bis in die unmittelbare Gegenwart. Vergangenheitsaufarbeitung in der Transition

Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert sah sich Spanien mit einer sensationellen Bewegung konfrontiert. In den Regierungsjahren des konservativen Ministerpräsidenten José María Aznar (1996-2004) kam es nämlich zum ersten Mal seit Francos Tod (1975) in breiten Bevölkerungskreisen zu einer ernsthaften und weitverbreiteten Reflexion und Diskussion über den Bürgerkrieg, das franquistische Unrechtsregime und den Übergang von der Diktatur zur Demokratie – mit all seinen Licht- und Schattenseiten. Es setzte eine Art Vergangenheitsaufarbeitung ein, die im Spanischen memoria histórica genannt wird. Bis dahin war in der Historiographie und im politischen Diskurs die Transition zumeist als großer Erfolg dargestellt worden. Für die neue spanische Demokratie war n ­ ämlich die

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Transition der Gründungsmythos schlechthin, der neuer Symbole bedurfte: des Bildes der nationalen Versöhnung, der volkstümlichen Monarchie, der Verfassung für alle politischen Lager, des friedlichen Zusammenlebens nach jahrhundertelanger Konfrontation (zum Gesamtzusammenhang vgl. Pasamar 2014). Da diese Bilder der Legitimierung der neuen demokratischen Staatsund Regierungsform dienten, war die Zeitgeschichtsschreibung zum Übergang vom autoritären System des Franquismus in die parlamentarische Demokratie überwiegend wohlwollend. Dieser insgesamt positiv besetzte, weitgehend dominierende historiographische Diskurs war nur vereinzelt von kritischen Stimmen gebrochen worden, die auch nach dem „Preis“ der Transition fragten (Morán 1992). Ein zentraler Aspekt der Argumentation der frühen Kritiker war der Verweis auf das Verdrängen der „historischen Erinnerung“. Der hochgelobte gesellschaftliche „Konsens“ der Übergangszeit sei mit einem Verschweigen der Vergangenheit (amnesia colectiva), einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen, erkauft worden. In der Tat war es in Spanien weder zu einer juristischen Aufarbeitung der Diktatur noch zu einer breiten gesellschaftlichen oder politischen Diskussion über Verantwortlichkeiten in der Diktatur gekommen (Cabrera 2014). Die Demokratisierung und der soziopolitische Frieden hatten ihren politischen und moralischen Preis. An vielen Orten überlebte (bis heute) das franquistische Symbolsystem, was die Spanier sehr viele Jahre lang daran erinnerte (und erinnert), dass die politische Reform aus einem Pakt hervorgegangen war, der innerhalb der autoritären Institutionen ausgearbeitet wurde und schließlich zum Übergang in die Demokratie führte. Diesem Übergangscharakter entsprechend gingen die Streitkräfte, der juristische Apparat, die Bürokratie sowie alle anderen staatlichen Instanzen ohne jegliche Art von Säuberung von der Diktatur in den Postfranquismus über (Aguilar Fernández 2001). Die Tatsache, dass es keinen klaren demokratischen Bruch mit der franquistischen Diktatur gab, hat einen Schatten auf jene Bereiche der Vergangenheit geworfen, die in der neueren Historiographie „Orte der Erinnerung“ genannt werden. Die Transition stellte eine Art Ehrenabkommen dar, durch das die Kompensation der Franquisten für die Übergabe der Macht in der Praktizierung einer kollektiven Amnesie erfolgte. Beschränkte sich das offizielle Vergessen und Verdrängen zuerst auf den Bürgerkrieg, so wurde es später auf die Repression im Franquismus a­ usgedehnt. Wegen

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des konsensualen Reformcharakters der Transition mussten nach 1975 ein Bruch mit der diktatorischen Vergangenheit und eine klare Distanzierung von der franquistischen Propaganda ausbleiben; daher bestanden auch franquistische Mythen vorerst weiter. Übereinstimmung wurde schnell hinsichtlich der aus der Bürgerkriegserfahrung zu ziehenden Lehren erzielt: Der Krieg wurde als kollektive Tragödie dargestellt, die sich nie wiederholen dürfe. Aus dieser Deutung ergab sich die zwingende Notwendigkeit einer Versöhnung der seit dem Bürgerkrieg gespaltenen spanischen Gesellschaft; diese Versöhnung bedeutete zugleich die „Aufarbeitung“ des Kriegs und ermöglichte die weitgehend friedliche Demokratisierung. Wegen der jahrzehntelang dominierenden franquistischen Propaganda wurde nach 1975 erwartet, dass im demokratischen Spanien (insbesondere an den Jahrestagen des Bürgerkriegs) verstärkte Aktivitäten stattfinden würden, um dem Informations- und Aufklärungsbedürfnis der Bürger nachzukommen. Die Jahrestage 1976/1979 fielen allerdings in die politisch aufgewühlte Transitionsphase; sowohl die Politiker als auch die Zivilgesellschaft mussten all ihre Energien auf die Bewältigung des Übergangs von der Diktatur in die Demokratie konzentrieren. Als diese Gratwanderung erfolgreich abgeschlossen war und seit 1982 die Sozialistische Partei unangefochten regierte, bot der Jahrestag 1986 zum ersten Mal im redemokratisierten Spanien die Gelegenheit, ohne staatlich verordnete ideologische Vorgaben des Bürgerkriegsbeginns 50 Jahre zuvor zu gedenken. Allerdings ließ sich das „offizielle“ Spanien so gut wie nicht vernehmen (Belege zu folgenden Zitaten bei Bernecker 2020). Die einzige Verlautbarung aus dem „Moncloa-Palast“, dem Regierungssitz, besagte, der Bürgerkrieg sei „kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn er für die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Phase in ihrem Leben darstellte“. Inzwischen sei der Krieg jedoch „endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung und der kollektiven Erfahrung der Spanier“; er sei „nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der Toleranz basiert“. Der Wunsch nach Aussöhnung und die Angst davor, alt-neue, nicht verheilte Wunden wieder aufzureißen, mögen die damals regierenden Sozialisten mitbewogen haben, den Jahrestag 1986 offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja, zu verdrängen und außerdem politisches Verständnis für die ehemals „andere“ Seite zu zeigen. Weiter hieß es nämlich in der Moncloa-Erklärung, die Regierung wolle „die Erinnerung an all jene ehren und hochhalten, die jederzeit mit ihrer Anstrengung – und viele mit

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ihrem Leben – zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie in Spanien beigetragen haben“; zugleich gedenke sie „respektvoll jener, die – von anderen Positionen aus als denen des demokratischen Spanien – für eine andere Gesellschaft kämpften, für die viele auch ihr Leben opferten“. Die Regierung hoffe, dass „aus keinem Grund und keinem Anlass das Gespenst des Krieges und des Hasses jemals wieder unser Land heimsuche, unser Bewusstsein verdunkle und unsere Freiheit zerstöre. Deshalb äußert die Regierung auch ihren Wunsch, dass der 50. Jahrestag des Bürgerkriegs endgültig die Wiederversöhnung der Spanier besiegle.“ Die bis 1996 regierenden Sozialisten griffen mit solchen Interpretationen auf die Erblast der Angst zurück, um ihre politische Vorsicht abzusichern, um keine radikalen Änderungen vorzunehmen, die damals möglicherweise die Stabilität des Systems hätten gefährden können. In den auf Francos Tod folgenden zwei Jahrzehnten legten die politischen Eliten (gleich welcher Couleur) in der Frage der Vergangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung an den Tag. Bis Ende des 20. Jahrhunderts war die Amnestie, die zu Beginn der Transition (1977) verkündet worden war, mit einer politischen Amnesie verbunden, die eine umfassende gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit verhinderte. Kritiker sehen darin eines der größten Defizite der Transition. Als weiteren Indikator für die Imperfektion der Transition lässt sich die Behandlung der Familienangehörigen der auf republikanischer Seite im Bürgerkrieg (und danach) „Verschwundenen“ anführen. Während nämlich die franquistische Seite sofort nach dem Bürgerkrieg ihre Toten identifizieren und ehrenhaft bestatten konnte (vgl. Ledesma/Rodrigo 2006), ist dies mit den Republikanern bis heute nicht geschehen. Schätzungen zufolge warten über 100.000 Republikaner darauf, aus anonymen Massengräbern in die Obhut der Familienangehörigen überführt zu werden. Erst im Jahr 2002, nachdem die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen eingeschaltet worden war, kam Bewegung in diese Frage; erste Leichen wurden exhumiert und umgebettet. Und erst Ende 2002 verabschiedete das spanische Parlament eine Resolution, die die Regierung aufforderte, die Suchaktionen auch finanziell zu unterstützen und die politischen Opfer des Franquismus als solche anzuerkennen. Die damals regierende konservative Volkspartei konnte allerdings verhindern, dass der Putsch von 1936 ausdrücklich verurteilt wurde. Dass die von vielen Aktivisten heftig kritisierten Amnestiegesetze von 1977 – die übrigens von der damaligen Linken und von oppositionellen

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Gruppierungen gefordert worden waren (keineswegs von der Rechten) – durchaus positive Auswirkungen zeitigten, belegt ein Blick auf die Zahlen: Sofort nach Erlass der Gesetze wurden 86 politische Gefangene (überwiegend der Linken und von ETA) begnadigt und in die Freiheit entlassen. Seit dem Beginn der Regentschaft von König Juan Carlos hatte es zuvor schon mehrere Teilamnestien gegeben, die zur Freilassung von über 700 politischen Gefangenen geführt hatten. 1977 gab es sodann (nach Inkrafttreten des Amnestiegesetzes) keine politischen Gefangenen mehr. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte kamen (bis Ende Oktober 2021) über 700.000 Personen, die von den franquistischen Bürgerkriegssiegern erschossen oder gefoltert und gefangen gesetzt worden waren, in den Genuss moralischer und juristischer Rehabilitierung. Bis Ende 2020 hatte der spanische Staat über 21,7 Milliarden Euro an Wiedergutmachung, Pensionserstattungen an Repressionsopfer etc. ausbezahlt. Bis heute stehen im spanischen Haushalt jährlich über 100 Millionen Euro für Wiedergutmachungszahlungen zur Verfügung – eine Summe, die Jahr für Jahr wegen der abnehmenden Zahl von Empfangsberechtigten geringer wird. Diese finanziellen Entschädigungen sind zweifellos eine politisch-ethische Wiedergutmachung, die zugleich eine nachträgliche Legitimierung des Kampfes auf republikanischer Seite bedeutet (vgl. Pérez Garzón 2021). Trotzdem gilt: Es scheint klar zu sein, dass die vielfach zurecht beklagten Phänomene fehlender Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den Kompromisscharakter der Transition zurückzuführen waren. Nach 1975 kam es formal zu keinem Bruch; daher konnte der Antifranquismus auch nicht zum Gründungsmythos der neuen spanischen Demokratie werden. Es musste fast ein Vierteljahrhundert vergehen, bis jener gesellschaftliche „Konsens“ der Übergangszeit, der einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen gleichgekommen war, aufgebrochen wurde. Angesichts der ablehnenden Haltung der konservativen Regierung von José María Aznar schritt im Herbst 2000 eine von Emilio Silva angestoßene Bürgerinitiative selbst zur Tat und führte die Exhumierung der Leichname von 13 „Verschwundenen“ des Bürgerkriegs durch. Das große öffentliche Echo auf diese Exhumierungen hatte die Gründung der „Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung“ (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH) sowie einiger ähnlicher Plattformen mit Internetpräsenz zur Folge. Seither kämpft der Verein um die landesweite Aufklärung von politischen Morden und Massenhinrichtungen, die die Aufständischen während des Bürgerkrieges und danach an den Anhängern

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der Republik verübt haben. Angesichts der großen Zahl nicht identifizierter Toter fehlen dem Verein jedoch die für die Exhumierungen erforderlichen Mittel. Außerdem weigert sich die ARMH, staatliche Mittel in Anspruch zu nehmen, mit dem Argument, dass es Aufgabe des Staates (und nicht privater Initiativen) sei, solche Exhumierungen vorzunehmen (vgl. die Webseiten der Vereinigung: www.geocities.com/priaranza36; weitere Internetadressen in Bernecker/Brinkmann 2011). Historiographie und erste gesetzgeberische Schritte

Die verschiedenen Erinnerungskulturen haben in Spanien – sowohl historiographisch wie gesellschaftlich – sehr unterschiedliche Phasen durchlaufen, von denen sich zumindest drei klar voneinander differenzieren lassen. Die erste könnte man die Konfrontationsphase der Nachkriegszeit nennen. Mehr oder minder gezwungen, äußerten sich Historiker und Vertreter der Zivilgesellschaft weitgehend positiv über den Franquismus, sie identifizierten sich größtenteils mit den Bürgerkriegssiegern und rechtfertigten deren (Erinnerungs-)Politik. Dieser für die unterlegenen Republikaner besonders schmerzhaften Phase folgte – seit den 1960er Jahren – eine zuerst zaghafte, nach dem Tode Francos deutlich dominierende Phase des „Vergessens“, des „Verschweigens“ oder (positiver formuliert) der „Versöhnung“, die in ihrer proklamierten Äquidistanz zwischen Siegern und Besiegten für die Transitionsjahre prägend wurde und bis Ende des 20. Jahrhunderts anhielt. Seit der Jahrhundertwende schließlich kann man von einer Phase der Wiedergutmachung oder Reparationen für erlittene Ungerechtigkeiten und Willkürmaßnahmen seitens des franquistischen Staates sprechen. In dieser bis heute anhaltenden Phase hat sich der Erinnerungsdiskurs vom postfranquistischen Wiederversöhnungsparadigma gelöst und sich auf die Sichtweise der Opfer des Franquismus konzentriert (vgl. López Villaverde 2014). Jede dieser drei Erinnerungskulturen hat ihre eigenen Mythen hervorgebracht. Die erste, profranquistische Phase betonte die „heroischen Leistungen“ der Bürgerkriegssieger. Die Generation der Transitionsphase sprach von der „kollektiven Schuld“ am Bürgerkrieg, und die vorläufig dritte wies in ihrem Erinnerungsdiskurs auf die heldenhaften Kämpfe für die (republikanische) Demokratie hin. Am meisten wurden die memorialistischen Diskurse von den ersten beiden Mythen geprägt: von der

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­ lorifizierung des 18. Juli 1936 und dem auf ihn folgenden Bürgerkrieg G sowie von der Hervorhebung der „kollektiven Schuld“ und der geteilten Verantwortung beider Bürgerkriegslager für Gräuel und Ungerechtigkeiten. Die dritte, aktuell vorherrschende Erinnerungskultur führte zu den bis heute anhaltenden ideologischen Auseinandersetzungen um die „Wahrheit“ der Geschichte. Als vorläufiges Ergebnis dieses heftig ausgetragenen Disputs – eines angeblichen Streites über die Vergangenheit, der jedoch von beiden Seiten politisch instrumentalisiert wird – stehen sich heute unversöhnliche Erinnerungen gegenüber, die man auf der einen Seite „historisches Gedächtnis“, auf der anderen Seite der ideologischen Barrikaden das „andere historische Gedächtnis“ nennt und die in einem unerbittlichen Interpretationskampf gegeneinander eingesetzt werden. Was den Zusammenhang von öffentlicher Aufarbeitung der franquistischen Repression und Bürgerkriegshistoriographie betrifft, verdient die These von Santos Juliá Aufmerksamkeit (vgl. Juliá 2002, 2006): Er bestreitet, dass es in Spanien je einen „Pakt des Schweigens“ gegeben habe; im öffentlichen Diskurs sei die Erinnerung vielmehr stets präsent gewesen. Erst die Erinnerung habe als stete Mahnung den entscheidenden Impuls für die Aushandlung der Amnestien in der Frühphase der Transition gegeben und jenes „heilsame“ Vergessen ermöglicht, durch das der Bürgerkrieg als Argument des politischen Wettbewerbs gebannt werden konnte (zur neueren Debatte über das „Recht auf Vergessen“ vgl. Rieff 2016). Juliá verweist auf die intellektuelle Vorgeschichte der Transition, in der sich die gemäßigten Kräfte innerhalb und außerhalb des Regimes schon lange vor dem Tod des Diktators angenähert und den späteren Versöhnungsdiskurs gewissermaßen mental vorbereitet hätten. Deutlichstes Anzeichen dafür war die allmähliche Umdeutung des Bürgerkriegs, der im unmittelbaren Nachfranquismus – von ideologischer Last und gegenseitigen Schuldzuweisungen befreit – in erster Linie als ein kollektives Unglück betrachtet wurde, für das beide Seiten gleichermaßen Verantwortung trügen. Hinter den Erinnerungsansprüchen zu Beginn des 21. Jahrhunderts stand somit, folgt man Juliá, nicht die Ablehnung eines (ohnehin inexistenten) „Verschwiegenheitspakts“, sondern die Aufkündigung des Erinnerungskonsenses der Transition, der eine gleichmäßige Verteilung der Schuld implizierte. Dass die gesellschaftliche Aufarbeitung der franquistischen Repressionsvergangenheit in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem so unerwartet bedeutenden Thema in Spanien wurde, dass inzwischen schon zwei umfangreiche bibliographisch-lexikalische Nachschlagewerke dazu

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erschienen sind (Escudero Alday 2011; Vinyes 2018), hängt damit zusammen, dass der konservative Partido Popular unter Aznar und sodann Mariano Rajoy (ab 2011) sich von Anfang an in zeitgeschichtlichen und geschichtspolitischen Fragen als Sachwalter des franquistischen Erbes verhielt. Auf die Initiativen der Opposition, 60 Jahre nach Kriegsende (1999) das Andenken der Bürgerkriegsexilanten zu ehren, reagierte die damalige konservative Regierungspartei ablehnend und beharrte auch in der Folgezeit darauf, dass der Bürgerkrieg eine „überwundene Phase“ spanischer Geschichte darstelle. In ihrer zweiten Amtszeit (2000-2004) lehnte die Regierung Aznar über 25 parlamentarische Initiativen ähnlicher Stoßrichtung ab. Zivilgesellschaftlich führte diese Regierungshaltung allerdings zu verstärkten, von den Oppositionsparteien zumeist unterstützten Aktivitäten. Erst die im Frühjahr 2004 nach den islamistischen Terroranschlägen von Madrid überraschend ins Amt gekommene sozialistische Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero schlug eine neue Tonart an und beschloss die Einsetzung einer Kommission, die Vorschläge zur „moralischen und juristischen Rehabilitierung der Repressionsopfer“ erarbeiten sollte. Bald war die Rede von einem „Wiedergutmachungsgesetz“. Dieses wiederholt angekündigte und immer wieder verschobene Gesetz, das umgangssprachlich „Gesetz zur historischen Erinnerung“ (Ley de Memoria Histórica) genannt wird, wurde schließlich im Oktober 2007 nach hektischen Verhandlungen und zahlreichen Kompromissen verabschiedet. Es verurteilt explizit den Franquismus. Die Gerichtshöfe, die während des Bürgerkriegs Urteile aus politischen, ideologischen oder religiösen Gründen gefällt hatten, wurden als „illegitim“ bezeichnet, ebenso die Gerichtsurteile während der Diktatur, die in diese Kategorien fielen. Die Normen, die im Franquismus unter Verletzung der Grundrechte verabschiedet worden waren, wurden für juristisch ungültig erklärt. Unmittelbare juristische oder wirtschaftliche Folgen hatte das Gesetz allerdings nicht, wenn auch die Illegitimität der Gerichtsurteile bei einer beantragten Revision oder Aufhebung derselben zu einem wichtigen Argument wurde. Der Staat verpflichtete sich, bei der Öffnung der Massengräber von Hingerichteten und der Exhumierung von Leichen zu helfen. Außerdem mussten von allen öffentlichen Gebäuden die Symbole, die das franquistische System verherrlichten, entfernt werden; dies galt auch für entsprechende Straßen- und Ortsbezeichnungen, von denen in den vorhergehenden Jahrzehnten einige (vor allem in sozialistisch regierten Kommunen) schon

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eine ­Namensänderung erfahren hatten. Die Frage der Namensänderungen führte in den Folgejahren immer wieder zu erheblichen Kontroversen auf allen politischen Ebenen, vor allem auf der lokalen. Trotz aller nach wie vor von zivilgesellschaftlichen Organisationen geübten Kritik – vor allem an der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes während der Regierungsperioden der Konservativen – muss betont werden, dass die Ley de Memoria Histórica im Vergleich zu den in den vorhergehenden Jahrzehnten durchgeführten Maßnahmen geradezu einen Meilenstein im offiziellen Umgang mit der jüngeren Vergangenheit bedeutete. Überschattet wurden die positiven Effekte des Erinnerungsgesetzes allerdings von der Affäre um den prominenten Untersuchungsrichter am Nationalen Gerichtshof, Baltasar Garzón, der auf Antrag mehrerer Erinnerungsgruppen ein strafrechtliches Untersuchungsverfahren eröffnete, um das Schicksal von rund 114.000 „verschwundenen“ Repressionsopfern der Jahre 1936-1951 aufzuklären. Garzón argumentierte, dass die von den Opfern des Franquismus vorgetragenen Fälle nicht unter das Amnestiegesetz fielen, da dieses Gesetz nur „Taten mit politischen Absichten“ amnestiert hatte, während er Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuche, die nicht verjährten. Sehr schnell kam es zu erheblichen juristischen Scharmützeln zwischen Garzón und verschiedenen Gerichten, die ihm schließlich die Zuständigkeit für derartige Fälle absprachen und ihn vom Dienst suspendierten. Hunderttausende demonstrierten sodann gegen diesen Justizskandal und für Garzón, ohne allerdings dessen Wiedereinsetzung bewirken zu können. Die Affäre zeigte deutlich die tiefe Zerrissenheit der spanischen Gesellschaft in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung. Bemerkenswert ist auch das Paradoxon, dass es in Spanien zwar zur transnationalen Verfolgung schwerer Menschenrechtsverbrechen im Fall des chilenischen Diktators Augusto Pinochet kommen konnte, die argentinischen Gerichtsurteile zu Menschenrechtsverbrechen, die im Spanischen Bürgerkrieg verübt worden sind, aber nicht anerkannt werden. Über 15 Jahre nach dem Inkrafttreten des Memoria Histórica-Gesetzes ist die vergangenheitspolitische Bilanz alles andere als befriedigend, zumal die Arbeit der unterschiedlichen Gruppen und Initiativen von Behördenschikanen, politischen Erschwernissen, fehlender Richterkooperation und ausbleibenden staatlichen Mitteln sehr behindert wurde. Von den rund 130.000 Ermordeten, von denen bisher nur rund 10.000 ausgegraben worden sind, konnten bis Ende 2021 nur 0,2 % genetisch identifiziert werden (zuvor waren die Identifizierungen mit anthropologischen Methoden

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erfolgt). Bis heute werden alljährlich in rund 25 Pfarreien, verstreut über ganz Spanien, am 20. November – dem Todestag Francos – Totenmessen zu Ehren des Diktators gelesen. Auch am Beispiel der Umbenennung von Straßen lässt sich die Nichtbefolgung des Erinnerungsgesetzes vielfach dokumentieren. Ein Beispiel unter vielen ist die Millán-Astray-Straße in Madrid. José Millán Astray war in den 1920er Jahren der Gründer der spanischen Fremdenlegion und später einer der fanatischsten Faschisten und der ultranationalistischen Militaristen. Im Zuge der Umsetzung des Erinnerungsgesetzes wurde zwar von der damals linken Madrider Stadtregierung unter Manuela Carmena 2017 die Straße umbenannt. Die politische Ultrarechte legte vor Gericht jedoch Widerspruch ein und erhielt Recht; Mitte 2021 – inzwischen hatte Madrid wieder einen konservativen Bürgermeister – erhielt die Straße ihren früheren Namen Millán Astray zurück. Andere Straßen- und Ortsnamen, die eine Verherrlichung des Franquismus darstellen und somit geändert werden müssten, haben ihre Bezeichnungen einfach beibehalten oder ebenfalls wiedererlangt. In Oviedo etwa sind gleich 17 Straßennamen rückbenannt worden. 2014 schon hatte der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, Pablo de Greiff, auf die Mängel und Defizite des Erinnerungsgesetzes von 2007 hingewiesen. Unter Rückgriff auf Lösungsansätze in anderen Ländern mit vergleichbarer traumatischer Vergangenheit, kritisierte de Greiff die zögerliche spanische Gesetzgebung, die zwar die Illegitimität der franquistischen Gerichte und ihrer Urteile anprangerte, aber es nicht gewagt habe, die von ihnen verhängten Urteile zu annullieren. Einer scharfen Kritik unterwarf er auch die „Privatisierung“ der Exhumierungen aus Massengräbern, für die zwar Subventionen vorgesehen waren, bei denen jedoch den Familienangehörigen die Auffindung der Gräber der „Verschwundenen“ des Franquismus und die Exhumierung ihrer Gebeine zugemutet wurde und die finanzielle Unterstützung in den Regierungsjahren des konservativen Mariano Rajoy ganz ausblieb (vgl. González Soriano 2018; Ponce Alberca/Ruiz Carnicer 2021). Geht es um die moralische und juristische Aufarbeitung von vergangenem staatlichen Unrechtshandeln, um Fragen der Wiedergutmachung, Entschädigung und Entschuldigung, bildet Spanien einen Sonderfall, vor allem auch deshalb, weil in anderen Ländern wie Chile oder Argentinien deren Amnestiegesetze durchaus abgeschafft werden konnten, und es in Ländern wie Polen oder Südafrika die jeweiligen Regierungen waren, die erste Untersuchungskommissionen zu den verübten Verbrechen einsetzten

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(so beschränkt deren Wirkung im Einzelnen auch gewesen sein mag). In Spanien jedoch sind seit dem Ende des Bürgerkrieges inzwischen über 83 Jahre vergangen, und immer noch weigert sich der konservative Partido Popular, an der Aufarbeitung der Vergangenheit mitzuwirken. Vielmehr behindert er diese nach Kräften. Trotzdem ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Krieg und Diktatur in Spanien zu einem Signum der vergangenen zwei Jahrzehnte geworden. In den letzten Jahren ist diese Auseinandersetzung, die zwischenzeitlich etwas abgeflaut war, wieder voll aufgebrochen. 2016 etwa wurde zum ersten Mal auf gerichtliche Anordnung hin die Exhumierung (aus dem Valle de los Caídos, dem „Tal der Gefallenen“) der körperlichen Reste von zwei Republikanern angeordnet, die dort gegen den Willen ihrer Angehörigen ruhten und zu jenen rund 34.000 Leichen zählten, die nach 1959 und in den folgenden Jahrzehnten dorthin verbracht worden waren. Ungefähr gleichzeitig begann man endlich, einigermaßen flächendeckend, jenen Auftrag des „Gesetzes zur Historischen Erinnerung“ von 2007 umzusetzen, der die Umbenennung zahlloser franquistischer Straßennamen sowie die Entfernung von Denkmälern und Gedenktafeln vorsieht. Jede Einzelne dieser in den Kommunen zu beschließenden Umbenennungen war von heftigen Polemiken sowohl der einen wie der anderen Seite begleitet. Besonders skandalös war in diesem Zusammenhang die Haltung der (ultra-)konservativen Parteien im Madrider Parlament (PP, Vox), die eine (neuerliche) Verurteilung von anerkannten Republikanern – wie den Sozialistenführern der 1930er Jahre Indalecio Prieto und Francisco Largo Caballero – betrieben und damit paradigmatisch den rechten Diskurs weiter radikalisierten. Regionalisierung und Formveränderung der Erinnerungsarbeit

Drehten sich die Debatten in den ersten Jahrzehnten nach Francos Tod primär um die Erinnerungspolitik der Zentralregierung in Madrid, so kam es spätestens Ende des 20. Jahrhunderts – in Anbetracht von deren schleppenden Maßnahmen – zu einer „Regionalisierung“ der politischen Erinnerungsarbeit und zu einer von gesellschaftlichen Gruppierungen vorangetriebenen Erweiterung der Erinnerungsthemen. Vor allem ergriff die „Vereinigung zur Wiedergewinnung der historischen Erinnerung“ (ARMH) auf regionaler und lokaler Ebene vielerlei Initiativen, gründete zahlreiche „Erinnerungsgesellschaften“ in den Provinzen und übte

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s­ tändigen Druck auf die Regionalregierungen aus, endlich erinnerungspolitisch tätig zu werden. Während im politischen Zentrum Madrid während der Regierungszeit des konservativen Mariano Rajoy (2011-2018) keinerlei Initiativen zu erwarten waren, wurden die Regionalregierungen unter sozialistischer oder peripher-nationalistischer Führung aktiv. 2017 erklärte das katalanische Parlament einstimmig die Ungültigkeit aller Urteile, die während des Franquismus „aus politischen Gründen“ gefällt worden waren. Das katalanische Gesetz war von größter symbolischer Bedeutung für das ganze Land, erklärte es doch sämtliche „politischen“ Prozesse, die in den 36 Jahren Diktatur geführt worden waren, für ungültig – eine bis heute höchst umstrittene Entscheidung. Das erste Regionalgesetz zur historischen Erinnerung wurde am 16. März 2017 in Andalusien (Ley de Memoria Histórica y Democrática de Andalucía) mit den Stimmen von PSOE und Unidas Podemos verabschiedet. Es ruft zur Gründung einer „Wahrheitskommission“ auf, die einen umfassenden Bericht über Bürgerkrieg und franquistische Verbrechen erarbeiten sollte. Dieser Bericht sollte dem „Verteidiger des andalusischen Volkes“ (Defensor del Pueblo Andaluz) und dem staatlichen „Volksverteidiger“ (Defensor del Pueblo) – einer Art Ombudsmann – vorgelegt werden. Untersucht werden sollte der lange Zeitraum von der Gründung der Zweiten Republik (1931) bis zum Inkrafttreten des andalusischen Autonomiestatuts am 11. Januar 1982. Das Gesetz sieht eine juristische und wirtschaftliche Wiedergutmachung zahlreicher Personengruppen vor, u. a. der Familienangehörigen „verschwundener“ Personen, der aus politischen Gründen im Ausland Exilierten, der Opfer von ungerechtfertigter Haft und Folter, der „gestohlenen“ und zur Adoption freigegebenen Kinder, der wegen ihrer sexuellen Orientierung im Franquismus Verfolgten, der vom Franco-Regime unterdrückten Organisationen (Parteien, Gewerkschaften, ethnische Minderheiten, Freimaurer, etc.), der verfolgten und ihrer Ämter enthobenen Personen, die für die Zweite Republik gekämpft hatten, und anderer Opfergruppen der Diktatur. Außerdem wurde der Autonomen Gemeinschaft die Pflicht zur finanziellen Unterstützung der Exhumierungen auferlegt (zu den Exhumierungen vgl. Pérez Guirao 2019). Zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung ging das andalusische Gesetz zwar weiter als das gesamtstaatliche Erinnerungsgesetz von 2007; da seit 2018 aber die Regierungsgewalt in Andalusien beim Partido Popular liegt, lässt die Umsetzung der Gesetzesbestimmungen bis heute auf sich warten.

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Neben Andalusien haben im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch andere Autonome Gemeinschaften damit begonnen, eigene Gesetze zur Erinnerungskultur auszuarbeiten, etwa Navarra, Valencia, Aragonien und die Balearen. Diese „Gesetze zum historischen und demokratischen Gedenken“ von regionaler Reichweite sehen in Fällen von franquistischer Apologie zudem Sanktionen vor. Allerdings finden diese Leyes de Memoria Histórica y Democrática kaum Anwendung – zumindest nicht in ihrem strafrechtlichen Teil, da in den letzten Jahren zahlreiche Veranstaltungen stattgefunden haben, auf denen der Franquismus verherrlicht und präkonstitutionelle Symbole gezeigt wurden, ohne dass von staatlicher Seite eingegriffen worden wäre. Im valencianischen Gesetz z. B. wird ausdrücklich festgehalten, dass all jene öffentlichen Akte unter Strafe stehen, die „gegen das demokratische Gedenken und die Würde der Opfer und ihrer Familien“ gerichtet sind; auch die „individuelle und kollektive Verherrlichung des Militäraufstandes oder des Franquismus“ ist strafbewehrt. In den meisten Fällen, in denen gesetzeswidrige Aufmärsche und Demonstrationen profranquistischer Ausrichtung stattgefunden haben, blieb die Polizei allerdings passiv, strafrechtlich gab es keine Konsequenzen. Einen Sonderfall stellt die Erinnerungsarbeit im spanischen Baskenland dar. Gedacht wird dort nicht nur der franquistischen Unterdrückung, sondern auch der Gewalttaten der terroristischen Untergrundorganisation ETA (Euskadi Ta Askatasuna, „Baskenland und Freiheit“), die erst vor rund einem Jahrzehnt ihre schon Ende der 1960er Jahre begonnenen Terrorakte eingestellt hat (vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Ludger Mees in diesem Band). Auf die „Befriedung“ des Gebiets folgte vorerst aber keine gesellschaftliche Aufarbeitung der bleiernen Jahre des ethnonationalistischen Terrors, sondern – durchaus vergleichbar mit dem offiziellen Beschweigen der franquistischen Unrechtstaten nach 1975 – eine Phase der vorsichtigen Zurückhaltung und des tastenden Zusammenlebens der baskischen Mehrheitsgesellschaft mit den inzwischen aus der Haft entlassenen etarras und ihren Unterstützerkreisen. Erst allmählich fanden Tagungen statt, die Literatur öffnete sich dem Thema (zum erfolgreichen Roman Patria, von Fernando Aramburu, vgl. den Beitrag von Paul Ingendaay in diesem Band), lokale Veranstaltungen der Opfervereinigungen wiesen immer wieder auf die Verbrechen von ETA hin. Der im Baskenland schon 2010 eingeführte „Gedenktag“ (Día de la Memoria) konnte im letzten Jahrzehnt allerdings keine Übereinstimmung über die Art des Gedenkens, über die Interpretation des Agierens von ETA

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und von Seiten des Staates, über die allmähliche Delegitimierung der Terrorbande erzielen; bis heute nimmt das Gedenken in einzelnen Gemeinden sehr unterschiedliche Formen an. Immer wieder wird bei Gedenkveranstaltungen darüber gestritten, wie Niedergang und Selbstauflösung von ETA zu erklären seien. ETA-nahe Interpreten verbreiten die Deutung, derzufolge es im Baskenland einen „Konflikt“ zwischen „zwei Lagern“ gegeben habe; somit müsse die Verantwortung für das verursachte Leid auch von allen Seiten getragen werden. Demgegenüber wird von staatlichen Stellen betont, dass die beiden Seiten der Auseinandersetzung nicht gleichzusetzen seien und das von ETA verursachte Leid politisch und persönlich nur von den Mitgliedern der Terrorbande zu verantworten sei. Der „Geist von ETA“, der immer noch in der baskischen Gesellschaft anzutreffen sei, müsse bekämpft werden. Auch nahezu alle im Baskenland aktiven Parteien – mit Ausnahme der ethnonationalistischen Linkspartei Bildu – hoben im letzten Jahrzehnt hervor, dass der ETA-Terrorismus nie gerechtfertigt gewesen sei; auch der vom Staat geführte „schmutzige Krieg“ und polizeiliche Übergriffe lieferten keine Rechtfertigungsargumente für den mörderischen Terror – eine Interpretation, der sich in letzter Zeit immer mehr soziale Akteure angeschlossen haben. Nur noch zwei Prozent der Jugendlichen rechtfertigen heute den früheren Terrorismus von ETA. Erst im Oktober 2021 wurden verschiedene Schritte zur Annäherung und Versöhnung im Baskenland unternommen. Damals verlas Arnaldo Otegi, der leader der abertzale-Linken – abertzale ist eine übergreifende Bezeichnung für die ethnonationalistische Linke im Baskenland – eine Erklärung, in der auch die linksnationalistische Partei EH Bildu „Bedauern und Schmerz für das von ETA zugefügte Leiden“ ausdrückte, „das nie hätte geschehen dürfen“; Bildu wolle „das Mögliche tun, um dazu beizutragen, dieses Leiden zu lindern.“ Ebenfalls erst Ende 2021 erkannten die noch in spanischen Gefängnissen einsitzenden ETA-Mitglieder an, dass die öffentlichen Willkommensbekundungen und Ehrungen, die ongi etorris, die ETA-Terroristen zuteilwurden, wenn sie nach Ableistung ihrer Gefängnisstrafen in ihre Heimatdörfer zurückkehrten, den Opfern des Terrorismus „Schmerz“ zufügten; sie plädierten daher für eine Beendigung derartiger öffentlicher Sympathiebekundungen und verstanden ihren Aufruf als Beitrag zum „Zusammenleben der Basken“ und zum Frieden. Allein im Jahr 2021 gab es, nach Berechnungen der „Vereinigung von Opfern des ­Terrorismus“ (Colectivo de Víctimas del Terrorismo, COVITE), im

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Baskenland 191 „öffentliche Akte zur Verherrlichung des Terrorismus“ (30 davon für freigekommene ETA-Mitglieder). Bildu schloss sich dem Aufruf der etarras an. Dieser Schritt mag elektoralistischen Gründen geschuldet gewesen sein, da Bildu, Nachfolgerin der illegalisierten Partei Batasuna (als politischer Arm von ETA), zehn Jahre nach Beendigung der Waffengewalt durch die Terrororganisation inzwischen aktiv am politischen Leben des Baskenlandes teilnimmt; trotzdem wurde der Schritt zu Recht in der baskischen und spanischen Öffentlichkeit als richtig und wichtig in Richtung eines friedlichen und demokratischen Zusammenlebens im Baskenland interpretiert. Schon einige Monate vor diesen öffentlichen Bekenntnissen war Mitte 2021 in der baskischen Hauptstadt Vitoria-Gasteiz, nach jahrelanger Vorbereitung, das „Gedenkzentrum für die Opfer des Terrorismus“ eröffnet worden. Mit diesem, bis heute umstrittenen Museum versuchen Spanien und das Baskenland, sich der terroristischen ETA-Vergangenheit zu stellen. Dass viele nationalistische Basken dem neuen Gedenkort äußerst skeptisch gegenüberstehen, hängt damit zusammen, dass sie das Museum für diskriminierend halten, da die Menschenrechtsverbrechen staatlicher Instanzen gegen die für die Unabhängigkeit des Baskenlandes kämpfenden etarras nicht dokumentiert werden. Die Kritiker verweisen darauf, dass während der Diktatur Francos und in den Jahren der Transition „Tausende“ von Menschen Opfer (para-)staatlicher und polizeilicher Gewalt geworden seien. Das spanische Parlament hatte wiederum schon im Jahr 2011 mit großer Mehrheit ein „Gesetz für die Anerkennung und den umfassenden Schutz von Terrorismusopfern“ verabschiedet. Zehn Jahre später sagte König Felipe VI. bei der Einweihung des Gedenkzentrums, in Anwesenheit des baskischen Regierungschefs Iñigo Urkullu, die Terroropfer seien „eine der ethischen Säulen der Demokratie“; er betrachte sie als grundlegend, um „jede Legitimierung oder Rechtfertigung von Gewalt“ zu ächten. Die Gedenkstätte – die erste ihrer Art in Europa – sollte zwischen der Opferperspektive und der gebotenen historischen Objektivität vermitteln, ein aus der Holocaust-Forschung der letzten Jahrzehnte hinreichend bekanntes Problem. Hierzu orientierten sich die Verantwortlichen für das Gedenkmuseum an Holocaust-Gedenkstätten wie Yad Vashem oder dem Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Ingendaay 2021). Bei der Intensivierung der Erinnerungsarbeit ging es aber nicht nur um eine „Regionalisierung“ der entsprechenden Gesetzgebung, sondern

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zugleich um eine Ausweitung der Erinnerungsformen. Die Erinnerungslandschaft fragmentiert sich immer weiter. Zu den staatlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten auf Landesebene gesellten sich in den letzten Jahren stark ausdifferenzierte Gedenkkulturen auf regionaler und lokaler Ebene. Überall wurden und werden neue und zugleich innovative Erinnerungsinitiativen gestartet. In Madrid etwa wurde 2004 die „Vereinigung für die gesellschaftliche und demokratische Erinnerung“ (Asociación de la Memoria Social y Democrática, AMESDE) gegründet, deren Ziel es ist, „die Kenntnisse über die Vergangenheit zu intensivieren, zu analysieren und zu verbreiten“. Inzwischen hat diese Vereinigung sechs Bände herausgegeben, die sich unter der Leitung von Fernando Valls mit der Literatur zum Bürgerkrieg und zur Erinnerungskultur von 2014 bis 2019 beschäftigen und eine nahezu vollständige, ausführlich kommentierte Bibliographie zu den Publikationen jener Jahre darstellen (vgl. die Sondernummer 9, 2021, der von der Universidad Autónoma de Barcelona herausgegebenen Zeitschrift Dictatorships and Democracies). Die Regierung der Balearen richtete 2021 eine „Erinnerungsstätte des Wortes“ (Memorial de la Palabra) ein, in der Briefe an (lebende und tote) Opfer des Franquismus gesammelt werden. Seit einiger Zeit gesellt sich in ganz Spanien zu diesen Initiativen eine weitere: die Verlegung von „Stolpersteinen“. Bei dieser Initiative handelt es sich um ein aus anderen europäischen Staaten übernommenes Erinnerungssymbol (vgl. Núñez Seixas 2021: 1018-1022). Relativ häufig sind solche Stolpersteine inzwischen in Katalonien und im Baskenland, mitunter aber auch in kastilischen Kleinstädten oder in Andalusien anzutreffen. Zumeist engagieren sich hierbei Organisationen und Verbände des linken politischen Spektrums. Die ersten dieser piedras de la memoria wurden 2015 in katalanischen Kleingemeinden verlegt, sodann auf der Baleareninsel Mallorca, später in Madrid und anderen Städten (vgl. http.//www.stolpersteine.eu/de/chronik/). Mit Beginn der Corona-Pandemie (März 2020) stellten viele Kommunen ihre diesbezüglichen Projekte allerdings wieder ein. Zwei Aspekte fallen an der spanischen Variante der Verlegung von Stolpersteinen auf: Zum einen wurde dieses Projekt in der Presse zumeist mit der deutschen Erinnerungspolitik und dem Holocaust assoziiert, womit diese Facette der spanischen Vergangenheitsaufarbeitung in eine gesamteuropäische Praxis integriert wurde; zum anderen erinnern die Stolpersteine ganz überwiegend an Opfer, die nach dem Ende des Bürgerkriegs nach Frankreich und Nordafrika geflohen sind und von den

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­ eutschen Besatzern ihrer Fluchtorte in Konzentrationslager (hauptsächd lich nach Mauthausen) deportiert wurden. „Damit wollten die politischen Verbände und Gremien, die hinter den Initiativen standen, zweifellos die deutliche Kontinuität zwischen dem antifaschistischen Kampf der Jahre 1936-1939 und dem Schicksal der gesamteuropäischen Antifaschisten unterstreichen“ (Núñez Seixas 2021: 1022). Bis heute sieht man in den spanischen Stolpersteinen vor allem Gedenkzeichen für die Spanier, die während des Zweiten Weltkrieges im Kampf gegen den Faschismus ermordet worden sind. Zu einem weiteren, wichtigen Thema der spanischen Vergangenheitsaufarbeitung wurde im 21. Jahrhundert das schockierende Phänomen der „gestohlenen Kleinkinder“ (bebés robados). Inzwischen haben mehr als 2.300 von ihnen auf der Suche nach ihren biologischen Eltern (erfolglos) Anzeige erstattet. Tatsächlich dürfte die Zahl der „gestohlenen Kinder“ noch viel höher liegen; Schätzungen sprechen von 30.000-300.000 Säuglingen, die unmittelbar nach ihrer Geburt ihren Müttern entrissen und anderen, regimetreuen Eltern überlassen wurden. Als nach Francos Tod das ideologische Motiv für den Kinderraub nicht mehr griff, waren es ökonomische Gründe, die bewirkten, dass die menschenverachtende Praxis des Kinderraubes bis Ende des 20. Jahrhunderts fortdauerte. Zahlreiche Organisationen, z. B. SOS Bebés robados, sammelten viele Jahre lang Zeugenaussagen und DNA-Proben (vgl. Gimber/Rodríguez 2012). Die Anfänge dieser unmenschlichen Praktiken liegen in den ersten Jahren des Franco-Regimes. Ein Gesetz aus dem Jahr 1941 sah vor, inhaftierten Republikanerinnen ihre neugeborenen Kinder zu nehmen, um sie nicht dem „marxistisch-freimaurerischen Milieu“ zu überlassen, sondern bei regimetreuen, nationalbewussten Eltern aufwachsen zu lassen. Damit könne man, so die ideologische Annahme, den Marxismus im Lande binnen Kurzem ausrotten. Die katholische Kirche, die die meisten Geburtskliniken betrieb, war vom ersten Tag an am Kinderraub beteiligt – eine Praxis, die bald auch auf Kinder „gefallener Mädchen“ (einer Umschreibung lediger Mütter aus einfachen Verhältnissen) ausgedehnt wurde. Für die an diesen Praktiken Beteiligten wurde der Kinderraub schnell zu einem überaus lukrativen Geschäft: für Ärzte, Geburtskliniken, die Kirche, die Vermittler. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahm der Richter Baltasar Garzón umfangreiche Ermittlungen zu diesem massenhaften Kinderraub während des Franquismus (und danach) auf. Allein für die Jahre bis 1952 stieß er

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auf über 30.000 Fälle von politisch-ideologisch motiviertem und perfekt organisiertem Kinderraub. Dem Staat warf Garzón bewusstes Vertuschen und Verschleiern dieser Verbrechen vor; die Behörden seien nicht einmal zur Öffnung der Archive bereit gewesen, geschweige denn zu echter Reue. Immerhin bewirkte der Richter, dass sich der Europarat, das Europäische Parlament und die Vereinten Nationen mit der spanischen Verweigerungshaltung beschäftigten und Madrid aufforderten, sich bei der Aufklärung der Urkundenfälschungen, der Freiheitsberaubungen und der illegalen Adoptionen zu engagieren. Schließlich sei noch ein letzter, für die spanische Gesellschaft überaus wichtiger Bereich der Vergangenheitsaufarbeitung angesprochen: die Schule. Die bisherigen Ausführungen mögen bei den Lesern und Leserinnen dieses Artikels den Eindruck erweckt haben, als erlebe Spanien seit längerem einen richtigen Erinnerungsboom. Tatsächlich aber blieben bisher große Bereiche des gesellschaftlichen Lebens des Landes von den erinnerungspolitischen Debatten völlig unberührt. Hierzu gehört etwa der Schulsektor. Bürgerkrieg, franquistische Diktatur und Repression oder antifranquistischer Widerstand werden in den Lehrplänen der Schule kaum oder nur marginal erwähnt (vgl. Hernández Sánchez 2017). Viele Schüler und Schülerinnen kennen den Nationalsozialismus und die Verbrechen an Juden besser als die Gräueltaten, die in Spanien im letzten Jahrhundert verübt worden sind. Häufig ist zu hören, der Lehrplan lasse es zeitlich nicht zu, das 20. Jahrhundert im Unterricht ausführlich zu berücksichtigen. Oder Lehrer weigerten sich, auf derart „gefährliche“ Themen näher einzugehen. Die historische Erinnerung, so das Ergebnis neuerer Untersuchungen, spiele an Schulen größtenteils keine Rolle. Allenfalls komme man zur Behandlung des Bürgerkriegs, nicht aber zur Repression, die nach 1939 gewütet hat. Der Blick auf das erste Jahrzehnt nach dem Bürgerkrieg sei in den Lehrplänen außerdem „distanziert und aseptisch“, Gemeinplätze dominierten den Diskurs. Nicht einmal 40 Prozent der Schulbücher erwähnen die Unterdrückung einer breiten Bevölkerungsschicht, die weit verbreiteten Repressionsmaßnahmen fänden keinen Platz in den schulischen Darstellungen. Es gibt große Schulbuchverlage, in deren Büchern immer noch zu lesen ist, dass der Bürgerkrieg seinen „Grund im Chaos habe, das die Zweite Republik bewirkte“. Vielfach werde die franquistische Terminologie weiterverwendet, etwa die Bezeichnung alzamiento („Erhebung“) statt golpe de Estado („Staatsstreich“) für die Ereignisse des 18. Juli 1936, oder generalísimo („Generalissimus“) statt dictador („Diktator“) für

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Franco; die bevorzugte Bezeichnung für den Bürgerkrieg laute verharmlosend conflicto entre hermanos („Konflikt zwischen Brüdern“), als müsse Äquidistanz zwischen beiden Seiten hergestellt werden; auch wird indirekt eine Gleichstellung zwischen beiden Lagern evoziert, wenn in einzelnen Handbüchern behauptet wird, dass „beide Seiten die gleichen Opfer verursacht haben“, ohne darauf einzugehen, dass die Bürgerkriegssieger nahezu 40 Jahre lang systematische Repressionspolitik betrieben haben. Schließlich muss noch auf eine Reihe tabuisierter Themen hingewiesen werden, die so gut wie nie in Schulbüchern zu finden sind, etwa die Beschlagnahmung materieller Güter der unterlegenen Republikaner oder die höchst bedenkliche legitimierende Rolle der katholischen Kirche während mehrerer Jahrzehnte einer brutalen Diktatur. Erst seit wenigen Jahren vollzieht sich in einigen Schulbüchern Autonomer Gemeinschaften, die längere Zeit vom PSOE regiert wurden, oder im Baskenland und in Katalonien, eine allmähliche Änderung. Die Erinnerungspolitik der sozialistischen Regierung Pedro Sánchez

Die neue Popularität des Erinnerns hat paradoxerweise die Aussichten auf einen Erinnerungskonsens, auf eine einmütige Verurteilung der jüngeren, von Krieg und Diktatur geprägten Vergangenheit eher erschwert. Deutlich wird dies an der Erinnerungspolitik der seit Mitte 2018 im Amt befindlichen sozialistischen Regierung von Pedro Sánchez, die von Anfang an Francos Gebeine aus dem (staatlich finanzierten) „Tal der Gefallenen“ entfernen lassen wollte – eine staatsethisch zwar dringend erforderliche Maßnahme, die aber auf den entschiedenen Widerstand nicht nur der Familie Franco, sondern auch der Konservativen im Lande stieß (zum Valle de los Caídos vgl. Calleja 2009). Schon im Jahr 2011 hatte ein Expertenkomitee der damaligen Regierung Zapatero empfohlen, den Leichnam Francos aus der Basilika zu entfernen, den des Falangegründers José Antonio Primo de Rivera weg vom Hochaltar an einen weniger zentralen Ort der Basilika zu verlegen und der gesamten Anlage eine neue Sinnbestimmung zu geben. Die noch im gleichen Jahr ins Amt gekommene konservative Regierung von Mariano Rajoy hebelte jedoch alle derartigen Initiativen sofort aus, die erst von der Regierung Sánchez 2018 wieder aufgegriffen werden konnten. Geschichtspolitische Maßnahmen der sozialistischen Regierung

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wurden sodann in einem Atemzug mit innenpolitischen Entscheidungen (etwa in der Katalonienfrage) von der nun noch weiter nach rechts abdriftenden Opposition (Partido Popular, Ciudadanos, Vox) heftigst kritisiert, so dass sich dem kritisch beobachtenden Zeitzeugen ein Bild des politischen Spanien präsentierte, in dem (quasi als Hinterlassenschaft des Bürgerkrieges und mit nahezu demselben Vokabular) Lagerdenken und politische Schwarzweißmalerei die Debatten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Landes beherrschten. Die Intensivierung der geschichtspolitischen Diskurse hat Spanien aus einer relativen Geschichtsvergessenheit in eine neuerliche Geschichtsversessenheit geführt. Höchst brisant war die Frage, was mit den leiblichen Überresten Francos geschehen solle. Die Gebeine des Diktators sollten zwar nach dem Willen der sozialistischen Regierung aus dem „Tal der Gefallenen“ entfernt, nicht aber – wegen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit – in die Madrider Kathedrale überführt werden, wie es die Familie Franco plante. Mitte Februar 2019 erteilte die Regierung die ultimative Anordnung, die Überreste aus dem Komplex zu entfernen. Sie musste allerdings 16 Monate vor Gerichten kämpfen, bis die Exhumierung des Leichnams von Franco vorgenommen werden konnte. Juristisch und politisch wurde an verschiedenen Fronten erbittert gerungen, die politische Spannung hielt das ganze Land in Atem. Als schließlich alle erforderlichen Voraussetzungen gegeben waren und im Herbst 2019 die Umbettung in die Familiengruft der Familie Franco auf dem Friedhof von Mingorrubio (El Pardo) erfolgt war, lobte der sozialistische Regierungschef die Aktion als „Prestigegewinn für unsere Demokratie in den Augen der Welt“. Im Valle de los Caídos ruh(t)en aber nicht nur die sterblichen Überreste des Diktators und des Falangegründers José Antonio Primo de Rivera. Vielmehr handelt es sich um eine riesige Nekropole, in mehreren zugemauerten Krypten liegen weitere knapp 34.000 Tote. Von schätzungsweise 12.000 kennt man die Namen nicht. Sie sollten, nach der Vorstellung Francos, jene „Versöhnung“ symbolisieren, die der Diktator seinem Land nach Fertigstellung der Basilika im Jahr 1959 und der Überführung der ersten Gebeine suggerieren wollte. Dass auch Republikaner ihre (vorerst) letzte Ruhestätte im Valle de los Caídos gefunden hatten, lässt jedoch keine Rückschlüsse auf irgendeine Art von Versöhnungswillen Francos zu. Der Diktator war vielmehr zum Rückgriff auf Tote des republikanischen Lagers gezwungen, da er die Nischen in den Krypten anders nicht hätte füllen können. Die Hinterbliebenen der auf Seiten der Republik Gefallenen

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wurden nicht gefragt, ob sie damit einverstanden waren, dass ihre toten Familienangehörigen neben dem Gründer der faschistischen Falange und später dem Diktator ruhen mussten. Erst im April 2021 stellte die Koalitionsregierung PSOE/UP 665.000 Euro für beantragte Exhumierungen zur Verfügung. Mit dem Geld sollten die zur Identifizierung der Toten notwendigen genetischen Proben durchgeführt werden; diese Untersuchungen werden unter der Leitung des Forensikers Francisco Etxeberria erfolgen, eines der erfahrensten Experten auf diesem Gebiet. Als die Summe bewilligt wurde, lagen der Regierung bereits mehr als 60 Anträge von Familien vor, die die Überreste ihrer Angehörigen exhumieren lassen wollten, welche ab den 1950er Jahren gegen ihren Willen in die Krypten des Valle de los Caídos verbracht worden waren. Dass Franco niemals an „Versöhnung“ dachte, lassen schon seine ersten Äußerungen nach dem Ende der Kampfhandlungen 1939 erkennen: Sofort bei Kriegsende erklärte er das Jahr 1939 zum „Jahr des Sieges“ (nicht des Friedens!). Von Versöhnung war nicht die Rede. Vielmehr verkündete er im Rundfunk, dass die nun folgende Zeit keine „bequeme und feige Erholung“ sein dürfe, da das Blut der für das Vaterland Gefallenen „kein Vergessen“ gestatte. Ganz im Gegenteil: Das Land müsse äußerst wachsam sein, da Spanien sich weiterhin „im Krieg gegen jeden Feind im Inneren und von außen“ befinde. Für Franco gab es keinen Zweifel: Das wichtigste Vermächtnis des Krieges war die auf ihn folgende, erwünschte Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager: das der Sieger und das der Besiegten. Für das Lager der „Nationalen“ stand von Anfang an fest, dass die Sieger regieren und die Früchte ihrer Macht genießen würden. Die Besiegten jedoch, die in den Augen Francos das absolut Böse, ja: das „AntiSpanien“ schlechthin verkörperten, sollten zahlen und büßen (Bernecker 2018: 56-60). Der eher personalistischen Frage nach dem Verbleib der menschlichen Überreste schloss sich die weitergehende Debatte an, was mit dem monumentalen, Franco glorifizierenden „Tal der Gefallenen“ werden solle: ein Erinnerungsort für alle, ein Museum, ein Zentrum der Versöhnung? Damit verbunden war auch die Frage, welche Rolle in Zukunft die Kirche bei der Verwaltung und Ausrichtung dieses Komplexes spielen würde, nachdem der Benediktinerorden seit Anbeginn die Obhut über die Gesamtanlage hatte und schon früh zu erkennen gab, dass er nicht bereit sei, widerstandslos die Tätigkeiten im „Tal der Gefallenen“ aufzugeben. Damit

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wurde eine neue Kampffront aufgetan. Bis heute gibt es keine klaren Antworten auf diese drängenden Fragen. Neben der Exhumierung Francos hatte die Regierung Sánchez im Bereich der staatlichen Vergangenheitsaufarbeitung bereits bei Amtsantritt 2018 ein neues Erinnerungsgesetz in Aussicht gestellt, das an die Stelle des heftig kritisierten Gesetzes von 2007 treten sollte (zu den Defiziten des Gesetzes von 2007 vgl. Escudero 2013). Im September 2020 legte sodann die PSOE/UP-Koalitionsregierung den Entwurf für das versprochene „Gesetz zur Demokratischen Erinnerung“ (Ley de Memoria Democrática) vor. Die erste parlamentarische Debatte über dieses Gesetz verlief in der Folge jedoch ausgesprochen schleppend; im Frühjahr 2022 war das neue Gesetz noch längst nicht verabschiedet. In diesem geht es nicht nur um die Frage der Exhumierungen im Valle de los Caídos, sondern auch um die Exhumierungen im gesamten Land, über die seit Beginn des 21. Jahrhunderts heftig und äußerst kontrovers debattiert wird. Im Haushalt 2022 sind für Maßnahmen der „demokratischen Erinnerung“ über elf Millionen Euro (zwei Drittel davon für die Exhumierungen) vorgesehen. Der Gesetzesentwurf von 2020 sah vor, die „Stiftung des Heiligen Kreuzes im Tal der Gefallenen“ aufzulösen. Der bisherige Stiftungszweck – u.a. in der täglichen Messe in der Basilika des Valle „bei Gott für die Seelen derer zu beten, die im nationalen Kreuzzug gefallen sind“ – soll in dem Sinne geändert werden, dass die gesamte Anlage zu einem echten „Ort der demokratischen Erinnerung“ für alle Spanier wird. Das Valle de los Caídos soll seinen religiösen Charakter verlieren und die (geographisch konnotierte Bezeichnung) Valle de Cuelgamuros erhalten. Im Juli 2021 verabschiedete die Regierung schließlich, nach mehrmonatigen Beratungen, öffentlichen Anhörungen und juristischen Einwänden, den inzwischen gründlich überarbeiteten Entwurf für das vorgesehene „Gesetz zur Demokratischen Erinnerung“, mit dem internationalen Aufforderungen und der Kritik an den bisherigen Regelungen Folge geleistet und die geltende Gesetzgebung europäischen Standards angeglichen werden sollte. Im Entwurf des Gesetzes hieß es, der spanische Staat „verurteilt und wendet sich gegen den Staatsstreich von 1936 und das auf ihn folgende franquistische Regime“. Aus den vorgesehenen Maßnahmen zur Vergangenheitsaufarbeitung stechen, neben der Umbewertung des Valle de los Caídos, die Exhumierung der Überreste des Falangegründers José Antonio Primo de Rivera und die Typisierung als „strafbare Handlung“ der Apologie des Franquismus hervor. Vor allem letztere Maßnahme ist

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umstritten. Zahlreiche Juristen verwiesen sofort darauf, dass auch eine reine Franquismus-Apologie durch das verfassungsmäßig geschützte Grundrecht auf Meinungsfreiheit geschützt sei. Auch die „Nationale Francisco Franco-Stiftung“ (FNFF), deren Hauptzweck die Glorifizierung Francos und die Erzeugung eines positiven Geschichtsbildes des Diktators ist, dürfe nicht verboten werden (was die Regierung vorhat). In dem 2021 schließlich ins Parlament eingebrachten Gesetz wird dem Staat bei der Suche nach den immer noch „verschwundenen“ Opfern und deren Identifizierung weit mehr Verantwortung und Zuständigkeit als in dem früheren Gesetz von 2007 übertragen; außerdem werden alle Urteile aufgehoben, die franquistische Gerichte ohne rechtsstaatliche Voraussetzungen gefällt haben. Materielle Entschädigungen sind allerdings nicht vorgesehen. Auch im Bereich der Justizinstitutionen sind Neuerungen vorgesehen. Der Oberste Gerichtshof soll einen Sonderstaatsanwalt „zum Schutz der Rechte der Opfer“ und zur „Beförderung der Ermittlungsarbeiten nach den Verbrechen des Franquismus“ erhalten. Der für die Memoria Democrática zuständige Minister Félix Bolaños versprach, dass alle von staatlicher Seite erfolgten Verletzungen von Menschenrechten untersucht würden. Außerdem werde ein „Territorialrat für das Demokratische Gedenken“ (Consejo Territorial de Memoria Democrática) eingerichtet und der Abbau franquistischer Symbole an öffentlichen Orten forciert. Schließlich soll ein „Dokumentationszentrum für das Demokratische Gedenken“ (Centro Documental de la Memoria Democrática) in Salamanca eingerichtet werden. Der 31. Oktober ist als „Gedenktag aller Opfer von Verbrechen des Staates und der Diktatur“, der 8. Mai als „Gedenktag für die Opfer im Exil“ vorgesehen. Der Gesetzentwurf sieht auch die Anpassung curricularer Lehr- und Lerninhalte für den Schulunterricht vor; es müsse sichergestellt sein, dass die Schüler „den Kampf um demokratische Werte und Freiheiten“ kennenlernen. Der Partido Popular kündigte sofort erbitterten Widerstand gegen diese Bestimmung in all jenen Autonomen Gemeinschaften an, in denen er regiert und damit die Kompetenz zur Regulierung des Erziehungswesens innehat. Eine Dauerkonfrontation ist damit absehbar. Im Laufe des Jahres 2021 verkomplizierte sich die parlamentarische Verabschiedung des Gesetzes zunehmend. Die Regierung musste ihre gesamte Energie in die Bekämpfung des Coronavirus und die Verabschiedung eines neuen Arbeitsmarktgesetzes stecken; außerdem bröckelte die parlamentarische Unterstützung von Seiten der Befürworter des neuen

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Gesetzes. Die „katalanistische“ Unabhängigkeitspartei Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) z. B. forderte für ihre Zustimmung zum Gesetz die nachträgliche Illegalisierung des gesamten franquistischen Systems und damit aller Gesetzesnormen, die dieses Regime erlassen hat, sowie die Eliminierung entscheidender Teile des Amnestiegesetzes von 1977, damit endlich eine juristische Wiedergutmachung (mit wirtschaftlichen und strafrechtlichen Folgen für diejenigen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt haben) stattfinden könne. ERC ging es vor allem darum, der durch das Amnestiegesetz bewirkten Straflosigkeit ein Ende zu bereiten. Ihr Hauptargument lautete, Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjährten nicht und unterlägen auch nicht dem Amnestiegesetz von 1977. Schließlich musste die Regierung nachgeben; sie legte im November 2021 einen abermals überarbeiteten Gesetzesentwurf vor, in dem substantielle Veränderungen des Amnestiegesetzes vorgesehen waren. Das neue Gesetz sollte einen Passus des Inhalts enthalten, dass die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und Folter in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht nicht verjähren und auch nicht amnestiert werden können. Die Regierung Sánchez begann schon vor Verabschiedung des neuen Erinnerungsgesetzes damit, die vorgesehenen Exhumierungen durchzuführen. Mehrere hundert Gräber wurden bereits 2021 mit staatlicher Beteiligung freigelegt und die Leichen exhumiert. Das neu geschaffene Staatssekretariat für die „demokratische Erinnerung“ verfügte bereits in jenem Jahr über 11,6 Millionen Euro, nach Verabschiedung des Gesetzes soll die Summe erhöht werden. Der UNO-Sonderbeauftragte zur „Förderung der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Wiedergutmachung“, Fabián Salvioli, der die spanischen Bemühungen zur Aufarbeitung der diktatorischen Geschichte des Landes seit langem kritisch begleitet, äußerte sich sehr positiv zur Gesetzesvorlage und hob insbesondere die Verbesserungen gegenüber dem Gesetz von 2007 hervor. Demgegenüber bekämpften der konservative PP und die r­ echtsextreme Vox von Anfang an alle Bemühungen, ein neues Erinnerungsgesetz zu verabschieden. Vox kündigte an, das Gesetz vor das (konservativ beherrschte) Verfassungsgericht zu bringen, und der PP verwies darauf, dass er es, sobald er wieder an der Regierung sei, abschaffen und durch ein „Eintrachtsgesetz“ (Ley de Concordia) ersetzen werde. Demgegenüber kritisierten die „Erinnerungsvereinigungen“, die geplante Norm greife zu kurz, und linke „katalanistische“ Parteien kündigten bereits an, dem Gesetz ihre

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parlamentarische Zustimmung u. a. deswegen zu verweigern, weil es keine Maßnahmen zur Rückgabe der nach dem Bürgerkrieg beschlagnahmten Gelder und Güter an republikanische Organisationen (Gewerkschaften, Parteien, Hilfsorganisationen) vorsah. Die Regierung Sánchez verwies demgegenüber darauf, dass der neue Gesetzestext viele Maßnahmen vorsehe, die seit langem von den Verlierern des Bürgerkrieges gefordert worden waren, etwa die Annullierung franquistischer (Unrechts-)Urteile oder die Einrichtung einer Gen-Datenbank, um die Identität exhumierter Opfer leichter feststellen zu können. Außerdem bekenne sich der Staat zu seiner Verantwortung, die Suche nach den „Verschollenen“ zu betreiben; das Recht auf Zugang zu den Archiven, in denen die zur Klärung der vielen franquistischen Verbrechen erforderlichen Dokumente lagerten, werde gesetzlich festgeschrieben. Die heftigen Polemiken um das „Gesetz zur Demokratischen Erinnerung“ lassen erkennen, dass revisionistische Positionen auf der Rechten immer weiter um sich greifen. Angetrieben von Vox, hört man auch auf Veranstaltungen des Partido Popular unwidersprochen die alt- und neofranquistische Behauptung, nicht die aufständischen Militärs hätten im Juli 1936 den Bürgerkrieg begonnen, sondern verantwortlich sei die Regierung der Republik mit ihren Provokationen und verfassungswidrigen Maßnahmen gewesen. Jahrzehnte intensiver historischer Forschung werden beiseitegeschoben, altfranquistische Mythen werden in neofranquistischem Gewand als historische Wahrheiten präsentiert. Der damalige PP-Vorsitzende Pablo Casado gab im Juli 2021 im Parlament das makabre Wortspiel zu Protokoll: „Der Bürgerkrieg war eine Auseinandersetzung zwischen denen, die eine Demokratie ohne Gesetz und jenen anderen, die das Gesetz ohne Demokratie wollten“ (El País, 21. Juli 2021, 18). Die polemische Äußerung wurde zwar sofort von führenden Historikern als falsch und populistisch kritisiert; die konservative Partei machte sie sich aber unverdrossen zu eigen. Heftige politische Auseinandersetzungen während des noch ausstehenden Gesetzgebungsverfahrens sind vorprogrammiert. Schlussbetrachtung und Ausblick

Die spanische Erfahrung mit ihrer harten innenpolitischen und innergesellschaftlichen Konfrontation hat sich als Besonderheit erwiesen, die in einer rund 35-jährigen Diktaturgeschichte perpetuiert und erst durch

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die Transition allmählich überwunden wurde. Zwar fand sich am Anfang der neuen spanischen Demokratie ein Grundkonsens der damaligen politischen Lager, aber Kriegs- und Diktaturbewältigung zählen in Spanien bis heute nicht zu den Selbstverständlichkeiten der politischen Kultur des Landes. Zuerst bestand in Fragen des Beschweigens der konfliktiven Vergangenheit ein überparteilicher Konsens. Inzwischen verweigert sich der Vergangenheitsarbeit (offensichtlich aus wahltaktischen und parteipolitischen Gründen) nur noch das konservative und ultrarechte Lager – dieses allerdings heftiger denn je. Die neue Popularität des Erinnerns, der sich nach längerem Zögern auch die Sozialisten angeschlossen haben, hat paradoxerweise jedoch die Aussichten auf einen Erinnerungskonsens eher erschwert. Die Erinnerungsdebatten dürften noch lange Zeit andauern. Seit dem Bürgerkrieg sind inzwischen rund 85 Jahre vergangen, und immer noch ist das Land über die Deutung der Vergangenheit tief gespalten. Trotzdem ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Krieg und Diktatur – ebenso wie in vielen anderen europäischen Ländern – zu einem Signum der Zeit geworden. Und ungeachtet der jeweiligen Tiefe sowie der unterschiedlichen Ebenen der Aufarbeitung – moralisch, politisch, justiziell – ist es heute weitgehend unstrittig, dass von dieser überwiegend positive Impulse für die demokratische Konsolidierung eines Gemeinwesens zu erwarten sind. Denn die Aufarbeitung der Vergangenheit – so die Annahme – schafft Vertrauen: Vertrauen in die Mitmenschen, soweit es gelingt, Opfer und Täter in ausreichendem Maße mit einzubeziehen; Vertrauen aber auch in die Institutionen des Rechtsstaats, der sich je nach Ursprung und Legitimität vor allem gegenüber den jeweiligen Opfern vergangener Gewalt bewähren muss. Zwar ist der empirische Nachweis eines gesellschaftlichen Vertrauensgewinns aus dieser Aufarbeitung und Auseinandersetzung nicht leicht zu führen, da der Vertrauensbegriff an sich schwer zu operationalisieren ist. Zumindest aber der negative Zusammenhang, d. h. die nachteiligen Folgen beschwiegener Vergangenheit für das demokratische Zusammenleben, ist von Wissenschaftlern für verschiedene Länder längst auch empirisch belegt worden. Schwer zu beantworten bleibt die Frage, ob – und wenn ja, welche – Auswirkungen das jahrelange Beschweigen der Vergangenheit auf die Qualität der spanischen Demokratie hatte und hat. Neben der Kontinuität weitverbreiteter politischer Korruption und des autoritären Gebarens von Politikern und Parteien beklagen Politik- und Sozialwissenschaftler

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regelmäßig den niedrigen Grad politischer Partizipation und (zivil-)gesellschaftlicher Organisation. Seit jener „Enttäuschung“, dem desencanto großer, politisch besonders aktiver Teile der Bevölkerung nach Abschluss des demokratischen Übergangs, zeichnete sich die Zivilgesellschaft in Spanien längere Zeit durch einen eher niedrigen Organisations- und Mobilisierungsgrad aus. Erst seit den 2010er Jahren kam es in der Folge der gewaltigen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 zu massiven Demonstrationen und Unmutsbekundungen, zur Aufsplitterung des Parteiensystems, zu zentrifugalen Bewegungen und einer allgemeinen Instabilität des politischen Lebens, die bis heute anhält. Gestiegen ist außerdem die Unzufriedenheit beachtlicher Teile der Bevölkerung mit der Arbeit der verschiedenen demokratischen Regierungen und der Funktionsweise des politischen Systems überhaupt sowie das geringe gesellschaftliche Ansehen der politischen Institutionen (Parlament, politische Parteien, Regierung). Im Gegensatz zu diesen Einstellungen erfreute und erfreut sich die Demokratie einer relativ hohen Zustimmung, ebenso wie die Verfassung von 1978. Allerdings erfährt im Mehrheitsempfinden der Bevölkerung die Art des demokratischen Übergangs, die ja das Ausblenden der Vergangenheit einst bewusst begründete und den Eliten des Franquismus ihre sozioökonomische Stellung sicherte, immer weniger vorbehaltlose Zustimmung. War in den ersten Jahrzehnten nach Francos Tod die Ausklammerung der im Krieg und in der Nachkriegszeit begangenen Verbrechen um der Stabilität der entstehenden Demokratie willen noch weitgehend akzeptiert worden, so änderte sich diese Haltung rund ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Diktators. Seither wird immer deutlicher und von immer größeren Bevölkerungskreisen eine rückhaltlose Aufklärung der franquistischen Verbrechen gefordert. Allerdings sieht es so aus, als ob sich in Spanien die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lager noch lange unversöhnlich gegenüberstehen und in der wichtigen Frage der Vergangenheitsaufarbeitung nicht miteinander kooperieren werden. Literaturverzeichnis Aguila, Rafael del (2006): „Desmemoria y rememoración: la guerra y el franquismo hoy“, in: Historia y Política, 16, 183-206. Aguilar Fernández, Paloma (1996): Memoria y olvido de la Guerra Civil española. Madrid: Alianza.

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Kirche, religiöser Pluralismus und Laizität Mariano Delgado Abstract Nach den jüngsten religionssoziologischen Erhebungen ist Spanien heute ein stark säkularisiertes, religiös pluralistisches Land mit einer großen katholisch getauften Bevölkerungsmehrheit, die bei Umfragen über Glaube und Moral ähnlich antwortet wie in anderen westlichen Ländern. Ausgehend von dieser Tatsache beschäftigt sich der Beitrag mit dem religionspolitischen Wandel, der Debatte um die Laizität, den Schwierigkeiten der katholischen Kirche mit der religiösen Pluralisierung unter den Bedingungen der Moderne, ihrem Versuch um eine Neuausrichtung im Sinne von Papst Franziskus und mit der theologischen Erneuerung. Alles in allem kann man von einem ‚Gleichziehen’ Spaniens im religiösen Bereich mit der westeuropäischen Welt sprechen. Das Gesetz über die Religionsfreiheit vom 5. Juli 1980 stellt die rechtlichen Rahmenbedingungen für die religiöse Pluralisierung dar. 

„Katholisch, aber weniger“: so interpretierte eine katholische Zeitschrift die religionssoziologischen Analysen des Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS) im Vorfeld des Besuchs von Papst Benedikt XVI. im Juli 2006 (21RS 2006: 28 f.). Demnach bekannten sich 80 % der Spanier als Katholiken, aber nur 20 % besuchten regelmäßig die heilige Messe an den Sonn- und Festtagen. Hervorgehoben wurde, dass die katholische Kirche weiterhin mit beeindruckenden sozialen Leistungen aufwartete, während die Mehrheit der Katholiken mit der kirchlichen (Sexual-)Moral oder der Ämterregelung (Priesterzölibat, Ausschluss der Frau) nicht einverstanden war. Die letzte Umfrage des CIS im Juli 2021 bei 2.849 Personen bestätigte diesen Trend und gab Einblick in die aktuelle religiöse Lage Spaniens: 56,6  % hielten sich für katholisch, aber nur 12,4  % nahmen regelmäßig am Gottesdienst teil; 1,8 % bezeichneten sich als nicht-gläubig, und 38,7  % als Agnostiker, Gleichgültige oder Atheisten.1 Das Ergebnis der 1

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Vgl. (27-10-2021). Zitate aus spanischen Quellen wurden vom Autor übersetzt.

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CIS-Umfragen ist ein wenig trügerisch, weil die Teilnahme an religiösen Zeremonien „sozialer Art“ wie Patrozinien, Taufen, Erstkommunionen, Trauungen und Begräbnisse ausgenommen wurde, also die Ereignisse, an denen auch die „Kulturkatholiken“, die weiterhin die große Mehrheit der Spanier sein dürften, teilnehmen. Jedenfalls zeigt das Ergebnis, dass Spanien schon lange kein katholischer Sonderfall der Moderne mehr ist. In dieselbe Richtung gehen die Zahlen der Priesteramtskandidaten oder des Ordensnachwuchses. Ein neuer Trend, ähnlich z.  B. wie in Frankreich, ist die Zahl der Erwachsenen, die sich nach einem Katechumenat taufen lassen. Im Jahr 2020 waren es etwa 1.000. Beunruhigender sind die Statistiken, die die Jugend betreffen, denn sie sind ja die Zukunft der Kirche. Am 12. Dezember 2017 präsentierte die Marianistenstiftung SM ihren Bericht „Spanische Jugend zwischen zwei Jahrhunderten (1984-2017)“.2 Demnach ist die Jugend laxer, relativistischer und konsumorientierter geworden; viele bewundern die freiwillige solidarische Arbeit, aber wenige praktizieren sie. Als Katholiken bezeichneten sich 2017 nur 40,4  % (gegenüber 77  % 1994), während die Atheisten nun 23,7 % waren (gegenüber 6 % 1994). Der Anteil der Agnostiker blieb stabil (13,6 % 2017 gegenüber 16 % 1994). Es fällt die Patchworkreligiosität auf, wie man sie auch in den deutschsprachigen Ländern kennt: Nur 31 % glauben an die Gottessohnschaft Jesu, 29,9 % an seine Auferstehung, 26,9 % an die Reinkarnation und 16,5 % an die Auferstehung im christlichen Sinne. Während 2010 48 % sagten, sie würden die Kirche nicht brauchen, um an Gott zu glauben, waren es 2017 gar 76,7 % geworden. Nach dem Eurobarometer von 2014 lag die Teilnahme der spanischen Jugend an kirchlichen Aktivitäten 10 Prozentpunkte unter dem europäischen Durchschnitt, denn nur 1 % ging wöchentlich in die Kirche. Das alles deutet darauf hin, dass die spanische Kirche dabei ist, die Jugend zu verlieren. Religionssoziologisch ist Spanien heute weder ein katholisches Land im kirchlichen Sinne (die Mehrheit der Befragten sind weder praktizierende Katholiken noch akzeptieren sie das kirchliche Lehramt in Fragen der Moral) noch ein agnostisches oder religiös gleichgültiges Land (die sich als religiös deklarierenden Spanier sind deutlich mehr als die nichtreligiösen), sondern ein stark säkularisiertes, religiös pluralistisches Land mit einer großen katholisch getauften Bevölkerungsmehrheit, die bei 2

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Vgl. (27-10-2021).

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­ mfragen über Glaube und Moral ähnlich antwortet wie die Katholiken U anderer westlicher Länder. 1. Der religionspolitische Wandel

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) fielen in Spanien der religiöse und der politische Wandel zusammen. Dies kann an der Entwicklung der Religionsfreiheit wie an der neuen Positionierung der Kirche im Spätfranquismus und in der Demokratie gezeigt werden. Es ist nicht zuletzt eine Wirkung der Rezeption der Konzilstexte über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) und über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes). Bis zum 2. Vaticanum hat die katholische Kirche bekanntlich den Weg zur Religionsfreiheit nicht gerade geebnet, und die spanische Verfassungsgeschichte seit 1812 ist ein gutes Beispiel dafür.3 Mit Ausnahme der Verfassung von 1869 und des nie approbierten Verfassungsentwurfs von 1873, die eine sehr vorsichtige Anerkennung der Religionsfreiheit für die in Spanien lebenden Ausländer und die Spanier anderer Konfession oder Religion enthalten, entsprachen alle Verfassungen des 19. Jahrhunderts sowie das Konkordat von 1851 dem Anliegen von Traditionalismus und Ultramontanismus. Die Verfassung der Zweiten Republik von 1931 stellte hingegen den Durchbruch der militanten Laizität und des Antiklerikalismus dar. Paradigmatisch kam das Idearium dieses Lagers in der Parlamentsrede Manuel Azañas vom 13. Oktober 1931 zum Ausdruck. Nachdem er klargestellt hatte, man solle nicht so sehr nach dem fragen, was Spanien der katholischen Kirche verdanke, sondern eher nach dem, was diese Spanien zu verdanken habe, formulierte er seine Prämisse: „Spanien ist nicht mehr katholisch. Das sich daraus ergebende Problem besteht darin, den Staat so zu organisieren, dass er dieser neuen und historischen Phase des spanischen Volkes angepasst wird.“ (Azaña 1966: 51 f.) Die Verfassung von 1931 ist in der spanischen Geschichte beispiellos und kann − vor allem aufgrund der Maßnahmen gegen die Orden und der Einschränkung der Bürgerrechte des Klerus − als die verspätete spanische 3 Vgl. die Verfassungen in und (27-10-2021); vgl. auch (10-05-2022).

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Variante des „Kulturkampfes“ verstanden werden. Mit der Enzyklika Dilectissima nobis Hispania vom 3. Juni 1933 protestierte Papst Pius XI. gegen die antikirchliche und antireligiöse Gesetzgebung der Zweiten Republik. Aber auch bei aufrechten Liberalen rief diese radikale Politik vehemente Kritik hervor. Salvador de Madariaga, der den spanischen Katholizismus als „klerikal, abergläubisch, intolerant und kurzsichtig“ (García y García de Castro 1987: 1061 f.) scharf kritisiert hat, sprach vom „antiklerikalen Eifertum“ der wichtigsten Politiker der Republik bzw. von einem „engen und revanchistischen Antiklerikalismus” und von einer „selbstmörderischen Politik” (Madariaga 1979: 333 f.), die der Rechten die Argumente lieferte, um sich zu reorganisieren. Das Grundgesetz von 1945 und das Konkordat von 1953 standen wiederum in Einklang mit den Postulaten von Traditionalismus und Ultramontanismus. Verschiedene Versuche des Franco-Regimes, ein Gesetz über die Religionsfreiheit zu verabschieden − nicht zuletzt, um den USA und Großbritannien entgegenzukommen, die sich über die Benachteiligung der protestantischen Konfessionen und Bibelgesellschaften beklagten und nicht zuletzt auch aus diesem Grund Spanien in den internationalen Organisationen boykottierten −, scheiterten stets am Widerstand der spanischen Bischöfe. 1948 schrieben sie, erstmals seit dem Bürgerkrieg, einen kollektiven Hirtenbrief gegen die Religionsfreiheit. Die spanischen Bischöfe waren der traditionellen Mentalität verhaftet, dass nur der wahren Religion, nicht dem Irrtum Freiheit zustehe, und sie wurden darin von Rom unterstützt. Denn im selben Jahr betonte die einflussreiche Jesuitenzeitschrift La civiltà cattolica dieses Prinzip unter ausdrücklichem Bezug auf die Ansprüche spanischer Protestanten: „Aber die Katholische Kirche, die aufgrund ihres göttlichen Privilegs davon überzeugt ist, die einzig wahre Kirche zu sein, muss für sich allein das Recht auf Freiheit reklamieren; denn dieses kann allein der Wahrheit, niemals aber dem Irrtum zustehen.“ (Cavalli 1948: 33) Mit dieser Mentalität nahmen die spanischen Bischöfe am Konzil teil. Sie lehnten noch 1964 einen zweiten Gesetzesentwurf der Regierung über die Religionsfreiheit ab. Nach dem Konzil jedoch, das sich am 7. Dezember 1965 − am letzten Arbeitstag! − mit der Erklärung Dignitatis humanae zur Religionsfreiheit bekannt hatte, konnten sie, ihrer ultramontanen Logik folgend, Konzil und Papst ihre Gefolgschaft nicht verweigern. So war der Weg für das noch sehr vorsichtige Gesetz über die Religionsfreiheit von 1967 frei, das die Privilegien der katholischen Kirche nicht tangierte.

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Zu einer wirklich liberalen Verfassung unter Anerkennung der Religionsfreiheit als Grundrecht kam es erst in der jungen Demokratie, nachdem die Kirche selbst das Konkordat von 1953 zur Disposition gestellt hatte. Die in der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1978 angenommene Verfassung betont nun den akonfessionellen, d. h. weder katholischen noch laizistisch-militanten, Charakter des Staates, und hebt zugleich in Art. 16 die katholische Kirche als einzige Konfession namentlich hervor: 1. Die Gesinnungsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Kultfreiheit der einzelnen Individuen und der Gemeinschaften werden garantiert; in deren Äußerungen werden sie nur durch das zur Aufrechterhaltung der von dem Gesetz geschützten öffentlichen Ordnung Nötige eingeschränkt. 2. Niemand darf gezwungen werden, seine Gesinnung, seine Religion oder seine Glaubensüberzeugungen zu deklarieren. 3. Keine Konfession wird staatlichen Charakter besitzen. Die öffentlichen Gewalten werden die religiösen Überzeugungen der spanischen Gesellschaft berücksichtigen und entsprechende Beziehungen der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche und den anderen Konfessionen unterhalten. Nach Inkrafttreten der Verfassung konnten Anfang Januar 1979 die bereits vorbereiteten vier völkerrechtlich anerkannten Abkommen zwischen dem spanischen Staat und dem Heiligen Stuhl unterzeichnet werden, die das Konkordat von 1953 ablösten und juristische Belange, Unterrichtsund Kulturfragen, finanzielle Fragen sowie die Beziehung der Kirche zu den Streitkräften betreffen. Weil dies aber den Ärger des laizistischen Lagers sowie der anderen Konfessionen und Religionen hervorrief, wurde die katholische Kirche im Gesetz über die Religionsfreiheit vom 5. Juli 1980 nicht mehr namentlich erwähnt.4 In Art. 7 verpflichtet sich der Staat, mit den Konfessionen und Religionen, die „aufgrund ihres Wirkungsbereichs und der Zahl der Gläubigen […] eine notorische Verwurzelung in Spanien“ nachweisen können, Abkommen zur Zusammenarbeit abzuschließen, die aber immer „das Gleichheitsprinzip“ respektieren sollen. Eine weitere Bedingung für den Abschluss von Abkommen ist, dass die Konfessionen und Religionen in das entsprechende Register des Justizministeriums als 4

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Vgl. Wortlaut des Gesetzes in: (1005-2022).

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Vereinigungen eingetragen sind und Dachverbände gründen, die vom Staat als repräsentative Rechtspersönlichkeit akzeptiert werden können. Auf dieser Grundlage kam es 1992 zu Abkommen mit dem Bund Evangelischer Glaubensgemeinschaften Spaniens (FEREDE = Federación de Entidades Religiosas Evangélicas de España), mit dem Bund Israelitischer Gemeinden Spaniens (FCJE = Federación de Comunidades Judías de España) und mit der Islamischen Kommission Spaniens (CIE = Comisión Islámica de España). Bei der Unterzeichnung dieser Abkommen am 31. März 1992, symbolisch am 500. Jahrestag des Dekretes der katholischen Könige zur Vertreibung der Juden, sagte Justizminister Tomás de la Quadra: Diese Abkommen beenden die vielen Phasen der Intoleranz, die in unserer Geschichte zu verzeichnen sind. Konfessionen, die zuvor lange Zeiten der friedvollen und fruchtbaren convivencia erlebt hatten, gewinnen einen Status der Freiheit und der Gleichberechtigung zurück, den die Verfassung verankert. Spanien, das Boden und Wegbereiter für eine Vielzahl von Kulturen und Zivilisationen war, bekräftigt so seinen Willen, der Zukunft als eine Plattform für effektiven Pluralismus, Toleranz und Öffnung zu begegnen. (Ministerio de Justicia 1992: 7)

Auch wenn man feststellen muss, dass keine periodische Revision der Abkommen von 1992 festgesetzt wurde und in mehreren Bereichen weiterhin Unterschiede im Vergleich mit der katholischen Kirche bestehen, so muss man auch anerkennen, dass dank dieser Abkommen Spanien seit 1978/80 die Zeit „der größten Religions- und Kulturfreiheit“ (Velasco 2012: 203) seiner Geschichte erlebt. Ein Problem freilich ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis, wie man am Beispiel des Religionsunterrichts zeigen kann. Nach diesen Abkommen werden die Lehrenden von den Glaubensgemeinschaften (d.  h. den von der spanischen Regierung anerkannten assoziativen Vertretern derselben) vorgeschlagen, ebenso die Lehrbücher, während die Schulen die organisatorischen Rahmenbedingungen regeln. Ebenso ist es möglich, dass die Glaubensgemeinschaften im Rahmen der geltenden Gesetzgebung eigene erzieherische Institutionen bis hin zu Hochschulen betreiben. Die muslimische Gemeinschaft hat also seit 1992 das Recht auf Religionsunterricht. Ein solches Recht gab es damals in der EU nur in Österreich. Derzeit gibt es aber nur ca. 60 Lehrende für den islamischen Religionsunterricht in Spanien (50 davon in Andalusien und den nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla), obwohl die Muslime 4 % der Schüler darstellen (95 % der Muslime haben keinen Religionsunterricht

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in den öffentlichen Schulen). Die Protestanten haben 250 Lehrende (bei ca. 15.000 Schülern) und die Katholiken 10.000 nur in den staatlichen Schulen, denn die Kirche hat auch noch sehr viele Schulen in Trägerschaft von Bistümern, Orden und Kongregationen. Die Juden als kleine Gemeinschaft fallen in diesem Zusammenhang nicht ins Gewicht und neigen überdies zur Gründung eigener Schulen. In der Praxis ist das Recht auf Religionsunterricht aller anerkannten Glaubensgemeinschaften also längst nicht umgesetzt, was sich nicht zuletzt an der Ausbildung muslimischer Lehrpersonen zeigt. Zudem gibt es einen starken, aber noch nicht konsensfähigen Trend zu einem transversalen religions- und kulturkundlichen, nicht konfessionellen Unterricht. Der andere religionspolitische Aspekt betrifft die Positionierung der Kirche auf dem Weg Spaniens zur Demokratie und kann als Wirkung der Rezeption von Gaudium et spes betrachtet werden. Während die religionspolitische Ebene nach dem Bürgerkrieg bis 1957 durch Mitglieder der Katholischen Aktion und danach durch solche des Opus Dei geprägt wurde, die in der Regierung vertreten waren, ist die letzte Phase des Franquismus (1965-1975) durch den besonderen Protagonismus der 1966 errichteten Bischofskonferenz gekennzeichnet. Diese Zeit steht unter der Formel „Divergenz und Konflikt“, denn die Kirche spielte dabei politisch eher eine kritische denn eine legitimierende Rolle gegenüber dem Regime. Dies wurde durch den Generationswechsel in der Bischofskonferenz ermöglicht. Die Kirche hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie das quasi-regalistische Präsentationsrecht Francos im Konkordat bei der Ernennung von Bischöfen für einen Anachronismus hielt. Die vielen Bischofsstühle, die nach 1965 zu besetzen waren, ließen die Kirche erfinderisch werden: Es ging darum, die alte Garde der Konkordatsbischöfe unter Umgehung des Präsentationsrechts durch Bischöfe im Geiste des Konzils zu ersetzen. In dieser Situation griff der Vatikan zur Rechtsfigur der Weihbischöfe, die im Konkordat nicht vorgesehen war: Zwischen 1966 und 1972 mussten 21 Bischöfe aus Altersgründen demissionieren, weitere 18 starben in dieser Zeit, darunter so wichtige Persönlichkeiten wie die Kardinäle Pla y Deniel und Herrera Oria (beide im Juli 1968). Während 1966 83 % der Bischöfe durch das Präsentationsrecht des Konkordats ernannt worden waren und weitere 10 % aus der Zeit vor dem Krieg kamen, wurden bis 1968 24 Ortsbischöfe aus dem Kreis der nicht-konkordatären Weihbischöfe promoviert, und zwischen 1970 und 1972 weitere 21 Weihbischöfe − oft mit Recht auf Nachfolge des Ordinarius − ernannt. Der

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Generationswechsel wurde nun mit einer Änderung des Abstimmungsverfahrens bei der Bischofskonferenz zu einer stillen Revolution: 1971 wurde den Weihbischöfen das Stimmrecht verliehen und den emeritierten Bischöfen zugleich entzogen. Dies machte nun möglich, dass zwischen 1972 und 1981, in den entscheidenden Jahren des Spätfranquismus und des Übergangs zur Demokratie, die Bischofskonferenz durch den Madrider Erzbischof und Kardinal Vicente Enrique y Tarancón geführt werden konnte, der seit dem Konzil zu den Reformern gehörte und Paul VI. (Giovanni Battista Montini) sehr nahestand. Im Sinne des Konzils und mit dem Rückhalt der Mehrheit der Bischöfe vertrat Tarancón für die Beziehung zum Staat Formeln wie „loyale Unabhängigkeit und gesunde Zusammenarbeit“ (vgl. Gaudium et spes Nr. 76). Der Konflikt eskalierte, als die Bischofskonferenz am 23. Januar 1973 mit 59 Ja-Stimmen, 20 Nein-Stimmen und vier Enthaltungen das Dokument Sobre la Iglesia y la comunidad política („Über die Kirche und die politische Gemeinschaft“) verabschiedete (Iribarren 1974: 245-279). Bereits 1966, bald nach deren Gründung, hatte die Bischofskonferenz ein Dokument mit dem Titel La Iglesia y el orden temporal a la luz del Concilio („Die Kirche und die zeitliche Ordnung im Lichte des Konzils“) (Iribarren 1974: 70-102) publiziert. Vergleicht man beide Texte, so versteht man die Tragweite des Generations- und Gesinnungswechsels in der Bischofskonferenz zwischen 1966 und 1973, aber auch die tiefgreifende Wirkung des Konzils. Der Text von 1966 belässt es bei einer allgemeinen Wiederholung der Konzilsprinzipien nach Gaudium et spes und einem unverbindlichen Appell, die politische Ordnung Spaniens zu verbessern. Der Text von 1973 kann hingegen als die erste Erklärung der Bischofskonferenz zugunsten von parlamentarischer Demokratie und Gewaltenteilung verstanden werden. Darin wird die Pluralität der politischen Optionen akzeptiert und die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber jedem Staat nachdrücklich proklamiert, was nicht zuletzt den Verzicht des Staates auf das Präsentationsrecht und den Verzicht der Kirche auf Vertretung in den legislativen Organen implizierte. Die Aufgabe der Kirche wird als eine vorrangig pastorale beschrieben, aber auch als eine kritische und prophetische gegenüber der zeitlichen Ordnung. Der Text blieb zwar hinter den Forderungen des jungen Klerus bei der „Gemeinsamen Versammlung von Bischöfen und Priestern“ (Asamblea Conjunta de Obispos y Sacerdotes) von 1971 zurück; er dokumentierte aber den Willen der Mehrheit der Bischöfe zu einem sanften politischen Wandel und einer Neupositionierung der Kirche in der

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Gesellschaft. Die Regierung verstand den Text freilich als eine Loslösung der Kirche aus dem nach dem Bürgerkrieg eingegangenen Bündnis, fühlte sich verraten und warf der Kirche Undankbarkeit und Illoyalität vor. Die letzten Monate des Franquismus standen im Schatten dieses Konfliktes. Sie waren geprägt durch eine wachsende Divergenz zwischen einem Regime, das nur an sein Überleben dachte und sich von der einst von ihm mit Privilegien bedachten Kirche verraten fühlte, und der Mehrheit der Bischofskonferenz, die sich als moralische Versöhnungsinstanz und Demokratieförderin in der spanischen Gesellschaft neu positionieren wollte. Symptomatisch für den neuen Weg der Kirche waren die Ereignisse Ende November 1975. Während beim Staatsbegräbnis für Franco am 23. November der Primas und Kardinal von Toledo Marcelo González die Messe zelebrierte und dabei − so gut wie ohne prominente ausländische Staatsgäste − die Verdienste des Verstorbenen um das katholische Spanien würdigte, wurde das feierliche Te Deum vom 27. November zu Beginn der neuen monarchischen Ära und in demonstrativer Anwesenheit von zahlreichen Vertretern der wichtigsten westlichen Demokratien vom Madrider Kardinal Tarancón, dem Präsidenten der Bischofskonferenz, gefeiert, der die Mehrheit des Episkopats hinter sich hatte. Seine Homilie, bei der jedes Wort sorgfältig überlegt war und die der Feder des damaligen Rektors der Päpstlichen Universität von Salamanca, späteren Erzbischofs von Pamplona und Kardinals von Papst Franziskus, Fernando Sebastián Aguilar (1929-2019), entstammen soll, steht einerseits in der Tradition der Krönungsmessen mit allerlei Ratschlägen für eine gute Regierung im Lichte der göttlichen Weisheit; sie enthält andererseits Passagen, die wie eine Absichtserklärung der Kirche in der neuen Ära und im Lichte des Konzils anmuten. Tarancón sagte u. a.: Es ist nicht Aufgabe der Kirche, im Diesseits in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften oder in der Politik irgendwelche konkrete Lösungsvorschläge anzubieten [...]. Die Kirche wird niemals bestimmen, wer uns regieren soll. Um ihre Mission zu erfüllen, bittet die Kirche, Herr [gemeint ist der König], um keinerlei Privileg. Sie bittet aber, dass man ihr die Freiheit zuerkennt, die sie für alle verkündet; sie bittet um das Recht, das ganze Evangelium zu verkünden [...]. Schließlich bitte ich, Herr, dass wir als Männer der Kirche und Ihr als Mann der Regierung Beziehungen zueinander finden, in denen die gegenseitige Autonomie und Freiheit respektiert wird, ohne dass dies jemals der gegenseitigen und fruchtbaren Zusammenarbeit aus den verschiedenen Sphären heraus im Wege steht. (Zit. nach Andrés-Gallego/Pazos 1999: 208)

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Die Homilie tat nichts anders, als die konziliare Lehre von der recht verstandenen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten zu verkünden. Aber im damaligen Spanien musste dies wie ein Abschied der Kirche vom katholischen Staat verstanden werden. Bald wurde auch klar, dass Tarancón und die Mehrheit der Bischöfe ebenso wenig bereit waren, irgendeiner Partei das Adjektiv „christlich“ im Sinne einer politischen Vertretung des spanischen Katholizismus zu gewähren. Im Vorfeld der ersten freien Wahlen vom 15. Juni 1977 fehlte es dennoch nicht an Versuchen, christlich-demokratische Parteien in der neuen politischen Landschaft zu etablieren. Die Wahlen brachten aber das Scheitern dieser Lösungen mit sich. Nach den Erfahrungen der dreißiger Jahre und der Franco-Zeit schien sich das spanische Volk von jeder christlich gefärbten Politik verabschieden zu wollen, um den politischen Diskurs zu entkirchlichen. In der Demokratie hält sich die Kirche aus der Parteipolitik heraus. Sie konzentriert sich auf die Regelung der Streitpunkte, die sie mit den jeweiligen konservativen wie sozialistischen Regierungen hat. Die bei den Sozialisten immer wieder auftauchenden Reflexe des Antiklerikalismus und der militanten Laizität der 1930er Jahre, der Widerspruch der Regierungspolitik zu einigen Punkten der kirchlichen Soziallehre, der Sittenwandel und die zunehmende Korruption von Partei- und Regierungsmitgliedern, aber nicht zuletzt auch die konservative Wende bei den Bischofsernennungen und der Leitung der Bischofskonferenz nach Abschluss der Tarancónund Montini-Ära haben dazu geführt, dass sich die regierungskritischen Stellungnahmen der Bischöfe ab den 1980er Jahren häuften. Die Konflikte der Kirche mit den demokratischen Regierungen erreichten aber nie die Schärfe und die Sprachlosigkeit der letzten Jahre des Franquismus. 2. Die neue Debatte um die Laizität

Der Passus über die Garantie der Religionsfreiheit in der Verfassung von 1978, der Trennung, Neutralität und Kooperation miteinander verbindet und dem Gewicht der katholischen Kirche in Spaniens Geschichte und Gegenwart Rechnung trägt, ohne die anderen Konfessionen und Religionen zu diskriminieren, ist heute vielfach umstritten. Der Sozialist Gregorio Peces-Barba, einer der Väter der Verfassung und Parlamentspräsident unter der ersten sozialistischen Regierung von Felipe González (1982-

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1986), hielt zu Beginn dieses Jahrhunderts die ausdrückliche Nennung der katholischen Kirche in Art. 16.3 für einen Fehler. Für das laizistische Lager schien die Zeit gekommen zu sein, die besondere Rolle der katholischen Kirche in Frage zu stellen, eine militante Laizität zu praktizieren und die seit 1931 ersehnte Kulturrevolution nachzuholen. Eine besondere Schärfe erreichte die Debatte unter der Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero (2004-2011). Am 6. November 2010, unterwegs nach Santiago de Compostela, sagte Papst Benedikt in einer Pressekonferenz im Flugzeug folgendes: Spanien ist seit jeher eines der ‘Ursprungsländer’ des Glaubens; denken wir nur daran, dass das Wiedererstehen des Glaubens in der modernen Zeit vor allem Spanien zu verdanken ist; große Gestalten wie der hl. Ignatius von Loyola, die hl. Teresa von Avila und der hl. Johannes von Avila sind Gestalten, die den katholischen Glauben wirklich erneuert und die Physiognomie des modernen Katholizismus geformt haben. Es ist aber ebenso wahr, dass in Spanien auch eine Laizität, ein Antiklerikalismus, ein starker und aggressiver Säkularismus entstanden ist, wie wir sie insbesondere in den 30er Jahren gesehen haben, und diese Auseinandersetzung, oder eher dieser Zusammenprall zwischen Glaube und Moderne, die beide sehr lebendig sind, ist auch in der gegenwärtigen Zeit in Spanien festzustellen: die Zukunft des Glaubens und der Begegnung, nicht der Auseinandersetzung, sondern der Begegnung zwischen Glaube und Laizität hat daher auch gerade in der spanischen Kultur einen ihrer zentralen Punkte.5

Diese Worte entfachten zunächst in der den sozialistischen Regierungen nahen Presse einen Sturm der Entrüstung. Der Vergleich mit den 1930er Jahren wurde als unangebracht bezeichnet. Man erinnerte den Papst daran, dass in Spanien derzeit keine Kirchen in Brand gesetzt und keine Kirchenvertreter verfolgt würden. Der spanische Ministerpräsident Zapatero sagte sogar, dass in keinem Land Europas es der Kirche besser gehe als in Spanien. Aber die Diagnose des Papstes hat einen Wahrheitskern: in keinem anderen Land Europas wird um die Laizität des Staates so intensiv und ideologisch gestritten wie eben in Spanien seit der Wahl Zapateros im Frühjahr 2004. Dass Zapatero in der Debatte um die Laizität nicht so weit gegangen ist, wie ursprünglich intendiert, hängt nur mit seinem realpolitischen Instinkt zusammen.

5

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Pressekonferenz mit Papst Benedikt XVI. auf dem Flug nach Santiago de Compostela (6. November 2010) | BENEDIKT XVI., (27-10-2021).

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2.1. Das laizistische Lager

Mit Zapatero kam nämlich jener Teil der spanischen Linken an die Macht, der seit dem 19. Jahrhundert durch ethischen Relativismus sowie durch den Versuch, einen „neuen Menschen“ jenseits des Einflusses der katholischen Kirche zu schaffen, geprägt ist; der Linken geht es letztendlich um die kulturelle und moralische Hegemonie in der Öffentlichkeit, um die Kulturrevolution (vgl. Marco 2008). In Spanien nennt man diesen utopischen Sozialismus nach dem deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832) „krausismo“. Mit Olegario González de Cardedal kann man sagen, dass die spanischen Sozialisten, ganz zu schweigen von den Kommunisten, anders als die europäischen Geschwisterparteien „ihre antireligiösen Prämissen“ nicht aufgegeben haben (González de Cardedal 2015: 1467). Aber in der Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) ringen zwei Konzepte der Laizität miteinander: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die eine „inklusive Laizität“ vertreten und Christen in das sozialistische Projekt integrieren möchten; auf der anderen Seite finden sich die Befürworter einer „Laizität der Neutralisierung“ oder gar der „Exklusion“ des religiösen Phänomens (vgl. u. a. Díaz-Salazar 2007). Unter Berufung auf die moralische und religiöse Veränderung der Gesellschaft in den letzten Jahren plädieren Letztere für ein Statut der Laizität, das die sorgfältige Trennung von Staat und Kirche/Religion im öffentlichen Raum regeln soll, sowie für ein neues Gesetz über die Religionsfreiheit. Gerade diese Tendenz setzte sich zunächst im PSOE durch, wie aus dem Manifest „Verfassung, Laizität und staatsbürgerliche Erziehung“ (Constitución, laicidad y educación para la ciudadanía) zu entnehmen ist, das die Sozialisten anlässlich des 28. Jahrestags der Verfassung am 6. Dezember 2006 verabschiedet haben. Denn es bringt die Religionspolitik der Verfassung von 1978 mit der von 1931 in Verbindung und ist zudem von einer Hermeneutik des Verdachts gegenüber dem religiösen Phänomen geprägt, das nur in seinem „fundamentalistischen Potential“ wahrgenommen wird. Darin heißt es z.  B.: „Die monotheistischen oder religiösen Fundamentalismen schaffen Grenzen unter den Bürgern. Die Laizität ist der Raum der Integration. Ohne Laizität gäbe es keine neuen Bürgerrechte, und einige Errungenschaften der Freiheit, wie die freiwillige Unterbrechung der ­Schwangerschaft oder die Ehe unter gleichgeschlechtlichen Personen würden noch vom Zivilrecht geahndet.“6 6 (10-05-2022).

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Das Verfassungsjubiläum war nur der Vorwand für das Manifest. Die wahre Absicht bestand darin, die Einführung des neuen Pflichtfaches „Staatsbürgerliche Erziehung“ (Educación para la ciudadanía) ab dem Schuljahr 2008-2009 für eine laizistische Neuinterpretation der Verfassung angesichts des gesellschaftlichen Wandels zu nutzen. Der Text besagt, dass die Verfassung mit der Neustrukturierung des Staates in Autonome Gemeinschaften der territorialen Vielfalt des pluralen Spanien Rechnung getragen habe, aber dass unterdessen eine neue Form von Vielfalt eingetreten sei, die geregelt werden müsse: Da die spanische Gesellschaft sich durch das Migrationsphänomen zu einer „multikulturellen und plurireligiösen“ Gesellschaft gewandelt habe, brauche man nun eine neue Basis für die freie und plurale Ausübung des Rechtes auf Gewissensfreiheit. Diese Basis solle also die Laizität sein, die als einzige „das Zusammenleben zwischen den Kulturen, Ideen und Religionen garantiert, ohne Unterordnung oder Vorrangstellung von Glaubensformen.“ Was damit gemeint ist, hat der PSOE bei seinem 37. Kongress vom 4.6. Juli 2008 verdeutlicht. Unter „mehr Laizität“ wird in den Beschlüssen vor allem das Zurückdrängen des Einflusses der katholischen Kirche aus der Öffentlichkeit verstanden. Das anvisierte Statut der Laizität und die Reform des Gesetzes über die Religionsfreiheit von 1980 sollen dazu beitragen, der religiösen Pluralisierung der Gesellschaft besser Rechnung zu tragen, aber auch die konfessionellen Privilegien (d. h. die vier Abkommen von 1979 zwischen dem spanischen Staat und dem Heiligen Stuhl) sowie die religiösen und liturgischen (d.  h. katholischen) Symbole im öffentlichen Raum und bei Staatsakten (Staatsbegräbnisse, Bibel und Kruzifix beim Amtseid u. a.) abzuschaffen. Noch deutlicher wird die gegen die katholische Kirche gerichtete Stoßrichtung der Sozialisten in den Büchern und Schriften über Laizität aus der Feder der Rechtsphilosophen, Theologen und Staatskirchenrechtler, die die „Laizität der Neutralisierung“ befürworten (vgl. u.  a. Llamazares Fernández 2011). Darin wird der Verfassung von 1978 und dem Gesetz über die Religionsfreiheit von 1980 vorgehalten, dass sie ein „Vertragssystem“ zwischen dem Staat und den Konfessionen und Religionen hervorgerufen haben, das Ungleichheit zwischen den Bürgern aus religiösen Gründen generiere. So sei die katholische Kirche aufgrund des „völkerrechtlichen“ Charakters der Abkommen zwischen dem Staat und dem Heiligen Stuhl sowie der darin enthaltenen Inhalte in einer besseren Position als andere Konfessionen und Religionen, die nicht so vorteilhafte

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Abkommen ­abschließen konnten. Eine Angleichung deren Rechte an die „Privilegien“ der katholischen Kirche wäre für die Laizisten keine Lösung. Denn das alte Modell, entstanden unter den Bedingungen eines konfessionellen Monokulturalismus, berücksichtige nicht den moralischen und religiösen Pluralismus und bringe die Laizität des Staates nicht deutlich zur Geltung. Heute sei ein neues Modell nötig, das die Rechtsgleichheit aller Bürger in religiösen Fragen garantiere und die Qualität der spanischen Demokratie verbessere (vgl. Mayoral Cortés 2006: 267). Dies ist auch der Tenor des Manifestes von Peces-Barba aus dem Jahr 2008. Nachdem er der katholischen Kirche insgesamt − nicht nur den spanischen Bischöfen − eine Leugnung der positiven Werte der Moderne und trotz Gaudium et spes eine prinzipielle Unverträglichkeit mit der Demokratie vorhielt, verkündete er mit einem rhetorischen Feuerwerk sein laizistisches Non possumus: Wir können die Ablehnung der Laizität auch nicht akzeptieren. Denn diese stellt das Wesen moderner Demokratie dar und garantiert die Gleichbehandlung aller Bürger. Wir können die öffentliche Anwesenheit religiöser Symbole nicht akzeptieren, die andere Religionen diskriminieren. […] Wir können nicht akzeptieren, dass ethische Fragen betreffend die Ehe, die familiären Beziehungen, die wissenschaftliche Forschung, oder die Art und Weise, wie man das unwürdige Leben von unheilbar Kranken beenden kann, von der Kirche entschieden werden. […] Wir können die These von der katholischen Wesensprägung der nationalen Identität nicht akzeptieren; auch nicht, dass Bürger und Gläubige miteinander verwechselt werden. […] Wir können schließlich die Haltung der Kirche gegenüber der Demokratie, die sie niemals als das einzig legitime politische Regime anerkannt hat, nicht akzeptieren; auch nicht die Betrachtung des Relativismus als ein moralisches Übel, denn er ist Ausdruck der Gewissensfreiheit und des Respekts vor der Selbstbestimmung, in der die Menschenwürde besteht. Non possumus! Wir können das alles nicht akzeptieren, wenn wir uns Respekt verschaffen wollen. (Peces-Barba 2008)

Im April 2010 zeigte sich José María Contreras Mazarío, Professor für Staatskirchenrecht an einer Madrider Universität und damaliger Generaldirektor für die Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften im Innenministerium, davon überzeugt, dass sein Entwurf für ein neues Gesetz über die Religionsfreiheit schon bald im Parlament diskutiert werden würde, nachdem Zapatero dieses Vorhaben zu einer der Prioritäten seiner zweiten Legislaturperiode erklärt hatte. Der Gesetzesentwurf blieb indes bislang in der Schublade. Am 10. Juni 2010 besuchte Zapatero erstmals den Vatikan und teilte dort dem Papst persönlich mit, dass es vorerst kein neues Gesetz

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über die Religionsfreiheit geben werde und man ebenso wenig die völkerrechtlichen Abkommen von 1979 kündigen wolle. Stattdessen werde man eine Institution zur Pflege des religiösen Pluralismus schaffen. 2011 wurde auf Initiative des Justizministeriums El Observatorio del pluralismo religioso en España (Beobachtungsstelle für den religiösen Pluralismus in Spanien) durch die Federación Española de Municipios y Provincias und die Fundación Pluralismo y Convivencia gegründet.7 Die Befürworter einer militanten Laizität konnten sich im PSOE also nicht durchsetzen. Es hat auch manchmal den Anschein, dass seine Parteistrategen die Laizität (oder andere Themen kulturrevolutionärer Art) aus wahltaktischen Gründen wie ein rotes Tuch gezielt schwingen, damit die katholische Kirche und das konservative Lager wie ein wütender Stier auf die Straße gehen und als Reaktion darauf bei den Wählern das Gespenst einer intoleranten, autoritären Rekatholisierung Spaniens, wie sie zur Franco-Zeit herrschte, geweckt werden kann. Auf Zapatero folgte 2011 mit absoluter parlamentarischer Mehrheit die konservative Regierung unter Mariano Rajoy. Trotz der gespannten Beziehungen zum Madrider Kardinal und Präsidenten der Bischofskonferenz Antonio Rouco Varela war Rajoy bestrebt, die Kirche „im Dorf zu lassen“, zugleich aber änderte er nichts an den unter Zapatero beschlossenen kulturrevolutionären Gesetzen etwa in der Genderfrage. Seit 2018 regieren wieder die Sozialisten, nun unter Pedro Sánchez und seit 2020 in Koalition mit den Neukommunisten von Unidas Podemos. Am 24. März 2021 konnten sie das Euthanasie-Gesetz „über den würdigen Tod“, eines der liberalsten in Europa, mit deutlicher Mehrheit im Parlament durchsetzen;8 am 27. Juni 2021 verabschiedeten sie ein Gesetz über die Nicht-Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität und die Rechte der Transsexuellen, das ebenso zu den liberalsten Europas zählt.9 2.2. Die katholische Kirche

Die Kirche und das konservative Lager waren mit diesen Gesetzen, für die offenbar eine deutliche soziale Mehrheit in der Gesellschaft vorhanden ist, 7 8 9

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Observatorio del pluralismo religioso en España, (27-10-2021). (27-10-2021). (27-10-2021).

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nicht einverstanden, aber Proteste und Demonstrationen auf den Straßen blieben – anders als bei der Einführung der “Ehe für alle” oder bei der Schulreform unter Zapatero – weitgehend aus. Eine intellektuelle Debatte nach Art des Gesprächs zwischen Jürgen Habermas und dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger in München 2004 (vgl. Habermas/Ratzinger 2006) über die Dialektik der Säkularisierung und die ethischen Grundlagen der Demokratie gemäß dem bekannten Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen lebt, „die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 1992: 112), findet nicht statt, auch wenn sich einige Theologen und Kirchen nahe Philosophen in einer Flut von Literatur um eine Klärung der „gesunden Laizität“ bemühen. Besonderer Aufmerksamkeit erfreute sich die kritische und rasche Antwort, die Fernando Sebastián Aguilar, der emeritierte Erzbischof von Pamplona, auf das oben erwähnte Manifest des PSOE vom 6. Dezember 2006 gab.10 Er wies darauf hin, dass im besagten Manifest jene „gesunde Laizität“, die als Neutralität des Staates verstanden und von der katholischen Kirche akzeptiert wird, mit einer „militanten Laizität“ verwechselt werde, die im religiösen Pluralismus nur eine Gefahr für die Demokratie sieht und durch eine „verarmte und entstellte Sicht des religiösen Phänomens“ geprägt ist. Man scheine vorauszusetzen, dass die Religionen keine gemeinsamen sittlichen Überzeugungen zur Begründung des friedlichen Zusammenlebens der Menschen in der pluralistischen Gesellschaft beisteuern können, sondern dass sie eher Quelle der Intoleranz und der Gefahren sind. Eine solche Sicht werde zumindest dem Selbstverständnis der katholischen Kirche nach dem Konzil sowie deren Rolle in der spanischen Gesellschaft seit 1971 nicht gerecht. Darüber hinaus sei fraglich, ob der Anspruch auf moralische Gewissensbildung, den das Manifest und das neue Schulfach erheben, mit der Verfassung von 1978 konform sei. Alles in allem scheint Sebastián Aguilar, dass die Sozialistische Partei mit einem solchen Manifest eher an die Verfassung von 1931 denn an die von 1978 anknüpfen möchte.

10 Vgl. (10-05-2022).

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2.3. Andere Konfessionen und Religionen

Den anderen Konfessionen und Religionen ist die Klage gegen die „privilegierte“ Stellung der katholischen Kirche gemeinsam. Die Lösung sehen sie aber nicht in der radikalen Laizität, sondern in einer Angleichung ihrer Abkommen mit dem spanischen Staat nach oben, um eine Gleichstellung mit der katholischen Kirche zu erreichen. Sieht man genauer hin, so merkt man auch einige Unterschiede in der Wahrnehmung der religiösen Lage Spaniens. Die Protestanten, deren Zahl erst seit dem Gesetz über die Religionsfreiheit von 1967 deutlich zunimmt, die aber seit der Abschaffung der Inquisition 1834 präsent sind (vgl. Vilar 1994), halten sich für die größte christliche Minderheit des Landes mit etwa 1,5 Millionen. Die FEREDE mit ihren über 2.000 Glaubensgemeinden umfasst aber lediglich ca. 600.000 Mitglieder; d. h also, dass die meisten Protestanten − vor allem freikirchlicher und evangelikaler Einstellung − in der FEREDE nicht integriert sind und somit auch keine Abkommen mit dem Staat haben. Zulauf bekommen Letztere nicht zuletzt durch die vielen Einwanderer aus Lateinamerika. Zu den wichtigsten, durch die FEREDE vertretenen Denominationen zählen die Iglesia Evangélica Española (IEE), die Iglesia Española Reformada Episcopal (IERE), die Asambleas de Hermanos (AH), die Iglesias Bautistas, die Iglesias Pentecostales, die Iglesias de Cristo, die Iglesias Carismáticas, die Iglesia Adventista sowie kleinere Kirchen und inter- oder paraekklesiale Organisationen. Die FEREDE beklagt, dass weder die Verfassung von 1978 noch das Gesetz über die Religionsfreiheit von 1980 ein egalitäres System ermöglicht haben. Die Ungleichbehandlung oder gar Diskriminierung der Protestanten konnte für sie aufgrund folgender Hindernisse nicht behoben werden: Zum einen mangele es an dem politischen Willen, die im Gesetz über die Religionsfreiheit vorgesehenen und 1992 abgeschlossenen Abkommen mit Leben zu füllen und denen mit der katholischen Kirche anzupassen; zum anderen stelle die völkerrechtliche Geltung der Abkommen mit dem Heiligen Stuhl eine unzulässige Privilegierung der katholischen Kirche dar, sodass in Spanien de facto der konfessionelle Staat weiter existiere. Die Protestanten wundern sich darüber, dass − angesichts der Migrationsbewegungen und der fortschreitenden Säkularisierung − der Staat eine Änderung oder Kündigung besagter Abkommen noch nicht intendiert habe (Grau Beltrán 2006: 93). Dieser „anti-katholische“ Affekt in

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vielen Stellungnahmen spanischer Protestanten ist wohl ein Zeichen dafür, dass historische Verletzungen immer noch eine Rolle spielen und der ökumenische Dialog mit der katholischen Kirche verbesserungsbedürftig ist. Die FCJE vertritt etwa 45.000 Juden zumeist traditioneller oder orthodoxer Gemeinden, von denen sich die größten in Madrid, Barcelona und an der Costa del Sol (Málaga) befinden. Man nimmt aber an, dass es mindestens weitere 20.000 residierende Juden in Spanien gibt, die religiös nicht organisiert sind. Derzeit gibt es 30 Synagogen, manche davon mit Platz für 800 Personen. Im letzten Jahrzehnt sind in Städten wie Barcelona oder Oviedo reform- und liberale Gemeinschaften entstanden. Unter den eingetragenen Juden sind die meisten in den letzten Jahrzehnten aus Marokko (Sephardim) und Argentinien (Aschkenasim) gekommen. Im Schatten des Ersten Weltkriegs etablierte sich auch eine jüdische Diaspora in Spanien, so dass beim Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 ca. 6.000 Juden vor allem in Barcelona lebten. Die erste Phase des Franco-Regimes (19391945) war durch eine paradoxe Judenpolitik gekennzeichnet: Einerseits waren die in Spanien verbliebenen Juden gezwungen, ihre Religion im Untergrund zu praktizieren, andererseits erlaubte der Franco-Staat im Zweiten Weltkrieg, dass Diplomaten mit der Ausstellung spanischer Pässe hunderten von Juden spanischer Herkunft aus Ungarn und dem Balkan zur Flucht nach Lateinamerika über Spanien verhalfen. Dazu kam “die Zulassung des Transits von Zehntausenden jüdischer Flüchtlinge” (Collado Seidel 2011: 92). Wie andere religiöse Minderheiten haben die Juden in Spanien den Weg von der Exklusion zur Toleranz und dann zur Religionsfreiheit beschritten. Im Allgemeinen sind die spanischen Juden gegenüber der katholischen Kirche eher versöhnlich eingestellt. Sie erkennen z. B. an, dass sich diese mit dem 2. Vaticanum radikal gewandelt hat. Gleichwohl beklagen sie, dass das bestehende Vertragssystem zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften das Prinzip der Gleichbehandlung verletze. Zugleich plädiert die FCJE nicht für eine automatische Angleichung nach oben, sondern für eine differenzierte Gleichbehandlung nach dem Prinzip: Jeder solle bekommen, was ihm nach dem Gesetz zusteht (ius suum cuique tribuere). Ein neues Gesetz über die Religionsfreiheit sei fraglich, weil anders als 1980 der nötige Konsens zwischen den großen Volksparteien heute fehle. Aus jüdischer Sicht genüge es, wenn der Rahmen des bestehenden Gesetzes und der Abkommen von 1992 voll ausgeschöpft werde.

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Die FCJE gibt auch dem Staat und den Laizisten zu bedenken, dass zur Regelung der religiösen Frage Kooperationsmodelle besser als radikale Trennungsmodelle seien, ja, dass selbst Frankreich, dessen Gesetz von 1905 als Paradigma der radikalen Trennung gelte, in den letzten Jahren die Kooperation und die positive Laizität betone. Die Lösung der religiösen Frage hängt für die FCJE nicht nur von der Haltung des Staates und der kleinen Religionsgemeinschaften ab, sondern wesentlich auch von einem Umdenken in der katholischen Kirche als der Mehrheitskonfession: Es sei sehr traurig, dass das linke Lager und die katholische Kirche noch „wie im 19. Jahrhundert“ miteinander fechten (Benasuly 2006: 124, 129). Zwischen den Zeilen wünschen sich die Juden weniger militante Laizität seitens linker Regierungen sowie, dass die katholische Kirche nicht nur an die Regelung ihrer „Sache“ mit dem Staat denke, sondern den eingetretenen religiösen Pluralismus positiv werte und eine advokatorische Aufgabe für die anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften wahrnehme. Derzeit gibt es in Spanien ca. 2,5 Millionen Muslime. Mehr als die Hälfte davon sind Einwanderer aus Marokko und Algerien. Viele sind eingebürgerte Einwanderer oder deren Nachfahren. Ca. 20.000 sind Spanier, die sich zum Islam als der „eigentlichen“ Religion Spaniens „zurückbekehrt“ haben (Tatary Bakry 2013). Sie tragen dann arabische Vornamen und spanische Familiennamen. Als „Conversos“ sind viele von einem antikatholischen Affekt geprägt. Die CIE ist die vom Staat offiziell anerkannte Vertretung der Muslime. Sie entstand 1992 als Dachverband der ansonsten recht unterschiedlichen Federación Española de Entidades Religiosas Islámicas und der Unión de Comunidades Islámicas de España; denn nach dem Gesetz über die Religionsfreiheit von 1980 gehört zu den Voraussetzungen für den Abschluss von Abkommen mit dem Staat, dass die Konfessionen und Religionen eine Rechtspersönlichkeit als gemeinsame juristische Vertretung haben. Unter den spanischen Muslimen ist der Einfluss Marokkos, aber auch des Wahabismus aus Saudi Arabien spürbar. Dieses Land finanzierte u. a. die Großmoschee in Madrid. Die Muslime der Unión werten die Abkommen von 1992 grundsätzlich positiv, da sie in Europa einzigartig seien. Ebenso schätzen sie die Zusammenarbeit mit der Bischofskonferenz in Migrationsfragen, die wissenschaftlichen Kongresse, die immer wieder organisiert werden, um die Rolle der drei abrahamitischen Monotheismen in Spaniens Geschichte und Gegenwart nach dem „Geist von Córdoba“ zu studieren (Sánchez

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Nogales 2006). Positiv bewertet wird auch die zunehmende politische und mediale Aufmerksamkeit für den Islam. Bedauert werden hingegen die Vorurteile, die nach wie vor bestehen und z.  T. auch geschürt werden, sowie, dass in manchen Bereichen (sozialer Dialog, Moscheen und Friedhöfe, Imame, Religionslehrer, Familie, Arbeitswelt, kulturelles Erbe, finanzielle Unterstützung) noch viel zu tun ist (Tatary Bakry 2013). Aus der Sicht der Federación mangelte es − vor allem während der konservativen Regierung 1996-2004 − an politischem Willen, die Abkommen von 1992 inhaltlich zu füllen und denen mit der katholischen Kirche anzupassen. Von den sozialistischen Regierungen erwartet man ein Entgegenkommen bei zwei wichtigen Forderungen: Anerkennung des islamischen Familienrechtes einschließlich der Polygamie, denn es sei nicht einzusehen, warum diese Familienform rechtlich nicht anerkannt werden soll, während man dies mit der gleichgeschlechtlichen Ehe getan habe. Die zweite Forderung betrifft die Pflege des islamisch-arabischen Kulturerbes einschließlich der Rückgabe der Moschee von Córdoba (Escudero 2006: 170-175). Einige Muslime sehen keinen Widerspruch darin, dass sie einerseits das Scharia-Recht und damit den „konfessionellen Staat“ für die islamische Welt befürworten (auch für Spanien und Europa, wenn sie eines Tages die Mehrheit sein sollten), während sie sich andererseits auf die Laizität des Staates berufen, um die privilegierte Stellung der katholischen Kirche zu beklagen und ihren eigenen Einfluss in der Öffentlichkeit zu stärken (Escudero 2006: 165, 180). Außerdem sehen sie keinen Widerspruch darin, dass sie der katholischen Seite Missionseifer oder die Besetzung des öffentlichen Raumes mit ihrer Symbolik vorwerfen, während sie von der spirituellen Leere des säkularisierten Spaniens bzw. Europas sprechen und den Islam und seine Lebensform als die Lösung propagieren. Die meisten Muslime, die in den letzten Jahrzehnten nach Spanien eingewandert sind, sind in den zwei genannten Vereinigungen gar nicht integriert. Sie bestreiten daher die Repräsentativität derselben (Chaib ­Akhdim 2006: 235) und machen damit auf ein wichtiges Problem aufmerksam: Die Unfähigkeit dieser etablierten Organisationen, muslimische Migranten und deren neu gegründete Gebetshäuser aufzunehmen, die stark zunehmen und religionskartographisch oft nicht erfasst sind.

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3. Katholische Kirche und religiöse Pluralisierung unter den Bedingungen der Moderne

Spanien ist in den letzten Jahrzehnten plurireligiöser geworden. Zu den genannten Glaubensgemeinschaften von Protestanten, Juden und Muslimen sind die ca. 900.000 orthodoxen Christen zu rechnen, die vor allem rumänische Einwanderer sind. Dies ist erst ein Phänomen der letzten Jahrzehnte, das der religionsrechtlichen Ausgestaltung noch harrt. Das spanische System der öffentlich-rechtlichen Anerkennung kennt im Übrigen viel weniger Hürden als das deutsche oder das schweizerische: Es genügt, wie schon erwähnt, die Eintragung als religiöse Vereinigung in das entsprechende Register des Justizministeriums vorzunehmen, die „notorische Verwurzelung“ der Glaubensgemeinschaft in Spanien nachzuweisen und eine Rechtspersönlichkeit als Ansprechpartner derselben ins Leben zu rufen. Dass die „notorische Verwurzelung“ sehr flexibel interpretiert wird, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Scientology am 31. Oktober 2007 anerkannt wurde. Vielleicht sollte man auch in Spanien über verschiedene Anerkennungs- und Abkommensmodelle nachdenken, je nach den Bedürfnissen und der „notorischen Verwurzelung“ der jeweiligen Glaubensgemeinschaften.11 Für die katholische Kirche stellen die religiöse Pluralisierung auf der einen Seite und die radikal-laizistischen Tendenzen im linken Lager auf der anderen Seite große Herausforderungen dar. Diese betreffen ihre Rolle in der Öffentlichkeit, aber auch ihr ökumenisches und interreligiöses Engagement. Was Ersteres angeht, so bläst der Kirche immer wieder ein eisiger Wind ins Gesicht. Aber sowohl die Kirche wie das linke Lager täten gut daran, sich um eine sachliche, entideologisierte und selbstkritische Annäherung auf dem Boden der Laizität der Moderne zu bemühen. Die katholische Kirche, weil sie bis in die jüngste Vergangenheit Spaniens hinein mit Andersdenkenden wenig duldsam war und ihre Monopolstellung zum eigenen Vorteil ausnutzte. Sozialisten und Kommunisten, weil sie aus ihrer eigenen Parteigeschichte und dem Antiklerikalismus in der Zweiten Republik Lehren ziehen sollten. Zudem ist die radikale Verdrängung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum in einem Land, in dem der Katholizismus auch „Kultur“ und Existenzform geworden ist, ein riskantes 11 Was solche Überlegungen in der Schweiz betrifft vgl. Pahud de Mortanges 2003.

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Unternehmen. Daher konnte ein deutscher Beobachter nicht ohne Ironie schreiben: Zwei [sozialistische] Bürgermeister aus Nordspanien etwa hatten darauf gedrängt, nicht von religiösen Symbolen im öffentlichen ‚Raum’, sondern in öffentlichen ‚Gebäuden’ zu sprechen: Sie wollten an den Prozessionen in Lugo und Santiago de Compostela teilnehmen, die im Freien stattfinden, und retteten sich mit der Spitzfindigkeit davor, in Widerspruch zur Parteidoktrin zu geraten. Die katalanischen Sozialisten kündigen sogar an, die Messe der Regionalregierung zum St.-Georgstag wie üblich zelebrieren zu wollen. (Ingendaay 2008)

Im Allgemeinen scheinen die Bischöfe, die bei der Krönungsmesse für König Juan Carlos am 27. November 1975 bekanntlich um keinerlei Privileg baten, sondern lediglich „um das Recht, das ganze Evangelium zu verkünden“ (Andrés-Gallego/Pazos 1999: 208), in der militanten Laizität die Wurzel aller Übel zu sehen, statt sich vorrangig mit den eigenen Versäumnissen als Ursache der Relevanz- und Identitätskrise der katholischen Kirche unter den Bedingungen der Moderne zu beschäftigen. Am 29. November 2006 geißelte die Bischofskonferenz in einer Instruktion mit dem Titel Orientaciones morales ante la situación actual de España („Moralische Orientierungen angesichts der aktuellen Lage Spaniens“)12 erneut die „starke Welle der Laizität“, die dabei sei, eine Gesellschaft zu prägen, die „den fundamentalen Werten“ unserer Kultur radikal widerspricht. So findet in Spanien immer wieder ein „ideologischer Bürgerkrieg“ statt. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die unter Trennung von Kirche und Staat oder konfessioneller Neutralität des Staates nicht primär die Gewährleistung und Förderung der Religionsfreiheit verstehen, sondern eher die Verbreitung einer militanten Laizität, die dem religiösen Phänomen mit Misstrauen begegnet und unter Berufung auf die plurireligiöse Gesellschaftssituation die historisch gewachsene öffentliche Relevanz der katholischen Kirche in Frage stellt. Auf der anderen Seite stehen feuereifrige Katholiken, die den Kampf gegen die Laizität mit einer ähnlichen Militanz aufnehmen, indem sie ihr Materialismus und Sittenlosigkeit vorwerfen. Hier helfen weder Konfrontation noch Belehrung, sondern nur das kluge diskursive Eintreten für eine gesunde Laizität auf dem Boden der

12 (27-10-2021).

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Religionsfreiheit (Siedentop 2008), wie dies nicht zuletzt Papst Benedikt XVI. bei seiner Frankreichreise im September 2008 getan hat. Was das interreligiöse Engagement betrifft, so braucht die katholische Kirche in Spanien zumindest mehr Sensibilität. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als nach dem Attentat vom 11. März 2004 ein katholisches Staatsbegräbnis in der Madrider Kathedrale gefeiert wurde, obwohl viele Opfer zu anderen Konfessionen und Religionen gehörten, warfen Vertreter derselben, vor allem Protestanten und Muslime, Staat und Kirche mangelndes Gespür vor. Auch im Vorfeld des katholischen Staatsbegräbnisses für die Opfer des Flugzeugunglücks vom 20. August 2008 hagelte es Kritik (Tamayo 2008). Radikale Laizisten befürworteten eine Abschaffung der Staatsbegräbnisse und die Ersetzung derselben durch rein zivile Staatsakte. Diese würden freilich die Regierung in eine noch größere Verlegenheit bringen, weil ein passendes Ritual noch zu entwickeln wäre. Und dieses könnte gewiss weder die feierliche Würde katholischer Liturgie erreichen noch den Betroffenen ähnlichen Trost spenden, wie man an den staatlichen Gedenkfeiern für die COVID-Opfer 2020 und 2021 gesehen hat. Dies ist sicherlich erst der Anfang einer Entwicklung, an die sich die katholische Kirche wird gewöhnen müssen: die Teilung des öffentlichen Raumes und der Staatsakte mit den Vertretern anderer Konfessionen und Religionen. Nur so kann sie schließlich diesen und den Befürwortern einer „Laizität der Inklusion“ im PSOE entgegenkommen und so auch ihre eigene Rolle in der Öffentlichkeit indirekt verteidigen. Ökumenisch ist einiges in Bewegung. Durch die starke Präsenz der orthodoxen Christen aus Rumänien ist in Spanien die Polarisierung von katholischer Mehrheit und evangelischer Minderheit aufgebrochen, so dass zumindest die ökumenischen Veranstaltungen anlässlich der alljährlichen Woche der Einheit der Christen bunter werden. Mit dem Lutherjahr 2017 können die Protestanten in akademischer Hinsicht zufrieden sein, denn so gut wie in jeder katholischen Hochschule wurde eine Tagung im ökumenischen Geiste organisiert. Zugleich stellen sie fest, dass die ökumenische Sensibilität von Papst Franziskus wichtige Teile von Hierarchie und Klerus immer noch nicht erreicht hat. Andererseits bleiben einige von ihnen auf die alten Verletzungen fixiert, als ob man heute noch den Bischöfen die Inquisition vorhalten müsse. Gut sind hingegen die Beziehungen zu den Juden, auch wenn die Kirche in Spanien noch weit davon entfernt ist, den Rat Karl Barths zu beherzigen, dass die Beziehung zum Judentum die eigentliche ökumenische Frage der Christenheit ist.

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4. „Franziskanische“ Neuausrichtung

Religion und Kultur sind in Spanien noch vielfach eng verwoben. Viele verstehen sich zumindest als „Kulturkatholiken“, auch wenn sie ihr Leben bzw. Ethos nicht unbedingt nach der Lehre der Kirche ausrichten. Dies kann man an verschiedenen Phänomenen der letzten Jahre erkennen: an den Religionsstatistiken, an der in allen politischen Parteien wie in der Zivilgesellschaft grassierenden Korruption, an der Verabschiedung von sehr liberalen Gesetzen im Bereich der biomedizinischen Forschung, an der Genderfrage und an der Frage von Anfang und Ende des Lebens. Dazu kommt die Unfähigkeit der Kirche, bei politischen Konflikten wie der katalanischen Frage die Katholiken auf beiden Seiten zu Deeskalation, Versöhnung und Kompromissen auf dem Boden der Verfassung zu bewegen. Volksreligiöse Feste wie Patrozinien oder Prozessionen der Karwoche und zu Fronleichnam erfreuen sich aber zunehmender Beliebtheit, und manche Rathäuser bemühen sich um das Prädikat „geistiges UNESCOWelterbe“, weil dies ja Touristen anlockt. Letztmals konnte die Kirche 2015 im Schatten des Jubiläumsjahres der hl. Teresa von Ávila ihre kulturelle Macht mit Massenevents und Veranstaltungen aller Art (Konzerte, Ausstellungen, Pilgerrouten, interdisziplinäre wissenschaftliche Kongresse unter Beteiligung von Theologen, Literaturwissenschaftlern, Psychologen und Künstlern) demonstrieren, wenn auch mit dem Wermutstropfen, dass Papst Franziskus (aus „Termingründen“, wie es offiziell hieß, in Wirklichkeit aber, weil er sich im Wahlkampfjahr nicht instrumentalisieren lassen wollte) die nachdrücklichen Einladungen des Königs sowie der Bischofskonferenz zu einer Masseneucharistie in Ávila ablehnte. Der Papst, der zur selben Zeit keine Scheu vor politischer Instrumentalisierung in Kuba oder Bolivien hatte, machte den Fauxpas gegenüber Teresa (welch eine verpasste Chance für eine medienwirksame Katechese über das innere Beten!) wieder gut, indem er 2017 dem Bistum Ávila zur Freude der Kirche wie der Tourismusindustrie das Privileg gewährte, künftig alle Jahre, in denen ihr Festtag (15. Oktober) auf einen Sonntag fällt, ein teresianisches Jubeljahr auszurufen: ein heiliges Jahr mehr für ein Spanien, das mit Santiago de Compostela, Santo Toribio de Liébana und Caravaca de la Cruz schon drei davon hatte (absoluter Rekord in der katholischen Welt), die regelmäßig Massen anlocken. Daran sieht man die ungebrochene kulturelle Bedeutung des Katholizismus in Spanien.

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In ihrer Programmatik ist die Bischofskonferenz um eine franziskanische Neuausrichtung im Sinne einer „missionarischen, samaritanischen Kirche“ bemüht, wie sie vom Papst in Evangelii gaudium (2013) erwartet wird. Ausdruck davon ist der Pastoralplan für die Periode 2016-2020, auch wenn der Text kein theologischer Geistesblitz wie Proposer la foi dans la société actuelle (1994) der französischen oder „Zeit zur Aussaat“ (2000) der deutschen Bischöfe ist. Der Plan enthält zwei Teile: eine Analyse des sozialen und kulturellen Kontextes “mit einem mitleidigen Blick” und pastorale Vorschläge für die verschiedenen Jahre. Die Analyse stellt zunächst eher die Negativa fest: den geringen sozialen und ethischen Wert der Religion in der säkularisierten und laizistischen Welt, den Freiheits- und Wohlstandskult, den Subjektivismus und die Diktatur des Relativismus. Es folgen kurzgehaltene nachdenkliche Fragen über die eigenen Versäumnisse, bevor einige positive Aspekte der Welt von heute erwähnt werden, die als „Vorbereitung auf das Evangelium“ verstanden werden könnten: der große Wert der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit, die Solidarität, die Einheit des Menschengeschlechts, die Empörung gegenüber der Ungerechtigkeit und der unerträglichen Armut so vieler Millionen Menschen, das neue ökologische Bewusstsein – im Grunde nichts Neues gegenüber ähnlichen kirchlichen Dokumenten. Die empfohlene pastorale Programmatik reduziert sich auf die Nennung einiger Schwerpunkte, die von den einzelnen Bistümern konkretisiert werden sollen (Delgado 2018). Dass die franziskanische Neuausrichtung die spanische Kirche wirklich erreicht, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es Franziskus gelingt, die Zusammensetzung des Episkopats nachhaltig zu ändern. Unter den aktiven Bischöfen sind bisher nur 25 von ihm ernannt worden, während 26 aus der Zeit Benedikts XVI. und 36 aus der Johannes Pauls II. kommen. Bei den letzten Ernennungen hatte man den Eindruck, dass die von Franziskus kreierten Kardinäle Ricardo Blázquez (Valladolid), Carlos Osoro (Madrid) und Juan José Omella (Barcelona) sich in Rom Gehör verschaffen konnten. Aber sie haben 2021 die Altersgrenze erreicht. Es fällt auf, dass nicht zuletzt in den Bistümern der genannten Kardinäle mehrere franziskanische Weihbischöfe ernannt wurden, die vermutlich später residierende Bischöfe werden sollen. Mit dieser Ernennungspolitik hatte bereits Paul VI. in der Franco-Zeit für Mehrheiten in der Bischofskonferenz im Sinne des neuen Konzilsgeistes gesorgt, wie wir oben gesehen haben. Obwohl Spanien seit 2008 eine Rekordarbeitslosigkeit hat, ist die Stimme der Bischöfe in solchen sozialen Fragen kaum vernehmbar. Die

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knappe, vierseitige Erklärung der Bischofskonferenz vom 27. November 2009 angesichts der „moralischen und wirtschaftlichen Krise“ klang eher wie eine ermahnende Pflichtübung, die keinerlei Lösungen skizzierte. Kein Ruhmesblatt in der Heimat der Schule von Salamanca, die sich um die Fragen von Gerechtigkeit und Recht kümmerte und dabei auch Konkreteres zu sagen wusste. Viel ausführlicher (31 Seiten), kritischer und relevanter fiel der Fastenhirtenbrief „Eine Wirtschaft im Dienst der Menschen. Bekehrung und Solidarität angesichts der Krise“ der Bischöfe des Baskenlandes und Navarras vom 9. März 2011 aus. Dies lässt auf Spannungen, schlechte Koordination und mangelnde Sensibilität in der Bischofskonferenz bei den Fragen der Zeit schließen. Ein anderes Spannungsfeld ist die Einstellung gegenüber den peripheren Nationalismen, die seit dem Übergang zur Demokratie ein ungelöstes Problem geblieben sind – bei einer Verschärfung vor allem der „katalanischen Frage“ in den letzten zwei Jahrzehnten. Kardinal Antonio Cañizares Llovera plädierte im Frühjahr 2006 als Erzbischof Toledos vergeblich für die Verabschiedung eines Dokumentes, in dem die nationale Einheit Spaniens als „vorpolitisches, moralisches Gut“ bezeichnet werden sollte. Stattdessen wurden am 23. November 2006, wie schon erwähnt, „Moralische Orientierungen angesichts der aktuellen Lage Spaniens“ veröffentlicht. Darin wird die Legitimität eines „friedlichen“ Nationalismus verteidigt, der auf demokratischen Wegen die politische Einheit Spaniens verändern möchte, sofern die nationalistischen Positionen das Gemeinwohl aller Menschen berücksichtigen, die direkt oder indirekt davon betroffen sind. Am 21. Mai 2011 haben die katalanischen Bischöfe ein Dokument verlautbart, in dem sie die nationale Identität „ihres“ Volkes anerkennen sowie das Recht verteidigen, alles zu erkämpfen und zu fördern, was nach der Soziallehre der Kirche damit verbunden ist, einschließlich der Frage einer neuen politischen Ordnung der Beziehungen des katalanischen Volkes im aktuellen europäischen Kontext „zu den anderen Brüdervölkern“ Spaniens. Ähnliches war im Zusammenhang mit den Ereignissen von 2017 zu lesen, als die Separatisten in Katalonien ein Referendum organisierten und eine einseitige Unabhängigkeitserklärung proklamierten. Diese kirchlichen Stellungnahmen zeigen indirekt, dass der katholische Glaube als gemeinsame Klammer für die Einheit Spaniens ausgedient hat. An seine Stelle ist aber keine moderne, föderale Willensnation getreten, sondern der Rückzug auf Regionalismen, Separatismen und nationale Identitäten, eine „Kirchturmpolitik“ also.

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5. Die theologische Erneuerung

Seit den fünfziger Jahren promovierte der theologische Nachwuchs nicht nur in Spanien oder in Rom, sondern auch in Paris, Löwen, München, Tübingen, Innsbruck und Fribourg. Er war so in Kontakt mit den n ­ euen theologischen Tendenzen. Auf die spanischen Bischöfe hatte dies zunächst kaum Einfluss. Der Grund liegt nicht zuletzt darin, dass aufgrund des konkordatären Präsentationsrechtes von 1953 die Bischöfe in anderen Sphären als in denen der theologischen Erneuerung gesucht wurden. Erst nach dem Konzil und der damit verbundenen Umgehung des ­Präsentationsrechtes durch die Figur des Weihbischofs stiegen professorale Vertreter der neuen akademischen Theologie in das Episkopat auf. Die spanische Theologie ist außerhalb der spanischsprechenden Welt kaum bekannt. Übersetzungen spanischer Autoren in andere Sprachen sind eher selten. Die autochthone theologische Produktion ist gering (wenn man von den Bereichen Pastoraltheologie, Liturgie und Spiritualität absieht), und die theologischen Verlage füllen ihr Programm nach wie vor mit Übersetzungen ausländischer − auch protestantischer, anglikanischer und orthodoxer − Autoren. Deren Anteil ist nun aber vom Rekord der späten sechziger Jahre weit entfernt, als im Schatten der Krise, die das Konzil für die spanische Theologie bedeutete, über 90 % der in Spanien erschienenen theologischen Bücher Übersetzungen waren (Anfang der 1950er Jahre waren es 25 %), und spanische Theologen kritisch und ironisch zugleich von der theologischen „Unterentwicklung“ Spaniens sprachen, das mit der Schule von Salamanca einst eine führende Rolle in der Kirche spielte! Die meisten spanischen Theologen sind mit dem Entwurf von Lehrbüchern für das Theologiestudium oder mit Beiträgen für Zeitschriften beschäftigt, die eher auf ein breites Publikum hinzielen oder die Weiterbildung der Seelsorger, Ordensleute und Religionslehrer im Sinne haben. Man kann aber die strukturelle Schwäche der spanischen Theologie nicht leugnen: Aufgrund der geringen Besoldung und schlechten Ausstattung an den kirchlichen Fakultäten und Zentren können sich die meisten Professoren nicht voll der Theologie widmen; darunter leidet vor allem die Grundlagenforschung. Zudem denken Bischöfe eher an eine in der spanischen Gesellschaft inkulturierte „Theologie der Verkündigung“ und weniger an eine Theologie, die sich mit den neuen intellektuellen Trends beschäftigt. Einige Theologen denken eher in befreiungs- oder liberaltheologischen Kategorien, werfen Rom vor, den „Geist“ des ­Konzils

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verraten zu haben und wünschen sich ein Vaticanum III, um über den gegenwärtigen „Reformstau“ zu beraten. Die meisten Vertreter dieser Tendenz sind nicht an den von der Kirche kontrollierten Theologischen Fakultäten tätig, sondern in Zentren für Christentums- und Religionsstudien an den staatlichen Universitäten. Aus diesen Kreisen und einigen kritischen, emeritierten Fakultätstheologen ist 1980 die Asociación de Teólogos Juan XXIII entstanden, die sehr gut besuchte öffentliche theologische Wochen- sowie kleinere Fachkolloquien mit großem Echo in den liberalen Medien organisiert. Als Sprachrohr der Reformer gilt u. a. die 1966 gegründete Zeitschrift für kritisches Denken und Christentum Iglesia viva, die eine Theologie im Dialog mit den Kultur-, Politik- und Gesellschaftswissenschaften befürwortet. Die Nicht-Eingliederung in die staatlichen Universitäten wird von vielen Theologen beklagt und als großer Nachteil für das Gespräch mit der heutigen Kultur betrachtet. Die Welle von Neugründungen katholischer Universitäten seit den neunziger Jahren ist ein Zeichen dafür, dass die Bischöfe wohl kaum an eine Rückkehr in die staatliche Universität denken, nachdem sie die Aufhebung der dortigen Theologischen Fakultäten im Windschatten der liberalen Revolution von 1868 bereitwillig hingenommen hatten. Heute besteht eher die Gefahr einer Inflation von kirchlichen Zentren für Theologie, die sich aber weder personell noch materiell mit den Ausstattungen der theologischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum vergleichen lassen. 1970 gab es in Spanien nur zwei volle Theologische Fakultäten (an der Jesuitenuniversität Comillas und an der von der Bischofskonferenz gegründeten Päpstlichen Universität Salamanca). Derzeit gibt es bereits 12 theologische Fakultäten an verschiedenen katholischen Hochschulen, und so gut wie jedes Bistum hat sein Institut für theologische Studien, oft liturgiewissenschaftlich, religionspädagogisch oder pastoraltheologisch ausgerichtet. Ein Kenner der Materie wie González de Cardedal (2015: 1467) hat kritisch angemerkt, dass es in Spanien im Endergebnis keine erstrangigen theologischen Zentren in Lehre und Forschung gebe. Vielmehr wiederhole sich das Drama des 19. Jahrhunderts: „Jeder Bischof versuchte, eine katholische Universität oder eine Theologische Fakultät zu gründen; und als der Heilige Stuhl Kriterien dafür festlegte, konnte sie praktisch keine Institution erfüllen. Heute laufen wir in eine ähnliche Gefahr. Wir machen alle alles, und keiner tut es mit der nötigen Qualität.“

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Wie derselbe Autor geschrieben hat, bedarf die Theologie zum Gedeihen einer doppelten Distanznahme: einerseits gegenüber der herrschenden politischen Macht, damit die nötige staatlich-institutionelle Unterstützung nicht mit dem Verlust der Freiheit bezahlt werde; andererseits aber gegenüber den Bischöfen, damit die selbstverständliche kirchliche Communio und die Anbindung der Theologie an das Lehramt nicht zum blinden Gehorsam oder zu einer „Enzykliken-Theologie“ führe (González de Cardedal 1982). 6. Kirche unter den Bedingungen der Moderne

Die klassischen Phasen der Konzilsrezeption, die man in der Literatur allgemein findet, lassen sich auch in Spanien feststellen: Phase des Überschwangs und des Traums von einer neuen Kirche (1965-1971), Phase des Protestes bzw. der Kontestation (1971-1975, also in den letzten Jahren des Franquismus), Phase des Übergangs (1975-1978), Phase der Restauration (seit 1978, also seit Beginn des Pontifikates von Johannes Paul II.) und schließlich Phase der Neuausrichtung oder des Neuaufbruchs unter Papst Franziskus. Der nachkonziliare Katholizismus ist viel pluriformer als der vorkonziliare. Das kirchliche Leben sowie die Beziehungen von Katholizismus und Gesellschaft sind nach dem Konzil von verschiedenen Spannungen gekennzeichnet, wie jener zwischen der ikonoklastischen Geringschätzung der Volksreligiosität und der Wiederentdeckung derselben. Bis Mitte der achtziger Jahre war bei vielen Priestern und Theologen eine ikonoklastische Absetzbewegung gegen die Volksreligiosität oder den Glauben und die Ausdrucksformen des einfachen Volkes zu beobachten. Danach − sozusagen parallel zur allgemeinen Wiederkehr der Religion und der Transzendenz in der westlichen Welt, aber auch parallel zur Wiederentdeckung der Volksreligiosität als Weisheit des Volkes in der Theologie der Befreiung im Schatten der Bischofskonferenz von Puebla (1979) − ist unter Klerus und Theologen in Spanien eine Trendwende in der Einstellung zur Volksreligiosität zu beobachten. Taufen und Erstkommunionen werden wieder zu einem familiär-sozialen, volksreligiösen Ereignis zur Freude der Restaurants und der anderen Wirtschafszweige, die davon profitieren. Die Wallfahrten (auf dem Jakobsweg in ganz Spanien, auf die Burg des Franz-Xaver in Navarra, nach Montserrat in Katalonien, nach El Rocío in Andalusien usw.: die spanischen Wallfahrtsorte haben in guten Jahren über vierzig

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Millionen Pilger empfangen!) und Prozessionen (Karwoche, Fronleichnam, Patrozinien) gewinnen an Bedeutung, die alten Bruderschaften und Kongregationen werden wieder belebt und neue dazu gegründet, Zeremonien wie die Segnung der Tiere und der Felder oder drei- und neuntägige Andachten zur Verehrung lokaler Heiliger und Madonnen erfreuen sich wieder großer Beliebtheit. Besorgniserregend ist, dass dieses Revival der Volksreligiosität von einer Zunahme der kirchlichen Gleichgültigkeit und einer Abnahme der sakramentalen Praxis allgemein begleitet wird, wie wir an den Statistiken des CIS oben sahen. Aber bei allen Unzulänglichkeiten ist die Volksreligiosität mit ihrer Fähigkeit, die Menschen emotional an die Religion als Teil der eigenen Festkultur zu binden, vielleicht das beste Mittel gegen die Auflösungserscheinungen des Katholizismus in der Moderne. Schismatische Polarisierungen wie der Fall Lefebvre haben auf Dauer in Spanien kaum Boden fassen können. Die wiederholte Wahl eines Gegenpapstes seit 1978 im Dorf El Palmar de Troya bei Sevilla ist eher ein lokaler, skurriler Akt ohne Einfluss auf den Weltkatholizismus und gehört mehr in den Bereich der religiösen Kuriositäten oder Pathologien der conditio humana. Bis Mitte der siebziger Jahre war der konservative, gebildete, romorientierte und puritanische Katholizismus der ultramontanen Zeit vorherrschend. Die politische Neuausrichtung der Kirche unter Tarancón wurde nicht von einem religiösen Wandel bei den praktizierenden Katholiken begleitet. Dies wird erst nach dem Übergang zur Demokratie der Fall sein. Daneben existierte ein Volkskatholizismus, der die sakramentale Praxis und den feierlichen Charakter der religiösen Akte mit einem gewissen „katholischen Antiklerikalismus“ verband, frei nach Miguel de Cervantes, der bekanntlich meinte, dem Pferd solle man von hinten misstrauen, dem Stier von vorne und dem Kleriker von allen Seiten. Angesichts dieses traditionellen Misstrauens ist es wohl kein Zufall, dass bei einer europaweiten Studie 2004 in Spanien der Kleriker ein geringeres Vertrauen genoss als in anderen Ländern Europas. Typisch für den nachkonziliaren Katholizismus sind, außer der schon erwähnten Abnahme der sakramentalen Praxis, die Verschärfung der alten Trennung zwischen Glauben und Leben, das Auftauchen einer dogmen- und kirchenkritischen Haltung, ein weit verbreiteter Analphabetismus in Glaubensfragen, und nicht zuletzt die Tendenz zu einem Christentum à la carte oder nach der Devise „Jesus ja, Kirche und Klerus nein“. Die größte Spannung betrifft aber die sogenannten engagierten Katholiken. Auf der einen Seite stehen die eher befreiungstheologisch oder ­liberaltheologisch orientierten Gruppen mit der bereits genannten

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„­Asociación de Teólogos Juan XXIII“ als Sprachrohr. Sie treten für eine „kritische Kommunion“ mit der Hierarchie ein und wollen eine plurale, soziale und emanzipatorische Kirche, die das Konzil offensiv interpretiert. Konflikte der Kirche mit den demokratischen Regierungen oder der modernen Gesellschaft führen sie eher auf klerikale Machtansprüche zurück. Sie fühlen sich von der Hierarchie zunehmend missachtet und ungehört; sie werfen ihr mangelnden Pluralismus vor; nicht wenige entscheiden sich dann für den stillen Exodus aus der Kirche oder die Distanz zur kirchlichen Institution. Auf der anderen Seite stehen die geistlichen Erneuerungsbewegungen (z.B. der Neokatechumenale Weg um Kiko Argüello), die von vielen Bischöfen zugleich als bevorzugte Träger der Neuevangelisierung betrachtet werden, da sie sich durch eine ausgesprochene Hierarchietreue − auch im Hinblick auf die Interpretation des Konzils − und Missionsdynamik auszeichnen. Sie treten eher für eine klare katholische Identität in der modernen Gesellschaft ein, auch wenn dies die Konfrontation der Kirche mit der Regierung oder dem Zeitgeist zur Folge haben sollte. Sie haben einen hohen Organisationsgrad, bemühen sich um die Gründung von katholischen Bildungsinstitutionen und Massenmedien und verkörpern so in gewissem Sinne eine heutige Version des „Antimodernismus mit modernen Mitteln“, der für den Vereinskatholizismus des Ultramontanismus um 1900 kennzeichnend war. Manche Beobachter sprechen von einem schleichenden pastoralen Schisma, das von oben gefördert wird und die einfachen Katholiken manichäisch in gut oder schlecht teilt, je nachdem ob sie mit den Erneuerungsbewegungen sympathisieren oder nicht. Sie werden als „Wächter der Orthodoxie“ empfunden, die die Erwachsenenkatechese, die Kommunikationsmittel, die akademischen Hörsäle an den theologischen Fakultäten und den katholischen Universitäten, die Priesterseminare, die Weiterbildungszentren, die bischöflichen Ordinariate und auch einige Bischofssitze nach und nach an sich ziehen. In manchen Bistümern hat der Vertreter bestimmter Erneuerungsbewegungen einen größeren Einfluss auf die Pastoral als der Bischof selbst. 7. Ausblick

Walther L. Bernecker hat das Ergebnis der Transición oder des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie in Spanien als die „Gleichziehung der politischen mit der ökonomischen Entwicklung“ (Bernecker 1995: 331) bezeichnet, so dass Spanien die Strukturen der westlichen Welt erhielt.

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Dies gilt auch für den religiösen Bereich. Auch hier hat es eine religionssoziologische Annäherung an die allgemeine westeuropäische Situation gegeben. Was die eingefleischten Laizisten und Antiklerikalen der Vorkriegszeit nicht erreichen konnten, scheint nun der Modernisierungsprozess bewirkt zu haben. Ohne Zerstörung von Kirchen und Klöstern, ohne gewaltsame Eliminierung von Kirchenvertretern hat sich eine religiöse Gleichgültigkeit ausgebreitet, die für die Kirche viel gefährlicher als jeder Antiklerikalismus ist. Dazu kommt seit der Verabschiedung des Gesetzes über die Religionsfreiheit die unerwartete Konkurrenz verschiedener Konfessionen und Religionen, die sich auf die religiöse Neutralität des Staates berufen können. Dieser sollte für faire Rahmenbedingungen für alle sorgen. Mit ihrer konstruktiven Rolle beim Übergang von der Diktatur zur Demokratie hat die Kirche ein „symbolisches Kapital“ erworben, das ihre Glaubwürdigkeit allgemein stärkte. In der Demokratie scheint sie es nun verloren zu haben, so dass sie vielfach in einer Glaubwürdigkeitskrise steckt. Progressive Theologen halten der Kirche vor, sie habe in der Demokratie mit diesem Kapital nicht zu wuchern gewusst und so ihre Rolle als Mentorin des politischen Übergangs eingebüßt. Die Bischöfe selbst, die – wie angesprochen – bei der Krönungsmesse für König Juan Carlos im November 1975 um keinerlei Privileg baten, sondern lediglich „um das Recht, das ganze Evangelium zu verkünden“, fühlen sich von den demokratischen Regierungen, vor allem von den linken, undankbar behandelt. Seit Mitte der 1980er Jahre neigen sie dazu, eher in der laizistischen Politik linker Regierungen als in den eigenen Versäumnissen oder in den Bedingungen der Moderne die Ursache des Glaubwürdigkeits- und Relevanzverlustes des spanischen Katholizismus zu suchen. Es sieht so aus, als habe die spanische Kirche, die sich in den letzten Jahren des Franquismus so klug neu positionierte, ihre Rolle in der Demokratie und der pluralistischen Gesellschaft noch nicht gefunden. Gewiss, die zwei Spanien haben aufgehört, ihre Konflikte gewaltsam auszutragen. Aber zu einer optimistischen Beurteilung der Lage, wie sie Joaquín Ruiz-Giménez 1984 vornahm, als er meinte, die zwei Spanien seien nun endgültig der Versöhnung gewichen, gibt es derzeit wenig Anlass. Die heutige Laizität − zu dem nicht nur die linken Parteien, sondern auch der liberale Flügel der sich auf den „christlichen Humanismus“ berufenden konservativen Parteien gehört − will Kirche und religiöse Menschen nicht mehr offen verfolgen; er begnügt sich damit, den Wirkungsbereich der Kirche und ihrer Moral in der Öffentlichkeit mit demokratisch

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v­ erabschiedeten Gesetzen und mit Hilfe der von ihm kontrollierten Massenmedien zu beschränken. Der spanischen Laizität geht es heute weiterhin um die kulturelle und moralische Hegemonie, aber nicht mehr um eine systematische, frontale Bekämpfung der Religion, die nur die katholischen Massen emotional wachrütteln könnte. Einzelne laizistische Absichtserklärungen linker Regierungen und die manchmal scharfen Reaktionen einiger Bischöfe, die „den Kampf“ aufgenommen haben, deuten darauf hin, dass Spanien sich, was den religiösen Bereich betrifft, immer noch in einer Zeit des Übergangs befindet. Dieser wird erst zu Ende sein, wenn die Kirche die von ihr 1975 selbst erwünschten Bedingungen der Moderne restlos akzeptiert und die Laizisten in allen Lagern jede kulturkämpferische Attitüde des 19. Jahrhunderts endgültig hinter sich lassen. Literaturverzeichnis 21RS (2006): La revista cristiana de hoy, Nr. 890 (Juli 2006). Andrés-Gallego, José/Pazos, Antón M. (1999): La Iglesia en la España contemporánea. Bd. 2: 1936-1998. Madrid: Encuentro. Azaña, Manuel (1966): Obras completas. Vol. 2. Ciudad de México: Oasis. Bernecker, Walther L. (1995): Religion in Spanien. Darstellung und Daten zu Geschichte und Gegenwart. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1992): Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benasuly, Alberto (2006): „Los judíos en la España contemporánea“, in: La nueva realidad religiosa española, 113-129. Cavalli, Fiorello (1948): „La Condizione dei Protestanti in Spagna“, in: La Civiltà Cattolica 99, Bd. 2, 29-47. Chaib Akhdim, Mohammed (2006): „La nueva realidad religiosa española, 25 años de la Ley Orgánica de Libertad Religiosa“, in: La nueva realidad religiosa española (2006), 233-242. Collado Seidel, Carlos (2011): „Der Mythos ‚Franco als Judenretter‘. Die ‚Judenfrage‘ im Zeichen der spanischen Realpolitik während des Zweiten Weltkriegs“, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 5 (2/2011), 80-96. Delgado, Mariano (2018): „Franziskanische Neuausrichtung. Zur Lage der Kirche in Spanien“, in: Herder Korrespondenz (4/2018), 29-32. Díaz-Salazar, Rafael (2007): España laica. Ciudadanía plural y convivencia nacional. Madrid: Espasa-Calpe. Escudero, Mansur (2006): „El Islam, hoy en España“, in: La nueva realidad religiosa española (2006), 159-196.

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Kirche, religiöser Pluralismus und Laizität

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Migration in Spanien zwischen Wirtschaftskrise und Pandemie Axel Kreienbrink Abstract In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten stürzte Spanien im Zuge der weltweiten Finanzkrise in eine tiefe Wirtschaftskrise, die über m ­ ehrere Jahre anhielt und erst nach 2013 einer allmählichen Erholung wich. 2020 wurde das Land wie der Rest der Welt von der Covid-19-Pandemie getroffen. Welche Auswirkungen haben diese Krisen auf Migration und Integration in Spanien gehabt? In der Öffentlichkeit, aber auch in der wissenschaftlichen Analyse, werden Krisen und Migration immer wieder als zusammenhängend betrachtet. Wirtschaftliche oder von Gewalt begleitete Krisen werden mit Abwanderung und Flucht assoziiert, und auf der anderen Seite des Spektrums wird kriseninduzierte Migration in Aufnahmeländern mit gesellschaftlichen Spannungen und Konflikten in Verbindung gebracht. Migrationen in Krisen bedeuten in dieser Perspektive Ausnahmen von einem Normalzustand, die Gesellschaften in einer Spanne zwischen finanziellen Belastungen und empfundener Bedrohung der nationalen Identität durch Zuwanderung herausfordern (Lindley 2014: 1). Politik reagiert darauf, um die Krisen oder ihre Begleiterscheinungen (vermeintlich) in den Griff zu bekommen oder zumindest der heimischen Öffentlichkeit zu beweisen, dass sie Herr der Lage sei. Angesichts der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 wurde schon früh versucht, mit Analysen von historischen Krisen und unter Zuhilfenahme theoretischer Migrationsmodelle abzuschätzen, wie zukünftige Entwicklungen aussehen könnten. Erwartet wurden ein Rückgang von Arbeitsmigration, eine nur eingeschränkte Rück- und Abwanderung und eine Zunahme migrationskritischer Haltungen und restriktiver Politiken (Beets/Willekens 2009). Im Folgenden wird anhand der Entwicklung der Migrationsbewegungen, der Migrationspolitik sowie der gesellschaftlichen Haltungen untersucht, inwiefern solche Erwartungen im Falle Spaniens zutreffend waren.

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Entwicklung der Migrationsbewegungen Einwanderung

Zu Beginn der Wirtschaftskrise wurde von Experten vermutet, dass das Jahr 2008 das Ende eines Jahrzehnts starker Einwanderung, somit einer década prodigiosa in der kurzen Geschichte der Einwanderung in Spanien darstellen könnte (Aja et al. 2008: 11). Seit dem Jahr 2000 waren mehr als vier Millionen Einwanderinnen und Einwanderer nach Spanien gekommen, so dass sich die ausländische Bevölkerung in dieser Zeit mehr als verfünffacht hatte – relativ gesehen die stärkste Zunahme weltweit. Da diese Einwanderung in starkem Maß Arbeitsmigration war, wurde mit dem Absturz der spanischen Wirtschaftsleistung auch ein Ende der Nachfrage nach Arbeitskräften erwartet. Allein zwischen Herbst 2008 und Frühjahr 2009 gingen 1,3 Millionen Arbeitsplätze verloren, was zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit führte, die bei ausländischen Arbeitnehmenden auf 28 % (insgesamt national 18 %) schnellte. Dennoch gingen die Zuwanderungszahlen zunächst nicht so deutlich zurück (Aja et al. 2009: 11 f.). Von 567.400 im Jahr 2008 fielen sie 2009 auf 365.400.1 In den folgenden Jahren der anhaltenden Krise mit steigender Arbeitslosigkeit (Anfang 2013 39 % unter Ausländerinnen und Ausländern, 27 % gesamt) und der Vernichtung von Arbeitsplätzen (4,5 Millionen zwischen 2007 und 2013) erfolgte ein weiteres Abflachen der Zuzugszahlen (2012: 272.500, 2013: 248.300) bei gleichzeitiger Zunahme von Abwanderungen. Aber obwohl spanische Medien den Eindruck erweckten, dass die Einwanderung aufgehört und eine umfangreiche Rück- und Abwanderung eingesetzt hätte (Arango et al. 2016: 16), blieb der Umfang der ausländischen Bevölkerung angesichts anhaltender Zuwanderung in den ersten Jahren der Krise stabil bei 5,7 Millionen und ging erst ab 2013 allmählich zurück auf ca. 4,6 Millionen im Jahr 2016/2017. Aber dieser Rückgang war nur zum Teil mit Rück- und Abwanderungen zu erklären, da sich auch massive Einbürgerungen auf die Zahlen auswirkten. Die Zahlen der nicht in Spanien geborenen Bevölkerung (foreign-born) zeigen entsprechend, dass sich der Rückgang nur im Bereich weniger Hunderttausend von 6,3 Millionen (2009-2012) auf 5,9 bzw. 6,0 Millionen (2014-2017) Personen bewegte. 1

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Die Zahlen zu Migration, Bevölkerung, Arbeitslosigkeit, Einbürgerung etc. sind der INEbase des Instituto Nacional de Estadística entnommen (https://www.ine.es/dyngs/ INEbase/listaoperaciones.htm) und in der Regel gerundet.

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Das heißt, dass die wirtschaftlichen Verwerfungen weniger Einfluss auf die Migrationsbewegungen und die sich im Land befindlichen Eingewanderten hatten, als allgemein angenommen wurde (Mahía 2016: 112). Rückwanderung

Mit dem Einsetzen der Krise stieg die Abwanderung von Ausländerinnen und Ausländern aus Spanien tatsächlich (2008: -255.000, 2009: -344.000, 2010: -363.000), aber erst 2010 kippte der Wanderungssaldo leicht ins Negative (-33.000). Nachdem diese Zahlen 2011 bekannt wurden, richtete sich die öffentliche und vor allem mediale Aufmerksamkeit auf Rückund Abwanderung von Migranten. Sie erschienen als ein völlig neues Phänomen angesichts der jahrelangen Fokussierung allein auf Einwanderung (Aja et al. 2012: 13). Dabei hatten immer schon Eingewanderte das Land wieder verlassen, z. B. unabhängig davon, ob sie ihre Migrationsprojekte erfolgreich beendet hatten oder nicht umsetzen konnten und dann in ihre Herkunftsländer zurückkehrten oder in andere Länder weiterwanderten. Im Zuge der Wirtschaftskrise, die ja in erheblichem Maß eine Beschäftigungskrise war, setzte die Rückwanderung nicht unmittelbar ein, sondern erst mit dem Andauern der Krise und der Erkenntnis, dass eine schnelle Erholung des Arbeitsmarktes nicht zu erwarten und eine Lebensunterhaltssicherung mittelfristig nicht mehr realistisch war (Parella/Petroff 2014: 64). Die offiziellen Abwanderungszahlen stiegen noch bis 2013 (-459.000) ebenso wie der negative Wanderungssaldo (-210.600), um dann im Zuge der langsamen wirtschaftlichen Erholung wieder zurückzugehen, so dass der Saldo bereits 2015 wieder positiv war. Auch wenn die Daten aus verschiedenen Gründen mehr die Tendenz als den exakten Umfang darstellen, lassen sie erkennen, dass neben der Rückkehr oder Weiterwanderung von freizügigkeitsberechtigten rumänischen Staatsangehörigen überwiegend Personen aus Lateinamerika, v. a. aus Ecuador und weiteren Staaten (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Paraguay, Peru und Uruguay), das Land verließen (Resino García et al. 2018: 102). Das Profil der Zurückkehrenden war stärker männlich als weiblich – z. T. in Abhängigkeit von den am stärksten betroffenen, eher männlich geprägten Wirtschaftsbereichen wie dem Bauwesen – und im arbeitsfähigen Alter zwischen 25 und 34 Jahren (Parella/Petroff 2014: 86; Aja et al. 2013: 17).

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Forschungen haben aber gezeigt, dass die Gründe für eine Entscheidung zur Rückkehr nicht allein auf ökonomische Aspekte zurückgeführt werden können. Neben der wirtschaftlichen Lage im Einwanderungsland spielen ebenso eine eventuell veränderte Situation im Herkunftsland sowie persönliche Aspekte eine Rolle (Resino García et al. 2018: 102). Hierzu zählen z. B. die Sorge um Familienmitglieder im Herkunftsland, wie dort zurückgelassene Kinder oder Eltern, für die die Betreuungsverhältnisse ungeklärt sind. Mit der Dauer der Krise und anhaltender Arbeitslosigkeit, ggf. auch bei mehreren Familienmitgliedern, steigt dann die Bedeutung der ökonomischen Gründe. Eine Rückkehrentscheidung wird aber nicht selten hinausgeschoben und Betroffene versuchen mit ­Arbeitslosenhilfe, prekärer Beschäftigung oder Schwarzarbeit die Zeit zu überbrücken. Alternativ werden auch Möglichkeiten einer Weiterwanderung in der Europäischen Union erwogen (Resino García et al. 2018: 103  f., 111  f.). Gegen eine Rückkehr werden immer die Gründe abgewogen, die für das Bleiben sprechen, wie bereits erfolgte Familienzusammenführung, verwandtschaftliche Beziehungen zu spanischen Staatsbürgern (z.  B. durch Heirat), der Erwerb von Wohneigentum in Spanien oder auch der Erwerb der spanischen Staatsbürgerschaft (Resino García et al. 2018: 107). Die spanische Staatsbürgerschaft kann aber auch eine (zeitweise und begrenzte) „Rückkehr“ erleichtern, da die Sicherheit besteht, ohne Probleme wieder nach Spanien einreisen zu können. Dieser Fall war besonders bei lateinamerikanischen Migrantinnen und Migranten zu beobachten – zumal viele von diesen aufgrund bilateraler Verträge in den Genuss einer doppelten Staatsbürgerschaft kommen können. Schließlich gab es aber auch solche Fälle von Rückkehr, in denen die Betroffenen ihr Migrationsprojekt erfolgreich vorangebracht und ausreichend Kapital akkumuliert hatten, um dieses nun im Herkunftsland zu investieren, und die eventuell durch die Krise animiert wurden, einen schon länger bestehenden Rückkehrentschluss umzusetzen. Insofern, so die Feststellung von López de Lera und Pérez-Caramés (2015: 190), lässt sich keine simple Relation zwischen Krise und Abwanderung herstellen, zumal eine Rückkehr häufig nicht den finalen Abschluss eines Migrationsprozesses darstellt. Sie kann auch lediglich eine Phase der Mobilität sein, die in Abhängigkeit der Umstände im Herkunftsland eine erneute Migration nicht ausschließt, was sich sowohl mit Blick auf Migration aus Lateinamerika als auch Rumänien und Bulgarien beobachten ließ (Viruela/Marcu 2015: 54).

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Auswanderung

Ein noch stärkeres mediales Interesse als die Rückkehr von Migrantinnen und Migranten rief ab 2012 die vom Umfang eigentlich geringere Aus- oder Abwanderung von Spanierinnen und Spaniern hervor. In der öffentlichen Wahrnehmung dominierte sie die anderen migrationsbezogenen Entwicklungen, und es entstand ein Eindruck, dass Spanien erneut zu einem Auswanderungsland geworden sei (Aja et al. 2013: 13). Das rief kollektive Erinnerungen an die Zeit von den 1950er bis zu den frühen 1970er Jahren wach, als mehrere Millionen Menschen das Land wegen Armut und auf der Suche nach Arbeit verlassen hatten. Diskussionen drehten sich nun darum, dass die Schwäche der spanischen Wirtschaft, strukturelle Probleme des Arbeitsmarktes und Einsparungen an den Universitäten und in der Forschung überwiegend junge und gut ausgebildete Menschen aus dem Land trieben. Sorgen über die ungewollte Abwanderung von Humankapital wurden auch unter dem Stichwort „brain drain“ (fuga de cerebros) befeuert (González Ferrer/Moreno Fuentes 2017: 448, 452). Arbeitgeberkreise und zeitweise die zu diesem Thema eher zurückhaltende konservative Regierung waren dagegen der Auffassung, dass die Abwandernden eher die Mobilitätschancen, z. B. im Rahmen des europäischen Binnenmarktes nutzen würden (González Ferrer/Moreno Fuentes 2017: 465 f.; Domingo/Blanes 2015: 96). Der tatsächliche Umfang des Phänomens war und ist nicht ohne weiteres zu bestimmen, da die offiziellen Daten nur bedingt aussagekräftig sind. Abwandernde Personen haben sich häufig in Spanien nicht im kommunalen Melderegister (padrón municipal) abgemeldet oder sich im Ausland nicht bei den spanischen Konsulaten registrieren lassen (Bermúdez/ Brey 2017: 86). Unter Berücksichtigung dieser und weiterer Einschränkungen lag die Abwanderung von Personen mit spanischer Staatsangehörigkeit in den Jahren der Wirtschaftskrise immer im mittleren bis hohen fünfstelligen Bereich, während jene von Ausländerinnen und Ausländern immer um ein Mehrfaches größer war. Analysen der Zahlenbasis für den Zeitraum bis 2015 zeigten zudem, dass entgegen dem medial beschworenen Bild eines Exodus gleichzeitig jedes Jahr eine nicht unerhebliche Anzahl spanischer Staatsbürger nach Spanien migrierte, so dass der Saldo in den Jahren 2013 bis 2015 im Schnitt „nur“ bei - 40.000 Personen lag, was kaum 0,1 % der Bevölkerung entsprach. Zudem handelte es sich bei ca. einem Drittel der Abwandernden um nicht in Spanien geborene Personen,

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sondern um Eingebürgerte, die weniger aus- als in ihre Herkunftsländer v. a. in Lateinamerika zurückwanderten. Junge Menschen machten entgegen dem in den Medien vermittelten Bild mit einem knappen Drittel nur einen Teil der Auswandernden spanischer Nationalität aus. Über den Zeitraum der Krise hatte knapp die Hälfte der Auswandernden EU-Staaten zum Ziel, der Anteil der USA ging deutlich zurück, während jener der lateinamerikanischen Staaten wie v. a. Ecuadors deutlich zunahm (Mahía 2016: 115 f.; González Ferrer/Moreno Fuentes 2017: 460-462). Diese Ergebnisse können allerdings durch die Untererfassung, die nach Schätzungen je nach Auswanderungsland und Zeitpunkt zwischen 30 % und 50 % lag, verzerrt sein. Eine weitere Schätzung, die auf Zuzugszahlen spanischer Staatsbürger in wichtigen Zuzugsländern basierte, ließ den Schluss zu, dass die Auswanderung evtl. um das Dreifache größer sei als in den spanischen Statistiken angegeben (González Ferrer/Moreno Fuentes 2017: 456). Aber auch wenn die Auswanderung in den Krisenjahren unzweifelhaft gestiegen ist, war sie dennoch keine mehrheitliche Antwort auf die Arbeitsmarktfolgen der Krise. Ein Vergleich mit den südeuropäischen Staaten, die ebenfalls von den wirtschaftlichen Problemen betroffen waren, zeigt, dass die Auswanderung in Spanien trotz früherem Beginn der Krise vergleichsweise später einsetzte. Basierend auf zusätzlichen Interviews mit qualifizierten Migranten und Migrantinnen wird deutlich, dass die schwindende Erwartung einer Verbesserung der Lage ein ausschlaggebender Faktor für eine Wanderungsentscheidung war (González Enríquez/Martínez Romera 2017: 128, 132). Das Ergebnis war jedoch in vielen Fällen keine dauerhafte Auswanderung, sondern das Nutzen der Möglichkeiten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Bildungsmigration innerhalb der Europäischen Union boten. Die Rückkehr nach Spanien – oder zumindest die Hoffnung darauf – waren dabei einkalkuliert (González Enríquez/ Martínez Romera 2017: 118; Eremenko/Miyar-Busto 2021: 156). Darauf deuten die gestiegenen Zuzugszahlen von Spanierinnen und Spaniern, die nach dem Ende der Krise bis 2019 aus EU-Staaten kamen. Allerdings erfolgte gleichzeitig über die Hälfte der Zuzüge aus Lateinamerika, was für eine internationale und zirkuläre (Arbeits-)mobilität (auch von zuvor Eingebürgerten) spricht.

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Wirtschaftliche Erholung und steigende Zuwanderungszahlen – samt Asyl und irregulärer Migration

Im Zuge der wirtschaftlichen Erholung ab 2014 und der damit einhergehenden Schaffung neuer Arbeitsplätze stiegen auch die Zuwanderungszahlen wieder. Bereits ab 2015 war der Wanderungssaldo bezüglich ausländischer Migration erneut positiv (40.800), 2018 war der Wert der ausländischen Zuwanderung von 2008 erreicht (560.000; 2008: 567.000), der 2019 noch einmal deutlich übertroffen (666.000) wurde. Gleichzeitig sank die jährliche Abwanderung (oder in Teilen Rückkehr) wieder auf das Vorkrisenniveau (2019: -220.000), so dass die ausländische Bevölkerung um 440.000 Personen zunahm. Insgesamt betrug ihre Zahl Anfang 2020 damit 5,43 Millionen Menschen, was bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 47,33 Millionen einem Anteil von 11,5 % entsprach. Parallel dazu rückten nun Migrationsformen in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung, die in den Jahren zuvor vom Umfang her eine eher geringe Rolle gespielt hatten. Zum einen wurde Spanien erstmals zu einem der Top-Zielländer für Asylsuchende in der EU, zum anderen stiegen die Zahlen der irregulären Zuwanderung auf dem Seeweg bzw. über die Grenzen von Ceuta und Melilla deutlich an. Asyl

Spanien war über Jahrzehnte wenig attraktiv für Asylsuchende. Lange war es einfacher gewesen, irregulär im Land zu verbleiben und auf eine Regularisierung zu hoffen, die bis 2005 mehrfach in großem Stil durchgeführt worden war und seitdem in kleinerem Umfang über den Nachweis einer sozialen Integration oder „Verwurzelung“ im Land (arraigo social) möglich war (Kreienbrink 2011; García-Juan 2021). Zudem waren die Asylantragstellung kompliziert und die Anerkennungsquoten gering. Verstärkt durch die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit lagen die Antragszahlen2 von 2009 bis 2012 jeweils um die 3.000 pro Jahr. Danach stiegen sie jedoch in immer größeren Sprüngen über 4.500 (2013), knapp 6.000 (2014) auf knapp 15.000 im Jahr 2015. Das entsprach ca. 2 Zahlen zu Asyl sind den Angaben der Oficina de Asilo y Refugio des spanischen Innenministeriums entnommen und in der Regel gerundet (https://www.interior.gob. es/opencms/es/servicios-al-ciudadano/tramites-y-gestiones/oficina-de-asilo-y-refugio/ datos-e-informacion-estadistica/).

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1 % aller Asylanträge, die 2015 im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ in der Europäischen Union registriert wurden. Auch wenn Spanien davon kaum betroffen war, machte sich die Situation insofern bemerkbar, als erstmals die größten Gruppen unter den Asylsuchenden aus Syrien und der Ukraine stammten (Morgades Gil 2015: 229; Valles Ferrero 2016: 228). Gründe für die im Vergleich zu Deutschland oder Schweden geringe Zahl an Antragstellenden hingen neben den wenig attraktiven Aufnahmebedingungen sicherlich auch damit zusammen, dass es in Spanien noch keine größeren Diasporagruppen aus den Hauptfluchtländern Syrien, Afghanistan oder Irak gab, die als Anziehungspol hätten wirken können (Cosido 2020: 3). Sehr wohl übte das Land aber Anziehung auf Asylsuchende aus Lateinamerika aus, vor allem aus Venezuela, Kolumbien und Honduras. Bereits 2016 stellten Venezolaner und Venezolanerinnen die häufigste Nationalität der gut 16.500 Asylsuchenden, Lateinamerikaner insgesamt machten 36  % aus. Von da an verdoppelten sich die Antragszahlen ungefähr jedes Jahr (2017: 31.740, 2018: 55.750, 2019: 118.500), und der Anteil lateinamerikanischer Antragstellender schoss 2019 bis auf 81 % (2017: 51 %, 2018: 65 %) hoch. Insgesamt hatte sich Spanien mit diesen Zahlen 2019 an die dritte Stelle der Asyldestinationen in der EU geschoben. Wichtige Gründe für diese Entwicklung waren eine sich ständig verschlechternde wirtschaftliche Situation in Venezuela unter Präsident Maduro, anhaltende Gewalt in Kolumbien und die seit Dezember 2015 visumfreie Einreise nach Spanien für Kolumbianer, sowie die unter Präsident Trump verhängten Restriktionen für die in die USA, die auch die Zahlen der sich um Asyl Bewerbenden aus Honduras, Nicaragua, El Salvador und Peru steigen ließen (Mahía 2018: 85 f.). Während jedoch die Anerkennungsquoten für syrische Staatsangehörige noch relativ hoch gewesen waren, wurden die Anträge von lateinamerikanischen Asylsuchenden zu drei Vierteln abgelehnt. Abgelehnte Venezolanerinnen und Venezolaner konnten jedoch ab 2019 zumindest einen befristeten Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erhalten (Garcés-Mascareñas/ Pasetti 2019: 118).

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Irreguläre Migration

Die Zahl irregulärer Einreisen per Boot an den spanischen Küsten und der irregulären Grenzübertritte in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika nahm parallel zur Entwicklung bei den Asylanträgen wieder zu.3 Nach dem letzten Höhepunkt 2006, als weit über 31.000 Menschen auf Booten über die sogenannte westafrikanische Route auf den Kanarischen Inseln anlandeten (39.000 an allen spanischen Küsten) und von der crisis de los cayucos die Rede gewesen war, waren die Aufgriffe deutlich zurückgegangen (2010: 3.600 per Boot/1.500 in den Exklaven). Ab 2014 nahmen sie wieder zu, wobei zunächst Ceuta und Melilla im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit waren, da immer mehr Menschen versuchten, die befestigten Grenzanlagen zu überwinden (2014: 7.500; 2015: 11.600). Sie nutzten dazu gefälschte Papiere, kletterten über die Stacheldrahtzäune oder versuchten, per Boot oder schwimmend die Anlagen an der Küste zu überwinden. Bei den Aufgegriffenen spiegelte sich die Flüchtlingssituation in Europa wider, denn erstmals stellten Personen aus Syrien die Mehrheit, während es in den Jahren zuvor solche aus dem subsaharischen Afrika gewesen waren. In den Folgejahren lagen die irregulären Grenzübertritte in den Exklaven im Schnitt bei ca. 6.500 Personen. Parallel dazu schnellten dafür die Aufgriffszahlen an den Küsten von etwas über 8.000 im Jahr 2016 auf 57.500 zwei Jahre später hoch. Mit einer Gesamtzahl von 64.000 verzeichnete Spanien nach Frontex-Angaben 40% aller irregulären Einreisen in die EU in jenem Jahr (López-Sala 2015: 181; Cortés Maisonave 2019: 132; Cosido 2020: 6). Auf den ersten Blick schien es so, als hätten die zunehmenden Kontrollen auf der ostmediterranen Route zwischen der Türkei und Griechenland ab 2016 und ab 2017 auf der zentralmediterranen Route zwischen Libyen und Italien dazu beigetragen, dass sich die Hauptroute wieder nach Westen verlagerte. Dagegen sprach zumindest in Teilen, dass die Herkunft der Migrantinnen und Migranten sich ebenfalls verändert hatte. Statt aus dem Mittleren Osten stammte die größte Gruppe mit ca. einem Fünftel aus Marokko, gefolgt von Nationalitäten aus dem subsaharischen Afrika (Guinea, Mali, Côte d’Ivoire). Die Motive für diese Migration, z. B. aus Marokko, waren vielfältig: die Ankündigung der Wiedereinführung des verpflichtenden Militärdienstes, eine Trockenheit 3

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Zahlen zur irregulären Migration sind den Balances e Informes des spanischen Innenministeriums entnommen und in der Regel gerundet (http://www.interior.gob.es/ prensa/balances-e-informes/balances-e-informes).

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2017 mit Folgen für die Landwirtschaft, die Unterdrückung von Protesten in der Rif-Region und eine zunehmende Perspektivlosigkeit bei der jungen Bevölkerung (González Enríquez 2019: 7; González García 2019). Infolge intensiver Kontrollmaßnahmen in Kooperation mit Marokko gingen die irregulären Einreisen über See 2019 um mehr als die Hälfte wieder zurück. Auch wenn die Zahlen im Vergleich zur regulären Zu- und Abwanderung gering erscheinen mochten, riefen sie in den Medien und der öffentlichen Diskussion größte Aufmerksamkeit hervor. Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Migration

2020 wurde das Land wie der Rest der Welt vom SARS-CoV2-Virus und der Covid-19-Pandemie getroffen, die durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erhebliche Auswirkungen auf die interne und die grenzüberschreitende Mobilität und damit die Wirtschaft (Dienstleistungen, Tourismus, Transport, etc.) mit sich brachten. Bereits zur Jahresmitte 2020 waren 1,36 Millionen Arbeitsplätze weggefallen. Gleichzeitig stieg die registrierte Arbeitslosigkeit jedoch nur in geringem Maß, da Spanien ähnlich wie Deutschland eine Kurzarbeitergeld-Regelung (Expedientes de regulación temporal de empleo, ERTE) zur Anwendung brachte. Dennoch verloren ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überproportional häufiger ihre Arbeit als spanische, so dass ihre Arbeitslosenquote Mitte 2020 bei 24,9 % lag, im Vergleich zu 13,9 % bei Spaniern (Mahía 2021: 70-72). Bis Ende 2020 stiegen die Werte noch weiter auf 26,6 % bzw. 14,5 %, wobei unter den ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern junge Menschen unter 25 Jahren und dort nochmal Frauen besonders betroffen waren. Diese Entwicklung hatte die gleichen strukturellen Ursachen wie in der Wirtschaftskrise ein Jahrzehnt zuvor, da auf dem spanischen Arbeitsmarkt ausländische Arbeitnehmende stärker in der informellen Wirtschaft beschäftigt waren, häufiger nur kurz befristete Verträge hatten und in größerem Umfang in krisengebeutelten Wirtschaftsbereichen arbeiteten (Mahía 2021: 74). Die Mobilitätsbeschränkungen nach außen wie auch im Innern des Landes machten zudem deutlich, wie stark verschiedene Wirtschaftsbereiche von saisonaler Migration abhängig waren, wie z. B. die intensive Landwirtschaft. Mit der Schließung der Grenzen konnten (nicht nur in Spanien) keine ausländischen Saisonarbeitskräfte auf die Felder gelangen,

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jene die aufgrund früher Kampagnen bereits im Land waren, konnten nur in sehr geringem Maß nach Ende der Arbeit zu anderen Erntekampagnen wechseln, aber auch nicht in die Heimatländer zurückkehren. Dies führte zu teils sehr schwierigen Situationen der Immobilisierung ohne Einkommen, vernünftige Unterkunft, medizinische Versorgung und Unsicherheit über die weitere Entwicklung (Garcés-Mascareñas/Güell 2021: 92 f.). Die grenzüberschreitende Mobilität ging durch die weltweit verhängten Beschränkungen deutlich gegenüber dem Vorjahr zurück. Hatte die gesamte (ausländische und spanische) Zuwanderung 2019 noch einen Rekordwert von 750.500 Personen umfasst, ging sie 2020 um 38 % auf 465.700 zurück. Parallel dazu sank die Abwanderung um 16 %. Analog dazu ging die Zahl der Asylantragstellenden zum ersten Mal seit 2012 zurück (-25  %), lag aber immer noch bei 88.800 (63  % aus Venezuela und Kolumbien, 87 % insgesamt aus Lateinamerika), was den zweithöchsten Wert in der EU hinter Deutschland ausmachte. Bei dieser Gruppe wirkte sich die pandemiebedingt eingeschränkte und verlangsamte Tätigkeit der zuständigen Verwaltungen besonders aus, da Asylbewerberinnen und -bewerber erst nach einer formellen Antragstellung eine Unterkunft im staatlichen Aufnahmesystem und eine Arbeitserlaubnis erhalten konnten (Mahía 2021: 79). Die Zahlen für die ersten drei Quartale des Jahres 2021 zeigten einen weiterhin rückläufigen Trend (42.000), wobei sich auch die Struktur der Herkunftsländer veränderte. Personen aus Lateinamerika machten nun nur noch weniger als die Hälfte der Antragstellenden aus, während der Anteil von Personen aus Afrika, vor allem Marokko, Mali und Senegal (zusammen über 26 %), deutlich zugenommen hatte. Entgegen diesen rückläufigen Trends nahm die irreguläre Migration zu. Die Aufgriffe an den spanischen Küsten stiegen gegenüber 2019 um über 50 % auf über 40.000. Über die Hälfte davon entfiel auf die Kanarischen Inseln (+750 % zum Vorjahr), was eine Reaktivierung der atlantischen Route bedeutete. Diese Situation führte im letzten Quartal 2020 aufgrund überlasteter Aufnahmekapazitäten auf den Inseln zu humanitären Problemen bei gleichzeitiger Weigerung der Zentralregierung, die Ankömmlinge auf die Halbinsel zu verlegen. Angesichts der Bilder vom überfüllten Kai im Hafen von Arguineguín auf Gran Canaria war in nationalen und internationalen Medien vom „Kai der Schande“ die Rede (Arango et al. 2021: 22 f.). 2021 setzte sich die Zunahme der illegalen Einreisen auf dem Seeweg mit Fokus auf die Kanarischen Inseln vor allem in der

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ersten Jahreshälfte weiter fort. Demgegenüber waren durch die vielfältigen Grenzschließungen auch auf dem afrikanischen Kontinent die Zahlen in den Exklaven Ceuta und Melilla 2020 deutlich zurückgegangen. Im Mai 2021 jedoch stürmten ca. 8.000 Menschen – mit offensichtlicher Billigung Marokkos – die Grenzanlagen von Ceuta zu Land und zu Wasser. Sie wurden jedoch ganz überwiegend aufgegriffen und umgehend zurückgewiesen (Garcés-Mascareñas 2021). Aktuelles Profil der Migrantinnen und Migranten in Spanien

Der Bestand der ausländischen Bevölkerung in Spanien nach den letzten Zahlen für Anfang 2020 betrug 5,43 Millionen.4 Davon stammten 40,1 % aus europäischen Herkunftsländern (bzw. 34,6 % aus der EU)5, 28,6  % aus Amerika (bzw. 27,2  % aus Lateinamerika), 22  % aus Afrika und 9,2 % aus Asien. Die zehn wichtigsten Herkunftsländer, aus denen insgesamt knapp drei Fünftel aller Ausländerinnen und Ausländer stammten, waren Marokko (865.900 bzw. 15,9 %), Rumänien (667.400 bzw. 12,3 %), Kolumbien (273.000 bzw. 5,0 %), Vereinigtes Königreich (262.900 bzw. 4,8 %). Italien (252.000 bzw. 4,6 %), China (232.800 bzw. 4,3 %), Venezuela (189.100 bzw. 3,5 %), Ecuador (130.900 bzw. 2,4 %), Bulgarien (122.400 bzw. 2,3  %) und Honduras (121.900 bzw. 2,2  %). Im Vergleich zu der Zeit vor der Wirtschaftskrise (vgl. Kreienbrink 2008: 244-247) ist die Gesamtzahl der Personen um ca. 20 % oder 900.000 gestiegen. Die Verteilung nach Herkunftsregionen hat sich wiederum nur wenig verändert: So ist z. B. der relative Anteil von Lateinamerika um sieben Prozentpunkte gesunken, während die Anteile von Afrika und Asien leicht gestiegen sind. Dies ist vor allem auf statistische Effekte zurückzuführen, da es im betrachteten Zeitraum zu einer erheblichen Anzahl von Einbürgerungen (ca. 1,5 Millionen zwischen 2008 und 2020) besonders von lateinamerikanischen Staatsbürgern gekommen ist. Entsprechend betrug Anfang 2020 die Zahl der nicht in Spanien geborenen Bevölkerung sieben Millionen, was etwas über 15 % der Gesamtbevölkerung entsprach. Dies zeigt, dass die spanische Bevölkerung vielfältiger und diverser als zwei Jahrzehnte zuvor geworden ist. 4 5

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Die vorläufigen Zahlen für den 1. Januar 2021 zeigen nur einen Rückgang von weniger als 0,5 %. Noch inkl. dem Vereinigten Königreich.

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Der politische und rechtliche Umgang mit Migration

Die spanische Migrationspolitik mit ihren Schwerpunkten Steuerung legaler Migration, Bekämpfung irregulärer Migration und soziale Integration von Ausländerinnen und Ausländern (s. u.) war um 2000 herum eine politische Schlüsselfrage gewesen. Das neue „Gesetz über die Rechte und Freiheiten der Ausländer und ihre soziale Integration“ (Ley Orgánica 4/2000 – oder auch Ley de Extranjería) war umkämpft und wurde von der konservativen PP-Regierung mehrfach verschärft. Nach dem Wahlsieg des Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero 2004 bemühte sich die PSOERegierung um Konsens und Kooperation mit den Sozialpartnern, und der Fokus auf Integration überlagerte Fragen von Sicherheit und Kontrolle (Kreienbrink 2008: 251-253). Der hier betrachtete Zeitraum vom Beginn der Wirtschaftskrise 2008 über die Erholung bis zur Covid-19-Pandemie 2020/21 war politisch gekennzeichnet durch sechs Wahlen auf nationaler Ebene und zwei Regierungswechsel. 2011 ging die Regierungsverantwortung vom Sozialisten Rodríguez Zapatero auf den Konservativen Mariano Rajoy (PP) über, der wiederum 2018 von Pedro Sánchez (PSOE) abgelöst wurde. Die Frage ist, inwiefern und wie die Migrationspolitik der wechselnden Regierungen von den Krisen beeinflusst wurde. Die Regierung Rodríguez Zapatero (2008-2011)

Zu Beginn der Wirtschaftskrise ergriff die sozialistische Regierung verschiedene Maßnahmen, um den Zugang zum Arbeitsmarkt über die Anwerbung im Ausland und Arbeitskräftekontingente zu beschränken und gleichzeitig die Rückkehr vor allem von arbeitslosen ausländischen Arbeitskräften zu fördern. Aber da die verschiedenen Maßnahmen in beiden Bereichen nur Wirkungen im niedrigen fünfstelligen Bereich entfalteten, waren sie angesichts der Wanderungs- und Arbeitslosenzahlen wenig relevant. Dabei waren die Erwartungen zumindest bei den Rückkehrprogrammen größer gewesen, bis zu einer Million potenzielle Rückkehrende waren kalkuliert worden. Die Programme zur Rückkehrförderung warben damit, dass Rückkehrende sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten in ihren Herkunftsländern suchen sollten, wozu sie sich ihre erworbenen Ansprüche auf Arbeitslosengeld auszahlen lassen konnten. Die Programme wurden jedoch nicht in der Breite angenommen. Das Programa de retorno voluntario

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de atención social, das sich an sozial Schwache ohne Einkommen richtete, die mit Reisekosten unterstützt wurden, nahmen von 2009 bis 2012 nur knapp 10.000 Personen wahr. Das Programa de ayudas complementarias al abono acumulado y anticipado de la prestación contributiva por desempleo, das sich nur an Drittstaatsangehörige mit Anspruch auf Sozialleistungen richtete und deren Herkunftsländer ein Sozialversicherungsabkommen mit Spanien geschlossen hatten, nutzten im gleichen Zeitraum ebenfalls nur gut 10.000 Personen, überwiegend aus Lateinamerika. Dieser relative Misserfolg lag unter anderem daran, dass viele Migranten die Situation in Spanien immer noch besser einschätzten als in ihren Herkunftsländern. Zudem waren viele der Arbeitslosen erst seit wenigen Jahren in Spanien, so dass die Höhe der Ansprüche nicht übermäßig groß war. Schließlich verloren sie bei Inanspruchnahme der Maßnahmen ihren Aufenthaltstitel in Spanien und mussten sich dazu verpflichten, in den nächsten drei Jahren nicht nach Spanien zurückzukehren. Vor diesem Hintergrund wogen viele die Vor- und Nachteile einer Rückkehr sehr genau ab (Kreienbrink 2009: 280 f.; Parella/Petroff 2014: 75-78). Auch die Reform der Ley de Extranjería im Jahr 2009, die die Rechtslage ausdrücklich an die neue Migrationsrealität anpassen sollte, führte nicht zu grundlegenden Änderungen. Vielmehr setzte sie notwendig gewordene Anpassungen um. Zum einen hatte das Verfassungsgericht 2007 die Beschränkung der Ausübung des Versammlungs-, Vereinigungs-, Gewerkschafts- und Streikrechts auf regulär aufhältige Personen für teilweise verfassungswidrig erklärt. Diese Einschränkung, die die konservative PPRegierung 2000 mit der ersten Gesetzesreform eingeführt hatte, wurde zurückgenommen. Zum anderen mussten mehrere europäische Richtlinien (u. a. zum Daueraufenthalt in der EU, zu Opfern von Menschenhandel, zu Studierenden und Forschenden sowie zur Rückführung) in spanisches Recht umgesetzt werden. Schließlich waren auch noch Anpassungen an die Autonomiestatute von Andalusien und Katalonien notwendig (vgl. Kreienbrink 2009: 288 f.). Neue Regelungen betrafen zudem die längere Inhaftnahme von irregulär aufhältigen Migranten und Wiedereinreisesperren für abgeschobene Personen, strengere Erfordernisse für den Familiennachzug, die automatische Vergabe von Arbeitsgenehmigungen an Ehegatten und Kinder im arbeitsfähigen Alter, die Erweiterung des Rechts auf Ausbildung für Kinder bis zum 18. Geburtstag (Aja et al. 2009: 15; Aja 2010). Insofern führte das Gesetz die bisherige Regierungspolitik von Sanktionen gegen irreguläre Migration bei gleichzeitiger Ermöglichung

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von Integration für Ausländerinnen und Ausländer durch Vereinfachungen des Arbeitsmarktzugangs und des Zugangs zu Bildung fort und war kein Reflex auf die erschwerten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Kreienbrink 2009: 291). Auch die Verabschiedung der ausführlichen Durchführungsverordnung zum Gesetz Anfang 2011 (Montilla Martos et al. 2012) gab dahingehend keine Impulse. Die Abwehr irregulärer Migration vom afrikanischen Kontinent blieb auch in der externen Dimension der Migrationspolitik relevant. Die Regierung setzte die nach den Erfahrungen der starken irregulären Zuwanderung 2006 begonnene intensive Zusammenarbeit mit dem Nachbarn Marokko und mit Staaten im subsaharischen Afrika (Ghana, Mauretanien, Niger, Guinea-Bissau, Cabo Verde, Guinea, Senegal, Gambia, Mali) weiter fort. Die diplomatische Aktivität vor Ort wurde verstärkt, es wurden weitere Abkommen über die Rückführung irregulär eingewanderter Migrantinnen und Migranten sowie zur Zusammenarbeit in Migrationsfragen geschlossen, die unter anderem praktische Aspekte der polizeilichen Zusammenarbeit an Land und auf See betrafen. Eingebettet waren diese Maßnahmen in ein breiteres Programm, das diverse Facetten der Entwicklungszusammenarbeit umschloss: der sogenannte Plan África von 2006, der 2009 eine erweiterte Neuauflage erlebte. Diese pragmatisch-flexible Herangehensweise Spaniens, Migrationskontrolle jenseits der Grenzen der EU zu externalisieren, war nach Auffassung verschiedener Experten ein Vorbild für den weiteren Umgang der EU mit irregulärer Migration (Gabrielli 2017: 129-133; González Enríquez et al. 2018: 16). Die Regierung Rajoy (2011-2018)

Nach der Übernahme der Regierungsverantwortung durch den Partido Popular unter Mariano Rajoy Ende 2011 erfolgten keine neuen Regelungsimpulse für die Steuerung der Zuwanderung. Legale Zuwanderung wurde unabhängig von der sich zeitweise weiter verschärfenden Wirtschaftskrise eher als Verwaltungsthema behandelt, womit auf diesem Feld weitgehende Kontinuität herrschte (Arango et al. 2017: 22 f.). Die grundsätzlich geringere Aufmerksamkeit wurde auch auf organisatorischer Ebene deutlich, indem das bisherige Ministerium für Arbeit und Einwanderung zu einem Ministerium für Beschäftigung und soziale Sicherheit wurde und das Thema Migration nicht mehr durch ein eigenes Staatssekretariat innerhalb des

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Ministeriums repräsentiert wurde (Aja et al. 2013: 19 f.). Ab 2016 hing die geringe Tätigkeit außerdem damit zusammen, dass die Regierung fast das gesamte Jahr nur geschäftsführend im Amt war und anschließend als Minderheitsregierung agieren musste. Während die nachrangige politische Behandlung des Themas Einwanderung angesichts zurückgehender Zahlen gerechtfertigt erscheinen mochte (Mahía 2016: 114), blieb die Regierung Rajoy auch beim Thema Auswanderung trotz medialer Aufgeregtheit zurückhaltend. Grundsätzlich waren spanische Bürgerinnen und Bürger im Ausland (v. a. in Lateinamerika) politisch von Interesse, da sie bei den nationalen und regionalen Wahlen stimmberechtigt sind. Zuletzt hatte die Regierung Zapatero 20042008 gesetzliche Regelungen auf den Weg gebracht, die die sozialen und kulturellen Rechte von spanischen Auswanderern stärken, die Gründung von Vereinigungen von Spaniern im Ausland fördern und Möglichkeiten für Ausbildung und Partizipation ausbauen sollten (Bermúdez/Brey 2017: 92). Mit dem Aufflammen der öffentlichen Debatte über die Auswanderung von Spanierinnen und Spaniern im Zuge der ­Wirtschaftskrise ab 2012 versuchte die konservative Regierung zunächst eine positive Rahmung, indem sie das Phänomen hinsichtlich des Umfangs und der Auswirkungen relativierte (was den Tatsachen entsprach) und in einen Kontext von normaler Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU und darüber hinausstellte. Auch auf mögliche positive Auswirkungen für Spanien durch eine spätere Rückkehr von besser ausgebildeten Migrantinnen und Migranten wurde abgehoben. Opposition, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft wandten sich jedoch sehr scharf gegen solche Interpretationen, so dass die Regierung in Reaktion darauf auf weitere Kommunikation zu dem Thema weitgehend verzichtete (González Ferrer/Moreno Fuentes 2017: 465 f.; Bermúdez/Brey 2017: 93). Ein deutlicheres Engagement zeigte die Regierung bei ihrem strikteren Vorgehen gegen irregulär aufhältige Migrantinnen und Migranten. Größere politische Auseinandersetzungen rief in diesem Zusammenhang 2012 die Rücknahme des Rechts auf kostenlose Gesundheitsversorgung für diesen Personenkreis hervor. Seit Inkrafttreten der Ley de Extranjería im Jahr 2000 hatten Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, die aber in den lokalen Melderegistern (padrón municipal) registriert waren, diesen Anspruch. Während die Zentralregierung hohe Kosten und einen angeblichen „Gesundheitstourismus“ als Argumente ins Feld führte, sahen soziale Organisationen, Ärzteverbände und verschiedene ­Regionalregierungen

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durch den Ausschluss Risiken für die öffentliche Gesundheit und die Überlastung von Notaufnahmen in Krankenhäusern. Schätzungen sprachen von über 800.000 Menschen, die aus der Regelversorgung herausgefallen waren. Einige Regionalregierungen beschlossen daraufhin, die Gesundheitsversorgung auf ihrer Ebene weiterzuführen, wurden deswegen aber z. T. von der Zentralregierung verklagt. Die ihrerseits vom Parlament von Navarra verklagte Zentralregierung wurde in ihrer Position 2016 vom Tribunal Constitucional bestätigt (Aja et al. 2013: 21; Moreno Fuentes 2015; Montilla Martos et al. 2017: 110-112). Auch hinsichtlich der externen Dimension der Migrationspolitik mit dem Fokus Verhinderung irregulärer Zuwanderung herrschte weitgehende Kontinuität. Die enge Zusammenarbeit mit den afrikanischen Staaten wurde aufrechterhalten, auch wenn in den ersten Jahren die irreguläre Migration zurückging. Als Ende 2013/2014 die irregulären Einreisen in Ceuta und Melilla und dann auch an den Küsten etwas zunahmen, beherrschte das Thema die Medien und die politische Debatte (López-Sala 2015: 173; Gabrielli 2017: 134). Umstritten waren insbesondere die unmittelbaren Zurückweisungen an den Grenzen von Ceuta und Melilla, in denen Kritiker eine Verletzung von Menschenrechtsgarantien sahen, da die Betroffenen keine Gelegenheit auf Einspruch oder Asylantragstellung hatten. Als Reaktion wurde Anfang 2015 mit dem Gesetz über die Sicherheit der Bürger (Ley Orgánica 4/2015) eine Zusatzbestimmung in die Ley de Extranjería aufgenommen, die diese Praxis legitimierte (González García 2019: 216-219; Valles Ferrero 2016: 240). 2015 wurde auch das Thema Asyl und humanitäre Aufnahme virulent. Dabei war Spanien trotz einer gewissen Steigerung der Asylantragszahlen nicht von der massiven Flüchtlingszuwanderung betroffen, die die Situation in Südost- und Mitteleuropa 2015/2016 prägte. Im Zuge der von der Europäischen Kommission angestoßenen Umverteilung (Relocation) von 160.000 Geflüchteten aus Italien und Griechenland hatte sich Spanien nach einigem Zögern 2015 bereit erklärt, gut 17.000 Menschen aufzunehmen. Zwei Jahre später war diese Quote aber gerade einmal zu gut 11 % erfüllt (Garcés Mascareñas/Moreno Amador 2019: 7 f.; Montilla Martos et al. 2017: 110). Trotz dieser Zahlen war das spanische Aufnahmesystem überlastet. Während das Asylverfahren vom Innenministerium verantwortet wurde, oblag die Unterbringung dem Ministerium für Beschäftigung und Soziale Sicherung, das die Aufgabe an zivilgesellschaftliche Organisationen ohne weitere Beteiligung regionaler oder kommunaler

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Verwaltungen delegiert hatte. Mit der sukzessiven Steigerung der Asylantragszahlen von knapp 15.000 im Jahr 2015 auf 55.750 im Jahr 2018 wurde die Zahl der Aufnahmeplätze im gleichen Zeitraum erhöht – von 900 auf knapp 9.000. Parallel hierzu schufen Autonome Gemeinschaften und Kommunen aus eigenem Antrieb Unterbringungsmöglichkeiten in Erwartung der Geflüchteten, die im Rahmen der Relocation eintreffen sollten. Als diese ausblieben, boten sie die Unterkünfte jenen an, die das staatliche Unterbringungssystem bereits durchlaufen hatten und keine Folgeunterbringung finden konnten (Garcés Mascareñas/Moreno Amador 2019). Die Dysfunktionalitäten des spanischen Asylsystems hatten auch damit zu tun, dass das Asylgesetz, das 2009 angepasst worden war, um nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof diverse europäische Richtlinien6 und damit die erste Phase des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) umzusetzen, bis dato trotz verschiedener Anläufe keine neue Durchführungsverordnung erhalten hatte (Valles Ferrero 2016: 231). Das führte dazu, dass die Durchführungsverordnung von 1995 (RD 203/1995) weiter Gültigkeit hatte, was die praktische Durchführung verschiedener Verfahren, z. B. beim Familiennachzug zu anerkannten Geflüchteten, bei Verfahren an der Grenze und in Aufnahmezentren sowie im Umgang mit vulnerablen Geflüchteten, erschwerte (García Vitoria 2018: 118). Die Regierung Sánchez (seit 2018)

Nachdem es dem Sozialisten Pedro Sánchez Mitte 2018 gelungen war, die Regierung Rajoy mit einem Misstrauensvotum im Parlament abzulösen, schien die neue Regierung zunächst Migrationspolitik deutlich aktiver zu betreiben. Auf der organisatorischen Ebene wurden das zuständige Ministerium wieder als Ministerium für Arbeit, Migrationen und Soziale Sicherung bezeichnet und das Thema erneut auf der Ebene eines Staatssekretariats repräsentiert. Ebenso wurde unmittelbar nach dem Regierungsantritt der umstrittene Ausschluss irregulär aufhältiger Personen von der kostenlosen Gesundheitsversorgung zurückgenommen. Weiterhin wurde kurz darauf, zusammen mit weiteren Richtlinien, auch die europäische 6

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Dabei handelte es sich um die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG, die ­Aufnahmerichtlinie 2003/9/EG, die Verfahrensrichtlinie 2005/85/EG sowie Teile der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG.

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Richtlinie zu Einreise und Aufenthalt für Forschende und Studierende (RL 2016/801/EU) in spanisches Recht umgesetzt. Gleichwohl blieb die legislative Tätigkeit der neuen Regierung trotz heftiger Debatten um Asyl und irreguläre Migration überschaubar. Das hing unter anderem damit zusammen, dass die Regierung bis zu den Neuwahlen im April 2019 eine Minderheitsregierung im Übergang war und anschließend bis zu den erneuten Wahlen im November 2019 nur geschäftsführend agieren konnte (Arango et al. 2018: 20; Arango et al. 2019: 25 f.). Aufmerksamkeit erregte die Regierung Sánchez im Juni 2018, indem sie die Genehmigung zum Anlegen des von der Hilfsorganisation SOS Méditerranée gecharterten Rettungsschiffs Aquarius mit über 600 im Mittelmeer geretteten Migrantinnen und Migranten gab. Die Regierung positionierte sich damit bewusst als toleranter Gegenpol in Sachen ­Migration gegenüber Italien, das mehreren Rettungsschiffen das Anlegen in seinen Häfen verwehrte. Diese Aktion sollte aber eher eine Ausnahme und keine Neuorientierung der spanischen Asyl- und Aufnahmepolitik bedeuten. Weder wurden die von den Booten Aufgenommenen noch die Migranten, die in drastisch steigenden Zahlen über das Mittelmeer auf die spanische Halbinsel oder über den Atlantik auf die Kanarischen Inseln übersetzten, als Flüchtlinge nach dem Asylgesetz behandelt, sondern nach den Regelungen der Ley de Extranjería als irreguläre Wirtschaftsmigranten. Ebenso wurde wie in der Vergangenheit die überwiegende Zahl der 600 subsaharischen Migranten, die im Juli 2018 die Zaunanlagen von Ceuta überwunden hatten, ohne Verfahren nach Marokko abgeschoben (Amat i Puigsech/Garcés-Mascareñas 2018: 15; D’Angelo 2018: 43). Da die Zunahme der irregulären Migration die innenpolitische Debatte über Grenzsicherheit erneut befeuerte, baute die Regierung die Zusammenarbeit vor allem mit Marokko aus, unter anderem mit einem weiteren Abkommen zur Bekämpfung irregulärer Migration Anfang 2019. Außerdem wurden die Koordination mit den weiteren afrikanischen Partnern, aber auch innerhalb der eigenen Sicherheitsarchitektur, die Kommunikation und die eigenen Kontrollen auf See intensiviert. Zumindest kurzfristig gingen in der Folge zum ersten Mal seit Jahren die Aufgriffszahlen zurück (Arango et al. 2019: 27). Mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie waren vor allem Praxisprobleme der ausländischen Bevölkerung zu lösen, die sich angesichts des verhängten Lockdowns ab März 2020 aus der temporären Einstellung der Arbeit vieler Verwaltungen und der Umstellung auf Onlineverfahren

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ergab. Es gab kaum Termine für persönliche Vorsprachen, Onlinedienstleistungen waren teils überlastet, notwenige Bescheinigungen wurden nur verspätet ausgestellt. Davon betroffen waren Verfahren zur Verlängerung von befristeten Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, für den Familiennachzug oder zur Regularisierung von irregulärem Aufenthalt. Um es nicht zu existenziellen Problemen kommen zu lassen, ermöglichte die Regierung eine zeitweise Verlängerung von Aufenthaltstiteln mit geringeren Anforderungen. Der von einer Gruppe von oppositionellen Abgeordneten vorgelegte Entschließungsantrag, irregulär aufhältige Personen über die existierenden Möglichkeiten hinaus umfänglich zu regularisieren, wurde dagegen vom Parlament mit den Stimmen von Regierung und konservativer Opposition Ende September 2020 abgelehnt (Mahía 2021: 77 f.; Perna/Moreno Fuentes 2021: 124). Ähnlich wie in anderen Staaten der EU führten die pandemiebedingten Mobilitätsbeschränkungen zu einem Mangel an Saisonarbeitskräften und damit zu Risiken für das Einbringen von Ernten. Hier reagierte die Regierung mit einer Verordnung, die es erlaubte, die Entlohnung für landwirtschaftliche Arbeiten auch neben dem Bezug von Arbeitslosengeld zu erlauben, um Arbeitslose und Personen in Kurzarbeit, unabhängig davon ob Einheimische oder Ausländer, zur Arbeit zu motivieren. Zudem erhielten unbegleitete Minderjährige ohne Aufenthaltsrecht mit dem 18. Geburtstag eine Arbeitsgenehmigung (González Enríquez 2020: 6 f.). Für den Bereich Asyl, der angesichts der starken Zunahme der Asylantragszahlen (2018: 55.749, 2019: 118.264) und der anhaltenden Dysfunktionalitäten sowohl hinsichtlich der Verwaltungsverfahren als auch der Aufnahmekapazitäten komplett überlastet war, kündigte die Regierung Sánchez 2020 eine Reform des Asylsystems an. Während das ­neugeschaffene Ministerium für Inklusion, Soziale Sicherheit und Migrationen die Aufnahmekapazitäten erhöhen und den Umgang mit vulnerablen Gruppen verbessern sollte, strebte das Innenministerium eine Verkürzung der Verfahrensdauern an. In diesem Zusammenhang gelang es erstmals, über 116.600 Verfahren abzuschließen und die Zahl der anhängigen Verfahren zu reduzieren. Zudem sollte in Kooperation mit den Autonomen Gemeinschaften die Integration von Schutzberechtigten gefördert werden (Arango et al. 2021: 26). Das erneute Ansteigen der irregulären Migration im Jahr 2020 trotz der Pandemie, besonders mit Blick auf die Kanarischen Inseln, zeigte den begrenzten Erfolg der im Vorjahr intensivierten Kontrollmaßnahmen und die Abhängigkeit von den Partnern in Nord- und Westafrika. Die

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­ bhängigkeit und auch den strategischen Einsatz von Migration, um anA dere politische Ziele zu erreichen, erlebte Spanien im Mai 2021. In einer Nacht überwanden mehr als 8.000 Personen in einer konzertierten Aktion die Grenzanlagen von Ceuta, was nur mit marokkanischer Duldung möglich war. Offensichtlich wollte Marokko Spanien damit „nur“ eine Warnung bezüglich seiner Haltung im ungelösten Konflikt um die Westsahara geben, denn die Migrantinnen und Migranten wurden nach Aufgriff und unmittelbarer Zurückweisung ohne weiteres zurückgenommen (Garcés Mascareñas 2021). Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt Die Haltung der Gesellschaft

Im Zuge der starken Zuwanderung der letzten Jahrzehnte hat sich die Struktur der spanischen Bevölkerung verändert. Trotz massiven Wandels in kurzer Zeit bestätigen nationale wie internationale Umfragen in den letzten drei Jahrzehnten regelmäßig im Unterschied zu anderen EU-Staaten eine positive, tolerante Sicht auf Einwanderinnen und Einwanderer. Das schließt nicht aus, dass bei detaillierten Befragungen zu Fragen des konkreten Zusammenlebens auch kritischere Haltungen zum Vorschein kommen können (Kreienbrink 2008: 254). Anders als in früheren Jahrzehnten ist jedoch mittlerweile auch in Spanien eine Partei auf der extremen Rechten entstanden, die sich rassistisch-fremdenfeindlich äußert. Trotz der ökonomischen Verwerfungen in der Wirtschaftskrise mit einem Anstieg der Gesamtarbeitslosigkeit bis auf 27 % (1. Quartal 2013) blieben soziale Spannungen weitgehend aus. Die Einstellungen der Autochthonen gegenüber Zugewanderten blieben in der Mehrheit positiv. Fremdenfeindlichkeit wurde nicht politisch genutzt, vielleicht abgesehen von wenig erfolgreichen regionalen Versuchen kleinerer Parteien bei den Kommunalwahlen 2011 (Aja et al. 2013: 18 f.). Dieses Muster veränderte sich auch nicht im Zug der beginnenden wirtschaftlichen Erholung und unter dem Eindruck der in großen Teilen Europas ankommenden Geflüchteten aus dem Mittleren Osten 2015/2016. Während z. B. das Eurobarometer in vielen Staaten der EU negative Einstellungen der Bevölkerungen gegenüber Einwanderern maß, wiesen die Befragten in Spanien im Vergleich die offenste und solidarischste Haltung auf (Glorius 2018: 26).

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Das hieß jedoch nicht, dass es nicht doch partiell eine gewisse Zunahme von rassistischen Einstellungen gegeben hätte. Studien konnten so etwas für die erste Phase der Wirtschaftskrise bis 2011 vor dem Hintergrund wachsender ökonomischer Unsicherheit und Konkurrenz um weniger werdende freie Arbeitsplätze nachweisen. Dabei wurde aber auch sichtbar, dass die Werte in einem erheblichen Maß mit der Thematisierung in Medien und damit auch im politischen Diskurs korrelierten. Da ab 2012 die Rückkehr von Migranten und die Abwanderung von jungen, gut ausgebildeten spanischen Bürgern das mediale Interesse beherrschten und damit Einwanderung und die Präsenz von Ausländerinnen und Ausländern in den Hintergrund rückten, sanken auch entsprechende Umfragewerte (Cea D’Ancona 2015: 47-49). Für die grundsätzlich positiven Einstellungen wurden verschiedene Erklärungsfaktoren benannt. So zeichnete sich die politische Kultur nach dem Ende der Franco-Diktatur durch das universalistische Bestreben aus, soziale und bürgerliche Rechte allen zugänglich zu machen. Damit einher sei eine deutliche Zurückhaltung gegangen, abwertende Haltungen gegenüber anderen nach außen zu tragen. Weiterhin trüge ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den politischen Eliten, Krisen gut handhaben zu können, dazu bei, dass Eingewanderte nicht als Sündenböcke herhalten müssten. Und schließlich habe es eine weit verbreitete Sicht gegeben, dass die Krise die eingewanderte Bevölkerung mit solcher Wucht getroffen habe, dass viele hätten zurück- oder weiterwandern müssen (Rinken 2015: 69 f.). Dabei werden aber nicht alle Eingewanderten gleich betrachtet. Es gibt einen inhärenten kulturalistischen Blick auf sie in Abhängigkeit von kultureller Nähe und Religion. Abgesehen von EU-Bürgern wie Briten, Deutschen, Franzosen oder Italienern stehen an erster Stelle Migranten aus Lateinamerika, von denen die Mehrheit glaubt, dass sie sich aufgrund kultureller Nähe sowie gleicher Sprache und Religion am einfachsten integrieren würden und dies auch täten. Danach folgen Zuwanderer aus Osteuropa (z. B. aus Rumänien, Bulgarien, Ukraine), Asiaten, dann subsaharische Afrikaner und ganz am Ende solche aus Nordafrika, also im Wesentlichen Marokkanerinnen und Marokkaner (Fernández Suárez 2017: 118; Kreienbrink 2008: 259). Mit diesen Abstufungen können natürlich Haltungen wie z. B. kultureller Rassismus oder Islamophobie einhergehen (Cea D’Ancona et al. 2014: 38). Eine nennenswerte parteipolitische Aktivierung solcher Haltungen bzw. eine politisch relevante Partei, die ein Anti-Einwanderungsnarrativ

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bedient, hatte es über Jahrzehnte in Spanien nicht gegeben, womit das Land im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten hervorstach. Nationalistisch-rechtsautoritäre Parteien waren nach dem Ende der Franco-Diktatur über Jahrzehnte diskreditiert, auch als solche Parteien in anderen europäischen Staaten an Relevanz gewannen. Das änderte sich, als die 2013 gegründete Partei Vox Ende 2018 in den Regionalwahlen in Andalusien fast 11 % und in den beiden nationalen Wahlen 2019 etwas über 10% und dann sogar 15 % errang (Rinken 2019: 70). Vox griff Unzufriedenheiten beim Thema Migration in Teilen der eher rechts orientierten Wahlbevölkerung auf, vor allem im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um die zunehmende irreguläre Zuwanderung seit 2015. Ihre Forderungen kreisten um vier Punkte: 1) stärkere Grenzkontrollen und bevorzugte Einwanderung von Personen aus Lateinamerika, soweit der Arbeitsmarkt dies erfordere; 2) verschärfter Umgang mit irregulär aufhältigen Migranten, die mit Kriminalität assoziiert werden; 3) größere Anstrengungen seitens irregulär aufhältiger Migranten, um ihren Status zu regularisieren, da sie sonst für den Missbrauch von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen verantwortlich seien; 4) Ablehnung von Migration aus Nordafrika und damit einhergehend des Islams. Damit setzte die Partei auf bereits bestehende kulturalistisch-nativistische Haltungen und verstärkte diese (Fernández Suárez 2021: 263). Gleichzeitig machte diese migrationskritische Haltung aber nicht den Markenkern der Partei aus. Auch wenn sie bei Wahlerfolgen in Regionen mit einer hohen Zahl von Zugewanderten unterstützend gewesen sein mag, rührte der Wahlerfolg vor allem von der ultranationalistischen Positionierung gegen die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen und für einen starken Zentralstaat sowie in zweiter Linie von ihren antiliberalen Positionen gegen Feminismus, die Sichtbarkeit von LGBTIQ und weltoffener Toleranz her (Rinken 2019: 73; González Enríquez/Rinken 2021: 9). Auch wenn sie weiterhin eine Minderheitspartei ist und die große Mehrheit der spanischen Bevölkerung Migration gegenüber positiv eingestellt ist, wird befürchtet, dass Vox Positionen vertretbar macht, die bisher in der politischen Klasse nicht akzeptabel waren und den Migrationsdiskurs anderer Parteien nach rechts verschieben könnte (Arango et al. 2019: 28 f.). Mit der Covid-19-Pandemie war eine leichte Verschlechterung in den Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Migration festzustellen. Allerdings war den Daten bisher nicht zu entnehmen, inwieweit dies auf den Einfluss von Vox zurückzuführen ist, oder ob nicht genauso oder stärker Faktoren

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wie die wirtschaftlichen Probleme infolge der Pandemie oder die Berichterstattung über die massive irreguläre Migration auf die Kanaren 2020 die Meinung beeinflusst haben (González Enríquez/Rinken 2021: 9). Integrationspolitik

Die spanische Integrationspolitik beruht, allgemein formuliert, auf dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung, so dass das Ziel eine gleiche Teilhabe an allen (sozialen) Rechten und Pflichten für Migrantinnen und Migranten ist, während kulturelle und religiöse Aspekte, die den Lebensstil betreffen, private Angelegenheit bleiben (Kreienbrink 2008: 256; Fernández Suárez 2017: 117). Nach zehn Jahren mehr oder minder expliziter Integrationspolitik der Vorgängerregierungen (Kreienbrink 2004: 274-307; Kreienbrink 2006) wurde das Thema unter der sozialistischen Regierung ab 2004 weiter als ebenenübergreifendes Politikfeld zwischen Zentralstaat, Autonomen Gemeinschaften und Kommunen institutionalisiert. Der 2007 verabschiedete Strategische Plan für Bürgerschaft und Integration (Plan Estratégico de Ciudadanía e Integración, PECI) schuf einen Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Integration wurde darin sowohl als Prozess gegenseitiger Anpassung definiert, als auch als Querschnittsaufgabe für alle Politikbereiche begriffen. Dazu wurden übergreifende Ziele formuliert, die von der Garantie bürgerlicher, sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und politischer Rechte über den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen (z. B. Gesundheit, Bildung), Antidiskriminierung bis hin zur Förderung des interkulturellen Zusammenlebens reichten. Davon ausgehend wurden Interventionsbereiche benannt (z. B. Bildung, Beschäftigung, Wohnen, soziale Dienste, Gesundheit, Kindheit und Jugend, Frauen, Gleichberechtigung, Partizipation), denen konkrete Maßnahmen zugeordnet wurden. Zudem wurden institutionelle Verantwortlichkeiten, die Kooperation mit den in vielen Integrationsbereichen zuständigen Autonomen Gemeinschaften und Kommunen sowie umfangreiche Finanzierungen geregelt (Kreienbrink 2008: 258 f.). Mit der Reform der Ley de Extranjería im Jahr 2010 (s. o.), die bereits seit 2000 in ihrem Titel auch auf die soziale Integration von Einwanderern Bezug nahm, dazu aber keine expliziten Regelungen vorgenommen hatte, wurde Integration als grundsätzliches Prinzip mit Gesetzesrang versehen. Anders als in anderen europäischen Staaten, in denen die

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I­ntegrationsgesetzgebung neben dem Fördern auch immer stärker das Fordern in den Vordergrund rückte, blieben die Integrationsmaßnahmen weniger eine Verpflichtung als ein Angebot, das von den Autonomen Gemeinschaften und Kommunen zur Verfügung gestellt wurde. Das Gesetz schuf eine Grundlage für Kurse zur Vermittlung demokratischer Werte (z. B. Menschenrechte, Demokratie, Toleranz, Gleichheit von Mann und Frau) und garantierte Eingewanderten die Beschulung der Kinder, das Erlernen der offiziellen Landessprachen und den Zugang zu Beschäftigung (LO 4/2000, Art. 2) als Grundpfeiler der Integration. Zudem wurde die institutionelle Zusammenarbeit zwischen dem Zentralstaat, den Autonomen Gemeinschaften und den Kommunen nun in das Gesetz mit aufgenommen, ebenso wie der 2005 geschaffene Integrationsfonds (Fondo para el Apoyo, la Acogida y la Integración de los Inmigrantes). Dieser Fonds dient der Finanzierung vieler Maßnahmen und ist gleichzeitig ein Instrument der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den drei staatlichen Ebenen (Aja et al. 2011: 16-19). Für die nachfolgende konservative Regierung ab Ende 2011 stand aktive Integrationspolitik – ähnlich wie Migrationspolitik – nicht im Vordergrund. Hatte die Vorgängerregierung im Jahr 2011 noch einen zweiten Integrationsplan (PECI II) verabschiedet, der bis 2014 lief, so unterließ die konservative Regierung die Erarbeitung eines Folgeplans. Ebenso wurde die Dotierung des Integrationsfonds trotz Krise und hoher Arbeitslosigkeit nicht fortgeschrieben. Dafür schrieben verschiedene Autonome Gemeinschaften ihre jeweiligen Integrationspläne fort oder arbeiteten unter dem Dach ihrer bisherigen Pläne weiter (Arango et al. 2016: 23 f.; Arango et al. 2018: 20). Gleichwohl blieb auf der praktischen Ebene von Programmen die Kontinuität in der Auffassung gewahrt, dass Integration Teil einer umfassenden Migrationspolitik sei (vgl. z. B. REM 2016: 20-29). Mit Blick auf einen wichtigen Aspekt der Integration, der Einbürgerung, setzte die Regierung 2013 einen Plan Intensivo de Nacionalidad (PIN) um, um seit Jahren stockende Einbürgerungsverfahren schneller zu einer Entscheidung zu bringen. Spanien gehörte zu den Ländern in der EU, in denen Einbürgerungswillige den meisten Hürden im Prozess begegneten, die entsprechend zu langen Wartezeiten und Enttäuschungen der Antragstellenden führten. Während Personen aus Lateinamerika in der Regel bereits nach zwei Jahren Aufenthalt einen Anspruch auf den Erwerb der Staatsangehörigkeit haben, dauern die späteren Verfahren zum Teil deutlich länger als zwei Jahre. Zudem stiegen in den Jahren der Wirtschaftskrise (vor allem

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2011 und 2012) die Anträge auf Einbürgerung sowohl von lateinamerikanischen Bürgern als auch von länger im Land aufhältigen Personen, die die ansonsten geltende gesetzliche 10-Jahresfrist erfüllt hatten. Der PIN trug bereits 2013 dazu bei, dass durch die Einbindung zusätzlicher Personalressourcen über das zuständige Registro Civil hinaus über 400.000 Fälle entschieden werden konnten (Pinyol-Jiménez/Sánchez-Montijano 2014: 200, 204 f.; Arango et al. 2014: 19). Mit der Übernahme der Regierung durch die Sozialisten Mitte 2018 wurde der Integrationsfonds 2019 erneut mit Geld für Integrationsmaßnahmen unterlegt. Weitere integrationspolitische Maßnahmen wie die Neuauflage des PECI wurden zwar begonnen, blieben aber angesichts zweier Wahlen 2019 und der Covid-19-Pandemie ab 2020 vorläufig stecken (Arango et al. 2019: 27; REM 2021: 6). Ausblick

Bei der Betrachtung der Migration in Spanien seit der Wirtschaftskrise ab 2008 zeigt sich eine zunehmend komplexe Gleichzeitigkeit von verschiedenen Migrationsdynamiken bei anhaltender Attraktivität Spaniens als Zielland. Dies wiederum führt zu einer immer vielfältiger werdenden Bevölkerung, die zumindest bisher diesen Wandel überwiegend positiv erlebt. Politisch hat Spanien seinen pragmatischen Umgang mit Migration und Integration sowohl in Zeiten der Wirtschaftskrise als auch der Phase wirtschaftlicher Erholung im Wesentlichen beibehalten, unabhängig davon, wie intensiv einzelne Aspekte im Fokus der jeweiligen Regierungen waren. Kurzfristige restriktive Ansätze zur Regulierung des Zugangs von Arbeitskräften oder zur Rückkehrförderung betrafen nur einen kleinen Teil des Migrationsgeschehens und hatten nur geringe Auswirkungen. Für die unmittelbare Zukunft, die durch den Umgang mit den Folgen der Covid-19-Pandemie als zweiter großer Krise nach der Wirtschaftskrise geprägt sein wird, stehen für Spanien verschiedene Herausforderungen an. Dazu gehört die Bewältigung der großen Zahlen von Asylsuchenden nicht nur in Bezug auf die Verwaltungsverfahren, sondern auch hinsichtlich der überlasteten Aufnahmekapazitäten. Gleiches gilt für die anhaltende irreguläre Migration an den Küsten und Richtung Kanaren, die sich im Zuge der zur erwartenden wirtschaftlichen Erholung in Spanien (und der EU) noch weiter verstärken könnte. Parallel hierzu bleibt für das Inland abzuwarten,

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wie sich die Pandemiefolgen auf die wirtschaftliche Lage der migrantischen Bevölkerung auswirken und welche Folgen dies für die Sozial- und Integrationspolitik mit sich bringen werden. Schließlich bleibt die Frage, ob sich angesichts des nun von einer Partei bedienten fremdenfeindlichen „Angebots“ mittelfristig eine kritischere Haltung gegenüber Migration im gesellschaftlichen und damit politischen Diskurs ausbreiten wird. Literaturverzeichnis Aja, Eliseo (2010): „La reforma de la ley de extranjería“, in: Eliseo Aja/Joaquín Arango/ Josep Oliver Alonso (Hgg.): Anuario CIDOB de la Inmigración 2009, 18-40. Aja, Eliseo/Arango, Joaquín/Oliver Alonso, Josep (2008): „La inmigración en la encrucijada“, in: Anuario CIDOB de la Inmigración 2007 (ed. 2008), 10-13. — (2009): „Bajo el influjo de la crisis“, in: Eliseo Aja/Joaquín Arango/Josep Oliver Alonso (Hgg.): Anuario CIDOB de la Inmigración 2008, 10-15. — (2011): „La persistencia de la crisis“, in: Eliseo Aja/Joaquín Arango/Josep Oliver Alonso (Hgg.): Anuario CIDOB de la Inmigración 2010, 12-20. — (2012): „2011: Un mal año para la inmigración“, in: Eliseo Aja/Joaquín Arango/Josep Oliver Alonso (Hgg.): Anuario CIDOB de la Inmigración 2011, 12-22. — (2013): „Crisis, mercado de trabajo y cambiantes tendencias migratorias“, in: Eliseo Aja/Joaquín Arango/Josep Oliver Alonso (Hgg.): Anuario CIDOB de la Inmigración 2012, 12-23. Amat i Puigsech, Dídac/Garcés-Mascareñas, Blanca (2018): Politicisation of immigration in Spain: an exceptional case? CEASEVAL Research on the Common European Asylum System (14), Chemnitz: Technische Universität Chemnitz. . Arango, Joaquín/Garcés, Blanca/Mahía, Ramón/Moya, David (2021): „Introducción: inmigración y movilidad humana en tiempos del coronavirus“, in: Anuario CIDOB de la Inmigración 2020, 14-29. Arango, Joaquín/Mahía, Ramón/Moya, David/Sánchez-Montijano, Elena (2016): „El año de los refugiados“, in: Anuario CIDOB de la Inmigración 2015-2016, 12-25. — (2017): „La inmigración en el ojo del huracán“, in: Anuario CIDOB de la Inmigración 2017, 12-28. — (2018): „Inmigración y asilo, en el centro de la arena política“, in: Anuario CIDOB de la Inmigración 2018, 14-26. — (2019): „Inmigración, elecciones y comportamiento político“, in: Anuario CIDOB de la Inmigración 2019, 16-30. Arango, Joaquín/Moya Malapeira, David/Oliver Alonso, Josep (2014): „2013: ¿Un año de transición?“, in: Anuario CIDOB de la Inmigración 2013, 12-24. Beets, Gijs/Willekens, Frans (2009): „The Global Economic Crisis and International Migration: An Uncertain Outlook“, in: Vienna Yearbook of Population Research 2009, 19-37.

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Fünfzig Jahre Frauenund LGTBIQ-Bewegung in Spanien Werner Altmann Abstract Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit zwei gesellschaftlichen Entwicklungen, die in der Spätphase der franquistischen Diktatur ihren Ausgang nahmen und bis heute die spanische Gesellschaft grundlegend verändert haben: der Feminismus, der die Frauen weitgehend von ihrer Jahrhunderte langen Abhängigkeit und Diskriminierung befreite, und die Emanzipation der heute so genannten LGTBIQ-Bewegung von lesbischen Frauen, schwulen Männern, Trans-Personen, bisexuellen Männern und Frauen und allen Personen, die sich selbst als queer (englischer Begriff für „schräg“, „andersartig“) bezeichnen. Beide Bewegungen erkämpften sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte ihre Entkriminalisierung und eine gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichstellung, wie es sie noch nie in der spanischen Geschichte gegeben hat. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen dabei ihr (partei-)politischer Aktivismus, ihre organisatorische Institutionalisierung in Staat und Gesellschaft, ihr Kampf zur Durchsetzung ihrer Rechte und ihr Ringen um Integration und Teilhabe am demokratischen Gemeinwesen. Opposition und Widerstand − Die Spätphase der franquistischen Diktatur (1970-1975)

Das Leben vieler Frauen unter der Franco-Herrschaft war geprägt von politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Diskriminierung und Ausgrenzung. Dies äußerte sich einerseits in einer generellen Unterordnung gegenüber dem Mann, andererseits in einer weitgehenden Unsichtbarkeit im öffentlichen Leben. Die Tätigkeit von Frauen war hauptsächlich auf den privaten Bereich beschränkt. Sie führten den Haushalt, kümmerten sich um die Kinder und unterlagen zahlreichen Beschränkungen und Verboten, was ihren Rechtsstatus, ihre Handlungsspielräume und ihr alltägliches Verhalten betraf. Dieses patriarchalische Geschlechterverhältnis wurde geschützt und gestützt durch die allgegenwärtige Präsenz der

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katholischen Kirche. Deren rigider Einfluss auf das moralische Verhalten im Allgemeinen und die weibliche Sexualität im Besonderen verhinderte bis in die 1960er Jahre (und oft auch darüber hinaus) jegliches persönliche Selbstbestimmungsrecht. Dies änderte sich erst allmählich, als in der Wirtschaftskrise Anfang der 1960er Jahre viele gesellschaftliche Gruppen mehr demokratische Rechte und politische Partizipation einforderten. Es waren zunächst vor allem junge Studentinnen an den Universitäten, die sich, beflügelt durch den europaweiten Aufbruch der so genannten 68er-Generation, ihres männlich dominierten Umfeldes bewusst wurden. Es gab zahlreiche Professoren, die die Präsenz von Frauen an den Universitäten grundsätzlich ablehnten oder ihre Leistungen schlechter bewerteten als die ihrer Kommilitonen. Aber auch in den „linken“ studentischen Zirkeln und Vertretungen wurden weibliche Studierende nicht immer gern gesehen und von Führungspositionen tunlichst ferngehalten. Im letzten Jahrzehnt der Franco-Herrschaft bildeten sich daher immer mehr rein frauendominierte Gruppen, die allerdings oft nicht über allgemeine theoretische Diskussionen zur Frauenemanzipation oder eine gegenseitige Unterstützung bei Studienwahl und späterer Karriereplanung hinaus reichten. Die bedeutsamste dieser Vereinigungen war die Asociación Española de Mujeres Universitarias, die lange Jahre als bieder und konservativ galt, bis 1973 Jimena Alonso Präsidentin wurde. In einem aufsehenerregenden Zeitungsartikel forderte sie die Öffnung der Vereinigung auch für Arbeiterfrauen und setzte auf konkrete Projekte, um die juristische Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen. Neben dieser „akademischen Revolte“ begannen immer mehr Frauen der Mittel- und Unterschicht in den schnell wachsenden barrios obreros, den Arbeitervierteln der großen Städte, sich ihrer benachteiligten wirtschaftlichen Stellung bewusst zu werden. Es ging ihnen nicht um „feministische“ Anliegen, die sie häufig gar nicht verstanden bzw. ablehnten, sondern um handfeste Forderungen, die ihre Arbeitsbedingungen und ihre häufigen finanziellen Notlagen als Hausfrauen und Mütter verbessern sollten. Sie gründeten weder Debattierzirkel noch stellten sie das bestehende Geschlechterverhältnis in Frage. Vielmehr kooperierten sie mit den illegalen, linken, von Männern dominierten Parteien und Gewerkschaften und schlossen sich den übers ganze Land verteilten Asociaciones de Amas de Casa an. Diese „Hausfrauenvereinigungen“, die unter dem Schutzschirm des Staates agierten, schlossen sich 1968 zur konservativ ausgerichteten Federación Nacional de Amas de Casa zusammen. Die liberalere Asociación Castellana de Amas de Hogar (gegründet 1972)

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stellte indes konkrete Forderungen: die Einrichtung von Kindergärten, um die Erwerbstätigkeit von Frauen zu erleichtern, und eine Verbesserung der städtischen Infrastruktur durch Spielplätze, asphaltierte Straßen und nächtliche Beleuchtung der Bürgersteige. Die Asociación de Amas de Casa del Distrito de Tetuán (ein Arbeiterbezirk im Norden Madrids) ging noch einen Schritt weiter. Ihre tatkräftige Präsidentin Mercedes Comabella setzte sich für gesetzliche Veränderungen ein. So forderte sie beispielsweise in einem Brief an Justizminister Francisco Ruiz Jarabo die Abschaffung des Ehebruchsartikels 449 des Código Penal (zu diesen frühen Widerstandsformen siehe ausführlich Raphaela Pammer 2013). Neben den Frauen litten unter der Diktatur vor allem Personen mit einer nicht-gesellschaftskonformen Genderzuordnung oder einer nichtheteronormativen sexuellen Orientierung. Die franquistische „Ideologie“, die sich aus faschistischen, bürgerlich-reaktionären, militärischen und christlich-katholischen Elementen zusammensetzte, hielt zunächst an der in Spanien bewährten Praxis fest, alle von der sexuellen Norm abweichenden Verhaltensweisen vornehmlich durch verbale Tabuisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung zu bestrafen. Ein polizeiliches und juristisches Vorgehen gegen homosexuelle Männer (lesbische Frauen blieben weitgehend unbeachtet) nahm erst in der franquistischen Spätphase zu. Das aus der Republik übernommene Strafgesetzbuch enthielt keine explizite Erwähnung eines homosexuellen Straftatbestandes. Auch die Veränderungen und Ergänzungen von 1944 und 1963 änderten nichts daran. Die Justiz belangte im Bedarfsfall homosexuelle Männer, wie zu Zeiten der Republik auch schon, mit Hilfe verschiedener anderer Strafrechtsbestimmungen: Artikel 430 verbot abusos deshonestos („sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen unter 12 Jahren“), Artikel 452 stellte corrupción de menores, sexuelle Beziehungen mit Jugendlichen zwischen 12 und 23 (!) Jahren, unter Strafe und aufgrund von Artikel 431 konnte letztendlich jede gleichgeschlechtliche Handlung als escándalo público („Erregung öffentlichen Ärgernisses“) angezeigt und abgeurteilt werden. Das Militärstrafrecht war hier − aber auch schon vor Franco − wesentlich expliziter und gnadenloser. Es bestrafte actos deshonestos con individuos del mismo sexo („unehrenhafte Handlungen mit Personen des gleichen Geschlechts“) mit bis zu sechs Jahren Gefängnis und Entfernung aus dem aktiven Dienst. Die erste gesetzliche Verschärfung für praktizierte Homosexualität stellte die Reform der Ley de vagos y maleantes von 1933 dar. Dieses „Gesetz gegen Landstreicher und Gesindel“ wurde am 15. Juli 1954 ­dahingehend

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geändert, dass jetzt auch die Homosexuellen als weitere kriminelle Randgruppe aufgenommen und damit erstmals homosexuelle Männer begrifflich erfasst wurden. Zu einer drastischen Verschärfung, die die Situation der spanischen Homosexuellen deutlich verschlechterte, kam es allerdings erst gegen Ende der Diktatur. Die Ley de Peligrosidad y Rehabilitación Social (LPRS) vom 4. August 1970 erklärte in Artikel 2 diejenigen, die Homosexualität praktizierten, zur „sozialen Gefahr“ schlechthin und sah für sie in Artikel 6 eine bis zu fünfjährige Internierung in Arbeits- oder „Umerziehungs“-Lagern vor. Solche wurden in Huelva, Badajoz und auf den Kanarischen Inseln eingerichtet. Das internationale Klima hatte sich während der langen Diktaturphase verändert. Die so genannte 68er-Generation ging auf die Straßen der westlichen Großstädte und forderte lautstark und teilweise unter Anwendung von Gewalt radikale Veränderungen in Politik und Gesellschaft. Doch es war ein kleines, anscheinend unbedeutendes Ereignis, das für die LGTBIQ-Bewegung weltweit zum Fanal des Widerstandes gegen Unterdrückung und Willkür wurde. Als die New Yorker Polizei in den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 eine ihrer häufigen Razzien in der kleinen Schwulenbar Stonewall Inn in der Christopher Street durchführen wollte, wehrten sich die anwesenden Gäste (darunter viele Transvestiten und Transsexuelle). Sie griffen die Polizisten tätlich an, so dass sich diese in der Bar verbarrikadieren mussten, bis Verstärkung eintraf. Dieses Ereignis wurde zum „Gründungsmythos“ einer mittlerweile weltweiten LGTBIQBewegung, die bis heute diesen Tag als CSD (Christopher Street Day) oder in Spanien und Lateinamerika als Día del Orgullo („Tag des Stolzes“) feiert. Vor diesem Hintergrund und im Zusammenhang mit der Diskussion und Verabschiedung der Ley de la Peligrosidad Social kam es wenige Monate später erstmalig in Spanien zu Protesten von schwulen (und einigen wenigen lesbischen) Aktivisten. Als der Gesetzesentwurf Anfang des Jahres 1970 bekannt wurde, organisierten zwei Katalanen, Armand de Fluvià und Francesc Francino, den Widerstand. Sie animierten Freunde und Bekannte, anonym verfasste Briefe an Bischöfe, Abgeordnete, Staatsanwälte und Richter zu schicken, in denen sie gegen das beabsichtigte Gesetz protestierten. Um die Identität der Verfasser zu schützen, wurden die Briefe über Frankreich (mit Unterstützung von André Baudry, dem französischen Herausgeber der Schwulenzeitschrift Arcadie), die USA oder andere Staaten nach Spanien befördert. Der Protest konnte letztendlich das Gesetz nicht verhindern, aber bewirkte eine kleine, nicht unwesentliche Änderung in

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der Gesetzesvorlage. Das Wort „Homosexueller“ wurde in der endgültigen Fassung durch die Formulierung „Personen, die homosexuelle Akte praktizieren“, ersetzt. Dieser bescheidene Erfolg motivierte Armand de Fluvià und seinen Mitstreiter Francesc Francino, die sich mittlerweile aus Selbstschutz die Pseudonyme Roger de Gaimon bzw. Mir Bellgai zugelegt hatten, so sehr, dass sie beschlossen, den Kampf für die Befreiung der Homosexuellen aufzunehmen. Die von ihnen noch im gleichen Jahr begründete Agrupación Homófila para la Igualdad Sexual (1971 in Movimiento Español de Liberación Homosexual (MELH) umbenannt) war die erste Schwulenorganisation der spanischen Geschichte. Es war ihr allerdings nur eine kurze Lebensdauer beschieden, während der sie jedoch einige Fortschritte erzielte. Es sind insbesondere zwei Erfolge, die sich die Organisation auf ihre Fahnen schreiben konnte: die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene und die Herausgabe der Zeitschrift AGHOIS (benannt nach der kurzlebigen Vorläuferorganisation Agrupación Homófila para la Igualdad Sexual). Von Anfang an nahm der MELH an Kongressen (z. B. dem I Congreso Internacional para los Derechos de los Gais im schottischen Edinburgh) und Veranstaltungen (am Día del Orgullo 1975 in New York, wo Armand stolz ein Plakat mit der Aufschrift España presente entrollte) teil und pflegte weltweite Kontakte mit schwulen Organisationen und Aktivisten. Diese internationale Präsenz war wichtig, um Verbündete im globalen Kampf gegen die Unterdrückung Homosexueller zu gewinnen und das Thema Homosexualität einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Schwierig gestaltete sich die Verbreitung ihres Bulletins, weil Namen und Adressen der rund 80 spanischen Abonnenten geheim gehalten werden mussten, die landesweite Verteilung der Zeitschrift unter den wachsamen Augen von Polizei und Geheimdienst gefährlich war und nicht zuletzt die Anwerbung von Autoren und Mitarbeitern, die ständig der Gefahr einer Verhaftung ausgesetzt waren, immer schwieriger wurde. Mit der 18. Ausgabe stellte AGHOIS sein Erscheinen ein. Das Engagement für den MELH ging aus ähnlichen Gründen zurück, nachdem die Organisation immer stärker ins Blickfeld der franquistischen Sicherheitsbehörden geraten war. Der Tod des Diktators am 20. November 1975 wurde zwar von vielen als Signal der Hoffnung verstanden, es sollte aber noch einige Jahre dauern, bis die wichtigsten Ziele erreicht waren.

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Mobilisierung, Institutionalisierung und Fragmentierung − Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie (1975-1982)

In der Transición genannten Übergangsphase zwischen Diktatur und Demokratie verschafften sich die bisher illegalen und nahezu unsichtbar agierenden Widerstandsgruppen, die für mehr politische Rechte und gesellschaftliche Anerkennung und Gleichstellung von Frauen und Personen diverser Sexualität kämpften, mit einem Schlag öffentliche und lautstarke Präsenz. Heterosexuelle und lesbische Frauen, schwule Männer und Transvestiten (travestis − was zum damaligen Zeitpunkt noch Transsexuelle und Transgender einschloss) vermischten sich mit linken politischen Aktivisten und traten auf Demonstrationen und Massenkundgebungen häufig gemeinsam auf, gründeten Plattformen, Diskussionsforen und Interessenvertretungen, begleiteten den politischen und gesellschaftlichen Diskurs der sich neu formierenden Demokratie und arbeiteten aktiv an neuen Gesetzesentwürfen mit. Es war eine Zeit eines kollektiven Aufbruchs und einer beispiellosen öffentlichen Mobilisierung. Im Jahr 1975 fielen mehrere entscheidende Ereignisse zusammen, die gleichsam den Startschuss für die explosionsartigen Veränderungen gaben, die die spanische Gesellschaft in den kommenden Jahren von Grund auf verändern sollten. Als die Vereinten Nationen 1975 zum „Internationalen Jahr der Frau“ ausgerufen hatten, wollten sich sowohl das Franco-Regime als auch die oppositionellen Gruppen daran beteiligen. Die Sección Femenina de Falange, die offizielle „Frauenorganisation“ während der Diktatur, wurde mit der Organisation diverser Aktivitäten beauftragt. Es wurde eine nationale Kommission unter Leitung von Pilar Primo de Rivera, der Schwester des Falange-Gründers José Antonio Primo de Rivera, ins Leben gerufen, die mehrere Ministerien und systemtreue Frauen aus vielen Gesellschaftsbereichen in das Gesamtprogramm integrierte und zum Ziel hatte, systemfeindliche Forderungen der revolutionären Frauengruppen abzuwehren. Die pompöse Eröffnungsfeier im Palacio de Congresos y Exposiciones in Madrid fand am 19. Februar 1975 statt, an der Prinzessin Sofía, der Regierungschef Carlos Arias Navarro und weitere hohe politische Würdenträger teilnahmen. Was dann folgte, waren unzählige Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen, Runde Tische, Konzerte und Theateraufführungen. Dagegen erhoben sich lauter Protest und Widerstand. Vor allem in Barcelona forderten Frauen substanzielle Änderungen in der R ­ echtsprechung,

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insbesondere im Arbeitsrecht, im Erziehungssystem, im Strafrecht, das Recht auf Geburtenkontrolle und anderes mehr. Ein erster wichtiger Schritt für die spanische Frauenbewegung waren die Vorbereitungen zu den Primeras Jornadas de la Liberación de la Mujer, die am Ende des Jahres in Madrid stattfinden sollten. Als Termin wurde der 6. bis 8. Dezember, als Versammlungsort das Colegio Montpellier festgelegt. Rund 500 Frauen aus allen Teilen des Landes nahmen an der Veranstaltung teil. Sie fand ­illegal und unter Einsatz repressiver Maßnahmen seitens der Polizei und der Sicherheitsdienste statt. Dennoch war das Ende der Diktatur eingeläutet, und die oppositionellen Frauen wagten sich immer mehr aus der Deckung. Es kam zu ersten öffentlichen Straßendemonstrationen, und zu den Jornades Catalanes de la Dona im Mai 1976 meldeten sich an die 3.000 Frauen an. Von da an entfaltete sich ein Aktivismus, der in den folgenden drei Jahren die wichtigsten Forderungen der Frauenbewegung erfüllte. 1977 verschwand per Regierungsdekret der Movimiento Nacional und damit auch die Sección Femenina de Falange. Damit war der Weg frei für eine staatliche Institutionalisierung, die mit der Einrichtung des neuen Kulturministeriums eine Unterabteilung mit dem Namen Subdirección General de la Condición Femenina schuf, die die weiteren Schritte der legislativen, administrativen und gesellschaftlichen Reformen entwerfen und koordinieren sollte. Die Jahre 1978/79 brachten für die Frauen wesentliche Neuregelungen, die einerseits ihre Rechtssituation deutlich verbesserten, andererseits aber hinter den Erwartungen der Betroffenen zurückblieben. Der Ehebruch (adulterio) wurde relativ geräuschlos entkriminalisiert, aber schon bei den bislang verbotenen Verhütungsmitteln kam es zu einer (gewollten) sozialen Schieflage. Unter der konservativen UCD-Regierung von Adolfo Suárez (1976-1981) wurde die Verwendung von anticonceptivos zwar gesetzlich erlaubt, es wurde aber nichts getan, um sie in die Gesundheitsversorgung der Frauen zu integrieren, so dass der Zugang zu ihnen für finanziell schlechter gestellte Frauen deutlich erschwert war. Diese Ungleichheit zu beseitigen, sollte erst die sozialistische Regierung von Felipe González durch das Gesundheitsgesetz von 1985 erwirken. Für viele Frauen enttäuschend war auch die Verabschiedung der neuen Verfassung. Allein die Tatsache, dass der Verfassungskonvent ausschließlich von Männern besetzt war, wurde als Fortdauer patriarchalischer Strukturen betrachtet. Die Gleichheit der Geschlechter (wobei man damals allerdings nur an Frauen und Männer dachte) sowie ein Verbot jeder Art von

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Diskriminierung wurden in Artikel 14 der Verfassung zwar grundsätzlich festgeschrieben, aber es fehlten konkrete Rechte, die den Frauen unter den Nägeln brannten: Ehescheidung (divorcio) und Abtreibung (aborto) sollten einer späteren gesetzlichen Regelung vorbehalten bleiben. Und auch mit dem Artikel 16, der den Staat verpflichtet, „kooperative Beziehungen“ zur katholischen Kirche zu unterhalten und ihr somit einen bis heue andauernden Einfluss auf die schulische Bildung ermöglicht, waren viele Frauen unzufrieden. Auf einer feministischen Plattform wurde ein staatliches Erziehungssystem gefordert, das laizistisch und koedukativ ausgerichtet sein sollte. Die weiteren feministischen Kritikpunkte betrafen das frauendiskriminierende Thronfolgerecht, die Benachteiligung im Bereich der sozialen Sicherungssysteme und die Darstellung von frauenfeindlichem Sexismus in den Medien, speziell in der Werbung. Auf den II Jornadas, die im Mai 1979 in Granada stattfanden, kam es zum ersten Bruch innerhalb der Frauenbewegung. Die zwei entscheidenden Bruchstellen waren die Frage einer doble militancia und in diesem Zusammenhang der Kampf zwischen „Gleichheits“-Feministinnen und Anhängerinnen einer „Differenz-Theorie“ zwischen Männern und Frauen. Ein Teil befürwortete, sich einerseits in Frauenorganisationen, aber auch in politischen Parteien und Gewerkschaften zu engagieren. Sein Ziel war es, die völlige Gleichstellung mit den Männern zu erreichen und sämtliche gesellschaftliche Barrieren zu überwinden. Dies, so glaubten die „Gleichheits“-Feministinnen, könne nicht allein durch aktive Mitarbeit in Frauenorganisationen erreicht werden, sondern müsse auch durch ein Engagement in allen gesellschaftlichen Gruppen vorangetrieben werden. Ein anderer Teil der Frauen misstraute den patriarchalisch strukturierten Parteien und wollte ihre Anliegen nur in feministischen Organisationen zur Sprache und Geltung bringen. Dabei betonten sie den grundsätzlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen, kurz gesagt: sie forderten das Recht, „anders“ als die Männer und nicht „gleich“ wie sie zu sein. Ihre konkreten Interessen lagen daher eher bei Themen wie weibliche Sexualität und Kampf gegen männliche Gewalt. Die rund 3.000 Frauen, die nach Andalusien gekommen waren, verließen zerstritten und ohne Resolution die Veranstaltung. Die Folgen waren ein Rückzug vieler Frauen in ihren persönlichen Bereich sowie eine allgemeine politische Apathie. Die postfranquistische Schwulenbewegung, die in den Jahren 1976 und 1977 zum ersten Mal mit öffentlich wirksamen Aktionen und Demonstrationen hör- und sichtbar auf die Situation homosexueller ­

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­ enschen in Spanien aufmerksam machte, hatte ihren Ausgangspunkt in M Katalonien genommen. Zwischen Oktober 1976 und Januar 1977 fanden im Kapuzinerkloster von Sarrià vier Treffen von Personen mit nicht-­ heteronormativer sexueller Orientierung statt, bei denen über Organisation, Programm und Ziele eines zu gründenden Verbandes diskutiert wurde. Dieser konstituierte sich schließlich als Front d´Alliberament Gai de Catalunya (FAGC). Der FAGC gab sich ein manifest, das bis heute als „Gründungsdokument“ der spanischen Schwulen- und Lesbenbewegung gilt. Darin forderte er unter anderem die Abschaffung der LPRS und die sofortige Freilassung aller Homosexuellen aus den Gefängnissen und Arbeitslagern bzw. Umerziehungsanstalten des Landes. Der FAGC stellte auf der Basis einer marxistischen Analyse einen Zusammenhang zwischen politisch-gesellschaftlicher und sexueller Unterdrückung her und strebte die Überwindung beider an. In ihren Reihen befanden sich sowohl Anhänger verschiedener Parteien als auch Transvestiten, Transsexuelle und Frauen verschiedener feministischer Organisationen. Nicht zuletzt organisierte der Front im Jahr 1977 die erste (illegale) Massendemonstration in Barcelona, die den Beginn für die später jährlich abgehaltenen Paraden zum Día del Orgullo markierte. Nach seinem Vorbild und mit seiner Unterstützung gründeten sich in der Folgezeit über ein Dutzend neuer fronts in Barcelona, Valencia, auf den Balearen und anderen katalanischen Städten und Distrikten. In den Jahren 1977/78 schossen Dutzende von LGTBIQ-Aktionsgruppen, Plattformen, Diskussionszirkeln und Verbänden in allen größeren spanischen Städten wie Pilze aus dem Boden. Viele von ihnen bestanden nur kurze Zeit und verschwanden sehr schnell wieder von der Bildfläche, andere schlossen sich zu größeren Dachverbänden zusammen, einige existieren noch heute, haben sich neue Namen gegeben und ihre Ziele den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen angepasst. Sie waren unterschiedlich strukturiert und organisiert und verfolgten je nach politischer und ideologischer Ausrichtung verschiedene Projekte, kooperierten jedoch im Kampf für die Abschaffung der franquistischen LPRS aus dem Jahr 1970, die homosexuell aktive Männer zu Straftätern werden ließ. Der Stein kam am 21. September 1977 ins Rollen, als die Sozialistische Partei im demokratisch neu gewählten Parlament einen Gesetzesvorschlag zur Reform der LPRS einbrachte. Er sah Straflosigkeit für die in Artikel 2 genannten Personengruppen vor: Personen, die die Normen des sozialen Zusammenlebens und der guten Sitten verletzten (Absatz 9),

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aufmüpfige, moralisch verkommene oder ohne Familie lebende Jugendliche unter 21 Jahren (Absatz 14) und Personen, die zu kriminellen Handlungen neigten (Absatz 15). Von den Homosexuellen war darin keine Rede. Es ist der Kommunistischen Partei (PCE) zu verdanken, dass sie am 10. Februar 1978 einen Gesetzeszusatz (enmienda) forderte, der auch die Personen einschloss, die „homosexuelle Handlungen ausführten“ (Absatz 3). Die Abgeordneten des zuständigen Ausschusses, in dem der Gesetzesvorschlag diskutiert wurde, gaben am 20. November ein positives Votum ab, das im Plenum am 13. Dezember mit deutlicher Mehrheit bestätigt wurde und somit am 30. Januar 1979 in Kraft treten konnte. Zwar kamen auch anschließend die Internierten in den Gefängnissen frei, es gab allerdings weder eine Entschädigung der Opfer noch wurden die polizeilichen Ermittlungsakten gelöscht. Die LPRS wurde als Ganzes erst 1995 abgeschafft, die diskriminierenden Polizeiprotokolle wurden mittlerweile für die historische Forschung archiviert. Die Erfolge einer Visibilisierung und Institutionalisierung der schwullesbischen Bewegung dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich von Anfang an tiefe Gräben auch innerhalb der LGTBIQ-­ Bewegung auftaten. Als erstes zeigten sich ideologische Differenzen, die als „reformistisch“, „radikal“ und „revolutionär“ bezeichnet worden sind. Den gemäßigten, eher konservativen „Reformisten“ ging es in erster Linie um eine gesellschaftliche Anerkennung der Homosexuellen und die Abschaffung der repressiven Gesetze aus der Franco-Zeit. Man verfolgte die Integration in das sich entwickelnde demokratische System, sprach von „Homophilie“ und versuchte das Wort „homosexuell“ nach Möglichkeit zu vermeiden, um die heterosexuelle Mehrheit nicht zu provozieren. Die „Radikalen“ versuchten das etablierte heteronormative System als Ganzes zu unterminieren und einen neuen, wie man heute sagen würde, queeren Lebensstil zu kreieren, während die „Revolutionäre“ auf einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Umsturz abzielten, die gesamte Sexualordnung der bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellten und für eine „Verschwulung“ aller Lebensbereiche eintraten. Nach der weitgehenden Entkriminalisierung der sexuellen Minderheiten durch die Entschärfung der LPRS traten die Unterschiede in Bezug auf ideologische Diskurse und Organisationsformen, Zielsetzungen und Strategien sowie politischer Zugehörigkeit immer stärker ans Tageslicht. In Madrid wurde das innerhalb der LGTBIQ-Bewegung besonders deutlich. 1977 hatten sich in der Hauptstadt mehrere Gruppierungen gebildet,

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darunter der gemäßigte Movimiento Democrático de Homosexuales (MDH) und der radikale Frente Homosexual de Acción Revolucionaria (FHAR), beide mit einer sehr kurzen Lebensdauer. Die verbleibenden Gruppen schlossen sich unter Führung der Agrupación Mercurio im Frente de Liberación Homosexual de Castilla (FLHOC) zusammen, in dem es gleich nach der Gründung zu heftigen internen Meinungsverschiedenheiten kam. Die ehemaligen Mercurio-Aktivisten, die die Führung des FLHOC übernommen hatten, entwickelten weitreichende theoretische Pläne für den Kampf in der Zukunft, während eine ständig steigende Zahl jüngerer Mitglieder auf sofortige konkrete Aktionen drängte. Im November 1978 kam es fast schon zum Zerwürfnis. Einige junge Aktivisten im FLHOC wollten im Madrider Stadtteil Prosperidad eine schwule Festwoche organisieren, die behördlicherseits umgehend verboten wurde. Die Verbandsspitze nahm das Verbot nicht nur widerspruchslos hin, sondern distanzierte sich auch noch öffentlich von den Festveranstaltern. Der FLHOC löste sich zwei Jahre später auf. Der schwelende Konflikt innerhalb der LGTBIQ-Bewegung beschränkte sich aber nicht allein auf ideologische Differenzen, sondern weitete sich auf eine Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern aus. Lesbische Frauen waren bis 1978 in den schwulen Männergruppen aktiv, fühlten sich dort aber zunehmend unwohl und nicht für ernst genommen. Vor allem störte sie ein offensichtlich auch unter Schwulen verbreiteter machismo. Viele von ihnen suchten daher Anschluss bei den Frauenorganisationen, was dort aber auch nicht immer auf Gegenliebe stieß. Die unterschiedlichen Interessen und Zielsetzungen, aber auch die Furcht der heterosexuellen Frauen, mit den lesbischen Frauen in einen Topf geworfen zu werden, erzeugten ebenfalls gegenseitige Ressentiments. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten gründeten lesbische Frauen eigene Organisationen oder blieben teils in feministischen, teils in schwulen Verbänden. Was allerdings bis heute geblieben ist, ist die Tatsache, dass sie auch im 21. Jahrhundert nicht die öffentliche Präsenz erreicht haben wie die heterosexuellen Frauen und die schwulen Männer − vielleicht ein noch nicht überwundenes Erbe ihrer Jahrhunderte langen Unsichtbarkeit.

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Licht und Schatten − Die sozialistische Regierung Felipe González (1982-1996)

Die Phase der Transition von der Diktatur zur Demokratie endete im Dezember 1982 mit der Regierungsübernahme durch die Sozialisten unter ihrem charismatischen Vorsitzenden Felipe González. In den fast vierzehn Jahren seiner Regierungszeit erlebte Spanien gewaltige politische und gesellschaftliche Fortschritte, die auch für Feministinnen und die wachsende LGTBIQ-Bewegung einschneidende Veränderungen mit sich brachten. Für die schwulen Männer begann die neue Ära zunächst mit einem Rückschlag, der die Bewegung über Jahre hinweg lähmte und zu einer neuen Welle von Homophobie führte. Die Immunschwächekrankheit AIDS (in Spanien SIDA/VIH genannt) schwappte ab 1983, ausgehend von den Vereinigten Staaten, nach Europa über. Sie traf zunächst homosexuell aktive Männer, die gerade dabei waren, ihre neuen Freiheiten zu genießen und auszuleben. Da es sich bei den Betroffenen aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft um eine Randgruppe handelte, die aufgrund ihres „perversen“ und „promisken“ Sexualverhaltens selbst Schuld an der raschen Verbreitung des Virus hatte, versuchte man das Thema in Politik und Medien herunterzuspielen und lieber von den Saunen San Franciscos und den Badestränden Haitis zu reden, von wo das Virus seinen Ausgang genommen hatte. Erst als man sich in Spanien bewusst wurde, dass es sich bei AIDS nicht um einen „Schwulenkrebs“ handelte, sondern die Krankheit sich rasch auch unter Blutern, Drogenabhängigen und Prostituierten verbreitete und über bisexuellen Geschlechtsverkehr in breitere Schichten der Gesellschaft eindrang, reagierten die staatlichen Gesundheitsbehörden mit Aufklärungsarbeit, medizinischer Forschung und Medikamentenentwicklung. Es waren Künstler und Kulturschaffende, die das Thema in die Öffentlichkeit trugen und für mehr Toleranz warben. Erinnert sei an den großartigen Video- und Performance-Künstler Pepe Espaliú, der selbst an AIDS erkrankt war, und die letzten Jahre seines Lebens sich ganz diesem Thema widmete, oder an die Gruppe The Carrying Society und ihre Ausstellung von 1994 im Pazo de Fonseca in Santiago de Compostela. Bekannt, fast populär wurden landesweit die drei comedians, die in der Bar Planta Baja in Granada unter ihrem Künstlernamen Las Pekinesas auftraten und auf lustige Weise die Haltung der spanischen Bischofskonferenz oder des Vatikans zur AIDS-Problematik kritisierten und bloßstellten.

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Ab Mitte der 1980er Jahre kam wieder langsam etwas Schwung in die Schwulen- und Lesbenbewegung. Nach etlichen missglückten Versuchen in der Vergangenheit entstand in Madrid der Colectivo de Lesbianas, Gays, Transexuales y Bisexuales (COGAM), der seinerseits wieder unter dem Namen Fundación Triángulo Ableger in Madrid selbst und anderen spanischen Städten gründete. Beide Gruppen standen fest auf dem Boden der Verfassung, vermieden jeden Anschein von Radikalität und suchten die Zusammenarbeit mit anderen LGTBIQ-Organisationen. Sie engagierten sich schon früh für die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, arbeiteten in der AIDS-Prävention mit dem Gesundheitsministerium zusammen und kümmerten sich später um die organisatorische Durchführung der großen Paraden zum Europride (2007) und Worldpride (2017). Gelegentlich sahen sie sich von zwei entgegengesetzten Seiten angegriffen: Den Konservativen ging ihre Kritik an der Kirche zu weit, die radikalen LGTBIQ-Gruppen kritisierten ihre Nähe zu staatlichen Institutionen und ihre Förderung von Merkantilisierung und Kapitalisierung der schwullesbischen Szene. COGAM war es auch, der 1992 die Gründung eines großen Dachverbandes initiierte, der bis heute unter der Bezeichnung Federación Estatal de Lesbianas, Gais, Trans y Bisexuales (FELGTB) mehr als fünfzig Gruppen und Verbände aus fast allen Autonomen Gemeinschaften Spaniens vereinigt. Ihr erster Präsident war der bereits erwähnte Armand de Fluvià, einer der Väter und Begründer der spanischen Schwulenbewegung in den frühen 1970er Jahren. Die Zusammenarbeit mit politischen Parteien (vor allem den Sozialisten und Kommunisten) sowie Ministerien und anderen staatlichen Stellen ist im Laufe der Zeit immer enger und intensiver geworden. Die feministische Bewegung erlebte in den 1980er und 1990er Jahren mehr Schatten als Licht. Zunächst erzielten die „Gleichheits“-Feministinnen nach dem Regierungswechsel einen weiteren Erfolg, der ihre künftige Institutionalisierung beförderte. 1983 wurde per Gesetz ein Instituto de la Mujer gegründet, das damals dem Ministerio de Cultura, heute dem Ministerio de Igualdad zugeteilt wurde. Da hier auch Frauen der aufgelösten „Frauenabteilung“ Unterschlupf gefunden hatten, war es nun die größte Herausforderung, diese für die Emanzipation und Gleichstellung zu begeistern. In der praktischen Arbeit war es Aufgabe des Instituts, allerhand Daten und Statistiken zur aktuellen Stellung der spanischen Frauen zu sammeln und aufzubereiten sowie Pläne und konkrete Maßnahmen zur

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Stärkung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu entwickeln. Die ersten Ergebnisse waren alles andere als erfreulich. Nuria Varela hat in ihrer ausgezeichneten Studie zur Entwicklung des Feminismus in Spanien dazu einige Zahlen und Fakten zusammengetragen. Weibliche Abgeordnete stellten in den Parlamenten eine kleine Minderheit dar. In der ersten frei gewählten Abgeordnetenkammer von 1977 standen 329 Männern 21 Frauen gegenüber. Nach den Wahlen von 1979 und 1982 sank ihr Anteil nochmals auf 18 bzw. 17 Sitze. Eine Quotenregelung, die als einfacher Ausweg erschien, setzten zunächst die katalanischen Sozialisten durch, der gesamtspanische PSOE folgte erst 1987 mit einer 25 %-Quote, so dass sich der Anteil der Frauen um einiges erhöhte. In der ersten Regierung von Felipe González (1982) gab es keine einzige Ministerin im Kabinett, in der letzten Regierung waren es drei: Carmen Alborch, Cristina Alberdi und Ángeles Amador (Varela 2019: 224). Im Senat und in den Rathäusern sah es nicht viel besser aus. In der gleichen Zeit gab es in ganz Spanien eine Zwei-Drittel-Mehrheit an Hausfrauen, nur 28,3 % von 14,3 Millionen Frauen im arbeitsfähigen Alter hatten eine Beschäftigung oder suchten eine solche. Bei der Familienplanung sah es besser aus. Hatten 1977 noch 40,2 % der Frauen angegeben, noch nie ein Verhütungsmittel benutzt zu haben, so waren es Mitte der 1980er nur mehr 16,5 %. Die Geburtenrate sank daher auch von durchschnittlich 2,8 Kindern (1975) auf 1,74 (1983) (Varela 2019: 225 f.). In der ersten Hälfte der 1990er Jahre weitete sich der Blick der Feministinnen auf andere, bis dahin vernachlässigte Gruppen. Neben den Frauen aus Lateinamerika, die auf der Suche nach Arbeit in Spanien doppelt diskriminiert waren (wegen ihres Geschlechtes und wegen ihrer Herkunft), bemerkte man eine soziale Schicht im eigenen Land, deren Interessen und Anliegen von den Feministinnen bisher nicht wahrgenommen worden waren: die Romaní-Frauen (gitanas). 1990 gründete sich eine erste Asociación Romí in Granada. Ihr Kampf war ein doppelter: gegen die patriarchalischen und machistischen Strukturen in ihrer eigenen Gesellschaft und gegen den mehr oder weniger offenen Rassismus der spanischen Mehrheitsgesellschaft. Und eine weitere gesellschaftliche Gruppe trat stärker ins Licht der Öffentlichkeit: die Mann-zu-Frau-Transsexuellen. Sie hatten sich im Kollektiv Transexualia organisiert und fanden zum ersten Mal auf den regelmäßig stattfindenden Jornadas feministas Gehör. Die AIDS-Epidemie hatte in Spanien negative wie positive Effekte. Sie zeigte zum einen, dass auch eine sich liberal gebende Gesellschaft lange

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existierende Vorurteile und Ausgrenzungsstrategien aktiviert, wenn sie sich durch das sexuelle Verhalten einer nicht-heteronormativen Minderheit bedroht sieht. Auf der anderen Seite kam es nicht nur unter den von der Krankheit betroffenen Männern, sondern unter den Schwulen allgemein zu einer Solidarisierung, die ihrer Identität als solche und ihrem Willen, den eigenen Wünschen und Vorstellungen gemäß zu leben, neue Nahrung gab. Daher kam es ab Beginn der 1990er Jahre vor allem in den großen Städten des Landes zu einer Erscheinung, die der Historiker Alberto Mira nach dem gleichnamigen Madrider Platz als das „Phänomen Chueca“ (Mira 2007: 565 ff.) benannt hat. Es wird kaum einen auswärtigen Touristen und Besucher Madrids aus der LGTBIQ-Szene geben, der den Namen Chueca nicht kennt und während seines Aufenthaltes keine der zahlreichen Bars, Restaurants, Diskotheken und Boutiquen im Umfeld des Platzes aufsucht. Viele von ihnen verbringen dort einen Großteil des Tages und der Nacht oder mieten sich ganz bewusst in einem Hotel, einer Pension oder einem AirBnB-Apartment ein, die auf dem kleinen Areal zwischen der Calle de Fuencarral im Westen, der Calle del Barquillo im Osten, der Gran Vía im Süden und der Calle de Belén im Norden zu finden sind. Chueca ist weder ein distrito („Stadtbezirk“) noch ein barrio („Stadtviertel“ innerhalb eines Bezirkes) im administrativen Sinne, sondern bezeichnet nur den südwestlichsten Teil des Barrio Justicia im Distrito Centro. Seit Ende des 19. Jahrhunderts existierten auf dem Areal, das man heute „Chueca“ nennt, Treffpunkte für schwule Männer, ein „engmaschiges Netz von Etablissements, die von maricas und machos auf der Suche nach Sex frequentiert wurden“ (Fuentes 2007: 379). Diese wie auch andere Örtlichkeiten (z.B. der Straßenstrich männlicher Prostituierter und Transvestiten entlang des Paseo de Recoletos und der Avenida de la Castellana) überlebten den Bürgerkrieg und die franquistische Diktatur. Das ehemalige Arbeiterviertel mit seinen kleineren Handwerksbetrieben erlebte seit den 1960er Jahren einen beispiellosen ökonomischen und sozialen Niedergang, als nach dem massenhaften Wegzug von Familien nur noch alte Bewohner und eben jene „zwielichtigen“ Gestalten blieben. Noch bis in die 1980er Jahre war Chueca eine no-go-area mit heruntergekommenen Gebäuden, schmutzigen Straßen und Plätzen, ein Drogenumschlagplatz und Eldorado jeder Art von Kleinkriminalität. Die Situation änderte sich erst zu Beginn der 1990er Jahre, als eine Schicht von Unternehmern (darunter auch viele vermögende LGTBIQ-

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Aktivisten) die Gentrifizierung der Gegend vorantrieb. Sie investierten privates Kapital, um Häuserfassaden zu restaurieren sowie Kneipen und Geschäfte aller Art zu eröffnen. Bald flossen auch kommunale Mittel in die marode Infrastruktur, und in wenigen Jahren hatte sich Chueca als „angesagtes“ Viertel mitten im Zentrum der spanischen Hauptstadt etabliert. Es entstand eine Zone der Toleranz, in der die LGTBIQ-Community sich frei von Ängsten in der Öffentlichkeit zeigen konnte, aber auch des Konsums, der die ständig wachsenden Bedürfnisse einer sich emanzipierenden Minderheit zu erfüllen suchte. Der Ruf Chuecas (benannt nach dem berühmten Zarzuela-Komponisten Fernando Chueca) verbreitete sich sehr schnell, nicht nur in ganz Spanien, sondern weltweit. Der internationale Gay-Jet-Set hatte nun einen neuen Hotspot, ähnlich dem berühmten Castro-Viertel in San Francisco, dem Greenwich Village in New York, Soho in London oder Le Marais in Paris. Auch in Barcelona bildete sich ein ähnliches Areal, allerdings nicht dort, wo die LGTBIQ-Szene traditionell angesiedelt war, auf beiden Seiten am unteren Ende der Ramblas, rund um die Plaza Real und im so genannten Barrio Chino (heute El Raval). Die spätere Gentrifizierung dieser ebenfalls übel beleumundeten Gegend übernahmen nicht schwule Unternehmer, sondern die Stadtverwaltung. Als neues LGTBIQ-Zentrum entstand im Eixample, der modernen Stadterweiterung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der so bezeichnete Gayxample. Chueca zog im letzten Jahrzehnt immer mehr Schwule, Lesben und Transsexuelle aus aller Welt an. Der in Erinnerung an den Stone-WallInn-Aufstand 1969 in New York seit 1977 jährlich stattfindende Día del Orgullo nahm hier seinen Ausgangspunkt und wurde allmählich zum Reise-Magneten, der in den Jahren vor der Coronakrise mitunter mehr als eine Million Besucher in die Stadt lockte. Die „Marke“ Chueca wurde zu einer wichtigen Einnahmequelle für den städtischen Haushalt. Kein Wunder, dass auch der homo- und transphobe Partido Popular (PP) immer mehr Gefallen an dem Spektakel fand und bei den immer aufwändiger gestalteten Umzügen Präsenz zeigte. Zuletzt entdeckten auch immer mehr heterosexuelle Männer und Frauen den entspannten Charme dieser Oase der Lebenslust und genießen auf der verkehrsfreien Plaza de Chueca wie selbstverständlich ihren vorabendlichen Drink. Aber nicht allen Beobachtern gefiel diese Entwicklung. Schon früh haben militante Aktivisten die zunehmende Kommerzialisierung und Kapitalisierung Chuecas kritisiert. Es entspann sich eine heftige Diskussion

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um die Frage, welche Bedeutung und welche Auswirkungen das „Phänomen Chueca“ für die politisch aktive LGTBIQ-Bewegung hat. Begonnen hatte der Streit um den Begriff „Ghetto“ und „Ghettoisierung“. Nachdem es sich im Falle von Chueca nicht wie im Mittelalter um eine unfreiwillige Absonderung missliebiger Gesellschaftsgruppen handelte, sondern um eine freie Entscheidung jedes Einzelnen, dorthin zu gehen, zu leben, zu arbeiten und sich zu amüsieren, befürworteten viele Schwule, Lesben und Trans-Personen die Existenz eines Platzes wie Chueca. Es ging ihnen vor allem um einen Ort der „Sichtbarwerdung“ (visibilización), um einen Schutzraum, wo man sich nicht mehr verstecken musste, wo straflose Kommunikation erfolgen und wo eine Stärkung und Festigung einer jahrhundertelang unterdrückten sexuellen Identität stattfinden konnte. Der schwule Schriftsteller Luis Antonio de Villena, einer der bedeutendsten lebenden Lyriker Spaniens, hat das in einem Interview so ausgedrückt: „Ich bin kein Befürworter eines Ghettos, das Ghetto scheint mir eine vorübergehende Lösung zu sein […] aber besser ein Ghetto als ein Land, wo mit Steinen geworfen wird.“ (Shangay 2016: 292) Militante Chueca-Kritiker waren allerdings der Meinung, trotz einer gewissen Sicherheit und Freizügigkeit sei ein Ghetto doch immer auch ein Ort der sozialen Exklusion, die die Minderheit von der Mehrheitsgesellschaft separiert und jetzt, als sich die Forderung salir del armario weitgehend zu erfüllen scheint, sich eine neue Selbstisolation der Lesben, Schwulen und Transsexuellen neu zu etablieren beginnt. Ein prominenter Verteidiger Chuecas ist Alberto Mira, der in seiner umfänglichen und herausragenden Studie zur Kulturgeschichte der Homosexualität in Spanien im 20. Jahrhundert darauf verweist, wie wichtig ein solcher Ort auch heute noch für besondere LGTBIQ-Gruppen ist. Chueca ist nach wie vor ein Raum für ein persönliches coming-out und eine gesunde und wichtige Sozialisation, vor allem für Jugendliche aus der Provinz, die in Castilla-La Mancha, der Extremadura oder Galicien wohnen. Dank gut ausgebauter Verkehrswege haben sie die Möglichkeit, am Wochenende nach Madrid zu fahren und hier andere schwule Männer zu treffen, ihnen fremde Lebensstile kennen zu lernen und einen offenen und ungezwungenen Umgang mit ihrer Sexualität einzuüben. Auch schafft Chueca einen Freiraum für neue Identitäten und Entfaltungsmöglichkeiten. Der aus den Vereinigten Staaten übernommene Begriff bear (in Spanien als oso bezeichnet), körperlich kompakt, muskulös (Mira nennt ihn darum auch musculoca), mit Bart, Brustbehaarung, oft

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mit Tätowierungen, in Lederkleidung mit den dazugehörigen Accessoires, ist eine Erscheinung, die in den 1990er Jahren und danach einen neuen schwulen Typus verkörpert, den es so in Spanien früher nicht gegeben hat. Er findet hier die entsprechenden Geschäfte und Boutiquen um sich einzukleiden, spezifische Bars und Kneipen (zum Beispiel das legendäre und in einem Film verewigte Hot, oder den „härteren“ Leather Club), wo er unter seinesgleichen ist, in einem öffentlichen Umfeld, wo er sich sicher und akzeptiert fühlen kann. Im Lichte der oben beschriebenen Entwicklung weitete sich die Auseinandersetzung um das „Phänomen Chueca“ zu einer grundsätzlichen Kritik an einer gewinnorientierten Kommerzialisierung der Warenwelt sowie einer entsolidarisierenden Konsumorientierung der neu heranwachsenden Chueca-Generation aus. Einer der schärfsten Kritiker war Enrique Hinojosa Vázquez (besser bekannt unter dem Pseudonym Shangay Lily), der als erste spanische drag queen auftrat und als Fernsehstar, Buchautor und Theatermacher weit über die Grenzen Madrids hinaus bekannt wurde. Ein besonderes Interesse aber erregte seine schillernde Persönlichkeit als einer der konsequentesten Gegner der aktuellen spanischen Politik und Gesellschaft. Er schleuderte Mariano Rajoy auf offener Bühne ein „Schluss jetzt mit der Homophobie!“ entgegen und zerriss öffentlich ein Foto der PPRegionalpräsidentin Esperanza Aguirre. Pablo Iglesias und der PodemosPartei hielt er vor, dass er von ihnen rein gar nichts erwarte, die Partei Ciudadanos lehnte er wegen ihres Bündnisses mit den „Faschisten“ ab und vom PSOE behauptete er, er sei weder sozialistisch noch eine Arbeiterpartei. Er schreckte auch nicht vor scharfen Attacken gegen etablierte und saturierte schwule Weggefährten zurück, die er als gaympresarios disqualifizierte. Besonders gegen Pedro Zerolo, den Präsidenten der Federación Estatal de Lesbianas, Gais, Trans y Bisexuales und prominentes Mitglied der Sozialistischen Partei, richtete sich sein Zorn. Er sei einer der Totengräber des früheren militanten Aktivismus und der damals gelebten Solidarität und habe aus der kämpferischen Bewegung und starken Gemeinschaft einen zahmen, bürgerlichen Haufen von angepassten Konsumenten gemacht. Und die Existenz Chuecas war für ihn der sichtbare Ausdruck all dieser negativen Entwicklungen. Shangay Lily hat damit einige wunde Punkte getroffen. Die wachsende, vor allem jugendliche LGTBIQ-Szene setzt sich mehrheitlich immer mehr aus angepassten, selbstzufriedenen und in die heteronormative Gesellschaft gut integrierten „Bürgern“ zusammen. Diese „Integrationisten“

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glauben, es sei alles für ihre „Befreiung“ getan worden. Dass mit der Entstehung eines gaypitalismo, der nirgendwo so sichtbar wie in Chueca ist, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der LGTBIQ-Bewegung entstanden ist, wird dabei ignoriert. Es gibt nicht nur gut situierte und wohlhabende Schwule und Lesben, sondern auch weniger betuchte (sozial Schwache), weniger attraktive (Alte, Kranke) und doppelt diskriminierte (Migranten) Gruppen, die aus der schönen, neuen Chueca-Welt ausgeschlossen werden. Chueca als „Modell“ hat sich in den drei Jahrzehnten seines Bestehens verändert. Die „Szene“ (gemeint ist das einschlägige Nachtleben) befindet sich in einem ständigen Transformationsprozess, traditionelle Lokale schließen und neue Inhaber etablieren sich. Das früher gemütliche und etwas altmodische Café Figueroa hat aufgegeben; es heißt jetzt La Kama Café und serviert statt Café con leche oder einen traditionellen JB auf Eis farbenfrohe Tropencocktails, das kleine XXX in der Calle Clavel ist schon seit etlichen Jahren geschlossen und in ein Bekleidungsgeschäft umgewidmet und vor dem Black and White, eine der ältesten Bars in Chueca mit mitternächtlichen Showeinlagen, stehen seit einiger Zeit Türsteher, die den Zutritt regulieren. Chueca hat heute viel von seinem ursprünglichen Charme eingebüßt. „Verlorene“ Jahre und „goldene“ Zeiten – Die Regierungen José María Aznar (1996-2004), José Luis Rodríguez Zapatero (20042011) und Mariano Rajoy (2011-2018)

Als die Sozialisten 1996 die Parlamentswahlen verloren hatten und der konservative Vorsitzende des Partido Popular, José María Aznar, Regierungschef wurde, begann für feministisch orientierte Frauenrechtlerinnen ebenso wie für LGTBIQ-Aktivisten eine bittere Phase des Hinhaltens und Stillstands, was die Weiterentwicklung ihrer Forderungen betraf. In der ersten Legislaturperiode (1996-2000) verfügte der PP mit 156 von 359 Mandaten nicht über die absolute Mehrheit, erreichte aber mit den 16 Stimmen der katalanischen Regionalpartei Convèrgencia i Unió und den vier Stimmen der Coalición Canaria eine hauchdünne Parlamentsmehrheit von einer Stimme. Eine der ersten Herausforderungen für die neue Regierung bestand 1996 darin, eine Ley de Parejas de Hecho („eingetragene Lebenspartnerschaften“) zu verabschieden, die allen Paarbeziehungen unabhängig von

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ihrem jeweiligen Geschlecht, dieselben Rechte einräumen und auf nationaler Ebene gelten sollte. Die FELGTB hatte bereits großen Druck auf die Regierung González und die zuständige Ministerin für Soziale Angelegenheiten Cristina Alberdi ausgeübt, bewirkte aber nurmehr einen Gesetzesentwurf, der im Oktober 1995 fertig gestellt, aber nicht mehr im Parlament verabschiedet werden konnte. Angesichts eines drohenden Wahlsieges der Rechten hatten sich die ersten Autonomen Gemeinschaften bereits daran gemacht, auf kommunaler oder regionaler Ebene eigene Gesetze für die parejas de hecho zu erlassen. José Ángel Cuerda, der Bürgermeister der baskischen Hauptstadt Vitoria und Mitglied des konservativen Partido Nacionalista Vasco (PNV), hatte im März 1994 als erster Politiker eine amtliche Stelle eingerichtet, wo sich heterosexuelle wie auch schwule und lesbische Paare registrieren konnten. In den nächsten Jahren folgten fast alle Regionalparlamente mit ähnlichen gesetzlichen Regelungen, die allerdings oftmals stark voneinander abwichen. Hinzu kam, dass der Tribunal Constitucional immer wieder einzelne Punkte bestätigte, andere jedoch als verfassungswidrig einstufte. Das führte zu einer unzumutbaren Unübersichtlichkeit und zu rechtverzerrenden Ungleichheiten, die von den Schwulen- und Lesbenverbänden als unhaltbar betrachtet wurden. Begleitet wurde die Forderung nach einem nationalen Gesetz durch ausländische Vorbilder wie Dänemark, das bereits 1989 ein solches Gesetz verabschiedet hatte, vor allem aber durch den Druck seitens des Europäischen Parlaments. In dessen Auftrag hatte die deutsche Grünen-Politikerin Claudia Roth 1994 ein Positionspapier vorgelegt, das eine einheitliche gesetzliche Regelung für alle Länder der Europäischen Union forderte. Die neue konservative Regierung erklärte nach der Regierungsübernahme 1996, dass der Gesetzesentwurf der sozialistischen Vorgängerregierung momentan für sie keine Priorität besitze. Die Madrider Fundación Triángulo übte daraufhin durch landesweite Demonstrationen erneut Druck auf die Regierung aus. Verstärkt wurden die dringenden Appelle durch die Sozialistische und die Kommunistische Partei. Schließlich ließ der Partido Popular am 18. März 1997 eine erste parlamentarische Debatte zu. Der konservative Abgeordnete Jorge Trías Sagnier brachte allerhand verfassungsrechtliche Bedenken vor, bezog vor allem Stellung gegen das mit dem Gesetz verbundene Adoptionsrecht, befürchtete eine betrügerische Ausnutzung zur Erlangung der spanischen Staatsbürgerschaft und

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verwies letztendlich auf die hohen Kosten, die mit der Umsetzung des Gesetzes verbunden sein würden. Schließlich kam der Vorschlag, eine subcomisión (parlamentarische Arbeitsgruppe) einzusetzen, die sich weiter mit dem Thema befassen sollte. Die folgende Abstimmung brachte dann aufgrund des Fehlens von mehreren Abgeordneten verschiedener Parteien ein Ergebnis von 161 Pro- zu 161 Contra-Stimmen. Als auch eine zweite Abstimmung zum selben Resultat führte, unterbrach Parlamentspräsident Federico Trillo die Sitzung. Nach einer kurzen Unterredung mit den beiden Abgeordneten von der Coalición Canaria (CC), die nicht gegen den Gesetzentwurf gestimmt hatten, kam in einer dritten Abstimmung das von der Regierung gewünschte Ergebnis mit zwei Stimmen Mehrheit zustande. Die eingesetzte subcomisión nahm ihre „Tätigkeit“ auf, und die heikle Angelegenheit war damit endgültig vom Tisch. Der Frust unter den Verlierern war so groß, dass die Forderung erhoben wurde, alle schwulen PP-Abgeordneten öffentlich zu outen, eine Idee, die aber letztlich wieder verworfen wurde. Nachdem sich die beiden CC-Abgeordneten ihres Fehlers (der später korrigiert wurde) bewusst wurden und sich in dieser Frage wieder vom PP distanzierten, legten die Konservativen wenige Wochen später einen eigenen Gesetzentwurf unter dem Titel Ley de Uniones Civiles vor, der auf den Grundsätzen Gleichheit, rechtliche Sicherheit, Freiheit und Intimität beruhte. Einen neuen Schub brachten die Wahlen des Jahres 2000, bei denen die populares die absolute Mehrheit erreichten. Feministische ebenso wie schwule und lesbische Aktivisten befürchteten jetzt einen politischen roll back, der die emanzipatorischen Errungenschaften der Vergangenheit rückgängig machen würde. Da mittlerweile in den Medien und der Öffentlichkeit oft gar kein Unterschied mehr zwischen eingetragener Partnerschaft und einer Ehe gemacht wurde, begann sich die Diskussion um gleichgeschlechtliche Paarbildungen immer mehr auf die Ausweitung der traditionellen Ehe zu fokussieren. In dieser zweiten Amtszeit (2000-2004) verfolgten José María Aznar und seine konservative Partei tatsächlich eine LGTBIQ-feindliche Politik mit größerer Offenheit. Besonders deutlich wurde dies im Juli 2002, als Spanien gegen die Anerkennung der Asociación Internacional de Lesbianas y Gays (ILGA) als konsultatives Mitglied des Comité de ONGs bei den Vereinten Nationen stimmte. Spanien fand sich dabei − im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern, die eine Aufnahme befürwortet hatten − Seite an Seite mit dem Iran, Nigeria und dem Vatikan. Auf die

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­ ufforderung des Europäischen Parlamentes, ihre Abkommen und EmpA fehlungen zu befolgen, stilisierte Außenminister José Piqué i Camps Aznar als internationalen Vorkämpfer für die Rechte von Kindern. Die irrige Ineinssetzung von Homosexualität und Pädophilie und der damit verbundene Irrglaube, man könne Kinder zur Homosexualität verführen bzw. erziehen, ist bis heute ein bekanntes und immer wieder gern benutztes Argument, um die Existenz und Ausweitung von Rechten sexueller Minderheiten zu unterminieren (siehe Polen und Ungarn). Die LGTBIQ-Interessenvertreter ließen sich allerdings nicht einschüchtern. Im Gegenteil! Die 1992 neu gegründete Federación Estatal de Lesbianas, Gays y Transexuales (FELGT) verstand sich als Dachverband für die zahlreichen LGTBIQ-Gruppen im ganzen Land. Im Jahr 2000 gab sie sich unter ihrem damaligen Präsidenten Pedro Zerolo ein neues Programm und eine straffere innere Struktur. Sie trat nun in den folgenden Jahren deutlich selbstbewusster auf als in ihrer Anfangszeit und engagierte sich politisch stärker gegen den PP. In den Wahlkämpfen 2004 („Wähl nicht PP!“) und 2008 („Wähl rosa!“) organisierte sie Kampagnen und attackierte lautstark die homophoben Äußerungen von Esperanza Aguirre, der Präsidentin der Autonomen Gemeinschaft Madrid, von Ana Botella, der damaligen konservativen Bürgermeisterin von Madrid, und von Mariano Rajoy. Zahlreiche Projekte und Straßendemonstrationen gaben der Bewegung einen Teil ihrer alten Stärke zurück. Ein spürbares Aufatmen der Feministinnen und der LGTBIQ-Bewegung brachte der erneute Wahlsieg der Sozialisten im Jahr 2004. Die Gesetze, die der Vorsitzende des PSOE und neue Regierungschef, José Luis Rodríguez Zapatero, gleich nach seiner Wahl zum Presidente del Gobierno in Angriff nahm, revolutionierten die spanische Gesellschaft in kürzester Zeit und sind bis heute Meilensteine und Vorbilder für eine gerechtere Migranten-, Frauen- und Minderheitenpolitik für ganz Europa und Lateinamerika. Im Dezember 2004 wurde die Ley contra la Violencia de Género verabschiedet, die Frauen vor machistischer Gewalt (vor allem im persönlichen und häuslichen Umfeld) schützen sollte. Im darauffolgenden Jahr folgten Veränderungen im Scheidungsrecht: Das gemeinsame oder getrennte Sorgerecht für Scheidungskinder konnte ein Richter nun auch ohne Einverständnis der Eltern festlegen, und ein so genannter divorcio exprés machte es möglich, dass eine Ehe innerhalb der ersten drei Monate ohne Angabe von Gründen und ohne vorherige Trennungsphase geschieden

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werden konnte. 2006 folgten die Ley de Reproducción Asistida (künstliche Befruchtung) und weitere Gesetze zur biomedizinischen Forschung und Präimplantationsdiagnostik. In beiden Bereichen ist Spanien heute europaweit führend. Dann folgte am 15. März 2007 die Verabschiedung eines Gleichstellungsgesetzes (Ley de Igualdad) − ein Erfolg für alle feministischen Organisationen und Aktivistinnen, auf den lange hingearbeitet worden war. Es sah eine Verlängerung der gesetzlich garantierten Elternzeit vor, führte eine Frauenquote auf Wahllisten der Parteien ein und verpflichtete Unternehmen, auf ein Gleichgewicht von Männern und Frauen in Führungspositionen zu achten. Im Juli 2007 folgte der „Baby-Scheck“, der den Müttern aller ab jenem Monat geborenen Kinder eine staatliche Einmalzahlung von 2.500 Euro garantierte. Oppositionsführer Mariano Rajoy feixte zwar, letztendlich werde die Regierung noch jedem Spanier einen Bungalow in der Karibik spendieren, stimmte aber mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen für das Gesetz, das damit im Parlament einstimmig angenommen wurde. Außerdem stand noch eine Neuregelung des Abtreibungsrechtes auf der parlamentarischen Tagesordnung. Die Geschichte der gesetzlichen Regelung einer straffreien Abtreibung geht in Spanien auf ein Dekret aus dem Jahre 1936 zurück, das der damalige katalanische Regionalpräsident Josep Tarradellas unter Mitwirkung seiner Gesundheitsministerin Federica Montseny zu Beginn des Bürgerkrieges erlassen hatte. Es war ihm nur eine kurze Dauer beschieden, denn die Sieger des Bürgerkrieges schafften es nach ihrer Machtübernahme 1939 wieder ab. Obwohl den Frauen in den ersten Jahren der Transition wesentliche Forderungen auf Mit- und Selbstbestimmung erfüllt wurden, mussten sie auf eine Legalisierung der Abtreibung noch Jahre warten. Ein erstes Gesetz trat unter sozialistischer Federführung 1985 in Kraft. Es erlaubte die straffreie Abtreibung allerdings nur in drei konkret definierten Fällen: Im Falle eines hohen Risikos für die körperliche und geistige Gesundheit der schwangeren Mutter, im Falle, dass der Schwangerschaft eine polizeilich zur Anzeige gebrachte Vergewaltigung vorausging oder wenn physische oder psychische Behinderungen am ungeborenen Kind pränatal festgestellt werden konnten. In allen anderen Fällen blieb ein Schwangerschaftsabbruch gesetzlich verboten. Dieses Gesetz war ein erster Schritt in Richtung Entkriminalisierung, befriedigte aber die betroffenen und ein Selbstbestimmungsrecht einfordernden Frauen in keiner Weise. Erst am Ende der zweiten Amtszeit von José Luis Rodríguez Zapatero kam es 2010 zu einem neuen Gesetz. Dieses

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fügte zwei ebenso entscheidende wie umstrittene Artikel hinzu: zum einen den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch (interrupción voluntaria) ohne Indikationen in den ersten vierzehn Wochen, zum anderen die Möglichkeit einer selbstbestimmten Abtreibung für 16- und 17-Jährige ohne elterliche Zustimmung. Das Gesetz erhielt eine Mehrheit von 184 Stimmen in der Abgeordnetenkammer, gegen die geschlossene Ablehnung der Konservativen und einzelner Abgeordneter aus kleineren Parteien. Das umstrittenste und am heftigsten umkämpfte legislative Vorhaben der Ära Rodríguez Zapatero war aber das 2005 in Kraft getretene Gesetz, das die Ehe einschließlich aller Rechte, wie sie für Heterosexuelle galten, für schwule und lesbische Paare öffnete. Die Forderung, dass zwei gleichgeschlechtliche Personen heiraten können, ist so neu nicht. Der Katalane José María Llanas Aguilaniedo, ein gelernter Apotheker mit literarischen und journalistischen Neigungen, brachte bereits 1904 das Thema zur Sprache. In einem Artikel mit dem Titel Matrimonios entre mujeres plädierte er für die Möglichkeit, dass zwei Frauen ebenso wie Mann und Frau den Bund der Ehe schließen könnten, da eine solche Verbindung genauso auf gegenseitiger Liebe, Hilfe und Unterstützung basiere. Auch sei eine sexuelle Befriedigung (satisfacción perfecta del instinto) wie in einer heterosexuellen Ehe garantiert. Llanas Aguilaniedo forderte damals in prophetischer Voraussicht, sich ernsthaft mit dem Thema zu beschäftigen, da es früher oder später ja doch kommen werde (vgl. Martínez 2017: 228). Der richtige Zeitpunkt war gekommen, als die Sozialisten die Forderung nach der gleichgeschlechtlichen Ehe in ihr Programm für die Wahl 2004 aufnahmen. In seiner Antrittsrede als neuer Regierungschef bekräftigte Rodríguez Zapatero noch einmal dieses Versprechen, und schon wenige Wochen später legte Justizminister Juan Fernando López Aguilar einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Die vorgeschriebene Stellungnahme durch den Staatsrat (Consejo de Estado) erkannte zwar eine bestehende Diskriminierung von schwulen Männern und lesbischen Frauen an, hielt aber dagegen, dass man diese auch mit anderen Mitteln als mit der Ausweitung des Ehebegriffs bekämpfen könne. Trotz dieses negativen Votums brachte die Regierung die Gesetzesvorlage am 1. Oktober 2004 ins Parlament, wo sie heftig diskutiert und am 21. April 2005 mit 183 Pro-, 136 Contra-Stimmen und drei Enthaltungen angenommen wurde. Nach erheblichen weiteren Turbulenzen unterzeichnete König Juan Carlos am 1. Juli 2005 das Gesetz, das mit Wirkung vom 3. Juli endgültig in Kraft trat.

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Spanien war damit nach den Niederlanden und Belgien das dritte Land weltweit, das eine gleichgeschlechtliche Ehe gesetzlich regelte. Das Gesetz wurde nach seinem Inkrafttreten nicht sofort von allen staatlichen Stellen akzeptiert. Richter in verschiedenen Landesteilen weigerten sich, das neue Recht anzuwenden und nahmen keine Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare vor. Der Oberste Gerichtshof untersagte den Richtern allerdings mit dem Hinweis auf ihre Legalitätspflicht ein Verweigerungsrecht. Ein Teil des Partido Popular reichte am 30. September 2005 Klage beim Verfassungsgericht ein, das den Einspruch nach sieben Jahren (!) am 6. November 2012 mit 8 gegen 3 Stimmen zurückwies. Der PP akzeptierte schließlich das eindeutige Votum der Verfassungsrichter. Obwohl verschiedenen Umfragen zufolge rund Zweidrittel der spanischen Bevölkerung eine gleichgeschlechtliche Ehe befürworteten, gab es aus kirchlichen und konservativen Kreisen von Anfang an enormen Widerstand. Das mediale Bild, das von der Person und Politik Mariano Rajoys vermittelt wurde, war das − im Vergleich zu seinem Vorvorgänger Aznar − einer weniger sturen und starren Persönlichkeit sowie das einer stärkeren Hinwendung zu politischen Positionen der Mitte. Was seine Haltung zum Feminismus und zur LGTBIQ-Bewegung betraf, trifft das nicht zu. Im Zuge der Abtreibungsdebatte trat dies offen zu Tage. Der PP zog gegen einzelne Bestimmungen des neuen Abtreibungsgesetzes vor das Verfassungsgericht und schrieb dessen sofortige Abschaffung in sein Programm für die darauffolgenden Wahlen. Bei einem der ersten öffentlichen Auftritte nach der gewonnenen Wahl von 2012 forderte der neue konservative Justizminister Alberto Ruiz Gallardón die Rückkehr zum Gesetz von 1985. Allerdings sah sich Rajoy durch allzu starken Druck von außen genötigt, das neue Gesetzesvorhaben fallen zu lassen und nur auf der elterlichen Zustimmung bei Schwangerschaftsabbrüchen Minderjähriger zu bestehen. Ein neuer Aufbruch? − Die Regierung von Pedro Sánchez (2018-2021)

Als Pedro Sánchez nach der Vereinbarung einer Koalitionsregierung mit Unidas Podemos und mit der Unterstützung durch die wichtigsten Regionalparteien nach einer über einjährigen parlamentarischen Hängepartie am 7. Januar 2020 zum Presidente del Gobierno gewählt wurde, spürte

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man ein Aufatmen in den Reihen der feministisch organisierten und engagierten Frauen ebenso wie innerhalb der LGTBIQ-Bewegung. Eine „linke“ Regierung weckte nostalgische Erinnerungen an die Reformjahre der Regierung Rodríguez Zapatero, und man hoffte, dass die Ära des Rückschritts und Stillstands ein Ende finden würde. Das Ministerio de Igualdad aus dieser Zeit wurde nach einem jahrelangen Dämmerschlaf wieder aufgewertet, und Irene Montero, die Ehefrau von Podemos-Gründer Pablo Iglesias, übernahm das Amt der Gleichstellungsministerin. Die studierte Psychologin, radikale Feministin und Aktivistin machte sich sofort an die Arbeit, um das erste Großereignis des Jahres, den bevorstehenden Weltfrauentag am 8. März 2020, vorzubereiten. Trotz bereits hoher Infektionszahlen durch das Coronavirus und der Warnungen von Medizinern und Virologen vor Massenveranstaltungen im ganzen Land, fand der Día de la Mujer am 8. März 2020 wie geplant statt. Die Teilnehmerzahl war deutlich geringer als in den beiden Jahren zuvor. Grund dafür dürften die innerfeministischen Spannungen der vorhergehenden Wochen gewesen sein, aber auch die Furcht vor einer möglichen Ansteckung durch den grassierenden Krankheitserreger Covid-19. Dennoch versammelten sich in vielen spanischen Städten Tausende von Frauen, um ihre Forderungen publik zu machen. In Madrid sollen es nach offiziellen Angaben rund 120.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen gewesen sein, in Barcelona und Bilbao etwa 50.000, in Sevilla nur 15.000, gegenüber 60.000 im Jahr 2019 (Zahlen nach El País, 9. März 2020). Es war ein bunter Haufen, der an jenem Sonntagnachmittag skandierend und singend die Madrider Gran Vía entlang zog, angeführt von Begoña Gómez Fernández, der Ehefrau von Pedro Sánchez, Carmen Calvo und Irene Montero (jeweils ihr eigenes parteipolitisch gefärbtes Transparent in die Höhe haltend) sowie der halben Ministerriege. Und es waren nicht nur die politisch engagierten Feministinnen, sondern die ganze Vielfalt an Geschlechtern und sexuellen Minderheiten vertreten, neben vielen lesbischen Frauen, schwulen Männern und Trans-Personen auch Gruppen von Umweltschützern, Antirassisten und Prostitutionsgegnerinnen. Eine kleine Gruppe hatte sich bereits am Morgen vor dem Centro Cultural Conde Duque nahe der Plaza de España eingefunden und einen kleinen, aber bewegenden Gedenkakt vor der Büste der berühmten militanten Aktivistin Clara Campoamor, die sich während der Republik insbesondere für das Frauenwahlrecht stark gemacht hatte, abgehalten.

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Die Demonstration war im Vergleich zu den früheren Frauentagen stark politisiert. Neben den bekannten Forderungen (gerechte Entlohnung, Verbot der Prostitution und der Leihmutterschaft, u. a.) war es vor allem die Forderung nach einem entschiedenen Vorgehen gegen männliche Gewalt. Es nahmen diesmal alle Parteien (außer der rechtsradikalen Vox-Partei) am Umzug teil. Für den konservativen Partido Popular und die rechtsliberalen Ciudadanos war es die erste öffentliche Teilnahme an einem Frauentag. Letztere wurden von der Madrider Vizebürgermeisterin Begoña Villacís und der Parteisprecherin Lorena Roldán angeführt, die zusammen mit anderen Ciudadanos-Frauen als „Faschistinnen“ beschimpft und tätlich angegriffen wurden. Die Polizei musste sie in Sicherheit bringen. Santiago Abascal, dessen Vox-Partei an keiner Demonstration im Lande teilgenommen hatte, kommentierte das Geschehen mit seinen üblichen Hasstiraden. Die Organisation und Durchführung der Demonstrationen hatten noch ein juristisches Nachspiel, bei dem es um Kompetenzüberschreitungen von Seiten der Behörden und Schuldzuweisungen an verschiedene Verantwortliche ging, hatte sich das Massenevent in den großen Städten doch als erster Hotspot für die anschließende schnelle Ausweitung des Virus erwiesen. Das friedliche Nebeneinander und Miteinander der Feministinnen erhielt aber schnell einen innerkoalitionären Dämpfer. Es ging um das erste Gesetzesvorhaben, die Ley de Violencia Sexual, das Irene Montero bereits vor dem Regierungseintritt hatte ausarbeiten lassen und das nun dem Kabinett zur Billigung vorgelegt werden sollte. Dagegen wandte sich die sozialistische Vizepräsidentin Carmen Calvo, die mit dem Entwurf in der vorgelegten Fassung nicht einverstanden war. Nur mühsam einigte man sich wegen des bevorstehenden Frauentags auf einen Minimalkonsens. Im Grunde, so berichteten einige Medien, ging es bei diesen Streitereien um Führungsanspruch innerhalb der feministischen Bewegung. Man hatte sich auf Seiten der dem PSOE nahestehenden Feministinnen nicht damit abgefunden, dass das für sie so zentrale Ministerium dem Koalitionspartner überlassen wurde. Bei der Diskussion über die geplante Neufassung des Transgendergesetzes kam es erneut zu heftigen politischen Debatten und Auseinandersetzungen. Das Gleichstellungsministerium sah die Notwendigkeit, die Ley de Identidad de Género aus dem Jahr 2007 grundlegend zu reformieren. Die Transvestiten-, Transsexuellen- und Transgendergruppen (im Folgenden als Trans-Personen bezeichnet) waren während der ­Transition

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z­ahlreich auf den ersten Demonstrationen und Kundgebungen in Barcelona und Madrid vertreten gewesen. Neben schwulen Männern und lesbischen Frauen engagierten sie sich damals ebenfalls im Kampf gegen die LPRS. Sie fühlten sich sowohl dem Feminismus als auch der schwullesbischen Szene zugehörig und setzten sich für die Forderungen beider Gruppen ein. Von diesen, wie auch von einem Großteil der Gesellschaft wurden sie indes oftmals belächelt, im schlechtesten Fall angefeindet und ausgegrenzt. Das bewusste Überschreiten traditioneller Geschlechterrollen und die Verwischung des binären Gegensatzes von Mann und Frau, ihr schrilles Auftreten in der Öffentlichkeit sowie die Tatsache, dass TransPersonen oft als Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen tätig waren, erschwerte eine Integration in die Frauen- und Schwulenbewegung. 1987 gründeten sie schließlich ihre eigene Interessenvertretung, die Asociación Española de Transexuales (Transsexualia). Diejenigen von ihnen, die der Prostitution nachgingen, forderten ein Ende der Polizeiwillkür gegen sie sowie die Aufnahme in die staatliche Sozialversicherung, alle drangen auf das Recht auf Änderung ihres Namens und Weglassung ihres Geschlechtes in amtlichen Dokumenten sowie auf den Zugang zu medizinischen und operativen Geschlechtsumwandlungen. Der Anstoß zu einer Verbesserung der Situation von Trans-Personen kam von außen. 1989 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, die von den Regierungen der Mitgliedsstaaten ein Ende der Diskriminierung und Marginalisierung verlangte. Das Fehlen einer entsprechenden Gesetzgebung in Spanien führte dazu, dass meist Gerichte bis hin zum Tribunal Supremo vielen Trans-Personen zu ihren eingeklagten Rechten verhalfen. Einen wichtigen Erfolg erzielten TransFrauen, als auf feministischen Jornadas über ihre Probleme diskutiert wurde und sie zu den alljährlichen Demonstrationen am Frauentag zugelassen wurden. In den 1990er Jahren erhielten Trans-Personen vermehrte Unterstützung durch die Politik. Die Asociación de Identidad de Género de Andalucía und der andalusische Defensor del Pueblo machten sich für die Rechte von Trans-Personen stark, und die Kommunistische sowie die Sozialistische Partei starteten parlamentarische Initiativen zur Verbesserung ihrer rechtlichen Situation. Erst nach Ablösung der konservativen AznarRegierung 2004 konnten jedoch erste Schritte einer gesetzlichen Regelung unternommen werden. Sie mündeten 2007 in die Ley Integral de Identidad de Género, die mit 176 Stimmen (gegen 123 Stimmen des Partido Popular und drei Stimmen der Unió Democràtica de Catalunya) angenommen

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­ urde (vgl. zur Geschichte der Transpersonen den ausführlichen Aufsatz w von Platero Méndez 2009). Nach dem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen Mariano Rajoy 2018 nahm die Diskussion über eine grundlegende Reform des geltenden Gesetzes zur Geschlechtsidentität von 2007 Fahrt auf. Viele Trans-Personen, unterstützt von einer Mehrheit der organisierten Schwulen und Lesben, waren unzufrieden mit der bestehenden Regelung. Das Gesetz sah zwar die Möglichkeit einer Änderung des Namens und des Geschlechtes in amtlichen Dokumenten (wie Personalausweis, Reisepass, etc.) vor und verzichtete dabei auf die Bedingung einer zuvor zu erfolgenden operativen Geschlechtsumwandlung. Die Antragsteller mussten allerdings ein medizinisches oder psychologisches Gutachten vorlegen und den Nachweis einer mindestens zweijährigen hormonellen Behandlung erbringen. Dies sahen Trans-Personen nicht nur als zusätzliche Diskriminierung an, sondern als eine Pathologisierung ihrer Existenz, werde durch solche Maßnahmen doch suggeriert, es handle sich um „kranke“ oder „gestörte“ Menschen. In beiden Linksparteien PSOE und UP waren bereits Diskussionspapiere und Entwürfe ausgearbeitet worden. Doch erst nachdem Pedro Sánchez eine informelle Koalition mit Pablo Iglesias geschlossen hatte und 2018 zum neuen spanischen Regierungschef gewählt worden war, kam die Diskussion um ein neues Trans-Gesetz wieder auf die parlamentarische Tagesordnung. Die neue Gleichstellungsministerin Irene Montero von UP arbeitete seit ihrer Ernennung im Januar 2020 mit Hochdruck an einer Gesetzesvorlage, die Ende 2020 öffentlich gemacht wurde. Sie sah vor, dass eine Namensänderung und eine Registrierung des gewünschten Geschlechtes ohne jegliche Vorbedingung nur aufgrund einer ausdrücklichen Erklärung vor dem Registro Civil erfolgen kann. Es entfallen damit die Vorlage des bis dahin erforderlichen Gutachtens sowie jede Art einer vorherigen Behandlung. Für minderjährige Jugendliche soll ein Mindestalter von 16 Jahren gelten, für solche zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr eine elterliche Einverständniserklärung. Personen, die sich als nicht-binär definieren, sollen die Möglichkeit erhalten, eine konkrete Geschlechtszuweisung in amtlichen Dokumenten abzulehnen. Trans-Jugendliche in Schulen sollen ihre Geschlechtszugehörigkeit ohne Diskriminierung zeigen können und alle Einrichtungen gemäß ihrer gewählten Geschlechtsidentität nutzen dürfen. Bei Sportwettkämpfen werden sie in die Gruppe ihres registrierten Geschlechtes eingeteilt und dürfen nicht einer Überprüfung ihres biologischen Geschlechtes unterzogen werden. In Gefängnissen

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werden Trans-Personen als eigene Gruppe behandelt und von den anderen Häftlingen gesondert untergebracht. Es war abzusehen, dass dieser Gesetzentwurf von Gegnern des Projektes aufgrund juristischer und vor allem auch praktischer Probleme abgelehnt würde. Es waren zunächst Feministinnen der „alten Schule“, die politisch meist den Sozialisten nahestanden, die erhebliche Einwände vorbrachten. Als prominenteste Sprecherin trat die Vizepräsidentin Carmen Calvo, langjährige Kämpferin für die Rechte spanischer Frauen und Vorgängerin von Irene Montero als Gleichstellungsministerin, in den Ring. Das Hauptargument war, ein solches Gesetz würde die feministischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte in Frage stellen bzw. zunichte machen, da in „Frauen“ verwandelte Männer zum Beispiel ungehinderten Zugang zu Frauen-Toiletten oder finanzielle Zuwendungen aus der Frauen-Förderung erhielten. Im Sport würden sie über einen ungerechten Wettbewerbsvorteil verfügen, im Gefängnis aufgrund ihrer Separierung erst recht Diskriminierung und Angriffen ihrer Mithäftlinge ausgesetzt sein. Bereits zu Beginn der Debatte war es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Izquierda Unida (IU) und der Vorsitzenden des Partido Feminista de España, Lidia Falcón, gekommen. Die „Vereinigte Linke“ und deren Chef Alberto Garzón verteidigten den Gesetzesvorschlag, der TransPersonen weitgehende Rechte und Zugeständnisse einräumte, während Falcón einige wesentliche Punkte darin ablehnte. Als dann eine Mehrheit in der IU den Partido Feminista aus der Parteienkoalition ausschloss, sagte Falcón ihre Teilnahme am Frauentag ab. Öffentlich begründete sie diesen Schritt so: „Wenn es die Kategorien Mann und Frau nicht mehr gibt, dann gibt es ja keine Frauen mehr und eine Frauenbewegung ist somit überflüssig.“ (El País, 26. Februar 2020). Und an die IU gewandt, fügte sie hinzu: „Izquierda Unida befindet sich in einem Prozess der Selbstzerstörung.“ Die Vermittlungsversuche Monteros, einen radikalen Bruch innerhalb der feministischen Bewegung zu verhindern, scheiterten. Das Gesetz wurde noch vor der Sommerpause 2021 vom Kabinett gebilligt, die parlamentarische Debatte steht noch aus. Ein Fazit zur historischen Entwicklung der Frauen- und LGTBIQ-Bewegung der letzten fünfzig Jahre und zur Stellung, die beide im heutigen gesellschaftlichen Kontext Spaniens einnehmen, wird die großen Erfolge und Errungenschaften der Vergangenheit ebenso würdigen wie gleichzeitig auf Fehler, Versäumnisse und neue Gefahren aufmerksam machen müssen. Spanien ist heute mit Abstand eines der liberalsten Länder weltweit, was

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die Stellung und die Rechte von Frauen, Schwulen, Lesben und Trans-Personen betrifft, und hat vergleichbare Länder Westeuropas wie Frankreich, Italien und Deutschland in wichtigen Punkten überholt, ganz zu schweigen von den osteuropäischen Staaten. Die spanische Frauenbewegung hat nicht nur einen hohen Grad an politischer Mitsprache und staatlicher Institutionalisierung erreicht, sondern auch eine beispiellose Kraft entwickelt, was die öffentliche Mobilisierung ihrer Mitglieder angeht. Die enge Vernetzung mit den vornehmlich linken Parteien (PSOE, IU und UP), die rührigen Aktivitäten der in politische Ämter gewählten Feministinnen und nicht zuletzt die starke Präsenz von feministischen Verbänden und Aktionsgruppen, die den theoretischen Diskurs und Alltagsforderungen lautstark zum Ausdruck bringen, nehmen im weltweiten Vergleich eine Spitzenposition ein. Der alljährliche Weltfrauentag am 8. März ist in den letzten Jahren zu einem Massenereignis geworden, das nicht nur im Land selbst Hunderttausende von Frauen mobilisiert, sondern auch große internationale Beachtung findet und vor allem für Lateinamerika ein leuchtendes Vorbild für die dortige Emanzipation der Frauen ist. Die LGTBIQ-Bewegung hat sich seit Ende der Diktatur ihrer Kriminalisierung zur Gänze entledigt und sich einer sozialen Diskriminierung weitgehend entzogen. Sie hat darüber hinaus eine hohe Akzeptanz, was ihre Präsenz im öffentlichen Raum (vor allem in den großstädtischen Milieus) betrifft, erreicht. Im kulturellen Leben des Landes ist sie omnipräsent geworden. Romane schwuler Schriftsteller und lesbischer Autorinnen sind oftmals Bestseller und füllen ganze Regale und Büchertische in den Kaufhäusern, das Thema männlicher und weiblicher Homosexualität hat die Theaterbühnen und Kinos erobert und wird dort auch von einem heterosexuellen Publikum angenommen. Mehr noch: Schwule und Lesben prägen immer stärker den Life-Style der Jugendlichen insgesamt, was Kleidung, Musik und Freizeitverhalten anbetrifft. Am sichtbarsten wird das alljährlich beim so genannten Día del Orgullo, der sich mittlerweile von Ende Juni bis weit in den Juli hinein erstreckt und dessen landesweite Paraden Jugendliche jeglicher sexuellen Orientierung und jedes Jahr sehr viele ausländische Touristen anlockt. Er ist gerade für Städte wie Madrid oder Barcelona zu einem bedeutsamen Wirtschaftsfaktor geworden, auf den auch Teile der konservativen Parteien setzen. Trotz aller Erfolge des spanischen Feminismus muss dieser heute mehr denn je für das Ende männlicher (machistischer) Gewalt gegen Frauen

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(Violencia de Género/Violencia machista) kämpfen. Die Medien berichten fast täglich von physischen und psychischen Anfeindungen und Übergriffen auf Frauen innerhalb der Familien oder Paarbeziehungen und von verbalen Aggressionen gegen Mädchen im schulischen Umfeld und in den sozialen Netzwerken. Es gab in den letzten Jahren mehrere spektakuläre Fälle von Gruppenvergewaltigungen. Fünf Männer aus Sevilla, die sich als WhatsApp-Gruppe La Manada nannten, vergewaltigten im Juli 2016, während der Sanfermines (dem alljährlichen Stierfest in Pamplona), ein 18-jähriges Mädchen und fertigten Videoaufnahmen von der Tat an. Erst in der letzten Instanz, dem Tribunal Supremo, dem Obersten Gerichtshof, wurde eine Freiheitsstrafe von jeweils 15 Jahren für die Täter erwirkt. Auch schwule (meist junge) Männer erleben körperliche Gewalt, wenn auch seltener als Frauen und meist nur im öffentlichen Raum. Neben der Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten ist es die Misogynie sowie die Homo- und Transphobie, die in Teilen der Mehrheitsgesellschaft grassiert. Als Sammelbecken für frauen- und schwulenfeindliche Hetze haben sich − gerade in Pandemiezeiten − die sozialen Netzwerke erwiesen. Dank der im Internet vorhandenen Anonymität und weitgehenden Straflosigkeit mehren sich die Fälle von Jahr zu Jahr. Wenngleich sich die Angriffe meist auf die verbale Ebene beschränken, sind die psychischen und mentalen Folgen für instabile Jugendliche oftmals verheerend. Psychologen wie Ana Adán bemerken, dass Hassreden im Netz oft größeren Schaden bei Jugendlichen verursachen, weil sie ihnen meist hilfloser ausgeliefert sind als bei persönlichen Konfrontationen, denen sie eher ausweichen bzw. entfliehen können (siehe El País, 28. Juni 2020). Dazu kommt die institutionalisierte Hetze gegen Feministinnen und sexuelle Minderheiten von Parteien, Kirchen, Verbänden und Vereinen, denen die Rechte von Frauen viel zu weit gehen und denen die sichtbare Präsenz von Schwulen, Lesben und Transsexuellen in der Öffentlichkeit ein Dorn im Auge ist. Im Programm der rechtsradikalen Partei Vox, die mittlerweile in viele Parlamente Einzug gehalten hat und einige Minderheits-Regierungen von PP und Ciudadanos stützt, gehören die Forderungen nach Abschaffung des Gesetzes gegen machistische Gewalt und der gleichgeschlechtlichen Ehe zu ihren Hauptzielen. HazteOir und CitizenGo, gegründet 2001 bzw. 2013 von Ignacio Arzuaga, sind ultrareaktionäre Vereinigungen, deren erklärtes Ziel es ist, mit Hilfe von Unterschriftensammlungen und Internetauftritten sowie der Vorbereitung und Durchführung von internationalen Kongressen, unterstützt von PP und Vox, für

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die „natürliche“ Familie zu werben und deren Einfluss auf die schulische und religiöse Ausbildung ihrer Kinder zu stärken. Sie protestieren gegen religionskritische Zeitschriften (wie 2014 gegen Mongolia), organisieren Kampagnen gegen „linke“ Politiker (wie 2015 gegen Cristina Cifuentes) und versuchen verstärkt Einfluss auf Euro-Parlamentarier zu nehmen. Im Februar 2017 ließen sie einen Bus durch spanische Städte touren mit der Aufschrift „Knaben haben einen Penis, Mädchen eine Vulva. Lass dich nicht täuschen“. Zum Weltfrauentag im März 2019 bepinselten sie ihren Bus mit einem Hitler-Porträt, um gegen „Feminazis“ zu protestieren (zu weiteren Hintergründen siehe dazu den ausführlichen Beitrag in der taz vom 6. August 2021). Es sind aber nicht nur die antifeministischen, homo- und transphoben Attacken von außen, die die Frauen- und die LGTBIQ-Bewegung in ihrer Existenz bedrohen. Auch interne Gründe führten und führen zu einer zunehmenden Schwächung, die die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte gefährden. Der Kampf um die Entkriminalisierung hatte Frauen, Schwule, Lesben und Transvestiten (so nannte man damals noch pauschal alle Trans-Personen) in den ersten Jahren der Emanzipationsbewegung noch vereint. Doch schon ab Anfang der 1980er Jahre gab es deutliche Spaltungstendenzen. Lesbische Frauen, die sich zunächst schwulen Männern verbunden fühlten, wechselten wegen des dort nach wie vor grassierenden Machismus schon sehr früh zur Frauenbewegung, wo sie allerdings auch Schwierigkeiten hatten, als „Frauen“ akzeptiert zu werden. Sowohl bei den Feministinnen wie bei Homosexuellen bildeten sich unterschiedliche politische Strategien heraus. Die Mehrheit der Frauen strebte Gleichberechtigung mit den Männern an und suchte dafür die Zusammenarbeit mit Parteien und Gewerkschaften, eine Minderheit lehnte diese so genannte doble militancia ab und propagierte eine Auslöschung des ganzen patriarchalen Systems. Die kontinuierlich zunehmende Zersplitterung der LGTBIQund Frauen-Organisationen führte zu einer Vielzahl (oft kurzlebiger) Organisationen, Gruppen und Grüppchen. Diese Entwicklung, zu der eine Erosion der Programmatik durch die fortschreitende Konsumorientierung hinzukommt, stellt ein gravierendes Problem dar, was die Schlagkraft im Kampf gegen die machistische Gewalt und die LGTBIQ-Phobie schwächt. Die sich seit Ende der 1990er Jahre ausbreitende Identitätspolitik führte zu einer Entsolidarisierung der Frauen und sexuellen Minderheiten innerhalb der eigenen communities und gegenüber anderen marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen. Die Identitätspolitik nimmt nur noch die

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eigene Minigruppe in den Blick und kämpft für deren Rechte und Privilegien. Hinzu kommt, dass der geradezu missionarische Eifer zur Durchsetzung einer von einer großen gesellschaftlichen Mehrheit abgelehnten „Gendersprache“ die politische Agenda in einem größeren Ausmaß beherrscht als der solidarische Einsatz für die ausgebeuteten Frauen in der „Dritten Welt“ oder für die verfolgten Schwulen, Lesben und Trans-Personen in über einhundert Staaten der Erde. Der Kampf um ein gewaltfreies Zusammenleben zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Menschen verschiedener Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierungen, der Kampf gegen Frauenfeindlichkeit, Homo- und Transphobie, unter welcher Maskierung sie auch immer auftreten, sowie nicht zuletzt der Kampf gegen eine egoistische, gesellschaftsspaltende Identitätspolitik sind Herausforderungen für die Zukunft, denen sich Feministinnen und sexuelle Minderheiten stellen müssen, nicht nur, aber auch in Spanien! Literaturverzeichnis Altmann, Werner (2001): „Salir del armario. Los estudios ‚gays‘ en España“, in: Iberoamericana I, 1, 181-195. — (2002): „Zwischen Diktatur und Demokratie. Homosexuelle Emanzipation in Spanien nach Francos Tod“, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 4, 150-162. — (2006): „Vicio repugnante en lo social, aberración en lo sexual, perversión en lo psicológico y defecto en lo endocrino. Un ensayo bibliográfico sobre la homosexualidad y los homosexuales bajo la dictadura franquista“, in: Iberoamericana VI, 22, 193-210. Calvo Borobia, Kerman (2017): ¿Revolución o reforma? La transformación de la identidad política del movimiento LGTB en España 1970-2005. Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas. Cobo, Rosa/Ranea, Beatriz (Hgg.) (2020): Breve diccionario de feminismo. Madrid: Los Libros de la Catarata. Gimeno Reinoso, Beatriz (2007): Historia y análisis política del lesbianismo. La liberación de una generación. Barcelona: Gedisa. Guasch, Oscar (1991): La sociedad rosa. Barcelona: Anagrama. Llamas, Ricardo (1995): Construyendo sidentidades. Estudios desde el corazón de una pandemia. Madrid: Siglo XXI. — (1998): Teoría torcida. Prejuicios y discursos en torno a la ‚homosexualidad‘. Madrid: Siglo XXI. López Penedo, Susana (2008): El laberinto queer. La identidad en tiempos del neoliberalismo. Barcelona/Madrid: Egales.

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Die Rückkehr der Staatsnation? Verfassungspatriotismus und spanischer Nationalismus im 21. Jahrhundert1 Xosé M. Núñez Seixas Abstract Was bezeichnet im heutigen Spanien der Begriff „spanischer Nationalismus“? Paradoxerweise bestreiten in der Regel gerade diejenigen, die einen spanischen Nationalismus verfechten, dass es ihn überhaupt gibt, und sprechen stattdessen eher von einem „gesunden“ Patriotismus. Für diejenigen, die einen kritischen Blick auf den spanischen Nationalismus haben und die sich häufig selbst als Patrioten oder als Nationalisten einer Minderheitennation bezeichnen, stellt er dagegen ein allgegenwärtiges Phänomen dar, das die public policies, das staatliche Handeln und die Anschauungen der landesweiten politischen Parteien und Organisationen durchdringt. In diesem Aufsatz werden die unterschiedlichen Diskurse über die spanische Nation in der Öffentlichkeit analysiert und eine Typologie skizziert, die die ambivalenten Bedeutungen und Wechselwirkungen der Konzepte von Nation, Vaterland und Staat im heutigen Spanien darstellt. Spanischer Nationalismus, spanischer Patriotismus

Was bezeichnet – am Anfang des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts – der Begriff „spanischer Nationalismus“? Diejenigen, die einen spanischen Nationalismus verfechten, bestreiten paradoxerweise in der Regel, dass es so etwas überhaupt gibt, und sprechen stattdessen eher von einem „gesunden“ Patriotismus. Für seine Kritiker, die sich häufig selbst als Patrioten oder als Nationalisten einer Minderheitennation bezeichnen, ist er dagegen eine allgegenwärtige Realität, die die public policies, das staatliche Handeln und die Einstellungen der landesweiten politischen Parteien und 1

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Dieser Beitrag fußt auf Überlegungen, die zum Teil in Núñez Seixas (2019, 2020a, 2020b) enthalten sind. Für das vorliegende Kapitel wurden die Gedanken überarbeitet und aktualisiert.

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Organisationen durchdringt. Dennoch ist das vermeintliche Nicht-Vorhandensein des spanischen Nationalismus ein verbreiteter Topos, den die Massenmedien, aber auch prominente Intellektuelle und Politiker, wie der Philosoph Fernando Savater oder der ehemalige Parteichef der Liberalen, Albert Rivera, bestätigen. Sogar für einen überraschend großen Teil der spanischen Geisteswissenschaftler, selbst für Politologen, Soziologen und Historiker war und ist der spanische Nationalismus unsichtbar und seit dem Ende des Franquismus in Auflösung begriffen (De Blas 2006, Béjar 2008). Dennoch ist es für die meisten Spanier kein Widerspruch, Spanien als eine historische „Nation“ zu bezeichnen, eine Nation, deren wichtigstes Merkmal gerade ihre innere Vielfalt ist. Wer diese Meinung äußerte, verstand dies jedoch nicht als eine Aussage, die in den Bereich des Nationalismus fiel, sondern als einen Ausdruck der Treue zu seinem Staat und dessen Verfassung. Ein solches Gefühl ließe sich in die Kategorie eines rechtschaffenen Nationalismus oder der Vaterlandsliebe einordnen (Viroli 1995). Oder, um es anders zu formulieren: Obwohl Spanien als historische Nation beschrieben wird, deren vermeintlich objektiv feststellbare Wurzeln zumindest bis in das 15. Jahrhundert zurückreichen, verstehen die Verfechter dieser Meinung eine solche Aussage nicht als Ausdruck eines spanischen Nationalismus. Dies veranschaulicht die Ambivalenz, die den spanischen Nationalismus als Untersuchungsgegenstand ausmacht. Natürlich hängt es immer von der eigenen analytischen Perspektive ab, welche Definition für Nationalismus man geltend macht. Versteht man den Nationalismus von einem normativen Standpunkt aus als Bestrebung eines territorialen Kollektivs zugunsten einer ethnokulturellen Homogenisierung, dann ließe sich die Schlussfolgerung ziehen, dass viele Facetten des Diskurses, der Spanien als eine Nation bezeichnet, nicht im strikten Sinn nationalistisch sind. Doch fasst man den Begriff weiter und versteht Nationalismus als eine in der Öffentlichkeit erhobene Feststellung, dass ein bestimmtes, territorial definiertes Kollektiv gemeinsame politische Rechte ausübt und dadurch seine Souveränität unter Beweis stellt, dann kommt man zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass der spanische Nationalismus in der Tat existiert. Dabei kann der spanische Staatsnationalismus eine diffuse Ausdrucksform annehmen und lediglich als ein Element des staatlichen Handelns erscheinen. Ähnlich wie andere Staatsnationalismen, die sich innerhalb der Grenzen einer politischen Gemeinschaft entwickelt haben, wie in Großbritannien,

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­ rankreich oder Portugal, wo sogar schon in vormodernen Zeiten eine geF meinsame Staatlichkeit bestand, äußert sich der spanische Nationalismus nicht immer als solcher, d. h. er tritt nicht in Form einer politischen Partei oder einer Sozialbewegung auf, die eine sichtbare nationale Botschaft verficht. Ganz im Gegensatz dazu nimmt der spanische Nationalismus vielfach die Gestalt einer diffusen Ideologie an, die das Handeln verschiedener sozio-politischer Akteure durchdringt, oder erscheint als das Sozialbewusstsein einer imaginierten Gemeinschaft einer Mehrheit spanischer Staatsbürger. Der Staatsnationalismus äußert sich vielleicht nur in verwässerter und subtiler Form, ist dabei aber von einer auffallenden Beständigkeit. Seine Intensität variiert, in der Regel abhängig vom Vorhandensein von (echten oder imaginierten) inneren oder äußeren Gegnern. Manchmal erscheint er lediglich als Grundidee, die einem Alltagshandeln zugrunde liegt, das – bewusst oder unbewusst – nationale Identität transportiert, wie das Hissen einer Flagge oder das Anschauen einer bestimmten Fernsehserie; Handlungen, in denen, in Worten des britischen Soziologen Michael Billig, ein „banaler“ Nationalismus zum Ausdruck kommt. Für den spanischen Fall gibt es diesbezüglich konkrete Beispiele, sei es die Verwendung bestimmter Symbole oder der massive Konsum von „nationalen“ Ikonen (Billig 1995; Moreno Luzón/Núñez Seixas 2017; Saz/Archilés 2012; Quiroga/Archilés 2018; Archilés 2018; Batalla Cueto 2021). Der spanische Nationalismus ist, wie jeder Nationalismus (sei er nun staatlich oder eine nicht-staatliche Nationalbewegung), in Bezug auf die Definition Spaniens als Nation vielfältig und heterogen. Dementsprechend flexibel ist er hinsichtlich der Eingliederung von unterschiedlichen Standpunkten: Dies betrifft sowohl diejenigen, die die politische Gemeinschaft als ein kulturell, homogen und legislativ vereintes Ganzes begreifen, als auch für diejenigen, für die die Staatsnation politisch dezentralisiert und in Bezug auf Sprache und Kultur heterogen verfasst ist. Aus diesem Blickwinkel lässt sich keine eindeutige theoretische Trennlinie zwischen „Nationalismus“ (eine politische Ideologie und Kultur, derzufolge eine bestimmte territoriale Gemeinschaft eine Nation, das heißt der Träger der Souveränität, ist) und „Patriotismus“ (staatsbürgerliche Loyalität zu einer Nation und ihren Institutionen) ziehen. Während der Erstere schärfere Töne annehmen kann oder in Phasen der politischen (oder kriegerischen) Auseinandersetzungen sichtbarer zutage tritt, geht der Letztere von der Präexistenz einer Nation aus, ausgestattet mit einem affektiven Inhalt,

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e­ iner gemeinsamen Symbolik und Geschichte, sowie in den meisten Fällen mit einer für alle gültigen Verfassung. Ich vertrete die These, dass es einen spanischen nationalistischen und patriotischen Diskurs ebenso gibt wie eine entsprechende politische Kultur. Beide Phänomene traten schon in der jüngsten Vergangenheit auf, insbesondere nach dem Tod von General Francisco Franco (November 1975), und sie wurden bis zum Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts immer sichtbarer. Die gegenwärtige Herausforderung durch die katalanische Unabhängigkeitsbewegung hat dazu geführt, dass die Äußerungen eines spanischen Nationalgefühls, wie zum Beispiel das Hissen der spanischen Flagge an Balkonen und Geschäften, weiter an Sichtbarkeit gewannen. Dennoch gibt es nicht einen einzigen, alleinigen spanischen Nationalgedanken. Stattdessen koexistieren verschiedene spanische nationalistische/patriotische Diskurse, die im Wettstreit stehen, auch wenn sie in einer ganzen Reihe von Grundannahmen übereinstimmen. Dazu gehört z. B. das Prinzip der Unteilbarkeit der Souveränität und die Überzeugung, dass weder die Verfassung von 1978 noch die Verfassung von 1812 die polis, die politische Gemeinschaft Spaniens, begründete, sondern dass diese auf ältere historische und kulturelle Grundlagen zurückgeht. Lässt man die Differenzen zwischen Rechten und Linken außer Acht, akzeptieren fast alle Varianten des spanischen patriotischen Diskurses die Verfassung von 1978 als die legitime Basis für den Erhalt der politischen und territorialen Einheit Spaniens (Ferreres 2013). Und auch wenn manche Positionen sich offen zeigen für eine mehr oder weniger weitreichende Reform einiger Aspekte des Verfassungstextes, so gilt dies nicht für deren zweiten Artikel, der die territoriale Staatstruktur definiert (Balfour/Quiroga 2007; Núñez Seixas 2001, 2010, 2019, 2020a; Muñoz Mendoza 2009, 2012). „Nation aus Nationen“, Verfassungspatriotismus oder ein vielfältiges Spanien?

Laut einigen Autoren (Bastida 1998), hat die Verfassung von 1978 durchaus ein explizites nationalistisches Fundament. Grundsätzlich liegt ihr eine breite Anerkennung von individuellen Rechten zugrunde. Dennoch entstand die Verfassung auch vor dem Hintergrund eines expliziten kulturellen und historischen Determinismus, der den demos, auf den sich die Verfassung bezieht, als schon vorhanden voraussetzte. Spanien galt

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­ emzufolge als das Produkt des Zusammenlebens mehrerer Gemeinschafd ten und Völker seit dem Spätmittelalter. Die Verfassung gab diesem demos, dieser schon geformten Nation, deren Existenz man aus genau diesem Grund nicht hinterfragte, lediglich einen neuen politischen und normativen Inhalt. König Juan Carlos I. schrieb sogar einige Jahre später, dass die Verfassung die „Einheit in Vielfalt“ Spaniens garantiere, während die politische und kulturelle Pluralität eine „natürliche Ergänzung dieser Einheit“ darstelle, die diese mit „Normalität“ erfülle. Spanien sollte zuallererst als ein „Produkt der Geschichte“, ein gemeinsames „Projekt“ verstanden werden, nicht als das Ergebnis eines legalen Kunstgriffs oder einer idealistischen Konstruktion (Núñez Seixas 2010: 140). Die meisten Intellektuellen und Politiker, die sich am Anfang des 21. Jahrhunderts zum spanischen Patriotismus bzw. „Verfassungspatriotismus“ bekennen, haben auf dessen ausschließlich oder vorwiegend bürgerlichen/ zivilen Charakter verwiesen. Das bezieht sich auf alle Varianten seit den späten 1980er Jahren, als nach der Konsolidierung der Demokratie die patriotischen Diskurse zum Teil erneuert und wiederbelebt wurden. Um die Entwicklung im Schnelldurchlauf darzustellen: Während der 1980er und 1990er Jahre gründete der Diskurs der Sozialistischen Partei (PSOE) auf dem Konzept der „Nation aus Nationen“, im Anschluss an die Theorien, die der Historiker und Schriftsteller Anselmo Carretero seit 1939 aus dem mexikanischen Exil verbreitet hatte, und die auch von anderen Autoren übernommen und zum Teil überarbeitet wurden (Geniola 2017; Villares 2021). Seine Ideen wurden seit dem Ende der 1970er Jahre von einigen sozialistischen Intellektuellen, zum Beispiel dem Rechtsexperten Gregorio Peces-Barba, weiterentwickelt, um während der Diskussion des Verfassungsentwurfs den Standpunkt des PSOE bei der Definition der Nationalen Frage zu verdeutlichen. Das Konzept der „Nation aus Nationen“ arbeitete vor allem auf der theoretischen Unterscheidung einer „politischen“ und einer „kulturellen“ Nation, ganz im Sinne der Unterscheidung Friedrich Meineckes zwischen der „Staatsnation“ und der „Kulturnation“ (1907). Doch in der spanischen Verwendung begriff man nur die politische Nation als eine wahrhaft gerüstete Nation, im Besitz der Souveränität, während das Konzept der Kulturnation in der Verfassung von 1978 mit dem Begriff der Nationalität umrissen wurde. Dieser bezeichnete eine territoriale Gemeinschaft mit gemeinsamen historischen, kulturellen und sprachlichen Eigenschaften, die sie von den einfachen „Regionen“, die nicht über solche Merkmale verfügten, unterschieden,

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ohne dass man die beiden Konzepte präzise voneinander abgegrenzt hätte (Núñez Seixas 2019: 99-102). Mit dem Aufgreifen des von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas für den deutschen Fall aufgestellten Begriffs des Verfassungspatriotismus wurde in der ersten Hälfte der 1990er Jahre das oben beschriebene Gedankengut in einigen Punkten erneuert. Doch schon bald blieben einige der wichtigsten Elemente des ursprünglichen Konzeptes auf der Strecke, so zum Beispiel die Forderung nach einer konsequenten Diktaturbewältigung und das Beharren auf den in der Verfassung verankerten Werten. Dieses Manöver öffnete den Weg für die (allerdings weniger theoretisch fundierte) Version des Verfassungspatriotismus, die José María Aznar und die konservative Volkspartei (Partido Popular, PP) zu Beginn des 21. Jahrhunderts verfochten; sie geriet allerdings schon seit 2004-2005 praktisch in Vergessenheit. Der PSOE arbeitete während der Amtszeit des sozialistischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero, vornehmlich während dessen ersten Regierungsmandats (2004-2008), mit dem Konzept des „vielfältigen Spanien“, ersetzte es dann aber während der zweiten Legislaturperiode (2008-2011) durch den Appell an ein „geeintes und vielfältiges Spanien“. Diese Begrifflichkeit lebt noch heute in der vagen und unausgereiften Formulierung eines „Landes aus Ländern“ fort, die seit 2014 im Diskurs der jungen Partei Podemos („Wir können“) und deren (bis vor kurzem) wichtigster Führungsfigur Pablo Iglesias erscheint. Insgesamt hat sich der spanische Diskurs zum Patriotismus im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als wenig innovativ erwiesen und zeigt eine zyklische Rückbesinnung auf Konzepte aus der jüngsten Vergangenheit, auf der Suche nach einer Formel, die als Grundlage für ein Zusammenleben der verschiedenen spanischen Territorien in der Zukunft dienen könnte. Der Feind im Inneren

In den meisten Varianten des spanischen Nationaldiskurses findet sich − in unterschiedlicher Intensität ­− die Figur eines gemeinsamen inneren Feindes. Aus dem Blickwinkel des spanischen Nationalismus und/oder Patriotismus sind die Minderheitennationalismen eine Realität, die sie Tag für Tag zu einer Auseinandersetzung herausfordert, sei es in der Diskussion über theoretische Fragen oder in der journalistischen Debatte vor den Augen und mit Beteiligung der Öffentlichkeit. Dabei sind inzwischen einige

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der für den konservativen Flügel des spanischen Nationalismus typischen Argumente, mit archaischen Versatzstücken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, weitgehend aus den Diskursen verschwunden. Das gilt zum Beispiel für die Bezeichnung des „Separatismus“ als „unnatürlich“ (antinatura) oder für die an die peripheren Nationalbewegungen gerichtete Beschuldigung, sie versuchten, Spanien im Dienst anderer ausländischer Mächte (z. B. Großbritannien oder Frankreich) zu schwächen. Doch vor allem mit dem Antritt der ersten konservativen Regierung des PP im Jahr 1996 warf man den peripheren Nationalbewegungen immer wieder die vermeintlich rückwärtsgewandte Zielrichtung ihrer politischen Forderungen vor, die angeblich dem ethnos den Vorrang vor der polis gaben und der gesamten Bevölkerung ihres Einflussbereiches regionale Sprachen und dörfliche Mentalitäten aufzwingen wollten, die sich mit der Moderne und der Globalisierung nicht vereinbaren ließen. Auch wenn bei den peripheren Nationalbewegungen tatsächlich sprachlich-kulturelle Diskurse häufig deutlich sichtbar sind, wie in den Fällen von Wales, Katalonien oder Quebec, wäre es nicht zutreffend, sie plakativ und einseitig auf ausschließlich essentialistische, ethnozentrische oder romantische Einstellungen zu reduzieren. Zum einen bezieht sich auch der spanische patriotische Diskurs (vielleicht mit Ausnahme der unter den kommunistischen und post-kommunistischen Linken vorherrschenden Positionen) in hohem Maß auf nicht-subjektive Elemente wie Geschichte, Kultur und Sprache (Kastilisch). Solche Elemente gelten als die Grundlagen, welche die Existenz der Nation bestimmen. Insofern wird eine schon vorhandene Nation durch die in der Verfassung formulierten Grundsätze der individuellen Grundrechte, der demokratischen Prinzipien und einer eingeschränkten Anerkennung der internen ethnokulturellen Pluralität politisch re-legitimiert. Zum zweiten lassen sich die Minderheitennationalismen, wie in Katalonien oder Galicien, nicht auf einen einzigen kulturellen, ethnischen oder historischen Ursprung reduzieren. Wie alle Nationalbewegungen weisen sie verschiedene Kombinationen von zivilen und kulturellen/ethnischen Elementen auf, von sozialen Interessen und Einstellungen in Bezug auf das kollektive Zugehörigkeitsgefühl. Breite Segmente dieser peripheren Nationalbewegungen stehen für nationale Projekte, die in sozialer, kultureller und staatsbürgerlicher Hinsicht einen inklusiven Charakter aufweisen, die die Vielfalt der territorialen Identitäten durchaus respektieren. Außerdem setzen sie den Akzent auch auf die Umsetzung pragmatischer Ziele, wie z.  B. die Verbesserung des

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k­ ollektiven Wohlstands der Bürger und Bürgerinnen der Minderheitennation. Dennoch müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass die mobilisierende Wirkung des emotionalen Appells an Kultur und Sprache in der Tat viel größer ist als die staatsbürgerlichen Argumente. Nichtsdestotrotz scheint es, dass die katalanische Unabhängigkeitsbewegung seit 2012 gerade mit solchen Argumenten sehr erfolgreich darin war, auch viele nicht-nationalistische Bürger zu überzeugen, sich für die Gründung einer katalanischen Republik auszusprechen. Trotzdem sind die stark ethnokulturell geprägten und allein auf die Wiederbelebung der katalanischen Sprache gerichteten Vorstellungen mancher Sektoren der Souveränitätsbewegung immer noch sehr einflussreich, so dass ihre Äußerungen häufig die staatsbürgerlichen Inhalte der katalanischen Bewegung in den Hintergrund drängen, insbesondere seit dem gescheiterten Versuch der einseitigen Verkündung einer katalanischen Republik im Oktober 2017 und den darauffolgenden politischen Ereignissen (Núñez Seixas 2020c). Die Wandlung der Herausforderung aus der „Peripherie“ von einer tendenziell ethnozentrischen in eine zivile Sozialbewegung, die die Unterstützung von mehr als 45 Prozent der katalanischen Bürger zu erzielen vermochte (laut mehreren Umfragen und den Wahlergebnissen der letzten Regionalwahlen in Katalonien, Februar 2021), stellt den spanischen ­patriotischen Diskurs vor ein gewaltiges Dilemma. Anders als im Fall der Auseinandersetzung mit dem radikalen baskischen Nationalismus (mit dem Kernargument der notwendigen Verteidigung der Grundrechte der Individuen und der Demokratie gegenüber einer gewalttätigen Minderheit) muss die Antwort auf die katalanische Herausforderung die Tatsache berücksichtigen, dass laut mehrerer Umfragen eine Mehrheit der Katalanen dafür ist, ihre eigene kollektive Zukunft in einer Volksabstimmung selbst zu bestimmen. Dementsprechend muss eine Antwort auf diese Sachlage neue Wege finden, um eine Verteidigung der Demokratie und der konstitutionellen Ordnung geltend zu machen. Bis 2011 bildeten die baskische Terrororganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA, „Baskenland und Freiheit“) und die mit ihr direkt oder indirekt verbundenen radikalen ethnonationalistischen Organisationen den Hauptfeind, das allerwichtigste „Andere“ des spanischen Nationalismus. Mit dem Aufblühen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung begann eine Verschiebung des Diskurses weg vom baskischen Fall, denn die katalanischen Nationalisten bewiesen, dass auch Unabhängigkeitsdiskurse friedlich, multikulturell, post-national und der Modernität zugewandt sein können, auch wenn ­einige Tendenzen

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der Unabhängigkeitsbewegung in letzter Zeit eine eher ethnonationalistische und radikale Ausrichtung aufweisen. Der spanische Nationalismus musste auf vielen Ebenen eine Antwort formulieren. Wie verlief dieser Prozess im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, und welche Merkmale charakterisierten das Ergebnis? Die meisten Staatsnationalismen, wie die Beispiele Belgiens und Großbritanniens exemplarisch zeigen, haben bei dem Versuch, auf die Herausforderungen einer Sezession zu reagieren, eine Reihe von Antworten formuliert, die an zirkuläre, zu einem Mantra erstarrte Dogmen erinnern. Dazu zählen: a) die starrsinnige Verteidigung der geltenden Legalität; b) das Motto des big is beautiful, d. h. die Überzeugung, dass der Nationalstaat umso reicher und mächtiger wird, je größer er ist, während man die Kleinstaaterei als einen Schritt nach rückwärts wahrnimmt; c) der Appell an das Zukunftsprojekt der europäischen Einigung, das sich nicht mit einem sezessionistischen „Provinzialismus“ vereinbaren lasse; und d) der Hinweis auf die engen historischen, demographischen, kulturellen oder sozialen Bindungen zwischen der Bevölkerung der sezessionistischen Region und der Bevölkerung der ganzen Staatsnation. All diese Versatzstücke fanden sich auch im spanischen Fall, wobei hier die Hauptströmung des spanischen patriotischen Diskurses auch weitere, reißerische Slogans aus der Feder von verschiedenen Moderatoren und Publizisten aus Fernsehprogrammen oder Leitartikeln aufgriff − darunter die Gleichsetzung einer Sezession mit einer Rückkehr in die Steinzeit. Vor allem wird ins Feld geführt, dass die politische Unabhängigkeitserklärung einer Region von Spanien den Ausschluss dieses Territoriums aus der EU und aus der Eurozone nach sich ziehen würde. Da ein solcher Akt der territorialen Abspaltung gegen die Verfassung verstößt, wird er zudem als ein Staatsstreich diffamiert: zur Rechtsstaatlichkeit gehöre auch die Loyalität zur Verfassung. Nicht zuletzt wird vor den unerwarteten gewaltsamen Folgen gewarnt, die Unabhängigkeitsforderungen nach sich ziehen können, bergen sie doch das Potential für zivile Konfrontationen. Dementsprechend beschwören Journalisten und Meinungsbildner von Rechts und von Links die Gefahr einer „Balkanisierung“ Spaniens, wobei das politische Spektrum der Warner vom neofranquistischen Schriftsteller Pío Moa bis hin zum liberalen Rechtsexperten Roberto Blanco Valdés und zum linksorientierten Philosophen Félix Ovejero reicht (Moa 2005; Blanco Valdés 2014; Ovejero Lucas 2011).

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Zeitungskorrespondenten aus dem Ausland, wie der Deutsche Thomas Urban oder der Brite Giles Tremlett (Tremlett 2012), beobachten mit Überraschung die Diskrepanz zwischen den Antworten des britischen Nationalismus auf die schottische Herausforderung von 2014 oder des kanadischen Nationalismus auf die Referenden in Quebec von 1980 und 1995 einerseits und dem Agieren des spanischen Nationalismus andererseits. Beide Autoren beziehen sich vor allem auf die Reaktion der spanischen Regierung auf die seit 2012 formulierten katalanischen Souveränitätsansprüche und auf die Ereignisse, die die einseitige „Quasi-Erklärung“ der Unabhängigkeit durch den katalanischen Landtag im Oktober 2017 auslöste. Gemeinsam war allen drei Sezessionsforderungen, dass sie ganz unzweifelhaft von einer friedlichen, parteienübergreifenden sozialen Bewegung getragen wurden, die auch einen bedeutenden Anteil der Bevölkerung vertrat. Die Diskurse der Parteien und sozialen Bewegungen zugunsten der Unabhängigkeit waren, natürlich mit unterschiedlichen Nuancen, vor allem staatsbürgerlich, integrativ, pro-europäisch und tolerant. Die Regierung Großbritanniens akzeptierte das für sie verpflichtende schottische Referendum, nahm am Wahlkampf teil und verwandte auch proaktive „besser gemeinsam“-Diskurse, die die emotionale Identifikation der schottischen Wähler mit Großbritannien förderten (Brown Swan/Cetrà 2020). In Spanien dagegen lehnten die Regierung und die meisten der landesweiten Parteien (PP, PSOE sowie Ciudadanos) jede Möglichkeit kategorisch ab, unter besonders ausgehandelten Bedingungen ein Referendum (oder eine einfache Befragung) unter der katalanischen Bevölkerung durchzuführen, und beschränkten sich auf einen weitgehend reaktiven Diskurs. Zutage traten dabei auch etliche demokratische Defizite und Unzulänglichkeiten in der Funktionsweise der spanischen Institutionen, die dazu führten, dass juristische Strafmaßnahmen in den Vordergrund traten und jede Aussicht auf eine politische Lösung praktisch blockierten (Sánchez Cuenca 2018). Der Antwort der meisten spanischen Patrioten – mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen – auf die katalanische Herausforderung fehlte es an positiven Emotionen, an proaktiven Argumenten und am Bemühen, um die katalanische Bevölkerung zu werben, während Drohungen und Zwangsmaßnahmen den Ton bestimmten. Allein der Sport bildete eine Ausnahme: stronger together wurde bei sportlichen

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­ assenveranstaltungen sichtbar, wobei die katalanischen Sportler, die in M einigen spanischen Mannschaften (vor allem Basketball, Handball und Fußball) eine Führungsrolle spielten, eine besonders wichtige Rolle einnahmen (Quiroga 2014). In dieser Beziehung unterschied sich die Antwort der spanischen Regierung auf die Sezessionsbestrebung der Katalanen deutlich von den Reaktionen der britischen und der kanadischen Regierungen, als Letztere eine relativ ähnliche Situation bewältigen mussten. Dies wirft die Frage auf, ob und inwiefern sich der spanische Nationalismus des 21. Jahrhunderts von anderen europäischen und amerikanischen Staatsnationalismen unterscheidet. So ließe sich argumentieren, dass das überwältigende Gewicht einer autoritären Tradition seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, der Bürgerkrieg (1936-1939), das para-faschistische Regime (1939-1975) und der ausgehandelte Übergang zur Demokratie (1975-1978), die eine notwendige Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit des Landes umging (deutlich sichtbar in der späten Unterstützung und der begrenzten Umsetzung einer vom Staat getragenen Erinnerungspolitik zur Bewältigung der Franco-Diktatur), den spanischen Nationalismus in Diskurs und Praxis mit einem im europäischen Vergleich besonders großen Maß an Intoleranz durchtränkt habe. Doch man sollte dieses besonders unter Intellektuellen und Unterstützern der substaatlichen Nationalismen weit verbreitete Argument nuanciert abwägen. So tritt der republikanische Nationalismus in Frankreich zum Beispiel hinsichtlich der öffentlichen Zustimmung zur ethnoterritorialen Vielfalt deutlich weniger tolerant auf als der konservative spanische Nationalismus; erst kürzlich, im Jahr 2018, sprach sich die französische Regierung ganz offen gegen die Verwendung von anderen Sprachen als dem Französischen bei öffentlichen Reden der gewählten Volksvertreter aus, wie dies seit 2016 im korsischen Landtag praktiziert wird. Fast vierzig Jahre der Dezentralisierung, des Zusammenlebens mit substaatlichen Nationalismen, bis 2011 dramatisch erschwert durch einen intensiven ethnischen Konflikt im Baskenland aufgrund der terroristischen Anschläge von ETA, waren ein hartes Lehrstück und haben die spanische öffentliche Meinung auch gelehrt, mit der inneren Pluralität zu leben und Konflikte in einer Art und Weise zu bewältigen, die vielen Beobachtern von außen erstaunlich pragmatisch erscheinen. So sind die interethnischen Beziehungen im spanischen Alltag tatsächlich weitgehend friedlich und konfliktfrei. So wie überall gibt es Dutzende von regionalen

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Stereotypen, Witze über Katalanen, Galicier, Basken und Andalusier, aber auch obszöne und sogar aggressive Gesänge bei den Fußballspielen; die Foren im Netz, von Twitter bis Facebook, haben virtuelle Kriegsschauplätze für die ethnische Unzufriedenheit geschaffen (Moral 1998). Doch im Alltag sind die friedliche Koexistenz und das Zusammenleben von Personen mit unterschiedlichen regionalen und sprachlichen Hintergründen die Regel. Mit wenigen Ausnahmen (bis vor einigen Jahren in einigen ländlichen Gebieten des Baskenlandes), gibt es keinen wirklichen Konflikt zwischen „ethnischen“ Gruppen, auch nicht zwischen „einheimischen“ Spaniern und nicht-europäischen Einwanderern. Auch wenn es im Zuge der wachsenden Radikalisierung der katalanischen Frage zu vereinzelten spannungsgeladenen Situationen in Katalonien und woanders gekommen ist, kennzeichnet ein vorwiegend friedlicher Austausch zwischen Katalanen, Kastiliern, Basken und ethnischen Gruppen aus anderen Regionen den Alltag. Weiterhin gilt der dezentralisierte Staat der Autonomen Gemeinschaften einer Mehrheit der Bevölkerung als das bevorzugte Gliederungsprinzip des Staates. Allerdings ist die Zahl derjenigen, die sich als Reaktion auf die Radikalisierung der katalanischen Frage seit 2012 für eine stärkere Zentralisierung des Autonomiestaats aussprechen, gewachsen (Liñeira 2014; Hierro 2020). Das Konzept des „vielfältigen“ Spanien

Allerdings sind noch einige Fragen zum spanischen Nationalismus des 21. Jahrhunderts offen. Zunächst wäre zu klären, in welchem Ausmaß spanische Staatsbürger, die sich in der politischen „Mitte“ verorten, die kulturelle, ethnoterritoriale, politische und institutionelle Pluralität akzeptiert haben. Inwieweit sind sie in der Lage, die Vielfalt der unterschiedlichen nationalen Identitäten innerhalb des spanischen Territoriums anzunehmen? Der spanische patriotische Diskurs hat seit 1978 mit wechselndem Enthusiasmus den kulturellen Pluralismus als ein konstituierendes Element des „Wesens“ Spaniens akzeptiert und scheinbar jegliches Bestreben nach einer vollständigen kulturellen und sprachlichen Homogenisierung des spanischen Territoriums verdrängt. Dennoch erfolgt die Bewertung des Beitrags der verschiedenen Kulturen und Sprachen Spaniens zum Wesen der spanischen Nation in Vergangenheit und Gegenwart nicht aufgrund von gleichartigen Kriterien. Die meisten Befürworter der spanischen

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­ ationalidentität definieren die kastilische Sprache als das repräsentativste N Kennzeichen dessen, „was spanisch ist“. In ihren Augen sind die spanische Sprache und die Kultur, die diese Sprache verkörpert, das beste Instrument für die Repräsentation ihres Landes vor den Augen der ganzen Welt. Diese Einschätzung folgt allerdings nicht den klassischen Argumenten der vom Philologen Ramón Menéndez Pidal in den 1920er Jahren begründeten sprachwissenschaftlichen Schule, die von der Überlegenheit der spanischen Sprache ausging, vor allem aufgrund der phonetischen Gewagtheit des Spanischen, seinem Status als Sprache der Hochkultur und seiner erfolgreichen Ausbreitung auf der ganzen Halbinsel. Vielmehr erscheint seit den 1980er Jahren ein neues Phänomen auf der Bildfläche, ein quasi postmoderner Appell an die Hispanidad, die allerdings nicht mehr als eine spanisch-lateinamerikanische Gemeinschaft des Blutes, der Religion und der Rasse interpretiert wird. Stattdessen bezieht sich der Großteil des spanischen patriotischen Diskurses auf das Kastilische als Kern der spanischen nationalen und kulturellen Identität, als Spaniens wichtigster Beitrag zur Weltkultur, insbesondere durch das reiche literarische Vermächtnis. Die traditionelle Rolle der Sprache verstärkt sich durch das Argument des wirtschaftlichen Nutzens in den Zeiten der Globalisierung, gilt sie doch zudem als ein Werkzeug für den Fortschritt Spaniens in Wirtschaft und Handel, zumal das Spanische de facto die zweitwichtigste Sprache in den USA ist. Im Jahr 2003 bezeichnete der damalige Regierungschef José María Aznar in New Mexico die nordamerikanischen Hispanics als Staatsbürger mit einer multiplen Identität. Damit konstruierte er einen krassen Gegensatz zu „Gesellschaften, die ausschließen“ und die Sprache als Waffen benutzen – in einer eindeutigen Anspielung auf die iberischen Minderheitennationalismen (Núñez Seixas 2017). Allerdings gibt es durchaus Debatten über die Grenzen dieses Pluralismus und dementsprechend über die Grenzen der Toleranz für eine real praktizierte kulturelle und ethnoterritoriale Pluralität innerhalb der spanischen Grenzen. Für viele spanische „Patrioten“, insbesondere für solche, die nicht in den zweisprachigen Regionen leben, ist die Zweisprachigkeit als alltägliche Realität nur schwer zu akzeptieren, jenseits der Vorgaben der Verfassung und der weitverbreiteten Überzeugung, dass das Kastilische die allgemein vorherrschende Sprache ist. Ihrer Meinung nach ergibt sich deren Überlegenheit sowohl aus der Geschichte als auch aus ihrer Rolle in der Zukunft, soll sie doch ein Vehikel für die neuen digitalen Technologien sein, um einen sprachlich gemeinsamen Markt mit Lateinamerika

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und der spanischsprachigen Gemeinschaft in den USA zu bilden. Dementsprechend stößt die Sprachpolitik der „positiven Diskriminierung“ zugunsten der Minderheitensprachen im Erziehungs- und Bildungswesen, die manche Regionalregierungen praktizieren, bei den spanischen Konservativen auf wenig Verständnis, genauso wie die Verwendung von regionalen Symbolen, so zum Beispiel Flaggen und Hymnen. Für viele spanische Patrioten ist der unteilbare Charakter der Souveränität der Nation unantastbar und muss es auch bleiben; jenseits aller juristischen und politischen Fragen sind sie der Meinung, dass ein Nachgeben das unteilbare historische und kulturelle „Wesen“ Spaniens beschädigen würde, das aufgrund seiner sakralen Natur nicht zur Diskussion stehen darf. Der Soziologe Jordi Muñoz hat für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gründlich nachgewiesen, dass die öffentliche Meinung in dieser Frage in der Praxis gespalten ist. Auf der einen Seite bekannten sich ca. 40 % der spanischen Bevölkerung weiterhin zu einigen Grundwerten des Nationalkatholizismus (z. B. zur katholischen Religion und zur „Tradition“ ganz allgemein). Auf der anderen Seite sprachen sich weitere 40 % für ein liberales Konzept der spanischen Nation aus, das demokratische Werte, das ius soli und Toleranz gegenüber den Immigranten und der ethnoterritorialen Vielfalt einschloss. Rund 10 % der spanischen Bürger fühlten sich darüber hinaus zur Loyalität gegenüber einer Minderheitennation verpflichtet (Muñoz Mendoza 2009, 2012). Die Nation der Rechten: Zurück zum Zentralismus?

Eine zweite Frage gilt der jüngsten Entwicklung des spanischen Nationalismus – hat er sich zwischen 2008 und 2020 radikalisiert? Fest steht, dass seit der Wahlniederlage des PP gegen den PSOE unter Rodríguez Zapatero im Jahr 2004 etliche konservative Politiker dazu tendierten, für eine deutlich restriktivere Interpretation der Verfassung von 1978 und des Autonomiestaates zu plädieren. Erste Anklänge gab es schon vorher, bei der ersten Reaktion auf den Plan von Juan José Ibarretxe (2000-2005), dem damaligen Präsidenten der baskischen Regionalregierung, um eine deutliche Erweiterung der Autonomie des Baskenlandes bis zu einer Quasi-Unabhängigkeit zu erreichen. In dieselbe Richtung wies die Antwort des PP, als zwischen 2003 und 2010 ein Großteil der katalanischen linken und nationalistischen Parteien die Initiative für eine weitreichende Reform des

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katalanischen Autonomiestatuts ergriff, anfänglich auch mit der Unterstützung von Rodríguez Zapatero und des PSOE. Parallel dazu geriet die vom PP kurz zuvor propagierte Version eines an den spanischen Fall angepassten Begriffes des Verfassungspatriotismus in Vergessenheit. Von ihm blieb nur als einziger Slogan die Berufung auf die Verfassung als unantastbaren Text und Erinnerungsort (Humlebaek 2004, 2014), doch ohne expliziten Bezug auf die Gründungswerte der Verfassung. Seit Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts verschob sich das diskursive Gewicht des konservativen patriotischen Diskurses hin zur Verteidigung der „Stabilisierung“ des Systems der Autonomien, um die „unendlich“ offenen Aspekte endgültig zu definieren und festzuschreiben, das System mit einer Gleichbehandlung der Kompetenzen und einer horizontalen Koordination zwischen allen Autonomen Gemeinschaften auszustatten und gleichzeitig eine Reihe von Kernkompetenzen in die Hände des Zentralstaates zurückzugeben, um die Kohäsion des Territoriums zu garantieren (Rajoy 2019). Manche Vertreter des PP vertraten zunehmend restriktive Positionen: So äußerte z. B. im europäischen Wahlkampf 2009 der Kandidat Alejo Vidal-Quadras – bis vor kurzem ein prominentes Mitglied der rechtsradikalen Partei Vox –, dass der Autonomiestaat entgleist sei, und forderte eine Rezentralisierung des Staates. Ähnliche Töne hörte man von der ehemaligen Präsidentin der Autonomen Gemeinschaft Madrid, Esperanza Aguirre: Angesichts des offensichtlichen Scheiterns des Autonomiestaates, um die territorialen Ansprüche der Katalanen und der Basken in die gemeinsame Vorstellung einer spanischen politischen Gemeinschaft zu lenken, müsse man die Machtbefugnisse des Zentralstaates stärken und das Experiment des Autonomiestaates allmählich beenden. Vor dem Hintergrund der großen Wirtschaftskrise von 2008, die eine Straffung des Staates auf der Grundlage von zunehmend neoliberalen Argumenten legitimierte, begannen einige Spitzenvertreter der spanischen Konservativen, die Umsetzung einiger dieser Vorschläge voranzutreiben, nachdem der PP mit Mariano Rajoy (2011-2018) die Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Noch offener haben sich seit 2014 verschiedene prominente PP-Politiker dafür ausgesprochen, das Maß der Selbstverwaltung der Regionen einzuschränken; dazu zählt auch Pablo Casado, seit Juni 2018 Vorsitzender des PP. Er befürwortet zum Beispiel die Idee einer Rezentralisierung der Machtbefugnisse in der Erziehungspolitik, um eine „separatistische Indoktrination“ in den katalanischen Grundschulen

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zu verhindern. Hinzu kommt, dass in seinen Augen die Dezentralisation „teuer“ und wenig effizient sei. Andere Parteien, die im politischen Spektrum den Raum der Mitte besetzen und sich sogar bis in den Mitte-links-Raum ausbreiten wollten, wie die Unión Progreso y Democracia („Union Fortschritt und Demokratie“, UPyD), formulierten schon bei ihrer Gründung (2007) ähnliche Grundsätze. UPyD betonte die Notwendigkeit, die aktive Rolle des Staates bei der Transformation der Gesellschaft zu garantieren, und verwies auch auf die unteilbare Natur der spanischen Nation als Vorbedingung für die Garantie der Rechts- und Chancengleichheit aller Staatsbürger. Nach dem Ausscheiden von UPyD aus dem spanischen Parlament im Jahr 2015 finden sich viele der Ideen der Formation im Gedankengut der gemäßigten, liberalen Partei „Staatsbürger“ (Ciudadanos, Cs), die aus der 2006 in Katalonien gegründeten anti-katalanistischen Partei Ciutadans entstand und die sich einen reaktiven spanischen Nationalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Dabei begründet Cs ihre Forderung nach einer allmählichen Rezentralisierung des Staates eher mit der Notwendigkeit, die Einheit der Nation zu wahren, als mit dem Ziel, die Gleichheit aller spanischen Staatsbürger im Zuge des Erstarkens des Staates abzusichern, da die Partei eine Zeitlang zwischen einer liberalen und einer Mitte-links-Agenda schwankte (Rodríguez Teruel/Barrio 2016). Es hat lange gedauert, bis sich nach dem Ende des Franquismus im spanischen politischen System eine rechtsradikale, fremdenfeindliche und gegen die nicht-europäische Einwanderung gerichtete Partei gebildet hat. Jahrelang war das Spektrum der extremen Rechten in instabile Splittergruppen fragmentiert. Deren Konzept der spanischen Nation wurzelte in der Regel im Erbe des franquistischen Nationalkatholizismus und war bis auf einige Ausnahmen absolut ungeeignet, den Weg für eine Modernisierung und Anpassung der Parteien an neue soziale Herausforderungen zu öffnen, wie es andere rechtsradikale Parteien Europas getan haben. Der Antiseparatismus und die Unterstützung von traditionellen Werten fanden sich als typische diskursive Elemente der spanischen Rechtsextremen, genauso wie die sichtbare Zurschaustellung von spanischen Symbolen, insbesondere von Flaggen (mit dem franquistischen Wappen), sowie von nationalistischen Slogans, in denen der Wunsch nach der Bestärkung der nationalen Einheit und die Sehnsucht nach einem autoritären System zum Ausdruck kamen (Gallego 2006).

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Seit den 1990er Jahren haben einige neue Gruppen versucht, als innovatives Element die Warnung vor der Einwanderung aus nicht-europäischen Regionen als eine potenzielle Gefahr für Spaniens Einheit in den Diskurs zu integrieren. Die neuen Immigranten verschärften, ihrer Meinung nach, die vermeintlich schon zuvor bestehende Gefahr der Balkanisierung Spaniens durch ein Auseinanderbrechen der nationalen Einheit. Gleichzeitig äußerte diese neue Rechte Vorbehalte gegen das Abtreten von Bereichen der nationalen Souveränität an die EU (Kleiner-Liebau 2009). Doch fast keine dieser Parteien hat weder in einzelnen Regionen noch spanienweit beim Wähler nennenswerte Erfolge erzielen können, sieht man vom kurzfristigen Aufwind der eher auf Katalonien beschränkten Partei Plataforma per Catalunya ab (Casals 2010). Dies gilt allerdings nicht für die neue Partei Vox, die im Jahr 2013 aus der Abspaltung eines extrem konservativen Flügels des PP entstand und die in ihrer politischen Agenda den Antiseparatismus zum herausragenden Thema gemacht hat. Ihr Anführer Santiago Abascal, einst der Gründer der Stiftung „Verteidigung der spanischen Nation“ (Defensa de la Nación Española, DENAES) ist der Ansicht, dass die Einheit Spaniens ein nicht verhandelbares Gut ist, dessen Bedeutung sogar Vorrang vor der Demokratie gebührt (Abascal/Bueno Sánchez 2019). Die neue Partei verlegte sich auf populistische Strategien und formulierte eine Art spanischer Version eines nativistischen Diskurses: Das Motto „Spanier zuerst“ verwendet sie vor allem in Bezug auf den Zugang zu den Leistungen des Wohlfahrtsstaates, vom Gesundheitswesen zum Erziehungswesen usw. In eine ähnliche Richtung wiesen auch die Forderung nach einer starken Rezentralisierung des Staates sowie die Überhöhung der symbolischen und identitätsstiftenden Elemente eines gemeinsamen Nationalbewusstseins, die am stärksten aufgeladen sind, wie die spanische (kastilische) Sprache. Flankiert wurden diese Elemente von einer „neuen“ Interpretation − eigentlich eine Wiederbelebung alter franquistischer Denkmuster − der spanischen Geschichte unter revisionistischen Vorzeichen, was als eine Umstrukturierung und Erneuerung der Nation präsentiert wird (Sánchez Dragó 2019; Núñez Seixas 2021; Batalla Cueto 2021: 151-197). Eine antieuropäische Haltung gehört dagegen bis heute nicht zu den zentralen Postulaten der radikalen spanischen Rechten, denen es mit Hilfe des spanischen Nationalgedankens gelungen ist, eine Brücke zu einem Teil der Wähler von Ciudadanos zu schlagen. Dies erklärt eine im europäischen Kontext völlig unübliche Situation: die Möglichkeit einer p ­olitischen

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­ usammenarbeit zwischen einer theoretisch liberalen Partei (weitgehend Z vergleichbar mit der deutschen FDP) und einer rechtsradikalen Organisation, im Namen derselben nationalistischen Einstellung und der gemeinsamen Ablehnung des Separatismus. Auch wenn die Wahlergebnisse der rechtsradikalen Partei 2019 etwas unter ihren Erwartungen blieben (15,09 % der gültigen Stimmen und 52 Abgeordnete im spanischen Parlament bei den Wahlen von November 2019; 6,2  % und drei Europaabgeordnete bei der Europawahl; 2,9 % und 530 Gemeinderäte bei den Kommunalwahlen 2019; in einigen der darauffolgenden Regionalwahlen, etwa in Katalonien im Februar 2021, und in Kastilien-León im Februar 2022 erzielte die rechtsradikale Partei noch bessere Ergebnisse), ist unübersehbar, dass sich Vox als ein bedeutender Akteur in der spanischen Politik konsolidiert hat (Turnbull-Dugarte/Rama/Santana 2020; González 2022). Somit wird ihre Stimme unzweifelhaft die öffentliche Debatte um die spanische Nationalidentität auch in der Zukunft immer stärker gestalten und beeinflussen. Die Nation der Linken: das gesunde „Volk“

Diese wachsende neo-zentralistische Strömung im breiten Spektrum des konservativen spanischen Nationalismus führt zu einer dritten Frage: Werden auch die größeren Linksparteien das Konzept von Spanien als einer Nation oder als einer politischen Gemeinschaft re-formulieren? Seit dem Übergang zur Demokratie gab es in der sozialdemokratischen Linken zwei Sichtweisen auf die territoriale Frage. Auf der einen Seite stand eine föderalistische (oder pseudo-föderalistische) Gesinnung, die vor allem die katalanischen Sozialisten, aber auch einige prominente Parteiführer aus Galicien, dem Baskenland oder Valencia unterstützten. Sie zeigten sich dazu bereit, die nationale oder ethnokulturelle Pluralität innerhalb unterschiedlicher politischer Konfigurationen einzupassen und damit diese Pluralität symbolisch und politisch anzuerkennen. Beheimatet waren solche Ideen im Diskurs der „Nation aus Nationen“ und erhielten während der Regierungszeit von Felipe González (1982-1996) in gewisser Weise neue Impulse durch die Vorschläge von Pasqual Maragall, dem sozialistischen Bürgermeister Barcelonas und späteren Präsidenten der katalanischen Regionalregierung (2003-2007). Diese Denkrichtung plädierte für das Konzept eines „gemeinsamen, nicht eines einzigen Spanien“, ganz ähnlich wie

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der Begriff des „pluralen Spanien“, mit dessen Hilfe Rodríguez Zapatero zwei Jahrzehnte später den Diskurs des Verfassungspatriotismus neu formulierte, dabei aber der freidenkerischen und dezentralisierenden Tradition in der spanischen Geschichte ein höheres Gewicht zumaß. Doch ein solcher Begriff birgt ein nicht enden wollendes Dilemma: Symmetrie oder Asymmetrie? Muss sich das Maß an symbolischer Anerkennung, politischer Macht und finanzieller Autonomie von Katalonien und Kantabrien und La Rioja auf derselben Höhe bewegen, oder gibt es Raum für Formeln, die eine asymmetrische Ausgestaltung der territorialen Pluralität ermöglichen? Ist es notwendig, die Verfassung radikal zu reformieren und einen Föderalismus von unten nach oben als definierende Grundlage einzuführen, oder würde es ausreichen, gewisse Aspekte zu justieren, zum Beispiel in Bezug auf das Funktionieren des Staates der Autonomien? Zwar sind manche PSOE-nahe Rechts- und Verfassungsexperten der Meinung, dass der Autonomiestaat in der Praxis ein Bundesstaat ist, auch wenn er bislang über keine effizienten Mechanismen für die Kooperation zwischen den verschiedenen Autonomen Gemeinschaften verfügt, wie z. B. eindeutige Kriterien für die Verteilung der Finanzressourcen, und auch wenn es zudem keine Länderkammer wie den Bundesrat gibt − der spanische Senat erfüllt diese Funktion nicht effektiv. Seit dem späten 20. Jahrhundert verweist die andere sozialdemokratische Position innerhalb des PSOE, angeführt vor allem von einigen regionalen Parteichefs aus Kastilien-La Mancha, aus Andalusien und aus der Extremadura (z. B. Emiliano García-Page, Susana Díaz, Juan Carlos Rodríguez Ibarra und Guillermo Fernández-Vara), aber auch einigen wichtigen Lokalpolitikern (wie Francisco Vázquez, dem Bürgermeister von A Coruña), vor allem auf die Notwendigkeit, einen relativ starken Zentralstaat zu erhalten. Dieser soll in der Lage sein, auf der nationalen Ebene wirtschaftspolitische Maßnahmen durchzusetzen, um für alle Staatsbürger, unabhängig von ihrem Wohnort, gleiche Aufstiegschancen und Dienstleistungen zu garantieren. Etliche Vertreter dieses Standpunktes haben nicht gezögert, ganz ähnlich wie konservative Politiker mit Hilfe von historischen oder kulturellen Argumenten ein Konzept der spanischen Nation zu verfechten, das sich auf die gemeinsamen Werte und das Jahrhunderte währende Zusammenleben der spanischen Bevölkerung beruft; Faktoren, die als eine mehr als solide Grundlage für eine soziale Solidarität zwischen Bürgern und Territorien galten. Francisco Vázquez brachte stets ein Kernargument vor: Während in seinen Augen die ­Minderheitennationen

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i­mmer eine ­Erfindung waren, galt das seiner Meinung nach nicht für Spanien, das seit dem Mittelalter existiere. Ganz ähnlich äußerten sich weitere Mitstreiter, die häufig auf die Autonomie der Gemeinden und der Großstädte als Alternative zum neuen „Zentralismus“ der mesoterritorialen, d.  h. regionalen Regierungen verwiesen. Andere Parteiführer verweisen eher auf funktionalistische Argumente: Wenn man die Chancengleichheit aller Staatsbürger fördern wolle, sei es sinnvoller, die Mechanismen der Solidarität und der sozialen Kohäsion zu stärken, als sie in territoriale Kategorien aufzuspalten. Hier findet sich tatsächlich eine günstige Vorbedingung für die Bekräftigung der spanischen Nationalidentität: ein stärkerer Patriotismus birgt auch eine stärkere Neigung zur zwischenregionalen und sozialen Solidarität (Núñez Seixas 2019: 180-188). Die aktuellen Vorschläge zugunsten einer noch unscharf skizzierten Föderalisierung des Staates, die unter der Führung von Pedro Sánchez vom PSOE kommen, leiden vor allem unter der unscharfen Definition des Typus der Föderation, die man anstrebt. Zudem werden sie weniger vehement propagiert, seit Sánchez im Juni 2018 zum spanischen Regierungschef geworden ist. Gleichzeitig wachsen die Schwierigkeiten, die divergierenden Positionen innerhalb des PSOE zu versöhnen: Auf der einen Seite findet man die alte, pseudo-jakobinische Ansicht eines Alfonso Guerra, die auf eine Stärkung des Zentralstaates abzielt, damit dieser in der Lage ist, soziale Reformen durchzusetzen und Chancengleichheit und Solidarität für alle Staatsbürger zu garantieren. Auf der anderen Seite gibt es föderalisierende Reformvorschläge, die darauf abzielen, den heutigen Autonomiestaat mit Hilfe einiger Änderungen in einen weitreichenden Bundesstaat umzuwandeln, zum Beispiel durch eine Reform des Senats. In eine andere Richtung weist das Konzept eines „polyphonen Spanien“ zur Föderalisierung des Staates, das Ximo Puig, sozialistischer Präsident der Autonomen Gemeinschaft Valencia, im Jahr 2021 zusammen mit verschiedenen Intellektuellen vorgelegt hat. Mit einem solchen Konzept ließe sich ein dritter Weg finden, um die Konfrontation zwischen dem spanischen und dem katalanischen Nationalismus zu überwinden. Dabei wird zwar großer Wert auf die Anerkennung der kulturellen und historisch begründeten Rechte der Regionen gelegt, doch gleichzeitig wird auch gefordert, die immer noch bestehende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den verschiedenen Autonomen Gemeinschaften zu beenden. Dennoch bleibt eine Frage offen: Sollte Katalonien einen besonderen Status erhalten, eine Anerkennung seiner besonderen Natur, als eine andere

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Gesellschaft, als eine Nation? Wenn ja – was passiert mit dem Baskenland? Und was ist mit Galicien, in der Theorie die dritte „historische Nationalität“? Und mit den Regionen Valencia, Andalusien und den Kanarischen Inseln? Laut Artikel 2 der Verfassung besteht Spanien aus „Nationalitäten und Regionen“, ohne dass weiter definiert würde, welche Territorien als Nationalität und welche als Region zu bezeichnen sind. Bislang haben die pragmatischen baskischen und katalanischen Parteien traditionell eine bilaterale Beziehung zum Zentralstaat bevorzugt, in der sie auf der einen Seite standen und auf der anderen Seite mit „Spanien“ (dessen Wesen nicht weiter beschrieben wurde) verhandelten. Doch bei einer territorialen Umstrukturierung Spaniens hin zu einem echten Bundesstaat müsste diese Bipolarität (Baskenland-Zentralstaat, Katalonien-Zentralstaat, usw.) in ein breiteres multipolares System eingebunden werden. Es entstünde, in den Worten einiger Politikwissenschaftler, ein System der Konkurrenz der ethnoterritorialen Vielfalt, das die Zahl der potentiellen Dilemmata vervielfachen könnte (Aja 1999; Kraus 1996; Moreno 2001; Colino 2020). Das (post-)kommunistische Parteienspektrum, allen voran die Koalition der „Vereinigten Linken“ (Izquierda Unida, IU), hat auch lange eine symmetrische Föderalisierung des Autonomiestaates gefordert. Parallel dazu war IU bereit, das Selbstbestimmungsrecht für diejenigen Regionen anzuerkennen, deren Bürger dies mehrheitlich unterstützten. Grundsätzlich steht IU allerdings explizit für die Zukunftsvision einer spanischen Bundesrepublik (Núñez Seixas 2019: 201-204; Taibo 2014). Die Tradition der Linken, „das Volk“ – el pueblo – als den wahren Träger der besten Tugenden der Nation zu betrachten (Molina Jiménez 2015; Martí Bataller 2018; Díaz Alonso 2019; Rodríguez-Flores 2021), scheint in erneuerter Form Eingang in den noch nicht ganz ausgereiften Diskurs der Partei Unidas Podemos zu finden. Dieser Diskurs lässt zur Zeit noch unterschiedliche Interpretationen zu, ist noch weit davon entfernt, ein kohärentes Gedankengut zu formulieren, und greift eher Konzepte auf, welche die spanische Linke schon zuvor verwendet hatte (Rueda Laffond 2016, 2018). Der Begriff der „Nation aus Nationen“ wurde weiterentwickelt zu „Land aus Ländern“ (país de países), mit einer stärkeren Betonung der sprachlichen Diversität und der Idee, dass die grundlegende Zugehörigkeit zur spanischen Nation eher durch das Individuum selbst als von außen bestimmt werden sollte. Dieser populäre Patriotismus betrachtet „nur das Volk“ (la gente, „die einfachen Leute“) als den authentischen Träger der Tugenden der Nation, voller Stolz auf deren republikanische und

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antifaschistische Tradition (Iglesias/Juliana 2018). Dies wird kombiniert mit den klassischen Anklängen an den modernen spanischen Republikanismus, wie der Appell an den Unabhängigkeitskrieg von 1808. Nichtsdestotrotz spielt der Diskurs von Podemos (bzw. der Koalition Unidas Podemos, wie die politische Organisation sich nennt, nachdem im März 2019 Podemos ein Wahlbündnis mit der postkommunistischen Izquierda Unida gebildet hat) − genauso wie derjenige der Partei Más País („Mehr Land“), die sich 2019 unter der Führung von Iñigo Errejón, einem ehemaligen Mitarbeiter von Pablo Iglesias, von Podemos abspaltete − durchaus auch mit der territorialen Ambivalenz in Katalonien, Galicien und Valencia. In diesen Regionen bildet Podemos breitere Koalitionen mit unterschiedlichen Partnern, auch mit Parteien, die für die Unabhängigkeit ihrer Territorien werben und die für die Selbstbestimmung der Iberischen Völker als Voraussetzung für eine Neugründung einer multinationalen Bundesrepublik kämpfen. Bislang ist noch unklar, wohin diese Mischung die neue populistische Linke führen wird. Genauso offen ist, ob und wie Podemos oder Más País sich entscheiden werden, zwischen einer Betonung der Vielfalt, die einige ihrer Wortführer verfechten (Domènech 2020), und der Forderung, dass die beiden Parteien auch ein politisches Projekt für ganz Spanien formulieren und dabei der Frage der sozialen Gerechtigkeit und der demokratischen Erneuerung des gesamten politischen Systems den Vorrang geben müssen. Für einen solchen spanischen Patriotismus der „einfachen Leute“ sprach sich erst kürzlich eine der Gründerinnen der Partei, die Soziologin Carolina Bescansa, aus, genauso wie einige Befürworter der Partei Más País (Errejón 2021). Schlussfolgerung: die Suche nach einer Zukunft in der Vergangenheit

Abschließend bleibt also festzustellen, dass der zeitgenössische spanische Nationalgedanke noch weit davon entfernt ist, eine tragfähige Formel für die Bewältigung der Herausforderungen des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts anzubieten. Verhaftet in den alten Dilemmata, die noch aus den Jahren der Transition zur Demokratie stammen, ist er schon seit geraumer Zeit kaum in der Lage, einfallsreiche theoretische und politische Lösungen zu formulieren. Wenn die aktuellen Varianten des patriotischen Diskurses in Spanien eines gemeinsam haben, dann ist es die Suche nach

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der Zukunft in der Vergangenheit. Für manche politischen Anführer besteht die Zukunft in dem Erhalt des Status Quo, den die Verfassung von 1978 festlegt, sowie in der Abwehr einer weiteren Dezentralisierung bzw. eines Ausbaus des Autonomiestaates, während sie stattdessen die Machtbefugnisse des Zentralstaates stärken und bisherige „Exzesse“ der Dezentralisierung korrigieren wollen. In dieser Lesart überschatten die Kategorien aus der Vergangenheit die wenigen modernisierenden Inhalte. Die dominierenden Ideen sind die Bestärkung der Hispanidad, die Betonung des weltweiten Charakters der spanischen Sprache sowie die Abwendung von der jüngsten Vergangenheit, um das Aufleben von Bruderzwist und gesellschaftlicher Spaltung zu vermeiden. Andere Politiker sehen die Zukunft in einem schwach definierten Föderalismus, doch sie bleiben gefangen im Dilemma zwischen Symmetrie und Asymmetrie, zwischen Republikanismus und Monarchismus, sowie in der Frage, ob der Föderalismus von oben nach unten oder vielmehr in einem konstituierenden Prozess von unten nach oben zu gestalten sei. Nicht zuletzt lässt sich unter dem Eindruck der gravierenden, im Jahr 2008 begonnenen Wirtschaftskrise feststellen, dass sich unabhängig von ihrer regionalen Herkunft bei den linksorientierten Wählern eine gewisse Abschwächung der Intensität ihres Zugehörigkeitsgefühls zu Spanien beobachten lässt, während die konservativ orientierten Teile der Bevölkerung genau die entgegengesetzte Entwicklung zeigen, da sich bei ihnen das Zugehörigkeitsgefühl zu Spanien verstärkt, während die Bereitschaft zu einem wie auch immer gearteten politischen Dialog mit den peripheren Nationalbewegungen deutlich sinkt (Ruiz-Jiménez/González-Fernández/ Jiménez-Sánchez 2015). In seinen Äußerungen beharrte der sozialistische Parteichef und Ministerpräsident Pedro Sánchez zwischen 2017 und 2020 auf einer Rückkehr zu der Formel der „Nation aus Nationen“, die noch aus den 1970er Jahren stammt und damals von Felipe González propagiert wurde. Dabei wurde nicht bedacht, dass dieses Konzept schon seit Längerem nicht in der Lage ist, die politischen Forderungen zu befriedigen, die Tag für Tag in Katalonien und anderen Territorien auf der Tagesordnung stehen. Andere Vordenker der Linken setzten stattdessen auf eine Rückkehr zum „Volk“, zu „den einfachen Leuten“. Doch dieses Schlagwort leidet unter seinem prekären Gleichgewicht zwischen Einheit und Pluralität und ist noch weit davon entfernt, seine inneren Widersprüche aufzulösen.

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Sicherlich ist es keine Überraschung, dass manche der peripheren Souveränitätsforderungen moderner daherkommen, dass sie sich stärker darauf konzentrieren, die typischen Ticks des romantischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden, und dass es ihnen deswegen besser gelingt, umfangreiche Teile der Bevölkerung in ihren Bann zu ziehen (Núñez Seixas 2020c). Sollte also die unwahrscheinliche Dystopie eines Spaniens ohne Katalonien wirklich Realität werden, wäre es genauso überhaupt keine Überraschung, wenn der Mainstream-Nationalismus in Spanien darauf mit einer erneuten Hinwendung zur Forderung nach einer kulturellen Homogenisierung und nach der Beendigung der politischen Dezentralisierung antworten würde. Auch die Auswirkungen der Corona-Krise des Jahres 2020 könnten dazu führen, die Sehnsucht nach einem stärkeren und zentralisierteren Staat zu verstärken. Ein Grund dafür könnte die Tatsache sein, dass die Bewältigung der Krise durch den Zentralstaat und die verschiedenen Regionalregierungen von Anfang an im Zeichen von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten stand, die zum Teil die Schwäche einer konsolidierten „föderalen politischen Kultur“ deutlich zutage treten ließen und das konkrete Krisenmanagement dramatisch erschwerten. Bislang ist dies allerdings nur eine kontrafaktische Hypothese, deren Tragfähigkeit sich erst im Lauf der kommenden Zeit erweisen wird. Literaturverzeichnis Abascal, Santiago/Bueno Sánchez, Gustavo (2019): En defensa de España. Razones para el patriotismo español. Madrid: Encuentro [Erstausgabe 2008]. Aja, Eliseo (1999): El Estado autonómico: federalismo y hechos diferenciales. Madrid: Alianza. Archilés, Ferran (Hg.) (2018): No solo cívica. Nación y nacionalismo cultural español. València: Tirant Lo Blanch. Balfour, Sebastian/Quiroga, Alejandro (2007): The Reinvention of Spain. Nation and Identity since Democracy. Oxford: Oxford University Press. Bastida, Xacobe (1998): La nación española y el nacionalismo constitucional. Barcelona: Ariel. Batalla Cueto, Pablo (2021): Los nuevos odres del nacionalismo español. Gijón: Trea. Béjar, Helena (2008): La dejación de España. Nacionalismo, desencanto y pertenencia. Madrid: Katz. Billig, Michael (1995): Banal Nationalism. London: Sage. Blanco Valdés, Roberto (2014): El laberinto territorial español. Madrid: Alianza.

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Spaniens Wirtschaft zwischen Strukturschwächen und opportunistischer Politik Holm-Detlev Köhler Abstract Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Situation und Entwicklung der spanischen Wirtschaft seit der Krise 2008 aus der Sicht des Entwicklungsmodells und sektoralen Profils, wie es sich seit der Spätphase der Franco-Diktatur herausgebildet hat. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die geerbten strukturellen Schwächen und Defizite gelegt, die von den demokratischen Regierungen seit den 1970er Jahren sträflich missachtet oder sogar verstärkt wurden. Folge davon waren die tiefe Rezession 2008-2013 und die andauernden Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt, der regionalen Verteilung und dem sektoralen Profil. Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmarktentwicklung werden in einem besonderen Abschnitt analysiert. Der Artikel schließt mit einigen vorläufigen Überlegungen zur unsicheren Zukunft der spanischen Wirtschaft am Ausgang der Coronakrise. Einführung

Die wirtschaftliche Entwicklung Spaniens seit der Demokratisierung in den 1970er Jahren war extrem turbulent mit abwechselnden Boom- und Depressionsphasen, hohen Wachstumsraten und dramatischen Beschäftigungskrisen, optimistischen Modernisierungsdiskursen und pessimistischen Peripherisierungswahrnehmungen. Die Zentralbank Spaniens hat in ihrem jüngsten Jahresbericht (2021) die folgenden neun Strukturreformnotwendigkeiten der Wirtschaft jenseits der aktuellen Pandemie-Krise benannt: Förderung des Größenwachstums der Unternehmen; Aus- und Weiterbildung der Beschäftigten; Investitionen in Innovation und Technologie; Überwindung der tiefen Spaltung des Arbeitsmarktes; Stärkung der aktiven Beschäftigungspolitik; Förderung der Beschäftigungsangebote für ältere Arbeitnehmer; Sanierung des Rentensystems; Kampf gegen die Einkommensungleichheit; Förderung eines Mietwohnungsmarktes. In

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der Präsentation des Berichts betonte der Präsident der Zentralbank Pablo Hernández de Cos: „Die Herausforderungen der spanischen Wirtschaft sind strukturell, und strukturelle Herausforderungen erfordern strukturelle politische Antworten.“ Das Problem ist, dass diese Strukturprobleme seit Jahrzehnten offen liegen und keine Regierung in der Lage und willens war, sie anzugehen. Der Beitrag gliedert sich wie folgt. Zuerst wird das spanische Entwicklungsmodell mit seinen wesentlichen Strukturmerkmalen dargestellt und seine historische Entwicklung nachgezeichnet. Im folgenden Abschnitt wird die Wirtschaftsentwicklung seit der Krise 2008 bis 2021 analysiert, indem die Ursachen und Folgen der Krise herausgearbeitet werden. Nach einem Kapitel über den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbeziehungen stehen am Schluss sehr vorläufige Überlegungen zu den Zukunftsperspektiven der spanischen Wirtschaft in einem Kontext, in dem die längerfristigen Folgen der Coronakrise noch nicht absehbar sind. Das spanische Entwicklungsmodell

In den wirtschaftstheoretischen Debatten stehen sich sowohl hinsichtlich der Ursachen der Krisen wie der Wachstumsphasen zwei klassische Positionen gegenüber. Die dominante neoliberale Position erklärt die Krise durch mangelnde preisliche Wettbewerbsfähigkeit aufgrund zu hoher Kosten, insbesondere Lohn- und Lohnnebenkosten, und die wirtschaftliche Erholung 2014-2019 ist demnach eine Folge der von der Troika (EU-Kommission, Internationaler Währungsfonds IWF und Europäische Zentralbank EZB) aufgezwungenen Austeritätspolitik − mit Lohnsenkungen, Einschnitten bei gewerkschaftlichen und sozialen Rechten, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bei vermindertem Kündigungsschutz und Kürzungen der öffentlichen Ausgaben.1 Durch diese „interne Abwertung“ wurden die Gewinnmargen erhöht und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert mit der Folge erhöhter Exporte, weiterer Investitionen und mehr Arbeitsplätzen. Dementgegen vertreten keynesianisch inspirierte Nachfragetheoretiker, dass der Aufschwung nicht das Ergebnis von Lohnsenkungen und Gewinnsteigerungen, sondern einer wachsenden Auslandsnachfrage, niedrigen 1

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Siehe dazu den aufschlussreichen Brief des damaligen EZB-Präsidenten Jean-­Claude Trichet an Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero vom 5. August 2011 .

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Zinsen und der expansiven EZB-Politik war, die Exporte, Investitionen, Beschäftigung und schließlich auch die Binnennachfrage ankurbelten.2 Hier wird dagegen eine dritte politökonomische Position eingenommen, die den Schwerpunkt nicht auf konjunkturelle makroökonomische Bewegungen, sondern auf das langfristige Strukturprofil und Entwicklungsmodell legt, wodurch das Zusammenspiel kurz- und langfristiger Faktoren und die interessengeleiteten Akteursstrategien in den Blick geraten. Ein Entwicklungsmodell, oft wird auch von einem Produktionsmodell gesprochen, bildet die sektorale und institutionelle Struktur einer Volkswirtschaft ab, ihre wichtigsten Wirtschaftsbranchen, Unternehmenstypen, die technologische Basis, das Zusammenspiel zwischen Staat und Privatwirtschaft, die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit (Arbeitsbeziehungen), zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft und zu den wichtigsten Handelspartnern.3 Die chronischen Schwächen der spanischen Wirtschaft haben ihren Ursprung in dem Entwicklungsmodell, das sich in der nachholenden Industrialisierung in der Spätphase der Franco-Diktatur 1959-1973 herausgebildet hat. Ende der 1950er Jahre war Spaniens Wirtschaft zahlungsunfähig und das faschistische Autarkiemodell endgültig gescheitert. Gleichzeitig war Spanien politisch infolge der Verträge mit dem Vatikan und den USA (1953) in den Westen integriert und hatte dadurch Zugang zu finanzieller und technischer Unterstützung seitens der BrettonWoods-Institutionen IWF und Weltbank. Dies ermöglichte einen nachhaltigen wirtschaftspolitischen Regimewandel unter der Führung einer neuen technokratischen Elite des katholischen Laienordens Opus Dei. Indikative Wirtschaftsplanung, die Förderung von Wachstumspolen, das Anwerben ausländischer Investitionen, Exportsubventionen, Währungsabwertungen, Konsolidierung der Staatsfinanzen und weitere komplementäre Wirtschaftsförderungsmaßnahmen bestimmten von nun an 2 Eine gute und aktuelle Darstellung dieser Debatte liefern Cárdenas et al. 2018. 3 Die theoretischen Ansätze, die mit einer solchen Entwicklungsmodellperspektive arbeiten, sind vielfältig und können hier nicht näher betrachtet werden. So gehen Theorien zu nationalen Innovationssystemen zurück auf den deutschen Nationalökonomen Friedrich List (1789-1846), post-keynesianische Entwicklungsmodelle beziehen sich auf den polnischen Wirtschaftstheoretiker Michal Kalecki (1899-1970), und die neomarxistische Regulationstheorie unterscheidet verschiedene historische Ausformungen kapitalistischer Wirtschaftssysteme (vgl. bspw. Jessop/Sum 2006). Gemeinsam ist all diesen Ansätzen ihre Ablehnung der abstrakten Modellanalysen der neoklassischen Ökonomie und der explizite Bezug auf die historische Einbettung und institutionellen Akteursbeziehungen von Wirtschaftssystemen.

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die Politik einer ­autoritär-technokratischen Entwicklungsdiktatur. Im Rahmen einer wachsenden europäischen Wirtschaft zeigten diese Maßnahmen bald sichtbare Erfolge und integrierten Spanien einerseits in die westeuropäische Wirtschaft, ermöglichten der Diktatur andererseits ein Überleben und Aufatmen, eine vorübergehende Linderung des sozialen Drucks. Ideologisch wurde dies in einen neuen Produktivitäts- und Rationalisierungsdiskurs gepackt, der den vorher dominanten katholischen Nationalfaschismus ablöste. In den folgenden 15 Jahren des sog. „spanischen Wirtschaftswunders“ entwickelten sich in Spanien moderne Konsumgüterindustrien, und der Tourismus wurde zur Dauerboom-Industrie. Millionen Spanier verließen die rückständigen ländlichen Gebiete und emigrierten in die wachsenden Industriestädte und nach Zentraleuropa. In diesen Jahren modernisierten sich Spaniens Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur grundlegend, doch bildeten sich dabei einige strukturelle Schwächen heraus, die bis heute nicht überwunden werden konnten. Spanien wurde abhängig von ausländischem Kapital, Know-how und Technologie, und es mangelt vor allem an einer eigenen Industrie. Die wenig effizienten Anlagen verschlingen wachsende Ölimporte,4 die steigenden Preise üben einen inflationären Druck aus, die Handelsbilanz ist chronisch defizitär (auch wenn dies teilweise in der Zahlungsbilanz durch die Tourismuseinnahmen kompensiert wird), das Bankensystem ist instabil und erfordert regelmäßig teure staatliche Rettungs- und Restrukturierungsaktionen, die Qualifizierung der Arbeitskräfte ist niedrig und das Berufsschulwesen unterentwickelt, die Unternehmen sind wenig innovativ, der informelle Sektor ist groß, das Steueraufkommen niedrig5 und die Betriebsgrößenstruktur ist extrem polarisiert zwischen einer großen Masse von Mikrounternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und ganz wenigen international wettbewerbsfähigen Großbetrieben.6 All diese typischen Merkmale eines autoritären 4 Spanien importiert 70-80  % seines Energieverbrauchs, und der notwendige ­Energieinput pro Einheit des Sozialprodukts ist deutlich über dem vergleichbarer Volkswirtschaften (vgl. Informe 01/2015 des Consejo Económico y Social de España). 5 Laut Eurostat (2018) ist Spanien mit Irland das westeuropäische Land mit dem niedrigsten Steueraufkommen (35,4 % des BIP), während alle anderen großen europäischen Staaten über 40% ihres BIP per Steuern abschöpfen, in Frankreich sind es fast 50 %. Das Steuersystem war zudem nie progressiv und erfüllte keine effektive Umverteilungsfunktion. 6 Daten des Ministeriums für Beschäftigung und Sozialversicherung (2020) belegen, dass nur 0,2 % aller registrierten Unternehmen mehr als 250 Beschäftigte haben, bei denen ein Drittel aller abhängig Beschäftigten arbeiten. 93,8 % aller Unternehmen

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Modells nachholender Industrialisierung prägen die spanische Wirtschaft bis heute und wurden von den demokratischen Regierungen nie wirklich angegangen. Die spanische Wirtschaftskraft beruht seither auf einigen wenigen Säulen, insbesondere dem Tourismus und der Bauindustrie, der Fahrzeug-, Anlagen-, Chemie- und Nahrungsmittelindustrie weitgehend unter ausländischer Kontrolle sowie dem Handel. Insbesondere in der Industrie, die heute nur noch 13 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) repräsentiert, macht sich die Unterentwicklung von Forschung, Entwicklung und Innovation bemerkbar, da die vielen Filialen ausländischer Konzerne in Spanien zwar produzieren und verkaufen, ihre Kernkompetenzen jedoch in den Herkunftsländern behalten.7 Die wenigen spanischen multinationalen Konzerne sind überwiegend aus privatisierten Staatsmonopolen (Telefónica, Repsol, Endesa, Naturgy), Bankenfusionen (Santander, BBVA) und den Bauunternehmen (ACS, FCC, Ferrovial) hervorgegangen und operieren vorwiegend in Lateinamerika. Spanien ist dort nach den USA der zweitwichtigste Investor, und spanische Konzerne beherrschen die Märkte für Telekommunikation, Energie, Wasserversorgung und Finanzen des Subkontinents, müssen sich allerdings in den letzten Jahren einer intensiven Konkurrenz chinesischer Investoren erwehren (Casanova 2021). Einige wenige Unternehmen (Santander, Telefónica, Iberdrola) weiteten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Geschäftsfelder auch nach Europa aus. Der Modekonzern Inditex (Zara) mit seinen globalen Lieferketten und Verkaufsläden in aller Welt ist die große Ausnahme, und sein Gründer Amancio Ortega, ein selfmade man, der mit einem kleinen Bekleidungsgeschäft anfing, gehört heute zu den reichsten Männern der Welt. Insgesamt nimmt Spanien in Europa eine periphere Position ein, geprägt von ausländischen Filialen, niedrig qualifizierten Dienstleistungen und kleinen lokalen Betrieben.

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sind Mikrounternehmen, die weniger als zehn Arbeitskräfte beschäftigen und deren Anteil an der Gesamtbeschäftigung knapp 20 % ausmacht. Bei 53 % handelt es sich um Selbständige ohne Angestellte. Laut Eurostat (2018) kommt Spanien auf 4,5 Beschäftigte pro Unternehmen, während es in Deutschland elf und in Großbritannien 9,9 sind. Laut Eurostat (2018) verwendet Spanien 1,2 % seines BIP auf Forschung und Entwicklung (FuE) (EU-28: 2,1 %), wobei noch ein großer Teil von öffentlichen Institutionen getragen wird, während in Skandinavien, Österreich und Deutschland mehr als 3 % in FuE fließen und der Privatsektor die Hauptlast trägt.

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Tab. 1: Fortune Ranking der 500 Multinationalen Unternehmen nach Ländern, 2019 Position 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Land USA China Japan Frankreich Deutschland UK Südkorea Schweiz Kanada Niederlande Spanien

Anzahl der Konzerne 121 119 52 31 29 18 16 14 13 12 9

Quelle: .

Dass es in 40 Jahren Demokratie nicht zu einer effektiven Politik des wirtschaftlichen Strukturwandels hin zu dem immer wieder eingeforderten nachhaltigen, innovativen und hochtechnologischen Entwicklungsmodell gekommen ist, hat nicht nur ideologische Gründe (der sozialistische Wirtschaftsminister Carlos Solchaga betonte schon in den 1980er Jahren, dass die beste Industriepolitik keine Industriepolitik sei), sondern hängt auch mit der fragilen Staatsordnung, der ineffizienten Bürokratie und der alle Ebenen durchziehenden Korruption zusammen.8 Die Kompetenzübertragungen an die 17 Autonomen Gemeinschaften (vergleichbar den deutschen Bundesländern) haben auf der einen Seite die Verwaltungen aufgebläht, auf der anderen Seite zu einem ständigen Ressourcenstreit zwischen den sehr ungleichen Regionen geführt, der zeitweise den Zusammenhalt des spanischen Staates gefährdete. Auch die Gemeindefinanzierung ist unsolide, und die Städte finanzieren sich zu großen Teilen über Baugenehmigungen und öffentliche Auftragsvergaben, was klientilistischen und korrupten Beziehungen zu den davon profitierenden Unternehmen Tür und Tor öffnet. Gleichwohl kommt der verfehlten Wirtschaftspolitik aller demokratischen Regierungen ein hoher Anteil an Mitverantwortung für den Fortbe8

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Der britische Historiker Paul Preston (2019) hat auf über 700 Seiten die Geschichte der Korruption in Spanien seit 1874 rekonstruiert.

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stand der Strukturschwächen zu. Anstatt gezielt zukunftsträchtige, innovative und nachhaltige Wirtschaftssektoren und Unternehmen zu fördern und diese mit effizienten Forschungs- und Berufsbildungsinstitutionen zu unterstützen, haben sowohl die sozialistischen wie die konservativen Volksparteiregierungen auf eine kurzsichtige Politik des schnellen Geldes gesetzt. Dabei waren die Rahmenbedingungen seit dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1986) durchaus günstig. Viel ausländisches Kapital floss nach Spanien auf der Suche nach einem günstigen Zugang zum europäischen Binnenmarkt, und die europäischen Regional-, Struktur- und Sozialfonds vergaben viele Millionen Fördergelder nach Spanien. Am meisten profitierte davon die Bauwirtschaft, da der Staat riesige öffentliche Infrastrukturmaßnahmen durchführte. So hat Spanien inzwischen ein gut ausgebautes Autobahnnetz, Häfen, Flughäfen, Sportanlagen, Kongress- und Kulturzentren, etc., und in den 1990er Jahren wurden zudem die Olympischen Spiele in Barcelona und die Weltausstellung in Sevilla veranstaltet. Viele dieser Gelder flossen jedoch auch in dunkle Kanäle mit völlig überhöhten Baukosten und in wirtschaftlich wie ökologisch unsinnige Projekte. Überall in Spanien gibt es leere Flughäfen, ungenutzte Vorzeigegebäude, nie geöffnete Museen, leere Sportstadien und ähnliche Monumente einer korrupten Verschwendungswirtschaft.9 Der langanhaltende Wirtschaftsboom um die Jahrhundertwende (1994-2007) förderte das unsolide, kurzsichtige Wirtschaftsmodell besonders deutlich zutage. Zu Beginn der 1990er Jahre gab es viel Anlage suchendes Kapital auf den internationalen Finanzmärkten, die Zinsen waren sehr niedrig und die Einrichtung der €-Zone gab der spanischen Währung in Spanien eine vorher ungekannte Sicherheit. Die spanischen Unternehmen und privaten Haushalte nutzten diese Situation für einen kreditfinanzierten Nachfrageboom und den Erwerb von Zweitwohnungen. Am Ende des Immobilienbooms 2008 verfügten 83  % aller spanischen Familien über Wohneigentum, 36 % über mehrere Wohnungen oder Häuser. Die Verschuldung der Privathaushalte war zwischen 2000 und 2007 von 69 % auf 131 % des verfügbaren Einkommens angestiegen. Als 1996 die Volkspartei unter Ministerpräsident José María Aznar und ­Wirtschaftsminister 9

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Ein Forschungsbericht des Spanischen Geographenverbandes kommt zu dem Ergebnis, dass in den zwei Jahrzehnten 1995-2016 ca. 81 Mrd. € in überteuerten oder sinnlosen Infrastrukturinvestitionen verloren gingen, während gleichzeitig ein Investitionsmangel in Bereichen wie Bildung und Erziehung, Innovation oder öffentlicher Nahverkehr herrschte (Boletín de la Asociación de Geógrafos Españoles, Nr. 77, 2018, ).

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Rodrigo Rato (letzterer später im Gefängnis und angeklagt wegen zahlreicher Korruptions-, Geldwäsche- und Steuerhinterziehungsdelikte) an die Macht kam, erließ die Regierung neben mehreren Steuersenkungen ein Gesetz, welches praktisch allen Grund und Boden zu potenziellem Bauland machte und damit der Spekulation ein riesiges Anlagefeld anbot. Entgegen dem offiziellen Motiv, durch diesen Angebotszuwachs die Wohnungspreise zu senken, verdoppelten sich diese in kurzer Zeit, und gleichzeitig wurden alle sozialen Wohnungsbauprogramme zurückgefahren. Schon vorher war die Grund- und Bodenpolitik dezentralisiert und in den Kompetenzbereich der Autonomen Gemeinschaften und Kommunen übertragen worden. In der Folge boomten die Immobilienmärkte, die Bauindustrie und der Tourismus, die Arbeitslosigkeit sank von 25 % (1993) auf 8 % (2007), die hohe Staatsverschuldung ging zurück, während die private Verschuldung von Unternehmen und Haushalten auf 264 % des BIP anstieg, Spanien versank im Geld- und Konsumrausch.10 Auch international erntete Spanien viel Lob für ein Wirtschaftsmodell, welches trotz stagnierender Löhne und Produktivität und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit scheinbar dauerhaftes Wachstum und hohe Gewinne bescherte. Neben dem Immobilienmarkt wurden Ende der 1990er Jahre auch die Sektoren Telekommunikation, Post, Energie und Tabak dereguliert und die entsprechenden Staatsunternehmen (Repsol, Endesa, Inespal, Iberia, Tabacalera) privatisiert. Mit diesen einmaligen Einnahmen konnte der Staat trotz Steuersenkungen die Staatsverschuldung senken. Eine besondere Rolle spielten in dieser Phase die Sparkassen, in deren Aufsichtsräten lokale und regionale Politiker sowie Unternehmensund Gewerkschaftsvertreter saßen, deren Sachkenntnis im Banken- und Finanzmanagement sehr begrenzt war, die persönliche Bereicherungslust dagegen umso größer. Nicht nur Hypotheken und Baukredite, sondern bald auch die neuen intransparenten Finanzgeschäfte mit Derivaten und Schuldscheinen verhalfen diesen halböffentlichen Finanzinstituten zu einem exorbitanten Boom, der mit hohen Risiken und Schulden auf den Kapitalmärkten behaftet war. Die 45 Sparkassen wurden zum institutionellen Zentrum der Immobilienblase und bildeten ein Dreieck mit den politischen Parteien auf der einen und den Baufirmen auf der anderen Seite. Der Finanzsektor sah lukrative Geschäfte in der steigenden Kredit10 Einige Autoren sprechen bei diesem auf privater statt öffentlicher Verschuldung beruhenden Wachstumsmodell von „asset-price Keynesianism“ (López/Rodríguez 2011).

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und Hypothekennachfrage im Kontext niedriger Zinsen und einer stabilen Währung, während die Politiker von PP (Partido Popular) und PSOE (Partido Socialista Obrero Español) profitable öffentliche Infrastrukturinvestitionen einbrachten und sich in den Aufsichtsräten der aufgeblähten Sparkassen sowie direkt von den Spenden der Baufirmen belohnen ließen. Die Immobilienblase hat auch die Konsequenzen des Beitritts zur Eurozone verdeckt. Die Vorteile einer stabilen Währung und niedriger Zinsen wurden in vollen Zügen genossen, während die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit erst ganz plötzlich mit deren Zerplatzen offenbar wurde. In der Vergangenheit wurden solche Krisen immer durch Währungsabwertungen bereinigt, wodurch spanische Produkte im Ausland verbilligt wurden. Dieser Mechanismus stand nun nicht mehr zur Verfügung, und die Wettbewerbsschwäche produzierte automatisch einen Druck auf Preise und Kosten, d. h. den Ruf nach „interner Abwertung“ durch Senkung der Lohnkosten. In einem Arbeitsmarkt mit hoher externer Flexibilität, d.  h. viel befristeter und prekärer Beschäftigung und ­niedrigem Kündigungsschutz, und geringer interner Flexibilität − es mangelt an Kurzarbeitsregelungen und flexiblen Zeitkonten − bewirkt dies direkt Massenentlassungen und hohe Arbeitslosigkeit. Damit setzt eine Negativspirale der Entwertung von Humankapital, sinkenden Staatseinnahmen, steigenden Sozialausgaben und sinkender Binnennachfrage ein, wodurch die Krise in Spanien vergleichsweise besonders drastisch und langwierig wurde. Nachdem die PP-Regierung durch ihre Beteiligung am kaum zu rechtfertigenden Irak-Krieg und der fälschlichen Beschuldigung der baskischen ETA für die Attentate im März 2004 in Madrid, bei denen jihadistische Terroristen 191 Menschen töteten, soviel Kredit verspielt hatte, dass sie die Wahlen verlor, kam es zu einem Regierungswechsel, jedoch nicht zu einem Politikwechsel. Die sozialistische Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero (2004-2011) ignorierte alle Warnungen vor den Gefahren der Immobilienblase, verteilte großzügige Steuergeschenke und fragwürdige Sozialhilfen wie den einmaligen „Baby-Scheck“ für Familien mit Neugeborenen, sonnte sich in den andauernden Wachstumszahlen und vermied notwendige Investitionen in einen industriellen Strukturwandel und die Energiewende. Als dann Ende 2007 die internationale Finanzkrise aus den USA in Europa ankam, riss sie Spanien jäh aus den Träumen und förderte alle

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Versäumnisse der Vergangenheit zutage.11 Die hohen Schulden konnten nicht mehr refinanziert werden, mehrere Banken und vor allem die Sparkassen standen vor der Pleite, die Steuereinnahmen des Staates brachen ein, während die Sozialausgaben stiegen, der Bausektor brach zusammen, Unternehmensschließungen und Massenentlassungen stürzten die Wirtschaft in eine tiefe Rezession. Während andere solidere Volkswirtschaften sich bald wieder von dem tiefen Einbruch erholen konnten, blieb Spanien fünf lange Jahre in der Krise. Von 2008 bis 2014 sank das Sozialprodukt um 9,3 %, die Kaufkraft der Löhne um 10,1 %, 18 % der Arbeitsplätze gingen verloren, und Spanien wurde das Land der €-Zone mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit und der höchsten Einkommensungleichheit. Nachdem die zaghaften Konjunkturbelebungsversuche der ersten Monate wirkungslos verpufften, sah die sozialistische Regierung 2010 keinen anderen Ausweg als dem Austeritätsdiktat der Troika zu folgen, wodurch sie die bevorstehende Wahlniederlage 2011 allerdings nicht abwenden konnte. Die neue Volksparteiregierung unter Mariano Rajoy setzte dann die neoliberale Sparpolitik umso energischer fort, führte eine drastische Arbeitsmarktreform durch (s. u.), kürzte Renten und erhöhte das Rentenalter, senkte die Gehälter im öffentlichen Dienst, machte tiefe Einschnitte bei öffentlicher Erziehung, Gesundheit und Sozialleistungen und erließ autoritäre Sicherheitsgesetze zur gewaltsamen Eindämmung der sozialen Proteste. Alles dies ging an den Strukturproblemen der Wirtschaft völlig vorbei und bewirkte lediglich das einseitige Aufbürden der Kosten der Krise auf die sozial schwachen Bevölkerungsgruppen. Die Banken wurden unter hohem Steuergeldaufwand saniert und die 45 Sparkassen zwangsfusioniert und in Privatbanken überführt.12 Die hohen Kosten der Sanierung des Finanzsektors − laut Daten der spanischen Zentralbank ca. 80 Mrd. €, von denen allenfalls 15 Mrd. € durch zukünftige Einnahmen gedeckt werden können − und der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig sinkenden Steuereinnahmen führten zu einem rasanten Anstieg der öffentlichen ­Verschuldung 11 Eine gute Darstellung der strukturellen Komponenten der Krise in vergleichend-historischer Perspektive liefert Francisco Comín (2015); siehe auch Comín/Hernández 2013. Der Journalist Ernesto Ekaizer (2018) bietet eine gut lesbare Geschichte der Finanzkrise, vor der Finanzinspektoren schon 2006 eindringlich warnten, was aber von allen Verantwortlichen des Banco de España und der Regierung wissentlich ignoriert wurde. 12 Die Privatisierung der Sparkassen bewirkte zudem eine weitere Schwächung des Sozialstaates, insofern ihr die gemeinnützigen Stiftungen zum Opfer fielen, die in der Vergangenheit viele Sozial- und Kulturprojekte finanziert hatten.

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von 39  % (2007) auf über 100  % des Sozialprodukts (2019), und die Coronaviruskrise verstärkte diesen Trend noch weiter. Nach sieben Jahren Rezession und Arbeitsplatzabbau begann 2014 eine Phase langsamer wirtschaftlicher Erholung. Das Wachstum von Wirtschaft und Beschäftigung reproduzierte jedoch erneut die traditionellen Strukturschwächen der spanischen Wirtschaft, beruhte wesentlich auf Immobilien (insbesondere ausländische Fonds kauften am spanischen Mittelmeer prächtig ein), Tourismus und privatem Konsum. Hinzu kamen günstige Rahmenbedingungen wie niedrige Zinsen, sinkende Ölpreise, eine expansive Politik der Europäischen Zentralbank und ein niedrig bewerteter Euro. Der Tourismus profitierte zudem von den politischen Instabilitäten der anderen Mittelmeerländer (Maghreb, Türkei, Griechenland), die dadurch als Konkurrenten wegfielen. Während die Beschäftigung im Bausektor deutlich weniger als die Hälfte des Standes von 2008 betrug, war der Tourismus zum großen Beschäftigungsmotor herangewachsen, dessen fast 2,7 Millionen Arbeitsplätze 14  % der Gesamtbeschäftigung ausmachten (2019). 83,7 Millionen Ausländer bereisten im Rekordjahr 2019 Spanien, nach Frankreich an zweiter Stelle unter den weltweiten Tourismuszielen, Spanien ist in Europa die am stärksten vom Tourismus abhängige Volkswirtschaft. Dieser Sektor ist jedoch starken saisonalen Schwankungen ausgesetzt, der Anteil befristeter und prekärer Arbeitsplätze ist hoch und das Lohnniveau niedrig. Alles zusammen bewirkte einen leichten Aufschwung, der jedoch auf tönernen Füßen stand. Der Beschäftigungszuwachs fand vor allem im Tourismus und anderen Niedriglohnsektoren statt, während Industrie und Bauwirtschaft in der Krise ihre Exportorientierung entwickelt hatten und nun den Hauptteil ihrer Gewinne im Ausland erwirtschaften.13 Der Anteil der Exporte von Waren und Dienstleistungen am BIP stieg im Verlauf der Krise von 25,3 % (2008) auf 34,1  % (2017). Dadurch konnte zwar das chronische Handelsbilanzdefizit reduziert werden, das Wirtschaftswachstum erzeugt aber nur noch begrenzt Arbeitsplätze im Inland. Die gravierenden Folgen der langen Rezession wie die enorm gewachsene soziale Ungleichheit und die Prekarisierung der Beschäftigung wurden so bislang nicht gelindert. 13 Während führende Industriesektoren wie der Fahrzeug- und Anlagenbau oder die Nahrungsmittelindustrie schon lange exportorientiert waren, haben sich die großen Bau- und Energiekonzerne als Reaktion auf den Zusammenbruch des Binnenmarktes neu orientiert und sind seither stark in großen Bau- und Infrastrukturprojekten in aller Welt engagiert (vgl. Fernández Díez-Picazo 2015).

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An der regionalen Wirtschaftsstruktur Spaniens hat sich in all diesen Jahrzehnten relativ wenig verändert. Dieselben Regionen, die vor dem EU-Betritt das höchste Prokopfeinkommen aufwiesen (Madrid, Baskenland, Navarra, Katalonien), tun dies auch heute. Zurückgefallen sind die zu einseitig vom Tourismus abhängigen Gebiete, allen voran die Balearischen und Kanarischen Inseln, Valencia, Murcia und Kantabrien. Extremadura, Andalusien und das südliche Kastilien bilden die Dauerschlusslichter, zu denen sich auch die altindustrielle Region Asturien gesellt hat, während Galicien, Kastilien und León sowie La Rioja ihre Position relativ verbessern konnten. Die gerade auch in der Krise besonders robuste Regionalwirtschaft des Baskenlandes mit dem benachbarten Navarra verdient dabei eine besondere Betrachtung. Das Baskenland, eine traditionell schwerindustrielle Region mit Eisenerz, Stahl- und Werftindustrien, hat seit den 1990er Jahren einen erfolgreichen Strukturwandel vollzogen, der nicht zu einer Deindustrialisierung wie bspw. in Asturien, sondern zu einer industriellen Erneuerung geführt hat. Ähnlich wie in Deutschland hat der industrielle Sektor mit 23 % einen weit überdurchschnittlichen Anteil am BIP, es gibt zahlreiche mittelständische Export- und auch multinationale Unternehmen, die sich vielfach in der Hand baskischer Unternehmerfamilien oder auch der großen Kooperativen-Gruppe Mondragón Corporation befinden. Diese operieren in stark internationalisierten Sektoren wie dem Maschinen- und Fahrzeugbau oder der Luftfahrtindustrie. Sie profitieren dabei von einem dichten Netz von öffentlichen und privaten Forschungsund Entwicklungseinrichtungen und einer guten Berufsausbildung. Auch die baskischen Sparkassen haben sich nicht an den Immobilienmärkten und am Derivatenhandel verspekuliert, sondern ein enges Verhältnis zu der regionalen Industrie beibehalten. Alles dies sind für den Rest der spanischen Wirtschaft völlig ungewöhnliche Eigenschaften, die zu dauerhaft hohen Wachstumsraten, Exportquoten und niedriger Arbeitslosigkeit führten und deutlich machen, dass strategische Industrie- und Strukturpolitik im Gegensatz zum neoliberalen Credo staatlicher Abstinenz sehr viel positive Wirkung entfalten kann. Aus regionalwirtschaftlicher Sicht ist die Zentralität Madrids und die Entvölkerung des spanischen Inlands ein andauernder längerfristiger Trend. Die Hauptstadtregion konzentriert einen wachsenden Anteil der Bevölkerung (knapp 15  %), des Sozialprodukts (fast 20  %), der staatlichen Verwaltung (knapp 40 % der öffentlichen Beschäftigung), außerdem Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen, Infrastruktur und moderne

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Dienstleistungsunternehmen Spaniens, während die umliegenden Regionen wie Kastilien oder Extremadura relativ verarmen und eine schrumpfende, überalterte Bevölkerung aufweisen.14 31 % der spanischen Großunternehmen und 85 % der ausländischen Direktinvestitionen sind in der Hauptstadt konzentriert. Die daraus resultierende wachsende regionale Ungleichheit inkl. eines interregionalen Wettbewerbs um die Steuereinnahmen − mehrere Regionalregierungen werfen Madrid Fiskaldumping vor − hat in den letzten Jahren zu anhaltenden politischen Konflikten und Debatten geführt. Der Schriftsteller Sergio del Molino veröffentlichte 2016 einen vielbeachteten Essay mit dem Titel La España vacía („Das leere Spanien“), in dem er anschaulich die Situation der sich entvölkernden und überalterten Regionen Zentralspaniens schildert. Wirtschaft und Bevölkerung konzentrieren sich immer stärker im Großraum Madrid und an den Küsten, und das Gefälle des modernen, urbanen und europäischen Spaniens zu den zurückbleibenden Inlandsregionen wird immer deutlicher, ein Prozess, der mit der nachholenden Industrialisierung in den 1950er Jahren begann und seither an Dynamik nicht nachgelassen hat. Das Problem hat inzwischen wachsende politische Aufmerksamkeit erlangt – siehe die Einrichtung eines Ministeriums für demographische Herausforderungen in der Koalitionsregierung PSOE/Unidas Podemos 2020 –, und auch die EU hat 2019 eine Kommissarin für Demokratie und Demographie ernannt, da sich viele europäische Regionen in dieser Situation befinden. Seither werden interessante Studien zu dem Thema veröffentlicht, aber noch keine effizienten Politiken zur Korrektur dieses Trends entwickelt. Immerhin hat sich eine Bewegung mit 65 Plattformen aus 30 betroffenen Provinzen gebildet, und Teruel Existe („Teruel existiert“, eine der betroffenen Provinzen) hat bei den letzten Parlamentswahlen einen Abgeordneten erreicht. Im Mai 2021 wurde über diesen Abgeordneten erstmals ein umfassender Forderungskatalog zur Entwicklung des „entleerten Spaniens“ ins Parlament eingebracht. Die Entwicklung der spanischen Wirtschaft seit der Krise 2008 kann in folgenden Trends zusammengefasst werden: • Fortschreitende Deindustrialisierung: Das Gewicht der Industrie in der Wirtschaft folgt weiterhin einem Abwärtstrend, und die wichtigsten Industrieunternehmen sind Filialen ausländischer Konzerne. D ­ iese 14 Siehe dazu IvieLAB (2020) und Bandrés/Azón (2021).

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sind zwar wettbewerbsfähig und exportstark und die Arbeitsplätze sind relativ qualifiziert, doch gibt es kaum eigene Forschung und Entwicklung, und die internationale Standortkonkurrenz ist sehr hoch. • Tertiarisierung mit dem Tourismus als Leitsektor: Der Anteil gering qualifizierter Beschäftigung im Dienstleistungssektor mit Schwerpunkt im Tourismus ist weiterhin steigend, was zu einem gesunkenen Lohnniveau und hoher Anfälligkeit für saisonale und konjunkturelle Schwankungen geführt hat. • Prekarisierung der Beschäftigung: Die Konzentration auf tourismusnahe und persönliche Dienstleistungen hat den langanhaltenden Trend zu prekärer Beschäftigung weiter konsolidiert. Die neu geschaffenen Arbeitsplätze in der Erholungsphase seit 2014 waren ganz überwiegend zeitlich befristet und sind der Coronakrise schlagartig zum Opfer gefallen. Hinzu kam ein steigender Anteil von Teilzeitarbeit. Die negativen Folgen des prekären Arbeitsmarktes für die Qualität der Arbeitsplätze und des Humankapitals spürt die entwicklungsgehemmte spanische Wirtschaft seit langem. • Interne Abwertung: Die Strategie der internen Abwertung zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit hat zu einer drastischen Senkung des Lohnniveaus und der Kaufkraft sowie einer hohen Einkommensungleichheit geführt. Die Vertretungsrechte der Arbeitnehmer und die Tarifhoheit wurden geschwächt, das Kräfteverhältnis zugunsten des individuellen Kapitals verschoben. • Geschwächter Sozialstaat: Die Probleme bei der Bewältigung der Coronaviruskrise haben die Folgen jahrelanger Austeritätspolitik mit Kürzungen im Erziehungs- und Gesundheitswesen plötzlich allen sichtbar gemacht. Nicht nur die sanitären, sondern auch die wirtschaftlichen Krisenfolgen haben plötzlich alle nach dem Staat rufen lassen, doch dieser war inzwischen nicht nur stark geschwächt, sondern auch hoch verschuldet. Die Coronaviruskrise von 2020/21 mit den gravierenden, noch nicht absehbaren längerfristigen Folgen traf somit auf eine nicht nur unvorbereitete, sondern auch extrem strukturschwache spanische Wirtschaft und einen geschwächten Sozialstaat. Der Tourismus, d. h. der beschäftigungsintensivste Sektor der spanischen Wirtschaft, ist eine der am stärksten und langfristigsten von dieser Krise betroffenen Branchen. Der Andrang der Massen vor den berühmten Touristenattraktionen, Festivals und Großveranstaltungen wird in dieser Form für längere Zeit ausbleiben.

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Arbeitsmarkt und Arbeitsbeziehungen

War Spanien 1994-2007 das europäische Land mit dem höchsten Beschäftigungswachstum, so wurde es in der Krise 2008-2013 zum rasantesten Arbeitsplatzvernichter. Spanien entwickelte sich im Verlauf der Krise rasch zum Spitzenreiter in der Arbeitslosenrate (2013: 27,16  %) und der Jugendarbeitslosigkeit (57,2  %). Laut Eurostat hat die Krise in Europa in den Jahren 2008-2012 rund 5,1 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, mehr als die Hälfte davon in Spanien (2,75 Millionen). Der Kaufkraftverlust der Löhne zwischen 2008 und 2013 betrug mehr als 10 %. Die seit 2010 praktizierte Austeritätspolitik verschärfte die sozialen Verwerfungen und die ungerechte Verteilung der Kosten der Krise. Als Folge der Massenarbeitslosigkeit wuchsen soziale Ungleichheit, Armut und soziale Ausgrenzung, wovon vor allem alleinerziehende Mütter, prekär beschäftigte Jugendliche und Immigranten betroffen waren. Viele Haushalte lebten seit dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes von einer minimalen Armenunterstützung und waren zudem von der Zwangsräumung ihrer Wohnungen bedroht, da sie die Hypothek nicht mehr bedienen konnten. Weder der Generalstreik der Gewerkschaften 2010 noch die monatelangen Proteste der Jugendlichen auf den zentralen Plätzen der spanischen Städte 2011, die Bewegung 15-Mai bzw. die „Empörten“, konnten die antisoziale Krisenpolitik korrigieren, und im Herbst 2011 verlor der PSOE schließlich die Wahlen und die konservative Volkspartei PP (Partido Popular) unter Mariano Rajoy übernahm die Regierung. Diese radikalisierte die Politik der Kürzungen und Steuererhöhungen, die nun auch das Gesundheitswesen und die Bildung empfindlich trafen. Dazu wurde die Mehrwertsteuer von 18 % auf 21 % erhöht, das 14. Monatsgehalt im öffentlichen Dienst gestrichen und das Arbeitslosengeld gekürzt.

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1992 18.4 46.6 25.5 35.7 nd nd 33.5 5.9 nd nd

1990 16.3 51.4 24.2 33 nd nd 30.3 4.6 nd nd

7.4 nd nd

33.8

1996 22.2 54.6 29.6 42 nd nd

7.5 52.5 42.8

32.9

2000 14.2 44.6 20.5 28.1 nd nd

8 54.9 43.2

31.6

2002 13 37.7 16.4 22.3 nd nd

11.6 59.4 49.9

30.9

2007 8.6 22.6 11 18.1 7.9 12.3

13.3 59.9 52.1

25.4

2009 18.3 34.5 18.4 39.6 16.8 29.7

13.8 60.2 53.4

25

2011 21.6 50 23.3 46.4 20.6 34.8

16 59.8 53.9

22.1

2013 27.2 56.3 27.6 57.2 25.1 39.2

Quelle: Spanisches Statistisches Amt (Instituto Nacional de Estadística), Erwerbsbevölkerungsumfrage.

  Arbeitslosenrate Anteil Langzeitarbeitsloser Frauenarbeitslosenrate Jugendarbeitslosenrate Arbeitslosenrate Spanier Arbeitslosenrate Ausländer Anteil befristeter Beschäftigung Anteil Teilzeitbeschäftigung Erwerbsquote Weibliche Erwerbsquote

Tab. 2: Strukturdaten des spanischen Arbeitsmarktes

15.7 59.4 53.7

25.7

2015 20.9 48.7 22.5 46.2 19.9 28.3

14.6 58.6 53.3

26.7

2017 16.5 42.8 18.4 37.5 15.6 23.6

14.6 58.6 53.3

26.3

2019 14.2 44.3 16.0 32.2 13.2 20.1

nd 58,6 53,8

22,3

2021 15,3 49,0 17,4 38,3 13,9 23,7

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Die spanischen Gewerkschaften wurden durch den politischen ­ ichtungswechsel seit 2010 und die Aufkündigung des impliziten SozialR pakts seitens der Arbeitgeber geradezu in die Rolle einer außerparlamentarischen Opposition gedrängt. Sie riefen zu drei Generalstreiks auf (29. September 2010, 29. März 2012 und 14. November 2012 in Koinzidenz mit dem europäischen Protesttag des Europäischen Gewerkschaftsbundes), organisierten zahlreiche Massendemonstrationen im ganzen Land und ein breites Aktionsbündnis gegen den Sozialabbau (den sog. „Sozialen Gipfel“ mit ca. 150 zivilgesellschaftlichen Organisationen) sowie eine Bewegung für ein Referendum über einen alternativen Ausweg aus der Krise.15 Alle diese Aktionen verpufften wirkungslos und konnten das neoliberale Krisenmanagement nicht korrigieren. Insbesondere gelang es den Gewerkschaften zu wenig, ein breites Bündnis mit anderen sozialen Protestbewegungen herzustellen. Lediglich im öffentlichen Dienst, dessen Beschäftigte ganz unmittelbar von Sozialabbau, Gehaltskürzungen und Arbeitszeitverlängerungen betroffen waren, kam es zu nachhaltigen Koalitionen und effektiven Protestaktionen. So organisierten die Beschäftigten des Gesundheitswesens eine weiße (marea blanca), die des Bildungswesens ein grüne (marea verde) und die Verwaltungen eine schwarze Protestwelle (marea negra). Diese Protestbewegungen waren in mehrfacher Hinsicht innovativ und zukunftsweisend. Erstens kam es hier zu einer von der Basis her koordinierten Zusammenarbeit von Klassengewerkschaften, berufsständischen Organisationen und Bürgern als Nutzer der öffentlichen Dienste. Zweitens wurden verschiedene Protestformen wie Streiks, Betriebsbesetzungen, Demonstrationen, Performance, symbolische Aktionen, etc., komplementär eingesetzt. Gewerkschaftsbewegung und Bürgerprotest kamen hier zusammen. Wenige Jahre später in der Coronaviruskrise (2020) dankte die spanische Bevölkerung den Aktivisten der marea blanca für ihre Erfolge bei der Verhinderung der Privatisierung der Krankenhäuser und beim Kampf gegen noch drastischere Kürzungen im Gesundheitswesen. Im privaten Sektor kam es zu unterschiedlichen Reaktionen. Während sich viele von Schließungen (Werften, Bergbau) oder massivem Personalabbau (Banken und Sparkassen) bedrohte Belegschaften sehr aktiv an den Massenprotesten beteiligten und einige spektakuläre Aktionen wie den 500km-Marsch der asturischen Bergarbeiter nach Madrid (2012) 15 Eine detaillierte Analyse der Arbeitskonfliktivität und Streikhäufigkeit in Spanien bieten Luque (2013) und Luque/González Begega (2017).

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o­ rganisierten, verfolgten andere, wie die Belegschaften der großen Automobilkonzerne, eine Strategie der Konzessionsverhandlungen, um dadurch im internationalen konzerninternen Standortwettbewerb neue Modelle an Land zu ziehen und ihre Arbeitsplätze (manchmal auf Kosten anderer Werke in anderen Ländern) zu sichern. Tab. 3: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Arbeitslosenrate in Spanien

Quelle: Spanisches Statistisches Amt (Instituto Nacional de Estadística).

Das 2014 einsetzende Beschäftigungswachstum erfolgte überwiegend in Dienstleistungssektoren mit hohen Anteilen von prekären, gering qualifizierten Arbeitsplätzen. Die sinkenden Arbeitslosenraten sind zudem teilweise dem statistischen Effekt einer sinkenden Erwerbsbevölkerung geschuldet, hervorgerufen durch Überalterung, Emigration vor allem qualifizierter Jugendlicher und Rückkehr von Immigranten in ihre Heimatländer. In einer 130 Länder umfassenden Vergleichsstudie über das Humankapital hat das World Economic Forum 2017 einen Bericht veröffentlicht, in dem Spanien zusammen mit Portugal und Griechenland das Schlusslicht in Westeuropa bildet. Erziehung, Berufsaus- und Weiterbildung, Qualifikationsniveau und die Situation am Arbeitsmarkt nach Geschlecht und Altersgruppen waren die Indikatoren. Spanien schnitt zwar gut bei der Primär- und Sekundärerziehung und der Geschlechtergleichstellung an den Universitäten ab, wies jedoch klare Defizite auf

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­ insichtlich der niedrigen Erwerbsquote, der hohen Arbeitslosigkeit insh besondere unter Jugendlichen, des niedrigen Qualifikationsniveaus der Beschäftigten, der unterentwickelten Aus- und Weiterbildung sowie der niedrigen Arbeitsproduktivität. Der Arbeitsmarkt in Spanien schleppt somit seit den 1980er Jahren unabhängig von den wirtschaftlichen Konjunkturen und politischen Richtungen der Regierungen einige gravierende Strukturprobleme mit sich. Dazu gehören eine chronische Unterbeschäftigung und Sockelarbeitslosigkeit, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit mit großen Problemen beim Übergang von der Schule in den Beruf, eine hohe Langzeitarbeitslosenrate von dauerhaft aus dem Arbeitsleben Ausgegrenzten, eine hohe Rotation in der Beschäftigung mit andauernd wechselnden Perioden kurzzeitiger Anstellung und Arbeitslosigkeit, ein hoher Anteil zeitlich befristeter, prekärer und gering qualifizierter Beschäftigung und eine wachsende Polarisierung zwischen hoch- und geringqualifizierten Arbeitsplätzen. Eine positive Entwicklung ist der stetige Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit, auch wenn die Lohnungleichheit und eine niedrige Präsenz in Führungspositionen und qualifizierten technischen Berufen auf fortbestehende Herausforderungen für eine effektive Geschlechtergleichheit hindeuten. Zwei Gruppen sind von der Segmentierung und Ungleichheit des spanischen Arbeitsmarktes besonders betroffen, die Immigranten und die Jugend. Spanien erlebte im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts einen nie gekannten Zustrom von Einwanderern aus Mitteleuropa (vor allem Rumänien), Südamerika (vor allem Ecuador, Venezuela und Kolumbien) und Nordafrika. Der Ausländeranteil stieg von unter 2  % (knapp 600.000) in den 1990er Jahren auf 12,2 % (2010), was fast sechs Millionen Menschen entsprach. In den Krisenjahren wurde Spanien dann wieder ein Auswanderungsland, da viele, insbesondere Südamerikaner, wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten und gleichzeitig viele qualifizierte junge Spanier und Spanierinnen im Ausland Beschäftigung suchten. Die Immigranten bilden so eine flexible Reservearmee für Sektoren wie die Landwirtschaft, den Bau, das Hotel- und Gaststättengewerbe und die persönlichen Pflege- und Dienstleistungen. Für die in den beiden Schlussjahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts geborenen Spanier und Spanierinnen zeichnet der Arbeitsmarkt ein dramatisches Bild, dessen längerfristige Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche kaum überschätzt werden können. Wer in den Krisenjahren 2008-2013 einen Einstieg ins Berufsleben suchte, stand praktisch vor

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verschlossenen Türen. Die darauffolgenden Hoffnungsschimmer durch die leichte Erholung ab 2014 (bei anhaltend hohen Jugendarbeitslosenraten von über 30 %) wurden 2020 durch die Coronaviruskrise schlagartig zunichte gemacht, sodass sich ein Großteil der 20- bis 40-jährigen aller Zukunftsperspektiven beraubt sieht. Der Ausschluss vom Erwerbsleben der Generation, die eigentlich die Zukunft Spaniens gestalten müsste, untergräbt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Erziehung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Kultur. In den Arbeitsbeziehungen hatte sich seit den 1990er Jahren ein weitreichendes System institutioneller Beteiligung der Sozialparteien in Institutionen wie den Arbeitsämtern, der Sozialversicherung, der beruflichen Weiterbildung, den Universitäten, den Wirtschafts- und Sozialräten, etc. entwickelt. Die Gewerkschaften sind dadurch auf allen Ebenen (national, regional, lokal, sektoral) in vielfältige politische Verhandlungsprozesse eingebunden. Das Klima des sozialen Dialogs führte zu zahlreichen t­ripartistischen Sozialpakten (Konzertation) über Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, Rentenreform, Gesundheitssystem und sozialen Dialog im öffentlichen Dienst. Die Folgen der Wirtschaftskrise mit den drastischen Austeritätsprogrammen und zwei gewerkschaftsfeindlichen Arbeitsmarktreformen (2010, 2012) sowie die politische Instabilität seit 2015 (Wahlen in Katalonien bei großem Zuwachs der Separatisten und anhaltenden Spannungen mit Madrid, Ende des Zweiparteiensystems auf nationaler Ebene, Dauerblockade im politischen Zentrum) haben den sozialen Dialog auf vielen Ebenen zum Erliegen gebracht. Konzertierung und sozialer Dialog erwiesen sich erfolgreich bei der Verteilung wachsender öffentlicher Ressourcen, scheitern jedoch bei einer sozial gerechten Verteilung der Krisenfolgen. Die Arbeitsmarktreform von 2012, eine wortgetreue Umsetzung der Empfehlungen der Troika, verdient besondere Beachtung (Köhler 2021; Horwitz/Myant 2015). Ohne mit Gewerkschaften und Arbeitgebern zu verhandeln, verabschiedete die Regierung ein Dekret über eine drastische Reduzierung des Kündigungsschutzes, die Möglichkeit von Massenentlassungen ohne Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern, das Recht der Arbeitgeber, einseitig aus bestehenden Tarifverträgen auszuscheren, das Ende der Tarifbindung bei Auslaufen der Verträge, ohne die Pflicht zu Neuverhandlungen, und den Vorrang von betrieblichen Vereinbarungen gegenüber überbetrieblichen Tarifverträgen. Damit wurde in radikaler Weise die individuelle Arbeitgebermacht gegenüber kollektiven ­Regelungen und der

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Tarifautonomie gestärkt. Die hohe Konjunkturanfälligkeit des spanischen Arbeitsmarktes verstärkte sich dadurch zusätzlich, das Desinteresse der Arbeitgeber an langfristigen Investitionen in Humankapital wurde weiter gefördert und die Basis für geregelten sozialen Dialog zwischen Kapital und Arbeit untergraben. Spaniens Unternehmen praktizieren damit ungehindert eine hire and fire-Politik der externen Flexibilität und verzichten auf Maßnahmen der internen Flexibilität wie Kurzarbeit oder Arbeitszeitkonten, die eine Anpassung an sinkende Nachfrage ohne Kündigung des Arbeitsverhältnisses ermöglichen. Eine unmittelbare Folge der Reform war, dass in den folgenden Jahren massiv Arbeitsplätze abgebaut wurden und gleichzeitig die Arbeitszeit der verbliebenen Beschäftigten erhöht wurde − bei einem insgesamt sinkenden Lohnniveau. Diese strukturellen Defizite begleiteten auch das 2014 zaghaft einsetzende Beschäftigungswachstum. Das Argument, durch diese „interne Abwertung“ die Export- und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, hält keiner empirischen Überprüfung stand, stiegen doch allein in den wenigen exportstarken Sektoren die Löhne, während sie in allen anderen Branchen sanken. Der hohe Anteil prekärer Beschäftigung stieg noch mehr an und über 90  % aller abgeschlossenen Arbeitsverträge sind seither zeitlich befristet und damit jederzeit abfindungslos kündbar. 2019 kamen auf hundert Beschäftigte 122 abgeschlossene Arbeitsverträge, d. h. ein Großteil unterzeichnete im Laufe des Jahres eine Vielzahl kurzfristiger Verträge ohne jede Sicherung. Die durchschnittliche Dauer eines befristeten Arbeitsvertrages betrug 49 Tage und ca. sechs Millionen Arbeitsverträge wurden für weniger als eine Woche abgeschlossen (CES 2019: 24). Die negativen Effekte für die gesamte Wirtschaft, die kurzfristige Personalpolitik ohne Qualifizierungsinvestitionen, die mangelnde Bindung des Personals an die Unternehmen, die konfliktgeladenen, wenig kooperativen Arbeitsbeziehungen, die Belastung der Staatsfinanzen durch niedrige Sozialversicherungsbeiträge und regelmäßige Arbeitslosenunterstützung, der Perspektivmangel insbesondere der jüngeren Arbeitnehmer, etc., alles das ist lange bekannt und analysiert, kann jedoch nicht die weiterhin dominante neoliberale Argumentationsspirale aushebeln. Dieser zufolge ist Arbeitslosigkeit kein Problem wirtschaftlicher Strukturschwächen, sondern allein Resultat zu rigider ­Arbeitsmärkte und überhöhter Löhne und Kündigungsschutzregelungen.16 Seit den 16 Der Madrider Soziologe Jorge Sola (2014) hat die irreführende Dominanz neoliberaler Interpretation schon bei der Debatte um die Auswirkungen der autoritären franquistischen Arbeitsmarktregulierung nachgewiesen. Nicht zu viel Staatsintervention,

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1980er Jahren wurden so über 50 Arbeitsmarktreformen immer mit demselben Deregulierungs- und Flexibilisierungsargument durchgeführt. Die strukturelle Unterbeschäftigung wurde dadurch nie behoben, die Prekarisierung des Arbeitsmarktes dagegen auf Rekordniveau gebracht. Tab. 4: Arbeitskosten



Quelle: Böckler Impuls 13/2021.

sondern einseitige staatliche Maßnahmen zugunsten nicht-innovativer und sozial ungerechter Unternehmenspolitik haben viele andauernde Strukturschwächen des spanischen Arbeitsmarktes etabliert.

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Die spanischen Gewerkschaften gerieten durch die neoliberale Krisenpolitik und den damit einhergehenden Mitgliederschwund und Machtverlust in ein Dilemma. Sollten sie versuchen, ihre institutionelle Einbindung so gut wie möglich zu verteidigen und ihren Machtverlust in Grenzen zu halten, um dann in besseren Zeiten wieder offensiv werden zu können, oder alternativ auf eine radikale Opposition im Bündnis mit anderen sozialen Protestbewegungen setzen und damit den impliziten Sozialpakt aufkündigen? Immerhin war das soziale Protestpotential in der Folge der 15-Mai Bewegung (2011) stark angestiegen, überall waren Solidaritätsgruppen für soziale und Bürgerrechte, gegen Zwangsräumungen von Wohnungen, gegen Diskriminierung von Immigranten und ethnischen Minderheiten aktiv und die Frauenbewegung fand zu neuer Stärke, die am 8. März 2018 in einen massiv befolgten landesweiten Generalstreik für effektive Geschlechtergleichheit mündete. Auch in den Betrieben regte sich zunehmend Widerstand gegen Entlassungen und Standortverlagerungen. Für viele dieser Protestbewegungen standen die beiden großen Gewerkschaftsbünde CC.OO. (Comisiones Obreras − „Arbeiterkommissionen“) und UGT (Unión General de Trabajadores − „Allgemeiner Bund der Arbeiter“) eher auf Seiten des kritisierten Systems und waren nicht Teil des sozialen Protests. In der Praxis schwankten die Gewerkschaften zwischen diesen Alternativen hin und her, beteiligten sich an vielen Protestaktionen und versuchten gleichzeitig, ihren Einfluss in den sozial- und arbeitspolitischen Institutionen zu wahren. Mit den Arbeitgeberverbänden schlossen sie mehrere bilaterale Rahmentarifverträge ohne Regierungsbeteiligung ab mit dem Ziel, die Tarifautonomie zu erhalten. Diese Initiative hatte insofern Erfolg, als mit dem einsetzenden Konjunkturaufschwung ab 2014 auch die Anzahl abgeschlossener Tarifverträge vor allem auf sektoraler Ebene wieder anstieg (siehe CES 2019: 390). Es gelang somit den Sozialparteien, in diesem Bereich einige negative Folgen der Arbeitsmarktreform 2012 zu korrigieren. Mit der Regierungsübernahme durch den Sozialisten Pedro Sánchez nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum 2018 und der Bildung einer Koalitionsregierung mit der neuen Protestpartei Unidas Podemos („Vereint Können Wir“) im Januar 2020 hat sich das soziale Klima für die Gewerkschaften deutlich verbessert. So wurden mit Regierung und Arbeitgebern Sozialpakte über Beschäftigung und Tarifverhandlungen (2018), Mindestlohnerhöhung (2020), Kurzarbeit für vom Coronavirus ­betroffene

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­ rbeitnehmer (2020) und eine zukünftige Rentenreform (2021) ausA gehandelt. Einem Report des Wirtschaftskabinetts der CC.OO. zufolge wurden allein durch die staatlich finanzierte Kurzarbeit 2020 2,83 Millionen Arbeitsplätze und tausende Unternehmen erhalten. Weitere von den Gewerkschaften begrüßte Reformen der neuen Regierung sind die Einführung von Steuern auf Finanztransaktionen (Tasa Tobin) und für OnlineTechnologiegiganten (Tasa Google), vor allem aber die Einführung eines garantierten Grundeinkommens (Ingreso Mínimo Vital) im Juni 2020, welches ca. 850.000 armutsbedrohten Haushalten ein Grundeinkommen zwischen 461 € (Einzelhaushalt) und 1.015 € (Familie mit Kindern) beschert. Bei der stark angestiegenen Plattform-Beschäftigung, insbesondere Liefer- und Transportunternehmen wie Uber, Deliveroo, Glovo, Just Eat, etc., hat Spanien mit dem neuen „Rider-Gesetz“ vom März 2021 eine Vorreiterrolle in deren Regulierung eingenommen. Seit mehreren Jahren war es zu Konflikten und Rechtsstreitigkeiten um den Beschäftigungsstatus der Fahrer und Lieferanten gekommen, bis schließlich im September 2020 der Oberste Gerichtshof festlegte, dass es sich um Angestellte und nicht um Selbständige handelte, und die verklagten Plattformunternehmen dazu verpflichtete, ihren Beschäftigten ordentliche Arbeitsverträge mit Sozialversicherung und arbeitsrechtlichen Garantien zu geben. Daraufhin konnte der Arbeitgeberwiderstand gegen eine arbeitsvertragliche Regulierung gebrochen und das neue Gesetz ausgehandelt werden, in dem neben dem Arbeitnehmerstatus der Lieferanten-Plattform-Beschäftigten auch das Recht der Arbeitnehmer auf Information über die Inhalte der Algorithmen, die das Arbeitsverhältnis regeln, festgeschrieben ist. Mit der Wiederbelebung des sozialen Dialogs allein werden die Gewerkschaften ihre längerfristigen Strukturprobleme allerdings nicht lösen können. Niedriger Mitgliederstand insbesondere bei der jüngeren Arbeitnehmerschaft, geringe Präsenz in den Kleinbetrieben, ein Großteil der prekär Beschäftigten außerhalb der etablierten Interessenvertretungsmechanismen, Imageverlust in der Öffentlichkeit unter anderem durch die Verwicklung in mehrere Korruptionsskandale und ein distantes Verhältnis zu den sozialen Protestbewegungen haben die spanischen Gewerkschaften in den vergangenen Jahren nachhaltig geschwächt, und bislang ist eine Trendwende nicht in Sicht.

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Tab. 5: Gewerkschaftsdichte in Europa (% der abhängig Beschäftigten)  

2000 2002 2004 2006 2008 2010 2013 2016 2018 2020

Schweden

79,1

77,3

77,3

74,2

68,3

68,4

67,4

67,0

65,6

65,2

Finnland

75,0

73,5

73,3

71,7

67,5

70,0

69,0

64,6

60,3

58,8

Norwegen

54,4

54,5

55,0

54,9

53,3

54,8

52,1

52,5

49,2

50.4

Italien

34,8

33,8

34,1

33,2

33,4

35,1

37,3

34,4

34,4

32,5

Irland

38,0

36,1

35,5

33,1

32,2

35,0

33,7

24,4

24,4

26,2

Österreich

36,6

35,2

34,1

31,0

29,1

28,1

27,4

26,9

26,3

26,3

GB

26,5

30,2

29,3

29,4

28,1

27,1

25,7

23,5

23,4

23,5

Griechenland 26,5

25,5

24,5

24,7

24,0  22,7 21,5

18,6

n.d.

n.d.

Portugal

21,6

20,7

21,4

20,8

20,5

19,3

18,5

16,3

n.d.

n.d.

Deutschland

24,6

23,5

22,2

20,7

19,1

18,5

17,7

17,0

16,5

16,3

Niederlande

22,9

21,0

20,8

20,0

18,8

18,6

18,0

17,3

16,4

15,4

Spanien

16,7

16,0

15,5

15,0

15,0

16,4

16,9

13,9

13,6

12,5

Polen

24,2

24,1

19,7

16,8

15,6

15,0

12,7

12,1

n.d.

n.d.

Frankreich

8,0

8,1

7,8

7,6

7,6

 7,7

7,7

7,9

8,8

n.d.

Quelle: Amsterdam Institute for Advanced Labour Studies (AIAS) University of Amsterdam, www.uva-aias.net/en/ictwss; ab 2016 OECD, (06-05-2022).

Spaniens Wirtschaft vor großen Herausforderungen und schwierigen Zeiten

Die längerfristigen Folgen der weltweiten Coronaviruskrise sind derzeit noch nicht absehbar. Die Rahmenbedingungen für einen lange überfälligen Wandel des Wirtschafts- und Entwicklungsmodells weg von dem energieintensiven, kreditfinanzierten Konsummodell mit Tourismus und Immobilien als Leitsektoren hin zu einem innovations- und wissensbasierten nachhaltigen Investitionsmodell sind dadurch sicher nicht einfacher geworden. Allein die viel zitierte Energiewende erfordert gewaltige öffentliche und private Investitionen, für die zurzeit weitgehend die Mittel fehlen. Ähnliches gilt für die Digitalisierung, das sog. „Industrie 4.0“-Projekt. Regierung und Bevölkerung setzen daher große Hoffnungen auf die

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EU-Initiative Next Generation, die für Spanien ein Investitionsvolumen von 140 Mrd. € (Transfers und Kredite) für die Jahre 2021-2026 vorsieht. Zu diesem Zweck legte die Regierung im Frühjahr 2021 den Plan für Wiederaufbau, Transformation und Resilienz vor, ein Reformpaket, das die Digitalisierung und ökologische Wende der spanischen Wirtschaft zum Ziel hat und darüber hinaus Gleichheit und soziale Gerechtigkeit fördern will (García Andrés et al. 2020). In unserer Analyse haben wir den Schwerpunkt auf die langfristigen institutionellen Strukturen gelegt, die grundlegende Strukturschwächen der spanischen Wirtschaft offenbaren. Die spanische Wirtschaft hat seit der nachholenden Industrialisierung in den 1960er Jahren ein Spezialisierungsprofil mit Schwerpunkten auf niedrig qualifizierten und saisonabhängigen Berufen und Branchen herausgebildet. Sozialstaat, Erziehung und Berufsbildung blieben unterentwickelt, die Banken unzureichend kontrolliert und auf die Immobilien und Finanzmärkte konzentriert, Tarifparteien und Verhandlungen fragmentiert, die staatlichen Verwaltungen schwach koordiniert und von korrupt-klientilistischen Praktiken durchzogen, die politischen Parteien unsolide finanziert und von der Zivilgesellschaft mit wenig Vertrauen bedacht, die Betriebsgrößenstruktur extrem polarisiert − alles Elemente, die der in Boston/Mass. lehrende Politikwissenschaftler Sebastián Royo (2014; vgl. auch Buendía/Molero-Simarro 2018) treffend als „institutionelle Degeneration“ bezeichnet hat. Die Wirtschaftsentwicklung Spaniens war zudem stets sehr stark von politischer Führung abhängig, und die Entsagung von jeglicher industrieller Strukturpolitik in den letzten Jahrzehnten macht eine notwendige Neuausrichtung des Entwicklungsmodells unmöglich. Diese Strukturschwächen und institutionellen Fehlentwicklungen wurden in der Vergangenheit immer wieder durch Sonderkonjunkturen wie den Kapitalzufluss im Gefolge des EG-Beitritts oder den Tourismusund Immobilienboom verdeckt. Spanien profitierte zudem lange Zeit von Kostenvorteilen, insbesondere niedrigen Löhnen, im westeuropäischen Vergleich und kompensierte Wettbewerbsschwäche durch regelmäßige Währungsabwertungen. Mit dem Euro und der Osterweiterung der EU sind diese Möglichkeiten verschwunden, und auch das weitere Zubetonieren der Mittelmeerküsten stößt an seine Grenzen. Derzeit gleicht die spanische Wirtschaft weiterhin einem Zug ohne Lokomotive, dessen traditionelle Leitsektoren mit dem Platzen der Immobilienblase entgleist sind,

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ohne dass neue Antriebsmotoren in Sicht kämen, und das inmitten der Folgen der weltweiten Viruskrise. Die Coronaviruskrise wird so die spanische Wirtschaft erneut sehr viel stärker und nachhaltiger treffen als die mittel- und nordeuropäischen Nachbarn. Die im Verlauf der Finanz- und Immobilienkrise enorm angewachsene öffentliche Verschuldung wird aufgrund der drastisch reduzierten Einnahmen und der ebenso drastisch angewachsenen Ausgaben auf Rekordhöhen ansteigen mit Folgen für die Finanzierungsmöglichkeiten auf internationalen Kredit- und Refinanzierungsmärkten und den Spielraum, öffentlich finanzierte Wiederaufbaupolitiken zu initiieren. Die Arbeitslosigkeit wird erneut für Jahre auf Rekordhöhen verharren, und eine weitere Generation Jugendlicher sieht sich ohne Zukunftsprojekt. Die in den 1990er Jahren Geborenen kamen in einem Moment auf den Arbeitsmarkt, als dieser infolge der Krise von 2008-2013 praktisch keine Einstiegschancen bot. Nachdem sich ab 2014 leichte Erholungszeichen entwickelten, hat nun die Coronakrise jäh alle Hoffnungen wieder zerstört. Die Pandemie hat einen perversen Generationenvertrag weiter zugespitzt. Die lock-downs und Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben vor allem die älteren Bevölkerungsgruppen geschützt, während die Jugend gesundheitlich kaum gefährdet war, aber in Solidarität mit ihren (Groß-) Eltern auf Arbeit und soziales Leben verzichtete. Spanien hat die höchste Jugendarbeitslosigkeit in der EU, und die wirtschaftlichen Folgen der Krise treffen vor allem die jüngeren Bevölkerungsgruppen, während die Älteren erfolgreich ihr Rentenniveau verteidigen konnten (Banco de España 2021). Hinzu kommt die hohe Staatsverschuldung in der Krise, die von zukünftigen Generationen ausgeglichen werden muss. Andere Strukturschwächen wie die extrem polarisierte Betriebsgrößenstruktur, das Handelsbilanzdefizit oder die niedrige Qualifikation und mangelnde berufliche Bildung bestehen weiterhin fort. Im Bankensektor schreitet die tiefgreifende Restrukturierung mit Fusionen, Filialschließungen und Arbeitsplatzabbau weiter voran. Von 2009 bis 2020 haben die spanischen Banken über die Hälfte ihrer Filialen geschlossen und 37 % ihres Personals abgebaut. Von den ehemals 55 spanischen Banken (2009) werden wohl kaum mehr als zehn übrigbleiben. Vor allem aber ist der Tourismus, der 14  % des Sozialprodukts und der Beschäftigung ausmachte, total eingebrochen und wird sich voraussichtlich nur langsam und unter veränderten Bedingungen wieder erholen. Statt 83,7 Millionen (2019) kamen im Corona-Jahr 2020 nur 18,9 Millionen ausländische

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Touristen nach Spanien, und der Beitrag zum BIP sank von 14,1 % auf 5,9 %. Weitere unmittelbar von der Coronakrise betroffene Sektoren sind der Einzelhandel, Transport und Reise- sowie alle kulturellen Aktivitäten. Gesundheit und Erziehung erlebten dagegen einen vorübergehenden Beschäftigungszuwachs aufgrund der Notwendigkeiten des Krisenmanagements. Unmittelbare Folgen der Coronakrise sind der Anstieg der Arbeit von zu Hause − arbeiteten 2019 4,8 % aller Beschäftigten überwiegend von zu Hause, so waren es 2021 11,2 % −, ein dramatischer Anstieg der Staatsverschuldung auf 120 % des Bruttoinlandsprodukts (2020), ein starker Anstieg des Online-Konsums (Amazon) zu Lasten des Einzelhandels und ein Digitalisierungsschub in vielen Sektoren. Ob es Spanien gelingt, die Next Generation-Milliarden effektiv für eine Modernisierung der Wirtschaft und eine nachhaltigere Energie- und Beschäftigungsstruktur zu nutzen, ist derzeit die zentrale und offene Frage. In einer Sonderausgabe der bedeutendsten spanischen Tageszeitung El País (25. Oktober 2015) aus Anlass der 30jährigen Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft fasst deren langjähriger Herausgeber Juan Luis Cebrián seine Erfahrung wie folgt zusammen: Wir Kinder des Franquismus lernten in der Schule, dass Spanien ein armes, katholisches Agrarland war. Nach 40 Jahren Demokratie sind wir heute zwar nicht die Großmacht, die uns José Luis Rodríguez Zapatero [sozialistischer Ministerpräsident 2004-2011] aus der Sicht eines bestenfalls mittelmäßigen politischen Führungsvermögens verkündete, und schon gar nicht das Wirtschaftswunder des selbstgefälligen José María Aznar („Das Wunder bin ich“) [konservativer Ministerpräsident 1996-2004], der die Immobilienblase aufblies, die am Ende zerplatzte und großen Schaden für unsere Mittelklassen hinterließ. Aber trotz der Qualitätsmängel unserer Führungspersonen, trotz der systemischen Korruption unserer Parteien, und trotz der Schwäche unserer Institutionen können wir heute behaupten, dass Spanien ein modernes Land mit Zukunftsperspektive ist; nicht aufgrund der Politiken, die wir erleiden, sondern viel eher trotz dieser. Literaturverzeichnis Banco de España: Informes anuales, (06-05-2022). — (2021): La crisis del COVID-19 y su impacto sobre las condiciones económicas de las generaciones jóvenes. Alcalá de Henares: Banco de España.

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Gesellschaftliche Folgen der Krise(n) seit 2008 Julia Macher Abstract Die internationale Finanzkrise des Jahres 2008 traf Spanien im europäischen Vergleich besonders hart und führte zu einer bis 2014 anhaltenden Wirtschaftskrise. Das lag nicht nur an der großen Abhängigkeit des Landes vom Bau- und Finanzsektor, sondern auch daran, dass sie mit einer tiefen politischen Strukturkrise einherging, was vor allem bei der jungen Generation zu einem Politisierungsschub führte. Erstmals seit dem Ende des Demokratisierungsprozesses nach der Franco-Diktatur entstand eine breite außerparlamentarische Opposition. Die Bewegung gegen Zwangsräumungen und später die „Bewegung der Empörten“ (15-M) wurden zu wichtigen politischen Akteuren. Auch wenn sie viel von ihrer damaligen Wirkungsmacht eingebüßt haben, prägen sie in Teilaspekten noch heute die spanische Wirklichkeit. Die Kinder der Krise: Gesellschaftliche Folgen der Krise 2008-2014 1. Doppelt getroffen: Wirtschafts- und Politikkrise in Spanien

Kaum ein europäisches Land traf die internationale Finanzkrise des Jahres 2008 so hart wie Spanien. Nicht nur die Arbeitslosenzahlen gehörten in der Folge zu den höchsten Europas, das Land brauchte auch sehr viel länger als seine Nachbarn, um sich von den Nachwirkungen zu erholen. Und auch die damals entstandenen Protestbewegungen sind geblieben. Die Plattform der Hypothekengeschädigten organisiert immer noch den Protest der von Zwangsräumung bedrohten Menschen. Und viele von denen, die am 15. Mai 2011 in Madrid, Barcelona oder anderswo als Teil der „Empörtenbewegung“ die öffentlichen Plätze besetzten, gestalten inzwischen in Bürgerinitiativen, Kommunalverwaltungen oder Parteien Politik mit. Dass diese Protestbewegungen überhaupt entstehen konnten, lag an

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einer spezifischen Gemengelage. In Spanien trafen die Wirtschaftskrise und eine tiefe Krise der Institutionen zusammen. Beide Krisen haben strukturelle Ursachen. In den 1990er Jahren hatte Spanien eine rasante Wachstumsperiode erlebt, bedingt durch eine liberale Baupolitik: In großem Stil war Agrarland zu Baugrund umgewidmet worden. Das Baugewerbe entwickelte sich neben dem Tourismus zur Schlüsselbranche des spanischen Wirtschaftsmodells und trug elf Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. Mitte 2007 endete diese Phase abrupt, ausgelöst durch die aus den USA herüberschwappende Krise der Subprime-Hypotheken. Das spanische Banken- und Sparkassenwesen, das den Boom nicht nur mitfinanziert hatte, sondern auch selbst als Bauherr aufgetreten war, strauchelte. Das gesamte Wirtschaftssystem wurde erschüttert. Der damals regierende sozialistische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero tat den Einbruch zunächst als konjunkturelle Delle ab. Als 2008 das Bruttoinlandsprodukt um 3,8 % sank und die Krise unübersehbar wurde, fehlte ein stringenter Plan zu ihrer Bewältigung. Die Staatsverschuldung stieg, und die Kreditwürdigkeit des ehemaligen südeuropäischen Wirtschaftswunderlandes sank. Auch unter Druck aus Brüssel verordneten zunächst Zapatero, und ab 2012 sein konservativer Nachfolger Mariano Rajoy, dem Land ein striktes Sparprogramm. Die Renten wurden eingefroren, Sozialmaßnahmen zurückgenommen. In einer umfassenden Arbeitsmarktreform wurden der Kündigungsschutz gelockert und Externalisierungen ermöglicht, die vor allem den Tourismussektor betrafen. Den Arbeitsmarkt konnten die auf Schuldensenkung und Haushaltssanierung angelegten Maßnahmen nicht stabilisieren. Die Arbeitslosenzahlen stiegen von einem historischen Tiefstwert von knapp 8 % im Frühjahr 2007 auf ein Rekordhoch von über 27 % im Jahr 2013. Drei Millionen Jobs gingen verloren. Besonders hart davon betroffen waren Beschäftigte mit niedrigem Ausbildungsgrad, etwa im Tourismus und im Bausektor, sowie junge Menschen. 2013 hatten 57,2 % der nicht in Ausbildung befindlichen Spanierinnen und Spanier unter 25 Jahren keinen Job. Der private Konsum brach ein, die soziale Ungleichheit wuchs. Spaniens Mittelschicht, bisher Trägerin eines tiefen Fortschrittsglaubens, sah sich ihrer Aufstiegschancen beraubt. Parallel dazu steckte das politische System des Post-Franco-Spaniens in einer Legitimationskrise. Korruptionsskandale quer durch alle Institutionen hatten das Vertrauen in die politischen Akteure erschüttert. Die

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­konservative Volkspartei Partido Popular (PP) geriet ab 2007 durch den „Gürtel-Skandal“ (benannt nach der deutschen Übersetzung des Nachnamens von PP-Mitglied Francisco Correa) in Bedrängnis: Über ein Netzwerk von Eventfirmen waren öffentliche Gelder veruntreut und Beamte und Politiker mit Luxus-Geschenken bestochen worden; die Ermittlungen legten die doppelte Buchführung des ehemaligen Schatzmeisters Luis Bárcenas offen. Die „Sozialistische Arbeiterpartei“ PSOE musste sich wiederum wegen des ERE-Skandals (Expediente de Regulación de Empleo) verantworten. In Andalusien hatte die sozialistische Regionalregierung in großem Stil Gelder für Frühverrentungen, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen und Subventionen in die Taschen „verdienter“ Parteifreunde umgeleitet. Auch vor den regionalen Parteien in Katalonien und den Kommunen machte die Korruption nicht Halt. Begünstigt worden war das, so der Madrider Politologe Fernando Vallespín, durch die enorme finanzielle Macht, die die Parteiapparate in Rathäusern, Regionalregierungen und staatlicher Verwaltung erlangt hatten: In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre hatte die öffentliche Hand über die Hälfte aller Investitionen getätigt (Pradera 2014). Mit dem Königshaus erfasste die Vertrauenskrise auch eine Institution, die bis dahin, basierend auf Juan Carlos’ Rolle als Garant einer Demokratisierung in den Nach-Franco-Jahren, als sakrosankt gegolten hatte. Die 2006 bekannt gewordenen undurchsichtigen Geldgeschäfte von Iñaki Undangarin, dem Schwiegersohn des damaligen Königs, beschädigten das Image der Monarchie ebenso wie die Luxus-Safari, die König Juan Carlos 2012 auf dem Höhepunkt der Krise unternahm und wegen eines gebrochenen Hüftgelenks abbrechen musste. Erstmals rutschte die Unterstützung für die Monarchie, die in hohem Maße an die persönliche Glaubwürdigkeit von Juan Carlos gekoppelt war, unter 50 %.1 Die ethischen Fehltritte und Vorwürfe der Vorteilsnahme durch Annahme von Provisionszahlungen bei großen Investitionsprojekten spanischer Konsortien im Ausland führten am 2. Juni 2014 zu seiner Abdankung; Sohn Felipe wurde zum spanischen König gekrönt. Das Zusammentreffen von Wirtschafts- und Strukturkrise rüttelte am Selbstverständnis des Landes. Dabei war es nicht zwangsläufig, dass sich daraus eine wirkungsmächtige Protestbewegung entwickeln sollte. Schließlich zeichnete sich die spanische Gesellschaft in den 1980er und 1

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So eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Sigma Dos im Auftrag der Tageszeitung El Mundo im Januar 2014.

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1990er Jahren durch einen geringen Grad an politischer Mobilisierung aus. Im Unterschied zu Italien und Griechenland waren die großen Parteien keine Massenparteien (Kraus/Merkel 1998: 46 ff.). Auch die Gewerkschaftsbünde CCOO und UGT hatten und haben mit einer Mitgliedschaft von nur etwa einem Fünftel der Beschäftigten einen vergleichsweise geringen Organisationsgrad. Der Traum vom Wochenendhaus an der Küste, der Urlaub im Ausland, das Erasmus-Semester in London oder Berlin rangierte auf der Prioritätenliste der meisten Spanierinnen und Spanier weit vor politischem Engagement – gerade bei der jungen Generation. Bei den Befragungen des staatlichen Meinungsforschungsinstituts Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS) taucht „Konsumorientierung“ als charakteristischster Zug der spanischen Jugendlichen auf. Als besonders wichtige Aspekte ihres Lebens nannten die Befragten die Bereiche „Familie“, „Arbeit“, „Freunde“; Politik rangierte weit abgeschlagen an letzter Stelle.2 Spaniens doppelte Krise führte mittelfristig zu einer Verschiebung in diesem Wertesystem. 2012, ein Jahr nachdem Spaniens „Empörtenbewegung“ international für Schlagzeilen gesorgt hatte, bezeichneten sich laut einer Studie des staatlichen Jugendinstituts INJUVE (Instituto de la Juventud) 40 % der Jugendlichen als „politisch interessiert“, mehr als doppelt so viel wie während des Irakkriegs 2004, der ebenfalls zu einer gewissen Mobilisierung geführt hatte.3 Auch wenn die Mobilisierung nachgelassen hat, ist der Bedeutungsgrad, der der Politik beigemessen wird, geblieben. 2. Protestbewegungen 2.1. Das Recht auf Wohnraum: Die Plattform der Hypothekengeschädigten

Am 22. Februar 2009 gründete sich in Barcelona die Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH), die „Plattform der Hypothekengeschädigten“. Die erste Versammlung vereinte etwa vierzig Menschen: Paare, Familien, Alleinstehende, viele von ihnen aus dem Ausland, die eine Hypothek unterschrieben hatten, sie aber nicht mehr bedienen konnten – und jetzt von der Zwangsräumung bedroht waren. Es sollte kein punktuelles Treffen 2 Vgl. CIS Estudio 2401. 25 años después, sowie der CIS Estudio 2107. 3 Vgl. Informe Juventud en España 2020, hg. von Dirección General del INJUVE y Observatorio de la Juventud en España, Madrid 2020.

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bleiben: Innerhalb weniger Monate breitete sich die Bewegung mit über 200 Zweigstellen in ganz Spanien aus. Die Initiative zur PAH stammte von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich bereits zuvor im Kollektiv V de Vivienda engagiert hatten. Die Gruppe hatte bereits während der Boom-Jahre mit Demonstrationen und Performances im Möbelhaus IKEA auf die prekäre Wohnungssituation junger Spanierinnen und Spanier aufmerksam gemacht. Der von ihr geprägte Leitspruch „No tendrás casa en tu puta vida“, „Du wirst in deinem verdammten Leben keine Wohnung haben“ war zu einer Art geflügeltem Wort geworden. Zum Kreis der Initiatoren gehörten unter anderem die spätere Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau, ihr Lebensgefährte Adrià Alemany und ihre politische Weggefährtin Lucía Martínez. Keiner von ihnen war persönlich betroffen, alle lebten zur Miete beziehungsweise in besetzten Wohnungen. Aber sie hatten das Fehlen einer aktiven staatlichen Wohnraumpolitik und die bankenfreundliche Gesetzgebung als eines der drängendsten Probleme erkannt. Während der Jahre des spanischen Wirtschaftsbooms zwischen 1997 und 2007 waren die Immobilienpreise stetig gestiegen – teils mit Quoten von bis zu 14 % pro Jahr. Wohnraum galt als sichere Anlage. Banken vergaben großzügig Kredite, auch zu 100 %, auch wenn Schuldner und Schuldnerinnen nur wenig Sicherheiten aufbieten konnten oder im Niedriglohnsektor arbeiteten. Es war der Höhepunkt einer Wohnraumpolitik, die den Marktmechanismen freien Lauf gelassen hatte. Mit einer Eigentümerquote von knapp 80 % lag Spanien damals weit über dem europäischen Durchschnitt4; eine Wohnung zu mieten galt als „Geldverschwendung“. Ihren Ursprung hatte diese Entwicklung in den 1950er Jahren gehabt, als in der Franco-Diktatur unter dem Motto „Queremos un país de propietarios, no de proletarios“ („Wir wollen ein Land von Eigentümern, nicht von Proletariern“) Eigentum gefördert wurde. Die fatalen Konsequenzen der übersteigerten Preise und der massiven Kreditvergabe zeigten sich mit Beginn der Krise. Als Jobs und Sozialhilfen wegbrachen, konnten Zehntausende ihre Kredite nicht mehr bedienen. Laut dem Obersten Justizrat Spaniens (Consejo General del Poder Judicial) wurden allein im Jahr 2009 rund 9.000 Zwangsräumungen vollstreckt. War die massive Privatverschuldung in der spanischen Öffentlichkeit bis dahin als Privatproblem betrachtet worden, sah die Plataforma de ­Afectados 4

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Inzwischen steigt der Anteil an Mietwohnungen allerdings langsam.

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por la Hipoteca sie als Folge einer gescheiterten öffentlichen Wohnraumpolitik: Seine Schulden nicht mehr bedienen zu können, galt der Plattform nicht als Folge eines individuellen Versagens, sondern als kollektives, ergo politisches Problem, das sich nur über „kollektiven Kampf“ lösen lasse (Mir García 2021: 66). Dazu mussten als erstes die Betroffenen selbst ihre Sichtweise ändern. Die Initiatoren der ersten Vollversammlung der PAH berichten von ihrer eigenen Überraschung darüber, dass die von Zwangsräumung bedrohten Menschen, viele davon Einwanderinnen und Einwanderer aus Lateinamerika, nicht wütend waren, sondern Angst hatten und sich schämten. „So ließen sich keine Proteste organisieren. Wir mussten diese Menschen zuerst dazu befähigen: durch Empowerment“, sagt Ada Colau im Rückblick (Blanchar in El País vom 23. Februar 2014). Zum entscheidenden Instrument dabei wurden die asambleas. Statt Betroffene mit Anwälten, Sozialdiensten oder externen Experten zusammenzubringen, berichteten Beteiligte in offenen Runden über ihre Situation. Die Ähnlichkeit der Probleme, die Grundmuster wurden so für alle verständlich und begreifbar. Zugleich wurde so auch die Öffentlichkeit für Problematiken sensibilisiert, die es bis dahin kaum ins gesellschaftliche Bewusstsein geschafft hatten: etwa, dass Banken und Sparkassen vorsätzlich und systematisch Risiken verschleiert hatten und ihren Kunden komplexe, für Laien kaum verständliche Finanzprodukte verkauft hatten. Ein Großteil der zwischen 1997 und 2007 unterzeichneten Wohnraumhypotheken basierten auf einem, am Euribor orientierten variablen Zinssatz. Durch eine sogenannte „Bodenklausel“ hatten sich die Finanzinstitute gegen einen fallenden Leitzins abgesichert und die Kosten dafür auf ihre Kunden übertragen: Da ein Mindestzinssatz festgeschrieben war, konnten die Schuldner nicht von sinkenden Zinsen profitieren. 3,3 Millionen Spanierinnen und Spanier waren davon betroffen. Als „betrügerische Praxis“ erklärte das Oberste Gericht in Spanien diese Verträge schließlich für illegal. Die PAH machte auch Konzepte wie die dación en pago bekannt, die Rückgabe des Wohnraums an die Bank gegen Erlass der Schulden und in Verbindung mit einer am Einkommen orientierten Sozialmiete. Die PAH brach als erste Organisation konsequent mit den in Spanien damals üblichen Formen des Protests. Statt auf Demonstrationen setzte und setzt sie auf eine Mischung aus teils aus Lateinamerika inspirierten, interventionistischen Maßnahmen in einer gesetzlichen Grauzone bei genuin politischen Vorstößen. In der im November 2010 initiierten Kampagne Stop desahucios rief sie dazu auf, die von den Gerichten beauftragten

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Räumungskommandos direkt vor der Haustür der Betroffenen zu stoppen. Im Dezember 2010 gelang es so erstmals, eine Räumung im katalanischen Städtchen La Bisbal zu verhindern. Nach zwei weiteren Versuchen stoppten Gerichte das Verfahren. Das Einfamilienhaus fiel zwar zurück an die Bank, aber der Schuldner durfte weiter darin wohnen. Dieser erste sichtbare Erfolg machte Schule und die Organisation dahinter wurde, auch auf Grund massiver Begleitung durch die Presse, bald populär. Die Bilder von den mit grünen T-Shirts bekleideten Menschen, die sich der Polizei entgegenstellten und „Sí, se puede“, „Ja, wir schaffen das“ skandierten, gehörten bald zum festen Bestandteil der Protestkultur und stießen auch international auf Interesse. Bis 2018 konnten laut PAH so über 2.000 Vollstreckungen verhindert werden. Die PAH sah diese Form des zivilen Widerstands durch die spanische Verfassung gedeckt, die in Artikel 47 das Recht auf „würdigen und angemessenen Wohnraum“ garantiert. Das legitimierte das Vorgehen der Organisation in den Augen vieler, auch als sie ihren Protest radikalisierte und in der Kampagne Obra Social La PAH (der Name war eine Parodie der Sparkassenstiftung Obra Social La Caixa) zur Besetzung von leerstehenden Wohnungen im Besitz von Banken und Sparkassen aufrief. Interessanterweise waren es im krisengeschüttelten Spanien nicht diese Formen zivilen Widerstands, die für die intensivsten politischen Debatten sorgten, sondern die sogenannten escraches: lautstarke Proteste mit Trillerpfeifen vor den Eigenheimen verantwortlicher Politiker. Im April 2013 bezichtigte die PP-Politikerin Cristina Cifuentes, damals Delegierte der spanischen Regierung in der Region Madrid, die PAH, der – zu jenem Zeitpunkt bereits nicht mehr aktiven – baskischen Terrororganisation ETA nahezustehen. Ihre Parteikollegin Soraya Sáenz de Santamaría, damals stellvertretende Regierungschefin, hatte kurz zuvor einen zwanzigminütigen Protest vor ihrer Haustür erlebt, der laut der Politikerin nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter, ihren Ehemann und das gemeinsame Baby beeinträchtigt habe. Mehrere Politiker verklagten die Plattform der Hypothekengeschädigten wegen Nötigung und Belästigung, konnten sich damit vor Gericht aber nicht durchsetzen. Die spanische Justiz sah die escraches durch das Demonstrationsrecht gedeckt. Zu den wichtigsten, genuin politischen Vorstößen der PAH gehört die ILP (Iniciativa Legal Popular), eine Gesetzesinitiative via Volksbegehren, die die PAH im März 2011 in die Wege leitete. Die Plattform der Hypothekengeschädigten forderte, unterstützt von den großen Gewerkschaften,

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die Finanzinstitute rückwirkend zur Übernahme der Wohnung gegen Erlass der Schulden zu verpflichten (dación en pago), um Privateigentümer so aus einer lebenslangen Schuldenfalle zu befreien; sie berief sich dabei auf ähnliche Gesetze in Europa und den Vereinigten Staaten. Innerhalb eines Jahres sammelte die PAH, die durch die Empörtenbewegung ihren Bekanntheitsgrad massiv gesteigert hatte, mehr als 1,4 Millionen Unterschriften. Am 5. Februar 2013 übergab PAH-Sprecherin Ada Colau die Liste an das Parlamentspräsidium, ihr Auftritt machte sie spanienweit bekannt. Den Tränen der Empörung nah sagte sie bei der Erklärung des Projekts, dem Vertreter der spanischen Großbanken gehöre ein Schuh ins Gesicht geschleudert. Der Demagogie bezichtigten sie deshalb später manche politische Kommentatoren, in der breiten Öffentlichkeit galt gerade diese offensive Emotionalität als authentisch und glaubwürdig: Colau sollte das in ihrer späteren politischen Karriere als Bürgermeisterin von Barcelona zu nutzen wissen. Die Gesetzesinitiative durch Volksbegehren verfehlte ihr Hauptanliegen,5 dennoch gilt sie als eine der wichtigsten Wegmarken der PAH: Erstmals wurde im spanischen Parlament ein Gesetz diskutiert, das direkt von Betroffenen ins Plenum gebracht worden war. Das sorgte für eine breite Sensibilisierung. Der ILP folgten Klagen vor spanischen Gerichten und vor dem Europäischen Gerichtshof gegen „missbräuchliche Klauseln“ in Hypothekenverträgen, die spanischen Richtern letztlich ermöglichten, Zwangsräumungen in bestimmten Fällen zu stoppen. Und: Sie bereitete einer weiteren Gesetzesinitiative den Weg. Das katalanische Regionalparlament nahm 2015 einstimmig ein Gesetz an, das Großeigentümer wie Banken oder Fonds dazu verpflichtete, sozial schwachen ehemaligen Eigentümern oder Mietern Sozialmieten anzubieten. Gleiches gilt für Menschen, die aus Wohnungsnot nach einer Zwangsräumung die leerstehende Wohnung einer Bank oder eines Fonds besetzt hatten. Die PAH hatte 150.000 Unterschriften für die Initiative gesammelt und wesentliche Punkte ausgearbeitet. Zwar ist die Zahl der Zwangsräumungen und Hypothekenzwangsvollstreckungen seit Ende der Krise stetig gesunken, aber prekäre 5

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Das auf Grund der ILP ausgearbeitete Gesetz 1/2013 sieht lediglich die Beschränkung von Verzugszinsen, verpflichtende Neuschätzungen des Wohnungswerts und eine zweijährige Aussetzung von Zwangsräumungen in bestimmten Fällen vor, nicht aber die rückwirkende Schuldentilgung durch Wohnungsrückgabe.

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­ rbeitsverhältnisse und hohe Lebenshaltungskosten prägen immer noch A die Wirklichkeit. Das zeigt sich vor allem bei der Entwicklung der Mietpreise in den Großstädten, die in Madrid und Barcelona allein 2017 um 15 bzw. 16 % stiegen. In den Innenstädten mussten Familien teils bis zu 70 % ihres Einkommens für Mieten ausgeben. Immer häufiger wurden Zwangsräumungen auch gegen säumige Mieter vollstreckt. Im Frühjahr 2017 gründete sich, zunächst in Barcelona das Sindicat de Llogatueres, dann in Madrid das Sindicato de Inquilinas. Im Unterschied zur PAH sind diese „Mietergewerkschaften“ klassische, kostenpflichtige Vereine, die ihre Mitglieder juristisch beraten und unterstützen. Allerdings arbeiten sie auch punktuell mit der PAH zusammen, etwa wenn es um Mobilisierung gegen Zwangsräumungen geht. Sie profitieren so von der Protestkultur, die die PAH entwickelt hat, und überführen sie ins nächste Stadium. 2.2. Das Recht auf Zukunft: die Empörtenbewegung des 15-M

„Nein, sie repräsentieren uns nicht“: Als Mitte Mai 2011 Zehntausende junge Menschen diesen Slogan skandierten und – angelehnt an das Manifest des französischen Essayisten Stéphane Hessel – als „Empörtenbewegung“ international Schlagzeilen machten, rieben sich Spaniens politische Kommentatoren verwundert die Augen.6 Mit einer solchen Mobilisierungskraft einer als unpolitisch verschrienen Generation hatte kaum eine Beobachterin, kaum ein Beobachter gerechnet. Unter dem Motto „Wir sind keine Ware in den Händen der Banker“ hatte das Kollektiv Democracia Real Ya („Echte Demokratie jetzt“) und Organisationen wie Juventud sin futuro („Jugend ohne Zukunft“) am 15. Mai 2011 in 58 Städten zu Demonstrationen aufgerufen, eine Woche vor den in mehreren autonomen Regionen angesetzten Wahlen. Mit 130.000 Teilnehmern allein in Madrid übertraf der Erfolg alle Erwartungen. Begeistert vom Gemeinschaftsgefühl, schlugen ein paar Dutzend auf der Puerta del Sol, im Zentrum der spanischen Hauptstadt, ihre Zelte auf. Das setzte eine Kettenreaktion in Gang: Als die Polizei am nächsten Tag versuchte, das Lager zu räumen, wurden auch in Barcelona, Valencia und 6

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Stéphane Hessel hatte im Oktober 2010 die Streitschrift „Empört euch“ veröffentlicht, in der er angesichts der Folgen der weltweiten Finanzkrise zum politischen Widerstand aufrief.

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Dutzenden anderen Städten die öffentlichen Plätze besetzt. Offensichtlich hatten die Organisatoren einen Nerv getroffen. Das war wenig verwunderlich: Die Folgen der Finanzkrise hatten vor allem die junge Generation hart gebeutelt. In nur fünf Jahren hatte sich die Jugendarbeitslosigkeit vervierfacht und lag bei über 40 %, in keinem europäischen Land waren mehr Menschen unter 25 Jahren ohne Job, Studium oder Ausbildung. Wer seine Berufsausbildung abgeschlossen hatte, fand keine Festanstellung: Über 40 % der Verträge waren zeitlich begrenzt. Der Traum von einem Leben auf eigenen Füßen blieb so für die meisten unerreichbar. Laut Eurostat verließen die Spanierinnen und Spanier damals erst mit 28,5 Jahren das Elternhaus, zwei Jahre und vier Monate später als im europäischen Durchschnitt. Das Gros der Menschen, die sich dem Protest anschlossen, gehörte der urbanen Mittelschicht an. Es waren Akademikerinnen und Akademiker, die trotz guter Ausbildung und Sprachkenntnissen kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten. Sie traf der Widerspruch zwischen persönlichen Erwartungen und tatsächlichen Verhältnissen besonders hart. Ähnlich wie die PAH entdeckten sie ein neues Deutungsmuster: Verantwortlich für die Misere war „das System“, Beweis dafür war, dass diejenigen, die die Finanzkrise verursacht hatten, „straffrei“ ausgegangen waren. Solche und ähnliche Argumentationen finden sich in vielen Interviews mit Beteiligten der „Empörtenbewegung“ (vgl. etwa Betancor/Cilleros 2014). Ihren symbolischen Ausdruck fand das in Slogans wie #SystemError, Lo llaman democracia y no lo es („Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine“) oder in der Gleichsetzung der beiden großen Volksparteien im Kürzel PPSOE. Konsequenterweise blieben politische Abzeichen in den Zeltstädten des Mai 2011 tabu. Stattdessen entwickelte man eigene Organisationsformen: Ergänzend zu den asambleas, den öffentlichen Versammlungen, an denen jeder mit gleichem Sprech- und Stimmrecht teilnehmen konnte, bildeten sich comisiones, Arbeitskreise, in denen ergebnisoffen über Themen wie Recht auf Wohnraum, Reform des Wahlgesetzes/Demokratie, Netzfreiheit oder Umwelt diskutiert wurde. Auch wenn sich der 15-M gegen eine parteipolitische Zuordnung wehrte, waren die meisten Themen ideologisch eher dem Feld der Linken zuzuordnen. Auch bei den Prozessen der Entscheidungsfindung suchten die „Empörten“ nach neuen Wegen. Eine eigene Symbolsprache entstand: Beide Hände in der Luft hin und her drehen, signalisierte Zustimmung. Überkreuzte Unterarme bedeuteten Nein. Man verstand sich als Kollektiv, ­Personalisierung

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war tabu. Wer den 15-M nach außen vertrat, verzichtete auf Namensnennung und trat lediglich als Sprecher oder Sprecherin auf. So sollte eine Hierarchisierung vermieden werden. Entschieden wurde im Konsens: ein Verfahren, das die asambleas erheblich verlängerte, die Beteiligten aber eisern verteidigten. Genauso wichtig wie das „Was“ war das „Wie“. Der komplexe Organisationsgrad der zunächst spontan entstandenen Zeltlager, die mit geregeltem Essens-, Müll-, und Pressedienst und Arbeitsagenda bald wie Miniaturstädte funktionierten, zeigte, dass viele der Aktivistinnen und Aktivisten mit Organisationsstrukturen bestens vertraut waren. Tatsächlich waren viele bereits vor dem 15. Mai gut miteinander vernetzt: Man kannte sich aus vorheriger politischer Arbeit, hatte bereits bei den studentischen Protesten gegen den Bologna-Prozess, bei den Vorbereitungen zum Generalstreik im September 2010 gegen Zapateros Arbeitsmarktreform oder bei der Mobilisierung gegen die Ley Sinde, ein Gesetz gegen Verletzungen des Urheberrechts im Internet, zusammengearbeitet. Der Eindruck, die Empörtenbewegung sei über Nacht, quasi aus dem Nichts entstanden, stimmte also nur bedingt. Doch diese Vorgeschichte hatte sich im Internet, jenseits der klassischen, politischen Räume ereignet. Auch diese Netzaffinität war in Spanien damals ein Novum. Allerdings zeigten die acampadas immer stärkere Verschleißerscheinungen. Zunehmend stellte sich die Frage, wie sich der Wunsch nach Veränderung in die Realität umsetzen ließe. Die Gründung einer eigenen Partei schloss man auf Grund des Misstrauens dem „System“ gegenüber zunächst aus. In Madrid wurde die Zeltstadt Anfang Juni aufgelöst, die asambleas wurden, wie in vielen anderen Städten, als regelmäßige Treffen in die einzelnen Stadtviertel verlegt. In Barcelona gewannen die ­Ereignisse eine andere Dynamik. Bereits bei der Räumung des Zeltlagers auf der Plaça Catalunya war es zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Als die Initiative am 15. Juni zur Blockade des katalanischen Parlaments aufrief, in dem an diesem Tag über das Ley Omnibus, die scharfe Einsparungen und Kürzungen vorsah, abgestimmt werden sollte, kam es erneut zu Auseinandersetzungen: Abgeordnete wurden beschimpft, die Kleidung einiger Parlamentarier mit Farbe beschmiert. Die katalanische R ­ egionalregierung und das Parlament verklagten die Organisatoren wegen eines „Anschlags auf die demokratischen Institutionen“.7 7 Die Audiencia Nacional sprach die 19 Angeklagten zwar in erster Instanz frei, doch die Kläger gingen in Berufung und erlangten eine Verurteilung in acht Fällen mit

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Die Reaktion in der medialen Öffentlichkeit zeigte, dass die Spielräume für eine Radikalisierung des Protests eng bemessen waren. In einer Umfrage im Auftrag der spanischen Tageszeitung El País hielten zwar 80 % die Forderungen der Empörten für gerechtfertigt (El País vom 26. Juni 2011), doch in den Meinungsartikeln großer Tageszeitungen wurde die Blockade als „Ende des 15-M“ hart verurteilt. Diese Reaktion kam nicht von ungefähr: Das Festhalten an klassischen Protestformen wie friedlichen Demonstrationen oder Streiks unter weitestgehendem Verzicht auf Gewalt hatte zu den Grundprinzipien des Post-Franco-Spaniens gehört. In den Jahren der Finanzkrise begann dieser Konsens zu bröckeln, nicht nur durch den 15-M, sondern auch durch die Proteste gegen Zwangsräumungen der PAH. Die „Kultur der Transition“ stand zunehmend auf dem Prüfstand.8 Von 2011 auf 2012 verdoppelte sich die Zahl der angemeldeten Demonstrationen in ganz Spanien auf mehr als 44.000. Dabei kam es auch, vor allem in der Hauptstadt Madrid, zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizei. Als Reaktion darauf brachte die Regierung Rajoy im Juli 2012 die Initiative zu einem „Gesetz zur bürgerlichen Sicherheit“ ins Parlament, das drei Jahre später als Ley Mordaza („Maulkorbgesetz“) bekannt werden sollte und von der Opposition als massive Einschränkung der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit gewertet wurde. Es richtete sich in Teilaspekten explizit gegen die Protestformen, die sich während der Krise entwickelt hatten: Blockaden gegen Sicherheitskräfte, etwa bei Zwangsräumungen, oder unerlaubtes Fotografieren der Polizei konnten unter Ausschluss des Rechtsweges mit Bußgeldern von bis zu 30.000 Euro geahndet werden, Störungen öffentlicher oder religiöser Veranstaltungen mit bis zu 600.000 Euro. Der 15-M führte aber auch außerhalb der Straße zu einem enormen Politisierungsschub in Spanien. Seinen Widerhall fand er jenseits der Institutionen. Bei einer Bewegung, die aus Enttäuschung über die traditionelle Politik entstanden war, lag das in der Natur der Sache. Nicht nur die Plattform der Hypothekengeschädigten erhielt großen Zulauf. In Großstädten

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Haftstrafen von drei Jahren, woraufhin die Verurteilten vors Verfassungsgericht zogen. Das Urteil steht noch aus. Der Begriff geht auf den Journalisten Guillem Martínez zurück, der in CT o La Cultura de la Transición die Priorisierung eines befriedeten Zusammenlebens um den Preis der Unterdrückung von sozialen Konflikten einer Generalkritik unterzieht.

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wie Barcelona oder Madrid entstanden Initiativen für Stadtgärten, Nachbarschaftsvereine oder lokale Suppenküchen. So wie die Bewegung Distanz zu den klassischen Parteien gehalten hatte, suchte man auch bei der Finanzierung nach Möglichkeiten jenseits des „Systems“. Das Crowdfunding erlebte einen Boom, nicht nur für soziale, journalistische oder künstlerische Projekte, sondern auch für politische Initiativen. Paradigmatisch war die Kampagne 15MpaRato, initiiert von der Aktivistin Simona Levi zum ersten Jahrestag des 15-M. Innerhalb von 24 Stunden gingen über das Crowdfunding-Portal Goteo.org 15.000 Euro ein, genug, um eine Anklage wegen gefälschter Buchhaltung und Betrug gegen den Bankia-Vorsitzenden und ehemaligen Wirtschaftsminister Rodrigo Rato einzureichen. Bankia, entstanden aus der Fusion von sieben Sparkassen, war ein Jahr zuvor an die Börse gegangen, mit massiv geschönten Bilanzen, und musste nach zehn Monaten mit über 22 Milliarden Euro öffentlicher Gelder gerettet werden. Vor allem Kleinaktionäre hatten in das Projekt investiert. Der Nationale Gerichtshof (Audiencia Nacional) nahm das Verfahren an, 15MpaRato wurde so zusammen mit der Partei UpyD zur Nebenklägerin in einem Prozess, in dem, so hieß es in den Medien, „eine ganze Epoche auf der Anklagebank saß“ (Sevillano in El País vom 29. September 2020), der aber 2020 mit dem Freispruch aller 34 Angeklagten endete. Parallel dazu richtete Levi, die bereits zuvor das Internet-Kollektiv X.Net gegründet hatte,9 ein anonymes Portal für Whistleblower ein und trug so zur Eröffnung des Verfahrens gegen den Caja-Madrid-Vorstand Miguel Blesa wegen massiven Kreditkartenmissbrauchs bei.10 Aus einem Teil des damals in der Presse veröffentlichten Mailverkehrs entwickelte Levi das Theaterstück Hazte banquero. Mit einer Mischung aus aktivistischen, künstlerischen und politischen Strategien versuchte 15MpaRato das Spielfeld für neue politische Akteure zu öffnen und eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. In dieser Hinsicht war die Initiative charakteristisch für den 15-M. Dass dabei stets der Netzgedanke und das Kollektiv im Mittelpunkt standen, sollte sich als Stärke und Schwäche zugleich erweisen.

9 Aus X.net entstand 2012 die Partei Partido X, die als erste aus dem 15-M hervorgegangene Partei bei den Europawahlen kandidierte, dort aber scheiterte. 10 Miguel Blesa wurde 2017 zu sechs Jahren Haft verurteilt und nahm sich vor Antritt der Haftstrafe das Leben.

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3. 2015: Marsch durch die Institutionen 3.1. Podemos – Erbin des 15-M?

Ob die Partei Podemos tatsächlich als legitime Erbin der Empörtenbewegung gelten darf, ist umstritten. Tatsächlich war sie jahrelang die Partei, die aus der in den Krisenjahren manifest gewordenen Unzufriedenheit am erfolgreichsten Kapital zu schlagen verstand. Gegründet 2014 von einem kleinen Kreis aus Politikwissenschaftlern aus der Madrider Universität Complutense, zu dem in erster Linie Pablo Iglesias, Luis Alegre, Iñigo ­Errejón, Carolina Bescansa und Juan Carlos Monedero gehörten, gelang ihr 2019 der Einzug auf die Regierungsbank. Als Juniorpartner des sozialdemokratischen PSOE gestaltet sie seither die Politik der aktuellen spanischen Linkskoalition mit. Ein Großteil des Gründungskreises hatte damals schon wieder den Weg zurück in die Wissenschaft gefunden. Von Anfang an verband das junge, urbane Spanien mit Podemos große Hoffnungen. Quasi aus dem Stand gelang Podemos wenige Monate nach Gründung bei den Europa-Wahlen 2014 mit fünf Abgeordneten der Sprung ins Europa-Parlament. Die meisten Wählerinnen und Wähler stammten aus Gegenden Spaniens, in denen auch die „Empörtenbewegung“ besonders stark war: den großen Städten, dem Norden Spaniens, der Mittelmeerküste – und den „historischen Nationalitäten“, den Autonomen Regionen mit eigener Sprache. Die Unterstützung für die junge Partei lag dort teilweise bei über 40 % (Riveiro 2017: 15). Aber Podemos gelang es auch, den Unmut anderer Schichten zu kanalisieren – in einer Weise, wie das keiner Neugründung zuvor gelungen war. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metroscopia vom Dezember 2014 sah Podemos mit 25 % als zweitstärkste parlamentarische Kraft, hinter dem PSOE mit 27,7 % der Stimmen. Als Podemos ein knappes Jahr später für die Parlamentswahlen kandidierte, machten mehr als drei Millionen Menschen ihr Kreuz bei den „jungen Wilden“. Der kometenhafte Aufstieg der Partei verdankt sich dem disruptiven Talent seiner Macher. Sowohl politisch-ästhetisch wie auch konzeptionell brach sie mit vielem, was in den ersten vier Jahrzehnten der spanischen Diktatur als Maßstab gegolten hatte; damit konnten sie an die Diskurse des 15-M anknüpfen. Dazu gehörte sowohl der „Look“ von Pablo Iglesias – die Karohemden, das lange, zum Pferdeschwanz gebundene Haar, das die Strategen der Partei ganz bewusst zum Markenzeichen von Podemos

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machten –, wie auch die Organisation der zunächst als Bewegungspartei konzipierten Formation. Die Parteiprogramme der ersten Jahre wurden von dezentralen, basisdemokratisch organisierten círculos, lokalen Zirkeln von Sympathisanten und Mitgliedern, ausgearbeitet: eine Bottom-Up-Strategie, ganz bewusst in Abgrenzung zu klassischen Parteitagen und Gremienstrukturen entwickelt, die aber zunehmend vernachlässigt wurde. Der Bruch mit den klassischen Formen der Politik war nicht nur konjunkturell bedingte Marketingstrategie. Er speiste sich sowohl aus den theoretischen Ansätzen, die die Mitgründer Iñigo Errejón und Juan Carlos Monedero während diverser Beratungstätigkeiten in Bolivien, Venezuela und anderen lateinamerikanischen Staaten kennengelernt hatten, als auch aus der Interpretation der „Empörtenbewegung“ durch die Politikwissenschaftler. Von Lateinamerika übernahm man die Idee eines „linken Populismus“ mit seiner antagonistischen Gegenüberstellung von Eliten und Volk, von casta und gente, von Kaste und „normalen Menschen“. Zum Sinnstifter, zum vereinigenden Band der unterschiedlichen politischen Strömungen und Forderungen sollte eine zentrale Führungsfigur werden. Dabei berief man sich auf die Ideen des argentinischen Philosophen und Theoretikers Ernesto Laclau. Es war eine Entscheidung – so schreibt es zumindest der Politologe Aitor Riveiro – aus Mangel an Alternativen: Andere sinn- und gemeinschaftsstiftende Konzepte wie das überholte Rechts-Links-Schema oder gar die im Post-Franco-Spanien ideologisch stark rechts konnotierte Idee der „Nation“ waren im Spanien der 2010er Jahre nicht verfügbar. Diese Strategie barg Risiken. Populismus hatte als politisches Schlagwort auch in Spanien keinen guten Ruf, sollte aber in einer krisengebeutelten und von der klassischen Parteipolitik enttäuschten Gesellschaft Erfolg haben. „Der Gemütszustand des Landes machte damals extrem personalisierte Kampagnen möglich“, resümierte Buchautor und Politikwissenschaftler Aitor Riveiro in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Das ging so weit, dass auf den Wahlzetteln für die Europawahlen von 2014 nicht das Partei-Logo, sondern das Gesicht von Pablo Iglesias prangte. Allerdings haftete die Ausrichtung an lateinamerikanischen Protestbewegungen Podemos wie ein Geburtsmakel an. Von konservativer Seite gab es immer wieder bis heute unbewiesene Vorwürfe, Hugo Chávez habe die Parteigründung direkt oder indirekt finanziert. Auch beim Kommunikationsstil und der medialen Verbreitung ihrer Ideen ließ sich Podemos von Venezuela inspirieren. Massenmeetings und,

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vor allem, Auftritte im Fernsehen spielten eine zentrale Rolle.11 Das Medium sei besser als andere „geeignet, um zu wachsen, voranzukommen und bestimmte Elemente unserer politischen Herkunft zu überwinden“, so Pablo Iglesias (Riveiro 2017: 23). Der Politikdozent kannte die Regeln der politischen Kommunikation über den Bildschirm aus eigener Erfahrung. Seit 2010 moderierte er die politische Talkshow La Tuerka, zunächst ausgestrahlt im Madrider Bürgerfunk. Das improvisierte Fernsehstudio wurde im Mai 2011 zum Analyselabor der „Empörtenbewegung“, die Macher widmeten den Protagonisten und Ereignissen des 15-M einen Großteil der Sendezeit. Die Analysen sollten wesentlichen Einfluss auf den späteren Diskurs von Podemos haben, konstatierte rückblickend Mitgründer Iñigo Errejón (Domínguez/Giménez 2014). Auch wenn es keine oder nur wenige personelle Überschneidungen zwischen den Impulsgebern des 15-M und dem Kreis um die Madrider Politikwissenschaftler gab, stammte man aus dem gleichen intellektuellen Milieu. Viele Mitglieder von Juventud sin futuro, einer der federführenden Organisationen, gehörten auch zum von Iñigo Errejón und Pablo Iglesias gegründeten Verein Contrapoder. Dass sich der Kreis um Pablo Iglesias im Januar 2014 tatsächlich zur Parteigründung entschloss, war in erster Linie dem Wahlkalender geschuldet. Nach den Europawahlen standen 2015 auch Kommunal-, Regional- und Parlamentswahlen an. Dieser Rahmen bot die Möglichkeit, das in der Abwandlung eines Marx-Zitates auf der Gründungsversammlung gegebene Versprechen, „den Himmel zu stürmen“, umzusetzen. Um sich so intensiv wie möglich auf die Parlamentswahlen zu konzentrieren, verzichtete Podemos auf eigene Kandidaturen bei den Kommunalwahlen, unterstützte aber verwandte Bündnisse aus der Kommunalbewegung. Bei den Regionalwahlen, zu denen man teils regionale Marken erschuf bzw. mit anderen Parteien zusammenging, wurden die Newcomer in neun von 15 Autonomen Regionen drittstärkste Kraft: ein Ergebnis, das sie auch bei den Parlamentswahlen am 20. Dezember wiederholen ­konnten.

11 Auch hier zeigen sich Parallelen zu Lateinamerika. Als Stargast des von Pablo Iglesias moderierten Programms La Tuerka (ursprünglich im Nachbarschaftskanal des Madrider Lokalfernsehens ausgestrahlt, später auch auf anderen Sendern), erklärte der bolivianische Vize-Präsident Álvaro García Linera einmal: „Das ideologische Schlachtfeld sind nun einmal die Medien. Dort entscheidet sich, was common sense, was gesunder Menschenverstand ist.“ (La Tuerka, 25. Mai 2015)

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Podemos und die strukturell mit ihm verknüpften Regionalbündnisse erhielten bei der ersten Kandidatur für das spanische Parlament 20 % der Stimmen, nur geringfügig weniger als der PSOE. Auch die aus Katalonien stammende wirtschaftlsliberale Bürgerpartei Ciudadanos zog ins Parlament ein. Damit bestätigte sich, was sich schon bei den Europawahlen abgezeichnet hatte: Die Macht der traditionellen Volksparteien war gebrochen. Statt wie bisher zwei große Blöcke standen sich nun in Madrid vier Akteure gegenüber. Das bot eine ungewohnte Dynamik bei der Regierungsbildung. Da die konservative Volkspartei wegen der Korruptionsskandale relativ isoliert war, versuchten zuvorderst der PSOE und die beiden neuen Formationen diesen Spielraum nutzbar zu machen. Podemos unterbreitete dem geschwächten PSOE im Februar 2016 ein Koalitionsangebot, das die Sozialdemokraten als „nicht annehmbar“ ablehnten. Dabei ging es zuvorderst um politische Differenzen: Das Referendum, das Podemos für den damals schwelenden Katalonien-Konflikt vorschlug, war für den PSOE ebenso wenig akzeptabel wie die geforderte Abkehr vom Primat der Schuldentilgung. Außerdem düpierte den PSOEVerhandlungsführer Pedro Sánchez das forsche Auftreten des selbstbewussten Newcomers. Iglesias’ provokativer Gestus, während des Wahlkampfes eine der großen Stärken von Podemos, entpuppte sich jetzt als Schwäche. Die Gespräche zwischen PSOE und Podemos scheiterten, Sánchez suchte den Schulterschluss mit Ciudadanos. Als auch dieser Versuch fehlschlug, mussten die Wahlen wiederholt werden. Der Versuch der ersten „Machtübernahme“ durch die Linke war gescheitert. Die Konzentration auf eine charismatische Führungsfigur zeigte sich auch in den Folgejahren als Achilles-Ferse. Indem man die Glaubwürdigkeit eines politischen Projekts eng an eine Person koppelte, erhielten persönliche politisch-ästhetische Fehltritte enorme Bedeutung. Als Iglesias im März 2018 mit seiner damaligen, mit Zwillingen schwangeren Lebensgefährtin und Parlamentssprecherin von Podemos Irene Montero aus der Stadtwohnung in ein 260-Quadratmeter-Chalet mit Pool zog, sorgte das für einen Aufschrei in der Wählerschaft. Das Paar musste sich einer parteiinternen Vertrauensabstimmung stellen. Im Mai 2016, kurz vor der Wiederholung des Wahlgangs, ging Podemos ein Wahlbündnis mit der postkommunistischen Sammelpartei Izquierda Unida ein. Die Idee dazu stammte von Pablo Iglesias, der so hoffte, die spanischen Sozialisten übertrumpfen zu können. Podemos-Mitbegründer Iñigo Errejón, der eine zu starke Ideologisierung und einen Rückfall in das

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klassische Rechts-Links-Schema fürchtete, sprach sich dagegen aus. Der Konflikt führte schließlich zum Bruch zwischen beiden. Errejón verließ 2019 die Partei, um gemeinsam mit der damaligen Madrider Bürgermeisterin Manuela Carmena das Wahlbündnis Más Madrid ins Leben zu rufen. Die machtpolitischen Querelen und die klare Positionierung innerhalb des klassischen Rechts-Links-Schemas hatten erhebliche Auswirkungen auf die Außenwahrnehmung. Die Protestpartei, die versprochen hatte, mit den herrschenden Verhältnissen zu brechen, unterschied sich immer weniger von den „Systemparteien“. Auch strategisch scheiterte die Allianz mit der Vereinigten Linken. Es gelang dem Wahlbündnis nicht, den PSOE zu übertrumpfen. Bei den Wahlen am 26. Juni 2016 verbuchte die konservative Volkspartei den deutlichsten Zuwachs, Mariano Rajoy wurde – durch eine für Spaniens Linke traumatische Wahlenthaltung des PSOE – erneut spanischer Ministerpräsident. Das Zeitfenster für eine Machtbeteiligung der Protestpartei sollte sich erst wieder im Sommer 2018 öffnen, nachdem Pedro Sánchez durch ein Misstrauensvotum die Ära Rajoy beendet und Neuwahlen angesetzt hatte. Auch damals gestalteten sich die Verhandlungen zäh, abermals mussten die Wahlen wiederholt werden. Allerdings wirkte das starke Abschneiden der rechtspopulistischen Vox, die Unidas Podemos im April 2019 als drittstärkste Kraft abgelöst hatte, als Beschleuniger. Im Januar 2020 trat die erste Koalitionsregierung im Post-Franco-Spanien ihr Amt an. Unidas Podemos stellte zunächst vier von 22 Ministerposten. Für ein Resümee ist es noch zu früh, aber tatsächlich konnte Podemos mit der Reform des Wohnraumgesetzes und der Rücknahme eines Teils der Arbeitsmarktreformen wichtige Impulse setzen. Die Partei hielt auch der Corona-Krise und personellen Umgestaltungen stand. Parteigründer Pablo Iglesias zog sich im Frühjahr 2021 zunächst aus der Regierung zurück, um bei den Madrider Regionalwahlen zu kandidieren, beendete nach der Niederlage dann seine parlamentarische Tätigkeit. Seine Nachfolgerin Ione Belarra kann an Iglesias’ Bekanntheitsgrad nicht anschließen. Im Dauerwahlkampf der Vor-Pandemie-Jahre hatte die Partei versäumt, sich um Nachwuchs zu kümmern. Podemos, die einstige Hoffnungsträgerin der spanischen Linken, zeigte erhebliche Verschleißerscheinungen. Nach Umfragen des staatlichen Meinungsforschungsinstituts würden im Februar 2022 nur noch 10,1 % der Wähler Unidas Podemos ihre Stimme geben. Wegen ihrer Priorisierung des Machtgewinns und der Vernachlässigung des Kollektivgedankens kann Podemos eher als Nutznießerin denn

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eigentliche Erbin des 15-M gelten. Sie konnte innerhalb der spanischen Linkskoalition zwar bei Mindestlohn, Wohnrecht und Sozialhilfe Impulse setzen, allerdings nicht als Vereinigung der „99 %“, sondern als klassische linke Partei. 3.2. Munizipalbewegungen: Die „Eroberung der Städte“

Größere Konsistenz mit den Grundsätzen des 15-M zeigte die spanische Munizipalbewegung. Bei den Kommunalwahlen im Mai 2015 traten in 54 Städten, darunter die Großstädte Madrid und Barcelona, confluencias an: Bündnisse, deren Mitglieder nicht in klassischen Parteistrukturen groß geworden waren, sondern aus Bürgerbewegungen, Nachbarschaftsvereinigungen oder Aktivistenkreisen stammten. In Barcelona kandidierte die Wohnraumaktivistin Ada Colau, in A Coruña der Rechtswissenschaftler Xulio Ferreiro, der sich zuvor in der Studierenden- und Gewerkschaftsbewegung engagiert hatte, in Madrid die Richterin Manuela Carmena, die mit damals 71 Jahren zwar die Älteste im Kreis der Herausforderer war, durch ihre Rolle im antifranquistischen Widerstand allerdings hohes Vertrauen genoss. Andere Vertreter der Kommunalbewegungen aus Cádiz, Valladolid oder Zaragoza gehörten zwar zum Umfeld der Vereinigten Linken IU, hatten sich allerdings mit anderen Bündnissen und Gruppen zu einer gemeinsamen Wahlliste zusammengeschlossen. Man verstand sich als Sammelbecken verschiedener Strömungen, als Raum, in dem Meinungsunterschiede möglich und gewünscht waren. Namen wie Guanyem („Lasst uns gewinnen“), Sí se puede („Wir werden es schaffen“) oder ein schlichtes Ahora („Jetzt“) plus der Namen der Stadt verrieten den Willen zur grundlegenden Umgestaltung der Verhältnisse. In einem von einer sechsjährigen Krisenerfahrung geprägten Land sollte diese Mischung aus Parteifremde und Outsider-Chuzpe zum Schlüssel des Erfolgs werden: Die confluencias gewannen in Madrid, Barcelona, Zaragoza, Cádiz und anderen Großstädten. Die damals regierende Volkspartei und, in geringerem Maß der PSOE, verloren insgesamt drei Millionen Stimmen, die überwiegend an die linken Bündnisse und Ciudadanos abwanderten. Die großen Volksparteien, die zuvor meist 80 % der Stimmen auf sich vereinen konnten, kamen gemeinsam nur noch auf 50 %. Allerdings spiegelte sich der Politisierungsschub, den Spanien durch den

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15-M und andere Protestbewegungen erlebt hatte, nicht in einer höheren Wahlbeteiligung.12 Mit Ausnahme von Barcelona, Cádiz und Valencia hielten sich die meisten dieser Bündnisse zwar nur eine Amtszeit an der Macht, dennoch haben sie Spuren hinterlassen. Sowohl inhaltlich wie formal versuchte man im Sinne des 15-M Lokalpolitik anders zu gestalten. Statt auf dem Ausbau der Infrastrukturen oder der Förderung der lokalen Wirtschaft lag der Fokus klar auf den, so fasst es Sozialwissenschaftler Jordi Mir zusammen, „materiellen Lebensbedingungen, auf konkreten Veränderungen des Umfelds, jenseits ideologischer Grundsatzfragen“ (Macher 2021: 31). Die neuen Stadtregierungen versuchten, den Zugang zu erschwinglichem Wohnraum zu erleichtern und die Privatisierung von „öffentlichen Gütern“ wie Wasser oder Strom zurückzunehmen, stießen dabei allerdings oft schnell an die Grenzen des Machbaren. Das lag nicht nur an den Mehrheitsverhältnissen, an fehlenden finanziellen Ressourcen und den in Schlüsselbereichen geringen Kompetenzen der Kommunen (etwa bei der Gestaltung der Mietpreise), sondern teils auch an der mangelnden Verwaltungserfahrung der „Neuen im Rathaus“: Es brauchte Zeit, bis Kontakte und Kommunikationskanäle aufgebaut waren. Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Medien misstrauten den Erben der „Platz-Besetzer“. Zugleich waren die Erwartungen der Basis größer als die der traditionellen Wählerschichten. Das zeigte sich vor allem in Städten, in denen klassische Aktivistinnen wie Ada Colau im Rathaus saßen. Die Wohnraumaktivistin rief zwar eine Kommission gegen Wohnungsausschluss ins Leben (Unidad contra la ­Exclusión Residencial, UCER), die zwischen Bewohnern, Banken, Gerichten vermitteln sollte. Allerdings konnte nur für etwa 16 % der Familien ein dauerhaftes Wohnrecht ausgehandelt werden.13 Für Colau, die aus dem „Recht auf eine würdige Wohnung“ das zentrale Thema ihrer politischen Biographie gemacht hatte war das eine herbe Niederlage, auch, weil die nur sehr zögerlichen Erfolge bei der Wohnraumpolitik zu wütenden Protesten der von ihr mitgegründeten PAH führten. Wie bereits bei der „Empörtenbewegung“ spielten die Themen Transparenz und demokratische Kontrolle eine große Rolle. In einem Versuch, der Lokalpolitik ihre Glaubwürdigkeit zurückzugeben, verzichteten fast 12 Laut dem Amt für Statistik sank die Wahlbeteiligung von 66,16 % (2011) auf 64,91 %. 13 In den meisten Fällen vermittelte die Kommission eine Notunterkunft oder einen Mietzuschuss.

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alle Funktionsträger der gewählten Listen auf einen Großteil ihres Salärs. Barcelona etwa beschränkte das Jahresgehalt der Bürgermeisterin von 100.000 Euro auf 43.100 Euro, der Rest fließt in Absprache mit ihrer Partei als Spende an Sozialprojekte; die Hauptstadtliste Más Madrid sah für ihre Stadträte zunächst das Vier-, dann das Dreifache des gesetzlichen Mindestlohns vor.14 In einem Land, in dem Korruption und Bereicherung das Vertrauen in die politischen Institutionen unterminiert hatten, war das eine Geste, die zumindest für Sympathie sorgte. Parallel dazu wurden Transparenzmechanismen und Instrumente für eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsfindungen entwickelt. Dabei griff man nicht nur auf klassische Strategien wie Bürgerversammlungen oder Nachbarschaftsgespräche im öffentlichen Straßenraum zurück, sondern setzte – in klarer Anlehnung an den 15-M – auch auf das Internet. Federführend dabei wurde Barcelona. Die Mittelmeermetropole versuchte, das Smart-City-Konzept neu zu definieren. „Smart“ ist demnach eine Stadt nicht, wenn sie ihren Bürgerinnen und Bürgern möglichst viele digitale Tools zur Verfügung stellt, sondern wenn digitale Technologien tatsächlich das Zusammenleben verbessern – und selbst „radikal demokratisch“ sind, also der Allgemeinheit gehören, transparent und offen sind. Ein zentrales Instrument dabei wurde die Online-Plattform Decidim. Über die seit 2016 fest in der Lokalpolitik verankerte Plattform können Bürgerinnen und Bürger Ideen einreichen, entwickeln und diskutieren. Die Stadtverwaltung verpflichtet sich – abhängig von Proporz und Machbarkeit – zur Umsetzung. Sowohl das städtische Beerdigungsinstitut als auch eine kostenlose städtische Info-Hotline gehen auf Decidim-Initiativen zurück. 2020 sollte über die Plattform auch der erste partizipative Haushalt über 75 Millionen Euro gestaltet werden. In Absprache mit Experten aus der Verwaltung wurden neue Grünzonen, verkehrsberuhigte Straßen und Spielplätze definiert. Ursprünglich sollte die Plattform über verschlüsselte Technologien auch eine direkte Abstimmung der Bürger zu Schlüsselthemen und einzelnen Gesetzen ermöglichen, doch für solche digitalen Volksabstimmungen fehlt bisher ein gesetzlicher Rahmen. Tiefgreifend verändern konnten die Munizipalbewegungen die politischen Verhältnisse nicht. Bei den Kommunalwahlen 2019 wanderten viele Stimmen wieder zurück zu den Altparteien, insbesondere zum PSOE 14 Allerdings blieb das Salär der Bürgermeisterin Manuela Carmena von dieser Regelung ausgeschlossen.

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und seinen Schwesterparteien oder in die Stimmenthaltung. Mit seinem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen den Konservativen Mariano Rajoy hatte Pedro Sánchez die Reformfähigkeit der Sozialisten beflügelt. Mit der rechtsextremen Vox, die vor allem von den Nachbeben des Katalonien-Konflikts profitiert hatte, war außerdem eine neue Figur auf das Spielfeld gerückt, die nun versuchte, gesellschaftlichen Unmut in politisches Kapital umzumünzen. Zwar gab es bei den Kommunalwahlen keine massive Wählerabwanderung von den confluencias zu den Rechtspopulisten, aber Vox bemächtigte sich eines Teils der klassischen 15-M-Erzählung. Zum 15. Mai 2020, dem 9. Jahrestag der Empörtenbewegung, verbreitete die Partei ein Video, in dem sie sich als deren eigentliche Erbin bezeichnete: als politische Outsiderin, die das Establishment in Frage stellte, als Gegenentwurf zu den „Eliten“ – zu denen durch ihre Beteiligung an der Regierung und ihrer Macht in den Kommunen eben auch Podemos und die confluencias gehörten. Auch wenn die Wirkungsmacht dieses Umdeutungsversuchs begrenzt blieb, mussten ihn viele aus dem Umfeld der confluencias als Ohrfeige empfinden. Die Umdeutung traf sie auf einem Gebiet, auf dem sie vielleicht die spürbarste Veränderung erreicht hatten: dem der Diskurse. 4. Die Stille nach der Corona-Krise

Als Spanien während der ersten Welle der Corona-Pandemie im März 2020 in einen harten Lockdown ging und seine Bürgerinnen und Bürger für sieben Wochen in den Hausarrest schickte, fürchteten viele ähnliche Krisenszenarien wie 2008. Bilder und makroökonomische Daten schienen ihnen zunächst Recht zu geben: Vor den Suppenküchen bildeten sich lange Schlangen und das Bruttosozialprodukt fiel im Vergleich zum Vorjahr um 11 %, so viel, wie noch nie in Friedensjahren. Aber im Gegensatz zur Finanzkrise 2008-2014 gelang es, die Folgen für den Arbeitsmarkt durch ein breites Kurzarbeitsprogramm abzufedern und die soziale Not durch die Einführung einer Sozialhilfe (renta mínima) abzufedern. Hatte der PSOE während der Finanzkrise noch der Schuldentilgung den Vorrang vor öffentlichen Ausgaben gegeben, genossen nun Sozialprogramme oberste Priorität. Unidas Podemos, der kleinere Koalitionspartner der spanischen Linkskoalition, verbucht das gerne als seinen Erfolg. Allerdings wäre dieser Paradigmenwechsel ohne ein Umdenken auf internationaler

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Ebene kaum denkbar gewesen. Europäische Konjunkturprogramme wie Next Generation zeugen von neuer Prioritätensetzung. Hat zu diesen Verschiebungen ausschließlich die Kollektiverfahrung der Corona-Pandemie geführt? Oder spielten, wie der Sozialwissenschaftler Jordi Mir behauptet, letztlich auch die Erinnerung an die Jahre 2011 und 2012 eine Rolle, als nicht nur in Spanien in Opposition zur Austeritätspolitik scheinbar aus dem Nichts Protestbewegungen entstanden? (vgl. Mir García 2021: 83) Die Gründe für Verschiebungen im mentalen Rahmen sind letztlich schwer zu benennen. Aber die Diskurse in Spanien haben sich seit der Finanzkrise verändert: Die spanische Monarchie steht weiter auf dem Prüfstand,15 alternative politische Protest- und Organisationsformen haben inzwischen deutlich mehr Sichtbarkeit.16 Gleichwohl ist während der Corona-Krise ist in Spanien bisher keine Protestbewegung entstanden, die an die Wirkungsmacht derjenigen der Finanzkrise heranreicht. Das lag zum einen an den pandemiespezifischen Rahmenbedingungen: Proteste waren während des Alarmzustandes im Jahr 2020 nicht verboten. Aber die traumatische Erfahrung der ersten Welle mit ihren hohen Totenzahlen und den Bildern von den überfüllten Notaufnahmen der Krankenhäuser erschwerten eine soziale Mobilisierung. Während in Mitteleuropa die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen an Vehemenz gewannen, blieb in Spanien sowohl die Impfbereitschaft wie auch der Rückhalt für die Restriktionen groß – ein Phänomen, das Soziologen sowohl mit einem hohen familiär-gesellschaftlichen Verantwortungsgefühl wie auch mit einer durch die Krise verstärkten Akzeptanz von Autorität erklären. Die gewalttätigen Proteste im Februar 2021 anlässlich der Verhaftung des spanischen Rappers Pablo Hasél blieben eine Randerscheinung. Der Musiker, der in seinen Texten unter anderem den spanischen Monarchen als „parasitären Müll“ bezeichnet und Politikern eine „Kugel in den Kopf gewünscht“ hatte, war wegen Beleidigung und Terrorismusverherrlichung verurteilt worden. Kritiker sahen darin eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, in Barcelona lieferten sich auffallend junge Demonstranten

15 Vgl. dazu die von einem Zusammenschluss verschiedener Medien (Plataformas de Medios Independientes) beauftragte Umfrage Encuesta Monarquía II vom Oktober 2021. 16 Dazu gehören auch Basis-Gewerkschaften wie Las Kellys oder Vereinigungen von Kurierdiensten, die trotz relativ geringer Mitgliederzahl mit interventionistischen Protesten vergleichsweise große Medienöffentlichkeit erhalten.

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S­ traßenschlachten mit der Polizei, Geschäfte wurden geplündert. Ein konsistentes politisches Projekt entwickelte sich daraus nicht. Literaturverzeichnis Betancor, Gomer/Cilleros, Roberto (2014): „El 15M en retrospectiva. Análisis de un estudio cualitativo de opinión pública y de los activistas“, in: Anuari del Conflicte Social 2013, 3, 248-271. Blanchar, Clara (2014): „Sí, pudieron“, in: El País, 23. Februar, (16-05-2022). Colau, Ada/Alemany, Adrià (2013): Sí se puede. Crónica de una pequeña gran victoria. Barcelona: Destino. Domínguez, Ana/Giménez, Luis (2014): Claro que Podemos. De La Tuerka a la esperanza de cambio en España. Barcelona: Los libros del lince. El País (2011): „El 15-M mantiene su apoyo ciudadano“, in: El País, 26. Juni, (16-05-2022). França, João (2021): La PAH. Manual de uso. Madrid: Rosa-Luxemburg-Stiftung. Giménez Azagra, Ferrán (2018): Movimientos sociales y construcción de subjetividades: Los casos de la PAH y de la CUP. Madrid: Centro de Investigaciones Sociológicas. Hessel, Stéphane (2011): Empört Euch! Übersetzt von Michael Kogon. Berlin: Ullstein. Iglesias, Pablo/Juliana, Enric (2018): Nudo España. Barcelona: arpa. Innerarity, Daniel (2015): La política en tiempos de indignación. Barcelona: Galaxia Gutenberg. Kraus, Peter A./Merkel, Wolfgang (1998): „Die Konsolidierung der Demokratie nach Franco“, in: Walther L. Bernecker/Josef Oehrlein (Hgg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt a. M.: Vervuert, 37-62. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1987): Hegemonía y estrategia socialista. Hacia una radicalización de la democracia. Madrid: Siglo XXI. López Barceló, Esther (2017): La conquista de las ciudades. Vilassar de Dalt: ICARIA. Macher, Julia (2021): „Die Niederlage des Pablo Iglesias“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2021, 29-32. Martínez, Guillem (2012): CT o la Cultura de la Transición. Barcelona: Debolsillo. Mir García, Jordi (2021): Ola 15M. 10 años de movilización y cambio. Barcelona: Bellaterra. Monge, Cristina/Bergua, José Ángel/Minguijón, Jaime/Pac, David (Hgg.) (2021): Tras la indignación. El 15M: miradas desde el presente. Barcelona: Gedisa. Pradera, Javier (2014): Corrupción y política. Los costes de la democracia. Barcelona: Galaxia Gutenberg. Ramírez Blanco, Julia (2021): 15M. El tiempo de las plazas. Barcelona: Alianza.

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Riveiro, Aitor (2017): El cielo tendrá que esperar. Un recorrido por los tres primeros años de vida de Podemos. Madrid: Libros.com. Sevillano, Elena G. (2020): „La salida a Bolsa de Bankia: el desastre anunciado que acabó en los tribunales“, in: El País, 29. September, (16-05-2022).

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Landnutzung im Veränderungsprozess – Herausforderungen einer nachhaltigen Zukunft Sabine Tzschaschel Abstract Der Beitrag beschäftigt sich aus geografischer Perspektive mit den wichtigsten Prozessen, die gegenwärtig die spanische Kulturlandschaft prägen und verändern. Nach einem kurzen Überblick über die physischen und infrastrukturellen Grundstrukturen des Landes wird im Abschnitt zur Bevölkerung das Schlagwort von der España vacía aufgegriffen und das Phänomen der Landflucht unter verschiedenen Aspekten diskutiert. Im Folgenden werden einige gravierende Veränderungsprozesse in der Landwirtschaft und ihre Bedeutung im Hinblick auf die Landflucht und das traditionelle Landschaftsbild beleuchtet. Die abschließenden Abschnitte thematisieren die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Wasserwirtschaft sowie Trends in der Produktion erneuerbarer Energien und ihre Wirkungen auf das ökologische Gleichgewicht wie auf das entleerte Binnenland. Grundstrukturen

Wechselnde Kulturen haben der spanischen Geografie im Laufe der Jahrtausende ihre Stempel aufgedrückt und sie laufend neu geformt. Während sich Relief, Klima und natürliche Grundlagen durch die menschliche Nutzung nur langsam verändern, passt sich die Wirtschaftsweise schnell an aktuelle Anforderungen der globalisierten Welt an und hinterlässt innerhalb von Jahrzehnten völlig veränderte Landschaften. Das Werbepaneel des Osborne-Stiers an den Landstraßen ist zum Symbol des traditionellen Spaniens geworden, aber es steht nicht mehr für den aus der Mode geratenen Stierkampf, sondern mahnt eine nachhaltige Landnutzung und einen zukunftsfähigen Umgang mit den Ressourcen des Landes an.

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Spanien ist mit 505.983 km² (INE 2020: 2) nach Russland, der ­ kraine und Frankreich flächenmäßig das viertgrößte Land Europas. Der U Großteil der Landesfläche befindet sich auf der Iberischen Halbinsel im Südwesten Europas, rund 2,5 % entfallen auf die im Mittelmeer gelegene Inselgruppe der Balearen (5 Inseln mit 4.992 km²) und auf die Kanarischen Inseln (8 Inseln mit 7.492 km²) im Atlantischen Ozean vor der Westküste Afrikas. Zudem gehören die beiden Exklaven Ceuta und Melilla an der nordafrikanischen Küste zum Staatsgebiet. Festlandspanien grenzt in den Pyrenäen an Frankreich und Andorra (712 km Grenze) sowie im Westen an Portugal (1.232 km), seine längsten Außengrenzen werden jedoch von der Mittelmeerküste (1.670 km) und den Küsten des Atlantiks im Norden sowie im Südwesten (2.234 km) gebildet. Mit Inkrafttreten der demokratischen Verfassung von 1978 wurde das System der Einteilung in historische Regionen in ein quasi-föderales System von 17 Autonomen Gemeinschaften (Comunidades Autónomas) mit den seit Beginn des 19. Jahrhunderts bestehenden 50 Provinzen überführt. Diese bilden in sehr unterschiedlicher Weise die historische Zusammengehörigkeit von Regionen und den pragmatischen Zusammenschluss von Raumeinheiten unter modernen Bedingungen ab, so dass es − je nach regionalen Interessen und deren Durchsetzungskraft − zu sehr ungleichen administrativen Gebilden kam, deren Größen zwischen einer Provinz und neun Provinzen variieren. In den Autonomien mit mehr als einer Provinz verfügen die Provinzen über eigene Verwaltungen (Diputationen, auf den Kanarischen Inseln Insel-Cabildos, auf den Balearen Inselräte). Die Gemeinden (municipios) bilden die darunter liegenden Gebietskörperschaften. Die variationsreiche naturräumliche Ausstattung des Landes spiegelt sich in den 16 Nationalparks wider, in denen fast 10.000 km² unter Schutz stehen, sowie den 132 Naturparks mit insgesamt 34.000 km². Hinzu kommen elf UNESCO-Geoparks und 52 Biosphärenreservate. Damit sind rund zehn Prozent des Landes Schutzgebiete. Sie bilden zusammen mit den 49 UNESCO-Welterbestätten, den Küsten und Stränden sowie dem historischen Jakobsweg das touristische Kapital des Landes, ein bedeutender Sektor, der 2019 12,4 % zum Bruttoinlandsprodukt beitrug. Das Siedlungssystem, fußend auf den Strukturen der römischen Besiedlung und der westgotischen Folgeherrschaft, überlagert von den Zentren der 700-jährigen maurischen Kultur, wurde im Mittelalter von der Dynamik der Reconquista modifiziert und erhielt ab dem 16. Jahrhundert durch den Handel mit den neu entdeckten Ländereien in Übersee neue

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Akzente, als die Hafenstädte im Süden mit dem Außenhandel im Mittelmeer einen enormen Aufschwung erfuhren. Erst mit der Industrialisierung ab dem 19. Jahrhundert und einhergehend mit der zwangsweisen Rückbesinnung auf die eigenen Ressourcen nach Verlust aller Übersee-Kolonien (1898) entwickelten sich neue Wachstumszentren in Gebieten mit Rohstoffen und mit Traditionen in Handwerk und Fertigung (Katalonien, Baskenland). Während der Erste Weltkrieg weitere wirtschaftliche Wachstumsimpulse speziell für das fortschrittliche und grenznahe Katalonien sowie für das Baskenland brachte, ließen die Anfangsjahre der Diktatur Francos die Wirtschaft und das regionale Wachstum weitgehend stagnieren. Erst mit der Öffnung für ausländische Investitionen ab Ende der 1950er Jahre wurden besonders in den großen Städten durch die Ansiedlungen von Industrien neue Impulse gesetzt, und es begann der Prozess, der im Laufe weniger Jahrzehnte eine weitgehende Entleerung der Fläche zur Folge hatte. Mit den Investitionen in große Industrieanlagen im Baskenland, in den Metropolregionen Kataloniens und der Hauptstadtregion zogen Millionen Familien aus den verarmten Gebieten des Großgrundbesitzes, vor allem aus Andalusien und der Extremadura, an die Stadtränder von Bilbao, Barcelona oder Madrid. In der Folge entstanden dort riesige Satellitenstädte, deren urbanistische Ordnung und infrastrukturelle Ausstattung bis Ende des 20. Jahrhunderts andauerten. Während dieser Prozess eine Konzentration der Bevölkerung auf wenige Wachstumszentren bedeutete, fand mit dem Aufkommen des internationalen Tourismus gleichzeitig ein Zersiedlungsprozess der Küsten- und Inselregionen des Landes statt. Bereits in den 1960er Jahren begann der Massentourismus die Mittelmeerküste Spaniens zu erschließen, und mit den technischen Reiseerleichterungen des sich verbilligenden Flugverkehrs wurde Südspanien zur begehrten Urlaubsdestination, aber auch zur Zweitund Alterswohnsitz-Region für wohlhabende Spanier der Großstädte sowie für Mittel- und Nordeuropäer. Ehemals kleine Fischer- und Landgemeinden wuchsen zu Großstädten mit saisonaler Bevölkerung, in denen die − anfangs ohnehin nicht sehr einschränkenden − Bauverordnungen ignoriert und das Naturpotenzial privatisiert wurden. Die Kommunikation innerhalb des großen Landes war immer zentral auf die in der Mitte liegende Hauptstadt Madrid ausgerichtet und entsprach mit seinem Straßen- und Bahnliniennetz bis zum EG-Beitritt 1986 den moderaten internen Anforderungen. Damals umfasste das staatliche und regionale Straßennetz 154.000 km, 2020 waren es 165.445 km. In

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diesen 34 Jahren wurde jedoch das Netz vierspuriger Autobahnen und Schnellstraßen von rund 3.000 auf 17.377 km erweitert (zum Vergleich: In Deutschland sind es 13.200 km). Es bildet die wesentlichen Transportund Kommunikationsbeziehungen des Landes ab: Sternförmig führen sieben Autobahnen von Madrid ins ganze Land. Hinzu kommen jene zu den Küstensäumen vom Mittelmeer bis zum Atlantik sowie der Korridor des Ebrobeckens. Die Bahnverbindungen erfuhren im selben Zeitraum eine ähnliche Erneuerung: Seit Inbetriebnahme der Strecke Madrid-Sevilla 1992 erweitert die spanische Bahngesellschaft das Schienennetz für den Hochgeschwindigkeitszug AVE beständig. Es beträgt inzwischen etwa 3.200 km. Die Spurbreite entspricht − im Gegensatz zu den traditionellen Breitspur- und Schmalspurstrecken − den europäischen Standardmaßen. In Katalonien besteht eine Verbindung zum französischen TGV-Netz, über das Spanien mit dem Rest Europas verbunden ist. Die Netzstruktur ist ebenfalls zentral auf Madrid ausgerichtet, aber noch fehlen Tangentialverbindungen an der Nordküste. Das traditionelle Schienennetz umfasst weitere 12.443 km, in die allerdings in den letzten zehn Jahren kaum Investitionen geflossen sind. Viele Strecken sind stillgelegt oder werden nur wenige Male am Tag bedient. Stattdessen wurden Wahlversprechen umgesetzt, in jede Provinzhauptstadt einen AVE-Bahnhof zu bringen, obwohl die Passagierzahlen des Hochgeschwindigkeitszuges deutlich niedriger sind als in Frankreich oder Deutschland. Vor einigen Jahren musste beispielsweise die AVE-Verbindung Toledo−Cuenca aus dem Fahrplan genommen werden, da sie lediglich sieben Passagiere pro Tag hatte. Flughäfen sind in den Boomjahren vor 2008 ebenfalls zu regionalen Prestigeobjekten geworden. Es gibt inzwischen etwa 50 in Spanien, 13 davon auf den Inseln. Auf dem spanischen Festland sind 25 Flughäfen mit regelmäßigem Passagieraufkommen in Betrieb. Außerdem gibt es ein Dutzend Flughäfen, die in der Euphorie der Wachstumsjahre entstanden − in Einzelfällen nicht ohne langjährige Korruptionsskandale (z.  B. den Flughafen von Castellón betreffend) − und seitdem kaum oder gar nicht genutzt werden. Teruel hat aus der Fehlinvestition eine Erfolgsstory machen können: Der Flughafen dient der Wartung und dem Recycling alter Flugzeuge aus 40 Ländern und konnte mit seinen 230 Stellplätzen während der Pandemie-Pause 2020 als Europas größter Parkplatz für Passagiermaschinen dienen.

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Auch die spanischen Häfen werden beständig erweitert und ausgebaut. Über sie wird mehr als die Hälfte des spanischen Außenhandels abgewickelt. Angesichts der vielen Inseln und langen Küstenlinien haben sie eine stetig wachsende Bedeutung für den Rohstoff- und Warenverkehr wie auch für den Tourismus. Es gibt allein 46 große, staatliche Häfen, die wichtigsten darunter sind Algeciras, Barcelona und Valencia mit je über 50 Millionen Tonnen Transportvolumen pro Jahr (MITMA 2021). Sie haben in der Regel eigene Bereiche für den Fischereisektor. Hinzu kommen etwa 300 Sport- und Yachthäfen. Relief und Flusssysteme

Die Iberische Halbinsel ist von ausgedehnten Gebirgssystemen im Norden und nahe den Küsten geprägt, die durchschnittliche Höhe des Festlandes wird mit 660 m angegeben. Nach EU-Kriterien gelten 284.348 km² Spaniens als Berggebiet, also über 56 % der Landesfläche. Herausragend sind im Nordosten die Pyrenäen und im Norden das Kantabrische Küstengebirge, beides Fortsetzungen der Alpinen Gebirgsfaltungen. Im Süden bilden die Betischen Kordilleren mit der Sierra Nevada eine weitere tertiäre Formation, die gemeinsam mit dem nordafrikanischen Atlasgebirge aufgeworfen wurde und deren Fortsetzung im Archipel der Balearen zu sehen ist. Darüber hinaus gibt es ältere Mittelgebirgsbereiche, die besonders in Galicien die Landschaft prägen. Dazwischen erstreckt sich das Binnenland mit extensiven Hochebenen, den Mesetas, die im Süden auf ca. 400 m über NN und in Nordkastilien zwischen 800 und 1.000 Höhenmetern liegen. Getrennt werden diese durch das Kastilische Scheidegebirge, das vom Iberischen Randgebirge südlich des Ebrotals bis zu den portugiesischen Gebirgszügen der Serra da Estrêla reicht. Komplementär zu den Gebirgen strukturieren die großen Flusssysteme das Land. Dominant mit seinem prononcierten und wirtschaftlich intensiv genutzten, von NW nach SO verlaufenden Tal der Ebro, der mit einem breiten Delta ins Mittelmeer mündet und der mit 830 km Länge der längste Fluss Spaniens ist. Vier große Ost-West verlaufende Flusssysteme entwässern das Binnenland in den Atlantik. Im Norden der Duero, in Portugal Douro (897 km, von denen an die 700 km in Spanien oder an der gemeinsamen Grenze verlaufen), südlich des Scheidegebirges der Tajo, in Portugal Tejo (1.038 km, ca. 800 km in Spanien) und im Süden

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der Guadiana (teilweise in Portugal, insgesamt 746 km, davon ca. 600 km in Spanien) und der Guadalquivir (657 km), der in Andalusien ein ausgeprägtes Flusstal bildet. Auch der Miño (315 km) in Galicien und an der portugiesischen Grenze mündet in den Atlantik. Kürzer sind dagegen die im Süden ins Mittelmeer entwässernden Flüsse, darunter der Júcar (509 km), der Genil (358 km), der Segura (325 km) und der Turia (280 km). Zwei Fünftel des Landes sind mit Wald und Buschland bedeckt, und das mit leicht steigender Tendenz, wobei die staatlichen Aufforstungsprojekte eine wichtige Rolle spielen, akzidentelle oder auch provozierte Waldbrände jedoch auch immer wieder Rückschläge verursachen (Breuer 2008: 97-106). Das Klima Spaniens reicht von den mittleren Breiten des immerfeuchten Nordens über das sommertrockene Binnenland bis hin zu den mediterranen Subtropen sowie fast wüstenhaften ariden Bereichen im Südosten. Differenziert wird diese Nord-Süd-Abfolge durch das Relief, das in den höheren Lagen für kühlere Temperaturen und höhere Niederschläge sorgt. Der durchschnittliche Niederschlagswert von rund 650 mm pro Jahr (im langjährigen Mittel) streut je nach Jahr zwischen 400 und 900 mm, 2010 betrug er z. B. 855 mm, 2017 nur 474 mm. Eine durch den Klimawandel bedingte Tendenz ist dabei nicht eindeutig zu erkennen, wenn auch Prognosen für die Entwicklung der Niederschlagsmengen bis Ende dieses Jahrhunderts, je nach Szenario, einen Rückgang um durchschnittlich 9 % bzw. 12 % vorhersehen (González Briz/Martín Barajas 2019: 5). Innerhalb des Landes sind die Unterschiede enorm: An der Atlantikküste und im Nordwesten fallen jährlich bis zu 2.000 mm, im weiten Bereich des Binnenlandes 400-800 mm und in einigen Binnenregionen sowie der Südost-Küste um Almería gerade einmal 200 mm Niederschlag, und auch diese in der Regel nur in Form von vereinzelten Starkregenereignissen (s. dazu Breuer 2008: 53-61). Die Bevölkerung – territorial polarisiert

Seit einigen Jahren hat die Geografie Spaniens in der öffentlichen Diskussion eine neue Dimension gewonnen. Während bislang die stetig wachsenden Ballungsräume, der unaufhaltsame Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sowie der Massentourismus mit seinen siedlungsprägenden Auswirkungen das Interesse an der räumlichen Entwicklung des Landes dominierten, ist

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mit dem viel beachteten Essay über „das leere Spanien“ (La España vacía, Molino 2016) ein seit Längerem schlummerndes Thema ins Bewusstsein von Bevölkerung und Politik gelangt, das die räumlichen Gegensätze innerhalb des Landes problematisiert. Bevölkerungsverteilung globalisiert

Nach seiner Einwohnerzahl von ca. 47,5 Millionen (INE 2021) steht Spanien in Europa an sechster Stelle, 80  % der Bevölkerung leben in Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern, 80.000 Personen dagegen in Gemeinden von weniger als 100 Einwohnern. Die Bevölkerung ist extrem ungleich auf das Territorium des Landes verteilt. Vier Autonome Gemeinschaften vereinen allein 60 % der Einwohner des Landes: Andalusien mit der Stadtregion von Sevilla (1,55 Millionen), die autonome Region Madrid mit der Hauptstadt (3,3 Millionen) bzw. ihrer gesamten Metropolregion (6,8 Millionen), Katalonien mit der Metropolregion Barcelona (3,9 Millionen) sowie die Comunitat Valenciana mit der Stadtregion Valencia (1,6 Millionen). Eine Karte der Bevölkerungsdichte (Gil 2021) zeigt die Ungleichgewichte deutlich: Die Bevölkerung konzentriert sich immer mehr im Umfeld der Hauptstadt im Zentrum des Landes und an den Küsten; Karten des (positiven oder negativen) Bevölkerungswachstums zwischen 1981 und 2006 (IGN 2021) unterstreichen diese doppelte zentrifugale wie auch zentripetale Tendenz. Dazwischen bleiben fast leere Flächen, in einigen Provinzen wie Teruel, Soria oder Cuenca und in Randgebieten liegt die Bevölkerungsdichte unter zehn Einwohnern/km². Auch viele Berggebiete, wie die Pyrenäen, die Montes de Toledo, die Sierra Morena und das Randgebirge in Aragonien sind fast ohne Bewohner geblieben, wie auch das Grenzgebiet zu Portugal, seit Jahrhunderten Barriere statt Zone des Austauschs (Gil 2021). Eine Untersuchung auf Basis der beim Nationalen Geografischen Institut registrierten Siedlungen identifiziert 6.300 verlassene Weiler und 713 Dörfer mit keinem einzigen Einwohner im ganzen Land (Armunia Berges et al. 2021).

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Tab. 1: Bevölkerung in den Autonomen Gemeinschaften (2001, 2011 und 2021) Autonome Gemeinschaft (offizielle span. Bezeichnung) Andalucía Aragón Asturias, Principado de

Provinzen/ Inseln

Fläche in km²

Almería, Cádiz, Córdoba, Granada, Huelva, Jaén, 87.599 Málaga, Sevilla Huesca, Teruel, Zaragoza 47.720 Oviedo

Mallorca, Menorca, Ibiza, Balears, Illes Formentera Santa Cruz de Tenerife (La Palma, El Hierro, La Gomera, Tenerife); Canarias Las Palmas (Lanzarote, Fuerteventura, Gran Canaria) Cantabria Santander Ávila, Burgos, León, Palencia, Salamanca, Castilla y León Segovia, Soria, Valladolid, Zamora Albacete, Ciudad Real, Castilla – La Cuenca, Guadalajara, Mancha Toledo Barcelona, Girona, Lleida, Catalunya Tarragona Comunitat Alicante, Castellón, Valenciana Valencia Extremadura Badajoz, Cáceres A Coruña, Lugo, Galicia Ourense, Pontevedra Madrid, Madrid Comunidad de Murcia, Región Murcia de Navarra, Comunidad Pamplona Foral de Álava, Guipúzcoa, País Vasco Vizcaya Rioja, La Logroño Autonome Städte Ceuta, Melilla (Nordafrika) Total 50

Einw. 1.1.2001 in Mio.

Einw. 1.1.2011 in Mio.

Veränderung 2001/ 2011 in %

Einw. 1.1.2021 in Mio.

7,358

8,371

13,8

8,501

1,204

1,345

11,7

1,331

10.604

1,063

1,075

1,1

1,013

4.992

0,842

1,101

30,8

1,219

7.447

1,694

2,082

22,9

2,244

5.321

0,535

0,593

10,8

0,584

94.224

2,456

2,540

3,4

2,387

79.461

1,761

2,106

19,6

2,049

32.113

6,343

7,519

18,5

7,670

23.255

4,163

5,010

20,3

5,046

41.634

1,059

1,105

4,3

1,058

29.575

2,696

2,773

2,9

2,697

8.028

5,423

6,421

18,4

6,753

11.314

1,198

1,462

22,0

1,513

10.391

0,556

0,640

15,1

0,658

7.234

2,083

2,185

4,9

2,186

5.045

0,277

0,321

15,9

0,316

32

0,138

0,165

19,6

0,168

505.989

40,849

46,814

14,6

47,393

Quellen: Spalten D+E: INE Nota de Prensa vom 12. 12. 2012: Censos de Población y Viviendas 2011, S. 2. Spalte G: INE Nota de Prensa vom 23. 06. 2021: Cifras de Población a 1 de enero 2021, S. 5. Spalten C J: MAPA 2021a.

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Veränderung Ausländische Bevölkerungsdichte 2011/2021 Bevölkerung 2021 2021 (Einw/km²) in % in %

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Zahl der Gemeinden

Durchschnittl. Gemeindefläche km²

Durchschnittl. Einwohner/ Gemeinde 2021

111,6

10.829

1,6

97,05

8,35

785

-1,0

27,89

12,19

731

65,3

1.821

-5,8

95,53

4,47

78

135,9

12.987

10,7

244,19

18,75

67

74,5

18.194

7,8

301,33

13,20

88

84,6

25.500

-1,5

109,75

6,16

102

52,2

5.725

-6,0

25,34

6,00

2248

41,9

1.062

-2,7

25,79

9,20

919

86,5

2.230

2,0

238,84

16,05

947

33,9

8.099

0,7

216,98

14,73

542

42,9

9.310

-4,3

25,41

3,27

388

107,3

2.727

-2,7

91,19

4,22

313

94,5

8.617

5,2

841,18

14,09

179

44,8

37.726

3,5

133,73

14,62

45

251,4

33.622

2,8

63,32

10,75

272

38,2

2.419

0,0

302,18

8,21

251

28,8

8.709

-1,6

62,64

12,65

174

29,0

1.816

1,8

5250,00

6,43/14,6

2

16,0

84.000

1,2

94,78

11,42

8131

62,2

5.829

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Der Sog der Städte entspricht ihrer wirtschaftlichen Bedeutung. Über 70 % der nationalen Wertschöpfung entstehen in den 23 größten Städten Spaniens (Gil 2021), hier befinden sich Firmensitze, Universitäten und die großen Dienstleistungsgesellschaften. Die 50 Provinzhauptstädte konzentrieren zudem regionale Verwaltungen, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser und Einrichtungen des Gesundheitssystems sowie Gewerbebetriebe. Aber vor allem die großen Zentren wachsen stetig weiter, auch wenn die Einwohnerzahlen der Kernstädte stagnieren. So wuchs die Metropolregion von Barcelona seit 2001 von 2,9 Millionen auf 3,8 Millionen Bewohner, die von Madrid von 5,4 auf 6,8 Millionen Während ihr natürliches Wachstum (Geburten minus Todesfälle) in den Kernstädten schon seit Jahrzehnten negativ ist, gewinnen diese Stadtregionen durch Zuwanderung auch aus dem eigenen Land, aber überwiegend aus dem Ausland. Die Pandemie-Restriktionen im Jahr 2020 haben allerdings einen gewissen Exodus aufs Land hervorgerufen, wie die Statistiken der Binnenwanderungen zeigen. Die Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern konnten in diesem Jahr einen Überschuss von 100.000 Zuzügen gegenüber den Wegzügen verzeichnen. Dabei macht sich der Effekt Homeoffice klar bemerkbar: Während die 20-34-jährigen in den vergangenen Jahren Orte aller Größen zugunsten der sechs spanischen Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern verlassen hatten, gab es für diese Altersgruppe im Jahr 2020 in den Orten unter 20.000 Einwohnern positive Wanderungssalden (Oliveres/Sánchez 2021). Das entleerte Spanien

Das Thema der España vacía ist in den Medien omnipräsent, wenn auch inzwischen vorzugsweise der Terminus la España vaciada, das entleerte Spanien, verwendet wird (z. B. Urquizu 2021: 6) − ein Hinweis darauf, dass die großen Flächen im Binnenland nicht immer leer waren, und dass ihre Entleerung das Resultat von ihnen äußerlichen Prozessen war und ist. Bereits mit der angehenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann in Spanien ein langsamer Entleerungsprozess der Fläche, der sich in den 1960er Jahren beschleunigte. Die großen Abwanderungsbewegungen speziell aus den Gebieten des Großgrundbesitzes im Süden und Westen folgten dem industriellen Aufschwung der 1960er und 1970er Jahre in

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den Großstadtregionen Madrid, Bilbao und Barcelona. Mit der Mechanisierung der Landwirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren erreichte die Landflucht auch die Gebiete Zentralspaniens. Die Gründe für die Abwanderung sind und waren mannigfaltig. Neben singulären Ereignissen, wie dem Bau eines Staudamms oder der Schließung von Bergwerken, steht der schleichende Effekt der K ­ onkurrenz auf dem nationalen und internationalen Agrarmarkt, der Böden zu Grenzertragsböden und die kleine Tierhaltung zu einem Zuschussgeschäft werden lässt. Während Investitionen für nicht-landwirtschaftliche Arbeitsplätze ausblieben, wurde die Kluft in der Lebensqualität zwischen städtischen und ländlichen Gemeinden immer größer, so dass vor allem junge Bildungswanderer nicht mehr in ihre Heimatorte zurückkehrten. Die Konsequenzen sind ähnlich jenen, die man auch aus anderen Randlagen Europas kennt: Die Bevölkerung überaltert, Infrastrukturen und Angebote der Grundversorgung brechen weg, Bildungseinrichtungen sind nicht mehr ausgelastet und schließen. Kleine Gewerbebetriebe und kleinbäuerliche Höfe werden vielfach noch im Nebenerwerb als Familienbetriebe geführt, was männliche Familienmitglieder an den Standort bindet, während die weiblichen in den Städten Ausbildung und Arbeit suchen. Ein deutlicher Männerüberhang ist ein weiteres Merkmal dieser Abwanderungsregionen. Die tägliche Versorgung mit frischen Lebensmitteln ist in vielen kleinen Orten nicht mehr durch Geschäfte abgedeckt, wenn auch viele Orte von mobilen Lieferanten mit frischem Brot, Gemüse und Obst angefahren werden. Der fast völlige Rückzug von Bankfilialen aus der Fläche wird inzwischen teilweise mit öffentlich finanzierten Bankautomaten kompensiert, für die Provinz Valladolid gibt es sogar ein Pilotprojekt für einen mobilen Bankautomaten. Die Marginalisierung des spanischen Binnenraums ist besonders für jene Bevölkerungsgruppen spürbar, die kein privates Fahrzeug nutzen können. Schulkinder, Jugendliche, Behinderte und alte Leute sind auf den öffentlichen Verkehr angewiesen, der aber nicht überall in der Fläche verfügbar ist. Von den größeren Städten gibt es in der Regel Busverbindungen zu den umliegenden Gemeinden, einen Nahverkehr mit der Bahn gibt es dagegen nur im Umfeld der 15 größten Städte des Landes. Nachdem in den Jahren 2014-2018 mehr als 90 % der Investitionen für Bahn-Infrastruktur für Hochgeschwindigkeitsstrecken verwendet wurden, erklärte die Verwaltung für Schieneninfrastruktur 2019, dass 585 Bahnhöfe für

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sie nicht mehr tragfähig seien (López Villodres 2021: 61). Im Zuge der Covid-19-Pandemie wurden vom staatlichen Bahnbetreiber Renfe weitere Linien stillgelegt, oder die Frequenz der Bedienung wurde reduziert. Ob letzteres wieder rückgängig gemacht wird, bleibt dahingestellt. Ein klares Beispiel für die aus diesen Entwicklungen resultierende territoriale Abwärtsspirale ist die Provinz Teruel in Aragonien. Sie hat 134.000 Einwohner; seit 1960 hat sie über 90.000 Einwohner verloren, und sie hat eine Bevölkerungsdichte von neun Einwohnern je km². Die relativ große Provinz (14.804 km²) besteht fast ausschließlich aus Bergland, liegt im Binnenland und an keinem der großen Flusssysteme. Die Provinzhauptstadt ist mit 35.000 Einwohnern die größte Ortschaft, Alcañiz mit 16.000 die zweitgrößte, alle anderen Gemeinden haben weniger als 10.000 Einwohner. Geschlossene Bergwerke und Kohlekraftwerke sind Teil der Geschichte der Provinz. Im Jahr 1999 ist als Reaktion hierauf die Bürgerbewegung ¡Teruel existe! entstanden, die sich für die Wahlen 2019 zu einer Partei formierte und seitdem mit einem Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Mit Streiks, Demonstrationen, Eingaben beim Europaparlament und Märschen in die Hauptstadt Madrid konnte die Bewegung die nationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen und fand mehrere Nachahmer in anderen Provinzen (Soria Ya!, Zamora también existe). In Unterschriftensammlungen, die fast alle Bürger der Provinz unterzeichneten, forderte sie eine Minimum-Ausstattung mit öffentlichen Einrichtungen, Transportmöglichkeiten und Infrastruktur. Inzwischen konnten einige Erfolge verzeichnet werden: 2009 wurde der Autobahnbau zwischen Zaragoza über Teruel nach Valencia abgeschlossen, ein Direktbus nach Madrid wurde eingerichtet, und die Provinz bekam u. a. drei Krankenwagen und einen Sanitätshelikopter mit Intensivbehandlungsmöglichkeit (Pérez ­García-Oliver 2019). Ist eine Revitalisierung des ländlichen Raumes möglich?

Analysten sehen die einzige Chance des ländlichen Raumes in einem dezidierten politischen Willen und in staatlichen Investitionen für Arbeitsplätze, Wohnraum zu geringen Kosten und umfangreichen Infrastrukturmaßnahmen, die die ländliche mit der städtischen Lebensform gleichziehen lassen. Darüber hinaus wären kollektive Organisationsformen notwendig, um nachhaltige Arbeits- und Konsumformen zu entwickeln, die sich nicht

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an der falschen Idylle des Landlebens der Vergangenheit, sondern an zukunftsfähigen Entwicklungen orientieren (Romero Renaud 2018). Einen Schritt in diese Richtung hat die Zentralregierung mit ihrem 130-Punkte-Plan gemacht, einer Absichtserklärung, wie die Politik in den Jahren 2021-2023 auf die „demographische Herausforderung“ reagieren will (MITECO 2021). Die Punkte lesen sich wie die lange Liste der Klagen von jenen fünf Millionen Einwohnern, die in den Weilern der ländlichen Gebiete im Binnenland leben und eine Garantie der Grundversorgung fordern, die ihnen eine akzeptable Lebensqualität bietet. Darunter fallen u. a.: • Die öffentliche Gesundheitsversorgung, die in dünn besiedelten Gebieten oft nur einmal die Woche durch einen Fahrdienst angeboten wird. Besonders die Notfallversorgung muss in entlegenen Dörfern und Weilern neu geregelt werden. • Angesichts der Überalterung dieser Gebiete fehlen Kräfte für die Pflege von Senioren, Behinderten und Kranken, eine Aufgabe, die meist die Frauen der Familien oder der Nachbarschaft übernehmen müssen. • Das Ministerium plant deswegen auch Maßnahmen zur Gleichstellung im ländlichen Raum und zur Verhinderung einer weiteren „Maskulinisierung“ der Bevölkerung. • Bildungseinrichtungen der Vor- und Primarschulstufe sollen, wenn möglich lokal angeboten werden, während Bus-Fahrdienste und digitale Angebote für Ober- und Fachschulen verbessert werden müssen. • In der Erprobungsphase befindet sich die Initiative des Erasmus rural, die ab dem Studienjahr 2021/22 Praktika für Studienabsolventen jeglicher Fachrichtung in von Abwanderung bedrohten Gemeinden finanziert, um die Kommunikation zwischen den Bildungszentren und dem ländlichen Raum zu fördern. • Der Ausbau eines leistungsfähigen Internets ist unumgänglich für die Bildung und die Arbeit am heimischen Arbeitsplatz. Zwar erreicht nach Angaben der Anbieter die Breitbandverbindung 94  % der Bevölkerung, Glasfaserverbindungen jedoch erst 80 % (Stand 2020). • Eine Verbesserung der Verkehrsanbindungen an regionale und nationale Zentren durch den öffentlichen Verkehr wird angestrebt; dabei sollen flexible Lösungen wie Carsharing, Busservice on demand oder digitale Plattformen zur nachbarschaftlichen Kooperation (wie das System Kudea in Navarra) zum Einsatz kommen (https://kudeaservicios.com/).

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• Darüber hinaus verspricht das Ministerium u. a. Maßnahmen für einen Übergang zu ökologischen Wirtschaftsformen und einem nachhaltigen Tourismus, eine Förderung von Betriebsgründungen auf dem Land sowie den Ausbau erneuerbarer Energien (MITECO 2021). Die mediale Aufmerksamkeit für das entleerte Spanien hat inzwischen zu einer Fülle kleinerer und größerer lokaler Initiativen geführt, die punktuell neue Entwicklungen anstoßen. Es werden lokale Kooperativen gegründet, Bauernmärkte eingerichtet, Handwerk und Kunsthandwerk neu belebt. Und mancherorts werden alte, schon tot geglaubte Gewerbe revitalisiert und neu vermarktet, wie z. B. die Herstellung von Gourmet-Salz in den Salinen von Añana (Alava) oder in Oliete (Teruel) die Initiative apadrina un olivo. Diese Non-Profit-Organisation wurde 2014 von jungen Ex-Bewohnern des 343-Seelen-Dorfes ins Leben gerufen, um das Kapital der Gemeinde in Wert zu setzen: Auf den verlassenen landwirtschaftlichen Flächen des Ortes stehen 100.000 alte Ölbäume. Bislang konnten etwa 6.000 Ölbaum-Paten gefunden werden, mit deren Beiträgen zwölf Stellen für die Pflege von etwa 15.000 dieser Ölbäume finanziert werden. Das Projekt versorgt die Paten mit ökologisch hergestelltem Olivenöl und trägt zum bescheidenen Tourismus des Ortes bei. Durch den Zuzug der jungen Arbeitskräfte und ihrer Familien konnten in den letzten Jahren die Grundschulen des Dorfes und seines Nachbardorfes vor der Schließung bewahrt werden (https://apadrinaunolivo.org). Nicht nur Privatinitiativen, sondern auch Gemeindeverwaltungen suchen neue Wege, um ihre Orte am Leben zu halten. So haben zum Beispiel die beiden Gemeinden Almaraz de Duero (Zamora) und Cubo de Don Sancho (Salamanca) mit jeweils 400 Einwohnern verlassene Flächen übernommen und das magere Gemeindebudget in gemeindeeigene Viehhaltungen gesteckt, die sich inzwischen finanziell tragen, einige Arbeitsplätze geschaffen haben und die Ländereien der Gemeinden durch das Abweiden und Bewirtschaften vor dem Verwildern bewahren, womit auch das Brandrisiko verringert wird (Camazón 2021). Ob die Landwirtschaft in Zukunft dazu dient, Bevölkerung an den ländlichen Raum zu binden, ist fraglich. Die moderne industrialisierte Form der Agrarwirtschaft braucht wenige Arbeitskräfte. Regional ist zwar zu Erntezeiten ein hoher temporärer Personaleinsatz notwendig, er wird aber allzu häufig mit illegal beschäftigten Erntehelfern besetzt und bindet nur begrenzt eine ständige Bewohnerschaft. Das Beispiel der Großstadt Madrid, die gerade einmal 101 landwirtschaftliche Betriebe aufweist, aber

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mehr als 10.000 Anträge auf EU-Subventionen gestellt hat (2018), beweist, dass Landwirte heutzutage nicht mehr unbedingt auf dem Land wohnen müssen. Die Ansiedlung großer Viehhaltungsbetriebe scheint sich sogar negativ auf das Bevölkerungswachstum auszuwirken, wie eine Studie von Ecologistas en Acción feststellte. Danach haben fast alle kleineren Gemeinden mit Betrieben der intensiven Schweinezucht in den letzten 20 Jahren überproportional viel Bevölkerung verloren (Rejón 2021e). Auch die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur hat zwei Seiten. Einerseits ermöglicht sie zwar eine bessere Versorgung des ländlichen Raumes, indem sie Fahrzeiten von den und in die größeren Zentren vermindert, sie bringt aber nicht unbedingt mehr Bevölkerung aufs Land. Beispielsweise hat die Stadt Calatayud mit 20.000 Einwohnern in den letzten zehn Jahren 1.900 Einwohner verloren, obwohl sie über einen guten Autobahnanschluss und eine AVE-Haltestelle verfügt (Urquizu 2021: 6). Entscheidungsträger in ländlichen Gebieten unterscheiden deshalb zwischen Maßnahmen, die die Lebensqualität ihrer Bewohner verbessern, und solchen, die die Attraktivität eines Wohnsitzes auf dem Land steigern. Jüngste Untersuchungen weisen zwar nicht darauf hin, dass mehr Menschen zurück aufs Land ziehen, aber sie belegen die Existenz eines ständigen Austauschs und sich angleichender Lebensformen. Rund sechs Millionen spanische Familien haben Zweitwohnsitze bzw. eine ererbte Wohnstätte auf dem Land, aber gleichzeitig unterhalten auch viele Landbewohner eine Stadtwohnung. Befragungen haben ergeben, dass die temporären Aufenthalte − je nach Altersgruppen unterschiedlich lang − in kleinen Gemeinden für die meisten Städter 40-60 Nächte pro Jahr betragen, umgekehrt Landbewohner sogar bis zu 80 Nächte im Jahr in der Stadt verbringen. Besonders unter den Rentnern gibt es eine große población flotante. Zahlen der Pendlerbewegungen zeigen ebenfalls die fließenden Übergänge von städtischen und ländlichen Lebensformen: Ähnlich viele Arbeitspendler fahren täglich von ländlichen Gemeinden in städtische, wie umgekehrt (Camarero 2020: 67 f.). Ländlicher Raum und Globalisierung

Studien über die Ursachen der Entleerung des ländlichen Raumes machen das kapitalistische Wirtschaftssystem dafür verantwortlich, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft und ländliche Handwerksbetriebe nicht mehr

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rentabel sind. Die Globalisierung der Märkte, der flexible Einsatz von Arbeitskräften und der beständige Trend zur Mechanisierung machen es unmöglich, ein Auskommen auf traditionelle Weise zu verdienen. Die Kapitalisierung der Landwirtschaft gleicht einem Rauswurf der bislang daran Beteiligten. Romero Renau (2018) zeigt deutlich auf, welche Rolle dem ländlichen Raum in diesem System noch zukommt: die Bereitstellung von natürlichen Ressourcen, d. h. von Nahrungsmitteln, Wasser und Energie, die Ablagerung und Beseitigung von Abfällen und Schadstoffen sowie die temporäre Freizeitnutzung für Touristen und Einheimische. So, wie die kapitalistische Globalisierung in den letzten Jahrzehnten eine Polarisierung von Weltregionen bewirkt hat, haben sich auch innerhalb der Länder die davon profitierenden und die dadurch marginalisierten Gebiete herausgebildet. Während die großen Metropolregionen im Konzert der liberalisierten Wirtschaftskonkurrenz mitspielen und die Konzentration von Menschen und Aktivitäten zu Kongestionen, Verkehrskollaps und explodierenden Mietpreisen führt, fallen andere Gegenden des nationalen Territoriums in Vergessenheit, verfallen und entleeren sich. Die Geografin Molina Ibáñez hält jedoch die polarisierte räumliche Entwicklung nicht allein für das Resultat der Globalisierung, sondern auch für ein Produkt einer nationalen Wachstumsstrategie, die nicht territorial differenziert, sondern einzig auf nationale Indikatoren blickt. Das Bruttoinlandsprodukt muss stimmen; wo es produziert wird, ist sekundär. Sie sieht gesellschaftlich jedoch auch gegenläufige Tendenzen: in neuen Qualitätsstandards für Lebensmittel, im Energiesektor sowie in der steigenden Wertschätzung von Freiraum, Umweltqualität, Naturerlebnis und Ruhe. „Den Markt und die staatlichen Aktivitäten unter einer territorialen Perspektive in Einklang zu bringen, mit dem Ziel, die aktuellen großen sozioökonomischen Kontraste [...] aufzuheben, das, so glauben wir, könnte die große Herausforderung für das 21. Jahrhundert sein.“ (Molina Ibáñez u. a. 2009: 86; Übers. S. Tz.). Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen internationale Vergleiche, die überall auf der Welt places that don‘t matter (Rodríguez-Pose 2018) identifizieren. Eine Lösungsstrategie für marginalisierte Regionen kann nicht in finanzieller Unterstützung und Wohlfahrt bestehen, sondern muss die gering verdichteten Zonen eines Landes als eine gleichberechtigte Lebensform akzeptieren und die lokalen Potenziale nutzen und entwickeln (Camarero 2020: 70).

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Landwirtschaft

Der Reiz der spanischen Kulturlandschaft ist eng verbunden mit ihrer traditionellen agrarischen Nutzung. Klangvolle Landschaftsnamen stehen für Gebiete mit den tradierten mediterranen Landnutzungen, wie die für ihre Wein- und Ölbaumkulturen bekannte Campiña de Córdoba oder die Tierra de Campos mit ihren ausgedehnten Getreideflächen in Kastilien und León. Sie bilden die ehemaligen landwirtschaftlichen Gebietseinheiten ab, die Comarcas, deren Entstehung auf gemeinsame geografische Merkmale und historische Bewirtschaftungsformen zurückgeht. Spanien ist und war schon immer ein Agrarland. Die Landwirtschaft prägt über 50 % der Landesfläche, und 2,7 % des Bruttoinlandsproduktes stammen aus dem Agrarsektor, ein Wert, der fast doppelt so hoch ist wie der EU-Durchschnitt (1,4 %), der in den letzten 20 Jahren jedoch deutlich gefallen ist (2000: 3,9 %). Der Sektor beschäftigt 750.000 Personen und damit etwa 4 % der Arbeitskräfte des Landes (Estéve Bargués/Antón Oller 2019: 9-11). Rund 300.000 km² Spaniens gelten als landwirtschaftlich nutzbares Land, 232.300 km² werden faktisch bewirtschaftet (Superficie Agrícola Utilizada), 76.160 km² sind Dauerweideland. Es gibt 945.000 landwirtschaftliche Betriebe mit einer durchschnittlichen Größe von 25 ha je Betrieb. Über 50 % der Betriebe verfügen über weniger als fünf Hektar Land, 5,6 % hingegen über mehr als 100 ha (INE Database nach dem letzten Agrarzensus 2016).1 Die prominentesten Landwirtschaftsprodukte sind Oliven und Olivenöl (2,7 Millionen ha), Obst (1,1 Millionen ha) sowie Zitrusfrüchte (268.000 ha), Wein und Tafeltrauben (877.000 ha), Gemüse (385.000 ha) und Getreide mit sechs Millionen ha (Daten von 2020, MAPA 2021a). Besonders seit dem EG-Beitritt Spaniens im Jahr 1986 unterliegt der Sektor einem starken Wandel. So gibt es z. B. im Gemüseanbau extrem landschaftsprägende regionale Spezialisierungen, allen voran in der Küstenebene der andalusischen Provinz Almería, dem Campo de Dalías, und den nur wenig entfernten Niederungen Hoya de Berja und Campo de Níjar mit gemeinsam rund 60.000 ha bewässerten Frühgemüsekulturen, 80 % davon unter Plastikzelten, die sich aus der Luft als eine fast ­flächendeckende 1

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Die Ergebnisse des Agrar-Zensus (2020) werden erst im Jahr 2022 publiziert werden. Entsprechend beziehen sich die offiziellen Angaben auf den letzten Agrarzensus von 2016.

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weiße Bedeckung ausnehmen. Eine ähnliche Spezialisierung gibt es in der Provinz Huelva in Andalusien, wo auf etwa 10.000 ha Erdbeeren, Himbeeren und Kulturblaubeeren angebaut werden. Auch im Bereich der Tierhaltung sind Veränderungen zu verzeichnen, die − wenn auch weniger sichtbar − Einfluss auf das Landschaftsbild haben. Hier sind besonders die Schweinezucht und die Kampfstierzucht hervorzuheben. PAC – die EU-Agrarpolitik

Angesichts der geringen durchschnittlichen Betriebsgrößen konnte Spanien bezüglich der Mittel der EU-Agrarpolitik eine Sondervariante durchsetzen, die sich auf die den Betrieben 1999-2003 gezahlten EU-Subventionen für die Agrarproduktion bezieht. Anhand dieser hat Spanien 50 Agrarregionskategorien und 316 Agrar-Subregionen (Comarcas) abgegrenzt, denen Basiswerte von Zahlungsrechten zwischen 90 und 500 € je Hektar zugewiesen sind, wobei innerhalb dieser neuen Agrar-Comarcas die angestammten Rechte individueller Besitzungen enorm schwanken. Die von der Agrarpolitik angestrebte sukzessive Vereinheitlichung der Subventionen orientiert sich jeweils am Durchschnittswert einer Region, so dass eine agrarische Parallelgeografie entstanden ist, deren höchste Bewertungszonen im Bereich der Bewässerungskulturen im Guadalquivirbecken liegen, die niedrigsten im nordspanischen Bergland und der Nordmeseta. Diese regionale Diskriminierung, die dauerhaft diejenigen bevorteilt, die schon vor 20 Jahren höhere Einkünfte hatten, ist einzigartig in der EU, deren andere Mitgliedstaaten einige wenige Regionstypen differenzieren und in denen es in den meisten Fällen (wie in Deutschland) seit 2019 eine landesweit einheitliche Bewertung der Flächen in Hinblick auf die EU-Agrarsubventionen gibt. In Spanien will man das 2029 erreichen, wobei es aber vehemente Widerstände der höher bewerteten Regionen gibt (Tudela/Delgado 2021). Agroindustrie

Spanien ist der viertgrößte Exporteur von Agrarprodukten in der EU und der siebtgrößte der Welt. Während das Land im restlichen Europa bis vor wenigen Jahren überwiegend als Exporteur von Obst und Gemüse bekannt war, sind heute spanischer Schinken, Käse aus La Mancha oder

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das andalusische Olivenöl nicht mehr aus den Regalen der europäischen Supermärkte und den Gourmet-Theken wegzudenken. 192 dieser Produkte haben auf europäischer Ebene geschützte Ursprungsbezeichnungen, vom Schinken aus Jabugo bis hin zum Cabrales-Käse aus Asturien (2019). Das Agrobusiness hat für Spanien eine hohe Bedeutung. Die Lebensmittelverarbeitung ist der wichtigste Industriesektor (23,4% der industriellen Wertschöpfung) und damit bedeutender als der Fahrzeug- und Maschinenbau und der Energiesektor (INE 2019: 42). Die mehr als 30.000 Betriebe haben insgesamt über eine halbe Million Beschäftigte, fast alle weniger als 50, drei Viertel sogar unter 10 (MAPA 2021b). Dabei ist die Fleischverarbeitung mit Abstand der größte Produzent (24,3 % der Wertschöpfung), die Ölherstellung trägt wiederum nur 8 % zu dem Sektor bei, obwohl Spanien der größte Olivenöl-Produzent der Welt ist. 2020 wurden hier 1,4 Millionen Tonnen Olivenöl produziert, zwei Drittel davon für den Export, der jedoch mit einem Finanzvolumen von 2.961 Millionen € ebenfalls hinter den Schweinefleisch-Export (5.651 Millionen €) zurückfällt. An dritter Stelle des Exportvolumens steht mit 2.622 Millionen € der Wein (MAPA 2021b: 5). Ölbäume und Olivenöl

In weiten Landstrichen Spaniens prägen Ölbaumkulturen das Landschaftsbild. In den traditionellen Anbaugebieten Andalusiens, Aragoniens und der Levanteküste stehen auf einem Hektar Land 80 bis 120 Bäume, Baumschnitt und Ernte werden per Hand durchgeführt, und die häufig bergigen Flächen sind nur bedingt mit Traktoren zu bewirtschaften. Die Erträge im Trockenbau liegen zwischen 1.000 kg und 4.000 kg Oliven pro Hektar und Jahr, je nach Relief, Lokalklima und Witterung. Allein in der andalusischen Provinz Jaén gibt es 550.000 ha traditionelle Ölbaumkulturen auf meist kleinen Parzellen von ein oder zwei Hektar. Hier wird in Kooperativen ein Viertel des spanischen Olivenöls produziert, in der Erntesaison werden acht Millionen Arbeitseinsatz-Tage von Erntehelfern benötigt. Die traditionell bewirtschafteten Flächen weisen über die Zeit nur geringe Schwankungen in ihren Erträgen auf und haben in Bezug auf die EU-Agrarsubventionen niedrige Basiswerte, was sie nur wenig konkurrenzfähig macht. Seit Beginn des Jahrtausends werden deshalb traditionelle Kulturen des Trockenbaus wie Mandel- oder Ölbäume verstärkt als

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Intensivkulturen angelegt und bewässert. Von den rund 2,7 Millionen ha, die in Spanien für Ölbaumkulturen genutzt werden, werden inzwischen 890.000 ha bewässert. Seit dem Jahr 2000 haben sich die Bewässerungsflächen verzehnfacht. Tab 2. Ölbaumkulturen 2020 Anbauform Traditionell, starkes Relief, Trockenbau Traditionell, moderates Relief, Trockenbau Traditionell, moderates Relief, Bewässerung Intensivanbau, Trockenbau Intensivanbau, Bewässerung Super-Intensivanbau in Hecken, Bewässerung Gesamt

ha 583.000 821500 477.000 356.425 332.575 79.500 2.650.000

Prozent 22 31 18 13,4 12,6 3 100

Quelle: Asociación Española de Municipios del Olivo. Nach Tudela/Delgado 2021.

Dieser Trend zur Bewässerung beschränkt sich nicht nur auf Neupflanzungen. Seitdem während der Trockenperiode der frühen 1990er Jahre der gefundene Grundwasserleiter der Region um Úbeda zur vorübergehenden Bewässerung der alten Ölbäume der Region angezapft wurde, begann man auch im Bergland, alte Ölbäume zu bewässern und damit ihre Erträge zu steigern (Tudela/Delgado 2021). Die modernen Intensivpflanzungen von Ölbäumen in Bewässerungskultur befinden sich dagegen auf relativ flachen Geländen und werden maschinell bewirtschaftet und abgeerntet. Große Flächen der ehemaligen Getreide-, Baumwoll- und Gemüsekulturen in der fruchtbaren Campiña von Córdoba werden heute von Ölbaumpflanzungen eingenommen. Die Kulturen bestehen aus langen, dicht bepflanzten Reihen in ca. vier Meter Abstand. Je Hektar werden 1.500-2.300 Bäumchen gepflanzt, und das Erntevolumen kann 8 bis 18.000 kg Oliven je Hektar betragen, was um die 2.000 bis 4.000 Liter Öl ergibt (https:// excelentesprecios.com/olivar-superintensivo). Der Wasserverbrauch dieser Anlagen ist enorm und wird oft aus dem Grundwasser gepumpt − nicht immer legal. So wurden in den letzten Jahren in der sogenannten Wüste von Tabernas mit einem jährlichen Niederschlag von maximal 240 mm zwischen den Orten Tabernas, Sorbas und Uleila del Campo 4.700 ha solcher Ölbaum-Intensivkulturen angelegt, die jährlich 16,9 hm³ aus der Erde gepumptes Wasser verbrauchen, wobei jedoch schon mit 5,6 hm³

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das Limit für die Erhaltung des Grundwasserleiters erreicht wäre (Rejón 2020). Trotz dieser absehbaren Limitierungen durch das Wasserregime expandiert der Olivenöl-Sektor derzeit weiter, obwohl es bereits in der Saison 2019/20 zu Überproduktionen kam. Wein

Der Weinbau hat in Spanien eine genauso lange Tradition wie der Anbau von Ölbäumen, aber noch Ende des letzten Jahrhunderts wurden spanische Weine im Ausland nicht sehr hoch geschätzt. Spanien hat jedoch mit einem Anteil von 30% die größte Weinbaufläche Europas, vor Frankreich und Italien. Alle 17 Autonome Gemeinschaften produzieren Wein, wenn es sich auch in Kantabrien und Asturien um sehr kleine Flächen handelt (drei resp. 25 ha). Noch um 1980 betrug die gesamte Weinbaufläche Spaniens 1,65 Millionen ha. Seitdem hat sich der Wert um über 40 % reduziert und liegt seit den letzten zehn Jahren bei rund 950.000 ha. Nur in der Rioja und im Baskenland gab es einen Zuwachs an Flächen. In Kastilien-La Mancha dagegen, wo die Hälfte der spanischen Weinbaufläche liegt, wurden in den letzten vier Jahrzehnten rund 300.000 ha stillgelegt (OEMV 2021a: 1-5). Auf etwa 90 % der Flächen werden Weine mit dem Prädikat Denominación de Origen Protegida (D.O.P.) angebaut, das Herkunftsregion und Qualitätskontrolle garantiert. Es gibt 96 Gebiete, die diese Bezeichnung tragen, das größte davon, La Mancha, umfasst über 150.000 ha. Etwa 55 % der Fläche entfällt auf den Anbau von Rotweinen. Auf 121.000 ha wird ökologischer Anbau betrieben (2020) (MAPA 2021a). 2018 produzierte Spanien rund 45 Millionen hl Wein, 2020 etwa 38 Millionen hl, d. h. jeweils knapp 1/4 der gesamten europäischen Weinproduktion. Während zum Zeitpunkt des EG-Beitritts 4,4 Millionen hl exportiert wurden, ist Spanien 2020 mit über 20,24 Millionen hl nach Italien (20,83 Millionen hl) der zweitgrößte Wein-Exporteur der Welt. Entscheidend für diese enorme Steigerung ist nicht nur die Qualitätsverbesserung der spanischen Weine, sondern auch ihr geringer Preis, der im Durchschnitt ein Drittel resp. ein Fünftel dessen beträgt, was für italienische bzw. französische Weine verlangt wird (OEMV 2021b: 1). Die spanische Weinbaulandschaft verändert sich ständig. Während sich die Flächen auf die besten Standorte reduziert haben, sind ­Produktion

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und Exportvolumen gestiegen. Hier zeigt sich ein ähnlicher Wechsel wie in anderen Sektoren. Der Anteil an bewässerten Weinbauflächen ist seit 2008 von 30 % auf 41 % angestiegen (OEMV 2021a: 7), die Qualität der Weine wird stetig verbessert und ausdifferenziert. Viele der alten Trockenbau-Weingärten liegen dagegen brach und verwildern. Über kurz oder lang werden die alten Weinstöcke, deren Wuchs niedrig am Boden gehalten wurde, damit die Pflanzen ihren eigenen Wurzeln Schatten spenden konnten, herausgerissen. Stattdessen werden die Felder begradigt, die Rebstöcke zur bequemeren, teilweise mechanisierten Ernte hochgezogen, und es werden Schläuche zur Tröpfchenbewässerung verlegt. Optisch ins Auge fallen zudem die repräsentativen Bauten der größten von den insgesamt 4.300 Kellereien, ein Hinweis auf den zunehmenden Weintourismus im Land. Borstenvieh im großen Maßstab

Seit 2015 hat Spanien Deutschland als größten Schweinezüchter Europas abgelöst. 2020 wurden 56,1 Millionen Tiere geschlachtet und fünf Millionen Tonnen Schweinefleisch produziert. Die Zahl der Tiere ist in den letzten zehn Jahren um fast 30 % gestiegen, und die Schweinefleisch-Produktion stellt 14 % der gesamten spanischen Agrarproduktion. Nachdem seit 2007 fast 23.000 Betriebe der Schweinezucht verschwunden sind bzw. von den 11.586 neu entstandenen aufgekauft wurden, gibt es 88.437 Betriebe (2020), 78  % davon mit intensiver Schweinemästung in geschlossenen Stallungen mit mechanisierter Futterzufuhr. Sie funktionieren nach dem Prinzip der vertikalen Integration, d. h. ein Mutterkonzern stellt die Tiere, das Futter, die sanitäre Kontrolle, die Schlachtung und die Vermarktung; der Landwirt zieht die Tiere in der vereinbarten Zeit groß und erhält einen Fixpreis pro Schwein. Die national festgelegten Grenzen nach oben liegen bei 6.000 Tieren je Betrieb, ein Wert, der regional um bis zu 20 % variiert werden darf. Das bedeutet, dass in einem Betrieb bis zu 7.200 Mastschweine (20-120 kg) oder 2.880 Muttersäue (mit 25-27 Ferkeln/Jahr) gehalten werden können. Und das im Fall der Mastschweine dreimal im Jahr, denn der durchschnittliche Mastzyklus beträgt nur 100-120 Tage (Tudela/Delgado 2021). Der Sektor erhält diverse Hilfen aus EU-Förderprogrammen, z.  B. für technologische Neuerungen, für Anpassungsmaßnahmen an den

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i­nternationalen Markt oder für Maßnahmen, die dem Klima zugutekommen. Kastilien-La Mancha fördert die Schweinezucht als einen strategischrelevanten Sektor in seinem Plan de Desarollo Rural, der durch die EU mittels des europäischen Agrarfonds subventioniert wird. Von der gesamten Fleischproduktion werden etwa zwei Drittel exportiert, der Inlandskonsum beträgt aber gut 50 kg pro Person/Jahr. Öffentliche Erklärungen des Ministers für Konsum, Alberto Garzón, sorgten im Juli und Dezember 2021 für mediale Aufmerksamkeit und Polemik. Er rief zu einer Verringerung des Fleischkonsums auf und verwies auf den Methangasausstoß der Viehzucht sowie den Wasserverbrauch von 15.000 Litern für die Produktion für einem Kilogramm Fleisch (#MenosCarneMásVida). Zudem gab er zu bedenken, dass die Fleischqualität von Tieren der macrogranjas deutlich schlechter sei als die von Tieren der extensiven Landwirtschaft. Die regionale Konzentration so vieler Großbetriebe − in den Medien als Macrogranjas betitelt − ist auf mehreren Ebenen zu spüren. Zum einen trägt die Viehzucht in Spanien fast 15  % zum Treibhauseffekt bei, wobei allein die Schweinezucht für 14 % des Methanausstoßes verantwortlich ist. Zum anderen ist das Gülleaufkommen beträchtlich, es variiert zwischen zwei und sechs m³/Jahr je Tier und wird in den Großbetrieben in Auffangbecken gesammelt, aus denen unterschiedliche umweltschädliche Gase (Methan, Amoniak) aufsteigen und deren Geruchsbelästigung für die Umgebung nicht unerheblich ist. Letzteres wirkt sich negativ auf die Wohnqualität in den Anliegergemeinden aus und gilt zudem als unvereinbar mit dem Tourismus. Die Verwendung als Dünger auf den umliegenden landwirtschaftlichen Flächen führt zu einem erhöhten Nitrateintrag und macht sich über kurz oder lang im Grundwasser bemerkbar. Im zentralen Aragonien musste im Jahr 2019 eine Reihe von Gemeinden mit Trinkwasser aus Tankwagen versorgt werden, weil der Nitratgehalt im Trinkwasser die erlaubte Konzentration überstieg. In vielen Orten und sogar in Barcelona wird zeitweise Amoniak in der Luft registriert, ebenfalls eine Auswirkung der Viehzucht. Auch der ökologische Kollaps des Mar Menor in Murcia, zum großen Teil den nitratverseuchten Süßwasser-Einträgen geschuldet, geht u.  a. auf die großen Schweinezuchtbetriebe der Region (etwa 1.400) zurück. Nachdem die EU-Kommission im Jahr 2020 Spanien wegen des hohen Nitratanteils im Grundwasser abgemahnt hat, werden staatlicherseits Alternativen gesucht. U. a. wird die Verwendung der Gülle in Biogasanlagen gefördert.

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Dehesas – Schweine und Kampfstiere

Andere Formen der Schweine- und Rinderhaltung gibt es insbesondere im niederschlagsarmen Westen des Landes auf den sogenannten Dehesas, dünn mit Stein- oder Korkeichen bewaldete Ländereien auf wenig ertragreichen Böden, die überwiegend zur Weidetierhaltung genutzt werden. Je nach Definition gibt es in Andalusien, der Extremadura, den beiden Kastilien und Madrid 3,5 bis 5 Millionen ha Dehesas bzw. Weideland mit Baumbestand (AVATMA 2020), fast ausschließlich im Grundbesitz großer Landgüter in Streulagen. Sie entstanden im Mittelalter im Zuge der Reconquista als private Besitztümer, die sich von den breiten Trassen der Transhumanzwege der Schafzüchter abschirmten. Seit dem 18. Jahrhundert wird auf den Dehesas die Zucht der Kampfstierrasse toros de lidia betrieben. Es gibt um die 1.300 Betriebe, die Kampfstiere züchten, 203.000 Tiere dieser Rasse sind in den Zuchtbüchern registriert (2019). Angesichts des sinkenden gesellschaftlichen Interesses am Stierkampf sind diese Zahlen allerdings rückläufig. Gab es 2007 noch 3.651 Stierkampf-Veranstaltungen − Corridas, mit sechs Stieren (für die jeweils sieben vier- bis fünfjährige Stiere angekauft werden) sowie Novilladas mit ebenso vielen dreijährigen Jungstieren − waren es 2019 nur noch 1.425 (López Canales 2021). Hinzu kommen die über 17.000 landesweiten Feste, bei denen Kampfstiere und -kühe jeden Alters in irgendeiner Form eine Rolle spielen, z. B. Hetzjagden durch die Straßen, Schaukämpfe, Mutproben für die Jugend u. ä. (Tena 2020). Im Jahr 2020, als wegen der Covid-19-Pandemie alle Veranstaltungen ausfielen, sprach man von 54.000 gefährdeten Arbeitsplätzen und ausbleibenden Einkommen in Höhe von 1.500 Millionen Euro (Gutiérrez 2020: 36). Diese Summe enthält nicht die entfallenden Einkünfte für die Züchter, die ihre drei- bis fünfjährigen Stiere in diesem Jahr nicht verkaufen konnten. Jenseits dieses Alters sind die Tiere nur noch Schlachtvieh, was gerade einmal 10 % ihrer Produktionskosten einbringt. Allerdings flossen in dieser Zeit − über die üblichen EU-Agrarsubventionen hinaus − stattliche regionale Unterstützungen für die Tierhalter. Auf den Kanarischen Inseln ist der Stierkampf seit 1991 gesetzlich verboten, in Katalonien seit 2012, und in vielen anderen Regionen findet aus Mangel an Interesse faktisch keiner mehr statt (z.  B. Galicien, Asturien). Stierkampfveranstaltungen gelten inzwischen indes als Credo für konservative Bevölkerungsschichten, und so haben die Zentralregierung

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(2013) wie auch die Regionen Murcia, Madrid und beide Kastilien den Stierkampf und die damit verbundenen Feste zum zu schützenden Kulturgut erklärt (Bien de Interés Cultural Inmaterial). Die Stierzüchter-Union beklagt den Rückgang des Interesses am Stierkampf sowie die im Oktober 2020 vom EU-Parlament beschlossene Streichung von Agrarhilfen für die Zuchtbetriebe der toros de lidia und rühmt vielmehr die hohe Bedeutung ihrer Tierhaltung für den Erhalt der Kulturlandschaft Westspaniens und deren Biodiversität. Der Verband der Tierärzte gegen den Stierkampf und die Misshandlung von Tieren (AVATMA) hält dagegen, dass keine 10 % der Dehesas für die Kampfstierzucht genutzt werden (ca. 300.000 ha), 1,2 bis 1,5 Millionen ha dagegen als Weideland für die halbwilden Iberischen Schweine, und zwar in dem Maße zunehmend, in dem der spanische Eichelmast-Schinken international beliebt und als Gourmet-Exportgut geschätzt wird. In der Tat hängt die Biodiversität der Kulturlandschaft von diesen etwa 10  % der spanischen Landesfläche an der extensiven Viehhaltung und ihren 25.000 Betrieben. Ohne eine Bewirtschaftung würden diese Landstriche verbuschen, für eine reine Agrarwirtschaft fehlen die Niederschläge, und die Qualität der Böden reicht nicht aus. Die Weidewirtschaft von Rindern, Schweinen, Ziegen und Schafen unterstützt dagegen die Artenvielfalt der Flora und kommt nicht in Konflikt mit der großen Zahl an Wildtieren (218 Vogelarten, 61 Säugetierarten, 38 Reptilien- und 19 Amphibienarten) (AVATMA 2020). Neben dem steigenden Exportvolumen an hochpreisigem EichelmastSchinken des Iberischen Schweins sprechen auch andere Entwicklungen gegen eine baldige massive Aufgabe der Dehesas. Noch ist die große Bedeutung der Jagd in Gebieten des spanischen Großgrundbesitzes ungebrochen. Auf über 80 % des spanischen Territoriums kann gejagt werden, und es gibt − vorwiegend in den Regionen mit Dehesas − zahlreiche Landgüter mit Flächen von über 10.000 ha, die einzig der Jagd vorbehalten sind (Oliveros/Hernández Soria 2016). Auf vielen Dehesas werden bereits Wildtiere zur Jagd gezüchtet (in ganz Spanien von über 800 Betrieben), und fast alle Dehesas, auf denen keine Kampfstiere weiden, werden bejagt. Der Verkauf von Landgütern in diesen Regionen als Prestigeobjekte an Politiker und den Finanzadel hat Konjunktur, die Zahl der Fincas, die als Luxus-Touristenquartiere angeboten werden, steigt stetig (AVATMA 2015, 2020).

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Wasser – ein umkämpftes Gut

Die landwirtschaftliche Nutzung hängt in hohem Maße an der Verfügbarkeit von Wasser, und die neuen, landschaftsverändernden Pflanzungen umso mehr. Das Wasserregime Spaniens war zu Zeiten der maurischen Besiedlung eine hohe Kunst, heute spielen sich regelrechte Verteilungskämpfe ab, da zum einen den Bedürfnissen von Verbrauchern und Industrie in den urbanen Zentren entsprochen werden muss, zum anderen jedoch die Nachfrage der Landwirtschaft ständig steigt. Das starke Relief ermöglicht es vielerorts, Stauseen anzulegen, die − vermehrt in der Zeit der FrancoDiktatur − als große Infrastrukturmaßnahmen zur Generierung von Wasserenergie und für ehrgeizige Bewässerungsprojekte vor allem im Westen des Landes gebaut wurden. In Spanien gibt es heute über 1.000 Stauseen, davon 109 mit einer Kapazität von über 100, weitere acht mit einer Kapazität von mehr als 1.000 hm³. Zusammen haben sie eine Speicherkapazität von 56.136 hm³, die im langjährigen Mittel maximal zu 80 % ausgelastet sind, in den letzten drei Jahren (2019-2021) jedoch lediglich Höchststände von um die 68  % erreichten (www.embalses.net). Angesichts der im Binnenland extrem trockenen Luftverhältnisse verdunsten zudem große Wassermengen über die Oberflächen dieser Stauseen, und das angesichts der steigenden Temperaturen mit zunehmender Tendenz (González Briz/ Martín Barajas 2019: 6). Die Lage großer Teile Spaniens in Bezug auf die Sonnenscheindauer und -intensität begünstigt das Wachstum von Obst und Gemüse über eine lange Wachstumsperiode. Die Verteilung der Sonnenscheindauer ist jedoch gegenläufig zu der der Niederschlagsmengen: Im Norden und Nordwesten erreicht sie maximal 1.800 Stunden/Jahr, im Binnenland schwankt der Wert um 2.400 Stunden, und im Süden können bis zu 3.000 Stunden erreicht werden. Deshalb sind die großen Flächen des Intensivanbaus von Obst und Gemüse insbesondere an der südöstlichen Mittelmeerküste entstanden − der Region mit den geringsten Niederschlägen des Landes. Man spricht hier von einer „Geografie des Geldes“, die wenig Rücksicht auf ökologische Folgewirkungen nimmt. Die Landwirtschaft verbraucht bis zu 85 % des vorhandenen Wassers zur Bewässerung, und die Nachfrage kann schon längst nicht mehr vollständig befriedigt werden. Seit Jahren wird vor dem drohenden „Wasser-Kollaps“ gewarnt, der aus dem Zusammenspiel von geringen Niederschlägen, Überpumpen des Grundwassers, Erhöhung des Brauchwasserverbrauchs infolge des

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­ ourismus sowie der ständigen Erweiterung der landwirtschaftlichen BeT wässerungsflächen resultiert. Bereits Ende 2020 zeichnete sich ab, dass der Wasserbedarf in den Einzugsgebieten des Guadiana, des Guadalquivir und des Segura, in denen die Staudammkapazitäten jeweils nur zu einem Drittel erreicht wurden, unabhängig von den eventuell fallenden Niederschlägen in den Folgejahren nicht gedeckt werden könnte. In den entsprechenden Regionen (Andalusien, Kastilien-La Mancha, Extremadura und Murcia) ist in den letzten zehn Jahren die Bewässerungsfläche um 15 % gewachsen eine Tendenz, die kaum aufzuhalten ist angesichts der Tatsache, dass Bewässerungskulturen etwa den sechsfachen Ertrag von Trockenbaukulturen erbringen (Martín Arroyo 2020). Die erhöhte Effizienz der Bewässerungstechnologie, die in den letzten Jahren erreicht wurde, ermöglicht zwar − bei einer Versiebenfachung des Energieeinsatzes − eine Wasserersparnis von 27 %, aber aufgrund festgelegter Zuteilungsmengen wird das ersparte Wasser von den Landwirten in der Regel zur Intensivierung weiterer Anbauflächen verwendet. Ein Beispiel ist die Comarca Axarquía in der Gegend um Vélez-Málaga, in der seit einigen Jahren der Großteil der europäischen Avocados und Mangos angebaut wird. Das subtropische Klima der Zone ist allerdings zu trocken für diese Früchte, so dass kräftig bewässert werden muss. Die Organisation Ecologistas en Acción beklagt den resultierenden Raubbau an der Natur: Nicht nur, dass mit der Verdrängung der angestammten Feldfrüchte, Wein und Zuckerrohr, die Morphologie der Landschaft verändert wird − für die Obstplantagen müssen Flächen begradigt und Terrassen angelegt werden −, es findet zudem ein enormer Wasserverbrauch statt. Jeder mit Avocados bewirtschaftete Hektar braucht 7.000 m³ Wasser im Jahr, der Hektar mit Mangos 5.500 m³. In den letzten Jahren konnten jedoch nur 3.000 m³ je Hektar zugeteilt werden, da die in Frage kommenden Stauseen weit unter ihrer Kapazität gefüllt waren. In der Konsequenz wird Grundwasser gepumpt, oft illegal und über die Grenzen der Regenerierung der Aquifer hinaus (Sánchez 2020). Die Tajo-Segura-Überleitung

Ein zusätzlicher Eingriff in die natürliche Wasserverteilung des Landes ist die Überführung von Wasser des Tajo in den Segura, ein gigantisches ­Infrastrukturprojekt, das bereits 1933 von der Republik beschlossen, aber

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erst unter Franco ab 1969 realisiert und in der Post-Franco-Zeit 1979 abgeschlossen wurde. Dabei wird seit 1978 über eine Entfernung von 292 km Wasser aus den Tajo-Stauseen von Entrepeñas und Buendía in der Provinz Guadalajara in Rohren auf eine Höhe von fast 900 m gepumpt und durch die Mancha und die Sierra de Segura bis ins Hinterland der Küstenebenen von Murcia und Almería geleitet. Die letzten 32 km verlaufen unterirdisch in Rohren in 150-320 m Tiefe. Die Überleitung kann jährlich bis zu 600 hm³ transportieren, die durchschnittliche Menge seit Inbetriebnahme betrug jedoch nur 328 hm³ (Rejón 2021a; MITECO). Seit Jahrzehnten gibt es Proteste gegen das Projekt, nicht nur von den Tajo-Anliegern, für die oft nur ein mageres Rinnsal bleibt, sondern speziell auch von den 22 Gemeinden mit Bewässerungslandwirtschaft in der weiteren Umgebung der beiden Quell-Staudämme, einst als Mar de Castilla gerühmt, deren Wasserstand seit Jahren niedrig ist, weil die abgepumpte Wassermenge in der Regel den Zufluss übersteigt. Zu diesen Protesten gesellen sich derzeit auch die der Betroffenen in den Empfängergemeinden, denn das zuständige Ministerium (MITECO) diskutiert für den nächsten Sechs-Jahre-Plan (2022-2027) eine neue Regelung der Überleitungsmengen, die ein der allgemeinen hydrologischen Situation, den absehbaren Konsequenzen des Klimawandels und den ökologischen Bedürfnissen des Flusses angepasstes Mindestmaß für den Wasserdurchfluss im Tajo garantieren soll (Rejón 2021a; Avilés Pozo/Rejón 2021; CHT 2021). Das Ministerium setzt verstärkt auf mit erneuerbaren Energien betriebene Meerwasserentsalzungsanlagen, deren Bau von der EU gefördert wird, um den Bedarf der Landwirte an der Küste zu decken. So können in Murcia beispielsweise ab 2022 nach Fertigstellung mehrerer Anlagen etwa 400 hm³ entsalzten Wassers genutzt werden, wenn auch der Preis bei derzeit 57 Cent liegt, gegenüber 9 Cent für Wasser der Tajo-Segura-Überleitung (Martín Arroyo 2020). Ökologische Verbände, vornan Ecologistas en Acción, propagieren dagegen die Wiedernutzbarmachung von Brauchwasser sowie die Umstellung auf Pflanzungen mit geringerem Wasserverbrauch (González Briz/Martín Barajas 2019). Regional werden außerdem Lösungen mit kürzeren Wasserüberleitungen gesucht, wie z. B. vom Einzugsgebiet des Guadalfeo in die Bewässerungsgebiete Málagas (Sánchez 2020).

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Wasserqualität

Fast die Hälfte der spanischen Oberflächengewässer − Flüsse, Stauseen und Lagunen − ist von schlechter Qualität. Ihre Erwärmung sowie der hohe Eintrag von Düngemitteln und Abfallstoffen aus der Viehzucht sind die Hauptursachen dafür. Auch hier ist im Wesentlichen der regenarme Süden des Landes betroffen. In den letzten Jahren konnte die Qualität geringfügig verbessert werden, während der Anteil der Grundwasserleiter mit guter Wasserqualität zwischen 2015 und 2021 von 62 % auf 59 % abnahm. Um die Qualität der Fließgewässer zu garantieren, müssten − unabhängig vom Wasserstand der jeweiligen Stauseen − Mindestdurchflussmengen festgelegt werden, wie es derzeit für den Tajo angestrebt wird. So konnte im letzten Jahrzehnt ein beeindruckender Wandel der Flussökologie des Manzanares im Stadtgebiet von Madrid erreicht werden, und das trotz seiner unumkehrbaren Kanalisation in einem Betonkanal. Nicht nur die Oberflächengewässer, sondern auch 40 % aller Grundwasservorräte sind in schlechtem Zustand, was überwiegend dem Nitrateintrag geschuldet ist (50 mg/l Nitrat im Wasser gilt als Grenzwert), der wiederum zu 80 % aus der Viehzucht und nur zu 20 % von Düngemitteln auf den Agrarflächen stammt. Große Teile von Aragonien, Katalonien, Kastilien-La Mancha und Valencia weisen deutlich erhöhte Nitratwerte im Grundwasser auf (Rejón 2021e). Das derzeit herausragendste NegativBeispiel ist das Management der größten spanischen Küstenlagune, des Mar Menor. Die 170 km² große Salzwasserlagune, an ihren Ufern dicht mit touristischen Einrichtungen bebaut und in unmittelbarer Nähe von intensiven landwirtschaftlichen Nutzungen, deren Abwässer direkt in das Gewässer abgeleitet werden, befindet sich durch die hohen SüßwasserEinträge mit Nitraten, Ammonium und Phosphaten seit 2016 dauerhaft am Rand der Eutrophierung. In den Sommern 2020 und 2021 wurden Millionen toter Fische an die Ufer geschwemmt, ohne dass die Regionalregierung (Murcia) einschränkende Maßnahmen ergriffen hätte. Eine das Gewässer schützende Gesetzgebung der 1990er Jahre wurde dagegen bereits 2001 außer Kraft gesetzt. Angesichts der Wasserknappheit in einem Großteil der südlichen Landeshälfte ist das Pumpen aus illegal errichteten Brunnen eine verbreitete Praxis. In ganz Spanien hat man 761 Grundwasserleiter identifiziert, sogenannte Aquifer, und man schätzt, dass es über eine Million illegaler Pumpstellen gibt. In den letzten Jahren ist der Grundwasservorrat in diesen

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Aquifern beträchtlich gesunken, während sich ihre Wasserqualität deutlich verschlechtert hat. Das Überpumpen des Grundwassers führt zum Austrocknen zahlreicher Feuchtgebiete, was im Fall des Nationalparks von Doñana, von dessen sechs Aquifern drei inzwischen versiegt sind, dazu geführt hat, dass der WWF im Jahr 2019 Spanien bei der EU-Kommission verklagt hat und die spanische Regierung im Juni 2021 ein Urteil vom Europäischen Gerichtshof hinnehmen musste, das ihr Mängel in ihrer hydrologischen Planung bescheinigt (Martín Arroyo 2020; WWF 2021). Eine ähnliche Gefährdung besteht für das Feuchtgebiet des Nationalparks Tablas de Daimiel. Einmal leergepumpte Grundwasserbestände füllen sich nicht so leicht wieder auf. Auch in einer Saison, in der es vergleichsweise viel geregnet hat (2020/21 im nationalen Durchschnitt 656 mm), bleiben die Wasservorräte auf einem Minimum. So meldete die Hydrografische Konföderation des Guadalquivir-Einzugsgebiets im Oktober 2021 einen Füllstand von 27 % seiner 113 Stauseen, die des Guadiana für ihre 102 Stauseen 30 % (Stand 1. September 2021) (Rejón 2021c). Am 2. November 2021 wurde im Guadalquivir-Einzugsgebiet die Notlage der „extremen Trockenheit“ ausgerufen, nachdem es zwar im Vormonat kaum geregnet hatte, in den 23 Monaten zuvor jedoch durchaus im Bereich des langjährigen Mittels. Betroffen sind knapp 900.000 ha Bewässerungsflächen, davon über die Hälfte bewässerter Ölbaumkulturen (Rejón 2021d). Die Planungen des MITECO sehen für die nächsten Jahrzehnte eine Verminderung des Wasserverbrauchs um bis zu 15 % vor, und sie wollen sich den Herausforderungen der Wiedernutzbarmachung von Brauchwasser und der Qualitätsverbesserung der Oberflächengewässer und des Grundwassers stellen; erste Verordnungen zum Schutz der Aquifer im Bereich von Doñana und des Mar Menor sind bereits auf den Weg gebracht (Rejón 2021b; Fornés/López-Gunn/Villaroya2021). Wandel der Energie-Landschaft

Die veränderten Anforderungen an den Boden und der Diskurs um den Klimawandel lenken auch in Spanien die Aufmerksamkeit zunehmend auf erneuerbare Energien. Die EU will bis 2030 ihren CO2-Ausstoß um 55 % senken, 20 Jahre später will sie klimaneutral sein. 32 % der verbrauchten

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Energie soll aus erneuerbaren Quellen kommen, und die Energieeffizienz soll um 32,5 % gesteigert werden. Am 31. März 2020 hat die spanische Regierung der EU-Kommission ihren Plan Nacional Integrado de Energía y Clima (PNIEC) vorgelegt und ihn 2021 in der entsprechenden Gesetzgebung verankert (Ley de Cambio Climático y Transición Energética). Der Plan sieht vor, dass Spanien bis 2030 42 % seiner Energie aus erneuerbaren Energien bezieht, in der Stromerzeugung sogar 74 %. Die Windenergie soll mit einer angestrebten Leistung von 50 GWh 34  % des Strombedarfs abdecken, die Fotovoltaik mit 39 GWh weitere 26,5 %. Die Energieeffizienz soll bis dahin um 39,5 % gesteigert werden. Die Anlagen des ciclo combinado (Stromerzeugung durch Verbrennung von Erdgas) sollen als Puffer für die natürlichen Schwankungen der Wind- und Sonnenenergie mit einer Leistungsfähigkeit von 25 GWh weiterbestehen. Insgesamt soll der jährliche CO2-Ausstoß um 119 Megatonnen reduziert werden (MITECO 2020: 14). Die öffentliche Diskussion konzentriert sich häufig (Tab. 3) allein auf die Stromerzeugung, die inzwischen (2020) zu 43 % auf erneuerbaren Energien beruht. Der Stromverbrauch macht jedoch nur einen Teil des Energiebedarfs aus. Der weitaus größere Teil − zwischen 70 % und 80 % − besteht aus Kraftstoffen für Fahrzeuge, den Luft- und Seeverkehr, Heizungsanlagen sowie zur Herstellung von Plastik und Asphalt. Die Quellen dafür sind fast ausschließlich Erdöl und Erdgas, nur zu 5,9 % kommen erneuerbare Energien zum Einsatz. Noch beruhen in Spanien 42 % des gesamten Energieverbrauchs auf Erdöl (Tab. 4). Acht große Raffinerien und über 4.000 km Öl-Pipelines bilden die Infrastruktur dafür. Auch Erdgas ist in ganz Spanien (bis auf die Kanarischen Inseln) verfügbar. Sechs internationale Leitungen ermöglichen ein großes Importvolumen, 11.000 km Gasleitungen (u.  a. zwischen dem Festland und den Balearen) und sechs Verarbeitungsanlagen die Verteilung innerhalb des Landes. Insgesamt liegt der energetische Abhängigkeitsgrad Spaniens bezüglich der zur Energiegewinnung benötigten Rohstoffe bei 73,3 %, vor zehn Jahren waren es sogar noch 80 %. Diese Abhängigkeit soll bis 2030 auf 61 % reduziert werden (MITECO 2020: 14). Auch im Strom-Austausch mit den Nachbarländern gibt es ein Defizit, wobei mit Frankreich ein hoher Importüberschuss besteht (2020: 5.229 GWh, im Jahr 2019 waren es sogar 9.627 GWh). Im Stromverbund mit Portugal, Andorra und Marokko gab es 2019 hingegen positive Salden, dorthin wurden 1.457 respektive 196 und 297 GWh mehr ex- als importiert.

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Um die Energieabhängigkeit zu reduzieren, soll in Zukunft die günstige Lage Spaniens für erneuerbare Energien weiter in Wert gesetzt werden. Klima, Sonnenscheindauer und Windverhältnisse bieten dafür in einem Großteil des Landes ideale Bedingungen. Eine Solaranlage derselben Größe produziert in Spanien etwa 60 % mehr Energie als in Deutschland. Auf der Nord- und der Südmeseta liegen enorme Flächen brach, die für Fotovoltaikanlagen genutzt werden könnten, die wenig besiedelten Gebirge Galiciens, das Bergland südlich des Ebrotals, die Ebenen im Westen der Südmeseta und die Höhenzüge im nördlichen Andalusien bieten Raum für Windmühlen fernab des Siedlungsraums. Nach einer Phase der Förderung von Sonnen- und WindenergieAnlagen zu Anfang des Jahrhunderts stagnierte die Installation neuer Anlagen jedoch in den Folgejahren der Finanzkrise (2008-2017). Seit 2018 nimmt sie mit den geänderten Prioritäten der neuen Regierung wieder deutlich an Volumen zu. Allerdings gehen damit auch zunehmend Fälle von Enteignungen einher, die es den Energiegesellschaften ermöglichen, unter Bezug auf das „öffentliche Interesse“ auch gegen den Widerstand einzelner Landwirte große zusammenhängende Flächen zu erwerben. Tab. 3: Stromerzeugung 2020 Art der Energieerzeugung

Quellen Installierte Leistung der produzierten Energie % %

Atomstrom

23,0

6,7

Windkraft

22,2

25,6

Ciclo combinado*

15,8

23,3

Wasserkraft

12,6

16,2

Cogeneración**

11,1

5,4

Sonnenenergie (Fotovoltaik + Solarthermie)

8,0

13,0

Kohle

2,0

5,2

Sonstige

5,3

4,6

105 GWh

100

100

* Stromerzeugung mit Erdgas ** Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung, in der Regel mit Erdgas oder Erdöl als Primärenergiequellen Quelle: Red Eléctrica de España 2021: 5.

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Tab. 4: Energiequellen 2017  

ktep*

Prozent

Erdöl

53.295

42,1

Erdgas

27.266

21,6

Erneuerbare Energien

17.078

13,5

Atomenergie

15.132

12,0

Kohle

12.747

10,0

Sonstige

260

0,2

Saldo Import/Export von Strom

788

0,6

126.566

100

Gesamt *ktep = 1000 t Erdöläquivalent

Windenergie

Vor 20 Jahren war die Windenergie eine kaum nennenswerte Größe in Spanien (1998: 713 MW installierte Leistung), doch seitdem steigt ihr Anteil an der nationalen Energieversorgung stetig. Da auf den Bergen der Wind stark und dauerhaft weht, stehen die Windmühlen dort, wie schon zu Zeiten Don Quijotes. Das Satellitenbild zeigt Kilometer lange Windmühlketten auf vielen Höhenzügen in fast ganz Spanien, ausgenommen die windarmen Binnenregionen im Südwesten. Für den weiteren Ausbau stellt sich allerdings als hinderlich heraus, dass viele Bergketten fernab der Starkstromtrassen liegen und der Netzausbau nur schleppend vorankommt. Mit einer installierten Leistung von über 25.000 MW in 1.265 Windparks (mit insgesamt 21.419 Windrädern) trägt die Windenergie inzwischen stattliche 22  % zum nationalen Stromverbrauch bei (2020, vgl. Tab. 3). Insgesamt drehen sich in 47 der 50 Provinzen Windräder. Allein 2020 wurden Anlagen mit einer Leistung von 1,72 GWh errichtet, jedoch müssten die jährlichen Installationen 2,2 GW erreichen, wollte man dem Nationalen Plan für Energie und Klima 2021-2030 (PNIEC) nachkommen (AEE 2021: 9). In der letzten Zeit regen sich zunehmend Widerstände in den betroffenen Gemeinden, die sich weniger auf den entstehenden Geräuschpegel oder die optische Unruhe der 21.419 Windmühlen des

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Landes beziehen, als auf die Veränderung der traditionellen Kulturlandschaft. So beklagt man z. B. in einer kleinen Gemeinde östlich von A Coruña nicht nur, dass die geplanten 13 Windräder den Naturpark Fragas do Eume beeinträchtigen würden und mit den von Red Natura 2000 ausgewiesenen Flächen nicht vereinbar seien; sie würden zudem eine neue Starkstromleitung nach sich ziehen, deren Trassierung mit einer Breite von 40 m (mehr als eine sechsspurige Autobahn) die Naturlandschaft über eine Länge von 45 km zerschneidet. Ähnliche Klagen bis hin zu Eingaben beim Europäischen Parlament (im Juli 2021 durch ¡Teruel existe!) kommen auch aus anderen in Lagegunst und Versorgung benachteiligten Regionen der España vaciada, die um ihre natürlichen Gunstfaktoren und die Ästhetik der Kulturlandschaft fürchten, ihr einziges Kapital in der Konkurrenz um Einkommen durch Tourismus. Solarenergie

Kleine Solaranlagen auf Hausdächern oder landwirtschaftlichen Gebäuden sind in Spanien selten, Projekte wie die energetische Selbstversorgung des 60-Seelen-Dorfes Luco de Jiloca in Teruel die Ausnahme. Die Anlagen werden überwiegend von den Energiekonzernen in großem Maßstab erstellt, besonders da die Materialkosten im letzten Jahrzehnt deutlich gefallen sind. Nach einer ersten Installationswelle um 2008 stagnierte der Anlagenbau mit der Wirtschaftskrise und der drastischen Reduktion staatlicher Subventionen für Wind- und Solarenergieanlagen im Jahr 2014. Nachdem aufgrund der veränderten europäischen Energiepolitik eine neue Investitionswelle dank staatlicher Subventionen begann, verdoppelte sich die installierte Leistung von 2018 auf 2019 nahezu. Seitdem fand ein regelrechter Run auf Installationsgenehmigungen statt. Allein in Andalusien wurden 2020 14 neue Anlagen installiert, für das Jahr 2021 war von über 300 Anträgen die Rede, die in der Summe eine installierte Leistung von weit über 100 GWh hätten. Viele der Projekte beziehen sich auf Teile zusammenhängender Flächen, die als Einzelanträge von demselben Investor eingereicht werden, um so die Schwelle von 50 MW nicht zu überschreiten, ab der eine Installation von der Zentralregierung genehmigt werden muss. Während den Regionalregierungen bislang noch die Kriterien für die Genehmigung von Solaranlagen fehlen, konsolidiert sich der Widerstand in den betroffenen Gemeinden. Zwar locken die Pachtangebote von

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1.000 bis 2.000 € je Hektar, gegenüber der landwirtschaftlichen Pacht von maximal 500 €/ha, andererseits gibt es jedoch zahlreiche ökologische Bedenken wie auch Befürchtungen von ästhetischen Beeinträchtigungen bei Nähe zu Siedlungen und touristischen Zielen, wie beispielsweise den noch intakten Naturlandschaften des Nationalparks Sierra de las Nieves (Cenizo 2021). Ein besonderes Augenmerk richtet sich in diesem Zusammenhang auf die sogenannten Mega-Installationen. 2019 und 2020 wurden in Murcia und Badajoz mit Flächen von jeweils 1.000 ha und Nennleistungen von 294 resp. 500 MW die größten Fotovoltaikanlagen Europas installiert, in Cáceres steht eine weitere Anlage von über 1.300 ha (mit 590 MW max. Nennleistung) kurz vor der Inbetriebnahme (2022). Namhafte Umweltschützer und Biologen betrachten diese Anlagen als Infrastrukturen mit einem hohen Bodenversiegelungseffekt und mit Auswirkungen auf die Fauna der davor meist ungenutzten oder vernachlässigten Flächen (Sills 2020). Das Umweltministerium (MITECO, zuständig für Anlagen ab 50 MW) verweist dagegen auf den hohen Anteil abgelehnter Anträge (rund 50  %) und betont, dass großflächige Anlagen nur in Gebieten geringer Umweltsensibilität genehmigt werden. Beispielsweise wurden von der 820 ha großen Fläche mit Solarpaneelen in Talayuela (Cáceres) 320 ha frei gelassen, um den Jahrhunderte alten Steineichen des Areals Lebensraum zu garantieren (Álvarez 2021). Die regionale Verteilung der Energieerzeugung

Um die Kosten und den Energieverlust zu minimieren, entstehen Windenergie- und Fotovoltaikanlagen vornehmlich in der Nähe der wichtigsten Abnehmer und Hochspannungsleitungen, d. h. von Großstädten und entlang der Hauptautobahn- und Bahntrassen, die wiederum durch die Talsysteme geführt werden. Damit ist − trotz des enormen Flächenangebots von landwirtschaftlich kaum mehr rentablen Arealen − ein gewisser Konkurrenzkampf um leicht zu bewirtschaftende und nahe der Kommunikationsachsen gelegene Flächen vorhersehbar. Räumlich differenzierte Daten von Stromerzeugung und -verbrauch der letzten Jahre (Tab. 5) zeigen die regionalstrukturellen Ungleichgewichte. Dort, wo Bevölkerung und Industrie konzentriert sind, − vor allem in Katalonien, Valencia und dem Großraum Madrid − besteht naturgemäß

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die höchste Nachfrage nach Strom und Kraftstoffen. Während Katalonien seinen Bedarf mittels zweier Atomkraftwerke (mit insgesamt drei Reaktoren) in seiner Autonomen Gemeinschaft weitgehend decken kann, hängt die Metropolregion Madrid fast ausschließlich von den umliegenden Regionen ab. Die erneuerbaren Energien sind flächenintensiv und haben deshalb besonders in den großflächigen Autonomen Gemeinschaften an Bedeutung gewonnen. Sowohl vom verfügbaren Platz her als auch klimabedingt (3.300-3.500 Sonnenscheinstunden in Andalusien stehen 2.400-2.800 in Galicien und nur 1.600-2.000 im Baskenland gegenüber) haben in den Regionen der Nordküste, also in Asturien, Kantabrien und dem Baskenland, weder Windkraft noch Solarenergie eine große Bedeutung. Hier gibt es noch vereinzelt Kohlekraftwerke (zwei in Asturien), und die Wasserkraft spielt eine gewisse Rolle, aber speziell die Industrie des Baskenlandes verbraucht deutlich mehr Strom als die Region erzeugen kann. Galicien dagegen erzeugt mehr Strom als es verbraucht. Zusätzlich zu den traditionellen Wasserkraftwerken wurden dort im Bergland ausgedehnte Windparks installiert. In letzter Zeit wird zudem das Thema von Offshore-Windparks diskutiert, obwohl solche Projekte in einer Resolution der galicischen Regionalregierung aus dem Jahr 2009 generell abgelehnt wurden. Die technischen Probleme bei der Errichtung dieser Anlagen, die mit dem relativ kurzen und steil ins Meer abfallenden Festlandsockel der spanischen Nordküste zu tun haben, können jedoch durch die technische Neuerung schwimmender Windräder − wie eine Anlage vor dem portugiesischen Viana do Castelo beweist − bewältigt werden, so dass die galicische Regionalregierung ebenso wie die kantabrische geneigt ist, in Zukunft das Thema wieder aufzugreifen. Dagegen stehen Interessen der Fischerei sowie ökologische Bedenken bezüglich der marinen Ökosysteme. Windkraft- und Fotovoltaikanlagen haben wirtschaftlich nur geringe regionale Effekte. Zwar erhalten die Eigentümer der benötigten Flächen − im Fall der Windparks meist Gemeinden − Kaufpreise bzw. Pachtgebühren, die Arbeitsplätze sind jedoch nicht dauerhaft und entstehen bei den Anlagenbauern in städtischen Regionen. Immerhin hat die Herstellung von Windrädern zur Entstehung von 195 Produktionsstätten im ganzen Land mit 22.500 Arbeitsplätzen geführt (AEE 2021: 6, sowie https://reoltec.net/ la-industria-eolica-espanola/).

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125

Madrid, Comunidad de

12,2

6.723

22,0

54.898

0

791

326

2.378

431

0

9.994

117

2.198

2.556

7.165

12.574

74

1.100

4

1.153

7.314

*Fotovoltaik + Solarthermie Quelle: Red Eléctrica de España 2021: 3.

% am Gesamtverbrauch

30.614

0

Ceuta + Melilla

Total

351

140

País Vasco

Rioja, La

93

7.917

Galicia

540

1.471

Extremadura

Navarra, Comunidad Foral de

430

Comunitat Valenciana

Murcia, Región de

689

8.027

Castilla y León

5.135

191

Cantabria

Castilla – La Mancha

3

Canarias

Cataluña

0

1.492

Asturias, Principado de

Balears, Illes

544

3.466

Andalucía

Wasserkraft Windkraft

Aragón

Autonome Region

7,9

19.826

0

143

62

279

1.892

82

21

4.165

613

439

3.678

1.115

2

258

118

1

1.506

5.452

Solarenergie*

44,2

110.567

6

1.081

999

3.501

2.461

466

18.557

6.015

3.277

8.396

12.022

22.133

387

1.391

237

2.910

12.329

14.399

2,0

5.022

44,0  

 

 

 

 

 

 

1.344

 

 

 

 

299

 

 

222

2.827

151

179

Kohlekraft

1,5

60,3

16,2

53,0

24,0

36,1

75,6

28,2

17,1

19,5

52,4

87,0

23,7

17,5

6,7

31,2

68,3

51,5

Erneuerbare Erneuerbare gesamt an gesamt %

22,3

55.757

 

 

 

 

 

 

 

15.263

8.892

23.887

7.715

 

 

 

 

 

 

 

Atomenergie

56,3

140.766

401

711

5.169

3.109

7.812

824

5.999

15.340

15.833

34.556

10.913

3.299

1.248

6.555

3.278

6.425

5.713

13.581

Nicht erneuerbare an gesamt %

Tab. 5: Energiegewinnung und -verbrauch in den Autonomen Gemeinschaften 2020 in GWh (ohne Kraftstoffe für Fahrzeuge)

 

251.333

407

1.792

6.168

6.610

10.273

1.290

24.556

21.355

19.110

42.952

22.935

25.432

1.635

7.946

3.515

9.335

18.042

27.980

Total

 

249.992

407

1.621

14.955

4.844

9.208

26.899

17.372

4.951

25.866

43.991

11.745

13.435

3.906

7.946

4.942

8.728

10.109

39.067

Verbrauch

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In den verbleibenden Jahren bis zur Stilllegung des letzten Atomreaktors in Spanien im Jahr 2035 sollen die Kapazitäten der erneuerbaren Energien so weit ausgebaut werden, dass der Wegfall der Kernenergie − 2020 noch mit einem Anteil von 12 % − kompensiert werden kann. Als stabile Energiequelle, die die Schwankungen der natürlichen Medien ausgleichen soll, wird Erdgas genannt, auch wenn dessen hoher Methan-Anteil bei Verbrennung zu einem großen CO2 Ausstoß führt. Für die betroffenen Regionen wird die Abschaltung der Atomkraftwerke kaum Auswirkungen haben. Im Gegensatz zu den Kohlekraftwerken, deren Schließung im Norden des Landes teilweise große Strukturprobleme verursachte (El Bierzo, Asturien, Baskenland), hängen an der Kernkraft nur wenige Arbeitsplätze, und die Profite der Betreibergesellschaften fließen in die großen Zentren. Die Energiewende jedoch findet auf dem Land statt. In welchem Maß sie die dortige Lebensform fördert oder beeinträchtigt, werden die nächsten Jahrzehnte zeigen. Literaturverzeichnis AEE [Asociación Empresarial Eólica] (2021): Anuario Eólico 2020, (06-04-2022). Álvarez, Clemente (2021): „Megacentrales fotovoltaicas que alcanzan las 1.000 hectáreas“, in: El País, 24. Januar 2021, 32. Armunia Berges, Cristina et al. (2021): „El retrato de los pueblos abandonados“, in: elDiario, 6. November 2021, (06-11-2021). AVATMA (2015): „Dehesas y Toros de lidia“, (27-07-2021). — (2020): „Dehesa vs. Ganadería de lidia“, (27-07-2021). Avilés Pozo, Alicia/Rejón, Raúl (2021): „El Gobierno fijará un caudal mínimo en el río Tajo para preservar sus ecosistemas“, in: elDiario, 21. Juni 2021, (22-06-2021). Breuer, Toni (2008): Iberische Halbinsel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Camarero, Luis (2020): „Despoblamiento, baja densidad y brecha social: un recorrido por una España desigual“, in: Panorama Social, Nr. 31, Erstes Halbjahr 2020, 47-73. Camazón, Alba (2021): „Ganadería propiedad del pueblo: dos ayuntamientos de Castilla y León invierten en vacas, toros o cerdos para dar empleo a la zona“, in: elDiario, 17. Juli 2021, (24-10-2021).

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Landnutzung im Veränderungsprozess

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Alles unter der Sonne? Tourismus in Spanien: eine Bilanz Raimund Allebrand Abstract Spanien absolvierte im Lauf von sechs Jahrzehnten (ab 1960) eine anhaltende Erfolgsstory im internationalen Tourismus mit stetig wachsenden Besucher- und Umsatzzahlen. Über Phasen von Aufbau und Konsolidierung (1960-1990), Neuorientierung und Modernisierung (1990-2005) sowie Diversifizierung und Flexibilisierung (2005-2020) des Angebotes erlebte die Branche Höhen und einige Tiefen – vor allem aber einen steten Ausbau der Infrastruktur sowie der Marktpräsenz im internationalen Fremdenverkehr. Ein historischer Angelpunkt dieser Entwicklung kann im „Kolumbusjahr“ 1992 gesehen werden. Anhaltende Konjunkturen wie die Vermarktung des Pilgerwegs nach Santiago de Compostela seit den 1990er Jahren oder im Jahrzehnt danach der so genannte „Guggenheim-Effekt“ im baskischen Bilbao zeigen, dass sich der spanische Tourismus nach und nach durch umfängliche Diversifizierung des Angebotes von der langjährigen Fixierung auf „Strand und Sonne“ emanzipieren konnte. Auf ein Rekordjahr 2019, das knapp 84 Millionen Übernachtungsgäste nach Spanien zog, folgte mit dem Einsetzen der Coronakrise allerdings ein schockartiger Einbruch der Umsatzzahlen; in den Jahren 2020 und 2021 wurde die defizitäre Bilanz vor allem durch den spanischen Binnentourismus aufgebessert. Während die Abhängigkeit der spanischen Wirtschaft vom Fremdenverkehr in der Krise ihre fatalen Seiten zeigte, wurde eine Dominanz des Massentourismus aufgrund seiner zahlreichen negativen Kollateraleffekte schon zuvor kritisiert: Verschandelte Küstenzonen, Umweltschäden und ökologische Belastung, Gentrifizierung ganzer Stadtviertel und zunehmende Einschränkungen für die spanische Wohnbevölkerung stehen nach wie vor im Mittelpunkt der Kritik. Gebeutelt von der Coronakrise, sucht die spanische Tourismusbranche neue Perspektiven für eine nachhaltige Entwicklung. „Klima“ wird zukünftig der entscheidende Überlebensfaktor für den Fremdenverkehr sein.

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Der Corona-Schock

Zu Beginn des Jahres 2021 veröffentlichte das Madrider Institut Exceltur eine wirtschaftliche Bilanz des Fremdenverkehrs in den vorangegangenen Corona-Monaten. Demnach war der Anteil des Tourismus am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Pandemie-Jahr von rund 13 % im Jahr 2019 auf etwa 4 % im Folgejahr gesunken. Verglichen mit dem Vorjahr fehlten insgesamt 65 Millionen ausländische Übernachtungsgäste in Spanien (es kamen 18,5 Millionen im Vergleich zum Besucherrekord von 83,7 Millionen), der damit einhergehende Umsatzverlust betrug rund 75 Milliarden Euro. Das gesamte Inlandsprodukt ging um 11 % zurück, 623.000 Arbeitsplätze wurden von Auswirkungen der Pandemie vernichtet – an erster Stelle in den Segmenten Fremdenverkehr und Gastronomie. Aufgrund anhaltender Einschränkungen durch die Covid-19-Krise gaben die meisten Hoteliers den ersten Saisonhöhepunkt der Osterwoche 2021 bereits zu Jahresbeginn verloren. Umfragen zufolge erwartete mehr als die Hälfte der spanischen Touristikunternehmen eine Erholung erst 2023, allerdings nicht auf Vorkrisenniveau und mit anderen Vermarktungskonzepten, die den Slogan Strand und Sonne künftig ersetzen sollten. Statt des Massentourismus an den Küsten solle künftig eine stärkere Erschließung des Inlands und Förderung des Kulturtourismus im Mittelpunkt stehen, hieß es Ende Januar 2021.1 Tatsächlich wurde die folgende Sommersaison schließlich vom innerspanischen Binnentourismus gerettet, der bereits zur Jahresmitte erneut auf Vorkrisenniveau funktionierte. Ende des Jahres prognostizierte Exceltur für 2021 einen Besucherrückgang von insgesamt 44 % (im Vergleich zu 2019); der erwartete Jahresumsatz von 87 Milliarden Euro lag auf dem Level von 2003.2 Alles unter der Sonne?

Tourismus in Spanien: Über sechs zurückliegende Jahrzehnte bietet dieses Thema reichlich Stoff für eine bemerkenswerte Erfolgsstory – nicht zuletzt in Sachen Besucherstatistik. Im Jahre 1955 zählte das Land rund drei Millionen Einreisende, in erster Linie Geschäfts- sowie Familienbesuche aus den Anrainerländern Frankreich und Portugal. 40 Jahre später wurde bereits die 1 . 2 .

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Zahl von 65 Millionen Besuchern überschritten – davon galten 45 Millionen als Touristen im engeren Sinne, die mindestens eine Nacht im Lande zubrachten. Das Jahr 2005 brachte mit 92 Millionen Ankünften und rund 55 Millionen Übernachtungstouristen einen erneuten Besucherrekord. Die letzte erfolgreiche Jahresbilanz für 2019 wies schließlich mit rund 84 Millionen ausländischen Übernachtungsgästen (bei 46 Millionen Einwohnern) einen Höhepunkt aus, der vermutlich so bald nicht übertroffen wird. Denn mit der pandemischen Verbreitung von Covid-19 brach Monate später die Coronakrise über Spanien herein und stellte alle positiven Prognosen zur weiteren Entwicklung des Fremdenverkehrs in Frage. Tabelle 1: Internationale Übernachtungsund Tagestouristen 2006-2020

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In Sachen touristischer Ankünfte wurde das Land bis dato im weltweiten Vergleich nur von den USA sowie zeitweise von Frankreich überholt. Bei einem Vorkrisenniveau von 95 Milliarden Euro rangierte der

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s­ panische Jahresumsatz im Fremdenverkehr 2019 global ebenfalls auf Platz zwei (nach den USA). Die langjährige Steigerungsrate der Besucher- und Umsatzquoten ist weltweit einmalig und führte in eine wachsende Abhängigkeit des BIP vom Tourismussektor: Rund ein Viertel der spanischen Beschäftigten war vor dem Corona-Einbruch im Reise- und Fremdenverkehr bzw. in benachbarten Branchen tätig. Nach Jahrzehnten einer scheinbar unerschütterlichen Erfolgsbilanz erlebte der spanische Fremdenverkehr allerdings im Jahr 2020 einen katastrophalen Rückgang mit Auswirkungen, die sein Geschäftsmodell nachhaltig beschädigen können. Tabelle 2: Umsätze des internationalen Tourismus 2007-2020

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Die Iberische Halbinsel als Reiseziel

Mit Beginn eines systematisch geförderten Massentourismus anfangs der 1960er Jahre konnte Spanien auf historische Erfahrungen zurückgreifen,

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die die Wahrnehmung des Landes von außen zuvor bereits geprägt hatten. Erste touristische Eindrücke auf der Iberischen Halbinsel sammelten europäische Nachbarn nicht an Badestränden, sondern auf den Routen des Camino de Santiago, wie er von mittelalterlichen Pilgern über Jahrhunderte eifrig begangen worden war (Allebrand 1993). Durch Herbergen, Brücken und Wege erhielt Nordspanien seinerzeit eine erste touristische Infrastruktur. Neben der religiösen Dimension der Pilgerstraße sowie Handel und Wandel am Jakobsweg wurde auch die Fremdwahrnehmung und damit das Außenbild der Iberischen Halbinsel von Pilgern geprägt. Bereits im 12. Jahrhundert diente ein erster französischer Reiseführer in lateinischer Sprache (Buch V des Codex Calixtinus) als praktischer Leitfaden auf dem Weg nach Santiago mit teils expliziten Hinweisen zu Land und Leuten. Dort ist zu lesen: „Um einer Münze willen tötet ein Navarreser [Bewohner des Baskenlandes] einen Franzosen!“ (Herbers 2008). Bereits im Hochmittelalter hat Tourismus offenbar nicht unbedingt zur Völkerverständigung beigetragen (vgl. Exkurs 2: Der wahre Jakob). Wesentlich später avancierte die Iberische Halbinsel ab etwa 1780 nach und nach zum Pilgerziel kulturinteressierter Reisender aus den europäischen Oberschichten. Im Rahmen der Grand Tour erkundeten zahlreiche gebildete Zeitgenossen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Land, das sich zunächst eines denkbar schlechten Rufes erfreute, im Urteil der französischen Aufklärung als hoffnungslos rückständig galt, den nördlichen Nachbarn den Rücken zuwandte – und gleichzeitig eines der letzten Reiseabenteuer auf europäischem Boden versprach. Im Urteil des seinerzeit viel gelesenen Pariser Romanciers Théophile Gautier begann Afrika jenseits der Pyrenäen. In erster Linie französische und britische Schriftsteller entdeckten jedoch das architektonische Erbe der islamischen Epoche in Südspanien, prägten eine nicht selten reich illustrierte Reiseprosa und trugen damit entscheidend zu einer exotischen Fremdwahrnehmung des Landes sowie zur Würdigung seines Erlebniswertes bei (vgl. Allebrand 2004). Nach überstandenem Bürgerkrieg (1936-1939), der in Berichterstattung und Literatur außerhalb des Landes ein lebhaftes Echo fand, sowie den anschließenden Mangeljahren hatte sich Mitte des 20. Jahrhunderts in der europäischen Wahrnehmung längst ein Spanien-Klischee verfestigt, das soziokulturelle Eigenheiten und folkloristische Traditionen eines südlichen Agrarlandes perpetuierte. Vor allem angelsächsische Erfolgsautoren wie Ernest Hemingway förderten ein holzschnittartiges Spanien-Bild

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z­ wischen Fiesta und Flamenco, Miliz und Machismus, das schließlich sein Landsmann James A. Michener in einer geläufigen Formulierung auf den Punkt brachte: „Spain is different!“ Auf der Iberischen Halbinsel gingen die Uhren auch außerhalb der nachmittäglichen Siesta anders. Spanische Traditionen in Kultur, Folklore und Sozialleben, die sich teilweise erfolgreich der Moderne verweigert hatten, entwickelten ab den 1960er Jahren auf dem Weg zum spanischen Wirtschaftswunder eine magnetische Anziehungskraft für Millionen Feriengäste; daneben lernte man zunehmend die klimatischen Vorzüge der iberischen Küstenzonen sowie die preiswerte und sich ständig verbessernde touristische Infrastruktur schätzen. Neben Strand und Sonne sollten kulturelle Versatzstücke – zumeist dem folkloristischen Repertoire des spanischen Südens entlehnt – in Gestalt von Stierkampf, Flamenco oder Gitarre und kulinarische Errungenschaften wie Sherry, Sangría und Paella erfolgreich für den Fremdenverkehr werben, nicht zu reden vom späteren Siegeszug der erst vom Tourismus entdeckten so genannten Tapas-Bar. Internationaler Tourismus 1960-2020

Doch musste Spanien zunächst Herausforderungen meistern, die sich aus einer vom Regime verordneten Autarkiepolitik ergaben. Die internationale Isolation nach Ende des Zweiten Weltkriegs suchte Diktator Franco zunächst als Tugend zu begreifen („Spain is different“ auch hier). Nach zwei Jahrzehnten weitgehender wirtschaftlicher Stagnation seit Bürgerkriegsende stand das Land jedoch 1959 vor dem Staatsbankrott. Für Abhilfe sollte ein Stabilisierungsplan sorgen, dessen Entwicklungsstrategie zwei Migrationsbewegungen auslöste bzw. begünstigte: die Abwanderung von Millionen Spaniern aus den Agrargebieten des Landes in einzelne Industriezonen Europas sowie einen zunächst nur sommerlichen Exodus von Feriengästen aus eben diesen nördlichen Ländern an die spanischen Sonnenküsten. Das Rezept wurde systematisch befolgt und führte bereits im Lauf der frühen 1960er Jahre zu einem beachtlichen Wirtschaftswachstum. Als die gezielte Emigrationspolitik Mitte der 1970er Jahre auslief (bis 1973 kamen beispielsweise rund 350.000 spanische Arbeitskräfte nach Deutschland; rund jeder Dritte blieb nach dem Anwerbestopp so genannter „Gastarbeiter“ in seiner neuen Heimat), erwies sich die Saisonimmigration zahlungskräftiger Europäer vor allem aus

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Großbritannien und der Bundesrepublik unter dem Motto „Strand, Sonne und Sangría“ als langfristiges Entwicklungsmodell, das die spanische Gesellschaft nachhaltig verändern sollte (Glaser 2018). Spanien wurde zum Inbegriff eines europäischen Ferienlandes. Auf die Frage, welche Destinationen den deutschen Kunden der Reisebüros zum Thema Urlaub einfielen, antwortete bereits Ende der 1990er Jahre mehr als ein Drittel spontan mit Spanien; rechnet man die bei diesem Anlass getrennt ausgewiesenen Gebiete des spanischen Festlandes und der Inseln zusammen, so kam Spanien sogar auf knapp 60 % aller Nennungen und wurde seinerzeit doppelt so häufig erwähnt wie das zweitplatzierte Italien (Allebrand 2007). In dieser Jahrzehnte währenden Erfolgsgeschichte lassen sich grob drei Erschließungsphasen ausmachen: Ausbau und Konsolidierung (1960-ca. 1990), Neuorientierung und Modernisierung (1990-ca. 2005) sowie Diversifizierung (ca. 2005-2020) des Angebotes im Fremdenverkehr. Die dabei vorherrschenden Paradigmen der staatlichen Tourismuspolitik, wie sie vom nationalen Vermarktungsbüro TURESPAÑA (heute www.tourspain. es) und von den spanischen Fremdenverkehrsämtern auch in der Bundesrepublik großflächig beworben wurden, stehen als symbolische Anzeige für Trends der jeweiligen Erschließungsphase: Von „Spain is different!“ bei der anfänglichen Suche nach zentraleuropäischen Urlaubern mit Interesse für Land und Leute über „Alles unter der Sonne“ während einer zwischenzeitlich bereits weltweiten Vermarktung des spanischen Strandtourismus – sowie vorübergehend „Bravo, Spanien!“ – bis hin zum leicht esoterisch angehauchten Motto „Spanien prägt Dich“ (seit 2002) bei der Bemühung um Diversifizierung eines Angebotes, das (in der Vorstellung von Strategen innerhalb der Generaldirektion für Tourismus im spanischen Wirtschafts- und Finanzministerium) unterschiedlichste Interessentengruppen erreichen sollte. Ausbau und Konsolidierung (1960-1990)

Spanien erlebte im 20. Jahrhundert innerhalb weniger Jahrzehnte einen grundlegenden Wandel vom Agrarland zur Dienstleistungsgesellschaft (vgl. hierzu Barke/Towner/Newton 1992; Zahn 1973). Als hinderlich erwies sich dabei ein erheblicher infrastruktureller Mangel, nicht zuletzt an Verkehrswegen und Übernachtungsmöglichkeiten außerhalb relativ

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e­ ntwickelter urbaner Zentren (in erster Linie Barcelona und Madrid). Dieser Umstand hatte bereits 1929 zur Gründung der staatlichen ParadoresKette geführt, die unter Nutzung vorhandener historischer Bausubstanz erstmals hochwertige Hotelangebote in abgelegeneren Inlandsgebieten bereitstellen sollte. Mit der Öffnung für den internationalen Tourismus zählte man – neben der Attraktion zahlreicher historischer Innenstädte und pittoresker Gebäudeensembles überall im Lande – vor allem darauf, dass vom internationalen Fremdenverkehr bis dahin kaum berührte Küstenzonen Besucher aus nördlichen Gefilden anziehen konnten. Der franquistische Propagandaminister Manuel Fraga Iribarne (1962-1969 Chef des bereits 1951 gegründeten Ministeriums für Information und Tourismus) sah – ungeachtet nach wie vor im Ausland bestehender Vorbehalte gegenüber dem diktatorischen Regime (Ciagar/Koob 1974) – im spanischen Nachkriegs-Sonderweg abseits von Europa eine Chance und wählte den Slogan España es diferente als Motto der frühen Erschließungsphase. Neben diesen soziokulturellen Aspekt trat allerdings der klimatische Standortvorteil eines Landes, das auf weiten Strecken der Mittelmeerküsten sowie auf seinen Inselarchipels (Balearen und Kanaren) hervorragende Bedingungen für Badeaufenthalte zu bieten hatte. Dieser Umstand führte zu zahlreichen Hotelneubauten im Umfeld von Provinzhauptstädten wie Palma de Mallorca oder Valencia. Zum Modell einer typisch spanischen Küstenerschließung wurde allerdings erst die so genannte Urbanisation: Wo bislang eine zahlenmäßig geringe Bevölkerung lediglich von Fischerei und Landwirtschaft lebte, wuchsen touristische Ensembles mit der Infrastruktur von Kleinstädten weitgehend planlos in unmittelbarer Strandnähe buchstäblich aus dem Sand des Mittelmeers. Erste Zentren des Badetourismus, die zunehmend auch von spanischen Urlaubern frequentiert wurden, konnten sich schon in den späten 1950er Jahren an der Costa Blanca (Großraum Benidorm) und auf Mallorca (neben dem Großraum Palma auch Magaluf sowie nördlich von Barcelona (Costa Brava) sowie im Großraum Málaga (Costa del Sol) etablieren. Die andalusische Atlantikküste wurde ab den 1970er Jahren gleichfalls urbanisiert, parallel dazu erfolgten kontinuierliche Erschließungen zumeist in den südlichen Inselbereichen der Kanaren und auf den Balearen. Beispielhaft für diese Phase steht das mallorquinische Hotelunternehmen RIU, 1953 als kleiner Familienbetrieb mit geringem Bettenangebot in Palma de Mallorca begründet, das durch seine spätere Fusion mit dem

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TUI-Konzern zu einem internationalen Player mit mehr als 100 Hotels und Luxusressorts an zahlreichen Standorten weltweit aufsteigen konnte. In einzelnen traditionell agrarischen Landesteilen – vor allem die Archipele sowie Costa Blanca und Costa del Sol – gewann der Badetourismus bis in die 1990er Jahre alle Merkmale einer Monokultur, die andere Erwerbszweige verdrängte, nicht zuletzt landwirtschaftliche Aktivitäten, sofern nicht durch neuartige Anbaumethoden und Nutzkulturen eine rentable Basis geschaffen wurde, die mit touristischen Installationen langfristig konkurrieren konnte (wie etwa im subtropischen Küstenbereich der Provinzen Málaga, Granada und Almería sowie teils auf den Kanaren). Die Kehrseite des wirtschaftlichen Erfolges zeigte sich vor allem an den schmalen Küstenzonen, deren Landschaft und Sozialstruktur unter dem Einfluss des Fremdenverkehrs eine drastische Veränderung erfuhren: Orte wie Benidorm, Torremolinos oder Magaluf stehen hier neben anderen als Beispiele für urbanistischen Wildwuchs. Durch gesetzliche Regelungen (in erster Linie das spanische Küstengesetz von 1988 sowie anschließende Verordnungen auf Ebene der Autonomen Gemeinschaften) und Bebauungspläne hat man das zunächst unstrukturierte Wachstum dreier Jahrzehnte bereits gegen Ende der Erschließungsphase eingeschränkt und in einigen wenigen Fällen auch rückgängig gemacht. Einen wichtigen Meilenstein bei der infrastrukturellen Erschließung des Landes stellte der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG) im Jahr 1986 dar. Aufgrund der Entwicklungsrückstände im Vergleich zu nordeuropäischen Mitgliedern war Spanien zunächst zwei Jahrzehnte lang Nettoempfänger von Subventionen, die nicht zuletzt im Straßen- und Tiefbau eingesetzt wurden und somit auch der touristischen Infrastruktur zugutekamen. Daneben gab es unter dem Motto turismo rural in der Folgezeit zahlreiche gezielte Förderungen für Projekte des Fremdverkehrs im ländlichen Bereich (vgl. Abschnitt Touristische Infrastruktur). Vor allem in der letzten Dekade der Franco-Diktatur (bis 1975) trug die zunehmende Anwesenheit von Ausländern an Spaniens Stränden zu einem Wandel traditioneller Moralvorstellungen bei; sprichwörtlich wurden Interventionen spanischer Bischöfe gegen neuartige Bademoden sowie vereinzeltes Vorgehen der Guardia Civil gegen allzu freizügige Touristen und Touristinnen. Der Tourismus veränderte zudem das Verhältnis der spanischen Bevölkerung zu den europäischen Nachbarn: Eine bis heute anhaltende positive Einschätzung der späteren Mitgliedschaft in der EU wurde hier vorbereitet. Außerdem steigerte die stetig wachsende

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a­usländische Nachfrage den Selbstwert iberischer Kultursymbole unter den Spaniern selbst (Flamenco oder Semana Santa). Bislang als typisch erlebte soziale Gepflogenheiten, beispielsweise die Öffnungszeiten von Lokalen, aber auch das kulinarische Angebot, wandelten sich durch die touristische Nachfrage. Selbst der in zahlreichen Landesregionen verbreitete Stierkampf erlebte im Lauf der Jahrzehnte eine zunehmende Abhängigkeit von der Alimentierung durch touristische Eintrittsgelder. Innerhalb von drei Jahrzehnten stieg die jährliche Besucherzahl von sechs Millionen (1960) auf 52 Millionen (1990). Lediglich Mitte der 1970er Jahre (1974-1976) verzeichnete die Statistik in Zusammenhang mit der europäischen Erdöl-Versorgungskrise einen Einbruch um rund vier Millionen gegenüber dem Ergebnis von 1973 (30 Millionen). Allerdings brachte eine drastisch wachsende Tendenz zum Massentourismus mit entsprechenden Billigangeboten im Hotelbereich ab 1988 eine Stagnation der Umsätze (bis 1992), der man strategisch mit einer Qualitätsoffensive begegnete. Neuorientierung und Modernisierung (ca. 1990-2005)

Bereits Ende der 1980er Jahre setzte somit eine Konsolidierungsphase ein, in der weiteres ökonomisches Wachstum geschaffen, aber gleichzeitig strukturelle Erfolge der vergangenen Jahrzehnte bewahrt werden sollten (Breuer 2008, 152). Anlass gab neben einer Steigerung des Preisniveaus sowie einer bereits veraltenden Infrastruktur die wachsende Konkurrenz aufkommender touristischer Destinationen, an erster Stelle der Türkei; ferner ein erneuter leichter Rückgang der internationalen Besucherzahlen (von 52 Millionen auf rund 50 Millionen) im Kontext eines europäischen Konjunktureinbruchs, der den zweiten Golfkrieg 1990/91 begleitete. Bis dahin hatte teils sprunghaftes Wachstum stattgefunden, das von Krisen und Naturkatastrophen im Umfeld anderer mediterraner Destinationen jeweils begünstigt wurde (politisch instabile Strukturen im östlichen Mittelmeer, Erdbeben in der Türkei, islamistische Tendenzen in Nordafrika etc.). Demgegenüber hatten Aktivitäten der baskischen Terrororganisation ETA, die in den 1990er Jahren gelegentlich dem touristischen Umfeld galten, praktisch keine Auswirkungen auf die Attraktivität der Iberischen Halbinsel als Reiseziel; gleiches gilt für etwaig befürchtete Langzeitfolgen der islamistischen Anschläge in Madrid 2004. Zudem wurde die spanische

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Peseta-Währung bis zur Errichtung des Euroraums über einen langen Zeitraum jeweils kontinuierlich abgewertet, was die Konkurrenzfähigkeit des touristischen Angebotes entschieden erleichterte. Bis in die Gegenwart gilt Spanien trotz erheblicher zwischenzeitlicher Preissteigerungen als durchaus preiswürdiges Urlaubsland mit besucherfreundlicher Kostenstruktur (vgl. Domínguez Rodríguez 2004, 577-602). Von Beginn an war die touristische Erschließung nur möglich durch einen gleichzeitig stattfindenden Bauboom vor allem in den Küstenzonen. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurde neben der Realisierung weiterhin zahlreicher Neubauprojekte von Hotel- und Apartmentkomplexen auch die bestehende Infrastruktur und damit generell der spanische Hotelstandard erheblich verbessert. In dieser Dekade fanden sich selbst im ländlichen Umfeld kaum Familienhotels oder Pensionen (Hostales), die nicht durch umfangreiche Renovierung und Modernisierung den wachsenden Ansprüchen der Feriengäste zu genügen suchten. Einen vorläufigen Höhepunkt der Erfolge in Vermarktung und Infrastrukturschöpfung brachte das Jahr 1992 bereits anfangs der 1990er Dekade mit zahlreichen raumgreifenden Events von internationaler Dimension: Olympische Spiele in Barcelona sowie die groß angelegten Feierlichkeiten zum „Kolumbusjahr 1492“ inklusive der Expo 92 in Sevilla unter dem Motto „Zeitalter der Entdeckungen“; gleichzeitig war Madrid europäische Kulturhauptstadt, und die spanischsprachige Welt feierte das erste Erscheinen einer kastilischen Grammatik 500 Jahre zuvor. Entsprechend brachten das Jahr 1992 und seine weiträumige Vorbereitung neben einem neuen Rekord von 55 Millionen Besuchern nicht zuletzt erhebliche Verbesserungen der Verkehrsinfrastruktur: Eine Anfang des Jahres als AVE (Tren de Alta Velocidad) eröffnete Schnellzugtrasse, die als Alternative zum Flugverkehr die Metropole Madrid in rund 2,5 Stunden mit Sevilla und Barcelona verband, steht seither als Symbol für ein Ferienland, dessen touristisches Angebot bereits frühzeitig im dritten Jahrtausend ankam (vgl. Exkurs 1: Expo 92). Ein Meilenstein in der spanischen Tourismuspolitik war im erwähnten Jahr 1992 die Verabschiedung des Plan Marco de Competitividad del Turismo Español, des Rahmenplans zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit (FUTURES), der soziale, ökonomische und ökologische Ziele formulierte (vgl. Wenge 2004). Eine Konzentration auf wenige Reiseziele an den Küsten konnte fortan im Rahmen einer Konsolidierung durch Erschließung neuer Destinationen im weniger dicht besiedelten Inland durchbrochen

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werden. Ab Mitte der 1990er Jahre wurde deshalb die touristische Nutzung ursprünglich landwirtschaftlicher Gebäude und die Errichtung von Ferienhäusern gezielt gefördert, mit dem Ergebnis einer fortan zunehmenden Zersiedelung küstennaher Landschaften. Ebenso wurde die bis dahin erhebliche saisonale Abhängigkeit vom Strandtourismus der Sommermonate teils durchbrochen; insbesondere die andalusische Costa del Sol (neben den Kanaren und den Strandzonen südlich von Valencia) war zunehmend auch im Winterhalbjahr nachgefragt. Der Plan Integral de la Calidad del Turismo Español (PICTE) von 1999 gab Richtlinien für die Tourismusplanung (2000 bis 2006) vor, die eine Spitzenposition des spanischen Fremdenverkehrs durch Qualitätsoffensiven sichern sollten: Langfristig seien Urlaubsgäste nur durch ein qualitativ hochwertiges Angebot zu überzeugen. Hier deutete sich eine Abkehr von überholten Sol-y-PlayaStrategien früherer Jahrzehnte an. Erhebliche Profitmargen bei der Planung und Errichtung neuer touristischer Zentren brachten allerdings nicht allein urbanistischen Wildwuchs im Umfeld gefragter Destinationen, sondern zunehmende Spekulation und Korruption: So fanden sich beispielsweise Bürgermeister und Stadträte des andalusischen Badeortes Marbella aufgrund von Verstrickung in illegale Baugeschäfte seit Mitte der 1990er Jahre gleich mehrfach im Gefängnis wieder. Unregelmäßigkeiten bei der Erteilung von Baugenehmigungen sollten die spanische Justiz im Lauf der folgenden Jahrzehnte in zahlreichen Kommunen beschäftigen. In den 1990er Jahren gelang ferner die Erschließung neuer Absatzmärkte: Neben Briten, Deutsche und Franzosen sowie US-Bürger und Japaner traten Touristen aus anderen Ländern Asiens, an erster Stelle große Kontingente von Koreanern und Chinesen; nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden auch Bewohner der ehemaligen Sowjetunion und ihrer Satelliten in wachsender Zahl von der Iberischen Halbinsel angezogen bzw. durch gezielte Vermarktungsstrategien internationaler Tourismusplayer ins Land gebracht. Allerdings zeigten sich eine Generation nach Einsetzen des Massentourismus Ermüdungserscheinungen, die bereits im Laufe der 1990er Jahre unübersehbar wurden: Wassermangel und Naturverbrauch, Monokultur und Steigerung der Lebenshaltungskosten, schließlich auch eine zunehmende Gentrifizierung wurden auf Mallorca (vgl. Isenberg 1992) und in anderen von Besuchern überfluteten Orten zunehmend von regionalen Initiativen und Selbsthilfegruppen aufgegriffen, die nach der Jahrtausend-

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wende eine weiträumige Regulierung und Neuorientierung des spanischen Fremdenverkehrs anmahnen sollten (vgl. den Abschnitt Tourismuskritik in Spanien). Diversifizierung und Flexibilisierung (2005-2020)

Unter dem vielversprechenden Motto „Spanien prägt Dich“ standen die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts im Zeichen einer weiteren Steigerung von Besucherzahlen und Kapazitäten (von 1,9 Millionen Hotelbetten 1990 über 2,6 Millionen im Jahr 2000 auf 3,5 Millionen in 2017) sowie der Bemühung um touristische Diversifizierung und ein positives ImageBranding. Das Angebot sollte jetzt neben individuellen Freizeitinteressen des Reisepublikums auch aktuelle Modeströmungen aufgreifen. Wer hätte zu Beginn der Erschließung in den 1960er Jahren darauf gewettet, dass Birdwatching, Wildwasser-Rafting oder Koch- und Malkurse eines Tages einen festen Platz im touristischen Angebot der Iberischen Halbinsel okkupieren würden? Der spanische Tourismusplan „Horizont 2020“ nahm vor allem eine Stärkung der Nachhaltigkeit für die Jahre 2008-2012 in den Blick, ließ sich aber im Gefolge der internationalen Finanzkrise nur eingeschränkt umsetzen. Der anschließende „Nationale Integrale Tourismusplan“ (PNIT) von 2012 verfolgte u. a. das Ziel, eine künftige Wettbewerbsfähigkeit der Branche weiterhin zu unterstützen. (Nohlen 2020, 114) Insgesamt gelang eine weitgehende Diversifizierung des Angebotes selbst in traditionellen ­Zentren des Massentourismus wie etwa Mallorca – aufgrund hoher Besucherzahlen aus Deutschland längst als „teutonisches Territorium“ gehandelt –, das sein anfängliches Image als sogenannte „Putzfraueninsel“ nach der Jahrtausendwende erheblich verändern konnte. Wander- und Radreisen, Golftourismus, Erlebnisreisen, Finca-Urlaub etc. traten hier neben den traditionellen Strandaufenthalt. Geringe Flugkosten und günstige Unterkunftspreise trugen allerdings dazu bei, dass sich im „17. Bundesland der Deutschen“ eine teils exzessive Partyszene ansiedelte; Folge waren erbitterte Proteste von Einheimischen gegen diese und andere Formen touristischer Überfremdung (vgl. Abschnitt Tourismuskritik). An einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von Angebotspaletten der spanischen Destinationen sind internationale tour operators und deren Erfolgskalkül auf der Suche nach Spartenpublikum entscheidend beteiligt.

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Zahlreiche Segmente, die sich im Rahmen einer steten Diversifizierung ihren Platz im Portfolio des spanischen Fremdenverkehrs erobern konnten, lassen sich hier nur im Überblick andeuten. Nachdem sich Städtereisen bereits ab Mitte der 1990er Jahre wachsender Beliebtheit erfreuten (ausgehend von den Olympischen Spielen 1992), waren Ziele wie Barcelona, Madrid und Sevilla im Lauf der folgenden beiden Jahrzehnte besonders nachgefragt (Wenge 2004); ihnen zur Seite traten neue urbane Destinationen wie etwa Bilbao (vgl. Exkurs 3: Der Bilbao-Effekt) und Valencia. Zwischenzeitlich konnte auch das für touristische Routen eher abgelegene Salamanca von sich reden machen, als es im Jahr 2002 gemeinsam mit dem belgischen Brügge zur europäischen Kulturhauptstadt ausgerufen wurde, um dann mit dem „Gaudí-Jahr“ in Barcelona zu konkurrieren. Eine Mischung aus Kultur- und Wandertourismus bietet der Camino de Santiago, der durch gezielte Vermarktung innerhalb von drei Jahrzehnten eine bemerkenswerte Karriere zum Publikumsmagneten erlebte (vgl. Exkurs 2: Der wahre Jakob). In einem Land, dessen Bevölkerung mitteleuropäischer Bewegungslust lange Zeit kopfschüttelnd gegenüberstand, fanden Wander-Angebote (vermarktet beispielsweise durch Kooperationen mit der „Alpinschule Innsbruck“ ASU) in jüngerer Zeit verstärkt Zuspruch, nicht zuletzt beim deutschen Urlaubspublikum. Balearen und Kanaren verfügen inzwischen über ein ansehnliches Netz gut ausgeschilderter Wanderwege, das einer Jahrzehnte währenden, vor allem deutscher Nachfrage geschuldet ist. Daneben traten Destinationen im Umfeld der zahlreichen spanischen Nationalparks und Biosphären-Reservate, die als Naturparks (parques naturales) ein wachsendes Publikum anziehen. Zu Spanien gehören insgesamt 49 UNESCO-Welterbestätten, darunter 43 Stätten des Weltkulturerbes, vier Stätten des Weltnaturerbes und zwei gemischte Kultur- und Naturerbestätten (Stand 2021), die sich allesamt als touristische Attraktion vermarkten lassen. Durch den Ausbau der spanischen Museumslandschaft seit Beginn des Jahrtausends erhielt der Markt für Kultur- und Studienreisen zusätzliche Impulse.3 Neben traditionelle Musentempel wie den Prado traten etwa in Madrid die Sammlungen Thyssen-Bornemisza sowie Reina Sofia, in Barcelona das dortige ­Picasso-Museum, in Málaga eine Dependance der Thyssen-Sammlungen 3

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Zur Aufwertung provinzieller Umgebung durch die Ansiedlung von Museen und Kulturzentren vgl. Kögler 2007.

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und ein weiteres Picasso-Haus sowie eine Niederlassung des Centre Pompidou; ferner die postmodernen Architektur-Ensembles in Bilbao (Guggenheim) und Ciutat de les Arts i les Ciències in Valencia (Architekt Calatrava) sowie weitere Museen, die Werken von Eduardo Chillida in Hernani/ Baskenland, El Greco (Toledo) und Salvador Dalí (Figueres) gewidmet sind – um nur einige Attraktionen zu nennen, die teils neue Destinationen begründen konnten (Vizcaíno Ponferrada 2015, 75-95). Allerdings führte der Trend zur eklektischen Wahrnehmung des Landes auch zu einem stetig wachsenden Individualtourismus, der die Verfügbarkeit preisgünstiger Flugtickets mit kurzer Verweildauer kombiniert und über eine sprunghaft gestiegene Nutzung von Privatquartieren das Problem einer Gentrifizierung historischer Stadtzentren provoziert (vgl. Abschnitt: Tourismuskritik in Spanien). Kulturtouristische Routen, die ein regionaltypisches Motto mit provinzieller Topographie verbinden („Route des Don Quijote“ in der Mancha, „Route des Weins“ und „Route der Trauben“ in der Provinz Málaga, „Route der weißen Dörfer“ in Cádiz etc.) finden sich in Spanien in großer Zahl. Sie verdanken ihre Existenz einer Besinnung auf die Attraktionen des jeweiligen regionalen Umfeldes angesichts der ansonsten drohenden Konzentration auf großformatige Events an wenigen Orten. Als Antwort auf die Vermarktung Sevillas 1992 beispielweise konzipierte ein in Granada ansässiges Konsortium historische „Routen von Al-Andalus“, die heute mit einer phantasievollen Beschilderung in ostandalusischen Provinzen für den Besuch abgelegener Ortschaften werben. Durch neu errichtete Kongresszentren wurden zahlreiche Provinzhauptstädte nach der Jahrtausendwende zu Destinationen eines wachsenden Tagungstourismus. War die Infrastruktur etwa für Lernkurse der spanischen Sprache in früheren Zeiten auf wenige ausgewiesene Orte beschränkt (in erster Linie Madrid und das altkastilische Salamanca sowie Sommersprachkurse einzelner Universitäten), haben sich entsprechende Angebote längst in den meisten touristisch attraktiven Destinationen angesiedelt; ähnliches gilt etwa für Flamencotanz in Andalusien und selbst für Kochkurse im Baskenland. Nachdem die erforderliche Infrastruktur ausgebaut wurde, hat internationaler Golftourismus in Spanien erheblich zugenommen, mit der unvermeidlichen Begleiterscheinung von erhöhtem Wasser- und Geländeverbrauch sowie einer gewissen Gentrifizerung durch Luxusressorts für Golfspieler. Das Segment der Incentive- bzw. Eventreisen konnte ebenfalls

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in den zurückliegenden Jahren erheblichen Zuwachs verbuchen, zumeist über Kurzaufenthalte im Umfeld einzelner Metropolen. Zuvor ungeahnte Probleme brachte schließlich der Boom des Kreuzfahrt-Tourismus in den Hafenstädten der Halbinsel (Barcelona, Valencia, Málaga, Cádiz) sowie in Palma de Mallorca und auf den Kanaren: Landgänge von Passagieren schwemmen hier tageweise Zigtausende von Touristen gruppenweise in die historischen Stadtzentren der Hafenorte; hinzu kommen ökologische Beeinträchtigungen durch Schiffsabgase, Abwasserund Müllentsorgung. Zwischen 2006 und 2019 steigerten sich die Passagierzahlen von rund vier Millionen auf über 10,5 Millionen, die Hälfte allein in Barcelona und den Balearen (gefolgt von den Häfen Santa Cruz de Tenerife, Las Palmas de Gran Canaria, Málaga, Valencia und Cádiz). Tabelle 3: Kreuzfahrttourismus 2006-2020

Quelle: .

Während in voran gegangenen Jahrzehnten Rückgänge der Besucherzahlen (1974-1976 sowie 1990/91) keine längerfristig negativen Effekte zeitigten, konnten die ökonomischen Folgen der internationalen Finanzkrise ab 2008 erst sieben Jahre später aufgefangen werden. Erstmals sank der Umsatz für längere Zeit drastisch: Zwar war die Besucherzahl von 2007 (insgesamt 100 Millionen Ankünfte in den Sparten Übernachtungsund Tagestouristen) nach fünf Jahren wieder erreicht, doch die damaligen

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Einnahmen von 43 Milliarden Euro wurden erst 2014 wieder leicht übertroffen. Durch die Covid-19-Krise ab März 2020 schließlich sah sich der spanische Tourismusmarkt innerhalb eines Jahres um ein Vierteljahrhundert zurück katapultiert auf den Umsatzlevel von 1995. Exkurs 1: Expo 92 Die Weltausstellung (Exposición Universal de Sevilla) vom 20. April bis 12. Oktober 1992 auf der Insel La Cartuja stand anlässlich des 500. Jubiläums der ersten Kolumbus-Reise unter dem Thema „Das Zeitalter der Entdeckungen“. Die Ausstellung führte bereits im Vorfeld zu zahlreichen infrastrukturellen Maßnahmen in der Stadt und ihrem andalusischen Umfeld, wie etwa ein Ausbau der Autobahnverbindungen Madrid-Sevilla und Sevilla-Cádiz. Zugleich wurde der Flughafen Sevilla erweitert und über ein Autobahnteilstück mit der Innenstadt verbunden. Es kam zur Verlängerung des Alfons-XIII.-Kanals und zur Errichtung sechs neuer Brücken über den Guadalquivir, wie die Alamillo-Brücke des spanischen Architekten Santiago Calatrava sowie die Barqueta-Brücke. Flussabwärts wurde der Hafenbereich aufgebessert. Zusätzlich entstanden zahlreiche neue Bauwerke, z. B. das Teatro de la Maestranza, ein Kongress- und Messepalast, ein Auditorium sowie mehrere Hotels und Verwaltungsgebäude. Die gesamte Ausstellungsfläche betrug 168 Hektar, die von 108 Ländern genutzt wurden, außerdem von den 17 Regionen Spaniens, zahlreichen internationalen Organisationen, mehreren nationalen und multinationalen Unternehmen. Daneben gab es thematische Pavillons sowie künstlerische und archäologische Ausstellungen. Um die Besucher vor der Sommerhitze zu schützen, wurde auf dem Expo-Gelände ein künstlicher See angelegt, den man mit unzähligen Brunnen, Kanälen, Wasserleitungen, Wasserfällen und Zerstäubern ausstattete. Das Ufer war mit tausenden von Bäumen und Sträuchern bepflanzt, als zusätzliche Schattenspender dienten riesige Pergolen, Behänge und Sonnenschirme. Mit einer Gesamtbesucherzahl von 18,5 Millionen Menschen wurden diesbezügliche Erwartungen übertroffen. Allerdings war der Erfolg entscheidend davon abhängig, dass die Bevölkerung Sevillas in erheblichem Umfang von großzügigen Eintrittsregelungen Gebrauch machte; der Zustrom ausländischer Gäste ließ demgegenüber zu wünschen übrig. Nach ihrer Schließung geriet die Veranstaltung jahrelang in die Kritik, weil negative ökonomische Effekte (etwa Preissteigerungen auf dem Immobilienmarkt und Arbeitslosigkeit) in der Folge des Eventjahres seine Vorteile zu überwiegen schienen. Beispielsweise schnellte die Zahl unbeschäftigter Arbeitskräfte im Bausektor in der Provinz Sevilla im Jahr 1992 um 80 %

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in die Höhe. Nur ein Teil des Geländes konnte in einen Technologiepark (Cartuja 93) umgewandelt werden bzw. als Freizeitgebiet (Isla Mágica) langfristig Nutzung finden. Mangels nachhaltiger Planungen musste etwa ein Fünfsternehotel in ein Krankenhaus umgewandelt werden; ehemalige Pavillons der Ausstellung werden bis heute nur teilweise von Wirtschaftsunternehmen genutzt (Klaußecker 1996). Exkurs 2: Der wahre Jakob Seit Mitte der 1980er Jahre erlebt der historische Pilgerweg nach Santiago quer durch die Regionen des spanischen Nordwestens eine unerwartete Konjunktur. Hotels und Gaststätten am Wege verbuchen steigende Besucherzahlen, bereits verfallene Herbergen werden instandgesetzt, Kirchen und Klöster eifrig besucht. Eine offizielle Statistik der Kathedrale zu Santiago verzeichnete für das Jahr 1991 genau 7.274 Pilger zu Fuß oder mit dem Fahrrad – nach den Spaniern lagen hier die Deutschen an erster Stelle. Mit dem Reisebus in organisierten Pilgergruppen kamen demgegenüber über 16.000 Personen aus 27 Ländern. Zwei Jahre später, im Heiligen Jahr (wenn der Namenstag des Heiligen Jakobus am 25. Juli auf einen Sonntag fällt) wurden über 100.000 Pilgerurkunden ausgestellt, für Besucher nämlich, die zu Fuß, zu Pferde oder mit dem Rad wenigstens einhundert Kilometer auf dem Camino zurückgelegt hatten. Nirgendwo erfasst ist jedoch die enorm wachsende Zahl der lediglich kunst‑ und kulturbegeisterten Touristen, die den Weg abschnittsweise oder in seiner vollen Länge auf spanischem Territorium erkunden. Innerhalb weniger Jahre avancierte die historische Pilgerroute zum erfolgreichen Standardprogramm in den farbigen Katalogen der Veranstalter für Studien‑ und Wanderreisen. Der spanische Fremdenverkehr sollte dem Heiligen Jakobus dankbar sein, sah sich die Branche doch im Nordwesten vom europäischen Tourismus eher stiefmütterlich behandelt bis der Jakobsweg aus einem vergessenen europäischen Kulturbewusstsein auftauchte und sich Erfolgsautoren wie Hape Kerkeling auf den Weg nach Santiago machten, mit entsprechendem Echo unter ihren Fans. Dabei bietet die historische Pilgerstraße gute Perspektiven für eine Erschließung der nordwestlichen Randregionen. Der Aufschwung statistisch dokumentierter Besucherzahlen nahm in den zurückliegenden Jahrzehnten folgenden Verlauf:

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Tabelle 4: Besucherzahlen am Jakobsweg Jahr Pilger Jahr Pilger Jahr Pilger 1970 68 1980 209 1990 4.918 1971 451 1981 299 1991 7.274 1972 67 1982 1.868 1992 9.764 1973 37 1983 146 1993 99.436 1974 108 1984 423 1994 15.863 1975 74 1985 690 1995 19.821 1976 243 1986 1.801 1996 23.218 1977 31 1987 2.905 1997 25.179 1978 13 1988 3.501 1998 30.126 1979 231 1989 5.760 1999 154.613)

Jahr 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

Pilger 55.004 61.418 68.952 74.614 179.944 93.924 100.377 114.026 125.141 145.877

Jahr 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Pilger 272.135 183.366 192.488 215.880 237.886 262.459 277.854 301.036 327.378 347.538

Quelle: .

Exkurs 3: Der Bilbao-Effekt Wer sich bei einer Reise auf dem spanischen Jakobsweg wenige Kilometer vom Pilgerpfad entfernt, stößt bei seiner Wanderung durch die Weinberge der Rioja unverhofft auf ein Ungetüm aus kubischen Metallstrukturen, das aus der Ferne betrachtet changiert zwischen Raumschiff und Aluminiumpresse. Tatsächlich handelt es sich um ein Gästehaus der Winzerfirma Bodegas Marqués de Riscal, entworfen vom Star-Architekten Frank Gehry als bewusste Replik seines inzwischen bereits legendären Museumsbaus im benachbarten Bilbao. Die dortige Dependance der New-Yorker Guggenheim-Stiftung landete mit Gehrys monumentalem Gebäude im Herzen der Industriestadt einen architektonischen Coup, der als „Bilbao-Effekt“ von sich reden machte. Seit der Eröffnung des Museumstraktes im Jahre 1997 kamen weit mehr als 20 Millionen Touristen in die Stadt, eine veranschlagte Besucherzahl von 600.000 Personen im Jahr wurde somit weit übertroffen, und Guggenheim Bilbao kalkuliert inzwischen mit einem Publikum von zuletzt 1,2 Millionen im Jahr 2019 (somit deutlich mehr als das New Yorker Stammhaus), davon rund 70 % Ausländer. Bilbao stellt damit eines der erstaunlichsten Phänomene des internationalen Kulturtourismus zu Beginn des 3. Jahrtausends: Ein Museum, das nicht in erster Linie durch seine Exponate, sondern durch seine Architektur und sein Konzept Millionen begeistert – ein Effekt freilich, der von langer Hand geplant wurde. Hätte man Baukosten von 140 Millionen Euro, verteilt auf einen vierjährigen Erstellungszeitraum, nicht besser in die Beseitigung von Industriebrachen i­nvestiert,

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fragten nicht wenige Basken noch im Vorfeld der ersten ­Vernissage. Tatsächlich gilt das riesige Museumsschiff aus silbern funkelndem Titan aber inzwischen längst als Symbol für die postmoderne Erneuerung der spanischen Kulturszene in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten und einer damit einher gehenden wirtschaftlichen Prosperität auch der Stadt Bilbao. Denn trotz erneuerter Uferpromenaden, moderner Bistros und traditioneller Kaschemmen ist das Umfeld Bilbaos wie die Stadt selbst nicht eben schön zu nennen und besteht weiterhin aus gigantischen Industriebrachen, deren riesige Oberfläche nach 150-jähriger Ausbeutung kaum transformationsfähig ist. Vor Eröffnung des Museums setzte also kaum jemand freiwillig einen Fuß in dieses Ambiente. Eines der ältesten Industriezentren Europas, seit dem Niedergang der Hochöfen von anhaltenden Krisen gebeutelt, erlebte fortan einen spektakulären Aufschwung. Aus einer nitratverseuchten Werftenlandschaft an den Ufern des Flusses Nervión wurde ein Pilgerziel der internationalen Kunst-Schickeria, und das Guggenheim avancierte zum Wahrzeichen dieser gelungenen Transformation. Neben Frank Gehry verhalfen weitere international bekannte Architekten der Stadt zu einem Face-Lifting: Norman Foster konstruierte die U-Bahn, Alvaro Siza entwarf ein Universitätsgebäude, Santiago Calatrava konzipierte neben einem Flughafen-Terminal auch eine Fußgängerbrücke. Kernstück dieser urbanen Vision im Baskenland bleibt aber das Guggenheim, dessen Magnetismus alle futuristischen Elemente seiner Umgebung in den Schatten stellt. Die glänzende Hülle des „Guggenheim“ spiegelt vor, was es innen nicht einhält – nicht aus Geldmangel, wie in anderen Fällen, sondern als Programm (Kügler 2008, 407). Das tourismusstrategische Kalkül indes ging auf, Bilbao wurde gerettet: durch ein Museum. Wenig später schickte sich auch Valencia an, mit einer Runderneuerung durch den berühmt gewordenen Sohn der Stadt, den Architekten Santiago Calatrava, in die Fußstapfen des Bilbao-Effektes zu treten, wenn auch bislang weniger erfolgreich.

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Herkünfte und Destinationen4

In der bundesrepublikanischen Reisegunst konnte sich Spanien gegen die Konkurrenten Italien und Österreich durchsetzen: Mehr als zehn ­Millionen Deutsche fahren Jahr für Jahr in das Königreich, im Rekordjahr 2019 waren es 11,2 Millionen; beinahe gleichauf liegen die Franzosen (11,2 Millionen). Ganz oben im Ranking der Besucherzahlen rangieren allerdings mit mehr als 18 Millionen die Reisegäste aus Großbritannien. Rund ein Drittel aller Touristen kommt aus dem spanischen Inland, ein weiteres Drittel aus europäischen Herkunftsregionen bzw. verteilt sich auf Nord- und Südamerika sowie Russland und Asien. Tabelle 5: Wichtigste Herkunftsländer

Quelle: .

Nach wie vor stehen die Küstenregionen im Mittelpunkt der internationalen Nachfrage: Im Jahr 2019 Katalonien (20 Millionen), B ­ alearen 4

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Vgl. .

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(14 Millionen), Kanaren (13 Millionen) gefolgt von Andalusien (10 Millionen) und der Autonomen Gemeinschaft Madrid (7,5 Millionen) sowie den Stränden von Alicante und Valencia. Allerdings brachte die zunehmende Diversifizierung des Angebots eine bessere regionale Verteilung und sorgte vor allem für einen wachsenden Städtetourismus. Mit 8,2 Millionen Besuchern lag Barcelona im Jahr 2018 auf Platz drei der meist besuchten Städte Europas (nach London und Paris), Madrid folgte mit 5,2 Millionen an achter Stelle des Rankings. Zwei Drittel aller Reisenden kommen in den Monaten Mai bis Oktober; innerspanische Feriengewohnheiten wiederum führen zu einer weiteren starken Nachfrage im Juli und August. Während die Hotels mancher Küstenzonen (am Atlantik und der Costa Brava) nach wie vor winters geschlossen bleiben, haben andere Destinationen (vor allem Kanaren, Mallorca, Costa Blanca und Costa del Sol) eine ausgewogenere Nachfrage im Jahresverlauf erreicht. Im Durschnitt gaben internationale Touristen im Jahr 2019 mehr als 150 Euro pro Tag in Spanien aus. An der Spitze der europäischen Gäste stehen hier, wie auch bei der Aufenthaltsdauer, die Deutschen mit 138 Euro bei durchschnittlich 7,6 Tagen Aufenthalt.5 Spanischer Binnentourismus

Erste Ansätze eines Inlandstourismus ergaben sich in den 1880er Jahren, nachdem das Königshaus samt Entourage das baskische AtlantikSeebad San Sebastián als Aufenthalt für die Sommerfrische erkoren hatte. Der Ort (wie auch zeitweise das nordspanische Santander) wurde über Jahrzehnte zum saisonalen Pilgerziel einer nationalen Schickeria. Sommerliche Aufenthalte an der Mittelmeer-Küste kamen nach der Jahrhundertwende auch für eine wachsende katalanische Mittelschicht in Mode, etwa im Seebad Sitges südlich von Barcelona; einige wenige Badeorte verfügten schließlich über eine gewisse touristische Infrastruktur. Seit den 1960er Jahren nutzt der innerspanische Tourismus einerseits die Infrastruktur, die zunächst auf ausländische Nachfrage zugeschnitten war; andererseits trägt er selbst zunehmend zur Erfolgsbilanz der Branche bei.

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Vgl. .

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Denn bei aller internationalen Beliebtheit ihres Landes sind S­ panier selbst die besten Kunden des iberischen Tourismus-Sektors: Mehr als 90 % der Urlaubsreisen machen Spanier im eigenen Land. Hauptziele des innerspanischen Tourismus waren im Jahr 2017 Andalusien (17 %), Katalonien (15 %) und Valencia (rund 10 %). Die Urlaubsaufenthalte der spanischen Bevölkerung konzentrieren sich nach wie vor auf die Sommerferien, die Osterzeit und bestimmte regionale Festivitäten (etwa Sanfermines in Pamplona, El Rocío in Andalusien, San Isidro in Madrid, Ferias in Sevilla und Jerez etc.) sowie von arbeitsfreien Brückentagen. Dabei bevorzugt das spanische Reisepublikum eine Übernachtung in Pensionen und Wohnungen, nicht selten in der eigenen Ferienimmobilie. Zumeist kürzere Auslandsreisen gelten vorwiegend im Sommer den Nachbarländern sowie europäischen Hauptstädten. Rund ein Fünftel aller Inlandstouristen stammt aus dem Umfeld der Metropole Madrid, gemeinsam mit Katalanen und Andalusiern kommt etwa die Hälfte der Urlauber aus diesen drei größten Regionen des Landes (die zusammen nur ein Viertel der spanischen Wohnbevölkerung stellen). Spanische Urlauber geben schon aufgrund ihrer Übernachtungsgewohnheiten (schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung hat Zugang zu einem Zweitwohnsitz) im Durchschnitt deutlich weniger aus als das ausländische Publikum, zumal zahlreiche Aufenthalte von kurzer Dauer sind. Dennoch ist jeder dritte Tourist Inländer, der Binnentourismus trägt gut zu einem Viertel zum gesamten Umsatz des Fremdenverkehrs bei: Im Jahr 2019 entfielen von 120 Milliarden Dollar Branchenumsatz rund 30 Milliarden auf Inlandstouristen. Das Corona-Krisenjahr 2021 wiederum wurde durch Reiseaktivitäten der Spanier gerettet: Laut dem Nationalen Statistikinstitut (INE) waren allein im Juli 14,9 Millionen Übernachtungen von Gästen aus dem eigenen Land zu verzeichnen, ein Rekord gegenüber allen Juli-Monaten seit 1999.

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Tabelle 6: Destinationen des spanischen Binnentourismus (in Millionen Reisende)

Quelle: .

Touristische Infrastruktur

Noch Mitte der 1980er Jahre waren sämtliche wichtigen Kommunikationswege, vor allem die seinerzeit sechs Nationalstraßen und wenigen Eisenbahnlinien, auf die spanische Hauptstadt konzentriert. Das System der Verkehrsverbindungen zwischen einzelnen Provinzstädten ließ demgegenüber erheblich zu wünschen übrig, als relevante Autobahn existierte lediglich eine Trasse an der Levante zwischen Barcelona und Alicante. Nicht zuletzt unter dem Einfluss des Tourismus wurde dieser Rückstand durch Investitionen in den Ausbau der Verkehrswege bis in den ländlichen Bereich hinein aufgeholt. Erhebliche Zuweisungen aus dem interregionalen Ausgleichsfonds (FEDER) der EU ermöglichten zudem eine weiträumige Modernisierung der Verkehrswege. Spanien verfügt heute über eines der besten Straßensysteme in Europa, zeigt allerdings seit der Krise von 2008 regionale Defizite bei der Instandhaltung. Das nationale Schienensystem wurde mit erheblichem Aufwand nahezu beispielhaft modernisiert und erlaubt heute eine zeitsparende und effektive Kommunikation zwischen den Inlandsmetropolen. Den Start-

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punkt dieser Entwicklung bildete die Eröffnung der bereits erwähnten Schnellzugverbindung AVE im Jahre 1992, die ihr Netz bis in die Gegenwart systematisch erweitern konnte. Seit den neunziger Jahren wurden zudem die großen Flughäfen (Madrid, Palma de Mallorca, Barcelona, Málaga) modernisiert und ihre Kapazität erheblich ausgedehnt, Madrid-Barajas bis 2006 zu einem der größten europäischen Flughäfen ausgebaut (ein ähnliches Planungsvorhaben bestand vor der Coronakrise für den Flughafen Barcelona); diverse Versuche, in der spanischen Provinz an Orten wie Castellón, Huesca oder Ciudad Real neue internationale Flugplattformen zu installieren, endeten allerdings mit spektakulären Fehlinvestitionen in „Geisterflughäfen“. Das gesamte spanische Flugaufkommen lag im Jahr 2004 bei 165 Millionen Passagen, die jährliche Steigerungsrate bewegte sich teilweise bei über 10 %, und 15 Jahre später (2019) erreichte die Zahl der Passagiere an spanischen Flughäfen rund 275 Millionen. Neben einer enormen Steigerung der Hotelkapazitäten sind die zurückliegenden beiden Jahrzehnte durch ein stetig wachsendes Angebot von Appartements und Ferienwohnungen gekennzeichnet; deren Vermarktung über Internetportale ermöglichte Privatanbietern eine Marktpräsenz, die sich auf das spanische Wohnungsangebot generell auswirken sollte und deshalb in jüngster Zeit zunehmend kritisiert wird (vgl. Abschnitt Tourismuskritik). Zur touristischen Infrastruktur zählt ein hinreichendes Potential an Arbeitskräften, wie es mit den Jahren verstärkt nachgefragt wurde. Problematisch ist dabei die Abhängigkeit von den Sommermonaten, während Servicepersonal über den Rest des Jahres wesentlich weniger Anstellung findet. Während ungelernte, nicht selten ausländische Saisonkräfte nach wie vor einen erheblichen Teil des Tourismuspersonals stellen, bemühte sich die Branche bereits früh um Angebote der Aus- und Fortbildung. Bereits in den 1970er Jahren etablierten sich in Spanien Studiengänge für Tourismus mit der Option einer Spezialisierung auf Betriebswirtschaft und Hoteladministration oder neu entstandene Berufsbilder im Bereich des Kulturtourismus (lizensierte Guides, Eventmanager etc.). Daneben wurden die meist kommunalen Angebote im touristischen Informationswesen erweitert, inklusive einer entsprechenden Produktpalette an gedruckten Broschüren sowie Internet-Auftritten. Unter dem Eindruck einer stetig wachsenden Nachfrage erfuhren die Nahverkehrsnetze an Brennpunkten (vor allem im Küstenbereich) einen Ausbau, der ohne entsprechende touristische Nutzung weder ­rentabel noch finanzierbar wäre. Ebenfalls durch kontinuierliche Auslastung konnten

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Busunternehmen ihre Flotten auf dem jeweils modernsten Stand halten; internationale Carrier wie etwa TUI betreiben seit langem eigene Transportnetze an ihren Hotelstandorten; ein enormes Angebot von Mietwagen vor allem in Badeorten und an Flughäfen ermöglicht seit geraumer Zeit eine Erkundung des jeweiligen Hinterlandes. Spanien unterhält im europäischen Vergleich den bei weitem größten touristischen Fuhrpark, weist allerdings auch den höchsten Grad saisonal bedingten Nutzungsausfalls von Fahrzeugen sowie Leerstands bei Hotels und Ferienimmobilien auf. Tourismus als Wirtschaftsfaktor

Der Anteil des Dienstleistungsbereichs am spanischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigerte sich in den Jahren des Tourismus-Booms von rund 40 % (1960) auf nahezu 75 % (2018); ebenso arbeiteten dreiviertel aller Beschäftigten vor der Coronakrise im tertiären Bereich; hier firmieren in erster Linie die Sektoren Hotellerie, Gastronomie sowie Verkehr als touristisch relevant. Tabelle 7: Beitrag des Tourismussektors zum BIP

Quelle: .

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Die Urlaubsbranche als export-substituierende Sparte trug somit in ganz Spanien vor der Coronakrise rund 12 % zum Bruttoinlandsprodukt bei, auf den Balearen und auf den Kanaren mehr als 35 %. Allerdings sind derartige Schätzungen zur spanischen Volkswirtschaft unzuverlässig, denn die ermittelten Werte spiegeln nur unzureichend die jeweilige regionale Reichweite des Fremdenverkehrs. So kann zwar ein Hotel im Küstenbereich eindeutig der Tourismusbranche zugeordnet werden; aber wie steht es um eine benachbarte Wäscherei, die sowohl Hotelbedarf als auch Textilien von Touristen und Einheimischen reinigt? Ohne die Nachfrage durch den Tourismus stünden nicht selten auch Betriebe, die nicht primär dem Fremdenverkehrssektor angehören, aufgrund erheblicher Umsatzeinbußen vor der Schließung; ähnlich steht es um zahlreiche Einrichtungen der Gastronomie, die nur teilweise mit touristischen Gästen ihren Umsatz erzielen, etc. oder um Bereiche des Bausektors, sofern sie touristische Objekte errichten. Die tatsächliche Reichweite des Fremdenverkehrs im BIP muss deshalb größer definiert (womöglich mehr als verdoppelt) werden, als es die statistischen Daten nahelegen, sofern sich diese lediglich auf das primäre Tourismusgeschäft innerhalb des Dienstleistungssektors beziehen. Ähnliches gilt für den Anteil der spanischen Tourismusbranche am Arbeitsmarkt (vor der Coronakrise rund eine Million Beschäftigte). Der indirekte Anteil jedoch dürfte rund das Dreifache betragen. Tabelle 8: Beitrag des Tourismussektors zum Arbeitsmarkt

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Ferner besteht für einzelne Regionen (in erster Linie die Badestrände des Festlandes und der Inseln) eine nahezu totale Abhängigkeit von touristischer Wertschöpfung, während zahlreiche Autonome Gemeinschaften (u  a. die beiden Kastilien, Extremadura, Aragonien, La Rioja sowie Galicien außerhalb des Jakobsweges) vergleichsweise wenig frequentiert werden. Dieser Zusammenhang zeigte sich besonders deutlich unter dem Einfluss der Coronakrise auf den Balearen. Innerhalb weniger Monate waren bereits erhebliche Bereiche des Dienstleistungssektors in ihrer Existenz bedroht, zahlreiche Mallorquiner rutschten zumindest zeitweise in prekäre Verhältnisse6 und Beobachter prognostizierten langfristige Folgen für die Sozialstruktur der Inseln7. Eine statistisch schwer zu erfassende Kategorie stellt der im Lauf von Jahrzehnten erheblich gewachsene Sektor des so genannten „Residenztourismus“. Ausländer (vor allem Briten und Deutsche) mit Erst- oder Zweitwohnsitz in Spanien sowie Inländer mit Feriendomizilen sind am Immobilienboom vor allem der Küstenzonen stark beteiligt. Veränderte Arbeitsgewohnheiten sowie wachsende Ansprüche an die Lebensgestaltung im Rentenalter brachten vor allem auf den Balearen und Kanaren Langzeitaufenthalte (zumeist für eine begrenzte Lebensphase) so genannter Residenten, deren Beitrag für die Nachfrage im Immobiliensektor erheblich, für die touristische Wertschöpfung aber schwer abzuschätzen ist. (Breuer 2008, 154-160). Tourismuskritik in Spanien

Kritische Stimmen gegen Auswirkungen des touristischen Booms sowie entsprechende Initiativen mit teils radikalen Forderungen gibt es in Spanien bereits seit den 1970er Jahren. Die Umweltgruppe GBO (Grup Balear d’Ornitologia I Defensa de la Naturalesa) etwa wurde 1973 als anfängliche Vogelschutzinitiative auf den Balearen begründet und machte sich durch Jahrzehnte währende Protestaktionen bekannt (Isenberg 1992). Im ­Mittelpunkt der Kritik auf Mallorca wie auch anderswo stehen ­ökologische

6 Vgl. . 7 Vgl. .

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(Glaser 2017), ökonomische und soziale Aspekte einer zunehmend vom Massentourismus geprägten Umwelt und Gesellschaft. Naturschädigung und Geländeverbrauch im spanischen Küstenbereich sind augenfällig und führten an zahlreichen Orten zu langjährigen Protestbewegungen. Als ökologische Folge des Tourismus-Booms gibt es unter anderem ein Wasserproblem: Ein vor allem im Süden des Landes und auf den Inseln stetig zunehmender Wassermangel verstärkt sich durch die Saisonabhängigkeit des Badetourismus von den Sommermonaten. In Südspanien, das sich seit den1980er Jahren zu einem riesigen Obst- und Gemüseanbaugebiet entwickelt hat und zugleich immer mehr Touristen anzog, sind die Wasserreserven besonders gering.8 Nach Dürrezeiten können sich Reservoirs und Grundwasser nicht ausreichend erholen: Im Jahr 2017 herrschte in der Region die schlimmste Trockenheit seit Beginn verlässlicher Klimaaufzeichnungen (1947). Der Streit um die Nutzung der verfügbaren Reservoirs und Flussläufe hat deshalb längst zu innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Regionen geführt. Unter diesen Bedingungen steht der Tourismus auch künftig in direkter Konkurrenz zum landwirtschaftlichen wie urbanen Verbrauch einer stetig knapper werdenden Ressource.9 Nicht zuletzt ein langfristig gewachsener Druck des Fremdenverkehrssektors auf den Immobilienmarkt führte durch eine erhebliche Verzerrung des Preisgefüges in eine Jahre dauernde Immobilienkrise ab 2008. Aber auch im kulturellen Umfeld bleibt die touristische Nachfrage nicht ohne Folgen für die spanische Wohnbevölkerung, wenn etwa Eintrittskarten für Museen und Musikveranstaltungen immer schwerer erhältlich sind und mit langem Vorlauf im Internet reserviert werden müssen. Im letzten Jahrzehnt traten Aspekte der sozialen Verträglichkeit zunehmend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Anlass gab neben einer „Ballermann-Kultur“ auf Mallorca sowie Belastungen durch den bereits erwähnten Kreuzfahrttourismus vor allem eine zunehmende Präsenz touristisch genutzter Objekte auf dem kommunalen Wohnungsmarkt – mit 8 Vgl. ; ; . 9 Zur Konkurrenz von landwirtschaftlicher und touristischer Nutzung am bedrohten Feuchtbiotop Mar Menor in der Provinz Murcia vgl. .

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der Folge einer Gentrifizierung, die inzwischen Merkmale eines Kulturkampfes trägt. Private Übernachtungsangebote des Internetportals Airbnb erfuhren ab etwa 2015 in Spanien und hier besonders in Barcelona, Madrid und Málaga eine enorme Steigerung. Daran beteiligt war ein vorangegangener Leerstand, der im Zusammenhang mit der Immobilienkrise nicht selten zur Verdrängung vormaliger Bewohner und zum Eigentümerwechsel geführt hatte. In Barcelona etwa stiegen die Monatsmieten für Wohnungen zwischen 2013 und 2017 um beinahe 60  %. Gleichzeitig führte die touristische Nutzung im Jahr 2018 zu mehr als 17.000 Einträgen im Internet, die Zimmer oder ganze Wohnungen tageweise anboten, rund Zweidrittel lagen in der besonders gefragten Altstadt sowie im benachbarten Viertel Eixample.10 Um einer drastischen Veränderung des Wohnumfeldes ganzer Stadtquartiere entgegenzuwirken, formierten sich mit Gruppen wie ABTS11 (Asamblea de Barrios por un Turismo Sostenible, „Anwohnerversammlung für nachhaltigen Tourismus“) oder PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca, „Plattform von der Hypothekenkrise Betroffener“) diverse Basisbewegungen; inzwischen fand eine europaweite Vernetzung derartiger Initiativen in Kommunen statt, die eine ähnliche Problemstellung zu bewältigen haben (an erster Stelle Venedig, aber zunehmend auch Madrid und Sevilla). Eine mit der Lizensierung und Überwachung des Wohnungsmarktes beschäftigte Abteilung der Barceloneser Stadtverwaltung erreichte im August 2017, dass die Vermietungsplattform Airbnb über 1.000 illegal vermarktete Wohnungen löschen musste. In der „Nach-Corona-Ära“ wird mit erneut wachsenden Besucherzahlen auch das Problem der touristischen Gentrifizierung erneut virulent. Wie geht es weiter?

Anlässlich einer Tageswanderung in der andalusischen Provinz Málaga zwischen Fuengirola und Torremolinos konnte sich der Verfasser dieser Zeilen im Mai 2019 davon überzeugen, dass auf 18 Kilometern Küstenabschnitt nur noch wenige Meter ohne Bebauung waren. Die lückenlose Erschließung des als Costa del Sol bekannten südwestlichen Streifens von Málaga bis Estepona durch Hotels und Appartements ­unterschiedlicher 10 Zur Gentrifizierung durch privates Übernachtungsangebot in Barcelona vgl. Prinz 2018. 11 Vgl. .

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Komfortzonen und Erschließungsphasen reicht hier (wie auch an anderen Standorten) weit ins Hinterland. Die Übernachtungskapazität wird auf rund 120.000 Betten geschätzt, insgesamt kamen 2019 über 13 Millionen Feriengäste (bei einer Residenzbevölkerung von ca. zwei Millionen). Damit ist die Region eine der größten touristischen Agglomerationen weltweit. Das Einkommen der Bevölkerung (sofern es sich nicht um ausländische Pensionäre handelt) hängt hier wie in anderen spanischen Küstenzonen überwiegend von der Wertschöpfung aus dem Fremdenverkehr und deren Verteilungseffekten im regionalen Binnenmarkt ab. Eine tagesfüllende Exkursion durch dieses Ambiente bietet reichlich Anlass für Spekulationen über die Zukunft des Massentourismus – vor allem, wenn man sich nach dem Verzehr des gefühlt schlechtesten Hamburgers aller Zeiten schwer tut, inmitten eines unwegsamen Betondschungels die Uferpromenade wieder zu finden. Was wird mit dieser und anderen urbanisierten Küstenlandschaften geschehen, wenn Umsätze aus dem Fremdenverkehr für längere Zeit auf sich warten lassen oder gänzlich wegfallen? Unter diesem Aspekt zeigte sich die vor Saisonbeginn 2020 plötzlich einsetzende Coronakrise als ein tourismusstrategisches bzw. raumplanerisches Laboratorium. Eine wachsende Nachfrage durch internationalen Individualtourismus hatte Auswirkungen auch auf die Infrastruktur der Provinzhauptstadt Málaga, die lange Zeit lediglich als Durchgangsstation zu den Badestränden der Costa del Sol frequentiert wurde. Das innerstädtische Bettenangebot wurde hier zunächst ab etwa 2010 durch die Einrichtung zahlreicher kleinerer Boutique-Hotels drastisch erweitert; wenige Jahre später setzte ein regelrechter Boom touristisch genutzter Appartements im historischen Zentrum von Málaga ein. Von rund 35.000 Ferienwohnungen in der gesamten Provinz befinden sich mittlerweile 6.000 im Stadtgebiet. Insgesamt stieg das Angebot touristischer Appartements im Stadtgebiet innerhalb von nur fünf Jahren (ab 2015) von 2.000 auf 26.000 Betten, während die Wohnungsmieten im gleichen Zeitraum einen Anstieg von mehr als 50 % verzeichneten.12 Das Beispiel zeigt: Im Verbund mit günstigen Tickets der Billig-Fluglinien sowie einer Aufwertung des kulturellen Umfeldes (allein in Málaga existieren inzwischen rund 40 Museumseinrichtungen von teils 12 Vgl. .

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internationaler Reichweite) beweist der Städtetourismus inzwischen seine Fähigkeit, das Ambiente urbaner Landschaften bis hin zu Einzelhandel und kulinarischem Angebot innerhalb kurzer Zeit radikal zu verändern, inklusive Verdrängung der Wohnbevölkerung. Obgleich manche strategischen Ziele der spanischen Fremdenverkehrsplanung (wie Diversifizierung des Angebotes und Reduzierung der Saisonabhängigkeit) teilweise erreicht wurden, bleibt nach wie vor eine starke Konzentration des internationalen wie auch nationalen Tourismus auf die Strandzonen (rund dreiviertel aller Aufenthalte gelten Provinzen mit Küstenbereich) und auf die Sommermonate. Grenzen des touristischen Wachstums wurden bereits vor der jüngsten Krise diskutiert.13 Angesichts zahlreicher Unwägbarkeiten der Nach-Corona-Phase könnte jetzt erstmals in der spanischen Tourismus-Geschichte nicht ein weiterer Ausbau von Kapazitäten und Infrastruktur, sondern ein geordneter Rückbau vorhandener Installationen auf der Tagesordnung stehen – der dann sozialverträglich und ökologisch nachhaltig stattfinden müsste. Die Zukunft der touristischen Topografie (vor allem im spanischen Süden) wird entscheidend von drei heute noch ungewissen Faktoren geprägt sein: Nachfrage des internationalen und nationalen Tourismus aufgrund anhaltender wirtschaftlicher Prosperität; globale Einschränkungen von Reiseaktivität (vor allem im Flugsektor) durch wachsende Umweltauflagen; direkte Folgen des Klimawandels in Gestalt von Temperaturanstieg, Niederschlagsmengen versus Wassermangel sowie Unwettern und Erosionsprozessen. In einem Land, dessen Durchschnittstemperatur die weltweite seit Jahrzehnten um mehr als ein Grad Celsius übertrifft, wird „Klima“ auch künftig der entscheidende Überlebensfaktor für den Fremdenverkehr sein. Das Motto „Alles unter der Sonne“ zeigt sich damit von seiner anderen Seite. In Verbindung mit vermutlich wachsenden Migrationsströmen aus dem globalen Süden Richtung Iberische Halbinsel bietet Spanien trotz und wegen seiner Jahrzehnte währenden Erfolgsgeschichte reichlich Stoff für dystopische Visionen.

13 Vgl. Debate sobre el turismo. Qué hacer con la primera industria de España? Artikelserie in El País 02.-05.08.2017 (vier Folgen).

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Die Folgen der COVID-19-Pandemie in Spanien Marta Latorre Catalán/Juan Ignacio Rico Becerra/ Héctor Romero Ramos Abstract In dieser Arbeit werden die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in Spanien in drei großen Bereichen analysiert: 1. Gesundheit und Gesundheitssystem, 2. Wirtschaft und Beschäftigung und 3. politische und soziale Lage. Spanien hatte eine der höchsten Infektions- und Sterblichkeitsraten, das Gesundheitssystem zeigte erhebliche Mängel, speziell im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens und der Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals. Besonders dramatisch war die Situation in den Altenheimen. Die Pandemie hatte starke, wenn auch nur vorübergehende Auswirkungen auf die Wirtschaft: Nach einem beispiellosen Rückgang des BIP wächst die nationale Wirtschaft wieder, und die Beschäftigungszahlen erholen sich. Hierzu werden politische Maßnahmen zur Erhaltung der Einkommen und der Einsatz von vorübergehender Kurzarbeit und befristeten Entlassungen (ERTE) analysiert. Vor allem auf gesellschaftspolitischer Ebene erweisen sich die Folgen der Pandemie als paradox: Die Ausgangssituation war geprägt von politischer Instabilität, parlamentarischer Zersplitterung und sozialer Polarisierung, doch zwei Jahre später ist die Regierung gefestigt, das gesetzgeberische Handeln war besonders umfangreich, und die spanische Gesellschaft hat mit einem hohen Maß an Konsens und sozialer Disziplin reagiert. Einführung

Als im März 2020, wenige Wochen nach der Entdeckung des ersten Falles einer Coronavirus-Infektion auf der Insel La Gomera, der Alarmzustand ausgerufen und eine komplette Ausgangssperre für die Bevölkerung verhängt wurde, hatte Spanien eine gerade erst neu eingesetzte Regierung, nachdem die vorhergegangenen Wahlen hatten wiederholt werden müssen. Es war die erste Koalitionsregierung in der jüngeren demokratischen

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Geschichte des Landes und das Ergebnis einer fragilen und mutmaßlich instabilen parlamentarischen Mehrheit. Pedro Sánchez, der Vorsitzende des Partido Socialista Obrero Español (PSOE), blieb im Amt, nachdem er zuvor infolge eines Misstrauensvotums gegen die Regierung Rajoy vereidigt worden war – des ersten erfolgreichen Misstrauensvotums in der Geschichte der gegenwärtigen Verfassung. Damals erholte sich die Wirtschaft des Landes noch von den Folgen der Finanzkrise von 2008 und war noch geprägt von hoher Verschuldung und Arbeitslosigkeit sowie einem langsamen, mit vielen Unsicherheiten verbundenen Wachstum. Zu jenem Zeitpunkt verfügte Spanien über ein öffentliches Gesundheitssystem, das in verschiedenen internationalen Rankings zu den besten gehörte und eine hohe soziale Wertschätzung genoss. Kaum zwei Jahre später, nach den Auswirkungen der aufeinander folgenden Ansteckungswellen mit einer der höchsten Sterblichkeitsraten (insbesondere während der ersten Welle) sowie nach der Einführung von den im internationalen Vergleich strengsten Gesundheits-, Restriktionsund Kontrollmaßnahmen und nach einem nur mit den Jahren des Bürgerkriegs vergleichbaren Rückgangs des Bruttoinlandsprodukts, ist die Situation in vielerlei Hinsicht überraschend. Die Regierung zeigt keine nennenswerten Verschleißerscheinungen, trotz ihrer anhaltenden parlamentarischen Schwäche. Die demoskopischen Prognosen sprechen weiterhin für sie, ohne dass sich der Kontext eines zersplitterten Parlaments und einer politisch stark polarisierten Gesellschaft wesentlich geändert hätte, was allerdings jede Wahlprognose oder parlamentarische Perspektive unwägbar macht. Auch das Verhältnis der Koalitionspartner hat sich nicht verschlechtert, obwohl es an Spannungen nicht gefehlt hat und der frühere zweite Vizepräsident und Vorsitzende von Unidas Podemos, Pablo Iglesias, zwischenzeitlich ausgeschieden ist. In diesen zwei vom Ausnahmecharakter der Pandemiesituation bestimmten Jahren der Legislaturperiode hat eine fragile Regierung den Staatshaushalt verabschiedet, was seit mehreren Jahren aufgrund von Diskrepanzen immer wieder hatte verschoben werden müssen, sowie eine Reihe von weitreichenden Gesetzen. Außerdem wurde eine mit Arbeitgebern und Gewerkschaften vereinbarte Arbeitsreform implementiert. Auch wenn die gegenwärtige wirtschaftliche Situation ein hohes Maß an Unberechenbarkeit und Unsicherheit aufweist, liegt das Wirtschaftswachstum derzeit über den Prognosen der Regierung und der wichtigsten internationalen Organisationen, und die Zahlen neu

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geschaffener sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze haben selbst die optimistischsten Schätzungen deutlich übertroffen. Es lässt sich also feststellen, dass all das, was in Spanien unmittelbar vor der Pandemie schwierig oder prekär und unsicher erschien (Politik und Wirtschaft), sich stabilisieren konnte, während das, was als solide und zuverlässig galt (das Gesundheitssystem), Schwächen und Risse gezeigt hat. Zwar werden noch andere Faktoren diskutiert, die die hohe Inzidenz des Virus und die vergleichsweise höheren Sterblichkeitsraten erklären könnten, wie die demografische Struktur des Landes (Überalterung), seine besondere Humangeografie oder kulturelle Variablen wie etwa die Formen der Geselligkeit und ein stärkeres generationenübergreifendes Zusammenleben in den Haushalten (Otero/Molina/Martínez 2020). Dennoch bleibt das Bild eines Gesundheitssystems, das der außergewöhnlichen Wucht der Pandemie nur dank der besonderen Anstrengungen des Gesundheitspersonals standgehalten hat, das durch das Ritual des abendlichen Applauses aus den Fenstern während der härtesten Monate des Lockdowns soziale Anerkennung erhielt. Das Ausmaß der Schwäche (man könnte fast sagen, die Nichtexistenz) des öffentlichen Gesundheitssystems, das Fehlen ausreichender Krankenhausressourcen oder die wachsende Arbeitsplatzunsicherheit des Gesundheitspersonals kamen auf diese Weise erst ans Licht. Innerhalb dieses allgemeinen Eindrucks existieren viele Nuancen, die auf den folgenden Seiten analysiert werden. Zunächst werden die Situation des Gesundheitssystems sowie die Auswirkungen der Pandemie auf dieses untersucht und dabei die verschiedenen Phasen der Pandemie bis zum heutigen Tag (Anfang 2022) überblicksweise beleuchtet. In einem zweiten Schritt werden die sozioökonomischen Folgen analysiert, wobei Folgendem besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird: 1. Die Schwächen, die die spanische Wirtschaft von Anfang an aufwies, und zwar nicht nur in Bezug auf die Konjunktur, sondern auch auf strukturelle Faktoren, insbesondere die Charakteristika des spanischen Produktionsmodells. 2. Der Zusammenhang zwischen den Indikatoren für die Erholung der Wirtschaft und den ergriffenen Maßnahmen und 3. die kurz- und mittelfristig absehbaren Folgen. Schließlich wird der politische und soziale Kontext in den Blick genommen – und zwar sowohl aus der Perspektive des institutionellen Handelns als auch der Legitimierung der ergriffenen Maßnahmen sowie ihrer Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wahrnehmung hinsichtlich ihrer Wirksamkeit.

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An dieser Stelle sei jedoch darauf verwiesen, dass die hier vorgenommenen Schlussfolgerungen zwangsläufig provisorisch sind. Die Pandemie ist nicht vorüber, das verfügbare empirische Material ist entsprechend spärlich, und es ist noch nicht genügend Zeit verstrichen, um die Auswirkungen der Politik und der wirtschaftlichen Maßnahmen, vor allem aber die tatsächlichen Folgen der Pandemie auf Aspekte wie der Anstieg von Ungleichheit oder Armut sowie Bildung und Gesundheit, genau zu bewerten. Zu Letzterem erscheinen fast täglich neue Ergebnisse und Hinweise. Einige sind sehr besorgniserregend, z.  B. diejenigen, die sich auf die Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen und Heranwachsenden beziehen. Die Folgen für Gesundheit und Gesundheitssystem Von China nach Spanien: COVID-19, „Der Wind des Todes“1

Nachdem die ersten Krankheitsfälle im chinesischen Wuhan Ende 2019 öffentlich bestätigt wurden, nahm man in Spanien, wie in anderen Ländern auch, die neue Krankheit zunächst als sehr weit entfernt wahr. Noch am 24. Januar schloss das Gesundheitsministerium die ersten drei Verdachtsfälle aus, da es als sehr unwahrscheinlich galt, dass die Krankheit Spanien erreichen würde. Der inzwischen umstrittene Epidemiologe Fernando Simón Soria, Direktor des Zentrums zur Koordinierung von Gesundheitswarnungen und Notfällen des Gesundheitsministeriums, erklärte gegenüber den Medien:2 „Es ist nicht ausgeschlossen, dass potenziell infizierte Personen hierher kommen könnten, auch wenn die Zahl nicht hoch genug ist, um von einer signifikanten Einschleppung von Fällen auszugehen“. Die obersten Gesundheitsbehörden sandten noch Tage später beruhigende Botschaften, wie die des damaligen Gesundheitsministers, Salvador Illa, vom 29. Januar, als er erklärte:3 „In Spanien wurde kein Fall entdeckt. Aber wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet“. Trotz dieser Aussagen wurde am 31. Januar 2020 der erste positive Fall bestätigt, und zwar bei einem deutschen Urlauber auf La Gomera (Kanarische Inseln), 1 2 3

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Ausdruck entlehnt aus dem Titel des Dokumentarfilms „El viento de la muerte“ der Universidad Clínica de Navarra. El País, 24. Januar 2020. El Médico Interactivo, 29. Januar 2020.

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der in ­Deutschland engen Kontakt zu einer infizierten Person gehabt hatte. Am 9. Februar wurde von einem weiteren Verdachtsfall berichtet, einem Einwohner von Palma de Mallorca, der Kontakt mit einer infizierten Person aus dem Vereinigten Königreich hatte. Vierzehn Tage später, am 24. Februar, griff die Krankheit auf das spanische Festland über, und es wurden Fälle in den Autonomen Gemeinschaften Madrid, Katalonien und Valencia bestätigt. Der Fall Valencia4 ist insofern bemerkenswert, als die Ausbreitung des Virus in ganz Europa nach Ansicht vieler Analysten auf das Achtelfinalspiel der Champions League zwischen Atalanta und Valencia im San Siro Stadion in Mailand (Italien) am 19. Februar zurückzuführen ist. Insgesamt reisten 2.500 Valencianer an, die sich das Stadion mit mehr als 43.000 Zuschauern teilten. Das Spiel wurde als „biologische Bombe“ bezeichnet, da das Sportereignis zu einem Superspreader-Event wurde. Trotzdem war das Coronavirus dem Spiel noch einen weiteren Schritt voraus gewesen. Anfang März wurde bekannt, dass ein mit dem Virus infizierter Mann am 13. Februar in der Nähe von Valencia gestorben war, was bedeutet, dass das Virus bereits vor dem Spiel in Mailand in der Region präsent war. Dies entschuldigt jedoch nicht die Tatsache, dass die Bedeutung der Ansteckungsgefahr bei Massenveranstaltungen hätte bedacht werden müssen, und auch hier waren die Behörden ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Hermelinda Vanaclocha, stellvertretende Generaldirektorin für Epidemiologie des Gesundheitsamtes der Generalitat Valenciana, wusste nichts von dem Spiel, wie sie auf einer Pressekonferenz am 26. Februar5 zugab: „Wir haben gestern von dem Fußballspiel erfahren; es tut mir leid, ich mag keinen Fußball. Wir sind Angestellte des Gesundheitswesens, wir haben keine Veranlassung zu wissen, dass Valencia im ‘el Milán’ gespielt hat“. Solche Haltungen führten zu einem Anstieg der Zahl der Infizierten und der Todesfälle, der sich ab dem 8. März besonders bemerkbar machte. Zu Beginn des Monats gab es in Spanien zwar bereits 430 bestätigte Fälle des Coronavirus und zehn Todesfälle. Das Datum des 8. März sei dennoch hervorgehoben, da die Genehmigung mehrerer Massenveranstaltungen durch die Regierung eine heftige mediale Reaktion hervorrief, insbesondere die Demonstration Hunderttausender Menschen anlässlich des

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La Razón, 19. Februar 2021. Antena 3 Noticias, 26. Februar 2020.

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Weltfrauentags6. In diesem Zusammenhang sollten aber auch die öffentliche Veranstaltung der politischen Gruppierung um Vox nicht übersehen werden, die mehr als 9.000 Menschen in der Stierkampfarena Vistalegre in Madrid zusammenbrachte, sowie das Handballfinale der Copa del Rey, das in der Caja Mágica (Madrid) zwischen Barcelona und Benidorm ausgetragen wurde, und darüber hinaus die Vielzahl an Konzerten sowie Fußball- und Basketballspielen, die in ganz Spanien stattfanden. Am selben Tag wurde in Italien, nicht im „fernen“ China, die Isolierung der Region Lombardei und weiterer vierzehn nördlichen Provinzen Italiens angeordnet, wodurch sich 16 Millionen Menschen im Lockdown befanden. Am Tag vor dem umstrittenen 8. März hatte Fernando Simón in einer Pressekonferenz über die Angemessenheit der Teilnahme an der Demonstration zum Weltfrauentag indes noch gesagt7: „Wenn mein Sohn mich fragt, ob er hingehen kann, werde ich ihm sagen, dass er tun kann, was er will“, wobei er später argumentierte, dass es sich um einen „an Inländer gerichteten Demonstrationsaufruf handelte, so dass ein massiver Zustrom von Menschen aus Risikogebieten nicht zu erwarten sei“. Am 9. März, einen Tag später, hatte die Zahl der bestätigten Fälle in Spanien bereits 1.204 erreicht, darunter 28 Todesfälle. Bedenkt man, dass es acht bis zehn Tage dauert, bis positive Fälle gemeldet werden, handelt es sich bei all diesen Fällen um Kontakte vor dem 8. März. Das bedeutet wiederum, dass das Coronavirus trotz der Aussage des Direktors des Koordinationszentrums für Gesundheitswarnungen und Notfälle des Gesundheitsministeriums bereits im Umlauf war und all diese Massenereignisse lediglich seine Ausbreitung beschleunigten.

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Die Kritik an der Durchführung der Veranstaltung, insbesondere seitens der Oppositionsparteien, richtete sich gegen die Regierung und die Linksparteien, die als Reaktion darauf darin wiederum einen Angriff auf die Frauenbewegung sahen. An der Veranstaltung nahmen bekannte Politikerinnen teil, die wenige Tage später positiv auf COVID-19 getestet wurden (die Ministerin für Territorialpolitik, Carolina Darias, die Ministerin für Gleichberechtigung, Irene Montero, die Ehefrau des Ministerpräsidenten, Begoña Gómez etc.) und die Erste Vizepräsidentin der Regierung, Carmen Calvo, die wiederum mit einer Atemwegsinfektion ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. El Diario.es, 7. März 2020.

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Die fünf Wellen des Coronavirus in Spanien

Bislang hat sich die Inzidenz des Coronavirus in Spanien in fünf Wellen entwickelt und befindet sich derzeit in der sechsten. Es kursieren unterschiedliche Zahlen, aber gemäß den offiziellen Angaben lassen sich die fünf Wellen wie folgt zeichnen: Die erste Welle (Februar bis Juni 2020) löste ohne jegliche Vorwarnung einen rasanten Anstieg von Infektionen, Krankenhausaufenthalten und Todesfällen aus und war besonders im Zentrum der Halbinsel virulent, vor allem in Madrid und den angrenzenden Provinzen (Segovia, Soria, Ciudad Real und Cuenca), sowie in Barcelona (zwar in geringerem Ausmaß, aber dennoch nennenswert). Anfang April sahen sich Katalonien und Madrid aufgrund der Überlastung der Intensivstationen gezwungen, andere Krankenhausbereiche (Operationssäle, Reanimationsräume usw.) in Intensivstationen umzuwandeln. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums starben zwischen März und Mai 29.000 Menschen an dem Virus.8 In dieser Zeit wurde der erste Alarmzustand für ganz Spanien verhängt (Real Decreto 463/2020), der von der Regierung am 14. März genehmigt worden war9 und bis zum 21. Juni in Kraft blieb. Das Dekret verfügte die Einschränkung der Freizügigkeit der Bürger, die Gewährleistung der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Produkten, die Regulierung der Öffnung von Hotels, Restaurants sowie Räumlichkeiten, in denen kulturelle, künstlerische, sportliche und ähnliche Aktivitäten stattfinden, der Vorrang von Homeoffice und die Aussetzung des Schulbetriebs. Die öffentlichen Verwaltungen des Landes wurden dem Gesundheitsminister direkt unterstellt, insbesondere die Gesundheitsbehörden. Gleichwohl behielten die regionalen und lokalen Verwaltungen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Verwaltung der entsprechenden Gesundheitsdienste bei, um deren ordnungsgemäßen Betrieb zu gewährleisten. Abgesehen von den juristischen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Verfassungsgericht in Bezug auf die Verfassungswidrigkeit von Alarmzuständen, war aus gesundheitlicher Perspektive, wie die Arbeit von López et al. (2021) zeigt, „der Lockdown äußerst wirksam, um die Übertragung des Virus zu 8 9

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Wie weiter unten beschrieben, liegen diese und auch andere Zahlen des Gesundheitsministeriums weit unter den Schätzungen anderer Organisationen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte drei Tage zuvor, am 11. März 2020, die Lage von einem öffentlichen Gesundheitsnotstand zu einer internationalen Pandemie hochgestuft.

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s­toppen. Nicht nur für die vorherrschenden Varianten, sondern für alle, die zu der Zeit im Umlauf waren“. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass zu dem Zeitpunkt große Unwissenheit über den Umgang mit der Pandemie herrschte und es keine Impfstoffe gab. Die zweite Welle (von Juni bis Dezember 2020), die sich mit der vorherigen überschnitt, fiel mit Beschränkungen in neun Gemeinden der Autonomen Gemeinschaft Madrid (Real Decreto 900/2020)10 und dem zweiten nationalen Alarmzustand11 zusammen. Sie war gekennzeichnet durch einen anfänglichen Rückgang der Infektionen aufgrund des Lockdowns. Diese Tendenz wurde jedoch durch die Lockerung der Beschränkungen im Sommer gebrochen. In der Folge kam es zu einem kontinuierlichen Anstieg der Zahl der positiv Getesteten, der belegten Intensivbetten (über 30 %) und der Todesfälle (mit Tagesspitzen von 350), die allesamt auf eine ungehemmte Verbreitung des Virus zurückzuführen waren, das sich in diesem Zeitraum auch auf Regionen ausbreitete, die in der ersten Welle nicht betroffen waren – wie Asturien, die Kanarischen Inseln, Galicien, Granada, Huesca, Lleida, Teruel und Zaragoza. Die dritte Welle (Januar/Februar 2021) begann mit dem Ende der Weihnachtsferien und ist daher eng mit familiären und gesellschaftlichen Zusammenkünften während dieser Zeit verbunden (mit Ereignissen wie dem black friday, dem langen Wochenende im Dezember und vor allem den Weihnachtsfeiertagen). Sie zeichnet sich durch eine hohe Ansteckungsrate aus, die erst Mitte Februar nachließ. Darüber hinaus war im Vergleich zu den Zahlen der zweiten Welle eine höhere Auslastung der Intensivbetten (über 44 %) und der Krankenhausbetten zu verzeichnen sowie höhere Spitzenwerte bei der Zahl der Todesfälle pro Tag, die bei fast 1.000 lag. Tatsächlich war die dritte Welle mit 19.200 Toten die t­ ödlichste. 10 Die Beschränkungen wurden am 9. Oktober 2020 von der Regierung beschlossen und blieben bis zum 24. desselben Monats in Kraft. Sie waren eine Reaktion auf das besondere Gesundheitsrisiko aufgrund einer unkontrollierten Übertragung von durch SARS-CoV-2 verursachten Infektionen und wurden in neun Gemeinden der Autonomen Gemeinschaft Madrid angewandt: Alcobendas, Alcorcón, Fuenlabrada, Getafe, Leganés, Madrid, Móstoles, Parla und Torrejón de Ardoz. 11 Der Ausnahmezustand galt vom 9. November 2020 bis zum 9. Mai 2021. Er untersagte bis auf Ausnahmen den Personenverkehr auf öffentlichen Straßen oder Plätzen zwischen 23:00 und 6:00 Uhr sowie das Betreten und Verlassen des Gebiets jeder Autonomen Gemeinschaft. Der Aufenthalt von Personengruppen in öffentlichen und privaten Räumen wurde auf maximal sechs Personen beschränkt, außer im Fall von Lebensgemeinschaften; auch wurde der Aufenthalt von Personen in Gotteshäusern limitiert. In diesem Fall wurde der durch das Real Decreto 926/2020 verhängte Alarmzustand durch das Real Decreto 956/2020 verlängert.

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Von Bedeutung ist auch, dass zunehmend mehr Impfstoffe zur Verfügung standen (Pfizer, Moderna und AstraZeneca) und die Impfkampagne in Spanien am 27. Dezember 2020 begann. Die vierte Welle (März/April 2021) verlief milder und unregelmäßiger als die vorherige mit einer kumulierten Inzidenz über 14 Tage von 235 Fällen pro 100.000 Einwohner, also deutlich weniger als die 500 der zweiten Welle und weit weniger als die 900 der dritten Welle, allerdings mit Tagesspitzen von mehr als 200 Todesfällen, wie z. B. am 11. Mai. Sieben Autonome Gemeinschaften (Aragonien, Kantabrien, Katalonien, La Rioja, Madrid, Navarra, Baskenland) und eine Autonome Stadt (Melilla) waren mit mehr als 250 Fällen pro 100.000 Einwohnern in 14 Tagen weiterhin extrem betroffen. Obwohl sich die Mobilität der Bevölkerung während der Osterfeiertage nicht so negativ auswirkte wie zu Weihnachten, lag die Auslastung der Krankenhausbetten mit COVID-Patienten noch bei knapp 8 % und auf den Intensivstationen bei über 22 %. 10 % der Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt bereits geimpft. In der fünften Welle (Ende Juni bis August 2021) kam es vor allem unter ungeimpften Jugendlichen zu einer hohen Zahl von Neuinfektionen (insgesamt mehr als 1.700.000), mit Spitzenwerten von 700 Fällen pro 100.000 Einwohnern innerhalb von 14 Tagen sowie einer hohen Auslastung der Intensivstationen (22 % am 9. August). Außerdem kam es zu einer beträchtlichen Zahl von Todesfällen (mehr als 5.000), bedenkt man, dass 80 % der Verstorbenen über 70 Jahre alt und zwei von drei über 80 Jahre alt waren, also einer Bevölkerung, die praktisch vollständig geimpft war. Trotz der hohen Infektionszahlen konnten die Krankenhausbelastung und die Sterblichkeitsrate eingedämmt werden, da zum 31. August 2021 70,42 % der spanischen Bevölkerung über 12 Jahren vollständig geimpft war. Cequier Fillat und González-Juanatey (2020) beschreiben die direkten gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitssystem in den ersten vier Wellen: Bei der Ersten handelte es sich vorwiegend um Akutpatienten mit COVID-19, die einen längeren Krankenhausaufenthalt, teilweise sogar auf der Intensivstation, erforderten und die Gesundheitsressourcen in verschiedenen Regionen des Landes überlasteten, was zu Verzögerungen bei den geplanten medizinischen Eingriffen in praktisch allen anderen Bereichen führte. Die zweite Welle war durch die langen Hospitalisierungszeiten dieser Patientengruppe mit einem durchschnittlichen Krankenhausaufenthalt von etwa drei ­Wochen

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geprägt, die die Rückkehr zu einer normalen Gesundheitsversorgung und die Wiederaufnahme des regulären medizinischen Betriebs, wie etwa chirurgische Standardeingriffe, in den Krankenhäusern erschwerte. In der dritten Welle kam es während der kritischsten Monate der Pandemie zu einem drastischen Rückgang der Behandlung von Notfällen, der sich insbesondere auf Patienten mit akutem Koronarsyndrom auswirkte. Die vierte Welle war durch Kontinuitätsverlust in der Versorgung von Patienten mit chronischen Krankheiten gekennzeichnet, die auf eine Optimierung der diagnostischen und therapeutischen Prozesse im Gesundheitssystem angewiesen gewesen wären und nun durch schwerere Krankheitsverläufe bedroht waren. Auch in der fünften Welle kam es zumindest noch verschiedentlich zu dieser Situation. Aus dem Abschlussbericht der Forschungsarbeit über die Pflege älterer und pflegebedürftiger Menschen in Spanien (Comas-d‘Argemir/BofillPoch 2021) geht hervor, dass der soziale Sektor der Pflege in Spanien zu Beginn der Pandemie praktisch ignoriert worden ist. Diese Vernachlässigung hatte schwerwiegende Folgen für ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen sowie für Pflegekräfte und diejenigen, die sie unterstützten. So starben im ersten Jahr der Pandemie 30.134 Menschen in Pflegeheimen an den Folgen von COVID-19 oder vergleichbaren Symptomen – 40 % der Gesamtzahl der Todesopfer in ganz Spanien (IMSERSO 2021). Auch in anderen europäischen Ländern waren die Auswirkungen von COVID-19 in Alten- und Pflegeheimen besonders stark, doch ist Spanien eines der am stärksten betroffenen Länder (Comas-Herrera et al. 2020). Zwar gibt es, wie bereits erwähnt, mehrere Parameter, um die Auswirkungen des Virus auf die Gesundheit der Bevölkerung zu bewerten (Anzahl der Infektionen, Personen, die auf verschiedenen Ebenen der Gesundheitsversorgung betreut werden, Neben- und Langzeiteffekte bei überwundener Krankheit etc.), doch ist die Sterblichkeit dabei zweifellos ein Schlüsselindikator. Dies macht es notwendig, verschiedene offizielle und inoffizielle Quellen zu berücksichtigen. Im Mai 2021 ging das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der medizinischen Fakultät der University of Washington in seiner globalen Analyse der Todesfälle von einer Verdoppelung der von der WHO anerkannten Mortalitätsrate aus,

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nämlich 6,9 Millionen12 anstelle von 3.209.10913. In Spanien wurde die Zählung der Todesfälle durch COVID-19 kontrovers diskutiert. Sie war zudem sehr präsent in den Medien und wurde von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt. Es wurden erhebliche Abweichungen bei den Zahlen verschiedener Quellen festgestellt. So gab das Gesundheitsministerium am 4. Juni 2020 27.133 Todesfälle aufgrund von COVID-19 an – eine zwar nur geringfügig niedrigere Zahl als die der WHO (27.940) – aber dennoch weit entfernt von den Schätzungen des Nationalen Instituts für Statistik (43.945) oder des MoMo14 (43.260). Die ersten Zahlen basieren auf den täglichen Meldungen der Autonomen Gemeinschaften, die letzteren und höchsten sind Schätzungen, die sich aus der Differenz zwischen der Zahl der Todesfälle in einem Jahr im Vergleich zum Vorjahr ergeben. Bei aller gebotenen Vorsicht in Anbetracht der Begrenztheit der Datengrundlage ist eine Differenz von mehr als 16.800 Todesfällen jedoch aus vielen Gründen inakzeptabel, nicht zuletzt für die Verstorbenen selbst und ihre Familien. Den jüngsten Daten des Amts für Nationale Sicherheit zufolge ist es bis zum 8. Februar 2022 zu 94.931 Todesfällen gekommen; allerdings könnten die Zahlen, wie oben dargelegt, weitaus höher sein. Welches sind die Lehren von COVID-19 für den Gesundheitssektor?

COVID-19 hat die Unzulänglichkeiten des spanischen Gesundheitssystems offengelegt. Dieses wurde für die demografische Realität der 1980er Jahre konzipiert, heute ist der gesundheitliche Kontext jedoch ein 12 Wie das IHME erklärt, wurden die Daten anhand einer Methodik erhoben, die das Institut bereits zur Messung der globalen Krankheitsbelastung verwendet (Global Burden of Disease). Für die Pandemie wurde die Gesamtzahl der Todesfälle durch ­COVID-19 geschätzt, indem die vorzeitigen Todesfälle gleich welcher Ursache auf der Grundlage der Trends vor der Pandemie mit der tatsächlichen Zahl der Todesfälle während der Pandemie verglichen wurden. 13 Dem IHME zufolge werden COVID-19-Todesfälle in fast allen Ländern inadäquat gezählt, wobei sich im Laufe der Zeit erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern und sogar innerhalb der Länder entwickelten. Und das nicht nur dort, wo die Meldesysteme am schlechtesten sind, oder, anders gesagt, in den ärmsten Ländern. So meldeten die Vereinigten Staaten (von März 2020 bis Mai 2021) 574.043 Todesfälle, während es laut IHME 905.289 Todesfälle gab. Doch auch in Europa ist die Lage nicht anders: Italien meldete im gleichen Zeitraum 175.832 gegenüber den 212.257 des IHME; Frankreich 105.506 gegenüber 132.680; das Vereinigte Königreich 150.519 gegenüber 209.661; oder Deutschland 83.256 gegenüber 120.729 des IHME. 14 Tägliches Mortalitätsüberwachungssystem des Instituto Carlos III.

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v­ ollkommen anderer (höhere Lebenserwartung der Bevölkerung, Zunahme chronischer Erkrankungen und Abhängigkeiten etc.)15, und die Auswirkungen der Pandemie haben dies noch deutlicher gemacht. Insbesondere der öffentliche Teil des Gesundheitssystems hat versagt, was nicht verwunderlich ist, wenn man die knappen ihm zur Verfügung stehenden Mittel berücksichtigt, nämlich weniger als 2 % des für den Gesundheitssektor bereitgestellten Haushalts (Hernández-Aguado/García 2021)16. COVID-19 hat gezeigt, wie die Pandemie bei einem schlechten öffentlichen Gesundheitswesen das leistungsfähigste Gesundheitssystem schnell überfordern kann, indem sie dessen Kronjuwel, das Krankenhausnetz, und in noch höherem Maße die stets schwache medizinische Grundversorgung überlastet. Der „Aktionsplan für die Umgestaltung des nationalen Gesundheitssystems (SNS) in der Post-COVID-19-Ära“ (2020) zeugt von einem hohen Bewusstsein der Autoren für das Geschehene: Die direkten Auswirkungen der Krankheit auf Gesundheit und Leben der Menschen waren enorm. Auch wenn das Ausmaß der physischen und psychischen Folgen der Lockdowns für die Bevölkerung noch nicht abzuschätzen ist, zeichnet sich doch deutlich ab, dass sowohl die direkten Folgen als auch die indirekten (durch Nicht-Behandlung anderer Patienten) gravierend sind.

Dieser Aktionsplan wurde vom spanischen Gesundheitsministerium mit der Absicht ins Leben gerufen, unter Beteiligung einer großen ­Gruppe von Experten, Überlegungen zu den unmittelbaren Herausforderungen zu koordinieren, denen sich das spanische Gesundheitssystem stellen muss. In diesem Sinne und auch als Antwort auf die Herausforderungen der Pandemie stellt das Dokument COVID-19. Lecciones aprendidas. Por una reforma del sistema sanitario de salud („COVID-19. Gelernte Lektionen. Für eine Reform des Gesundheitssystems“) des Consell de Col·legis de Metges de Catalunya die COVID-Krise als eine Gelegenheit dar, radikale Veränderungen im Gesundheitssystem vorzunehmen (bezüglich der Finanzierung, der Fachkräfte, der Professionalität und Autonomie des Managements). Außerdem werden neue Organisationsmodelle für die Arbeit des Pflegepersonals sowie die Einrichtung einer neuen ­Gesundheitsbehörde 15 Consell de Col·legis de Metges de Catalunya (2020). 16 Außerdem, so erklären die Autoren, ist von den 2 %, die die öffentlichen Gesundheitsdienste der Autonomen Gemeinschaften erhalten, „der Großteil (bis zu 80 %) für den Kauf von Impfstoffen bestimmt“.

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v­ orgeschlagen, die, angemessen ausgestattet, das System der epidemiologischen Überwachung unterstützt, um die Kontaktnachverfolgung und Falldokumentation präzise und aktuell zu gestalten, indem sie die epidemiologischen Überwachungsnetze stärkt, in denen Telematik und digitale Gesundheit eine wichtige Rolle spielen. Die harten Erfahrungen in Spanien17 führen zu neuen Impulsen; eine Entwicklung, die als sehr positiv zu werten ist. Dennoch ist von entscheidender Bedeutung zu verstehen, dass Pandemien und die daraus resultierenden Krisen globale Phänomene sind, die ein internationales Vorgehen erfordern, dessen Koordination allzu oft ein langwieriger Prozess ist, bis effektive Maßnahmen zu greifen beginnen. Dies wurde auf dem G20-Gipfel in Rom (30./31. Oktober 2021) deutlich, auf dem sich die Teilnehmer verpflichteten, gemäß den Empfehlungen der WHO bis Ende 2021 mindestens 40 % der Bevölkerung zu impfen und bis Mitte 2022 eine 70 %-Quote zu erreichen.18 Ja, Sie haben richtig gelesen, zwei Jahre nach dem Ausbruch der Pandemie wurde eine Verpflichtung auf der Grundlage einer Empfehlung eingegangen. Und die Pandemie ist noch immer nicht zu Ende. Sie wird mittlerweile die Pandemie der Ungeimpften genannt, 17 In Spanien hat sich die Regierung verpflichtet, die Pandemie in Zusammenarbeit mit den Autonomen Gemeinschaften zu bekämpfen. Dies kann zwar die Konzentration auf ein bestimmtes Szenario begünstigen, führt aber auch dazu, dass jedes Gebiet unterschiedliche Maßnahmen zur Vorbeugung und Bekämpfung von COVID ergreift (z. B. ob die COVID-19-Impfbescheinigung für den Zugang zu bestimmten Dienstleistungen erforderlich ist oder nicht, Bedingungen für die Schließung von Betrieben, Prozentsätze der zulässigen Kapazität etc.), die oft noch unverständlicher werden, wenn die höheren Gerichte in jeder Gemeinschaft Beschlüsse fassen, die im Widerspruch zu den Maßnahmen stehen, die in ähnlichen Situationen beschlossen werden. All dies macht den Weg frei für eine politische Positionierung der Amtsführung. So hat der Partido Popular (PP), die wichtigste Oppositionspartei, die Regierung aufgefordert, ein Gesetz über Pandemien zu verabschieden, und dabei die Notwendigkeit eines gemeinsamen Gesundheitsrahmens betont. 18 Bemerkenswert sind Initiativen wie der COVAX-Fonds, der die Entwicklung und Herstellung von COVID-19-Impfstoffen beschleunigen sollte, sowie der gemeinsame Einkauf für eine gerechte Verteilung des Impfstoffs an die Bevölkerung, an der die Alianza Gavi para las Vacunas, die Coalición para la Promoción de las Innovaciones en pro de la Preparación ante Epidemias (CEPI) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beteiligt sind und die von ihnen gemeinsam geleitet wird. Was die Bereitstellung von Impfstoffen betrifft, so hatte der Fonds geplant, bis 2021 zwei Milliarden Impfdosen zu liefern, doch nur 250.000 wurden verabreicht. Fehlende Finanzmittel und das Horten von Impfdosen in reichen Ländern („Impfstoffnationalismus“, wie Richard Hatchett, Geschäftsführer der CEPI, es nennt) haben die Initiative vereitelt. Gleichzeitig läuft die Haltbarkeit der in den Industrieländern gekauften Impfstoffe ab. So wurde beispielsweise im September 2021 berichtet, dass 69.000 Dosen in der Autonomen Gemeinschaft Katalonien (Spanien) aufgrund einer verspäteten Verabreichung verfallen waren (El País, 24. September 2021).

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da diese Bevölkerungsgruppe derzeit am häufigsten erkrankt und stirbt. Viele Epidemiologen sind der Meinung, dass, wenn nicht eine weltweite Impfquote von über 80 % der Gesamtbevölkerung erreicht wird, es stets zu neuen Varianten des Coronavirus kommen wird. Dies konnte bereits in der Entwicklung der Varianten Alpha bis Delta bis hin zur jüngsten und derzeit weltweit dominierenden, weil um ein Vielfaches ansteckenderen Variante Omikron (B.1.1.529) beobachtet werden. Letztere stammt wie Beta aus Südafrika und wird seit dem 22. November 2021 als neue ­besorgniserregende Variante überwacht19. Die anfängliche Unkenntnis über Omikron und die hohe Ansteckungsgefahr der Variante führte weltweit zu drastischen Maßnahmen, wie etwa der Schließung der Grenzen für Reisende aus dem südlichen ­Afrika, wie es die Europäische Union mit der Aussetzung von Flügen nach ­Botswana, Lesotho, Mosambik, Namibia, Swasiland, Südafrika und Simbabwe tat. Vor diesem Hintergrund trafen sich am 27. November auf Ersuchen des britischen Ratsvorsitzes die Gesundheitsminister der Gruppe der Sieben (G7) und gaben bekannt, dass20 „die Weltgemeinschaft, nach ersten Einschätzungen, mit der Bedrohung durch eine neue hochansteckende Variante von COVID-19 konfrontiert ist, die dringende Maßnahmen erfordert“. Die politischen Entscheidungen konnten auch hier nicht Schritt halten mit sich überschlagenden wissenschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen. Da ein globaler Konsens über die zu ergreifenden Maßnahmen sich immer noch schwierig gestaltet, werden weiterhin nationale Strategien mit reduziertem Umfang und begrenzter Reichweite implementiert, die zuweilen auch umstritten sind, wie z. B. die Auffrischungsimpfung und/oder die Impfung von Kindern21. Am Beispiel Spanien offenbart sich, dass diese Art von Maßnahmen das Problem nicht an seinem Ursprung behandelt: Am 1. Dezember 2021 war die Bevölkerung zu 79,5 % geimpft22, dennoch erreichte die Zahl der COVID-19-Infektionen nur 27 Tage später eine

19 Damals hatte sie noch nicht den Status einer besorgniserregenden Variante, wie Alpha, Beta, Gamma und Delta. 20 El Diario.es, 29. November 2021. 21 Am Dienstag, dem 7. Dezember 2021, hat die spanische Kommission für öffentliche Gesundheit die Impfung von Kindern im Alter von 5 bis 11 Jahren empfohlen. Am 15. Dezember 2021 wurde mit der Impfung dieser Gruppe begonnen, wobei Hochrisikopersonen und ältere Jahrgänge (10 und 11 Jahre alt) bevorzugt wurden. 22 Ministerium für Gesundheit; 1. Dezember 2021.

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k­ umulative Inzidenz von 1.206 Fällen pro 100.000 ­Einwohnern23, was in der zweiten Januarwoche 2022 zu einem hohen Druck auf die Krankenhäuser, mit einer durchschnittlichen Belegung von 13 % der Gesamtbetten und 23 % der Betten auf den Intensivstationen führte. Die Sterblichkeit war im Vergleich zur dritten Welle (Januar und Februar 2021) dreimal niedriger, obwohl die Zahl der Infektionen dreimal so hoch war. Dem Institut Carlos III zufolge wurden jedoch zwischen dem 14. Oktober 2021 und dem 2. Februar 2022 6.103 Todesfälle registriert. Diese Zahl stieg später weiter an, da es nach Angaben des Gesundheitsministeriums allein zwischen dem 7. und 10. Februar zu weiteren 1.371 Todesfällen kam. Im weiteren Verlauf des Februars war schließlich ein Rückgang der Inzidenz zu verzeichnen, sodass das Gesundheitsministerium und die Autonomen Gemeinschaften das Ende der sechsten Welle auf den 31. März 2022 datierten. Trotz dieser Einschätzung sollte nicht vergessen werden, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Am 4. Februar erklärte der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus24: „Wir gehen davon aus, dass die akute Phase der Pandemie bis Ende des Jahres beendet sein wird, vorausgesetzt natürlich, dass 70 % der Bevölkerung bis Mitte des Jahres, etwa im Juni oder Juli, geimpft sind“. In diesen Einschätzungen wird deutlich, dass die Pandemie noch längst nicht unter Kontrolle ist, auch nicht in Europa, wo mehr Ressourcen zur Verfügung stehen als in anderen Regionen. Das wahre Ausmaß der Pandemie wird erst deutlich, wenn wir über unsere Grenzen hinausschauen. In Afrika beispielsweise waren im Februar 2022 nur 11 % der Bevölkerung vollständig geimpft, und dies auf einem Kontinent, auf dem die Krankheit häufig undiagnostiziert bleibt und die Zahl der Todesfälle durch COVID-19 deshalb stark unterschätzt wird. An dieser Stelle sollte deutlich gemacht werden, dass wir es mit einer synergistischen Epidemie25 zu tun haben, da es aufgrund der sozialen und strukturellen Bedingungen der betroffenen Bevölkerungsgruppen zu stark ungleichen Auswirkungen 23 In den Autonomen Gemeinschaften Navarra und La Rioja wurden 2.000 Fälle pro 100.000 Einwohnern überschritten: 2.339 bzw. 2.145 (Ministerium für Gesundheit, Actualización Nr. 530). 24 Euronews, 11. Februar 2022. 25 Ein Begriff, den der amerikanische Anthropologe Merrill Singer Mitte der 1990er Jahre verwendete, als er die AIDS-Pandemie in verschiedenen Slums in den USA untersuchte. Der Begriff macht deutlich, dass die Epidemiologie der Bedingungen von Gesundheit das Korollarium des jeweiligen sozialen Kontextes ist (Singer: 1996, 2009).

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kommt, die in den weniger entwickelten Ländern besonders ausgeprägt sind. Solange diese Situation anhält, bleibt das Risiko des Auftretens neuer Virusvarianten sehr hoch. In diesem komplexen Rahmen und in Anbetracht der Tatsache, dass die Maßnahmen eine gewisse Bürgersolidarität voraussetzen, ist es notwendig, die Kommunikationsstrategien der beteiligten Institutionen zu verbessern, um Vertrauen zu schaffen, Gerüchte zu bekämpfen und den Menschen die Angst zu nehmen26. Die Forderung nach einer vollständigen Impfung der Bevölkerung, soweit die Mittel dazu zur Verfügung stehen, muss mit einer Anpassung der Schutzmaßnahmen (Händewaschen, Masken, soziale Distanz, Lüften etc.) und der Überwachung und Kontrolle (Tests, genomische Sequenzierung von Proben, Infektionskettennachverfolgung, Isolierung etc.) von COVID-19 einhergehen. Man darf sich nicht allein auf die Immunisierung durch die Impfung verlassen. Gleichzeitig ist die Debatte darüber, dass Gesundheit zu einem Vorwand für unbegründete Freiheitseinschränkung werden kann, äußerst ernst zu nehmen. Die internationale Gemeinschaft kann nur zu einer rechtzeitigen Umsetzung hinreichender Maßnahmen ermutigt werden, und dazu, diese anderen (wirtschaftlichen, politischen etc.) Interessen vorzuziehen, um erneute katastrophale Folgen für die Gesundheit der Bürger zu vermeiden.

26 In Spanien, so die vorläufigen Ergebnisse der Studie 3.340 des Barometers des Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS) vom November 2021, sind die Gründe derjenigen, die sich nicht haben impfen lassen, folgende: Sie trauen den Impfstoffen nicht (28,3 %), sie haben Angst vor gesundheitlichen Risiken/Nebenwirkungen (17,1 %), sie glauben nicht an ihre Wirksamkeit (10,1 %), fehlende Garantien (9 %), sie haben Allergien oder andere Krankheiten und Behandlungen (4,6 %), sie halten sie nicht für notwendig (4,2 %), sie haben bereits eine COVID-19-Erkrankung hinter sich (2,8 %), Informationsmangel (2,3 %), sie warten lieber ab, wie sie wirken (1,9 %), sie leugnen die Existenz von COVID (1,9 %), sie lassen sich nie impfen (1 %), sie haben eine geringe Infektionswahrscheinlichkeit (0,9 %), sie sind generell gegen alle Impfstoffe (0,9 %) und „andere Gründe“ (11,2 %). Es ist außerdem unerlässlich, diese Frage auch in weniger entwickelten Ländern zu berücksichtigen. Ein Mangel an Impfstoffen darf nicht für das einzige mögliche Hindernis gehalten werden. Es ist auch von entscheidender Bedeutung, die Bevölkerung zu sensibilisieren, und zwar vor dem Hintergrund weitaus drängenderer Probleme als denen, die durch diese Pandemie hervorgerufen werden, wobei wegen ihrer Bedeutung für das Erreichen des Impfziels auch logistische Schwierigkeiten und der Mangel an medizinischem Fachpersonal nicht vergessen werden dürfen.

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Sozioökonomische Folgen

Als im März 2020 der Alarmzustand ausgerufen wurde, der eine Ausgangssperre für die gesamte Bevölkerung und die Unterbrechung aller nicht lebensnotwendigen Aktivitäten vorsah, um die Ansteckungskurve abzuflachen und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems so weit wie möglich zu vermeiden, wurde heftig über die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die spanische Wirtschaft spekuliert. Die Analysten waren sich einig, dass die Wirtschaft aufgrund mehrerer Faktoren besonders stark leiden könnte: die Fragilität des Aufschwungs nach der Großen Rezession und der Schuldenkrise, die besonderen Merkmale des spanischen Produktionsmodells (Abhängigkeit von Dienstleistungen und vor allem vom Tourismus) und das strukturelle Problem der Arbeitslosigkeit. Die zwischen März und Juni 2020 verhängten Maßnahmen zur Einschränkung der Mobilität waren zudem sehr drastisch im europäischen Vergleich. Man vermutete, dass dies zu einem vergleichsweise stärkeren Rückgang der Wirtschaftsaktivität führen würde – was es letztendlich auch tat. Diese Besorgnis war also wohlbegründet. In einem Bericht des Consejo General de Economistas der Spanischen Zentralbank vom 1. Juli 2020 wurde bereits davor gewarnt, dass die COVID-Krise zu einem Zeitpunkt „relativer Fragilität der Weltwirtschaft und einer im historischen Vergleich schwachen Reaktionsfähigkeit der Nachfragepolitik“ eintritt (Hernández de Cos 2020). Außerdem wurde analysiert, dass die Ausbreitung der Pandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckung bereits zu einem sehr starken Rückgang der Beschäftigung geführt hatten, „insbesondere im Dienstleistungssektor“ (Hernández de Cos 2020). Die am stärksten betroffenen Sektoren waren demselben Bericht zufolge das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie der Verkehr und die Freizeitindustrie, auf die in der Eurozone etwa 9 %, in Spanien jedoch 13 % entfallen. Darüber hinaus wird in dem Bericht davor gewarnt, dass „das Ausmaß dieser Krise wahrscheinlich das potenzielle Wachstum der spanischen Wirtschaft, das bereits vor der Pandemie bescheiden war, nachhaltig schädigen wird“, und zwar als Folge der geringen Produktivitätssteigerung, die aber nur zum Teil auf die sektorale Zusammensetzung der spanischen Wirtschaft zurückzuführen ist, da „es strukturelle Faktoren gibt, die quer durch eine große Mehrheit der Sektoren die Produktivitätsgewinne mindern“. Der wirtschaftliche Abschwung war in der Tat drastisch. Die Mobilitätseinschränkungen und das völlige Herunterfahren nicht l­ ebensnotwendiger

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Aktivitäten führten zu einem doppelten Schock von Angebot und Nachfrage, der im zweiten Quartal 2020 zu einer Schrumpfung von -17,7 % führte, die zu den -5,4 % des Vorquartals noch hinzukamen: „Soweit bekannt ist und seit es moderne Wirtschaftsaufzeichnungen gibt, ist das spanische BIP noch nie so stark gefallen“ (Hidalgo Pérez 2021: 92). Bis Ende 2020 erreichte der Gesamtverlust des BIP, addiert mit dem Verlust des erwarteten Wachstums Ende 2019, die dramatische Größenordnung von -12,3 %. Im März 2020 wurden ein Rückgang des BIP um 4,1 % für 2020 prophezeit, wobei auch das vor der Pandemie prognostizierte Wachstum von 1,6 % berücksichtigt wurde – eine nicht gerade optimistische Einschätzung (Boscá/Doménech/Ferri 2020). Die bisher verfügbaren Vergleichsdaten, sowohl zwischen den Ländern als auch zwischen den spanischen Regionen, zeigen eine klare Korrelation zwischen Mobilität und Aktivität, insbesondere seitdem die Maßnahmen in den Autonomen Gemeinschaften unterschiedlich streng angewendet wurden. Auffallend am Fall Spanien ist, dass der Rückgang der Mobilität höchstwahrscheinlich größer war als im Zusammenhang mit den Maßnahmen erwartet, die Menschen also nach der Flexibilisierung der Maßnahmen freiwillig weniger mobil waren, als ihnen erlaubt gewesen wäre. Die direkten Auswirkungen der Pandemie auf die Beschäftigung waren enorm, mit einem Nettoverlust an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen von bis zu 4,8 % innerhalb von drei Wochen. Das Verhalten des spanischen Arbeitsmarktes folgte dem vorhergesagten Drehbuch: Wie in früheren Rezessionen war er vergleichsweise mit am stärksten betroffen (Dolado/Felgueroso/Jimeno 2020). Laut dem bereits erwähnten Bericht der spanischen Zentralbank vom Juli 2020 belief sich der Rückgang der Sozialversicherten zwischen Mitte März und Ende Mai auf 752.000 Personen, was zu einer massiven Inanspruchnahme der Programme für Kurzarbeit (ERTE, 3 Millionen Ende Mai) und zur vorübergehenden Einstellung der Tätigkeit von Selbstständigen (1,4 Millionen im gleichen Zeitraum) führte (Hernández de Cos 2020). Aus den vom Ministerium für Inklusion, soziale Sicherheit und Migration vorgelegten Daten über die Häufigkeit von ERTEs im Mai nach Wirtschaftszweigen geht hervor, dass das Hotel- und Gaststättengewerbe (55 % der Beschäftigung in diesem Sektor), die Freizeitindustrie (43 %) und die Kraftfahrzeugherstellung (30 %) am stärksten betroffen waren; in der Gesamtwirtschaft machten sie 16 % aus.

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Ebenfalls absehbar war, dass dies die befristet angestellten Arbeitnehmer am stärksten betreffen würde. Spanien hat „deutlich höhere Arbeitslosenquoten als jedes andere Land in der Region“ (Hernández de Cos 2020: 22), und der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse an der Gesamtbeschäftigung liegt mit 25,2 % weit über dem Durchschnitt der Eurozone (13,9 %). Aus diesem Grund drängte die spanische Zentralbank auf eine „Überarbeitung des Vertragssystems“, um „Mechanismen einzubauen, die starke Diskontinuitäten im Grad des Arbeitnehmerschutzes vermeiden“, die Arbeiterfluktuation verringern und Investitionen in das Humankapital fördern. Zwei Jahre später zeigt die wirtschaftliche Situation des Landes jedoch bei aller Vorsicht ein optimistisches Bild, wenn man zahlreiche Indikatoren, insbesondere in Bezug auf Wachstum und Beschäftigung, betrachtet. Den Daten der Arbeitskräfteerhebung (EPA) zufolge erreichte Spanien Ende 2021 eine seit 2005 nicht mehr dagewesene Zahl von Erwerbstätigen (20,18 Millionen) und die Arbeitslosigkeit sank auf 13,33 %, den niedrigsten Wert seit Beginn der Finanzkrise im Jahr 200827. In den beiden Jahren der Pandemie folgte die Anmeldung zur Sozialversicherung einer „atypischen Entwicklung“ (Felgueroso/de la Fuente 2021: 27), mit einem starken Anstieg in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 (beispiellos in diesem Jahrhundert), einer Verlangsamung im ersten Quartal 2021 und einem schrittweisen Wiederanstieg ab Juni desselben Jahres, bis zum ­Erreichen der genannten Zahlen. Die Daten zur Arbeitslosigkeit folgten in diesem Zeitraum einem sehr ähnlichen Trend wie die Daten zur Sozialversicherung. Lag die Zahl der Erwerbstätigen laut EPA im vierten Quartal 2019 bei 19.966.900 Personen, waren es zwei Jahre später 218.000 Erwerbstätige mehr. Diese Zahlen wurden seit der Zeit vor der Großen Rezession nicht mehr erreicht. Dieser Anstieg war vor allem im privaten Sektor zu verzeichnen. Das BIP erholte sich jedoch nicht so schnell. Im Jahr 2021 erreichte es 5 % und für dieses Jahr (2022) stimmt die Prognose der Regierung (7 %) nicht mit der Schätzung der Europäischen Kommission (5,6 %) überein. Die Auswirkungen der Omikron-Variante bremsen das Wachstum stärker als den Arbeitsmarkt. Außerdem ist der Tourismus noch weit vom Niveau des Jahres 2019 entfernt. Doch selbst wenn die Prognosen der Regierung 27 El País, 27. Januar 2022: https://elpais.com/economia/2022-01-27/espana-cerro-elano-pasado-con-2018-millones-de-ocupados-el-mayor-nivel-de-empleo-desde-laburbuja-inmobiliaria.html.

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nicht einträfen, wäre Spanien im Jahr 2022 nach Malta das Land mit der zweithöchsten Wachstumsrate in der EU. Und es würde bis Ende dieses Jahres das Vor-Pandemie-Niveau erreichen. Im weiteren Text werden nun die Merkmale des Aufschwungs analysiert sowie gefragt, inwieweit sie das Ergebnis der antizyklischen Maßnahmen sind, die zur Bekämpfung der durch die Pandemie verursachten Rezession eingesetzt wurden, und welche Trends zu erwarten sind. Nach dem Ende der strengsten Restriktionen, vor dem Sommer 2020, kam es zu einer intensiven, aber nicht nachhaltigen Erholung der Wirtschaftstätigkeit, da der erste starke Nachfrageanstieg zumindest bis zum zweiten Quartal 2021 nicht von einer Belebung des Angebots begleitet wurde (Hidalgo Pérez 2021: 92). Obwohl die Wachstumsrate im dritten Quartal 2020 nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik (INE) 16,8 % erreichte, konnte nur ein Teil des Verlusts aus der ersten Jahreshälfte wieder ausgeglichen werden. Die Beschränkungen wurden gelockert, aber nicht aufgehoben, der Konsum blieb teilweise gehemmt, und die Rückkehr der Menschen zur Präsenzarbeit (und die damit verbundene Mobilität) folgte der gesellschaftlichen Risikowahrnehmung. Diese beiden letztgenannten Faktoren ermöglichten den Haushalten, Kosten zu sparen. Die Auszahlung dieser angesammelten Ersparnisse war, zusammen mit den Programmen zur Einkommensstütze, einer der Schlüsselfaktoren des Aufschwungs. In einem Bericht der Spanischen Zentralbank wurde ein Anstieg der Ersparnisse der spanischen Haushalte von 6 % auf 13 % des verfügbaren Bruttoeinkommens in etwas mehr als drei Quartalen errechnet, und ein Ersparnisüberschuss in den ersten drei Quartalen des Jahres 2020 von fast 4 % des spanischen BIP. Gleichzeitig stiegen die Bankeinlagen zwischen dem zweiten Quartal 2020 und dem ersten Quartal 2021 von 6,7  % auf 9,8 % des verfügbaren Bruttoeinkommens (Hidalgo Pérez 2021: 97).

Es wird geschätzt, dass zwei Drittel dieser Einsparungen „erzwungen“ und auf den Rückgang der Mobilität und des Konsums sowie auf die staatlichen Einkommensbeihilfen zurückzuführen sind. In den schwersten Monaten der Pandemie sanken die Lohneinkommen dank direkter Transferprogramme des Staates an Familien und Unternehmen (bei Letzteren durch Steuerprogramme) weit weniger als die Wirtschaftstätigkeit. Das entscheidende Instrument hierfür war die Anwendung der befristeten Entlassungs- und Kurzarbeitsprogramme (ERTE), die „eine wichtige und positive Rolle für die Erwartungen der Haushalte gespielt haben, denn es gibt Hinweise darauf, dass expansive finanzpolitische Maßnahmen

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effektiver sind, wenn die Erwartungen der Verbraucher und Haushalte positiv sind“ (Hidalgo Pérez 2021: 99). In einem anderen Bericht von Dezember 2020 heißt es: Zwischen dem dritten Quartal 2019 und dem dritten Quartal 2020 sind in Spanien 1,6 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. Etwa 500.000 Menschen haben die Arbeitslosenzahlen erhöht, weitere 371.000 haben sich entmutigen lassen und etwa 850.000 haben an ERTE-Verfahren teilgenommen. Aus diesen Daten geht hervor, dass die Zahl der Arbeitslosen innerhalb eines Jahres um mehr als 40 % gestiegen ist, während die Härte der Arbeitslosigkeit in diesem Zeitraum um 24 % abgenommen hat, was auf den Absorptionseffekt der ERTEs zurückzuführen ist, durch den der Absturz von fast einer Million Arbeitnehmern in den Arbeitslosengeldbezug oder die Nichterwerbstätigkeit vermieden wurde. Infolgedessen ist der Auswirkungsindex nur um 8 % gestiegen. Im Vergleich dazu führte ein ähnlicher Beschäftigungsrückgang zwischen 2008 und 2009 zu einem Anstieg des Index um mehr als 60 % als Folge des gemeinsamen Anstiegs sowohl der Inzidenz (+50 %) als auch der Härte (+12 %), da das Instrument der vorübergehenden Entlassungen und der Kurzarbeit (ERTE) zu diesem Zeitpunkt nicht eingesetzt wurde (GarcíaPérez/Villar 2020: 1).

Die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaftstätigkeit und die Beschäftigung lassen sich anhand von Indikatoren und Daten offizieller Stellen leicht abschätzen, und es besteht Konsens über die Interpretation der Ursachen. Bei anderen sozioökonomischen Folgen nimmt die genaue Bewertung mehr Zeit in Anspruch, und die Kriterien zur Bewertung der Kausalität weichen stärker voneinander ab. Dazu gehören zum Beispiel die Auswirkungen der Pandemie auf Verarmung, Ungleichheit und vulnerable Gruppen. Die Ungleichheit hat sich bereits während der Finanzkrise deutlich intensiviert, insbesondere bei den Lohneinkommen. Die so entstandene Kluft hat sich seither alles andere als verringert, und vieles deutet darauf hin, dass die aktuelle Gesundheitskrise sie stattdessen noch vergrößert hat. Neben den starken Auswirkungen der Pandemie auf die befristeten Beschäftigungsverhältnisse sind vor allem arbeitende Frauen sowie Menschen unter 35 Jahren von der Pandemie betroffen, die eher in sozialen Branchen (44 % der Frauen, 48 % der unter 35-Jährigen) beschäftigt sind (Hotel- und Gaststättengewerbe, Handel, Bildungswesen, Kunst und Freizeitgestaltung) und ohnehin ein niedrigeres Durchschnittseinkommen haben. Dies waren genau die Sektoren und Gruppen, die die Schaffung von Arbeitsplätzen nach der Großen Rezession vorangetrieben hatten (Dolado/ Felgueroso/Jimeno 2020). Durch die Pandemie wurden also ausgerechnet

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diejenigen Arbeitsplätze vernichtet, die zu schaffen nach der letzten Krise viel Mühe gekostet hatte. Dies macht es notwendig, über die strukturellen Bedingungen dieses Arbeitsmarktes nachzudenken, in dem solche Arbeitsplätze entstanden sind. Die kürzlich verabschiedete Arbeitsmarktreform (Januar 2022) – Ergebnis eines umfassenden Sozialpakts – weist auf diese Schwächen hin, insbesondere auf die verheerenden Auswirkungen der befristeten Beschäftigung. Die Visibilisierung von dem, was unsichtbar ist oder gemacht wurde, erweist sich meist als Herausforderung. Ein Blick auf die angesprochenen vulnerablen Bevölkerungsgruppen zeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund besonders stark unter der Pandemie gelitten haben, da diese oft keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem haben und häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder der Schattenwirtschaft arbeiten und anfällig für Formen des Missbrauchs sind. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es neben der Verschlechterung der Verhältnisse und der Bewertung der dem entgegengesetzten Maßnahmen auch andere Folgen in der Wirtschaft gibt. Im Allgemeinen besteht ein Zusammenhang zwischen Krisenzeiten und Modernisierungsprozessen, und im Fall der Pandemie kann der Impuls, der durch die europäischen Mittel aus dem Plan Next Generation EU gesetzt wurde, sich positiv auf die Konsolidierung von Prozessen wie zum Beispiel der Energiewende oder dem Vorantreiben der Digitalisierung auswirken. Dass die Förderung an bestimmte Bedingungen geknüpft ist und deren Einhaltung überwacht wird, trägt ebenfalls zu ihrem Erfolg bei. Die plötzliche Einführung der Digitalisierung am Arbeitsplatz und im Handel hat die Vor- und Nachteile der Telearbeit und des Homeoffice sowie ihre Ambivalenzen offenbart. Vor der Pandemie war der Prozentsatz der im Homeoffice arbeitenden Erwerbstätigen im Alter von 15 bis 64 Jahren in Spanien einer der niedrigsten in der EU (7,5 % in Spanien im Vergleich zu 13,5 % in der EU, gemäß den von der Spanischen Zentralbank erhobenen Eurostat-Daten, Hernández de Cos 2020: 42). Dabei könnte er leicht bei 30,6 % liegen. Eine Aussage über die HomeofficeArbeit für Mitte 2020 zu treffen ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, ohne die tatsächlichen und nicht nur theoretischen Auswirkungen ihrer Umsetzung hinreichend ausgewertet zu haben. Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass die Bewertung der Homeoffice-Arbeit nicht so positiv ausfällt, wie man hätte erwarten können, selbst bei prinzipiell gut für das Homeoffice geeigneten Arbeitsplätzen.

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Soziopolitische Folgen

Wie bereits zu Beginn erwähnt, war die spanische Regierung gerade erst vereidigt worden, als der Alarmzustand ausgerufen wurde. Die Wahlen hatten wiederholt werden müssen, da der Vorsitzende des Partido Socialista und amtierende Regierungschef Pedro Sánchez sich keine ausreichende Unterstützung für seine Amtseinführung hatte sichern können, wodurch die seit 2018 andauernde politische Instabilität des Landes fortgesetzt wurde. Die erneuten Wahlen hatten schließlich am 10. November 2019 stattgefunden. Bereits am 1. Juni 2018 war die zweite Amtszeit des vorherigen Präsidenten Mariano Rajoy durch ein Misstrauensvotum beendet worden. Obwohl beide Wahlen – im April und im November 2019 – zu einem zersplitterten Parlament führten, das viele Pakte und Balanceakte nötig machte (und damit die Umwandlung des spanischen, unvollkommenen Zweiparteiensystems in ein Mehrparteiensystem verfestigte), gab es eine wichtige Veränderung bei der Verteilung der Sitze im rechten Block: Die liberale Mitte-rechts-Partei Ciudadanos erlitt einen starken Rückgang (von 57 auf 10 Abgeordnete und von 15,86 % der Stimmen auf 6,8 %), und die extreme Rechte, vertreten von Vox, konnte ihre Ergebnisse deutlich verbessern. Sie zog im April 2019 zum ersten Mal ins Parlament ein, mit 24 Abgeordneten und 10,26 % der Stimmen. Im November desselben Jahres erhielt sie wiederum 15,2 % der Stimmen und konnte nunmehr 52 Abgeordnete entsenden. Diese Entwicklung beendete die vermeintliche Besonderheit Spaniens, wo es im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern keine rechtsextreme Partei mit einer nennenswerten parlamentarischen Präsenz gab. Am 12. November 2019 gaben Pedro Sánchez und Pablo Iglesias die Einigung auf eine Koalitionsregierung bekannt, die erste in Spanien seit der Wiedereinführung der Demokratie. Was monatelang unmöglich gewesen war und Neuwahlen erzwungen hatte, war nun in nur zwei Tagen gelöst worden. Genau zwei Monate später, am 12. Januar 2020, stellte Pedro Sánchez seine Regierung vor, die sich aus 17 Ministern des PSOE und fünf Ministern des Bündnisses Unidas Podemos zusammensetzte. Am 31. Januar wurde der erste COVID-Fall in Spanien bestätigt. Am 11. März erklärte die Weltgesundheitsorganisation das Infektionsgeschehen zu einer Pandemie. Am 14. März rief Pedro Sánchez den Alarmzustand aus und verhängte einen harten Lockdown28. 28 Erklärung des Regierungschefs zur Ausrufung des Alarmzustands in der Coronavirus-Krise: https://www.lamoncloa.gob.es/presidente/intervenciones/Paginas/2020/prsp202003l3. aspx.

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Die politische Situation unmittelbar vor der Pandemie stellte sich wie folgt dar: Eine schwache Regierung, gebildet aus einer Koalition, die es zuvor noch nie gegeben hatte und deren Tragfähigkeit ungewiss war, nachdem es zwei Wahlen gebraucht hatte, um sie zu bilden. Dazu ein zersplittertes Parlament, was Einigungen zwischen sehr weit voneinander entfernten, wenn nicht gegensätzlichen, politischen Kräften erforderte, und das in einem Klima sozialer und politischer Polarisierung und einer erstarkten extremen Rechten. Die aus dem Alarmzustand abgeleiteten Maßnahmen gehörten zu den strengsten Europas (Barbeito/Iglesias 2020: 708; University of Oxford 2020). Die Zahl der Infektionen ist jedoch, wie bereits dargelegt, trotzdem stark angestiegen: Gemessen an der Bevölkerungszahl lag Spanien international an 30. Stelle, doch in absoluten Zahlen hatte das Land mit die meisten Todesfälle zu verzeichnen (im Juli 2020 lag es an siebter Stelle). Aufgrund der prekären Situation des Gesundheitswesens sah sich Spanien im Zentrum der Aufmerksamkeit internationaler Medien. Im Jahr 2020 war Spanien das am dritthäufigsten genannte Land in Zusammenhang mit der Pandemie, hinter Italien (dem europäischen Land, in dem das Virus zuerst auftrat) und fast gleichauf mit Schweden (das wegen seiner besonderen Politik zur Bekämpfung des Virus im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand). Während der durchschnittliche Anteil der internationalen Presseberichte über die Pandemie in Bezug auf die europäischen Länder bei 18 % lag, betrug er für Spanien 25 % (González Enríquez/Sánchez Giménez 2021: 10). Und es handelte sich vornehmlich um schlechte Nachrichten. All diese Umstände bargen das Potenzial, ein hohes Maß an politischen Spannungen und sozialen Protesten zu begünstigen. Sie deuteten auf eine nachfolgende Erosion der Regierung, die das von der Opposition kultivierte Stigma eines ursprünglichen Legitimitätsdefizits trug. Es gründete zunächst auf dem Vorwurf, der Ministerpräsident sei allein durch ein Misstrauensvotum an die Macht gekommen und wurde später gestützt und aufrechterhalten durch die Kritik an einer instabilen Regierung mit einer sie tragenden Minderheit im Parlament, die daher regelmäßig auf Unterstützung nationalistischer Parteien angewiesen war29. Dieses Szenario ist jedoch nicht eingetreten. Die verschiedenen Phasen der Pandemie und die jeweils angewandten Maßnahmen trafen auf ein

29 Sánchez Cuenca, I., „Por sus obras los conocéis“, El País, 11. Januar 2022.

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allgemeines Klima geringen sozialen Protests30. Stattdessen war ein hohes Maß an Regelkonformität (Powell/Molina/Martínez 2020) zu beobachten sowie hinreichende Einigkeit zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen, bezogen auf ihre Kommunikationsstrategien und die Dramaturgie der politischen Debatte innerhalb und außerhalb des Kongresses. Bei jeder Abstimmung erhielt die Regierung die Unterstützung des Parlaments für die sukzessive Verlängerung des Alarmzustands31. Allerdings nahm die Unterstützung kontinuierlich ab, und Mehrheiten wurden zunehmend unsicher (keine Partei hat jemals gegen den Alarmzustand gestimmt; bis zu 19 politische Gruppierungen – das gesamte parlamentarische Spektrum – haben bei den aufeinanderfolgenden Verlängerungen immer wieder dafür gestimmt oder sich enthalten, doch nur fünf Gruppierungen – neben den beiden, die die Regierung bilden – haben immer dafür gestimmt). Obwohl die Parlamentsdebatten stets spannungsgeladen waren, endete die Abstimmung jedes Mal erfolgreich. Die Regierung definierte den Rahmen für die Debatten, in dem festgelegt wurde, dass angesichts einer außergewöhnlichen Krise alles, was nicht der Einheit diente, als Illoyalität galt, und zwar nicht gegenüber der Regierung, sondern gegenüber dem Land. Zu Beginn der Pandemie gab es eine Phase intensiver politischer Auseinandersetzungen. Die Kritik konzentrierte sich auf die Maßnahmen und Widersprüche in der Kommunikationspolitik der Regierung32. Es gab Diskussionen über die obligatorische Verwendung von Masken, über die Sorgfalt, mit der die Regierung die ersten Maßnahmen umsetzte nach dem Bekanntwerden des ersten Falls in Italien, über die Härte dieser Maßnahmen und über den Grad der Zentralisierung bei den erlassenen Verfügungen, der von einigen Autonomen Regierungen kritisiert wurde33.

30 Die Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Krise waren in Spanien deutlich weniger zahlreich und häufig – und wurden seltener von relevanten politischen Akteuren unterstützt – als in anderen Ländern, die ähnlich harte Maßnahmen einsetzten, auch in Europa. 31 Martín Campos, A. „Quién votó qué y cuándo en cada prórroga de los estados de alarma por el coronavirus“, Neutral, 17 Mai 2021: . 32 Linde, P. und Romero, J.M., „Los errores políticos ante el virus“, El País, 13. März 2021: . 33 Lamet, J., Hernández, M., Cruz, M., „Los barones del PP, Torra y Urkullu incrementan sus críticas a Sánchez por no contar con las CCAA para tomar las grandes medidas”, El

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Außerdem versuchte die extreme Rechte, die Solidaritätsbekundungen gegenüber den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, insbesondere jenen des Gesundheitswesens, – dessen populärster Ausdruck der 20-UhrApplaus war – zu vereinnahmen und in einen regierungskritischen Protest umzuwandeln34. Dieser Versuch hat vermutlich eher dazu beigetragen, das Ritual des Beifalls versiegen zu lassen. Gleichzeitig trug auch die Lockerung der Maßnahmen und die damit zurückkehrende Mobilität der Menschen zu einem Erlahmen des Rituals bei, da nicht mehr alle Bürger zur selben Zeit zu Hause waren. Hinzu kam, dass in den sozialen Netzwerken und klassischen Massenmedien bereits eine offene Debatte über die Relevanz seiner Fortsetzung in diesem neuen Kontext geführt wurde35. Trotz ihrer Härte, des wirtschaftlichen Schadens, den sie verursachten, der Unsicherheit und Verwirrung aufgrund ihrer teils unklaren Kommunikation durch die Institutionen, wurden die Maßnahmen mit einem hohen Maß an Akzeptanz und sozialer Disziplin umgesetzt (Powell/Molina/ Martínez 2020)36. Ein solches Verhalten hatte die spanische Gesellschaft schon in früheren Krisen von großer emotionaler Tragweite gezeigt, so z. B. war die Reaktion auf die Anschläge vom 11. März 2004 von Solidarität, Einigkeit und Bürgersinn geprägt. Es gab verschiedene Proteste gegen die Gesundheitspolitik der Regierung: Im Mai fanden in mehreren Städten Autokorsos statt (um die Einschränkungen des Versammlungs- und Demonstrationsrechts zu umgehen), die von der rechtsextremen Partei Vox initiiert wurden und die sie Mundo, 12. April 2020: . 34 Obwohl bereits in der ersten Woche des Lockdowns in den sozialen Medien Botschaften kursierten, die eine „cacerolada gegen die Schuldigen“ forderten und auf die fahrlässige Verantwortung der Regierung für die fehlerhafte Kommunikation und das Gesundheitsmanagement hinwiesen, wurden diese Initiativen kaum weiterverfolgt und tauchten erst Anfang Mai wieder mit Nachdruck auf. 35 Cantó, P.: „¿Qué va a pasar con el aplauso de agradecimiento de las 20.00?“, El País-Verne, 17. Mai 2020: . 36 Einige nationale Meinungsumfragen, die nach der Frühphase der Pandemie durchgeführt wurden, zeigen auch ein bemerkenswertes Maß an Akzeptanz für die Strenge der von der Regierung eingeführten restriktiven Maßnahmen. Siehe die Studie „Efectos y consecuencias del coronavirus (III)“, Centro de Investigaciones Sociológicas, Dezember 2020. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung (25,8 %) hielt die ergriffenen Maßnahmen für „angemessen und notwendig“, während 59,2 % sogar der Meinung waren, dass „strengere Maßnahmen hätten ergriffen werden müssen als die der spanischen Regierung und der Regierungen der Autonomen Gemeinschaften“: .

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„Karawanen der Freiheit“ nannte37. Die Beteiligung an ihnen war jedoch gering, sie hatten weder Bestand noch Einfluss auf die politische Agenda. Es ist bezeichnend, dass sowohl die Impfgegner und Pandemie-Leugner als auch die Bewegungen, die sich gegen Kontrollmaßnahmen und damit gegen die Einschränkung oder Begrenzung von Freiheitsrechten wenden, in Spanien (bis heute) weniger politische Unterstützung und eine geringere Fähigkeit zur sozialen Mobilisierung haben als in anderen Ländern mit ähnlichen soziokulturellen Merkmalen in Europa und der Welt38. Die beiden deutlichsten Reaktionen auf die Pandemiepolitik der Regierung waren auf sozialer Ebene das Ergebnis der Regionalwahlen in Madrid und auf institutioneller Ebene das Urteil des Verfassungsgerichts. Letzteres entschied, dass der Alarmzustand – in Anbetracht des Grads der Einschränkungen bzw. der vollständigen Aussetzung von Rechten – nicht das geeignete verfassungsrechtliche Instrument für die verhängten Maßnahmen war. Die Wahlen in Madrid wurden Anfang Mai 2021 abgehalten und waren von der Regionalpräsidentin des Partido Popular (PP) vorzeitig einberufen worden. Die amtierende Regionalpräsidentin39, Isabel Díaz Ayuso, gewann diese mit großem Vorsprung nach einem Wahlkampf, der auf eine direkte Konfrontation mit Regierungschef Sánchez und nicht mit der Madrider Opposition ausgerichtet war. Sie warb zudem für ihre Politik der größeren Flexibilität bei der Umsetzung der Maßnahmen, insbesondere derjenigen, die der Wirtschaft am meisten schaden, mit dem ganz offensichtlichen Ziel, dem Hotel- und Gaststättengewerbe größere Freiheit zu gewähren. Díaz Ayuso entschied sich für eine einfache, aber wirksame rhetorische Strategie, die der Argumentation der extremen Rechten nahekam, wonach die Gesundheitsmaßnahmen einen Angriff auf die Freiheit darstellten und sie und ihre Regierung für die Freiheit und für die 37 González, M., „Vox reta al Gobierno al convocar 52 manifestaciones en pleno estado de alarma“, El País, 11. Mai 2020: . Das Innenministerium hatte die Vox-Demonstrationen in Katalonien und Kastilien-León zunächst aus Gründen der öffentlichen Gesundheit verboten, doch Vox zog gegen die Entscheidung vor Gericht. 38 ; . 39 Die Kandidatur des Partido Popular erhielt 44,73 % der Stimmen (sowohl die nächstplatzierte Partei Más Madrid als auch die Sozialistische Partei PSOE erreichten nicht einmal 17 % der Stimmen), und die Zahl der PP-Abgeordneten in der Regionalversammlung stieg im Vergleich zu den letzten Wahlen 2019 von 30 auf 65: .

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­ ewältigung nicht nur der durch die Pandemie verursachten gesundheitliB chen, sondern auch der wirtschaftlichen Schäden standen40. Das Urteil des Verfassungsgerichts von Juli 2021 bedeutete einen Rückschlag für die Regierung auf institutioneller Ebene. Damit wurde der Verfassungsbeschwerde von Vox gegen mehrere Bestimmungen des Dekrets zur Ausrufung des Alarmzustands teilweise stattgegeben. Doch das Medienecho des Urteils war nur von kurzer Dauer und soziale und politische Reaktionen spärlich. Dies war zum Teil auf die Situation zurückzuführen, in der sich das Gericht selbst befand. Die seit Monaten ausstehende Neubesetzung hatte es Glaubwürdigkeit und Prestige verlieren lassen. Darüber hinaus hatte Vox während der gesamten 2019 begonnenen Legislaturperiode immer wieder Beschwerden beim Verfassungsgericht gegen im Parlament verabschiedete Gesetze eingereicht (und dies bei einer bemerkenswerten thematischen Heterogenität: Regelung der Sterbehilfe, Kinderschutz, öffentliche Gesundheit, Verwendung von Regionalsprachen u.a.). Damit fuhr die Partei in vielen der politischen Debatten eine klare Konfrontationsstrategie41, an der sich auch der Partido Popular häufig beteiligte. Letzterer hatte diese Mittel bereits im vorangegangenen Jahrzehnt gegen einige der umstrittensten Gesetzesreformen der Regierung Rodríguez Zapatero eingesetzt. Diese politische Vereinnahmung des Verfassungsgerichts, die sich nicht nur auf die Neubesetzung der Richterstellen auswirkt, sondern auch das Wahlsystem an sich in Frage stellt, hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institution untergraben und zur generellen Entfremdung von den zentralen staatlichen Institutionen in den letzten zwei Jahrzehnten beigetragen. Der „Madrid-Effekt“ weitete sich jedoch nicht aus, weder zeitlich noch territorial. Vor den Wahlen in Madrid fanden im Februar 2021 Wahlen in Katalonien statt, bei denen der sozialistische Kandidat Salvador Illa, der bis zu den Regionalwahlen als Gesundheitsminister der Zentralregierung mit der Bewältigung der ersten – und schwersten – Phase der Pandemie betraut gewesen war, die meisten Stimmen erhielt (23 % der Stimmen und die gleiche Anzahl an Sitzen wie die Unabhängigkeitspartei Esquerra Republicana de Catalunya). Die Ergebnisse des Partido Socialista ­Kataloniens 40 Martínez-Bascuñán zufolge muss ihr Wahlerfolg gerade „im Kontext der pandemischen Politikverdrossenheit“ interpretiert werden, wobei es Díaz Ayuso gelang, aus der Frustration über die Einschränkungen Kapital zu schlagen, indem sie einen bestimmten „Lebensstil nach Madrider Art“ als wichtigsten, wenn nicht einzigen politischen Standpunkt vertrat; „Ayuso no es el camino“, El País, 5. Mai 2021: . 41 .

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(PSC-PSOE) haben sich im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen im Jahr 2017 deutlich verbessert (er wuchs von der viertstärksten zur stärksten politischen Kraft und konnte die Anzahl der Abgeordneten im autonomen Regionalparlament fast verdoppeln)42. In einem Kontext, der immer noch stark von der durch die Unabhängigkeitsbewegung noch verschärften Polarisierung und Spaltung der Blöcke geprägt ist, sind diese Ergebnisse vornehmlich auf die Führungsstärke Illas – einer der Hauptakteure und präsentesten Gesichter der Krise des Gesundheitssektors – und damit auch auf die Zentralregierung zurückzuführen. Zwar ist es insgesamt wenig erstaunlich, dass die Regierung in der Lage war, eine ausreichende parlamentarische Unterstützung für die Umsetzung der COVID-19-Maßnahmen zu erhalten, da der außergewöhnliche Charakter der Krise, von der Regierung stets mit einer von Kriegsmetaphern geprägten Rhetorik dargestellt, den Druck zur Einheit erhöhte und diejenigen, die diese Einigkeit aufzukündigen versuchten, einen hohen politischen Preis zahlen ließ. Erstaunlich ist jedoch, dass sie in diesen zwei Jahren neben dem Etat des Staatshaushalts (dessen Verabschiedung bis dahin seit Jahren hatte aufgeschoben werden müssen) auch eine beachtliche Anzahl von Gesetzen – einige mit großer Tragweite – verabschieden konnte. Diese „frenetische“ Aktivität auf der legislativen Ebene betraf so diverse Bereiche wie Umwelt und Bildung, die Garantie und Nachhaltigkeit von Renten, Wohnen, Erhöhung des Mindestlohns, eine Verordnung über das Existenzminimum und die Regelung der Sterbehilfe43. Daraus lässt sich eine plausible Hypothese ableiten: Die Pandemie hat die politische Szenerie in Spanien drastisch verändert und die ­traditionellen Bruchlinien der politischen Kämpfe und öffentlichen Debatten außer Kraft gesetzt – ob nur vorübergehend, wird sich zeigen. Dies ist wahrscheinlich der Regierung zu Gute gekommen, die die Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit von jenen Bruchlinien ablenken konnte, die ihr aufgrund der Spannungen zwischen den eigenen politischen Positionen und denen ihrer parlamentarischen Allianzen am meisten zu schaffen machten (z. B. die Territorialfrage und insbesondere die Katalonienkrise). Denn sie sah sich gezwungen, unter anderem mit baskischen (PNV, Bildu) und katalanischen (JxCat-Junts, Esquerra Republicana de Catalunya) Nationalisten unterschiedlicher politischer Ausrichtung zu paktieren, deren 42 . 43 Gallego-Díaz, Soledad, „Un debate político real“, El País, 2. Januar 2022.

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Führungspersonal aufgrund ihrer separatistischen Handlungen während des so genannten „Procés“44 noch im Gefängnis saßen. Während der Pandemie (Juni 2021) hat die Regierung einige dieser politischen Führer begnadigt und deren (höchst umstrittene) Freilassung genehmigt. Es stellt sich hier die zentrale Frage, ob all dies trotz oder vielmehr wegen der Pandemie geschehen ist. Letzteres ist nicht auszuschließen, denn man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ohne eine Ausnahmesituation, wie sie die Gesundheitskrise darstellt, Gesetze, Reformen und politischen Maßnahmen, die sonst für hitzige Debatten gesorgt hätten, nicht in diesem Maße umgesetzt worden wären. Die Pandemie hat die politische Agenda, die öffentliche Debatte, das Medieninteresse und die persönlichen Sorgen der Bürger in einem solchen Maß beherrscht, dass die ideologische Polarisierung des Landes und der starke Wettbewerb um den politischen Raum davon vollständig vereinnahmt waren. Es gibt keine ausreichenden empirischen Belege dafür, dass die Regierungskoalition aus dieser Krise, die – daran sei erinnert – noch immer nicht überwunden ist, mit neuer Legitimität hervorgegangen ist. Doch hat der PSOE sowohl bei den letzten Wahlen (Regionalwahlen in Kastilien und León am 13. Februar 2022), als auch bei den Wahlprognosen deutlich zugelegt, und das trotz des Wahlvorteils der Rechten und des politischen Verschleißes, den die Bewältigung der Krise in der Regierungskoalition und insbesondere in der sie anführenden Partei, dem PSOE, hätte verursachen können. Darüber hinaus deuten jüngste Umfragen darauf hin, dass die Führungsrolle bei der Bewältigung der Gesundheitskrise das Image der Regierung als Manager für künftige Herausforderungen legitimiert und gestärkt hat, selbst in den Bereichen Wirtschaft und Beschäftigung, in denen der Partido Popular in den letzten Jahrzehnten das größere Vertrauen der Öffentlichkeit genossen hat45. Es existieren auch keine hinreichenden Beweise dafür, dass die spanische Gesellschaft geeinter wäre oder, dass die Institutionen durch die Krise gestärkt worden seien. Allerdings bieten einige Studien interessante Daten über die öffentliche Meinung nach den schweren Pandemiephasen in Bezug auf die Wahrnehmung von und das Vertrauen in zentrale Institutionen, Sektoren und Berufsgruppen des Landes: Besonders bemerkenswert ist, dass sich die öffentliche Meinung gegenüber 44 . 45 Siehe 40dB-Umfrage für El País und Cadena Ser. .

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der Regierung auf allen Ebenen (national, regional und lokal) während der Coronavirus-Krise verschlechtert hat (wobei die nationale Regierung am negativsten bewertet wurde). Außerdem stachen andere Institutionen in der Negativ-Bewertung hervor, die historisch weniger Vertrauensprobleme hatten, wie etwa die Medien und das Gesundheitssystem46. Die Pandemie stellt zwar eine absolute Ausnahmesituation in der politischen und institutionellen Ordnung dar, aber gewiss kein Vakuum. Schlussfolgerungen

In dieser Arbeit wurden die Folgen der COVID-19-Pandemie in Spanien in ihrer gesundheitlichen, wirtschaftlichen und soziopolitischen Dimension analysiert. Zunächst wurde ein Überblick über die Auswirkungen der Pandemie und die aufeinanderfolgenden Ansteckungswellen sowie ihre Folgen für Gesundheit und das Gesundheitssystem gegeben. Im wirtschaftlichen Bereich wurden zunächst die Ausgangsbedingungen bei Ausbruch der Pandemie beschrieben, dann die Auswirkungen der Krise auf die wichtigsten Indikatoren für Wirtschaft und Beschäftigung untersucht sowie die zur Schadensbegrenzung ergriffenen Maßnahmen überprüft und ihre Ergebnisse bewertet. Und schließlich wurde die gesellschaftspolitische Dimension der Krise analysiert. Dabei wurden zunächst die Ausgangssituation untersucht, und dann die Auswirkungen der Gesundheitskrise auf die öffentliche Debatte, die soziale Mobilisierung, die parlamentarische und legislative Arbeit außerhalb der Pandemie-Bewältigung sowie die Situation der staatlichen Institutionen in den Blick genommen. Unter den jeweils am Ende der Abschnitte vorgenommenen Schlussfolgerungen ist hervorzuheben, dass die Bereiche, die am solidesten schienen, wie z. B. das Gesundheitssystem, am stärksten betroffen waren und während sowie nach der Krise reformiert und modernisiert werden mussten und nach wie vor müssen. Gleichzeitig haben die Bereiche, in denen die Ausgangssituation eine größere Unsicherheit oder Anfälligkeit erkennen ließ, wie die wirtschaftliche Lage und die politische und soziale Stabilität, sich als solide erwiesen und sind in mancher Hinsicht sogar gestärkt aus der Krise hervorgegangen. 46 Studie „Efectos y consecuencias del coronavirus (I)“, Oktober 2020, Centro de Investigaciones Sociológicas: https://www.cis.es/cis/export/sites/default/-Archivos/ Marginales/3280_3299/3298/es3298mar.pdf.

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Die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesundheit waren in Spanien dramatisch. Das Land hatte eine der höchsten Infektions- und Todesraten im internationalen und insbesondere im europäischen Vergleich. Die Auswirkungen der ersten Welle zwischen März und Juni 2020 waren besonders verheerend. Bis heute (Februar 2022), knapp zwei Jahre nach der Entdeckung des ersten Infektionsfalls, sind in Spanien fast 97.000 Menschen an COVID-19 gestorben. Sowohl das Krankenhaussystem als auch das System der Primärversorgung waren überlastet. Die Pandemie hat die Mängel des öffentlichen Gesundheitssystems und dessen akute Zerfallserscheinungen offengelegt. Ihre bittersten Auswirkungen zeigte die Krise jedoch in den Pflegeheimen, in denen die Realität eines prekären, höchst anfälligen Modells, das an materiellem und personellem Ressourcenmangel leidet, besonders evident wurde. Die Folgen der Situation in den Pflegeheimen während der ersten Welle der Pandemie – einschließlich strafrechtlicher Konsequenzen – in Bezug auf Prävention, Ressourcenmanagement und politische Entscheidungsfindung, sind noch nicht abschließend geklärt. In einer alternden Gesellschaft und angesichts der demografischen Prognosen für Spanien bleibt abzuwarten, ob die dringend notwendige öffentliche Debatte über dieses Modell des Gesundheitsmanagements stattfinden wird, das in dieser Krise so kolossal versagt hat. Positiv zu bewerten ist hingegen – neben der noch offenen Debatte über den Nutzen der Maßnahmen und den Zeitpunkt ihrer Durchführung in den einzelnen Phasen der Pandemie – der unbestreitbare Erfolg der Impfkampagne. Diese war in doppelter Hinsicht ein Erfolg, ein logistischer und administrativer, aber auch einer der Überzeugung und der Kommunikation: Ende 2020, vor Beginn der Impfkampagne, zeigten Umfragen, dass noch 50 % der Bevölkerung den Impfstoffen misstrauten. Im Sommer 2021 waren hingegen bereits 70 % der spanischen Bevölkerung geimpft. Die Anti-Impf-Bewegung in Spanien erwies sich als irrelevant. Schließlich steht noch die Analyse der langfristigen Folgen der Pandemie für Gesundheit und Gesundheitssystem aus, wie etwa die Langzeitfolgen einer Virusinfektion (z. B. Verdachtsfälle von Long-COVID), aber auch das soziale Trauma, die konkreten Erfahrungen während der Pandemie mit den Ausgangssperren und den Einschränkungen des täglichen Lebens, sowie die Lebenserwartungen von Infizierten und Nichtinfizierten. Die Daten, die allmählich über psychische Störungen unter

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der jungen Bevölkerung öffentlich werden, sind zunehmend alarmierend. ­Gleichzeitig wächst die Besorgnis in der Gesellschaft darüber, dass das ­Gesundheitssystem nicht in der Lage ist, psychisch Kranke ausreichend zu versorgen. Die wirtschaftlichen Folgen in Form von Rezession und Arbeitslosigkeit waren grundsätzlich so hart wie erwartet und sind auf die strukturellen Bedingungen des Arbeitsmarktes und das Produktionsmodell des Landes zurückzuführen. Der Rückgang des BIP erreichte ein noch nie dagewesenes Ausmaß. Obwohl die Erholung der Wirtschaft verschiedene Phasen durchlaufen hat, die zum Teil auf das Verhalten des Virus und zum Teil auf das der Bevölkerung zurückzuführen sind, verläuft sie derzeit schneller und ist stärker als erwartet. Trotzdem muss die Erholung ständig neu bewertet werden. Besonders auffällig ist der Aufschwung im Bereich der Beschäftigung. Hier hat sich insbesondere der umfassende Einsatz der ERTES (des Instruments zur Implementierung von Kurzarbeit und/oder befristeten Entlassungen) bewährt, durch das die wirtschaftlichen Schäden abgemildert wurden. Dieses Instrument ist in früheren Krisen nicht hinreichend genutzt worden. In der COVID-Krise hat es sich jedoch als äußerst wirksam erwiesen, um die Einkommen der Haushalte zu stützen und deren Sparrate während der Monate der Lockdowns zu erhöhen, was für die Zeit danach wichtig war und außerdem das Vertrauen in andere Elemente des Systems erhalten konnte. Die mittel- und langfristigen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen sowie für die Einkommensungleichheit und andere Formen der sozialen Ungleichheit und Verarmung müssen noch genauer untersucht werden. Was die Regierbarkeit, die soziale und politische Stabilität und das Funktionieren der Institutionen angeht, hatten die Pandemie und die Gesundheitskrise nicht jene Auswirkungen, die angesichts des politischen Ausgangsszenarios zu erwarten gewesen wären. Nach zwei Jahren Legislaturperiode, die praktisch mit dem Ausbruch und der Entwicklung der Pandemie einherging, hat sich das Image der Regierung nicht wesentlich verschlechtert und ist in mancher Hinsicht sogar gestärkt worden. Die Koalition hielt sich stabil und die Gesetzgebungstätigkeit war rege, sodass in dieser Zeit wichtige und in einigen Fällen sogar umstrittene Gesetze verabschiedet worden sind. So stellt sich die Frage, ob die Pandemie in

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dieser Hinsicht die Regierungsarbeit nicht eher erleichtert hat, als ihr zu schaden. Die spanische Gesellschaft hat in der Krise ein hohes Maß an Zusammenhalt bewiesen und sich an die staatlich verfügten Maßnahmen gehalten, und die ideologische Polarisierung hat nicht zu sozialen Spannungen geführt. (Übersetzt von Pauline Bachmann) Anmerkung der Herausgeber: Die Zahl der Infektionen stieg zwar in der ersten Jahreshälfte 2022 erneut, sank danach aber wieder. Schon Ende März war die Isolationspflicht (außer in Fällen schwerer Symptome) aufgehoben worden. Die generelle Maskenpflicht wurde wiederum Ende April aufgehoben – mit Ausnahme der öffentlichen Verkehrsmittel, Gesundheitseinrichtungen, Altenheimen, Apotheken. Ende Juli waren 86 % der spanischen Gesamtbevölkerung zweifach geimpft, 54 % hatten eine Auffrischungsimpfung erhalten. Beim „Boostern“ kommt Spanien allerdings im Vergleich zu Deutschland deutlich langsamer voran. (Vgl. dazu: HansChristian Rößler: „Ohne Isolation“, in: FAZ 30.7.2022, S. 4.) Ausgewählte Literatur ABC (2020): (10-112021). Antena 3 Noticias (2020): (15-11-2021). Barbeito Iglesias, Roberto Luciano/Iglesias Alonso, Ángel Hermilio (2020): „Democracias en cuarentena: respuestas políticas a la COVID-19 y el futuro de la democracia“, in: Revista Española de Sociología, 29, 3, 703-714. Boscá, José E./Doménech, Rafael/Ferri, Javier (2020): „El impacto macroeconómico del virus“, in: Fedea - Apuntes, 2020, 2. CDC (o.D.): „COVID-19, Variante ómicron: lo que debe saber“, in: (10-02-2022). Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS) (2021): „Avance de resultados del estudio 3.340  del Barómetro de noviembre 2021“, in: (30-11-2021). Cequier Fillat, Ángel/González-Juanatey, José Ramón (2020): „COVID-19. Las consecuencias sociales, sanitarias y cardiovasculares“, in: Revista Española de Cardiología, 20, 1. Comas d’Argemir, Dolors/Bofill-Poch, Sílvia (Hgg.) (2021): Proyecto CUMADE. El cuidado importa. Impacto de género en las cuidadoras/es de mayores y dependientes en

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Die Außenkulturpolitik Spaniens – Vergangenheit, Gegenwart und Perspektiven eines umstrittenen Politikfeldes Christian Pfeiffer Abstract Der Beitrag stellt die Außenkulturpolitik Spaniens (AKP) vor und wirft dabei einen Blick auf vergangene Entwicklungen, gegenwärtige Probleme und zukünftige Perspektiven des Politikfeldes. Es wird der Frage nachgegangen, wie das Land versucht, das enorme Potential seiner Sprache(n) und Kultur(en) außenpolitisch zu nutzen. Hierzu wird ein chronischer Längsschnitt der Entwicklung der spanischen AKP von den Anfängen bis in die Gegenwart vorgenommen und die Tätigkeit im Akteursfeld um das in diesem Zusammenhang bedeutende Instituto Cervantes näher beleuchtet. Dabei stellt sich heraus, dass angesichts einer vielversprechenden Ausgangslage die Chancen, die der Kulturund Sprachschatz für das außenpolitische Wirken Spaniens bietet, noch nicht ausgeschöpft worden sind. Gründe dafür sind in einer Mischung aus mangelnder Finanzierung, politischen Diskontinuitäten, Kompetenzstreitigkeiten und einer schwach ausgebildeten Akteursautonomie zu finden. 1. Einleitung

Spanien gilt, anders als westeuropäische Länder wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland, nicht als Pionier der Außenkulturpolitik (AKP). Dies ist auf den ersten Blick verwunderlich, verfügt das Land doch über ein enormes Potential, seine kulturelle Ausstrahlung außenpolitisch zu nutzen. Mit der spanischen Sprache und der aus der Kolonialgeschichte erwachsenen kulturellen Nähe zu Lateinamerika besitzt das Land zwei Merkmale, die ihm eine prädestinierte Position auf dem internationalen Parkett verleihen könnten. Laut dem Jahrbuch des Instituto Cervantes sprechen weltweit 493 Millionen Menschen Spanisch als Erstsprache,

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e­inschließlich der Menschen mit Spanischkenntnissen erhöht sich diese Zahl auf 591 Millionen, was nur noch vom chinesischen Mandarin übertroffen wird (Instituto Cervantes 2021: 137). Nach einer Studie der Fundación Telefónica ist die spanische Sprache für ca. 16 % des BIP Spaniens (mit-)verantwortlich (Marco 2012: 67) und somit auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Für viele Menschen aus Lateinamerika bleibt der Weg nach Spanien „der natürlichste Weg ihrer Mobilität“1 nach Europa (Martín Valenzuela 2003: 234). Insbesondere die gemeinsame Sprache stellt die Grundlage einer „kulturellen Staatsbürgerschaft“ (Arenal 2011: 2) dar, durch die der lateinamerikanische Raum eine Sonderstellung in der spanischen Außenpolitik einnimmt. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Frage, wie versucht wird, dieses Potential zu nutzen. Es wird auf die Beschaffenheit der Außenkulturpolitik eingegangen, anschließend werden Herausforderungen und Chancen thematisiert.2 2. Begriffliche und theoretische Grundlagen

Bei der Beschäftigung mit dem Politikfeld der AKP trifft der Forscher auf Konzepte und Begrifflichkeiten, die teilweise eine deutliche US-amerikanische Prägung aufweisen und von der europäischen Forschung nur allmählich aufgenommen wurden. Dazu zählen Cultural Diplomacy, Public Diplomacy, Soft Power sowie Nation Branding. Gegenwärtig gibt es nach wie vor unterschiedliche Auffassungen, was unter diesen Konzepten zu verstehen ist (Gienow-Hecht 2010: 3). In der spanischen bzw. spanischsprachigen Literatur ist es seit Beginn der 2000er Jahre zu einer verstärkten Beschäftigung mit begrifflichen Aspekten in Zusammenhang mit der AKP gekommen, eine theoretische Betrachtung des Politikfeldes ist jedoch bislang weitgehend ausgeblieben. Ein Schwerpunkt wird oft auf den Aspekt der Marca España, des Nation Brand Spaniens, gelegt. Diese wird gelegentlich sogar mit der gesamten AKP Spaniens gleichgesetzt, was nicht zutreffend ist. Vorab seien einige Schlüsselkonzepte vorgestellt:

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Alle Zitate in diesem Artikel in spanischer Sprache wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt. 2 Eine deutlich detailliertere Darstellung der spanischen AKP findet sich in Pfeiffer (2020).

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Soft Power hat sich seit Anfang der 1990er Jahre zu einem sowohl von Politikern als auch von Wissenschaftlern oft verwendeten Konzept entwickelt. Joseph Nye bezeichnet es als „the ability to affect others through the co-optive means of framing the agenda, persuading, and eliciting positive attraction in order to obtain preferred outcomes“ (Nye 2011: 20 f.). Machtausübung ist nach dieser Definition keine Handlung mehr, mit der einem etwas aufgezwungen wird. Vielmehr wird der Versuch unternommen, jemanden von der Sinnhaftigkeit einer Handlung zu überzeugen. Die unmittelbaren Werkzeuge der Soft Power sind weniger in materieller Form wie Waffen, Geld oder Ressourcen zu finden, sondern in immateriellen, primär geistigen und moralischen Werten und Ideen. Auch die moralische Legitimität und Glaubwürdigkeit kann dabei entscheidend sein, andere Menschen von den richtigen Zielen zu überzeugen oder zumindest Verständnis zu wecken. Glaubwürdigkeit ist hierbei ein in seiner Wichtigkeit nicht zu unterschätzendes Mittel. Soft Power basiert laut Nye in der Regel auf drei Ressourcen: Auf passiven Instrumenten wie Kultur (wirksam ist sie aber nur dort, wo sie für andere auch attraktiv bzw. verständlich ist), politischen Wertorientierungen (z.  B. Menschenrechte, Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Nachhaltigkeit) sowie auf aktiven Instrumenten wie politischem Handeln im Ausland (wenn ein Staat als legitim und mit moralischer Autorität angesehen wird). Insbesondere im Informationszeitalter, in dem immer mehr Menschen die Möglichkeit haben, an Informationen zu gelangen, kommt es somit nicht mehr nur auf materielle und militärische Vorteile an, sondern, wie es Nye ausdrückt: „[It] depends not only on whose army wins, but also on whose story wins“ (Nye 2008: 3). Public Diplomacy ist ein wesentliches Instrument zur Erlangung und Ausübung von Soft Power. Das Konzept bezeichnet den Prozess der Einflussnahme auf eine ausländische Öffentlichkeit, mit dem Ziel, deren Meinung gegenüber dem Public Diplomacy ausübenden Land zu verändern. Dabei geht diese oftmals nicht wie in der traditionellen Diplomatie von Diplomaten aus; stattdessen beschränkt sich das staatliche Handeln im Idealfall darauf, die für das Erreichen des Zieles notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Der Grundgedanke hinter dieser Herangehensweise ist folgender: „People tend to be suspicious of foreign officials’ motives“ (Melissen 2005: 16). Somit sei es umso wichtiger, Nichtregierungsakteure der Zivilgesellschaft in die Arbeit miteinzuspannen und auch lokale Netzwerke in den Zielländern aufzubauen. Die Betonung des interkulturellen Austausches und der

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Kommunikation ist ebenfalls ein Aspekt, der Public Diplomacy von einem mittlerweile negativ belegten Konzept unterscheidet: der Propaganda (Melissen 2005: 17). Public Diplomacy wird nicht ausschließlich von Regierungen ausgeübt, sondern geht auch von privaten Akteuren aus (Manfredi 2011: 199 ff.). Vor allem zur Herstellung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen eignet sich das Zurückgreifen auf private Akteure, die gegenüber staatlichen den Vorteil haben, dass hinter ihrer Arbeit in der Regel nicht unmittelbare strategische Interessen wahrgenommen werden. Unter dem Dach einer Public Diplomacy lassen sich unterschiedliche Instrumente bzw. Herangehensweisen mit verschiedener Ausprägung finden. Das können Cultural Diplomacy, Außenwissenschafts- und Austauscharbeit sowie Auswärtige Medienarbeit sein. Cultural Diplomacy kann als eine Aktivität gesehen werden, die auf die Kooperation von Kulturschaffenden, also nicht-staatlichen Akteuren, angewiesen ist. Wenn es keinen Kultur-Output gibt, kann der Staat auch keine Kulturpolitik durchführen (Gienow-Hecht 2010: 10). In diesem Artikel wird Cultural Diplomacy vor allem als kulturelle Programm- und Spracharbeit verstanden. Auffallend ist, dass anders als in der deutschen Forschungsliteratur zum Politikfeld, wo sich ein erweiterter Kulturbegriff durchgesetzt hat, sich in spanischen Texten kein einheitlich verwendeter Begriff von Kultur findet. Das spanische Kulturministerium leitet seine Dokumente zur Kulturgesetzgebung mit dem vagen Satz ein: „Das Konzept der Kultur gestaltet sich in der Verfassung auf sehr offene und unbestimmte Weise“ (zitiert nach Real Instituto Elcano 2004: 14). In dem im Jahr 2010 verabschiedeten Plan Nacional de Acción Cultural Exterior (PACE), der kurzzeitig als offizielle Konzeption der spanischen AKP galt, wird die kulturelle Grundlage jedweder internationaler Beziehung betont und ebenfalls ein erweiterter Kulturbegriff verwendet (Ministerio de Asuntos Exteriores y de Cooperación/Ministerio de Cultura 2010: 7). Somit kann vermutet werden, dass sich der erweiterte Kulturbegriff auch in Spanien durchzusetzen beginnt. In offiziellen Dokumenten wird Public Diplomacy in Spanien mittlerweile mit AKP gleichgesetzt. Im für die neuere Ausrichtung der spanischen AKP zu betrachtenden PACE aus dem Jahr 2010 heißt es: „Die Auswärtige Kulturarbeit wird heute vom Konzept der Public Diplomacy umrahmt, von der die Cultural Diplomacy traditionell eine Subkategorie bildet“ (Ministerio de Asuntos Exteriores y de Cooperación/Ministerio de Cultura 2010: 6).

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Im Folgenden wird die Ansicht vertreten, dass Public Diplomacy von dem Konzept des Nation Branding abzugrenzen ist, dieses jedoch gleichzeitig, wenn vom Staat aktiv oder passiv gefördert, als Teil einer AKP aufzufassen ist. Seit den frühen 1990er Jahren ist mit dem durch die Globalisierung forcierten internationalen Standortwettbewerb und der steigenden Bedeutung von kommerziellen Marken das Konzept des Nation Branding aufgekommen. Damit wird die strategische Selbstpräsentation eines Landes mit dem Ziel betrieben, Reputation und zusätzliche Wahrnehmung zu erreichen. Es wird somit versucht, Strategien des Marketings aufzugreifen und diese auf die internationale Ausstrahlung von Ländern anzuwenden, was sich z. B. in der Verwendung von Logos oder griffigen Slogans äußern kann. Dabei stehen Länder im Wettbewerb um internationale Sichtbarkeit. So kann ein gutes bzw. ein sich von sonst gleichartigen Mitbewerbern unterscheidendes Image schließlich ausschlaggebend für eine Standortentscheidung oder Investition (Peralba Fortuny 2009: 10) sein sowie im Falle einer Kaufentscheidung eines (ausländischen) Konsumenten den entscheidenden Impuls geben. Das Konzept hat somit vor allem einen sozioökonomischen und kompetitiven Charakter (Alba Manrique 2014: 5  ff.). Nation Branding geht dabei nicht nur von staatlichen Instanzen aus; stattdessen arbeiten diese oftmals mit privatwirtschaftlichen Akteuren zusammen. Das hängt mit der engen Verknüpfung mit wirtschaftlichen Zielen zusammen, die durch das Nation Branding erreicht werden sollen, wie etwa die Gewinnung von ausländischen Direktinvestitionen und gut ausgebildeten ausländischen Arbeitskräften, die Verbesserung der Handelsbilanz sowie eine größere Wettbewerbsfähigkeit des heimischen Tourismus. Zudem wird damit gerechnet, dass ein gutes Image im Ausland auch zu einer höheren Zufriedenheit der Bürger im Inland führen könne (­Aronczyk 2013: 15). 3. Die Entwicklung der AKP Spaniens bis in die Gegenwart

Eine Betrachtung der Entwicklung der spanischen AKP muss stets im internationalen Kontext erfolgen. So hat die AKP Spaniens seit ihrem Bestehen verschiedene Phasen durchschritten, die von unterschiedlichen Leitbildern, Strukturen, Akteuren, Instrumenten und thematischen Ausrichtungen gekennzeichnet waren. In der Folge soll mittels eines ­chronologischen

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Längsschnitts die kontextbezogene Entwicklung der spanischen AKP dargestellt werden. 3.1. Die spanische AKP von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Bürgerkrieg

Die Ursprünge der AKP Spaniens lassen sich bis in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Mit der Gründung der Institución Libre de Enseñanza (ILE) im Jahr 1876 versuchten Intellektuelle wie der Philosoph Francisco Giner de los Ríos dem im internationalen Vergleich großen wissenschaftlichen Rückstand des Landes etwas entgegenzusetzen. Die ILE kann als eine der ersten Institutionen einer AKP Spaniens gesehen werden, da sie während ihres Bestehens systematisch mit zahlreichen ausländischen Wissenschaftlern und Pädagogen zusammenarbeitete (Delgado Gómez-Escalonilla 1992: 14). Zuvor war bereits 1873 die Escuela de Historia, Arqueología y Bellas Artes in Rom gegründet worden, die sich der zahlreichen spanischen Kunstschaffenden in der italienischen Hauptstadt annehmen sollte, die zu diesem Zeitpunkt neben Paris der emblematische Treffpunkt für europäische Künstler war (Espadas Burgos 2000). In Kontrast zu den in dieser Zeit dominierenden europäischen Mächten war das einstige Weltreich Spanien bis auf einzelne Ausnahmen wie den fortschrittlichen Regionen Katalonien und Baskenland jedoch wirtschaftlich und gesellschaftlich zurückgefallen. Einen Wendepunkt stellte das Jahr 1898 dar. Der fundamentale Schockzustand, der Spanien aufgrund des Verlustes seiner Kolonien Kuba, Puerto Rico und Philippinen als Ergebnis des Spanisch-US-amerikanischen Krieges erfasste, löste in intellektuellen Kreisen Debatten um den vermeintlichen Entwicklungsrückstand und die Inkompetenz der politischen Elite aus. Gleichzeitig legte dieses Ereignis die internationale Isolierung Spaniens offen, die sich sowohl in dem mangelnden Kontakt zu den ehemaligen lateinamerikanischen Kolonien als auch zu den europäischen Nachbarn zeigte. Der Diplomat José Antonio de Sangróniz formulierte die Zielstellung der spanischen AKP Anfang des 20. Jahrhunderts folgendermaßen: Man müsse das Bild von dem „Land der Kleriker und Stierkämpfer, in dem Unkultur und Fanatismus ihren natürlichen Sitz haben“, in eine zeitgemäße Wahrnehmung umwandeln (zitiert nach Delgado Gómez-Escalonilla/Figueroa 2008: 9).

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1907 kam es zur Gründung der Junta para Ampliación de Estudios e Investigaciones Científicas (JAE). Ein Jahr zuvor hatte der Mediziner ­Santiago Ramón y Cajal den Nobelpreis erhalten. Er sprach sich mit Bezug auf Spanien gegen die „intellektuelle Abgrenzung von Europa“ und für eine Öffnung zu den europäischen Nachbarn aus (Delgado Gómez-Escalonilla 2014: 5). Vor dem Hintergrund der Nobelpreisverleihung schlug Ramón y Cajal der spanischen Regierung vor, die JAE zu gründen, um Bildung, Wissenschaft und Forschung auf diesem Weg zu verbessern (Santamaría García 2007: 1). Die JAE, die Ramón y Cajal zu Beginn präsidierte, hatte zum Ziel, die zukünftige spanische intellektuelle Elite zu formen und das Land nach europäischem Vorbild auf einen liberalen und reformorientierten Weg zu führen. Mit den u. a. von der JAE forcierten Stipendienprogrammen wurde zudem der wissenschaftliche Austausch mit anderen Ländern, insbesondere mit Frankreich, Deutschland und Großbritannien, verstärkt. Gleichzeitig wurde der Blick vermehrt nach Lateinamerika gerichtet und vor allem von konservativer Seite versucht, ein „kollektives hispanisches Bewusstsein“ zu entwickeln. Damit sollte nicht nur gegen die leyenda ­negra3, die im Ausland Verbreitung gefunden hatte, angekämpft, sondern generell der außenpolitische Einflussbereich erweitert werden. Aufgrund der gemeinsamen kulturellen und sprachlichen Wurzeln war es der Anspruch Spaniens, sich als Sprachrohr eines ganzen Subkontinents in Europa darzustellen und zugleich als Vermittler zwischen den lateinamerikanischen und europäischen Ländern zu agieren. Hiermit war das Bestreben verbunden, für eine weitgehende linguistische Einheit der spanischen Sprache zu sorgen (Delgado Gómez-Escalonilla 2014: 5 ff.). Nach dem Ersten Weltkrieg – in dem das Land neutral blieb – verfolgte Spanien zunächst das Ziel, seine Beziehungen zu den lateinamerikanischen Ländern auszubauen. Nur in geringem Maße wurde der Blick auf andere Regionen gerichtet. In Nordafrika wurden erste spanische Kulturinstitute gegründet, die vor allem von den dort lebenden spanischen Emigranten getragen wurden (de Larramendi/González González/López García 2015). Als Ergänzung zur Arbeit der JAE folgte 1921 innerhalb der politischen Abteilung des Außenministeriums die Gründung der O ­ ficina de R ­ elaciones 3 Die leyenda negra hat ihren Ursprung im 16. Jahrhundert und bezieht sich auf ein als brutal, fanatisch und menschenverachtend geltendes spanisches Wesen. Dabei nimmt sie insbesondere auf die Praxis der Inquisition und die Eroberungen nach der „Entdeckung“ des amerikanischen Kontinents durch Christoph Kolumbus Bezug.

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Culturales Españolas (ORCE), mit der die diplomatische ­Verankerung der Tätigkeiten noch verstärkt wurde. Maßgeblich daran beteiligt war der Historiker und Philologe Américo Castro, der als einer der Pioniere auf dem Gebiet der spanischen AKP gilt. Castro war der Meinung, dass sich Spaniens kulturelle Rolle in der Welt nicht darauf verkürzen solle, „ein extrem wertvolles archäologisches Museum zu sein“ (zitiert nach Delgado GómezEscalonilla 1992: 20). Die Hauptaufgabe der chronisch unterfinanzierten ORCE war die „Verbreitung der spanischen Sprache und die Verteidigung und Expansion der spanischen Kultur im Ausland“ (zitiert nach Delgado Gómez-Escalonilla 2014: 11). Ihre Arbeit war also im Gegensatz zum schwerpunktmäßigen Wissenschaftsaustausch der JAE, der in der Regel in einer rezeptiven Konzeption von AKP verankert war, eher expansiver Natur. Nach der Machtübernahme durch General Miguel Primo de Rivera im Jahr 1923 wurde die Ausrichtung der ORCE stark verändert und vor allem auf einseitige Propaganda gesetzt. Es erfolgte eine Konzentration auf Lateinamerika und Europa (Martín Zamorano/Rius Ulldemolins 2016: 396). Als Nachfolgeorganisation der ORCE wurde 1926 die Junta de Relaciones Culturales (JRC) geschaffen, die vor allem als Subventionsinstanz galt, von der nach Maßgabe der Regierung Gelder an verschiedene von der Diktatur ausgewählte Projekte, vor allem in Lateinamerika, flossen (Delgado Gómez-Escalonilla 2014: 12). Nach Abschaffung der Monarchie und mit dem Beginn der Zweiten Republik 1931 fand ein erneuter Richtungswechsel in der AKP statt. Nun herrschte ein weniger propagandistischer und verstärkt internationalistischer und auf Zusammenarbeit basierender Grundton vor. Der Schwerpunkt lag fast ausschließlich auf Lateinamerika und den südeuropäischen Nachbarn. Ausdruck all dieser Entwicklungen war eine Reform der JRC, die unabhängiger vom Staat wirken konnte als zuvor (Arenal 2011: 27 f.). Hiervon abgesehen, entstand für kurze Zeit ein Freiraum für Kulturschaffende, sodass aus kultureller Sicht die Jahre der Zweiten Republik auch als Edad de Plata galten. Zudem wurden die linguistische und kulturelle Vielfalt Spaniens anerkannt und innovative Initiativen gestartet, was sich auch auf die AKP auswirkte. Insbesondere die JRC entfaltete während der Zweiten Republik in Orientierung an der Pionierarbeit durch JAE und ORCE eine enorme Tätigkeit, u. a. durch die Gründung von Auslandsschulen und die Finanzierung von Lektoraten und Lehrstühlen für die spanische Sprache an ausländischen Universitäten. Hiermit waren auch

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eine erhebliche Steigerung der finanziellen Mittel sowie eine bemerkenswerte Planungsleistung, Koordinierung und Professionalisierung verbunden (Herrera de la Muela 2008: 35 f.). Besonders wichtige Adressaten dieser Politik waren die Nachbarländer Portugal, Frankreich, Andorra und Algerien (Egido Gálvez/Gavari Starkie 2009: 5). Erhebliche Anstrengungen wurden zudem weiterhin in Lateinamerika unternommen, wo es u. a. zu mehreren Bibliotheksgründungen kam (Delgado Gómez-Escalonilla 2014: 13 f.). Die dargestellten Tätigkeiten verringerten sich mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges im Jahr 1936 oder wurden ganz eingestellt, was u. a. an den in der bisherigen AKP tätigen Personen lag, die ins Exil gehen mussten und vor allem in Lateinamerika wichtige Grundlagen für eine Erneuerung der dortigen Geistes- und Sozialwissenschaften legten (Werz 2020). Wichtiger als der wissenschaftliche und kulturelle Austausch wurde nun die propagandistische Tätigkeit beider Parteien des Bürgerkriegs, die auch auf das Ausland zielte (Iglesias Rodríguez 2002: 13 ff.). 3.2. Die AKP während des Franquismus

Der Sieg der von Franco angeführten nationalistischen Putschisten im Spanischen Bürgerkrieg und die Etablierung der Diktatur führten zu einer grundlegenden Veränderung der spanischen AKP, die der vorherigen republikanischen Konzeption konträr gegenüberstand. Ausländische Einflüsse wurden als schädlich für die Essenz der auf dem Katholizismus basierenden spanischen Kultur angesehen. Demokratische und liberale Werte sowie die republikanischen Ideologien wurden als anti-spanisch abgelehnt und Gott, Vaterland und Familie als Pfeiler der Nation hochgehalten (Delgado Gómez-Escalonilla 2014: 15). Gegen regionalistische Tendenzen, vor allem im Baskenland und Katalonien, wurde hart vorgegangen, da diese der proklamierten Einheit des Landes und der zentralistischen Natur des Regimes zuwiderliefen. Franco sorgte unmittelbar nach Kriegsende für die Schließung der JRC sowie für eine Zentralisierung und Vereinheitlichung der Außenpolitik und gründete 1939 die Delegación de Prensa y Propaganda: „Ihre Aktivität war darauf ausgerichtet, die Diktatur in der Welt zu legitimieren, den Kommunismus zu diskreditieren und den sozialen Protest gegen die Repression zu kriminalisieren“ (Martín Zamorano/Rius Ulldemolins 2016: 396).

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Als Nachfolge-Organisation der JAE wurde 1939 zudem der Consejo Superior de Investigaciones Científicas (CSIC) gegründet, der die „­universelle und katholische Tradition Spaniens mit den Anforderungen der modernen Zeit in Einklang bringen“ sollte (Sanz Díaz 2010: 360). Eine wichtige Rolle für die AKP des Franquismus spielte das maßgeblich auf den Schriftsteller Ramiro de Maeztu zurückgehende Konzept der Hispanidad 4, das sich 1940 in der Gründung des Consejo de Hispanidad manifestierte, der als Nachfolgeorganisation der JRC galt. Seine vorrangige Aufgabe war es, die leyenda negra in Lateinamerika und auf den Philippinen mittels redigierter und auf Linie gebrachter Bücher, Artikel, Reportagen und Filme zu bekämpfen und gleichzeitig dem von den zahlreich nach Lateinamerika exilierten Republikanern ausgeübten Einfluss etwas entgegenzusetzen bzw. den eigenen Einfluss auszubauen. Zudem wurden Stipendien für einen Aufenthalt an spanischen Universitäten vergeben und Kulturzentren in Lateinamerika unterhalten. Der Consejo de Hispanidad diente zudem dem Außenministerium als Beratungsgremium für das angemessene Verhalten gegenüber der lateinamerikanischen Welt (Arenal 2011: 38). Das am 31. Dezember 1945 als Nachfolgeorganisation des Consejo de Hispanidad gegründete und bis ins Jahr 1977 überdauernde Instituto de Cultura Hispánica (ICH) hatte die Aufgabe, „den traditionellen Sinn des hispanischen Katholizismus zu unterstreichen, der das Regime Francos repräsentierte, um dieses akzeptabler gegenüber den anderen erscheinen zu lassen“ (Cañellas Mas 2014: 78). In kurzer Zeit konnte sich das ­Institut zum wichtigsten Akteur der spanischen Kulturpolitik entwickeln, sowohl die innere als auch die äußere Dimension betreffend. Die Dirección General de Relaciones Culturales y Científicas (DGRCC) des Außenministeriums, die 1945 im Zuge einer Neuordnung des Ministeriums als Koordinationsinstanz gegründet wurde und dem das ICH unterstellt war, konzentrierte sich ebenfalls auf Lateinamerika, daneben aber auch auf 4

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De Maeztu sah Lateinamerika, z. B. in seinem Buch Defensa de la Hispanidad von 1934, als Teil einer América española, die sich durch den christlichen und zivilisatorischen Einfluss Spaniens und die kulturelle, historische und religiöse Homogenität charakterisiere (Martín Zamorano/Rius Ulldemolins 2016: 126). Dabei baute er auf dem Panhispanismo auf, als dessen radikale Form das Konzept der Hispanidad gilt. Den Panhispanismo, der seinen Ursprung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte und sich im Kontext einer verstärkten intellektuellen Auseinandersetzung, abseits staatlicher Stellen, mit dem „hispanischen Amerika” entwickelte, machen als grundlegende Wesensmerkmale ein starker Nationalismus, die Berufung auf die spanische koloniale Vergangenheit, die Verteidigung und Verbreitung der katholischen Religion und eine hierarchische Gesellschaftsordnung aus (Arenal 2011: 24).

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Großbritannien und die USA (Vázquez Barrado 2012: 4). Die Aufteilung lässt die grundlegenden Eigenschaften der kulturellen Außenpolitik in dieser Phase erkennen: Unilateralismus und Propaganda sowie die Betonung von katholischen Werten und Missionierung. Mit dem Niedergang der Achsenmächte verschoben sich auch die Prioritäten Spaniens, das versuchte, sich wieder den USA und den anderen Siegermächten anzunähern. Während der ersten Nachkriegsjahre durchlief Spanien allerdings eine Etappe der internationalen Isolation. Einen Einfluss darauf hatte auch die Weigerung Mexikos, das viele spanische Exilanten aufgenommen hatte, Spanien in den Vereinen Nationen zu akzeptieren. Erst die Koreakrise brachte das Land wieder näher an den Westen, vor allem an die USA. Grund dafür war die strikt antikommunistische Haltung Francos und die strategisch wichtige Lage Spaniens am Eingang des mediterranen Raums (Piñeiro Álvarez 2006: 175). Der Eintritt in die Vereinten Nationen im Jahr 1955, dem wichtige Überzeugungsarbeit der USA sowie arabischer und lateinamerikanischer Länder vorausgegangen war, bedeutete schließlich das weitgehende Ende der internationalen ­Isolation (Rodríguez Gómez 2014: 197). Bis zur Transición wurden zahlreiche Kulturabkommen unterzeichnet sowie, vor allem im lateinamerikanischen Raum, spanische Kulturinstitute gegründet, die sich bei Francos Tod im Jahr 1975 bereits auf 42 summierten (Martín Zamorano/Rius Ulldemolins 2016: 126). Besonders wichtig war zudem die Schaffung der in der Folge dem Arbeitsministerium unterstellten Casas de España, die sich vor allem auf die spanische Diaspora konzentrierten. Ein klarer Fokus der AKP Spaniens lag somit nicht etwa auf dem internationalen Publikum dieser Zeit, sondern auf den vermehrt ins Ausland emigrierenden Spaniern, die zum Arbeiten z. B. nach Deutschland gingen und ihre Familien mitnahmen. Bis auf die genannten Aktivitäten verringerte sich ab Ende der 1950er Jahre das spanische Engagement in der AKP allerdings wieder. Dies war Ausdruck einer Entideologisierung der spanischen Außenpolitik und einer vermehrten Konzentration auf ökonomische Belange, wodurch kulturelle Faktoren in den Hintergrund rückten (Arenal 2011: 55). Dadurch wurde der instrumentelle Charakter offengelegt, den die AKP für den Franquismus einnahm. Das Regime verlor mit der weitgehenden Überwindung der diplomatischen Ächtung und dem Erreichen der weitgehenden internationalen Anerkennung auch das Interesse an einer außenkulturellen Tätigkeit (Delgado Gómez-Escalonilla 2012: 17).

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Manuel Fraga, der 1951 für kurze Zeit Generalsekretär des ICH gewesen war, verfolgte den Plan, die Wirtschaftsentwicklung des Landes durch eine gezielte Aufwertung des Tourismussektors und eine massive Werbung für den Urlaubsstandort Spanien zu fördern. Hierfür nutzte er den eingängigen Slogan Spain is different, der auf die vermeintliche Andersartigkeit des Landes bzw. auf die ihm gegenüber bestehenden Vorurteile anspielte. Die als eine der weltweit ersten Nation-Branding-Aktionen zu sehende Kampagne war ein durchschlagender Erfolg und legte die Grundlage für den bis in die Gegenwart anhaltenden Boom des spanischen TourismusSektors (Vizcaino Ponferrada 2015: 81). 3.3. Die Transición und der „Neustart“ der AKP Spaniens

Mit dem Tod Francos am 20. November 1975 ging eine Periode zu Ende, die auf dem Gebiet der AKP von einem äußerst schwachen Profil Spaniens zu Gunsten der vor allem ökonomischen Dimension der Außenpolitik gekennzeichnet war. Nicht nur in diesem Politikfeld stellte der Tod Francos den Beginn einer neuen Etappe dar. Mit dem Übergang zur Demokratie avancierte Europa zum unangefochtenen geographischen und strategischen Schwerpunkt der spanischen Außenpolitik. Wie bereits José Ortega y Gasset 1910 in Bilbao gesagt hatte, war Spanien für viele spanische Politiker das Problem, während Europa in ihren Augen die Lösung war. Europa bedeutete für die große Mehrheit der Bevölkerung Modernisierung (Fazio Vengoa 2000: 46). 1977 trat das Land in den Europarat ein und das ICH wurde in Centro Iberoamericano de Cooperación umbenannt, womit auch das Konzept der internationalen Zusammenarbeit zum ersten Mal einen höheren Stellenwert erlangte und ein Schritt weg von der unilateralen Auffassung von AKP erfolgte. Zwei Jahre später wurde sein Name wiederum in Instituto de Cooperación Iberoamericana geändert (Fernández Leost 2012: 6). Diese Namensänderungen sind im Zeichen einer Neuorientierung weg von der Hispanidad hin zu einer kulturellen Entwicklungsstrategie zu sehen, die vermehrt auf Austausch setzte. Außerdem sollte hiermit die ausschließliche Konzentration der Arbeit des Instituts auf den iberoamerikanischen Raum betont werden. Durch die vergleichsweise frühe Verbindung der Elemente Kultur und Entwicklung kann Spanien auf diesem Gebiet eine Pionierstellung bescheinigt werden.

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Die Entwicklung des Politikfeldes verlief jedoch anfangs weitgehend planlos. Dies mag daran gelegen haben, dass das Land zunächst sehr auf sich selbst bezogen war und die bis dahin nicht gekannte kulturelle Freiheit dafür sorgte, dass die Kultur zunächst in den eigenen Grenzen florierte. Nach dem Wahlsieg des Partido Socialista Obrero Español (PSOE) vergrößerte sich der Kulturhaushalt des spanischen Staates zwischen 1983 und 1986 deutlich um 68 % (Marzo/Badia 2006: 9). Wie de la Riva (2012: 123  ff.) jedoch anführt, benötigte Spanien in seiner Außendarstellung zunächst nicht viel mehr als König Juan Carlos I. als weltweiten Botschafter Spaniens sowie das Beispiel der Transición als vorbildhaften demokratischen Konsolidierungsprozess, um eine sprunghafte Verbesserung seiner Wahrnehmung in der Welt zu erreichen. Der Autor bezeichnet diesen Prozess als erste Etappe des Nation-Image des (modernen) Spaniens. So ist festzuhalten, dass Spanien in den 1980er Jahren und zu Beginn der 1990er Jahre eine „beispielgebende Führung“ (Arenal 2011: 152) im Sinne der Soft-Power-Dimension gegenüber Lateinamerika besaß, das sich in jener Zeit politisch in einem allgemeinen Umbruch befand. Die Länder Lateinamerikas orientierten sich nicht selten am Beispiel des erfolgreichen Übergangs Spaniens von der Diktatur zur Demokratie. 1985 wurde die Secretaría de Estado para la Cooperación Internacional y para Iberoamérica (SECIPI) geschaffen und im Außenministerium angesiedelt. Die SECIPI konzentrierte sich vor allem auf den lateinamerikanischen Raum und unter seine Zuständigkeit fiel entsprechend auch das Instituto de Cooperación Iberoamericana. Außerdem wurden der SECIPI u. a. alle auswärtigen Kulturinstitute unterstellt (Boletín Oficial del Estado 1985). Bis in die Gegenwart hat sie als Koordinations-, Planungs- und Leitungsinstanz eine fundamentale Rolle in der spanischen AKP. Die erste weit rezipierte Aktivität, die nach der Transición im Rahmen der AKP entfaltet wurde, war das Programa Español de Acción Cultural en el Exterior (PEACE), das 1983 ins Leben gerufen wurde und sich vor ­allem der Verbreitung junger spanischer Kunst außerhalb Spaniens ­widmen ­sollte. Zwischen 1983 und 1989 veranstaltete das PEACE rund 30 Ausstellungen im Ausland (Beirak 2008: 4). Daneben organisierte das Kulturministerium Festivals zur Verbreitung des spanischen Films, z.  B. das Spanish Festival in London und das Festival de Cine Español in New York (Herrera de la Muela 2008: 39). Als Zeichen für die Öffnung Spaniens und die Abkehr vom Franquismus gilt zudem die Rückführung des Bildes Guernica von Pablo Picasso als „entscheidender Meilenstein in der

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öffentlichen Aneignung eines kulturellen Universums, das von der franquistischen Diktatur ruhig gestellt oder manipuliert wurde“ (Ait Moreno 2010: 26). Es galt als „das Symbol der Aussöhnung des Landes mit sich selbst“ (Tusell/García Queipo de Llano 1993: 239). Das Gemälde hatte sich zwischen 1939 und 1981 im Museum of Modern Art in New York befunden. Ab 1981 wurde es zunächst in einem Nebengebäude des Prado ausgestellt, seit 1992 bis in die Gegenwart ist es im Museo Nacional de Arte Reina Sofía zu sehen. Generell ist jedoch zu konstatieren, dass die AKP in den ersten Jahren nach der Transición eine eher untergeordnete Rolle spielte. Der Fokus lag auf anderen außenpolitischen Feldern, wie dem Beitrittsprozess zur Europäischen Gemeinschaft (EG), der 1986 abgeschlossen wurde. Für die systematische Entwicklung einer modernen AKP war somit noch kein „Themenkorridor“ innerhalb der politischen Konjunktur gegeben, in der zunächst die innenpolitische, wirtschaftliche und außenpolitische Konsolidierung Spaniens Vorrang hatten. Zudem wachte Spanien aus einer ausgeprägten internationalen Isolation auf, die auch im Denken der Gesellschaft tief verwurzelt war, sodass ein gewisses Desinteresse gegenüber den Geschehnissen im Ausland herrschte (Delgado Gómez-Escalonilla/Martín de la Guardia/Pardo Sanz 2016: 12). Dennoch entwickelte sich abseits politischer Steuerung ein reges Kulturleben, das nicht zuletzt durch die Madrider Movida, eine aus dem künstlerischen Underground kommende Bewegung um den Regisseur Pedro Almodóvar und weitere zahlreiche Künstler wie die Gruppe „Alaska“ seit Ende der 1970er Jahre repräsentiert wurde und auf dem kulturellen Gebiet auch interessierten Zirkeln außerhalb des Landes ein Bild des „neuen“ Spaniens vermittelte (Carmona 2009: 147 ff.). 1988 ging aus dem oben erwähnten Instituto de Cooperación Iberoamericana und dem Instituto Hispano-Árabe de Cultura die Agencia Española de Cooperación Internacional (AECI) im Außenministerium hervor. Mit der Gründung der AECI wurden ein entscheidender Anstoß für die Ausweitung der AKP in Richtung nicht-spanischsprachiger Länder gelegt und der finanzielle Spielraum des Politikfeldes entscheidend ausgeweitet. Die AECI war in der Folge zudem dafür verantwortlich, die durch den Franquismus belasteten Beziehungen mit den Ländern Lateinamerikas durch Kooperationsverträge zu verbessern und die dort nach wie vor vorhandenen Kulturinstitute Spaniens zu verwalten. Fortan wurde die Tätigkeit auch auf den asiatischen und afrikanischen Kontinent, vor allem

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­ ordafrika und Äquatorialguinea, ausgeweitet (Delgado Gómez-EscaloN nilla 2014: 35). Ende der 1980er Jahre wurde die Gründung des Instituto Cervantes (IC) ins Auge gefasst (Herrera de la Muela 2006: 865). Die Schaffung des IC war eine Art „alter Traum“ des spanischen Kulturbetriebs. Dieser wollte international angesehenen auswärtigen Kulturinstituten wie dem deutschen Goethe-Institut oder dem British Council nacheifern. Dem IC sollte in erster Linie die Aufgabe zukommen, als Schlüsselinstitution der weltweiten spanischsprachigen Kultur zu fungieren und sich somit nicht auf den iberischen Kulturkreis zu beschränken (Vázquez Barrado 2012: 8). Das bestimmende Thema der ausgehenden 1980er Jahre war jedoch die Vorbereitung auf das Jahr 1992, das nach dem Willen der spanischen Politik als das Año de España en el mundo (Borja/Mascareñas 1992: 89) in die Geschichte eingehen und den vorläufigen Höhepunkt der Entwicklung des Landes in der Außendarstellung markieren sollte. So sollte in diesem Jahr nicht nur der 500. Jahrestag der (Wieder-)Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus begangen werden, der seine Entdeckungsreise im Auftrag der kastilischen Krone gemacht hatte, Barcelona war zusätzlich als Ausrichterin der Olympischen Sommerspiele 1992 vorgesehen. Zudem sollte Sevilla Ausrichter der im gleichen Jahr stattfindenden Weltausstellung und Madrid Europäische Kulturhauptstadt 1992 werden. 3.4. Die „erste Generation“ der neueren spanischen AKP

Erst mit der Gründung des Instituto Cervantes im Jahr 1991 begann für viele Experten eine systematische Reflexion über die Zukunft der spanischen AKP, welche Mittel sie anzuwenden und welche Ziele sie zu verfolgen habe. Die Aufgaben des Instituts wurden in der Lehre und Verbreitung der spanischen Sprache sowie in der Kulturvermittlung festgelegt. In diesem Zusammenhang kam dem Institut die besondere Aufgabe zu, nicht nur das Land Spanien kulturell und sprachlich im nicht-spanischsprachigen Ausland zu repräsentieren, sondern auch für die gesamte spanischsprachige Welt zu sprechen. Die Schaffung eines Kulturinstituts für die Verbreitung der spanischen Sprache kann mit Rückblick auf die in vorangegangenen Jahrzehnten praktizierte AKP als erste nennenswerte Initiative Spaniens gesehen werden, das enorme Potential der Sprache zu nutzen. Lediglich die Real Academia Española de la Lengua (RAE) war zuvor auf

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diesem Gebiet aktiv gewesen, konzentrierte sich aber vor allem auf die Pflege der spanischen Sprache im Inland. Borja und Mascareñas urteilen (1992: 89) zur Bedeutung des Jahres 1992 in der spanischen Außenwahrnehmung mit leicht übertriebener Euphorie: „Im ganzen 20. Jahrhundert hat es keinen vergleichbaren Moment bezüglich des internationalen Glanzes des Bildes Spaniens gegeben“. Beide Autoren vertraten die Ansicht, dass nun endlich das Bild eines modernen und leistungsfähigen Landes vermittelt wurde. Eine solche Wahrnehmung der spanischen Feierlichkeiten zum Jahr 1992 wird jedoch nicht allgemein geteilt. So gab es äußerst kritische Stimmen, insbesondere aus dem Ausland, die die Lobeshymnen oftmals übertönten. Bereits 1991 wurde der erste Iberoamerika-Gipfel in Guadalajara (Mexiko) begangen, der sich zu einem wichtigen Pfeiler der spanischen Außenpolitik entwickelt hat. Bemerkenswert ist, dass Spanien nach wie vor das einzige Mitglied der EU ist, das gegenüber den Ländern Lateinamerikas eine institutionalisierte Politik besitzt. Del Arenal vertritt sogar die Auffassung, dass es das einzige europäische Land sei, das überhaupt eine wirklich kohärente Regionalpolitik gegenüber der Region verfolgt (Arenal 2011: 3). Eine zunehmende Bedeutung für die spanischen Interessen hat der lateinamerikanische Raum seit den 1990er Jahren zudem aufgrund der massiven Investitionen spanischer Unternehmen auf dem Kontinent gewonnen. Spanien verfolgte mit seiner neuen iberoamerikanischen Politik, anders als zu früheren Zeiten, allerdings keine hegemonialen Absichten. Die Gipfel fanden von Beginn an auf Augenhöhe statt. Sie sollten auf der kulturellen, linguistischen und sozialen Affinität zwischen den Ländern der Iberischen Halbinsel und jenen Lateinamerikas sowie den gemeinsamen politischen und ökonomischen Chancen beruhen. Der Iberoamerika-Gipfel war somit die Manifestation der außerordentlichen Bedeutung dieser Beziehung, die institutionell bis in die Gegenwart von der multilateralen Instanz der Secretaría General Iberoamericana (SEGIB) verkörpert wird (Arenal 2011: 8 ff.). Ein weiteres wichtiges Instrument war und ist der Congreso Internacional de la Lengua Española, der vom 07. bis zum 11. April 1997 erstmals in der mexikanischen Stadt Zacatecas stattfand. Dort diskutierten u. a. Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Kulturpolitiker über die zukünftigen Perspektiven der spanischen Sprache und mögliche Strategien zu ihrer noch stärkeren Verbreitung sowie über sprachwissenschaftliche

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Fragen. Diese erste Zusammenkunft des Congreso wurde vom IC und dem mexikanischen Außenministerium organisiert (Rico in El País vom 07. April 1997). Besonders die AECI hatte sich im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Organ der AKP entwickelt und sich mit seinen Kulturzentren, die ab 1998 geschaffen bzw. der AECI übertragen wurden, den von ihr abgestellten Kulturdezernenten in den Botschaften, der Stipendien- und Lektoratsvergabe und den verschiedenen Programmen wie Arte español en el exterior eine feste Stellung hierzu erarbeitet (Noya 2003: 1). Vereinzelt wurde sie als „zentrale Achse der auswärtigen Kulturarbeit“ der ausgehenden 1990er Jahre angesehen (Badillo/Lamo de Espinosa 2016: 250). Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass sich das IC trotz großer Startschwierigkeiten ab Mitte der 1990er Jahre zum „Flaggschiff“ der spanischen AKP entwickelte und seine Führungsposition weitgehend als anerkannt galt. Dennoch hat die AECI in den 1990er Jahren zweifelsohne eine deutliche Aufwertung erfahren. 3.5. Neustrukturierungen der spanischen AKP Anfang der 2000er Jahre

In der zweiten Amtszeit der Regierung des Partido Popular (PP) unter José María Aznar (2000-2004) erfolgte zum ersten Mal seit der Transición ein Bruch mit dem bis dahin geltenden außenpolitischen Konsens auf europäischer Ebene. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kam es zu einem Bündnis mit den USA unter Präsident George W. Bush und zu einer Teilnahme an der „Koalition der Willigen“, die Krieg gegen den Irak führte. Zum ersten Mal verfolgte Spanien gegenüber den USA eine von der EU unabhängige politische Linie. Dazu merkt Heimerich (2004: 5) an: „Das Europa-‚Projekt‘ der Volkspartei kann als zentristisch, konservativ, nationalistisch, utilitaristisch und in erster Linie auf ökonomische Vorteile ausgerichtet definiert werden“. Im Rahmen der AKP, wie in der gesamten Außenpolitik, erfolgte im Jahr 2000 eine weitreichende Neustrukturierung, die mit der Gründung einer ganzen Reihe von neuen Institutionen verbunden war. Diese erweiterten das bislang vor allem aus dem IC und der AECI bestehende Akteursfeld, was auch mit dem Entstehen weiterer Tätigkeitsfelder der AKP verbunden war. Hierzu gehörte u.  a. die Fundación Carolina (FC). Sie sollte sich der kulturellen und wissenschaftlichen Kooperation und den

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Beziehungen, speziell zum lateinamerikanischen Raum, doch auch zu anderen Ländern mit historisch gewachsenen, geographisch oder kulturell bedingten intensiven Kontakten mit Spanien widmen (Delgado GómezEscalonilla 2012: 21). Zu einer weiteren wichtigen Einrichtung wurde der Servicio Español para la Internacionalización de la Educación (SEPIE), der 2013 aus verschiedenen Vorgängerinstitutionen hervorgegangen war. Der SEPIE ist bis in die Gegenwart für die Betreuung der spanischen Beteiligung am Erasmus-Programm zuständig. Gerade in diesem von der EG Mitte der 1980er Jahre geschaffenen Programm für den Bildungsaustausch konnte das Land eine große Erfolgsgeschichte schreiben. So ist Spanien seit 2001 das Land mit den meisten ausländischen Erasmus-Studierenden (Luna García/Viudes 2017: 58). Unter Aznar waren grundlegende Rezentralisierungsbestrebungen zu beobachten. Diese können, im Kontext des Hispanismo, als Rückgriff auf die glorreichen Zeiten der spanischen Geschichte sowie auf die Betonung der Relevanz der gemeinsamen Sprache für die Stellung der spanischen Nation in der Welt gesehen werden (Marzo 2005: 70  ff.). Die Autonomen Gemeinschaften Spaniens erhoben ebenfalls, trotz oder gerade wegen der Rezentralisierungsbestrebungen Aznars, zunehmend den Anspruch auf eine eigene außenkulturelle Präsenz. Den Anfang machte Katalonien, das ab 2002 mit dem Institut Ramon Llull (IRL) ebenfalls über ein eigenes Kulturinstitut zur Vermittlung der katalanischen Sprache und Kultur im Ausland verfügt. Neben der in allen Akteuren ab 2000 zum Ausdruck kommenden kulturellen Einbahnstraße wurden nach Vorbild der Casa de América, die seit dem Jahr 1992 im Madrider Palacio Linares ihren Sitz hat und sich mit politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Themen des Kontinents befasst, in den 2000er Jahren jedoch auch Zentren gegründet, die den Anspruch haben, sich mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen. Dies waren die Casa Asia (2001), die Casa Árabe (2006) und die Casa África (2006). Später folgten der Centro Sefarad Israel (2010) und die Casa Mediterráneo (2013) (Delgado Gómez-Escalonilla 2012: 22). Die Auswahl der Regionen bzw. Kontinente, auf die sich die jeweiligen Einrichtungen konzentrieren, verdeutlicht, dass sich Spanien nun gegenüber neuen außenpolitischen Schwerpunktregionen öffnen wollte. Mit dem Regierungswechsel im Jahr 2004 vom PP zum PSOE wurde das spanische Außenministerium erneut umstrukturiert (Boletín Oficial del Estado 2004). Auf dem Gebiet der AKP unternahm man den Versuch, sich von der sehr auf Kulturexport und Sprachförderung f­okussierten

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­ usrichtung abzusetzen und vermehrt auf den kulturellen Austausch und A die kulturelle Entwicklungszusammenarbeit zu setzen, was nicht zuletzt in der Gründung der oben erwähnten Casas seinen Ausdruck fand. Dieses Vorhaben manifestierte sich zudem 2007 mit der Umbenennung des spanischen Außenministeriums und der ihm zugehörigen AECI (nun: AECID), indem ihnen der Zusatz y desarrollo hinzugefügt wurde. In spanischsprechenden Ländern sind die Kulturinstitute der AECID, die im Gegensatz zum IC keine Spracharbeit, sondern lediglich kulturelle Programmarbeit leisten, die wichtigste spanische Kulturvertretung. Generell spielten der Kontakt und die Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaft der Zielländer eine größere Rolle. Gleichzeitig wurden die Autonomen Gemeinschaften deutlich intensiver in die Arbeit eingebunden (Carbonell Martínez 2012: 50). 3.6. Die AKP Spaniens von Beginn der 2010er Jahre bis in die Gegenwart

Zu Beginn der 2010er Jahre befand sich Spanien mitten in einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, der Zwang zur Haushaltskonsolidierung schwebte wie ein Damoklesschwert über der AKP. In diesem Zusammenhang kam es zunächst zur Gründung der Acción Cultural Española (AC/E), die aus einer Fusion aus vorherigen Einzelakteuren der AKP hervorging und Kosten einsparen sollte (Fernández-Santos in El País vom 10. März 2011). Die Regierungsübernahme durch den PP im Jahr 2011 bedeutete keine grundlegende außenpolitische Neuausrichtung. Im Rahmen der AKP wurde jedoch ein Element hinzugefügt, das zuvor kaum über eine Planungsphase hinausgekommen war: die Marca España, die sich am Nation Branding-Konzept orientierte (Martín Zamorano/Rius Ulldemolins 2016: 399). Die Forcierung der Marca España war eine Reaktion darauf, dass mit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkt über ein negatives Bild des Landes im Ausland diskutiert wurde (Michavila 2012: 57). Die nun verfolgte Branding-Strategie war mit der Schaffung einer eigens dafür zuständigen Instanz, dem Alto Comisionado para la Marca España (ACME), verbunden. Es ist festzustellen, dass die finanziellen Mittel für die AKP seit 2012 dramatisch zurückgingen, sodass einige Institutionen in der Folge mit um bis zu 50 % gekürzten Zuschüssen auskommen mussten. Gleiches galt

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für den gesamten inländischen Kulturbereich. Die Kürzungen, die für das IC von 2011 auf 2012 rund 37 % der öffentlichen Zuwendungen ausmachten, nahmen derart drastische Formen an, dass der Schriftsteller und ehemalige Leiter des IC in New York, Antonio Muñoz Molina, den vollkommenen Prestigeverlust der seit 1990 aufgebauten auswärtigen Kulturinstitutionen Spaniens befürchtete (Muñoz Molina in El País vom 09. November 2012). Andere mutmaßten, dass die Kultur abseits der prestigevollen Institutionen für die Politik in Zeiten der Krise zu einem verzichtbaren Bereich des öffentlichen Lebens geworden sei, was sich letztendlich auf die internationale Ausstrahlung Spaniens auswirken werde (Martinell Sempere 2014: 116). AKP spielte vor allem dann eine wichtige Rolle, wenn man sich davon langfristig wirtschaftliche Erfolge für spanische Unternehmen im Ausland versprach. Anfang 2018 wurde über eine Re-Konzeptualisierung des Projekts der Marca España diskutiert. 2019 sollte als das Jahr der spanischen Sprache begangen werden; die Feierlichkeiten sollten von der Marca España durchgeführt werden. Diese Initiative stieß insbesondere bei den Academias de la Lengua der übrigen spanischsprachigen Länder auf deutliche Kritik. Der Vorwurf stand im Raum, Spanien betrachte die spanische Sprache als sein Eigentum und missachte deren internationale Dimension (Ruiz Mantilla in El País vom 20. Februar 2018). Nach dem Regierungswechsel vom PP zum PSOE im Juni 2018 wurde zunächst die Sinnhaftigkeit der Fortführung des Projektes in Frage gestellt. Tatsächlich wurde die Marca España in España Global umbenannt. Damit sollte auch der notorischen Kritik an der Nation Brand Spaniens der Wind aus den Segeln genommen werden. So war die Marca España immer wieder zum Anlass genommen worden, um sie, anders als intendiert, mit negativen und vor allem innenpolitischen Entwicklungen in Verbindung zu setzen. Hierbei ging es u. a. um die massiven Korruptionsskandale, das Ausmaß nationaler Katastrophen auf das spanische Image, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung und andere Regionalismen. Zudem wurde die Verbindung zwischen kommerzieller Werbekampagne und der Herstellung von Glaubwürdigkeit als Widerspruch kritisiert (u. a. Millán Acevedo in El País vom 01. April 2014). Es bestehen Zweifel, ob die Bemühungen Spaniens um ein besseres Nation-Image durch diese Branding-Kampagne wirksam waren. In den verschiedenen Indizes zur Wahrnehmung von Ländern im Ausland liegt das Land nicht auf den vorderen Plätzen. Die allgegenwärtigen Diskontinuitäten der AKP Spaniens werden durch das

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Nation Branding-Projekt in jedem Falle verdeutlicht. Im Jahr 2021 kam es zu einer weiteren Neuausrichtung und Neustrukturierung: Das Projekt trägt nun den Titel El Español en el Mundo. 4. Herausforderungen und Perspektiven der spanischen AKP

Nun sollen Herausforderungen und Probleme angesprochen werden, mit denen sich die spanische AKP konfrontiert sieht, und mögliche Potentiale aufgezeigt werden, um so einen Blick in die Zukunft zu wagen. 4.1. Mangelnde Kontinuität und Kompetenzstreitigkeiten

Wie bereits aus den vorangegangenen Ausführungen hervorgeht, war das Politikfeld vielen konzeptuellen und strukturellen Umbrüchen unterworfen, die nicht zuletzt durch die häufigen Namens- und Kompetenzänderungen der einzelnen in der spanischen AKP tätigen Akteure verdeutlicht werden. Betrachtet man sie seit 1990, liegt dies vor allem an den teilweise konträren Visionen der sich abwechselnden Regierungsparteien PP und PSOE. Dies betrifft bspw. das Bildungs- und Kulturressort, das unter PSOE-Regierungen von zwei Ministerien und unter PP-Regierungen von einem Ministerium betrieben wurde. Außerdem kam es zu wiederkehrenden Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bildungs- und Kulturministerium sowie dem Außenministerium. Dieser Machtkampf kann als ein die spanische AKP charakterisierender und destabilisierender Faktor gesehen werden, der darüber hinaus zu komplizierten Entscheidungs- und Ernennungsprozessen führte, in denen die Ministerien um Erweiterung und/oder um den Erhalt ihrer Kompetenzen stritten. Dieser Machtkampf wurde auch von der Presse rege begleitet. Gleichzeitig führte der Konflikt zu Unübersichtlichkeit und Diskontinuitäten hinsichtlich der einzelnen Zuständigkeiten (Badillo 2014: 17). Dies betrifft nicht nur die ministerielle Ebene, sondern auch die Akteursebene. In der Vergangenheit hat es beispielsweise mehrmals Diskussionen darüber gegeben, ob die Kulturzentren der AECID dem IC übertragen werden sollten, um die iberoamerikanische Dimension des IC zu stärken (Agencia EFE vom 13. Juni 2018).

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Es gab aber auch Ansätze, um eine bessere Steuerung und Koordinierung, strategische Planung sowie Kommunikationsdichte im Politikfeld und zwischen den Akteuren zu erlangen, z.  B. den 2011 geschaffenen Consejo de Acción Cultural Exterior, der als Folge von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Außen-, Kultur- und Bildungsministerium installiert wurde und der alle relevanten Akteure der AKP Spaniens unter sich vereinen sollte. Wegen des kurz darauf erfolgten Regierungswechsels existierte der Consejo jedoch trotz großer Ankündigungen nur kurzzeitig. Ein zweiter erfolgloser Anlauf mit ähnlichem Charakter wurde unter dem PP mit dem Consejo de Marca España unternommen (Martín Zamorano/ Rius Ulldemolins 2015: 5). Von Experten wird das Fehlen einer überparteilichen Staatspolitik beklagt, was durch die politische Einflussnahme bei der Ämtervergabe deutlich wird. Ein erster Schritt, um das skizzierte Problem zu lösen, liegt in der Schaffung einer ressortübergreifenden Strategie. In der spanischen AKP hat es – abgesehen von einem nicht veröffentlichten Entwurf von 1998 – bis 2010 gedauert, bis mit dem PACE eine Strategie mit intersektoralem Anspruch veröffentlicht wurde (Ministerio de Asuntos Exteriores y de Cooperación/Ministerio de Cultura 2010: 5). Neben den inhaltlichen Schwerpunktthemen wurden geographische Schwerpunktregionen festgelegt. Diese wurden mit Europa und Iberoamerika sowie den USA und der Mittelmeerregion beibehalten. Zudem wurde mehr Gewicht auf A ­ sien und das subsaharische Afrika gelegt; zu diesen Regionen sollte jeweils eine eigene Strategie ausgearbeitet werden (Plan Asia; Plan África). Dem Außenministerium wurde die Richtlinienkompetenz zur geographischen Ausrichtung übertragen, während das Kulturministerium über die inhaltliche Ausrichtung entscheiden sollte. Viele Ministerien und Ausführungsorganisationen veröffentlichen regelmäßig eigene Jahrespläne, sodass der Eindruck entsteht, es habe sich eine unübersichtliche Zahl von Strategie- und Jahresplänen angesammelt. Somit ist es hier zu einer „negativen Koordination“ gekommen. Sie wurde dadurch verstärkt, dass der PACE und die in ihm angedachten Maßnahmen aufgrund des Regierungswechsels im November 2011 keine Wirkung erzielen konnten.

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4.2. Autonomiediskussion

Die Forderung nach einer Verstärkung der Autonomie tätiger Akteure wurde von diesen selbst wie von Experten wiederholt erhoben. So ist beispielsweise das IC eine Einrichtung des Privatrechts, in seinem Regelwerk wird jedoch klar festgelegt, dass es sich an Vorgaben des Außenministeriums zu halten habe. Seine formal-rechtliche Autonomie ist damit als deutlich eingeschränkt einzuschätzen. Somit untersteht das IC direkt dem spanischen Staat und handelt in dessen Auftrag. Bei der Besetzung des Institutsdirektors können politische Interessen eine starke Rolle spielen. Das hat sich zuletzt im Juni 2018 gezeigt, als nach der Regierungsübernahme des PSOE der damalige Direktor Juan Manuel Bonet nach einer äußerst kurzen Amtsphase – er war seit Februar 2017 im Amt – ohne weitere Gründe durch Luis García Montero ersetzt wurde. Insgesamt hatte das IC mit Nicolás Sánchez-Albornoz (1991-1996), Santiago de Mora-Figueroa (1996-1999), Fernando Rodríguez Lafuente (1999-2001), Jon Juaristi (2001-2004), César Antonio Molina (2004-2007), Carmen Caffarel (2007-2012), Victor García de la Concha (2012-2017), Juan Manuel Bonet (2017-2018) und Luis García Montero (seit 2018) neun Direktoren, was die dadurch entstandene Diskontinuität verdeutlicht. Ähnliches zeigt sich bei weiteren in der AKP Spaniens tätigen Akteuren. Aufgrund des begrenzten Autonomiegrads kann für die AKP-Akteure bspw. in direktem Vergleich mit den „regierungsfernen Mittlerorganisationen“ in Deutschland die Bezeichnung „regierungsnahe Ausführungsorganisationen“ gewählt werden, da diese in der Regel zwar ebenso wie die deutschen Akteure mit der Ausführung von bestimmten Aufgaben beauftragt sind, doch im Gegensatz zu diesen ein unmittelbarer Teil der Staatsverwaltung sind (Pfeiffer 2020: 355). 4.3. Chronische Unterfinanzierung

Eine permanente Herausforderung, vor der diese „regierungsnahen Ausführungsorganisationen“ stehen, sind die knappen finanziellen Mittel. Seit den 1990er Jahren stiegen sie zunächst an, auch wenn sie – um einen Vergleichsmaßstab heranzuziehen – ein deutlich geringeres Finanzvolumen als die deutsche AKP ausmachten. Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise wurde jedoch deutlich gekürzt, wovon sich die in der AKP tätigen

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Akteure bisher kaum erholt haben. Das IC muss eine solche Phase seit dem Jahr 2010 durchlaufen. Um sich gegen diese finanziell durchaus dramatische Entwicklung zu wappnen, ist es dem IC jedoch gelungen, seine Eigenmittel aus den erteilten Sprachkursen deutlich zu steigern, sodass die Kürzungen zum Teil aufgefangen werden konnten. Exemplarisch für die Unterfinanzierung ist dennoch die für die AKP zuständige Abteilung der AECID, deren Haushalt von 118 Millionen Euro im Jahr 2007 auf 23 Millionen Euro im Jahr 2014 schrumpfte (Agencia Española de Cooperación Internacional y Desarrollo 2015: 10). Diese Entwicklung wurde bis in die Gegenwart kaum rückgängig gemacht. Mit Bezug auf die mangelnde Finanzierung der spanischen AKP hat bereits Binder im Jahr 2003 „eine Diskrepanz zwischen offiziellem Diskurs und kulturpolitischer Realität“ erkannt (Binder 2003: 9). Diese Einschätzung kann auch 20 Jahre später beibehalten werden. Abbildung 1: Die Entwicklung der AKP-Haushalte von Spanien und Deutschland von 1996 bis 2017

(Eigene Darstellung und Berechnung; Pfeiffer 2020: 156).

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4.4. Außenkulturpolitik in einem dezentralisierten Staat

Eine grundlegende Frage ist, inwiefern eine koordinierte AKP aller Kulturen und Sprachen des Staates hergestellt werden kann, da AKP eher dazu neigt, innere kulturelle Konflikte auszuklammern, die es in Spanien zweifellos gibt. In der spanischen AKP haben die stark divergierenden Sichtweisen der sich bis dato in der Regierung abwechselnden Parteien PP und PSOE bezüglich einer Dezentralisierung (PSOE) oder Zentralisierung (PP) des spanischen Staates zu keiner kontinuierlichen Politikentwicklung beigetragen. Es besteht keine Kulturhoheit der Autonomen Gemeinschaften, sie besitzen jedoch weitreichende Kompetenzen. So können sie u. a. eigene Museen, Bibliotheken, Archive usw. unterhalten und auch staatliche Einrichtungen in diesem Bereich verwalten. Hier haben verschiedene Urteile des Verfassungsgerichts den Weg zu einer Kompetenzerweiterung der Autonomen Gemeinschaften ermöglicht. Ein wichtiges Urteil hat das spanische Verfassungsgericht bezüglich der „internationalen Beziehungen“ gefällt, deren Pflege dem Staat vorbehalten ist. Von Seiten des Verfassungsrechts hat sich die Interpretation durchgesetzt, dass dies nicht bedeutet, die Autonomen Gemeinschaften könnten keine kulturellen Vertretungen im Ausland unterhalten. Aus diesem Grund kann z. B. Katalonien mit dem IRL ein eigenes auswärtiges katalanisches Kulturinstitut betreiben. Die Tätigkeiten der Autonomen Gemeinschaften können allerdings eingeschränkt werden, wenn dadurch in den Augen des Verfassungsgerichts die gesamtstaatlichen Interessen betroffen sind. Eine solche auf den Entscheidungen des Verfassungsgerichts basierende Kompetenzordnung kann somit, gerade aufgrund der wechselnden parteipolitischen Zusammensetzungen, als fragil bezeichnet werden. Die Dezentralisierung des spanischen Staates kam im Zuge der Transición u. a. durch die Forderung, der kulturellen Diversität Spaniens durch eine dementsprechende dezentrale staatliche Struktur zu begegnen, zustande. Im Rahmen des Anerkennungsprozesses der während des Franquismus im Bildungsbereich nicht zugelassenen Sprachen der historischen Nationalitäten wurde hier ein deutlicher Fortschritt erzielt. Im Zuge des weiteren Dezentralisierungsprozesses kam es allerdings nicht zu einer klaren und unmissverständlichen Aufteilung der Kompetenzen, sodass in diesem Bereich stets ein großes Konfliktpotential herrschte, das durch unterschiedliche Auffassungen der führenden Parteien PSOE und PP, zu

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denen in den vergangenen Jahren Ciudadanos, Podemos und Vox – die hier ebenfalls unterschiedliche Ansichten vertreten – hinzugekommen sind, verstärkt wurde. Im Rahmen der AKP wurde das durch Spannungen bezüglich auswärtiger Kulturinstitute von Autonomen Gemeinschaften sowie durch die Marca España deutlich. Diese wurde von vielen Forschern durch ihre auf ein homogenes Bild Spaniens abzielende Strategie kritisiert, da sie nicht die kulturelle Diversität Spaniens widerspiegelte. Wie bereits angesprochen, ist es für den Erfolg einer solchen Kampagne hilfreich, dass sie als möglichst staatsfern und glaubwürdig wahrgenommen wird. Die Strukturen des spanischen Nation Branding sind jedoch direkt im Außenministerium angesiedelt, was einer solchen Logik widerspricht. Bekannte Themen, wie die starken kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Landesteilen, müssen für das Übermitteln eines positiven Bildes Spaniens nicht hinderlich, sondern können gar hilfreich sein, um Interesse bei ausländischen Beobachtern zu wecken. Auch wirtschaftliche und soziopolitische Probleme können angesprochen werden, anders als dies bei bisherigen Außendarstellungen Spaniens geschehen ist. Martín Zamorano und Rius Ulldemolins kritisieren das Konzept der Marca España mit deutlichen Worten. Ihrer Meinung nach werde es dazu genutzt, die wirtschaftliche und soziopolitische Krise zu vertuschen, die das Land durchlaufe: „Marca España is also being used to cultivate a repressive form of discourse that will not counter difference and growing dissidence, which in turn are direct results of the country’s current economic and sociopolitical crisis“ (Martín Zamorano/Rius Ulldemolins 2015: 13). Sie ziehen ein sehr negatives Fazit: Es sei ein „elitist brand management at service of multinational corporations, the instrumentalization and simplification of culture in the creation of a national brand and, finally, the privatization of a public asset“ (Martín Zamorano/Rius Ulldemolins 2015: 15). 4.5. Potentiale

Zweifellos sind vor allem die spanischen Unternehmen an einem positiven Bild des Landes im Ausland interessiert. In der AKP besonders engagiert sind die Fundación Telefónica, Fundación BBVA und Fundación Banco Santander. Der Banco Santander betreibt mit der Fundación Universia sogar ein eigenes Bildungsnetzwerk mit über 1.000 spanisch- und portugiesischsprachigen Universitäten sowie Instituten im iberoamerikanischen Raum.

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Das Netzwerk hat sich zu einer wichtigen Austauschplattform für die Internationalisierung des spanischen Hochschulwesens entwickelt. ­Ebenso wichtig ist die vom Banco Santander betriebene Plattform Santander Universidades, die Stipendien an Wissenschaftler und Studierende im iberoamerikanischen Raum vergibt. Mit Universia und Santander Universidades wird somit ein wesentlicher Pfeiler des spanischen Wissenschafts- und Studierendenaustausches von privaten Unternehmen finanziert. Der spanische Staat könnte dieses privatwirtschaftliche, aber natürlich nicht ganz uneigennützige Engagement angesichts knapper Kassen noch intensiver für seine AKP nutzen. Weitere Potentiale finden sich in der internationalen Ausstrahlung der spanischen Sprache. Das Bewusstsein darüber, was eine von mehr als 500 Millionen Menschen gesprochene Sprache für die Soft Power des Landes ausmacht, bildet das Fundament der spanischen AKP, die sich aus nahezu jeder Studie, jeder Regierungserklärung und jedem Konzeptpapier herauslesen lässt. Das Institutsnetz des IC umfasst gegenwärtig 88 Institute, die, wie u. a. die Einrichtungen in München und Frankfurt zeigen, oft in sehr repräsentativen Gebäuden untergebracht sind und über ein attraktives Kulturprogramm verfügen; in den beiden dynamischen Regionen Asien und Afrika ist das Institutsnetz trotz starker Nachfrage jedoch unterrepräsentiert. In diesen Regionen hat die Auswärtige Sprach-, aber auch die Kulturarbeit Spaniens somit enormes Wachstumspotential. Das IC versucht bereits, seinen Operationsradius durch verschiedene kostengünstige Partnerschaften mit anderen Institutionen, die z. B. eigene Aulas Cervantes oder Centros Cervantes beherbergen, zu erweitern und eine verstärkte Betonung der iberoamerikanischen Dimension seiner Arbeit durch die enge Kooperation mit ausgewählten lateinamerikanischen Kulturinstituten zu erreichen. Auch auf europäischer Ebene wird die gemeinsame Nutzung von Kulturinstituten (z. B. mit dem Goethe-Institut in Stockholm) vorangetrieben. Eine ähnliche Zusammenarbeit ließe sich auch für den Auslandsrundfunk herstellen, der in Spanien anders als in Ländern wie Großbritannien (BBC), Deutschland (Deutsche Welle) oder auch Russland (Russia Today) seit der Gründung des Auslandssenders TVE Internacional unterentwickelt ist (Pfeiffer 2020: 444). So richtet sich das spanische Auslandsfernsehen ebenso wie der spanische Auslandsradiosender Radio Exterior ausschließlich an spanischsprachiges Publikum, das weltweit zwar zahlreich

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v­ orhanden ist, jedoch kaum auf die Angebote des Auslandsrundfunks Spaniens zurückgreift (Badillo 2014: 5). Auch die angesprochene erfolgreiche Präsenz Spaniens im ErasmusProgramm stellt einen Anknüpfungspunkt für weitere Bemühungen um die im europäischen Vergleich ebenfalls noch ausbaufähige Außenwissenschaftspolitik dar. Die regelmäßige Ankündigung eines iberoamerikanischen Erasmus-Programms zeigt, dass diesbezüglich durchaus Interesse vom spanischen Staat besteht. In der Vergangenheit scheiterte dieses Vorhaben jedoch, wie auch andere Reformprojekte, an mangelnden finanziellen Ressourcen und den sehr unterschiedlichen Auffassungen, welche Kulturpolitik Spanien nach außen verfolgen sollte. 5. Schlussbetrachtung

Ziel des Beitrages war es, die AKP Spaniens, die bisher im deutschsprachigen Raum kaum behandelt wurde, vorzustellen und dabei einen kritischen Blick auf vergangene Entwicklungen, gegenwärtige Probleme und zukünftige Perspektiven des Politikfeldes zu werfen. Zweifellos ist das außenkulturpolitische Potential des Landes groß. In erster Linie liegt das an der Bedeutung der spanischen Sprache. Spanien verfügt darüber hinaus über einen reichen Kulturschatz, der das Interesse eines weltweiten Publikums weckt und der das Land nicht nur zu einer touristischen und kulinarischen Destination erster Güte macht, sondern auch in den Bereichen Film, Musik und Literatur in der ersten Liga spielen lässt. Angesichts einer solch guten Ausgangslage sind die bisherigen Bemühungen, diesen Kultur- und Sprachschatz auch außenpolitisch zu nutzen, noch nicht ausgeschöpft worden. Gründe für diesen Umstand sind sowohl in einer anderen Prioritätensetzung als auch in strukturellen Problemen der spanischen Politik zu finden. Die Institutionen der spanischen AKP leiden seit jeher unter knappen Kassen. Eine mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattete AKP muss jedoch kein Verlustspiel sein, sondern birgt auch für die Staatskasse lukrative Einnahmemöglichkeiten. Die Diskontinuität der spanischen AKP ist durch politisch-ideologische Dynamiken und parteipolitische Konstellationen bedingt. Zudem wird der parteipolitische Einfluss durch die schwache Ausprägung der Autonomie der Akteure auf der Durchführungsebene verstärkt. Aus diesem Grund wurde in diesem Artikel für die in auswärtiger Kulturarbeit

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tätigen Akteure der Begriff der „regierungsnahen Ausführungsorganisationen“ verwendet. Die spanischen Ausführungsorganisationen können durch ihre organische Verbindung mit dem spanischen Staat und seiner Verwaltung, die in der Regel bei Regierungswechseln im großen Ausmaß ausgetauscht wird, nicht als regierungsfern eingeschätzt werden. Dies ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung zur Herstellung von Glaubwürdigkeit beim internationalen Publikum. Ein ausgeprägtes Reformpotential ist somit vorhanden. Literaturverzeichnis Agencia EFE (2018): „El Congreso aprueba que haya Instituto Cervantes en Washington y Shanghai“, in: ABC, 13. Juni 2018. (20-12-2021). Agencia Española de Cooperación Internacional y Desarrollo (2015): Cooperación y Promoción Cultural. Una mirada 2014. Madrid: AECID. Ait Moreno, Isaac (2010): Aportaciones a la historia del Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia 1979-1994. Madrid: Universidad Complutense de Madrid. Alba Manrique, Mariana C. (2014): Fundamentos epistológicos para el estudio de la marca país en el siglo xxi: de la marca de destino turístico al concepto de la nueva diplomacia pública. Madrid: Universidad Complutense de Madrid. Arenal, Celestino del (2011): Política exterior de España y relaciones con América Latina. Iberoamericanidad, Europeización y Atlantismo en la política exterior española. Madrid: Siglo XXI. Aronczyk, Melissa (2013): Branding the Nation. The Global Business of National Identity. New York: Oxford University Press. Badillo, Ángel (2014): Las políticas públicas de acción cultural exterior de España, in: Estrategia Exterior Española 19/2014, Madrid: Real Instituto Elcano. Badillo, Ángel/Lamo de Espinosa, Emilio (2016): „El Instituto Cervantes y la diplomacia pública cultural en España. Una reflexión sobre el modelo“, in: Instituto Cervantes (Hg.): El español en el mundo: anuario del Instituto Cervantes. Madrid: Instituto Cervantes, 237-266. Beirak, Jasmin (2008): „Arte contemporáneo español en el exterior. Políticas públicas (1989-2008)“. (20-12-2021). Binder, Helga-Ramona (2003): Die französische und spanische auswärtige Kulturpolitik am Beispiel der Instituts Français und der Institutos Cervantes. Eine Gegenüberstellung. Freiburg im Breisgau: Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg. Boletín Oficial del Estado (1985): „Real Decreto 1485/1985, del 28 de agosto, por el que se determina la estructura orgánica básica del Ministerio de Asuntos Exteriores y

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Die Außenkulturpolitik Spaniens

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Alle versammeln sich um das Lagerfeuer. Kultur, Terrorismus und die narrative Erinnerung nach dem Ende von ETA Paul Ingendaay Abstract Der Beitrag widmet sich unter literarischen, kultursoziologischen und gedenkpolitischen Vorzeichen dem Thema des Terrorismus, der in Spanien besonders durch die Terrorgruppe ETA rund ein halbes Jahrhundert lang aktiv war. Besondere Aufmerksamkeit gilt Fernando Aramburus Bestseller Patria (2016), der die spanische Debatte um Nationalismus, Zentralstaat und regionale Eigenständigkeit gleichsam neu strukturiert hat und so zu einem Gleichnis für einen tiefen gesellschaftlichen Konflikt werden konnte. Bei der öffentlichen Debatte um die Verfilmung des Romans durch HBO (2020) zeigten sich dieselben Konfliktlinien in verschärfter Form. Aramburus reflektierte öffentliche Stellungnahmen zu seinem Roman trugen allerdings zur Deeskalation bei. Sie stehen im Einklang mit moderner spanischer Gedenkpolitik, wie sie sich in dem 2021 eingeweihten „Gedenkzentrum für die Opfer des Terrorismus“ (Centro Memorial de las Víctimas del Terrorismo) in der baskischen Hauptstadt Vitoria ausdrückt.

1. Am Nachleben des Spanischen Bürgerkriegs im Bewusstsein der spanischen Gesellschaft lässt sich die Komplexität von Erinnerungs- und Gedenkprozessen ablesen. Nicht nur, weil heute, mehr als achtzig Jahre nach dem Ende des Krieges und fast ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Franco-Diktatur, viele der damaligen Emotionen und politischen Begriffe noch lebendig sind, wenn nicht als Dogma, so doch als mythologischer Rest und immer wieder entflammbares Ressentiment; sondern auch, weil der Bürgerkrieg eine unüberschaubare Fülle von Kunstwerken, Romanen und kulturellen Produkten hervorgebracht hat, von Picassos Guernica über die emblematischen Fotografien von Robert Capa bis hin zu neueren Romanen, die das kriegerische Setting der dreißiger Jahre nur noch als Folie für Unterhaltungsstoffe benutzen.

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Etwas Ähnliches ließe sich, modifiziert und mit anderen politischen Vorzeichen, von der Geschichte der baskischen Terrorgruppe ETA und ihrem Einfluss auf die spanische Gesellschaft sagen. Filme, Romane, Studien und Kunstwerke haben die rund fünfzigjährige Geschichte der Bande nicht nur begleitet, sondern auf jeweils verschiedene Weise beleuchtet und (Teilen) der Gesellschaft erklärbar gemacht. In seinem Vortrag „Der Holocaust als Kultur“, gehalten in Wien 1992, hat der ungarisch-jüdische Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Imre Kertész davon gesprochen, dass geschichtliche Katastrophen ihre „Heiligen“, ihre Symbole und Erinnerungspraktiken hervorbringen (Kertész 1999: 55). Mit Blick auf den Schriftsteller Jean Améry schreibt er: „Wollte er [Améry] aber wirklich, dass die Scham ihn überlebte, dann musste er die Scham genauso artikulieren und das Artikulierte in eine bleibende Form gießen, das heißt, er musste ein guter Schriftsteller werden.“ (Kertész 1999: 60) Die Würdigung eines Mannes, der sich zahlreiche, Zeugnis ablegende Bücher abrang, bevor er seinem Leben ein Ende setzte, führt bei Kertész zu der Frage, ob die Katastrophe auch einen „Wert“ schaffen und dadurch für die Allgemeinheit für immer zur „Kultur“ gehören könne. Die Antwort lautet: Ja, sie kann es. „Der Holocaust ist ein Wert“, schreibt Kertész, „weil er über unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt.“ (Kertész 1999: 68) Gesichertes Wissen führt in Kertész’ Augen also zu einer „moralischen Reserve“. Die Menschheit wird klüger, wenn sie sich von der Shoa, die Millionen Menschenleben forderte, wahrheitsgemäß berichten lässt und die Ereignisse studiert; sie wird nicht nur klüger, sondern auch besser. Um dorthin zu kommen, braucht es Aufklärung, und in Zeiten von Fake News und „alternativen Tatsachen“ bedeutet dies ein ebenso vertrauenswürdiges wie vermittelbares Narrativ. Salvando las distancias, lässt sich Kertész’ Gedanke auf jede Beschäftigung einer Gesellschaft mit Krieg oder Gewaltverbrechen beziehen, auch auf den Kontext der ETA-Gewalt. Denn die Kultur reflektiert den jeweiligen Stand der Dinge – sie spiegelt ihn, treibt ihn an oder bremst ihn, je nach Werk und gesellschaftlicher Breitenwirkung.1 So ist es nicht 1

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Eine der jüngsten Verarbeitungen des ETA-Terrors in der Fiktion ist Javier Marías’ Roman Tomás Nevinson (Madrid: Alfaguara 2021), der, ausgehend von realen Terroranschlägen, von spionageartiger Nachforschung über eine mögliche ETA-Attentäterin erzählt und dabei auch über die moralischen Implikationen terroristischer Aktivität nachdenkt, ganz im Sinne des für Marías typischen pensamiento literario.

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überraschend, in den ersten spanischen Filmen über den Terrorismus den ETA-apologetischen Ton des Spätfranquismus zu finden, einer Zeit, in der bestimmte Teile der Gesellschaft dem baskischen Separatismus seine regimekritische Haltung gutschrieben und bereit waren, in Attentaten eine Geste legitimer Opposition zu sehen. Frühe Filme, bald nach Francos Tod entstanden, drücken deshalb Verständnis für die Morde der Terroristen aus, etwa Comando Txikia: Muerte de un presidente von José Luis Madrid (1976) über das Attentat auf Luis Carrero Blanco oder Operación Ogro von Gillo Pontecorvo (1979). Später folgten Spielfilme, die sich teils lose, teils enger auf verifizierbare Fakten bezogen und zu wechselnden Anteilen Psychostudie, Sozialdrama und Kriminalhandlung mischten, etwa La muerte de Mikel von Imanol Uribe (1984), Ander y Yul (Ana Díez, 1989), Días de humo (Antonio Eceiza, 1989), Sombras en una batalla (Mario Camus, 1993), Días contados (abermals Imanol Uribe, 1994), Yoyes (Helena Taberna, 2000), Todos estamos invitados (Manuel Gutiérrez Aragón, 2008), Negociador (Borja Cobeaga, 2014), La línea invisible (ein Sechsteiler von Mariano Barroso, 2020) und Maixabel (Icíar Bollaín, 2021).2 Alle diese Filme wurden in der Öffentlichkeit nicht nur nach ihrer ästhetischen Qualität, sondern mehr oder minder auch nach ihrer politischen Aussage bewertet. Das gilt ebenso für berühmte Dokumentarfilme wie El proceso de Burgos von Imanol Uribe (1979) und Julio Médems umstrittenen Film La pelota vasca: La piel contra la piedra (2003). Wie bei Médem bildete auch für den katalanischen Regisseur Jaime Rosales das Internationale Filmfestival von San Sebastián als Uraufführungsort die Szenerie von Kritik oder Applaus: Im Jahr 2008 zeigte Rosales dort seinen Spielfilm Tiro en la cabeza und löste heftige Reaktionen aus, weil er die Planung eines ETA-Attentats – die Filmhandlung beruht auf dem authentischen Fall der Ermordung zweier Gendarmen in Frankreich – ganz ohne Dialoge, aus neutraler Distanz und buchstäblich aus großer Entfernung erzählte. Ebendiese Distanz wertete ein Teil der Filmkritik nicht als Objektivität, sondern als moralische Leere (Romero 2008). In dem Maße, in dem die reale Gefahr von ETA-Attentaten abnahm und der Einfluss der in Auflösung befindlichen Bande auf die spanische Politik in den Hintergrund trat, mutierte der Terrorismus zum reinen 2

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Eine anregende Liste von Filmen und Serien zum Thema findet sich auf der Kinoseite von 20 minutos. (08-01-2022).

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­ rzählstoff, ohne dass eine echte Gefahr bestanden hätte, damit RacheE aktionen heraufzubeschwören. So wurde der Thriller El Lobo (2004) von Miguel Courtois, mit Eduardo Noriega in der Hauptrolle, zum „ersten ETA-Entertainment des spanischen Kinos“ (Ingendaay 2004: 35). Erzählt wird die reale Geschichte des Undercover-Agenten Mikel Lejarza Eguía, der sich 1973 in ETA einschlich und im September 1975, wenige Wochen vor Francos Tod, für die Festnahme von Kommandoführern, Logistikern, Bombenexperten und Finanziers sorgte. Auf der Leinwand triumphiert allerdings das Unterhaltungshandwerk des Genrekinos über die dokumentarische Genauigkeit. Eine neue Stufe der Entspannung – und damit weiterer Fiktionalisierung – war erreicht, als ETA zum Stoff für Kinokomödien wurde. Dies geschah in der 2017 erschienenen Netflix-Produktion Fe de etarras von Borja Cobeaga. Der Titel – Deutsch wörtlich: „Glauben von ETA-Terroristen“ – ist eine witzige Verdrehung des Ausdrucks „fe de erratas“, der Korrekturmeldung in Zeitungen oder Büchern. Javier Cámara spielt einen Mann, der im Sommer des spanischen Weltmeistertitels 2010 noch die militante baskische Ideologie aufrechterhält, in Wahrheit aber längst vergessen wurde: Die Kommandostruktur existiert nicht mehr, die Nation hängt Fahnen über die Balkone und hat nur noch Fußball im Kopf. Am Ende sehen sich der alternde Terrorist, der komischerweise aus dem spanischen Herzland der Mancha stammt, und seine drei jüngeren Kollegen in ihrer konspirativen Wohnung vor der absurden Aufgabe, der alten Nachbarin eine neue Duschtasse einzubauen. Der Telefonanruf, mit dem das Ende des Terrorismus offenbar wird, bringt nur den berüchtigten, vielen Spaniern bekannten Satz aus dem Telefónica-Universum: „El teléfono al que llama no existe.“ Der Kritiker Jordi Costa las den Film in El País als gelungenes Beispiel für einen Humor, der sich auch an heikleren Themen versuchen dürfe (Costa 2017). 2. Manchmal gelingt es literarischen Bestsellern noch besser als dem Kino, die politischen oder gesellschaftlichen Konflikte ihrer Zeit auszudrücken. Im Fall von Michel Houellebecqs vielbeachtetem Roman Unterwerfung etwa, der seinerzeit als Prophezeiung über die gesellschaftspolitische Zukunft Frankreichs in Migrationsfragen gelesen wurde und heftige öffentliche Debatten auslöste sowie in direktem Zusammenhang mit dem islamistischen Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 15. Januar 2017 steht, half sicherlich auch der Kultstatus des Autors (Houellebecq 2015).

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Nichts dergleichen hätte sich für den baskischen Schriftsteller Fernando Aramburu, Jahrgang 1959, in Anspruch nehmen lassen können. Seit mehr als dreißig Jahren lebt der Autor fern der spanischen Debattenzirkel in Hannover, verheiratet mit einer Deutschen, und auch wenn er sich bei der Literaturkritik schon früh einen Namen verschafft hatte, war er weder zu Ruhm noch zu Bestsellerehren gelangt. Dann entschloss Aramburu sich zu einem mutigen Schritt. Er kündigte seine Stelle als Sprachlehrer, um für seinen neunten Roman – Patria – Platz in seinem Leben zu schaffen und mit voller Konzentration arbeiten zu können (Aramburu 2016).3 Dass es ein umfangreiches Buch werden würde, war dem Autor schon früh klar, denn er wollte die Geschichte zweier entzweiter baskischer Familien erzählen und dabei jeder seiner neun Romanfiguren eine eigene Perspektive einräumen. „Manche Schriftsteller packt plötzlich das Bedürfnis, literarisches Zeugnis von der Epoche zu hinterlassen, die sie durchlebt haben“, erzählte mir der Autor in einem ausführlichen Gespräch, dessen wichtigste Aussagen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen (Ingendaay 2018). „Sicherlich gibt es eine gewisse Konstante in meinem Werk. Sie besteht darin, Menschen aus dem Baskenland zu beschreiben. Und dann kommt der Schmerz. Schmerz darüber, dass manche meiner Landsleute andere umgebracht haben, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Seit ich jung bin, hat mich das empört, und ich wollte es nie akzeptieren.“ Als persönliches Schlüsselerlebnis nannte Aramburu die Ermordung des sozialistischen Politikers Enrique Casas im Februar 1984 in San Sebastián, und er erinnert sich noch deutlich an die Szene, als der Sarg des Ermordeten in die Casa del Pueblo getragen wurde. Es handelte sich um das erste Mordopfer, das er zumindest vom Sehen gekannt hatte. „Damals“, so der Autor, „sagte ich mir: ‚Eines Tages wirst du darüber schreiben.‘“ Von Anfang an ist das Thema des Terrorismus bei Aramburu mit dem eigenen Erleben, ja persönlicher Zeugenschaft und eigener Beteiligung an der Lokalgeschichte verbunden, die zugleich die Geschichte des Landes ist. 3

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Die deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Willi Zurbrüggen erschien 2018 unter dem Titel Patria im Rowohlt Verlag, Hamburg, und erntete überaus positive Rezensionen. Ebenso wie bei Tusquets enthält die deutsche Ausgabe ein Glossar baskischer Begriffe, die im Text als linguale Markierungen und ohne Worterklärung benutzt werden. Meine Überlegungen zu Aramburus Roman stützen sich unter anderem auf meine Rezension („War es das wert? Fernando Aramburu hat einen großen Roman über Täter und Opfer, über Schmerz, Schweigen und Versöhnung geschrieben“), die am 18. Januar 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien.

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Mit einer gewissen Vorahnung bat der Verlag Tusquets seinen Autor vor der Veröffentlichung des Romans im Herbst 2016, einen Essay über Konzeption und Entstehung des Werks zu schreiben.4 Besonderes Augenmerk legte der Autor auf das Verhältnis von Fakten und Fiktion, das bei einem so heiklen Thema die erwartbaren Fragen aufwerfen würde: Beruhen die Schilderungen im Roman auf realen Ereignissen, haben sie Modelle in der Realität, sind sie abgeschrieben, nachempfunden, rekonstruiert? Erheben sie Anspruch auf Wahrhaftigkeit? Detailliert erläutert Aramburu auch seine Strategie, bei strikter Einhaltung einer an Tatsachen gebundenen Chronologie konkrete Zeitangaben im Roman auf ein Minimum zu reduzieren. Der Roman sollte zwar im faktischen Sinn „korrekt“ sein und durfte keine Brüche oder historische Inkonsistenzen aufweisen; vor allem aber wollte er authentisch wirken. Aus diesem Grund wird der Schauplatz – eine Kleinstadt in der Nähe von San Sebastián – nicht beim Namen genannt. Patria erzählt die Geschichte zweier ehemals befreundeter Familien, beide beherrscht von starken Müttern. Da ist Bittori, die ihren Mann ­Txato durch ein ETA-Attentat verliert und darauf das Dorf verlässt – bis sie sehr viel später zurückkehrt, entschlossen, das einverstandene Schweigen zu stören. Und dann Miren, deren Mann Joxian der beste Freund des Ermordeten war – und deren gemeinsamer Sohn Joxe Mari möglicherweise der Mörder ist. Patria ist ein Roman über das Eigene und das Fremde, über „uns“ und „die anderen“, über Stallgeruch, blinde Loyalität und über das, was in den letzten Jahren viele europäische Gesellschaften wie im Taumel erfasst hat: Identität und das Identitäre. Was verbindet mehr, die Utopie eines unabhängigen Baskenlands oder geteilte moralische Werte? Dass Bittori und Miren zuvor als beste Freundinnen durch die Gegend gezogen waren, gibt der Geschichte etwas von politischer Allegorie. In mehr als hundert eng verzahnten Kapiteln eines dichten, weit ausgreifenden Romans umkreist Aramburu den Mord, enthüllt Schritt um Schritt dessen Vorgeschichte und Folgen und liefert zusammen mit der intimen Soziologie eines Ortes, der für viele andere steht, ein seelisches Protokoll der Beteiligten, wie es in dieser Genauigkeit zuvor noch nicht geschrieben worden war. Warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil frühere Bücher dazu neigten, sich auf eines der beiden Lager zu konzentrieren. Aramburu dagegen lässt auf fast 700 Seiten seine neun Figuren sprechen 4

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Der zwanzigseitige Essay trägt den Titel „PATRIA en el taller“ und wurde manchen Auflagen als separates Bändchen beigegeben.

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und gibt jeder ihre persönliche Geschichte, als stünde jede mit dem Leser im direkten Zwiegespräch. Keine Master-Erzählung, kein Blick von oben, sondern das rohe Denken jedes Einzelnen – intim, ehrlich, oft ratlos oder verzweifelt. Der Roman zeigt Gewalt als Virus, das alle ansteckt und alle deformiert. In diesem Panorama darf man die anonyme Mehrheit im Dorf getrost als eigenen Mitspieler betrachten, denn hier, wo nichts im Verborgenen geschieht, weiß natürlich auch jeder, wer über die politische Stimmung entscheidet. Einmal Patxi, der Kneipenwirt, unverhohlen ein ETA-Mann, der die Dorfjugend schon an der Tränke rekrutiert; aber auch Don Serapio, der ölige katholische Priester, der die nationalistische Causa mit frommen Sprüchen unterstützt. Txato, der erfolgreiche Fuhrunternehmer, gehörte noch bis gestern dazu. Wie andere Männer des Dorfes, auch sein alter Freund Joxian, hat er Karten gespielt, immer dieselbe Kneipe besucht und am Sonntag Touren mit dem Rennrad unternommen. Er hat auch die „Revolutionssteuer“ bezahlt, die ETA von den Vermögenden des Dorfes eintreibt. Als bald nach der ersten Zahlung aber eine neue Forderung eintrifft, beschließt Txato, sich zu verweigern, weil die Abgabe ihn finanziell überfordern würde. Möglicherweise hat sich jemand vertan, denkt er; vielleicht lässt sich ja mit den Leuten reden. Doch dazu kommt es nicht. Plötzlich stehen Denunziationen an den Hauswänden. Txato, „Spitzel“. Txato, „Unterdrücker des Volkes“. Und schon rücken die Nachbarn ab und verweigern den Gruß. Ein Terror der schweigenden Mehrheit wie in Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ setzt ein. Drohungen landen im Briefkasten, Unrat vor Txatos Haustür, das ganze Einmaleins der Einschüchterung, die ein halbes Jahrhundert lang zum Alltag im Baskenland gehörte. Der sture Txato weicht nicht zurück: Er überpinselt die Parolen und schickt allenfalls seine Tochter Nerea zum Studieren nach Zaragoza, damit die toxischen Wellen sie nicht erreichen. Fernando Aramburu ist am Leben normaler Menschen interessiert, nicht an der politischen Debatte um den „baskischen Konflikt“. Sein Roman verlässt kaum je die private Ebene und ist ebendeshalb umso politischer. Miren, die glühende Nationalistin, erwartet vom heiligen Ignatius von Loyola Beistand für den Kampf um Euskal Herria (das baskische Vaterland) und stellt die Motive ihres Sohnes für den bewaffneten Kampf nicht in Frage. Eines Tages jedenfalls taucht Joxe Mari nach Frankreich ab, zum klandestinen Training. Was ihn motiviert, bleibt vage – Langeweile,

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undefinierter Hass auf die spanische „Besatzungsmacht“ und ein bisschen Lust an prolliger Radikalisierung. Vermutlich war es für manche ETALeute wirklich so banal. Die Folter beim Verhör ist ein Thema, das immer noch propagandistisch ausgeschlachtet wird, aber zum Teil wohl mit gutem Grund. Aramburu stellt die Folter nach Joxe Maris Verhaftung als das Gängige dar. Das sollte alle Spanier nachdenklich machen: Auch in diesen Spiegel müssen sie blicken und sich fragen, warum niemand ausbrechen konnte aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Erst 2011 erklärte ETA das „definitive Ende des bewaffneten Kampfes“. Und das war es. Bis heute. Was aber war es genau? Warum mussten in einem halben Jahrhundert mehr als achthundert Menschen sterben? Für welches politische „Projekt“, um welcher Sache willen? Dieser Streit ist noch nicht beendet, und was die baskische Gesellschaft als Ganze erlitten hat, taucht in keiner Bilanz auf: Angst, Schweigen und Opportunismus, um nicht von direkter Verstrickung und Mittäterschaft zu sprechen. Aber auch betrogene Ideale, wie der siebzehn Jahre einsitzende Joxe Mari erkennt. Und das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen. Aramburus unerschrockene, aufs Private zielende Gegenüberstellung der Opferwelt und der Täterwelt, die beide ihren Raum erhalten, könnte erklären, warum Patria in Spanien zum Sensationserfolg wurde5 – auch im Baskenland – und bedeutende Literaturpreise erhielt, darunter den Premio de la Crítica (2016) und den Premio Nacional de Narrativa (2017). In Italien wurde der Roman 2018 mit dem Preis Giuseppe Tomasi di Lampedusa sowie dem Premio Strega (beide 2018) ausgezeichnet. Bis Anfang des Jahres 2022 waren allein von der spanischsprachigen Ausgabe mehr als 1,3 ­Millionen Exemplare verkauft.6 Aramburu ist als Schriftsteller zu differenziert, um eine harmonisierende Versöhnungsgeschichte zu liefern. Gerade bei Figuren, die dem Konflikt auf die eine oder andere Weise ausweichen, entwirft er persönlichen Entscheidungsspielraum. Wie bei Arantxa, Mirens Tochter, die nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt und die Annäherung an Bittori auf ihre eigene Weise betreibt. Wie beim konfliktscheuen Xabier, einem Arzt in San Sebastián, der seine Einsamkeit heimlich im Cognac ersäuft. Oder 5 6

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Auch die Literaturkritik äußerte sich überwiegend positiv, manchmal enthusiastisch. Siehe etwa Mainer 2016; in dieser Rezension wird die Leistung des Romans mit Galdos’ Episodios Nacionales und Tolstois Krieg und Frieden verglichen. Laut Auskunft des Verlags Tusquets in Barcelona.

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wie bei Gorka, Mirens Jüngstem, der in die baskische Sprache flieht und der als Buchautor und Radiomoderator am Ende vielleicht das einzige glaubhafte „Projekt“ überhaupt vorzuweisen hat – die Pflege der eigenen Kultur. In einer Szene von beeindruckender Beiläufigkeit versucht Gorka, seinem Vater zu erzählen, dass er in Bilbao mit einem Mann zusammenlebt. Doch das Coming-Out verpufft; Joxian plappert weiter vor sich hin, weil sein Ältester, der bei ETA gelandet ist, immer das wichtigere Thema darstellt. So geschieht es eben mit dem Privatleben: Es wird von der Politik, dem höheren Gut, aufgefressen. Bis am Ende alles nur noch im Namen der Politik geschieht, jede Lüge gutgeheißen, jedes Verbrechen verteidigt, jedes Opfer gerechtfertigt wird. Sie „schauen genau hin“, sagt die gläubige Miren, „bevor sie eine Bombe legen. Oder glaubst du, sie legen jedem xBeliebigen eine Bombe? […] Mit den Bomben kämpfen sie für die Rechte unseres Volkes, und sie werden gegen den Feind eingesetzt.“ (Patria: 104) Indem der Roman die möglichen Verhaltensweisen auffächert und mit großer psychologischer Einfühlung verschiedene Seiten in den Blick nimmt, erhebt Patria nicht nur Einspruch gegen die alles durchdringende Ideologie des Nationalismus, sondern gegen jede Einheitserzählung und jedes Meinungsmonopol. 3. Mit Fernando Aramburus Roman hat in der öffentlichen Bearbeitung der spanischen Terrorjahre ein neues Kapitel begonnen. Patria wirkt wie ein Lagerfeuer, das weithin leuchtet und Menschen anzieht, aus dem Dunkel der Sprachlosigkeit hervorzutreten und sich darum zu versammeln, mit welchen Motiven und Absichten auch immer. Nüchtern gesagt: Der Roman liefert den stets verworrenen, stets parteiischen, stets in verschiedene Richtungen strebenden ETA-Diskursen ein Zentrum, das schon allein deshalb sinnvoll ist, weil sich fortan alle anderen Romane, Kunstwerke, Diskurse und Meinungen im Verhältnis dazu situieren können. Zunächst hat sich die Öffentlichkeit dazu verhalten, und zwar vorwiegend durch frenetischen Bücherkauf und anhaltendes Interesse, das nach der ersten Buchsaison noch lange nicht erloschen war. Ebenfalls mag zur Wirkung des Romans beigetragen haben, dass Spanien gerade im sich zuspitzenden Katalonien-Konflikt steckte. Patria geht zwar überhaupt nicht auf Katalonien ein, scheint aber dennoch etwas über das Phänomen des Nationalismus auszusagen, das weit über innerbaskische Fragen hinausreicht. Indem der Roman die Sphäre staatlichen Handelns vollständig ausblendet und sich auf das konzentriert, was konkrete Menschen in einem

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überschaubaren Dorf einander antun und auf welche Weise die einmal verübte Gewalt weiterwirkt, begibt sich das Buch in größtmögliche Entfernung von Schlagworten und politischen Vereinfachungen. Das heißt nicht, dass Patria kritiklos aufgenommen worden wäre. Der baskische Schriftsteller Iban Zaldua – seinerseits Autor eines weit weniger bekannten Buches mit dem Titel La patria de todos los vascos – schrieb eine kritische Analyse des Romans und befand, Aramburus Figuren seien oft klischeehaft, und viele Elemente der baskischen Realität seien unglaubwürdig dargestellt (Zaldua 2017). Er monierte ferner, jene Figuren, die der izquierda abertzale nahestünden, seien im Buch deutlich negativer dargestellt. Ein Jahr darauf, bei der Präsentation eines eigenen Erzählbandes in San Sebastián, erneuerte Zaldua seine Kritik im Gespräch mit seinem Schriftstellerkollegen Ramon Zaizarbitoria. Dieser wiederum kritisierte, Aramburu habe mit Patria einen „totalisierenden“ Roman über das Baskenland schreiben wollen, damit jedoch nicht die ästhetische Qualität von Tolstois Krieg und Frieden erreicht.7 Der Lagerfeuer-Effekt ließe sich hier so beschreiben: Noch in der Distanzierung, ja der scharfen Kritik ist es unvermeidlich, sich auf Aramburus Patria zu beziehen. Man muss in die Mitte treten, ins Licht, um sich am Gespräch zu beteiligen. Diese Wirkung eines einzigen Buches verstärkte sich abermals, als der amerikanische Kabelsender HBO, der für hochwertige, oft Maßstäbe setzende Fernsehserien wie The Sopranos, The Wire oder Game of Thrones bekannt ist, mit Patria seine erste rein spanische Produktion überhaupt präsentierte. Der Achtteiler wurde 2020 bei den Internationalen Filmfestspielen von San Sebastián präsentiert, erhielt positive Rezensionen und verbreitete die Botschaften des Romans noch weiter: dass jeder Mensch im baskischen Panorama seine eigene, komplexe Geschichte habe; dass die Zeit der ideologischen Verblendung vorbei sei; dass die Stimmen der Opfer mehr Aufmerksamkeit verdienten als die Parolen des Nationalismus, gleich welcher Seite (Chueca 2020). Durch die Verfilmung entfachte sich eine öffentliche Auseinandersetzung um genau das Thema, das ich mir in diesem Aufsatz vorgenommen habe: Inwiefern darf Patria, als Buch und als Film, beanspruchen, die ‚Wahrheit‘ über die Geschichte des Baskenlands und seine zentralen Konflikte zu sagen? Könnte dies die verdichtete Erzählung sein, die nach 7

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Siehe den Bericht im Diario Vasco vom 25. November 2018, „El valor de los detalles para hablar de ‚la cosa‘“.