168 15 19MB
German Pages 245 [248] Year 1981
Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich Teil II
Anden Régime Aufklärung und Revolution Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt
Band 4
R. Oldenbourg Verlag München Wien 1981
Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich 12 Originalbeiträge Herausgegeben von Hans Ulrich Gumbrecht, Rolf Reichardt und Thomas Schleich Teil II: Medien. Wirkungen
R. Oldenbourg Verlag München Wien 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich : 12 Orig.-Beitr. / hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht . . . München ; Wien : Oldenbourg (Ancien régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 4) NE: Gumbrecht, Hans Ulrich [Hrsg.]; GT Teil 2. Medien. Wirkungen. - 1981. ISBN 3-486-50671-4 ISBN 3-486-50921-7
© 1981 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh.G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-50921-7 geb. ISBN 3-486-50671-4 brosch.
Inhaltsübersicht Teil I Einleitung Für eine Sozialgeschichte der französischen Aufklärung/Hans Ulrich Gumbrecht, Rolf Reichardt, Thomas Schleich
Trägerschichten Formen und Prozesse kultureller Vermittlung im Frankreich der Aufklärung/ Hans-Jürgen Liisebrink Die „Sociétés de pensée" und die aufgeklärten Eliten des 18. Jahrhunderts in Frankreich/Daniel Roche Staat, Gesellschaft und Reform der Lehrpläne in Frankreich im 18. Jahrhundert/ Dominique Julia
Teil II Medien Journale und Journalisten im Zeitalter der Aufklärung/Jean Sgard Neue Aspekte zur Geschichte der Encyclopédie/Robert Darnton Das französische Theater des 18. Jahrhunderts als Medium der Aufklärung/Hans Ulrich Gumbrecht Der Roman als Médium der Aufklärung/Rolf Geißler
Wirkungen Alphabetisierung und Leseverhalten der Unterschichten in Frankreich im 18. Jahrhundert/Jean Quéniart Die Verbreitung und Rezeption der Aufklärung in der französischen Gesellschaft am Beispiel Mably/Thomas Schleich Kulturelle Ebenen und Verbreitung der Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts: die cahiers de doléances von 1789/Roger Chartier Vom Vendémiaire zum Fructidor des Jahres II: die andere EntChristianisierung/ Michel Vovelle
Inhalt
Abkürzungen
Medien Journale und Journalisten im Zeitalter der Aufklärung / Jean Sgard I. II. III. IV. V.
Zur Bedeutung und Charakterisierung der Presse Die Produktion Untersuchungen der Titel Inhaltsanalyse Soziologie der Journalisten
Neue Aspekte zur Geschichte der Encyclopédie Robert Darnton I.
3 3 5 17 24 26
/
Die Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung der im vorrevolutionären Frankreich 1. Schwierige Anfänge 2. Duplain und das Geschäft mit der Quartausgabe 3. Kampf der Verleger um den Gewinn 4. Die betrügerischen Manöver Duplains
35 Encyclopédie 35 36 38 42 46
II. Strukturen der Encyclopédie-LesetschaÜ 1. Ausgaben und Auflagen 2. Konturen der potentiellen Leserschaft 3. Die geographische Verbreitung der Encyclopédie 4. Sozialstruktur der Leser
49 50 52 56 56
III. Nachwort 1979 1. Zur Rolle der Verleger Panckoucke und Duplain 2. Verbreitung der Éncyclopédie
59 60 63
Das französische Theater des 18. Jahrhunderts als Medium der Aufklärung / Hans Ulrich Gumbrecht
67
I. Zur Pragmatik des Mediums ,Schauspiel' II. Kommunikationssituationen des französischen Theaters im 18. Jahrhundert III. Appellstrukturen des französischen Schauspiels im 18. Jahrhundert 1. Frühes 18. Jahrhundert
69 69 75 76
VIII
Inhalt
2. Die Mitte des 18. Jahrhunderts 3. Spätes 18. Jahrhundert 4. Die Zeit der Französischen Revolution
78 82 85
IV. Warum das französische Theater des 18. Jahrhunderts kaum ,klassisch' geworden ist
88
Der Roman als Medium der Aufklärung/Rolf Geißler
89
I.
90 90 92
Inhaltliche und formale Wandlungen des Genres 1. Eroberung eines neuen Publikums 2. Auswirkungen auf Verleger-Schriftsteller-Kritiker
II. Der,freie' Schriftsteller und sein Verhältnis zur Leserschaft III. Wechselverhältnis von Literatur und Gesellschaft 1. Spiegelung neuer Welterfahrung 2. Positionen und Zielrichtungen
93 96 96 97
IV. Neue Literatur-Neues Leseerlebnis-Neue Rezeptionsweise 1. Nutzen und Ziele: Welterkenntnis und Weltveränderung 2. Auswirkungen auf den Roman 3. Der Prototyp des Aufklärungsromans: Rousseaus Nouvelle Héloïse... 4. Die Funktionsbestimmung des Romans bei Laclos
100 100 103 106 107
V. Resümee
109
Wirkungen Alphabetisierung und Leseverhalten der Unterschichten in Frankreich im 18. Jahrhundert / Jean Quéniart Zwischen Analphabetismus und Schriftkultur: zur Abgrenzung des Teilalphabetismus II. Die bestimmenden Faktoren der Entwicklung III. Milieu-und schichtenspezifische Unterschiede zwischen Stadt und Land . IV. Soziale Abstufung des Leseverhaltens 1. Das platte Land—Welt semioraler Kultur 2. Konturen des städtischen Publikums
113
I.
114 118 127 133 133 138
Die Verbreitung und Rezeption der Aufklärung in der französischen Gesellschaft am Beispiel Mably/ Thomas Schleich 147 I.
Die zeitgenössische Verbreitung 1. Biographie und Werk 2. Mablys sozio-kulturelles Milieu 3. Das Urteil der Kritiker
148 148 149 151
Inhalt
4. Die Zahl der Auflagen 5. Das Zeugnis der Privatbibliotheken 6. Das Profil der Wirkung II. Die posthume Wirkung III. Die Aufklärung, die Aufklärer und die Revolution Anhänge
Kulturelle Ebenen und Verbreitung der Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts: die cahiers de doléances von 1789/Roger Chartier I.
Die Redakteure der, Cahiers'und ihre soziale Herkunft 1. Zur Rolle der Beamten und Richter 2. Das kulturelle Milieu der Robenbürger
IX
152 154 156 157 161 167
171 172 172 176
II. Inhalt und Vokabular der,Cahiers' 1. Der Einfluß der juristisch-administrativen Praxis 2. Themenspektrum und Anliegen der,Cahiers' 3. Die Forderungen der,Cahiers'
183 183 184 189
III. Die,Cahiers' als „Testament" der Gesellschaft des Ancien Régime
198
Vom Vendémiaire zum Fructidor des Jahres II: ,Die andere Entchristianisierung'/ Michel Vovelle
201
I. II. III. IV. V.
Von der einen Entchristianisierung zur,anderen': Skizze des historischen Forschungsprozesses 202 Rekonstruktionsarbeiten: die Quellen der Untersuchung 206 Eine Beschreibung der Phänomene wirft mehr Probleme auf, als sie löst . . 2 1 2 Wer und Warum? Versuche einer Erklärung 219 Die historische Bedeutung der Entchristianisierung des Jahres II 223
Die Autoren Register
229 234
Abkürzungen A.D. AESC AHR AHRF AS G Β.M. Β.Ν. CDU CNRS EHESS FHSt GG GWU HZ IASL JMG L. NPL PP PUF PUG pil PUL RF RFHL RH RHES RHLF RHMC RZL SEDES SEVPEN SVEC UGE ZHF
Archives départementales Annales: Économies, Sociétés, Civilisations The American Historical Review Annales historiques de la Révolution française Archiv für Sozialgeschichte Bibliothèque municipale Bibliothèque Nationale, Paris (Bibliothek u. Verlag) Centre de Documentation Universitaire Centre national de la Récherche scientifique Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales French Historical Studies Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Zeitschrift Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Journal of Modern History Livres Neue politische Literatur Past and Present Presses Universitaires de France Presses Universitaires de Grenoble Presses de l'Université de Lille III Presses Universitaires de Lyon Romanische Forschungen Revue française d'Histoire du livre Revue historique Revue d'histoire économique et sociale Revue d'histoire littéraire de la France Revue d'histoire moderne et contemporaine Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte Société d'Éditeurs d'Enseignement Supérieur Services d'Édition et de Vente des Productions de l'Éducation Nationale Studies on Voltaire and the Eighteenth Century Union Générale d'Édition Zeitschrift für Historische Forschung
N.B.: Die Fußnoten nennen bei Monographien, die in Paris erschienen sind, i.d. R. statt des Erscheinungsortes den Verlag.
Medien
Jean Sgard
Journale und Journalisten im Zeitalter der Aufklärung* I. Zur Bedeutung und Charakterisierung der Presse In einem wichtigen 1 9 6 8 veröffentlichten Aufsatz unterstrich W E R N E R K R A U S S die Bedeutung von Untersuchungen über die klassische Presse als Quelle der literarischen und historischen Forschung: die Journale des 17. und 18. Jahrhunderts bieten uns eine Art von Gesamtüberblick über die .Literatur' im alten Verständnis, das heißt, die Philologie und die (Natur-)-Wissenschaft, die schönen Künste und die Technik; sie berichten über das Erscheinen von allen gedruckten Werken und legen Rechenschaft über ihre erste Rezeption ab; durch die Tendenz ihrer Kommentare und der Auszüge leiten sie die Lektüre, eine von nun an europäisch ausgerichtete Lektüre, weil die nationalen Literaturen durch den internationalen Rahmen der Presse in europäische Dimensionen ausgreifen 1 . Dieser Aufstieg der Presse erfolgt nun gleichzeitig mit der Aufklärung. Während der ersten sechzig Jahre des 17. Jahrhunderts hält sich die französische Presse noch nah am Bericht, sie hat noch einfachen informativen Charakter; in England verfügt die Parteipresse vor der Revolution von 1688 noch nicht über einen wirklichen Status; in Holland datiert der Erfolg der Zeitungen in französischer Sprache erst aus den Jahren um 1 6 8 0 . Eine unabhängige Presse in allen Ländern Europas tritt im Gefolge von zwei Ereignissen auf: der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahre 1685 und der englischen Revolution von 1688; sie ist eng verbunden mit der Entstehung eines religiösen und politischen Pluralismus. Was W. Krauss vom Studium der klassischen Presse sagte, kann auch von der Presse des 18. Jahrhunderts gesagt werden: sie bietet uns einen Gesamtüberblick über die Aufklärung. Wenn man die Aufklärung als eine großangelegte Umformung der Gesellschaft durch die Verbreitung der Erkenntnisse definiert, so steht die Presse ganz im Vordergrund. Mögen die Journalisten den .Philosophen' feindlich gesinnt sein, sie partizipieren nichtsdestoweniger an der Verbreitung von 2
* Dieser Beitrag wurde übersetzt von Karin Reppel und Peter-Michael Spangenberg (Überarbeitung R. Reichardt). 1
2
W. KRAUSS: Die französische literarische Journalistik im 18. Jh., in: Arch. St.n.Spr. 204 (1968), 414—425 (abgedr. in: Krauss, Werk und Wort, Berlin 1972, 7 3 - 8 6 u. 3 1 0 - 3 1 6 ) . G. WEIL: Le Journal: origines, évolution et rôle de la presse périodique, Paris 1934, 58; E. HATIN: Les Gazettes de Hollande et la presse clandestine aux XVIF et X V I I F siècle, Paris 1865, 52ff.
4
Jean Sgard
Erkenntnissen und Meinungen: Desfontaines, Fréron und La Harpe sind aufgeklärte Geister. Von 1685 bis 1789 wandelt sich die ganze intellektuelle Gemeinschaft aufgrund der Fortschritte der Presse. Das Journal hört auf, ein Nachrichtenblatt zu sein, es artikuliert die Ideologie sozialer und politischer Gruppen, es drückt neue Ideen aus, es strukturiert die Meinung und verwandelt sich in Macht. Der Pluralismus der Meinungen eröffnet einen permanenten Dialog zwischen den Journalen: zuweilen handelt es sich um religiöse, philosophische und politische Kontroversen, häufiger entwickelt sich ein Dialog der aufgeklärten Geister in ganz Europa: die République des Lettres, die im 17. Jahrhundert eine Gemeinschaft von Gelehrten gewesen war, die in lateinischer Sprache diskutierten, entwickelt sich nach und nach zu einer internationalen Intelligenzija, verbunden durch den Gebrauch von Französisch und Englisch. Man gelangt von einer brieflichen und individuellen Kommunikation zu einer kollektiven und periodischen, die organisiert und zeitlich vorbestimmt ist: ohne diese zweifache Beschäftigung des sozialen Bereichs und der Zeit wäre die Aufklärung ein bloßes Gedankenspiel geblieben. Die folgende Untersuchung behandelt diese Organisation; sie bezieht sich gleichzeitig auf die Entwicklung und die Struktur der Presse, auf die verschiedenen Arten, auf die Inhalte und auf das soziale Milieu der Journalisten. Wir betrachten die Presse als eine besondere Kommunikationsart, gebunden an besondere Strukturen, die sich nach eigenen Gesetzen entwickeln. Man kann als J o u r n a l ' jedes Werk bezeichnen, das vorgibt, aufgrund einer periodischen Veröffentlichung über das Zeitgeschehen in den verschiedensten Gebieten zu berichten. Zwei zusammenhängende Kriterien charakterisieren das Journal: erstens seine Periodizität, gekennzeichnet durch Wiederholung derselben Darbietung in aufeinanderfolgenden Ausgaben, durch eine Klassifizierung der Inhalte in wiederkehrenden Rubriken und durch ein System sich wiederholender Verbreitung in Form von Abonnements oder regelmäßigen Lieferungen; zweitens sein Aktualitätsbezug (im allgemeinen unter zwei Jahren). Das bedeutet zunächst einmal ein ,Lektüreabkommen' ganz bestimmter Art: wenn der Leser sich in einem Journal wiedererkennt, in ,seiner' Zeitung, wird das Blatt einem Bedürfnis gerecht und besteht weiter; wenn der Leser aber nicht mit dem Redakteur übereinstimmt, so riskiert das Blatt, innerhalb kurzer Zeit einzugehen. In einem periodisch wiederkehrenden Kommunikationsverhältnis muß das Angebot sich also fortwährend nach der Nachfrage richten, zwischen dem Autor und seiner Leserschaft entwickelt sich ein dauernder Kontakt, und es ist in einem bestimmten Maße das Publikum, welches über den Inhalt der Zeitung bestimmt: das Journal ist eine gemeinschaftliche Einrichtung, das Ausdrucksmittel einer sozialen Gruppe. Der Aktualitätsanspruch hat noch andere Konsequenzen: verpflichtet zu einer raschen Informationszusammentragung und einer sofortigen Ausarbeitung der Neuigkeitsmeldung, greift der Jornalist direkt in den Ablauf des Ereignisses ein, schreibt über das Ereignis mit dem erhöhten Risiko eines Irrtums oder einer Voreingenommenheit; somit hilft er, das Ereignis zu ,schaffen', und ist dadurch selbst ein Handelnder innerhalb der Geschichte. Um diesem Risiko und der Gefahr der Zensur (des Verbotes oder der Selbstzensur) zu entgehen, haben die Journalisten
Journale und Journalisten
5
die außergewöhnlichsten Taktiken anwenden müssen: verschleierte Ausdrucksweisen, Anonymität, Veränderungen von Titeln und Publikationsorten, Gemeinschaftsherstellung. Diese Organisation begrenzt die Wichtigkeit der persönlichen Interventionen: ein Journalist drängt sich nicht auf wie ein begabter Schriftsteller; er genießt keinerlei Aufschub. Sobald man die Geschichte der Presse behandelt, hat man es mit Gruppenphänomenen zu tun. Nur eine quantitative Untersuchung kann die Entwicklung der Presse, ihre Struktur-, Form- und Inhaltsveränderungen ermitteln. Ausgehend von unserer Definition des Journals haben wir ein Korpus von etwa tausend Titeln - veröffentlicht in der Zeit von 1610 bis 1789 - zusammengestellt; wir haben dies Korpus mit statistischen Methoden untersucht und versucht, daraus Anzeichen über die Tendenz der Geschichte der Presse, ihre Typologie, ihre Produktionsorte und über die Autoren und ihre soziale Verwurzelung herauszukristallisieren 3 . Die Presseforschung hat sich seit dem Appell von W. Krauss derart weiterentwickelt, daß wir eine erste Bilanz ziehen und eine Geschichte der Aufklärungspresse skizzieren können, eine Geschichte ohne Ereignisse, ohne Helden und ohne Erzählung.
II. Die Produktion In einem ersten Schritt haben wir die Entwicklung der Produktion nach der Zahl der neuen Titel, die in jedem Jahrzehnt veröffentlicht wurden, untersucht; eine Kurve nach einzelnen Jahren würde zu viele bloß konjunkturbedingte Ausschläge aufweisen; tatsächlich kommt es häufig vor, daß dem Überfluß an neuen Titeln während eines Jahres ein vorübergehender Rückgang im nächsten Jahr folgt. Die Zunahme der Titelzahl über ein Jahrzehnt entspricht nicht notwendigerweise einer Aufschwungsphase der Presse, aber sie zeigt schon, in einer einfachen und deutlichen Weise eine Kreativitätsphase. Um die Vitalität der Presseunternehmen darzulegen, haben wir zwischen langlebigen und kurzlebigen Journalen unterschieden; wir bezeichnen solche, deren Publikation ein Jahr nicht überschritten hat, als ,kurzlebige' Journale; unter den .langlebigen' Journalen, deren Publikation sich über mehrere Jahre erstreckt, haben wir aufgrund unserer statistischen Daten Journale von kurzer Lebensdauer (von 1 bis zu 9 Jahren) und Journale von langer Lebensdauer (10 Jahre und mehr) unterschieden. Es ist offensichtlich, daß diese Unterscheidungen nach unseren derzeitigen Kenntnissen oft willkürlich sind, weil viele Sammlungen unvollständig oder schlecht datiert sind. Man ist niemals sicher, ob es sich wirklich um Journale handelt, bevor man nicht die verzeichnete Sammlung untersucht hat. Wir haben einfacherweise etwa hundert Titel, welche zweifelhaft waren, beiseite ge3
Diese Vorarbeiten für ein Dictionnaire des journaux (1600-1789) wurden durchgeführt im Rahmen des Centre d'Etude des Sensibilités der Universität Grenoble, in Zusammenarbeit mit Madeleine Fabre und Michel Gilot; auf Anfrage hat das Forschungszentrum ein Heft mit Arbeitsproben und einer zusammenfassenden Kurztitelliste verteilt: Inventaire de la Presse classique, 1600-1789, Grenoble 1978, 98 S.
6
Jean Sgard
Tabelle 1: Statistik der Zeitschriftentitel (zu Schaubild 1) 1600 10 20 30 40 50 60 70 80 90 1700 0 5 10 16 24 24 24 20 40 26 29 0 4 9 10 17 16 14 11 20 8 11 0 1 1 6 7 8 10 9 20 18 18 0 2 2 4 2 6 11 8 8 0 1 0 0 0 4 5 6 6 9 10 3 10 Zusammenfassende Zahlen der Zeitschriftentitel: Gesamt 990 kurzlebige 440Ì 9 9 0 langlebige 550/ — davon sehr langlebig 176Ì - mittlere Lebensdauer 374]
10 35 16 19 11 8
20 30 41 65 20 26 21 39 7 7 14 32
40 90 45 45 10 35
50 60 70 80 115 111 148 167 52 51 50 60 63 60 97 108 19 21 41 16 44 39 57 92
Schaubild 1: Kurven der Zeitschriftenproduktion nach Zahl der Titel pro Jahrzehnt = Gesamt = kurzlebige Journale langlebige Journale
Journale und Journalisten
7
lassen und versucht, anhand von 990 erhaltenen Titeln die großen Tendenzen herauszustellen. Analysieren wir zuerst die Hauptkurve (Gesamtproduktion der Titel je Jahrzehnt): einer langsamen Steigung von 1610 bis 1640 folgt eine relativ erfolgreiche Periode, die im großen und ganzen der Epoche der Fronde (1648-1653) entspricht. Nach einem Abfall, der in die Phase innenpolitischer Stabilisierung von 1670 bis 1680 fällt, ist die Produktion außergewöhnlich stark von 1680 bis 1689, in der Epoche des Revokationsedikts und der Revolution von 1688. Nach diesem lebhaften Anstieg, dem eine Phase der Stabilisation folgt, schließt sich eine stetige, mehr und mehr verstärkte Progression an, welche der Epoche der Aufklärung im eigentlichen Sinne entspricht. Die Hauptkurve besteht aus zwei Teilkurven, die anders verlaufen: das Verhältnis der Titel von vorübergehend auftauchenden Journalen im Vergleich zum Ganzen ist hoch bis 1640, danach folgt ein anhaltender Abfall, besonders von 1680-1689, um von da an der Hauptkurve zu folgen: bis 1739 stellen die kurzlebigen Journale ungefähr die Hälfte des zehnjährigen Bestandes. Ab 1770 beträgt das Verhältnis der kurzlebigen Titel ungefähr ein Drittel des Bestandes. Die Kürze der beständigen Journale entwickelt sich natürlicherweise entgegengesetzt; von 1680 an ist sie den kurzlebigen Journalen überlegen. Ihr Anstieg ist ab 1740 und ziemlich eindeutig ab 1770 ganz klar zu erkennen. Dieser Sprung verdeutlicht schlagend die Vitalität der Presseunternehmen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Um die Phasen dieser Entwicklung zu präzisieren, vergleichen wir das Wachstum der Gesamtveröffentlichungen und die Anzahl der langlebigen Journale von einem Jahrzehnt zum anderen:
Gesamt Langlebige Titel
Gesamt Langlebige Titel
1670/80 +100% +122%
1680/90 -53% -11%
1690/1700 +10,2% 0%
1700/10 +20,6% +5,5%
1710/20 +17,1% +10%
1730/40 +38,4% +15,3%
1740/50 +27,7 % +40%
1750/60 +3,6% -5%
1760/70 +33,3% +61%
1770/80 +12,8% +10%
1720/30 +58,5% +85%
Die Progression der Gesamtveröffentlichungen, korrigiert durch die Progression der langlebigen Journale, ist besonders deutlich erkennbar in den Jahrzehnten 1 6 8 0 - 1 6 8 9 (mit einem Anstieg in der Zeit 1670/80), 1 7 3 0 - 1 7 3 9 (Anstieg im Jahrzehnt 1720/30), 1 7 5 0 - 1 7 5 9 (Progression 1740/50), 1 7 7 0 - 1 7 7 9 (Progression 1760/70). Dieses sind die Jahrzehnte, bei denen es sich empfiehlt, sie im einzelnen und nach der jährlichen Entwicklung zu untersuchen, ohne jedoch die zehnjährigen Zeiträume starr zu handhaben.
8
1.
Jean Sgard
1680-1689
Der plötzliche Anstieg in der Skale (von zwanzig auf vierzig Veröffentlichungen, nämlich 100%) ist eine Auswirkung der Aufhebung des Edikts von Nantes und der englischen Revolution auf die journalistische Produktion. Diese beiden Ereignisse wirken folgendermaßen zusammen: die religiöse und politische Kontroverse um das protestantische Problem beginnt vor der Aufhebung des Edikts von Nantes und entwickelt sich aufgrund des Exils der Protestanten in Holland und in England; die Thronbesteigung Wilhelms von Oranien verstärkt diese Tatsache, indem sie den Gazetten und Zeitschriften aus Holland neue Absatzmärkte in England öffnet und ihrerseits neues Material liefert für eine schon im Gange befindliche politische Debatte. Jährliche Progression: Gesamt Langlebige Journale
1680 1681 1682 1683 1684 1685 1686 1687 1688 1689 5 5 2 4 2 3 6 3 6 4 1 2 0 4 1 0 4 1 5 2
= 40 = 20
Obwohl die Zahl der Veröffentlichungen sich nach der Aufhebung des Edikts von Nantes verdoppelt, ist zu sehen, daß sich diese Ausweitung schon seit mehreren Jahren vorbereitete (aber nicht vor 1680). Sie betrifft alle Sparten: katholische und protestantische Religion, Wissenschaft, Politik; die Hälfte der Produktion kommt noch aus Frankreich. Die auffallendste Tatsache dieses Jahrzehnts ist der Anstieg der Journale mit dauerhaftem Erscheinen im Vergleich zu den kurzlebigen: zum erstenmal halten sich beide Gruppen das Gleichgewicht (20/20). Nicht weniger auffallend ist, daß die langlebigen Journale genauso zahlreich sind wie die Journale von mittlerer Erscheinungsdauer: von 20 Journalen, deren Erscheinen zwischen 1680 und 1689 begann und die länger als ein Jahr erscheinen, überdauern elf mehr als zehn Jahre; von diesen elf Journalen wurden sieben in Holland und ein Journal in der Schweiz veröffentlicht. Ab diesem Zeitpunkt wird die große Mehrheit der Journale mehr als ein Jahr überdauern, und jedes Jahrzehnt erscheinen ungefähr 10 neue Zeitschriften von langer Lebensdauer. Zwei Faktoren haben diese Tendenzwende bewirkt: die im Exil lebenden Protestanten in Holland, England, der Schweiz und in Deutschland haben die Grundlage für solide Presseunternehmen mit kollektivem Charakter und europäischem Verteilernetz gelegt. Auch richtet sich das Journal an ein immer größeres Publikum; im 17. Jahrhundert konnte ein Journal mit einer Auflage von 300 oder 400 Exemplaren überleben, nun gegen Ende des Jahrhunderts erreichen die Auflagen 1000 Exemplare und mehr. Die großen protestantischen Journale richten sich an ein internationales Publikum, welches nicht nur aus Glaubensbrüdern zusammengesetzt ist und sich auch strukturmäßig dieser Situation anpaßt. Mit der Zeit vermehren sich die großen Informationszeitschriften, die durch weit entfernte Korrespondenten mit Nachrichten versorgt und in ganz Europa durch Vertragsbuchhandlungen verteilt werden; dies gilt für Zeitungen von Amsterdam,
Journale und Journalisten
9
Leiden, Rotterdam, Bern und die großen politischen und literarischen Revuen, die in der ganzen intellektuellen Gemeinschaft gelesen werden: die Nouvelles de la République des Lettres von Bayle, die Bibliothèque universelle von Le Clerc, der Mercure Historique von Sandras und Missy, die Histoire des ouvrages des savants von Basnage, alle zwischen 1684 und 1687 begründet. Eine kollektive Struktur, zusammengesetzt aus Information und Verteilung, ist entstanden; sie markiert den A n fang einer neuen Epoche. 2.
1730-1739
Im Laufe dieses Jahrzehnts ist die Zahl der n e u e n Titel von 4 1 auf 65 gestiegen, was einen Steigungsindex von 5 8 , 5 % ausmacht. Diese Beschleunigung des Anstiegs kennzeichnet den A n f a n g eines gleichmäßigen und unaufhaltsamen Anwachsens bis zum E n d e des 18. Jahrhunderts: von 1750 an steigt die Kurve des Gesamtzuwachses in spektakulärer Weise. Bei einer Auflistung der jährlichen Steigung über drei Jahrzehnte wird dies noch deutlicher:
Gesamt Gesamt Gesamt
1720 2 1730 4 1740 12
1721 1 1731 7 1741 15
1722 5 1732 4 1742 10
1723 7 1733 6 1743 8
1724 2 1734 6 1744 5
1725 3 1735 8 1745 12
1726 5 1736 6 1746 10
1727 4 1737 9 1747 2
1728 9 1738 9 1748 7
1729 3 = 41 1739 6 = 65 1749 8 = 89
Bei einem Vergleich dieser drei Jahrzehnte stellt man einen ,Fehlstart' im Jahre 1728 fest, welcher jedoch von 1730 bis 1742 fortgeführt wird. U m das besser zu deuten, muß man über die ganze Zeitspanne die Gesamtheit der Titel, das heißt der langfristig und vorübergehend erscheinenden Journale, aber auch die Publikationsorte, in Frankreich oder im Ausland vergleichen: Journale: Gesamt kurzlebige langlebige französische ausländische
1730 4 1 3 2 2
1731 7 3 4 3 4
1732 4 0 4 1 3
1733 6 2 4 2 4
1734 6 3 3 4 2
1735 8 4 4 6 2
Journale: Gesamt kurzlebige langlebige französische ausländische
1737 9 3 6 1 8
1738 9 3 6 1 8
1739 6 5 1 0 6
1740 12 4 8 2 10
1741 15 9 6 3 12
1742 10 8 2 0 10
1736 6 2 4 2 4
Diese Zahlen machen zwei Tatsachen deutlich: zum einen den relativ hohen Anteil der kurzlebigen Journale in den Jahren 1 7 3 9 - 1 7 4 2 , was eine Krise anzeigt; zum
10
Jean Sgard
anderen nahm die französische Produktion im Jahre 1736 plötzlich ab; vor diesem Datum wurden durchschnittlich zwei oder drei neue Zeitungen pro Jahr herausgegeben, in diesem Jahr sank die Produktion auf Null. Die Gesamterzeugung des Jahres 1741 setzt sich wie folgt zusammen: zwei Veröffentlichungen in Frankreich, beide aber nur kurzlebig (L'Espion étranger à Paris undLes Fastes de Momus); dreizehn im Ausland, davon sechs in Holland, fünf in Deutschland, eine in England und eine in Avignon (päpstliche Enklave). Von diesen dreizehn Titeln wurde keiner zehn Jahre alt. Diese Krise erklärt sich zum großen Teil aus der französischen Politik: das Aufblühen der Presse, besonders von 1 7 2 8 - 1 7 3 5 , beunruhigte die Obrigkeiten, die die Zensur verstärkten und zur Ächtung der Zeitungen, wie auch des Romans, übergingen. Dadurch wurde zwar die Ausweitung nicht aufgehalten, doch die Presse wich ins Ausland aus, wobei die Versuche einer Rückverpflanzung während eines Zeitraumes von zwei bis drei Jahren recht unsicher waren. Während Desfontaines, Marivaux und Prévost erreichten, daß ihre Werke in Frankreich erschienen, wurden alle Journale des Marquis d'Argens im Ausland verlegt. Die Vermehrung der kurzlebigen Journale kann sich auch aus einem neuen Faktum erklären, welches von Vorteil für den Journalismus wird. Großen Schriftstellern wie Marivaux, Prévost, d'Argens und begabten Journalisten wie Desfontaines, La Varenne und La Barre de Beaumarchais war es nämlich gelungen, einen persönlichen und literarischen Journalismus zu schaffen, der Schule macht. Diese Versuche sind natürlich weniger fest begründet als die großen Unternehmen der Informationspresse oder die .bibliothèques Savantes'. Dieses Aufblühen der literarischen Presse ist eine Tatsache; die ,nouvelles littéraires' und die nationalen .bibliothèques' tragen dazu bei, die schöngeistige Literatur einem immer größeren Publikum zugänglich zu machen; diese Entwicklung ist so stark, daß gut etablierte Journale wie die Mémoires de Trévoux im Jahre 1734 eine Erneuerung und Erweiterung ihrer Mitarbeiter und ihrer Zeitschrift vornahmen 4 . 3.
1750-1759
Die Krise der Presse in den Jahren 1 7 3 4 - 1 7 4 0 minderte nicht deren weiteren Anstieg; nur die Ausweitung in Frankreich wurde gebremst. In den 1750er Jahren kehrten die Journalisten wieder nach Frankreich zurück. Die Zahlen beweisen es: Journale: Gesamt kurzlebige langlebige in Frankreich im Ausland 4
1750 13 6 7 2 5
1751 13 6 7 5 2
1752 6 0 6 6 0
1753 12 8 4 2 2
1754 16 6 10 7 3
1755 9 3 6 3
1756 6 3 3 2
3
1
1757 10 4 6 5 1
1758 15 7 8 6 2
1759 15 8 7 2 5
= 115 = 51 = 64 = 40 =
24
M. GILOT/J. SGARD: Le renouvellement des Mémoires de Trévoux en 1734, in: Dix-huitième Siècle 8 (1976), 205-214.
Journale und Journalisten
11
Das Jahrzehnt 1 7 5 0 - 1 7 5 9 führt in Frankreich den Streit der Anhänger und Gegner der Encyclopédie herbei; es ist gekennzeichnet durch den A n f a n g des Siebenjährigen Krieges ( 1 7 5 6 - 1 7 6 3 ) ; auch setzt sich schließlich ein allgemeines Interesse für die Wissenschaften (Medizin, Physik, Wirtschaftswesen) und die Technik durch. Bei einer derart vielgestaltigen Informationsnachfrage können sich die Buchhändler ihre Chance nicht entgehen lassen und bestürmen den neuen Direktor des Buchund Verlagswesens, Malesherbes, welcher die Forderungen der Regierung und des Handels in Einklang zu bringen sucht. Es ist die Epoche, in der sich die Doppelausgaben von Druckschriften (in Frankreich und in Holland), die Veröffentlichungen an den Grenzen Frankreichs (in Lüttich, in Bouillon, in G e n f ) und die Pressegesellschaften, die sich mit halboffiziellen Förderern umgeben, verbreiten. Man publiziert in Frankreich so wichtige Journale wie die Année littéraire, das Journal étranger, das Journal économique oder die Observations de physique. Wenn die langlebigen Journale nun endgültig zahlreicher sind als die kurzlebigen Journale, so erlangen nun Franzosen unter den Verlegern der langlebigen Journale die große Mehrheit. Diese Tendenz verstärkt sich immer mehr. 4.
1770-1779
Nach einer Stabilisierung um 115 Titel nimmt die Progression gegen 1770 wieder einen Steigungsindex von 33,3 % für die Gesamtheit der Titel und 61 % f ü r die langlebigen Journale an. Die Produktion der langlebigen Journale erreicht zwei Drittel des Gesamtbestandes (97 von 148); von diesen 97 Journalen erscheinen 4 1 länger als zehn Jahre, wogegen man von 1 7 6 0 - 1 7 6 9 auf 60 langlebige Journale nur 21 mit besonders langer Erscheinungsdauer zählt. Allerdings m u ß bemerkt werden, daß der Abbruch zahlreicher Journale im Jahr 1789 zufällig war und nicht mit der Struktur der Produktion zusammenhing. Als herausragendes F a k t u m bleibt daher festzuhalten: zwei Drittel der neuen Presseunternehmen sind nun fest etabliert. A n d e r e r seits wurden von den 148 Titeln 74 in Frankreich verlegt, also die Hälfte. Wann man bedenkt, daß die Auflagen sich damals bei über 2000 Exemplaren einpendeln und daß sich die Konkurrenz in fünfzig Jahren verfünffacht hat, darf man annehmen, daß dieser letzte Anstieg den Durchbruch der Presse zu einer bislang nicht erreichten Öffentlichkeit anzeigt. Die Steigerung teilt sich folgendermaßen auf: 1770 22
1771 8
1772 13
1773 12
1774 12
1775 11
1776 13
1777 22
1778 25
1779 10
M a n sieht zwei H ö h e p u n k t e , im Jahre 1770 und 1777 bis 1778, gefolgt von zwei Rückgängen. D e r erste H ö h e p u n k t erklärt sich teilweise durch die schnelle Etablierung der provinzialen Presse: 1770 entstehen 5 lokale Journale; am E n d e des Jahrzehnts sind es 15. A b e r die Progression setzt sich auch in der auf spezielle T h e m e n ausgerichteten Presse (Theater, Musik, Geographie, Mineralogie usw.) durch. Das H a u p t m e r k m a l dieser Epoche ist die Mannigfaltigkeit der Presse, was die Standorte (die Provinz, die Kolonien, die L ä n d e r im N o r d e n etc.) und ihre Spezialisierung an-
12
Jean Sgard
geht. Diese rasche Progression wird auch von den Journalisten selber genutzt, denn 1771 entstehen fünf Journale bibliographischen Typs, darunter zwei ,esprits des journaux', welche jene enorme Produktion zu klassifizieren und zusammenfassen suchen. Die Streuung der Produktionsorte ist noch klarer ersichtlich im Jahre 1778 (sechs neue Provinzialzeitschriften), aber sie wird ausgeglichen durch Umgruppierungsmaßnahmen und durch eine Spekulationswelle: 1778 ereignet sich der aufsehenerregende Konkurs von Lacombe, Besitzer von mindestens sechs Journalen; im selben Jahr steigt C. J. Panckoucke ins Geschäft ein und beginnt das größte Presseimperium des 18. Jahrhunderts aufzubauen. Demnach ist eine doppelte Bewegung, der Streuung und der Konzentration an einem Ort, zu beobachten: während die großen Pariser Unternehmen in die Hände von geschickten Spekulanten fallen oder große Investitionen anlocken - so bei der Gründung der ersten französischen Tageszeitung, des Journal de Paris (1777) - , entsteht in jeder Provinzstadt, an jedem kleinen ausländischen Fürstenhof ein Journal, meist von dem Buchhändler oder dem Buchdrucker des Ortes verlegt; zum erstenmal erscheint ein Drittel der in Frankreich veröffentlichten Journale in der Provinz. Die Kurve der produzierten Titel gibt uns vergleichsweise präzise Hinweise auf das Wachstum der Presse im Zeitalter der Aufklärung. Man müßte diese Kurve noch mit der allgemeinen Produktionskurve des Buches vergleichen; aber hier fehlen uns die Zahlenangaben. Indessen wollen wir versuchen, die Zeitschriftenproduktion mit der Romanproduktion zu vergleichen, weil dieser Vergleich ergiebig erscheint und wir für den Roman über neuere und vollständige Bibliographien verfügen. Wenn man die Anzahl der neuerschienenen Romane nach Jahrzehnten gruppiert, erhält man eine Kurve vergleichbar derjenigen, die für die Journale aufgestellt wurde. Es genügt, bei gleichen Proportionen (die Gesamtzahl der Romane ist wesentlich höher als die Gesamtheit der Journale) die beiden Kurven auf ein Schaubild zu projezieren, um eine ganze Reihe interessanter Gesichtspunkte zu gewinnen. Man stellt fest, daß die beiden Kurven in gleicher Richtung verlaufen, wobei aber die Romanproduktion mehrmals nachhinkt: 1) die Expansion, welche der Ausweisung der Protestanten folgte, wirkt sich in den 1680er Jahren unmittelbar auf die Presse aus; sie beeinflußt den Roman erst zehn Jahre später mit einem schwächeren Steigungsindex (52 % statt 100 %) ; 2) der Rückgang der Presse in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts wirkt sich viel dauerhafter auf den Roman aus, der bis 1730 davon betroffen bleibt; aber ab 1730 nimmt der Roman einen spektakuläreren Aufschwung als die Presse mit einem Steigungsindex von 137% (anstatt von 5 8 % bei der Presse): es handelt sich hier sicherlich um eine allgemeine Expansion des Buchhandels. 3) Die Stabilisierung der Presse auf hohem Niveau von 1750 bis 1769 ist auch beim Roman zu beobachten, aber wiederum mit zehn Jahren Verzögerung, von 1760 bis 1779. Aus der Parallelität der Kurven und dem Nachhinken des Romans im Vergleich zur Presse kann man einige Schlüsse ziehen: weil die Presse unmittelbar auf die Nachfrage reagiert, reflektiert sie alle Konjunkturschwankungen mit großer Genauigkeit, ob es sich nun um eine Ausweitung, eine Krise oder eine Stabilisierung handelt; weil sie sich allen Formen der Nachfrage angleicht, unterliegt
Journale und Journalisten
13
Schaubild 2: Vergleich der Zeitschriften- und der Romanproduktion nach den Zahlen der jeweils neuen Titel Zak! Jer Ro/mne
_ SiO
ZeitscUnfte« donnone.
14
Jean Sgard
sie nicht der Mode oder einer Mißachtung einer Gattung, wie es beim Roman der Fall sein kann; aber die allgemeine Entwicklung der Presse hängt - wie jede Buchproduktion - ab von den Bedingungen der kulturellen Nachfrage, der Bevölkerungszunahme, dem Schulbesuch, dem Einkommenswachstum, den Vertriebsmöglichkeiten und der Verbreitung der Kulturprodukte. Insofern ist die Wichtigkeit der historischen Ereignisse einzuschränken: auch ohne die Aufhebung des Edikts von Nantes hätte zweifellos ein Anwachsen der Presse und der Buchproduktion stattgefunden, wenn auch in anderen Formen und an anderen Orten. Es gilt also, daß die Presse einem Informationsbedürfnis entspricht, genau wie der Roman ein Bedürfnis nach Ablenkung befriedigt. Die Presse kann in dem Moment von der Aktualität profitieren, in welchem der Roman darunter leidet: dies ist wohl der Fall 1 6 8 0 - 1 6 8 9 oder 1 7 1 5 - 1 7 2 9 ; vor allem aber erscheint sie jederzeit als genauer Indikator einer Informationsnachfrage, das heißt, eines Bedürfnisses nach .Aufklärung'. Mit Hilfe einer Statistik können wir die großen Produktionstendenzen feststellen. Für die Interpretation dieser Tendenzen brauchte man noch die wirtschaftlichen Daten, welche uns noch fehlen; doch lassen sich wenigstens die Hauptzüge skizzieren. Im 17. Jahrhundert ist es üblich, daß ein Journal oder ein Roman in 400 Exemplaren aufgelegt wird, die großen Auflagen sind den religiösen Werken vorbehalten. Das Verlagswesen bleibt handwerklich und ist strengen Reglementierungen unterworfen. Die Holländer, die nicht den gleichen Zwängen unterliegen, sind die ersten, die ein Verteilernetz in den protestantischen Ländern ausbauen, welches ihnen erlaubt, dauerhafte Unternehmen zu errichten. Von 1 6 9 0 - 1 7 5 0 organisiert sich das französische Verlagswesen, um gegen diese Konkurrenz zu kämpfen; die Auflagen steigen von 1000 auf 2000 Exemplare mit Hilfe neuer Buchhandelszentren (Rouen, Lyon, Avignon etc.), die literarischen Neuigkeiten' gewähren aktuellen Nachrichten immer mehr Raum. Das Verfahren des Subskriptionsverkaufs oder des Abonnements, welches sich ab 1715 immer größeren Zuspruchs erfreut, erstreckt sich auf sämtliche Werke; es ist nicht selten, daß bei Romanen oder historischen Werken ein Band nach dem anderen veröffentlicht wird, so daß sich der periodische Verkauf tendenziell auf den ganzen Markt ausweitet. Verlagsbuchhändler wie Didot, Dukkesne, van Duren, Poppy etc. versuchen selber ein Journal herauszubringen, um ihre eigenen Publikationen anzukündigen und besprechen zu lassen; denn die Annoncen, Buchbesprechungen, Auszüge, literarischen Neuigkeiten und die wiederholten Hinweise auf Kataloge sind die wirksamste Werbung. Seit 1750 ist das Journal endgültig fester Bestandteil des Kulturbetriebes, wie viele Zeugnisse der Zeitungsschwärmerei belegen 6 . Die französische Gesetzgebung der Druck-Privilegien 5
6
Diese Angaben beruhen auf den folgenden Roman-Bibliographien, aus denen nur die neuen Titel herausgezogen und nach Jahrzehnten unterteilt wurden: M. LEVER, La Fiction narrative en prose au XVIF siècle. Répertoire bibliographique du genre romanesque en France, 1600-1700, CNRS 1976; S. P. JONES; A List of French Prose Fiction from 1700 to 1750, New York 1939; R. FRAUTSCHI/A. MARTIN/V. MYLNE: Bibliographie du genre romanesque en France, 1751-1800, London/Chicago 1977. L. TRÉNARD: La Presse française des origines à 1788, in: Histoire générale de la presse française, pubi, sous la dir. de C. Bellanger, J. Godechot, P. Guiral et F. Terrou, Bd. 1, PUF 1969, 171 f.
Journale und Journalisten
15
und der Zensur ist immer noch sehr streng, aber die öffentliche Verwaltung lernt es, sie zu umgehen. Die Veröffentlichung der Journale ist so gewinnbringend, daß die Verleger den Besitzern der Privilegien wichtige Entschädigungssummen zahlen können. Zur gleichen Zeit entstehen die ersten ,kapitalistischen' Pressegesellschaften. Das Budget des Journal étranger wird zu Beginn auf 320 000 L. pro Jahr veranschlagt 7 ; das des Mercure beträgt 52000 L. im Jahr 1778 s ; um solche Summen zusammenzubringen, ist mehr nötig als ein Buchhändler oder ein vom Autor bezahlter Schreiber. Vor allem ab 1770 vollzieht sich ein Strukturwandel der Presseunternehmen. Die Auflagen überschreiten nun oft 4000 Exemplare; die Gazette hat 1780 zwölftausend Abonnenten; der Mercure hat 1778 nicht mehr als 2000, aber unter der Leitung von Panckoucke steigt die Auflage von 2600 auf fast 7000 Exemplare 9 ; das Journal politique erscheint in 5000 Exemplaren, und die Année littéraire hat an die 10000 Leser 10 . Die Herstellungskosten betragen in dieser Zeit nur ungefähr 25 % des gesamten Gestehungspreises (Papier, Druck, Binden, Versand Inbegriffen). Man sieht, daß der schnelle Anstieg der Auflagenziffer außerordentliche Gewinne abwirft. Das erklärt die großen Spekulationen der geldanlegenden Geschäftsleute von 1770. Da das gewerbetreibende und Handels-Bürgertum daran interessiert ist, die Meinungsfreiheit und die Unternehmensfreiheit zu verteidigen, ist es nicht verwunderlich, daß die meisten großen Journale die neuen Ideen aufgreifen. Dies ist der Fall beim Journal encyclopédique, Journal de Bouillon, Journal politique, beim Courrier de l'Europe, bei der Gazette de Deux-Ponts und vielen anderen; selbst der Mercure öffnet sich unter Leitung von Marmontel (1758—1761) den neuen Ideen. Es blieben noch die sozialen Gegebenheiten zu berücksichtigen, vor allem was die Zusammensetzung der Öffentlichkeit betrifft. Zweifellos ist das Lesepublikum der Journale zum Großteil noch ein aristokratisches, aber man kann das nur durch die Abonnentenlisten feststellen, in welchen natürlich die Leser der privilegierten Schichten vertreten sind. Gegen 1750 erscheinen die Frauen als neue Rezipienten. 1748 sind 15% der Abonnenten des Mercure Frauen 1 1 ; von 1740 bis 1789 werden siebzehn Frauenzeitschriften gegründet, gegenüber einer einzigen zwischen 1700 und 1740. Diese Entwicklung hin zum öffentlichen Lesepublikum verändert ab 1770 auch den Markt, der sich nun nicht mehr ausschließlich aus Käufern und Abonnenten zusammensetzt. Nun vermehren sich die Lesekabinette und die Clubs 12 . Die Bibliotheken der höheren Lehranstalten und der Notabein (Anwälte und Ärzte) beginnen, sich der breiten Öffentlichkeit zu öffnen. Die erste französische Bibliothek, die der Öffentlichkeit zugänglich ist, ist die von Grenoble im Jahr 1774; der sie leitende Verwaltungsrat achtet zuerst auf die Fortsetzung der acht Zeitschriftenabonnements und sucht dann neue Titel zu erwerben: siebenundzwan7
Ebd. Ebd. Ebd. 10 Ebd. " Ebd. 12 Ebd. 8
9
S. S. S. S. S. S.
161 u. 203. 216. 216f. 219. 213. 161.
16
Jean Sgard
zig Titel von 1770 bis 1789 im Gegensatz zu siebzehn von 1750 bis 1770. Die Liste der ständig erneuerten Abonnements erlaubt es, die meistgelesenen Journale des Provinzialpublikums zu nennen: den Mercure, das Journal des savants, àie, Année littéraire, Aas Journal de physique, die Gazette de France, die Gazette de Hollande (aus Amsterdam), das Journal général de France, das Journal de Paris. Unter den Neuabonnements der letzten zwei Jahrzehnte ist die Anzahl der ausländischen Journale {Journal de Bruxelles, Journal de Genève), der provinzialen Journale {Journal de Lyon, — de Nancy, — de Versailles, — du Dauphiné) sowie der politischen Zeitschriften bemerkenswert, was den allgemeinen Produktionstendenzen entspricht 13 . Die Abonnements von Zeitschriften durch Bibliotheken fallen zeitlich fast immer zusammen mit dem Beginn dieser Zeitschriften, von einigen Jahren abgesehen; eine chronologische Untersuchung der Zeitschriftenbestände in den öffentlichen Bibliotheken würde den Anstieg der Zeitschriftenlektüre und die Rangfolge dieser Zeitschriften deutlich machen. Der Bestand der verfügbaren Journale ist in der Tat beträchtlich angestiegen im Laufe des Jahrhunderts, resultierend aus der Zahl neuer Titel, aber vor allem auch aus der Anzahl der langlebigen Journale. Stellt man die jeweils im Mittelpunkt jedes Jahrzehnts stehenden Jahre zusammen, erhält man folgende Statistik: Bezugs jähr 1685 1705 1715 1725 1735 1745 1755 1765 1775 1785
Laufende Journale 6 20 18 22 29 28 45 46 54 52
neue Titel 3 3 4 3 6 11 7 14 11 27
Gesamt von 9 23 22 25 35 39 52 60 65 72
Es ist offensichtlich, daß ein Leser im 18. Jahrhundert, sei er noch so anspruchsvoll und wohlhabend, nicht mehr alle verfügbaren Journale halten kann; es erfolgt eine Differenzierung nach geographischen Regionen, nach Berufen und sozialen Schichten; nur die Untersuchung der Bibliotheksbestände kann über die wirkliche Zeitschriftenlektüre Auskunft geben.
13
,Etat des livres et journaux fournis à la Bibliothèque publique . ..', in: Arch. d. Stadtbibliothek Grenoble unter den Signaturen 1785, 26/12/1787, 10/01/1789.
Journale und Journalisten
17
III. Untersuchung der Titel Nach der rein quantitativen Studie folgt nun eine qualitative, aber globale Untersuchung, die sich auf die Form und später auch die Inhalte bezieht. Ebenso, wie die .Philosophen' nicht die Zeitschrift erfunden haben, so geben sie auch nicht einer besonderen Form den Vorzug; sie haben nur die verschiedenen Arten genutzt, die ihnen die Tradition vorgab: bibliothèque savante, lettre critique, gazette, journal, etc. Diese Zeitschriftenarten sind teilweise durch ihre Bezeichnungen auf ein Genre festgelegt. In einer Literatur, die immer noch beherrscht ist durch Gattungen und feste Regeln, schließt ein Titel in der Tat einen Bereich ein, der manchmal durch ein Privileg und eine besondere Rhetorik abgedeckt ist. Deshalb ist es von Interesse, die Gesamtheit der Zeitungen nach den großen Kategorien der am häufigsten erschienenen Titel zu untersuchen und die Entwicklung jeder dieser Kategorien zu verfolgen. Dennoch ist diese Untersuchung begrenzt: außer daß der Titel Verschiedenes beinhalten kann, kommt es häufig vor, daß das Wesentliche nicht im kurzen Haupttitel, sondern im ausführlichen Titel, im Untertitel oder manchmal nur in einem Adjektiv zum Ausdruck kommt. Dennoch beinhaltet der kurze Titel eine Art Programm und eine Bezugnahme auf die Tradition; anhand der allgemeinen Aufteilung der Titel nach Jahrzehnten erhält man Hinweise auf den Erfolg der großen journalistischen Gattungen.
journal: gazette: affiche: courrier: lettres: bibliothèque: nouvelles: mercure: spectateur:
journal: gazette: affiche: courrier: lettres: bibliothèque: nouvelles: mercure: spectateur:
1610 0 0
20 0 2
30 0 1
0
0 0
3 0
3 0
0
0 0
0 1
0 2
0
0 0
1700 4 0 0 0 4 3 3 0 0
40 50 60 2 2 3 6 3 3 2
0
4 0
10 0
1 4
0 5
1
90 4 3
0
0
0
0
5
2
0
0 2
1 1
5
0 2 1
0
80 10 4
0 1
0
70
2
0 1 1
0
0
1
1 2
0
3 2
0 1 0
0
0
0
10 20 30 40 50 60 2 0 4 4 15 16 2 1 2 7 9 14 2 0 0 1 4 11 1 1 2 1 1 4 0 1 4 6 6 4 3 2 5 4 4 6 2 2 6 0 5 4 0 0 1 3 1 2 2 0 7 0 4 3 1 4
70 33 15 16 3 1
80 49 10 14 9
3 3 2
3 4 3 0
Gesamt: 154 80 48 50 40 33 36 32 19
18
Jean Sgard
Es handelt sich hierbei nur um die häufigsten Bezeichnungen; sie machen allein schon die Hälfte der Gesamtheit der Titel aus (499 von 990). Zu erwähnen wären noch die ,recueils' (19), die ,annales' (11), und die correspondances' (11), die ,observateurs' (11), die observations' (8), die ,feuilles' (9), die .amusements' (9), die ,muses' (8), die ,magazins'(7), die ,espions' (6), die ,glaneurs' (5) etc. Die neun untersuchten Titelbegriffe grenzen die üblichsten Gattungen der Information (Journal, Gazette, affiche, courrier) und die philosophischen oder literarischen Essays (lettre, bibliothèque, mercure, spectateur) voneinander ab; der Beliebtheitsgrad dieser Titel gibt uns schon einen Überblick über die großen Kategorien der Kultur des 18. Jahrhunderts 1 4 . Journal Der Ausdruck J o u r n a l ' , welcher schon sehr früh erscheint - genau nach dem Beginn des Journal des savants (1655) - bezeichnet die Zeitschriftengattung insgesamt und umfaßt verschiedene Bedeutungen, welche man analysieren kann. A m Anfang ist J o u r n a l ' das tägliche Verzeichnis der Begebenheiten, meistens nur für den Privatgebrauch. Zur Zeit der Fronde wird diese Form der chronologischen Darstellung benutzt, um jeden Tag über die außerordentlichen Ereignisse zu berichten (Krönungen, Zeremonien, Kundgebungen, Parlamentssitzungen, etc.) Aber der Titel beschränkt sich nur auf das Journal des savants, dessen Programm gänzlich verschieden war. Vielleicht handelte es sich darum, wie die Herausgeber des Avertissement von 1777 später versicherten, einen Ausdruck zu finden, welcher der Gazette keine Konkurrenz machte: der Ausdruck J o u r n a l ' erschien bescheidener, geeigneter für eine Gesellschaft von Gelehrten, die einen täglichen Bericht - monatlich zusammengefaßt - über ihre Werke zu geben wünschte. In der Tat präsentiert das Journal des savants, in der Form von Rezensionen und Auszügen, ein fast vollständiges Bild der .Literatur' im weitesten Sinne des Wortes (Geisteswissenschaften, Kunst und Technik); es hat die Form einer zusammenfassenden Bibliographie. Diese Konzeption ist in der ganzen klassischen Epoche vorherrschend. Sie ist von Natur aus enzyklopädisch; sie umfaßt alle veröffentlichten Bücher - wogegen die Gazette nur Ereignisse behandelte — und entspricht deswegen bestens dem Aufklärungszeitalter; sie verschließt sich keinem Bereich. Von 1 6 6 5 - 1 6 8 5 übt das Journal des savants aufgrund seiner Privilegien eine Art Monopol auf die,Literatur' aus ; nur die spezialisierten Zeitschriften (Geologie, Medizin, Astronomie usw.) können sich dem entziehen. Die Entwicklung des holländischen Pressewesens erlaubt die schnelle Vermehrung der Journale, die ,über alle Themen' berichten, vor allem über Geschichte, Religion und Wissenschaft. An den Grenzen nach Frankreich selbst entsteht das Journal de Verdun, welches ab 1707 auf den rätselhaften Titel Clé du Cabinet des Princes verzichtet zugunsten von Journal historique. Von 1713 an bahnt sich nach dem Modell des Journal littéraire von La Haye die schöngeistige Literatur 14
C. LABROSSE/P. RÉTAT: Les périodiques de 1734. Essai de typologie, in: Presse et Histoire au XVIIF siècle: l'année 1734. Sous la dir. de P. Rétat et J. Sgard, CNRS 1978, 17-62.
Journale und Journalisten
19
ihren Weg in das Journal. Die vielseitigen Journale nehmen immer mehr ab bis 1730; erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt sich die Titelbezeichnung in klarer Weise durch. Sie deckt nun zwei Sorten von Schriften ab: einmal die auf ein Gebiet spezialisierten Zeitschriften (Wirtschaft, Landwirtschaft, Medizin, Mode etc.), zum anderen die Zeitungen, welche allgemeine Informationen bieten, wie das Journal encyclopédique (1756) oder das Journal étranger (1755). Diese beiden Tendenzen halten sich von 1750 bis 1769 das Gleichgewicht, wonach sich das Journal mit allgemeinem Informationsniveau klar durchsetzt: die sogenannten .literarischen', .militärischen', historischen' und politischen' Journale, welche sich nach 1770 vermehren, thematisieren alle aktuellen Bereiche. Der Titel wird von den provinzialen Zeitschriften, welche ein lokales Monopol besitzen, übernommen, schließlich auch von der ersten französischen Tageszeitung, dem Journal de Paris (1777). Die Bezeichnung ,Journal' beschränkt sich jedoch nicht auf die Tageszeitung; der Ausdruck bezieht sich auf eine allgemeine und schnelle Information in allen Bereichen und an allen Orten; der beträchtliche Erfolg des Titels entspricht der methodischen Markteroberung, welche die Entwicklung der Presse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakterisiert.
Gazette Obwohl der Ausdruck früher gebraucht wurde, ist die Entwicklung dieser Gattung derjenigen des J o u r n a l ' durchaus vergleichbar. Das Wort wurde zu Anfang des 17. Jahrhunderts zur Bezeichnung eines venezianischen Geldstückes gebraucht, welches dem Preis einer plakatartigen Bekanntmachung entsprach. Théophraste Renaudot, Inhaber des Adressenbüros von Paris, erhielt 1631 das Privileg, über „Nachrichten, Gazetten und Berichte über alles, was sich ereignete und ereignet inund außerhalb des Königreiches" zu berichten; er gab seiner,Zeitung', deren Form, von den Anzeigenlisten übernommen, noch lange Zeit für eine besondere Art der Darstellung stehen wird, den Namen .Gazette'. In den Gazetten sind die Neuigkeiten einfach nach der Reihenfolge ihres Ursprungs aufgereiht und ohne Kommentare oder Übergang nebeneinandergestellt. Sie behalten den rein informativen Charakter eines Börsenberichts, der holländischen .córente' oder der Aushänge im Adressenbüro. Durch ihren offiziellen Charakter, ihre gute literarische Aufmachung und ihr regelmäßiges Erscheinen verhalf die Gazette dieser modernen Gattung zum Durchbruch und stand Modell für die erste Presseagentur. Ihr Privileg verhindert lange Zeit, daß ihr Beispiel Nachahmung findet; die wenigen Gazetten, welche in Toulouse, in Metz und in Grenoble im 17. Jahrhundert erscheinen, sind bloße Nachdrucke der Pariser Ausgabe, mit lokalen Nachrichten und Anzeigen angereichert. In Holland, England und der Schweiz dagegen vermehren sich die Gazetten 1 6 5 0 - 1 7 0 0 ; unter ihnen befinden sich regelrechte Institutionen' wie die Gazetten von Brüssel, La Haye, Amsterdam oder Rotterdam. Von 1740 an verbreitet sich die Bezeichnung dann in ganz Europa, aber eher im Ausland als in Frankreich: von 55 Gazetten, welche zwischen 1740 und 1789 erschienen, wurden 36 im Ausland und
20
Jean Sgard
19 in Frankreich veröffentlicht. Man stellt gleichzeitig wie beim J o u r n a l ' fest, daß zu den allgemeinen Neuigkeits-Gazetten spezialisierte Gazetten hinzutreten; so erscheinen nun Handels-Gazetten (1737, 1763) literarische Gazetten (1743, 1764, 1777), medizinische Gazetten (1761); in den 1770er Jahren schließlich Gazetten für schöne Künste, für Gerichtswesen, für Landwirtschaft usw. Die Gazetten mit allgemeiner Information erscheinen vor allem an den Orten, die bislang keine eigene Zeitschrift hatten: in Köln (1740), Stockholm (1742), Erfurt (1751), Wien (1757), Altona (1760) und in den entlegensten Orten, die im Gefolge des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges wirtschaftlichen Aufschwung und politische Unruhen erleben: Santo Domingo, Île-Bourbon, Guadeloupe. Mehr noch als das .Journal' bezeugt die,Gazette' den Durchbruch der Presse ab 1760 und ihre Bedeutung für die politische Macht.
Affiches Die ,affiches, annonces et avis divers', gleichfalls aus den Adressenbüros entstanden, bilden eine besondere Gruppe. Während die Gazetten, meist aus dem Ausland oder den europäischen Fürstenhöfen kommend, Nachrichtenblätter waren, betreffen die .Affiches' vor allem das örtliche Tagesgeschehen, und ihr Anstieg ist ein Zeichen dafür, daß die Presse auch in die französischen Provinzen vordringt: unter 48 .Affiches' wurden nur 3 außerhalb von Frankreich veröffentlicht. Obwohl die Adressenbüros seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts existierten, waren die Veröffentlichungen der .Affiches' lange vom Privileg der Gazette behindert; so erklärt sich das Scheitern von Colletet (Journal de la Ville de Paris, 1676) und von Du Gone ( A f fiches de Paris, 1716). Erst seit dem Beginn der Affiches de Paris von 1751 ist eine außerordentlich schnelle Vermehrung der provinzialen ,Affiches' zu verzeichnen. Innerhalb von vierzig Jahren zählt man nicht weniger als 45 neue .Affiches', und manchmal verdoppelte sich ihre Zahl sogar von einem Jahrzehnt zum anderen. Diese Lokalzeitungen, von einem Buchhändler oder Drucker verlegt, haben sicherlich eine niedrige Auflage und unsichere Existenzbedingungen, aber das Gesamtphänomen ist deswegen nicht weniger aufschlußreich. In wenigen Jahren entsteht in den Provinzen, welche bis dahin nur auf die Lektüre von Nach- und Raubdrucken der Pariser Journale angewiesen waren, eine eigene Presse. Die ,Affiches' sind wie die Gazetten bloße Aufreihungen von Informationen, aber sie unterrichten auch über das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben einer Region; was bei den Gazetten fehlte. Die .Affiches' informieren ihre Leser über veröffentlichte Bücher, Theatertourneen, literarische und politische Streitfragen, über das Leben der Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften und tragen so bei zur Bildung eines unabhängigen Geistes in der Öffentlichkeit. Die Journale', ,Gazetten' und ,Affiches' bilden eine Gruppe von Informationszeitschriften, deren Form und Entwicklung vergleichbar ist. Man könnte hier auch die .courriers' anschließen, wenn ihre Aufmachung nicht von einem Jahrhundert zum anderen gänzlich verschieden wäre: zwischen den .Courriers' der Fronde und dem Courrier de l'Europe, der diese Titel-
Journale und Journalisten
21
bezeichnung in Umlauf bringt, gibt es kaum einen Zusammenhang, außer der beidseitigen Bemühung um Schnelligkeit und politische Aktualität. Der Informationszeitschrift, welche im allgemeinen in einer unpersönlichen Form, wie eine Nachrichtensammlung redigiert ist, steht das Kultur journal gegenüber, das wir heute,Revue' nennen würden. In diese zweite Gruppe werden die ,bibliothèques' und die .lettres' eingeordnet, aber auch der größte Teil der ,spectateurs', ,mercures' und selbst die ,nouvelles' ; dabei sind wir uns bewußt, daß diese Zweiteilung nur ganz allgemein gilt. Bibliothèque Der Ausdruck ,bibliothèque' wurde vor dem Auftreten des Pressewesens für die bibliographies savantes' benutzt. Man stellt fest, daß Prosper Marchand in seinem Dictionnaire historique (1748) unter dem Eintrag ,bibliothèque' keinen bedeutsamen Unterschied zwischen der .bibliographie savante' und dem Journal savant' macht. Die Idee einer periodischen und zusätzlichen ,bibliothèque' ist in den ersten akademischen Veröffentlichungen zu finden, teilweise auch im Journal des savants. In seiner Histoire des journaux (1734) hat Camusat mit Nachdruck den Entwurf eines literarischen Journalismus verteidigt, der auf den Vorstellungen von Selektion, bibliographischer Identifikation, Klassifizierung und historischer Kritik basiert 15 . Die ,bibliothèque choisie', auf die sich die Exil-Protestanten (Bayle, Le Clerc, Basnage) spezialisierten, war eher ein bibliographischer als ein ideologischer Führer. Denn die Protestanten wollten ihren Gegnern mit intellektueller Aufrichtigkeit und stichhaltiger Kritik entgegentreten, wie es einst die Jansenisten getan hatten. Der Erfolg der .bibliothèques' von Bayle, Le Clerc, Basnage, Beauval und La Croze hat diese Gattung, die während der ganzen ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr geschätzt wird, fest eingebürgert. In dieser Zeit verbreiten sich die großen bibliographischen Zeitschriften in allen Ländern Europas, und es erscheinen englische (1717), deutsche (1720), französische (1723), italienische (1728), belgische (1731) und britische (1731),Bibliotheken', gefolgt von den .nouvelles bibliothèques' in den 1750er Jahren. Viele Zeitschriften, die nicht diese Bezeichnung trugen, übernahmen dennoch deren Form und Methoden, wie das Journal des savants oder die Mémoires de Trévoux. Die Form des Auszugs, der Rezension oder des Vergleichs von Werken zum selben Thema kann als eine der charakteristischsten geistigen Ausdrucksformen des Zeitalters der Aufklärung gelten. Jansenisten und Jesuiten, Protestanten und Freidenker haben mit der gleichen Leidenschaft die bibliographische Forschung, das Quellenstudium und die Textkritik betrieben. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts tritt die Titelbezeichnung immer seltener auf; die ,Bibliographie' tendiert zur Spezialisierung und man findet ,Bibliotheken' für das Militärwesen, Physik, Wirtschaft und die Damen der Gesellschaft. Andererseits weitet sich der Auszug aus zur detaillierten Zusammenfassung und schließlich bis zur Textantholo15
J. SGARD: D. F. Camusat et ΓHistoire des journaux, in: L'Etude des périodiques anciens . . . Colloque . . ., pubi, par M.C. Coupérus, Paris 1973, 32-58.
22
Jean Sgard
gie. Gewiß erhebt der klassische Journalist oft den Anspruch, seinem Leser den Kauf des Buches, welches er bespricht, zu ersparen; doch bietet sich die Presse als das beste Mittel an, die anschwellende Bücherflut zu filtern und zu kanalisieren; in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber nimmt der Trend hin zu einer detaillierten Zusammenfassung gegenüber der kritischen Besprechung zu. Die Grenze zwischen den periodisch fortgesetzten Textsammlungen und Sammlungen wie den .bibliothèques de campagne' oder anderen Sammlungen verkürzter Texte ist nun kaum noch wahrnehmbar: die Bibliothèque des dames und die Bibliothèque universelle des romans sind Zeitschriften nur noch aufgrund ihres Publikationsrhythmus, ihres Gespürs für den Zeitgeschmack und manchmal eines gewissen Bemühens um bibliographische Auswahl. In Wahrheit wird die .Wissenschaftliche Bibliothek' immer mehr zu einer populären Sammlung, und das ist nicht der uninteressanteste Aspekt ihrer Entwicklung. Lettres Mit den ,Lettres' bleiben wir im Gebiet der Literatur. Die ersten .Lettres' waren Chroniken oder historische Berichte, und oft wird der Ausdruck durch ein Adjektiv ergänzt (.historisch', .politisch'), welches eine Sinnveränderung herbeiführt. Aber in ihrer Blütezeit bedeutet die,lettre' ein ganz persönlicher und literarisch journalistischer Stil. Sie setzt sich am Ende der Régence durch, unter dem Einfluß der Journale von Steele und Addison und der Lettres persanes von Montesquieu. Alle großen Journalisten des Jahrzehnts 1730-1739 (Marivaux, Prévost, Desfontaines und d'Argens) versuchten sich in den .Lettres', selbst wenn der Titel ihres Journals nicht einmal den Ausdruck enthält. Im Gegensatz zu den bisher besprochenen Zeitschriften wird die .Lettre' in einer persönlichen Form redigiert, manchmal sogar vom Redakteur unterschrieben; sie wendet sich an einen fiktiven Korrespondenten; die Darstellung ist zusammenhängend, innerlich verknüpft und kreist um ein einziges Thema; wenn die .Lettre' nacheinander mehrere Fragen erörtert oder mehrere Werke bespricht, dienen die Gegensätze, Parallelen und Übergänge dazu, den Zusammenhang des Diskurses herzustellen. Die literarische Gestaltung und der Stil sind hier also von größter Wichtigkeit. Während das .Journal', die,Gazette' und die ,Affiche' meist Gemeinschaftswerke waren, manifestiert sich in der,Lettre' ein persönlicher Journalismus, der sich offen als solcher bekennt. Die ,Briefform', welche den Journalismus seit den ersten,Courriers' der Fronde geprägt hatte, erweitert sich hier zu einem moralischen, literarischen und bald auch philosophischen Diskurs. Man findet sie wieder in den persönlichen Erzählungen, die einem ,glaneur', ,espion', .observateur' oder .spectateur' beigelegt sind. Gleichwohl bleibt die .Lettre' eng angelehnt an die .correspondance' oder dem .Courrier' verbunden: Bezeichnungen, die oft in der Mitte des 18. Jahrhunderts den Ausdruck ,Lettre' ersetzen. Darin kommt die direkte Einmischung des Journalisten in den aktuellen Kommentar zum Ausdruck.
Journale und Journalisten
23
Spectateur Die .spectateurs', welche auch in Briefform gehalten sind, unterscheiden sich von der,Lettre' durch die Eigenart des Erzählers und ihr Thema - nämlich die Sitten und Lebensgewohnheiten. Nach dem Spectateur von Steele und Addison (1712) und dem Spectateur français von Marivaux (1724) erscheint ein neuer Journalistentyp, unabhängig, philosophisch, der begeistert für die .Menschlichkeit' eintritt und seinen Lesern durch Humor und ein geheimes Einverständnis verbunden ist. Sein Gebiet ist das tägliche Leben, über das er ohne Ordnung und anspruchslos berichtet; sein Ziel ist es, sich selbst zu erkennen und seine Eindrücke von der Welt in möglichst originellem Stil zu schildern 16 . Es existieren nicht weniger als achtzehn spectateurs' oder ,nouveaux spectateurs' im 18. Jahrhundert in Frankreich. Man würde auf eine größere Anzahl kommen, würde man noch alle diejenigen Zeitschriften hinzurechnen, die einer fiktiven oder symbolischen Person zugeschrieben werden: ,discoureurs', .babillards', Autoren der .bigarrures' und der .amusements': in Holland konnte man bis zu 78 Stück zählen. Diese Art des .Briefjournals', redigiert von einem fiktiven Erzähler, der eine persönliche Erfahrung schildert, was man sowohl romanhaft wie auch journalistisch nennen kann, kennzeichnet schon an und für sich den Rokoko-Einschlag im Stil der Aufklärungspresse. Die Untersuchung der Titel stellt nur einen globalen, teilweise willkürlichen Ansatz dar. Oft betont ein Beiwort die paradoxe Wahl eines Titels ; dies wird ersichtlich beim Journal des savants, welches auf ganz neue Weise eine geringwertige Form des einfachen Informationsjournals mit einem hohen wissenschaftlichen Anspruch verbindet. Dasselbe ließe sich für den Mercure galant zeigen: die ersten ,mercures' (Mercure français von J.Richer, Mercure allemand, Mercure anglais) waren große historische und politische Revuen, die jährlich oder monatlich einen zusammenfassenden Überblick über das aktuelle Zeitgeschehen gaben. Der Mercure galant von Donneau de Visé (1672), der an einen Bericht über das Hofleben einige ,histoires amoureuses' und .nouvelles galantes', eine Komödienkritik und ,livres de galanterie' anschließt, trägt die Bezeichnung ,mercure' nur noch als Parodie; unter diesem doppeldeutigen Titel findet man erstaunlicherweise die erste literarische Revue, die sich an die große Öffentlichkeit wendet. Trotz dieser Abweichungen kann man anhand der am häufigsten benutzten Bezeichnungen, Normen, Tendenzen und Moden der damaligen Zeit herauskristallisieren. Eine häufigkeitsstatistische Zusammenstellung für je fünfzig Jahre macht das schon deutlich: Von 1610 bis 1650 erscheinen sukzessiv die ersten .mercures' und .courriers', dann folgen die ,Gazetten' und .Journale' ; von 1650 bis 1700 schieben sich die Informationszeitschriften (.Journal', .Gazette', .lettres historiques' und .courriers') mit gro16
M. GILOT: Les Journaux de Marivaux: itinéraire moral et accomplissement esthétique, vol. 1-2, Lille/Paris 1974, hier vol. 2, S. 766-781 (Les feuilles deSpectateurs) u. S. 874-880 (Liste des Spectateurs français, 1721-1800); s. a. aufgrund einer sehr viel weiteren Gattungsdefinition die Liste bisher übersehener in Holland erschienener Zeitschriften bei P. J. BUIJNNSTERS, Liste des périodiques rédigés selon le modèle des Spectateurs, in: L'Etude des péridiques anciens [s. Anm. 15], 111-120.
24
Jean Sgard
1 6 0 0 - 1649 courrier: 20 mercure: 12 gazette: 6 journal: 2 nouvelle: 1
1 6 5 0 - 1699 journal: 25 gazette: 14 lettre: 11 courrier: 8 nouvelle: 8 mercure: 6
1700-1749 bibliothèque: 18 nouvelle: 16 lettre: 15 14 journal: gazette: 12 11 spectateur: mercure: 5
1 7 5 0 - 1789 journal: 113 gazette: 48 affiche: 45 17 courrier: 14 bibliothèque: 14 lettre: nouvelle: 11 mercure: 9 spectateur: 6
ßem Abstand vor die .nouvelles' und ,mercures' in die oberen Positionen; die Literatur erreicht ihren Höhepunkt von 1700 bis 1750 mit den .bibliothèques', .nouvelles littéraires', .lettres critiques' und .spectateurs'. Von 1750 bis 1789 weitet sich die Informationspresse, sei sie nun von allgemeinem Charakter oder spezialisiert, außergewöhnlich aus. Dies kommt zum Ausdruck in der Rückkehr zu den traditionellen Titeln für Informationen, welche den Namen der Stadt, des Publikationslandes oder ihr Spezialthema als Zusatz führen. Aber nur eine Untersuchung der vollständigen Titel würde Aufschluß geben über plötzliche Bewegungen, wie das Auftreten einer Frauenpresse in den Jahren 1745-1780, der Musikpresse gegen Ende des 17. und 18. Jahrhunderts sowie der medizinischen Fachpresse zwischen 1760 und 1789. Doch sind für die Inhaltsanalyse andere Methoden ergiebiger.
IV. Inhaltsanalyse Die Zeitschriftentitel kündigen nur ein Programm an, von dem man nie weiß, ob es erfüllt wird. Um den wirklichen Inhalt der Journale und deren Darstellung von der Kultur einer Epoche zu erkennen, wären umfangreiche Forschungen nötig. Einige Sondierungen, die seit einem Jahrzehnt durchgeführt werden, lassen die Ergebnisse einer solchen Untersuchung vorausahnen. Durch die Studie von J. Ehrard und J. Roger wissen wir, daß der Inhalt zweier Zeitschriften offiziellen Charakters wie der Mémoires de Trévoux (MT) und des Journal des Savants (JS), die für die chronologischen Querschnitte 1715-1719 und 1750-1754 ausgewertet wurden, nicht entfernt die großen Massen der Buchproduktion widerspiegelt, wie die gleichzeitigen Anträge auf Druckprivilegien bezeugen 1 7 : Die Theologie ist selbst in dem offiziellen Organ des Katholizismus viel weniger vertreten, während die Geschichte darin einen viel größeren Platz einnimmt, nämlich etwa ein Viertel der besprochenen Titel im Journal des savants und mehr als ein Drittel in den Mémoires de Trévoux, obwohl auf dieses Gebiet 1715 bis 1719 nur 13 % der Anträge auf ein Druckprivileg entfallen. Für die Zeit von 1750 bis 1754 macht der Querschnitt ein Nachlassen der Theo17
J. EHRARD/J. ROGER: Deux périodiques français du 18S siècle: 1 e Journal des Savants et les Mémoires de Trévoux. Essai d'une étude quantitative, in: Livre et société dans la France du XVIIIe siècle, 1.1, Mouton 1965, 3 3 - 5 9 .
Journale und Journalisten
25
logie und eine relative Stabilität der Geschichte, eine Z u n a h m e der Naturwissenschaften (von 1 9 , 8 % auf 2 5 , 3 % f ü r das JS, von 13,9% auf 1 6 , 8 % f ü r die MT) u n d besonders der Mathematik, eine starke Z u n a h m e der Technik von (2,7 % auf 6,5 % f ü r das JS, von 3,5 % auf 5 % für die MT) und vor allem der politischen Ö k o n o m i e ' deutlich 1 8 . J. Wagner hat das verglichen mit den Ergebnissen einer Auswertung des Mercure f ü r die Zeit von 1725 bis 1730, wobei er von der Zahl der besprochenen Bücher ausgeht 1 9 . Die großen Fachgebiete teilen sich prozentual wie folgt auf: Königliches Druckprivileg 1723-1727 34% 5,3% 13,6% 18% 29%
Sachgebiete
Mémoires
de T.
Theologie Recht Geschichte Wiss. u. Künste Schöne Literatur
1715-1719 -11,6% - 1,6% +16,4% + 5,8% - 10%
Journal des S. 1715-1719 -15,4% + 3,4% + 9,3% +11,1% - 9%
Mercure 1725-1730 -26,22% - 1,4% - 0,9% + 7,27% + 16,68%
Diese Aufstellung läßt die Eigenart des Mercure gegenüber zwei großen Journalen e r k e n n e n : sein Mißtrauen gegen die Theologie, und seine Spezialisierung bestätigt sich mit der Zeit und eilt dem A n g e b o t des französischen Buchhandels voraus. Von 1725 bis 1760 erweitert sich der der Belletristik gewidmete D r u c k r a u m im Mercure von 49,77 % auf 54,99 % des Gesamtumfangs und zwar auf Kosten von Recht ( A b sinken von 4 , 7 7 % auf 0 , 4 5 % ) , Theologie (von 2 , 3 2 % auf 1,07%) und Geschichte (von 1 6 , 9 5 % a u f 1 1 , 3 6 % ) . M e h r noch als die großen offiziellen Journale bevorzugt der Mercure von Marmontel die Sparte ,Kunst und Wissenschaft', aber innerhalb dieses Gebietes besonders die Politik, welche von 3,73 % auf 18,45 % steigt, und die Agronomie, welche von 0 , 7 2 % auf 1 3 , 8 3 % zunimmt. Indem er die Verteilung des gesamten Druckraumes, die ungefähr dem Leserinteresse entspricht, und die Verteilung aller besprochenen Buchtitel, welche gleichsam die vom ,Mercure' ausgewählte ,Bibliothek' darstellen, voneinander unterschied, konnte J. Wagner zeigen, daß diese Entwicklung einen starken Druck der Öffentlichkeit spiegelt. Diese A n a lyse bezieht sich indessen auf eine streng kontrollierte, offizielle Zeitschrift, die tendenziell die französische Kulturwelt stabilisiert. Eine vergleichbare Untersuchung aller,Bibliotheken' der Zeitschriften würde noch beweiskräftiger sein. Eine solche E r h e b u n g wurde f ü r zwanzig Zeitschriften des Jahres 1734 u n t e r n o m m e n . Die gesamte ,Bibliothek' dieser Periodika (bibliothèque totale des périodiques = Β. T. P.) besteht aus 1309 besprochenen Werken und setzt sich wie folgt zusammen: Theologie: 2 5 % Belletristik: 19,7% Kunst und Wissenschaft: 2 1 , 2 % Geschichte: 2 5 % 18 19
Recht: 8,2 Prozent 2 0 .
Ebd. S. 41, 50, 51f. J. WAGNER: Marmontel journaliste et le Mercure de France, PUG 1975,54; ebd. S. 39 ff. zur Unterscheidung zwischen .Bibliothek der Leser', .Bibliothek des Mercure', .Bibliothek des Autors' und variierendem Angebot.
26
Jean Sgard
In allen Journalen, mit Ausnahme der Bibliothèque britannique und der Nouvelles ecclésiastiques, ist der der Theologie zugedachte Raum geringer als das Angebot. Nach der B. T. P. ist die Geschichte immer in der Überzahl (Anstieg von + 33 % auf + 44%) und erscheint als die dominierende Kategorie; Wissenschaften und Künste sind stark vertreten, und immer mehr die exakten Wissenschaften. Immer noch bezogen auf die B. T. P. überwiegt die Belletristik (von 12,6 % auf 35 %) jedoch öfter in der holländischen als in der französischen Presse 21 . Letztlich scheint die Aufteilung der Disziplinen in der Gesamtheit dieser zwanzig Zeitungen zusammenhängender, als man erwartet hätte: die Presse erscheint immer als ein Abbild der Öffentlichkeit. Die Journale unterteilen sich in die zwei großen Kategorien der Information und des Wissens, aber man sieht, daß sich in beiden eine Art allgemeiner Diskurs über das Ereignis heranbildet, gleichgültig ob es sich um einen Krieg, eine tägliche Berichterstattung über einzelne Vorkommnisse oder eine bloße Jahreschronik handelt 22 . Darin liegt der Wert dieser chronologischen Querschnittuntersuchungen; ob es sich um das Jahr 1734,1768 oder 1778 handelt 23 , man sieht förmlich den Austausch der Informationen, der Ideen und der Kommentare. Wenn man einfach die gesamten Kommentare verfolgt, welche die Publikation eines Buches oder ein Ereignis, wie zum Beispiel diejenigen, die den zwei Monate zurückliegenden Tod von Voltaire und Rousseau begleiten 24 , erkennt man, wie ein kollektiver Diskurs entsteht, der durch eine gleichartige Rhetorik geprägt und auf ein- und dasselbe Publikum zugeschnitten ist. Aber werden wir je wissen, wie sich dieses Publikum zusammensetzte?
Y. Soziologie der Journalisten Wir wissen nicht, wer die Journale las. Die Analyse der Subskribenten- und Abonnentenlisten, der Nachlaßinventare oder der Kataloge von Privatbibliotheken unterrichten uns nur über den reichsten Teil der Leser. Dafür können wir die Zusammensetzung der sozialen Gruppe der Journalisten etwas besser erkennen. Durch seine Mittlerfunktion zwischen politischer Macht und Öffentlichkeit, durch die kollektiven Bedingungen des Zeitschriftenmachens spiegelt der Journalist zum Teil das 20
21 22
23
24
Etude quantitative des périodiques de 1734, in: Presse et Histoire [s. Anm. 14], S. 63—126, bes. S. 110 ff. zu den .masses bibliographiques". Ebd. S. 113, 114 u. 119. M . G I L O T / M . F. L U N A : Une année du X V I I I E siècle, in: ebd. S. 139-198 (mit Hilfe .historischer Angaben' von L. Trénard, G . Luciani, D. Barbaro Damato, M . Launay u. M . T . Bourez); s. a. R . F A V R E / J . S G A R D / F . W E I L : Le fait divers, in: ebd. S . 1 9 9 - 2 2 5 . Diese synchronen Querschnitte folgen den Methoden, die das Pariser Centre d'Etude du 17e et du 18e siècle entwickelt hat. Zum Jahr 1768 vgl. die Computer-Ausdrucke: L'Année 1768 à travers la presse traitée par ordinateur. Listings prés, par P A U L E J A N S E N , vol. 1—4 (auteurs, ouvrages, thèmes), CNRS 1977-1978. Zum Jahre 1778 vgl. den im Juli 1978 beim Internationalen Kolloquium über Voltaire und Rousseau in Paris vorgetragenen Vorbericht von P. J A N S E N / F . M O U R E A U / S . VAN D I J K : L'événement, 1ER mai - 31 août 1778, in: RHLF 79 (1979), 233-243. J. SGARD: Morts parallèles, in: Dix-huitième Siècle 11 (1979), 15-26. H . D U R A N T O N / R . FAVRE/C. LABROSSE/P. RÉTAT:
Journale und Journalisten
27
Milieu wider, an das er sich wendet. Mangels genauer Kenntnis des Lesermilieus können wir also nur versuchen, die soziale Zugehörigkeit der Zeitschriftenredakteure zu bestimmen. Ein kürzlich veröffentlichtes biographisches Journalistenlexikon erlaubt uns, den ,Paß' von 450 Journalisten auszustellen 25 . Für 370 unter ihnen sind die Angaben vollständig. Man erfährt soziale Herkunft, die Funktion oder den Beruf, die Religion, die Aufenthaltsorte, das Ausbildungsniveau und die kulturelle Spezialisierung des Schriftstellers. Durch die Zusammenstellung dieser verschiedenen Merkmale in Zeitabschnitten lassen sich einige Hinweise auf die Zusammensetzung und die Entwicklung der sozialen Gruppe der Journalisten gewinnen. Die Zeitabschnitte fallen ungleich aus, jedoch mußten wir eine Einteilung wählen, die sich ungefähr mit dem Aufkommen neuer Journalistengenerationen deckt; gleichwohl mußte ein Journalist ziemlich willkürlich einem Zeitabschnitt zugeordnet werden, sobald der größte Teil seines Werkes in ihn fällt. Die folgenden Angaben über Entwicklungen in Prozenten bleiben daher grob, selbst wenn man sich auf die Prozentziffern über zehn beschränkt. Aus den sieben Rubriken unserer Tabelle sind folgende Tatsachen zu erkennen: 1. Die Zahl der Journalisten in jedem Abschnitt ist im ganzen proportional der Produktion. Man erkennt jedoch Abweichungen, die nicht den anonymen Journalen zugeschrieben werden können. Von 1600 bis 1685 zählt man 23 Journalisten für 141 Zeitschriftentitel; von 1685 bis 1750, 134 Journalisten für 308 Titel; von 1750 bis 1789,188 Journalisten für 541 Titel. Das bedeutet im Schnitt einen Journalisten für 6 Titel im 17. Jahrhundert, einen Journalisten für 2 Titel zu Anfang des 18. Jahrhunderts, und 1 für nahezu 3 Artikel am Ende des 18. Jahrhunderts. Zwar wissen wir mehr über die Identität der Journalisten, je weiter wir in das Jahrhundert vordringen; nichtsdestoweniger ist die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Stabilität des Berufs gekennzeichnet; man wird hier im Verhältnis weniger Journalisten treffen, die bei mehreren Journalen gearbeitet haben; dagegen findet man mehr Redaktionsgruppen, die über mehrere Jahre hinaus konstant bleiben. 2. Die soziale Zugehörigkeit der Journalisten ist uns von 263 unter ihnen bekannt, das heißt für 71 % der Gesamtheit; wir können annehmen, daß die 107 unbekannten Journalisten eher aus den unteren Schichten kamen. Man stellt fest, daß die Aristokratie relativ gleichmäßig von einer Epoche zur anderen (15 bis 20%) vertreten ist; daß die Bourgeoisie erwartungsgemäß immer mehr vertreten ist. Aristokraten und Bürgerliche stellen zusammen fast den ganzen Journalistenbestand am Vorabend der Revolution, zu einer Zeit, in der die Journalisten anonymer und unbekannter Herkunft langsam verschwinden. 3. Bei den Funktionen der Journalisten dominieren zwei Kategorien, die Geistlichen und die Schriftsteller, die von ihrer Feder leben. Jede dieser Kategorien repräsentiert etwa 20% des gesamten Korpus. Die Geistlichen sind vor allem in den Jahren 1685 bis 1750 vertreten, jedoch ist hier der Anteil der Religionen von gewis25
Dictionnaire des journalistes (1600-1789), sous la dir. de J. SGARD, avec la collab. de M. Gilot et F. Weil, PUG 1976. Die Auswertung der Kartei besorgten M. Gilot u. J. Sgard.
28
Jean Sgard
tΜ ι οο „ „ O
σ> αο I
ρ- ρΠ Λ Φ Ο so fr> ^Η ^Η
£ 00 κ
so o\ r j I o
II II II II
I Ό (Ν
eses -Η VO ^ (Ν »ο ι-η so ρ-Γ rtnnn II II II II
Γ-
ιο
ci w Ν 't
6*- ci->
^ c cCCTS Il II m (S
3 u 3 0
3l
Ο ^ Ν O
Γ-* ^t >
3 Η
u S=
β
cd
5 's ·ο Λ
¿
>¡3 Ο
α) >
S
13
S
>>>
N r t H O O M X O N l n Î ' n M O ^ c N i o c s c ^ ^ H i o c s i n r ^ c o ^ H i / i ^ o c s i-Η CS m
W
ιO
I It
Û^ Î h It Π (Ν
V
S-M
Β O
•S
υ c "ω 00 α cd ϊc ΐ ΐ IH o O O
y
£ c B O S
S
i
ON O
ω
s
s
S
CA Β a 3 3 0
3 υ
c g
ï
S
Ï
R à
c
^
-
• SP 5> e p . ; a .g
f ï . 1o ' iS .S2 s
g
g .s tS ouí
s
E 5 . 2! ο
-m c H t n N H l o l f ì ^ c n M
ü
-s
i - s cd u ooí o oí
σ\ to
CS
Β
c
3
I
?
S 3
U a
•S
s a s .s s e s •β
o