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German Pages 394 [395] Year 2018
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Nivedita Prasad (Hrsg.)
Soziale Arbeit mit Geflüchteten
Rassismuskritisch, professionell, menschenrechtsorientiert
Verlag Barbara Budrich Opladen & Toronto 2018
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte vorbehalten. © 2018 Verlag Barbara Budrich, Opladen & Toronto www.budrich-verlag.de utb-Bandnr. 4851 utb-ISBN 978-3-8252-4851-2 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Lektorat: Dr. Andrea Lassalle, Berlin – andrealassalle.de Satz: Ulrike Weingärtner, Gründau – [email protected] Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck: Friedrich Pustet KG, Regensburg Printed in Germany
Inhalt
Statt einer Einführung: Menschenrechtsbasierte, professionelle und rassismuskritische Soziale Arbeit mit Geflüchteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lebensbedingungen von Geflüchteten Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Nivedita Prasad
Andrea Würdinger
Leben im Rahmen des Asylverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Marei Pelzer
Leben unter dem AsylbLG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Zülfukar Çetin
Politik der Zivilisierungsmission im Zusammenhang von Homophobie und Sexismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Besonders vulnerable Geflüchtete Astride Velho
Trauma als Konzept der Diagnose, Verdeckung und Skandalisierung in der Sozialen Arbeit im Kontext Flucht – rassismuskritische und menschenrechtliche Perspektiven . . . . . . . . .
97
Heiner Thiele
Kindeswohl und Flucht. Minderjährige Geflüchtete als vulnerable Gruppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
Diane Izabiliza im Interview mit Mohammed Jouni
„Ich muss eine politische Haltung haben, ich muss verstehen, dass meine Arbeit dadurch geprägt wird, dass Leute strukturell benachteiligt werden.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134
Josefine Heilmann & Swantje Köbsell
Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147
Heike Rabe
167
Juliane Kampf
Die Rolle von Frauenhäusern bei der Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen – Zugang und Barrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
Silvia Oitner & Nivedita Prasad
Menschenhandel und Flucht: Herausforderungen für die Soziale Arbeit mit Geflüchteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198
Professionelle Soziale Arbeit mit Geflüchteten Claus Melter
Soziale Arbeit zwischen zuschreibenden Kulturalisierungen und einer diskriminierungs- und rassismuskritischen Migrationspädagogik sowie der Orientierung an der Integrität jedes Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Daniel Bendix
Migration und globale Ungleichheit – Perspektiven aus dem Geflüchtetenaktivismus in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Sebastian Muy
Mandatswidrige Aufträge an Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
260
Ulrike Eichinger & Barbara Schäuble
Gestalten unter unmöglichen Bedingungen? Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
274
Christiane Wahl
Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit in Unterkünften für Geflüchtete . . . . . . . . . . . . . . . . . .
300
Henrike Janssen & Katharina Ohletz
317
Marco Wille
Zusammenarbeit mit Sprachmittler*innen in der Betreuung von „unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten“. . . . . . . . . . . . . . . . Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Die Umsetzung des Menschenrechts auf wirksame Beschwerde für Geflüchtete (in Gemeinschaftsunterkünften) . . . . . . .
330
Ausblick: Ziviler Ungehorsam und Innovative Praxen Miriam Burzlaff & Naemi Eifler
Kritisch intervenieren!? Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit – oder aber: Was ist der ‚weiße Kittel‘ Sozialer Arbeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
Maxi Obexer
Ziviler Ungehorsam: Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
366
Aktivist*innen-Kollektiv Erszebeth Szabo
Refugee Konvoi – Schienenersatzverkehr als ziviler Ungehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
370
Urte Böhm, Elène Misbach, Silvia Oitner & Bettina Völter
alice solidarisch an der Alice Salomon Hochschule Berlin: Von einer innovativen Praxis zu sozialen Innovationen? . . . . . . . . . . .
373
Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
391
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Nivedita Prasad
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Statt einer Einführung: Menschenrechtsbasierte, professionelle und rassismuskritische Soziale Arbeit mit Geflüchteten Menschenrechtsbasierte, professionelle und rassismuskritische Soziale Arbeit mit Geflüchteten. Was genau heißt das? Soziale Arbeit in Deutschland ist eng verbunden mit dem Thema Flucht, zum einen, weil einige ihrer Pionier_innen – wie z. B. Alice Salomon – selbst zu Geflüchteten gemacht wurden, zum anderen aber auch, weil Soziale Arbeit im Kontext von Flucht immer schon eine wichtige Rolle gespielt hat und noch spielt. Während in den 1980er und 90er Jahren Sozialarbeitende (in Deutschland) vereinzelt an Orten tätig waren, an denen Geflüchtete lebten, dürften sie heute regelmäßig Teil der Infrastruktur für Geflüchtete sein. Mit dieser zweischneidigen Präsenz arbeiten Sozialarbeitende in einem Feld, in dem sie sehr schnell (und häufig unbemerkt) zu Handlanger_innen des Staates werden können, wo nur der Staat/Arbeitgeber_ innen als Auftraggeber erscheint bzw. wo ihre Verstrickung in Inklusions-/Exklusionsordnungen der nationalstaatlichen und europäischen Flüchtlingspolitik (Scherr 2016: 9) sehr deutlich werden kann. Dies ist besorgniserregend und eröffnet Raum für Diskussionen über Konzepte, aber auch Mindeststandards Sozialer Arbeit, die nicht zuletzt dafür sorgen sollen, dass Sozialarbeitende mit der ihnen übertragenen Macht verantwortungsvoll und sorgfältig umgehen, um beispielsweise die Frage des Mandats sorgfältig abzuwägen.
Mandatsverständnis Sozialer Arbeit mit Geflüchteten Selbst Mandate, welche von Arbeitgeber_innen und Klient_innen (Doppelmandat) kommen, haben eine eher limitierte Wirkungskraft und können die Handlungsspielräume von Sozialarbeitenden erheblich einschränken, insbesondere dann, wenn das Mandat vonseiten der Klient_innen im Widerspruch zum Auftrag des Staates/Auftraggebenden steht. Einer menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit, die das Sich-Einsetzen für Rechte einschließt, dürfte ein Doppelmandatsverständnis Sozialer Arbeit nicht ausreichen. 2007 schrieb
Nivedita Prasad
Staub-Bernasconi erstmals von einem Tripelmandat, das dem allbekannten Doppelmandat der Sozialen Arbeit ein drittes Mandat hinzufügt:
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„Eine Profession hat ein weiteres, drittes Mandat und zwar seitens der Profession; dieses wiederum hat zwei Komponenten: wissenschaftliche Fundierung der Methoden – speziellen Handlungstheorien – […] und zum anderen besteht das dritte Mandat aus dem Ethikkodex, den sich die Profession unabhängig von externen Einflüssen gibt und auch seine Einhaltung kontrolliert, kontrollieren sollte“ (Staub-Bernasconi 2007: 12f.).
Wichtig ist natürlich, dass das dritte Mandat nicht im Widerspruch zu dem Mandat der_des Klient_in stehen kann – mit der Ausnahme, dass es um die Gefährdung Dritter (z. B. von Kindern oder anderer vulnerabler Gruppen) geht –, wohl aber deutlich vom Mandat des Arbeitgebenden abweichen kann. Eine Orientierung am Tripelmandat kann dazu dienen, mandatswidrige Forderungen abzulehnen oder aber eigene Mandate zu definieren, sofern diese im Sinne der Adressat_innen sind.
Menschenrechte: Bezugnahme auf der Ebene der Profession Soziale Arbeit hat eine Geschichte der Bezugnahme auf die Menschenrechte, die Staub-Bernasconi bis zu Jane Addams im Jahre 1902 zurückverfolgt hat (Staub-Bernasconi im Erscheinen); sie weist nach, dass die Idee der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession historisch von vielen Wegbereiter_innen weiterentwickelt wurde und wird. 1988 hielt die International Federation of Social Workers (IFSW 1988) fest, dass Soziale Arbeit von ihrer Grundkonzeption her eine Menschenrechtsprofession sei, und gab 1994 mit der UN ein Manual zu Sozialer Arbeit und Menschenrechten heraus (vgl. Vereinte Nationen 1997 [1994]). In der Zwischenzeit kann diese Tradition auf eine Großzahl von weiteren Kern- bzw. Bezugsdokumenten1 zurückgreifen, die keinen Zweifel daran lassen, dass die Bezugnahme auf international vereinbarte Menschenrechte – und nicht auf nationales Recht – keineswegs eine Frage des Beliebens, sondern ein Fundament einer als Profession verstandenen Sozialen Arbeit ist. 1 IASSW und IFSW (2004): Ethics in Social Work. Adelaide; für eine deutsche Übersetzung siehe: Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. (DBSH): Grundlagen für die Arbeit des DBSH, Berlin, 2009; IASSW und IFSW (2004a): Global standards for the education and training of the Social work profession, Adelhaide; International Federation of Social Workers, Europe: Standards in Social work practice meeting human rights (2010); IASSW/IFSW und ICSW: Global agenda (2010); IASSW/IFWS/ICSW (2012): Global Agenda for Social Work and Social Development; IASSW und IFSW (2014): Globale Definition Soziale Arbeit.
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Statt einer Einführung
Auch lassen diese Dokumente keinen Zweifel daran, dass Soziale Arbeit neben dem Mandat zur individuellen Unterstützung auch ein Mandat für strukturelle Veränderung hat.
Neben der Bezugnahme auf der Ebene der Profession wendet ein Verständnis von Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession Menschenrechte auf verschiedenen Ebenen an, so z. B. auf der Ebene der Analyse. Dies kann sinnvoll sein, beispielsweise Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Menschenrechte als Analyseinstrument/ Argumentationsstütze
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um die Lebenssituation einer vulnerablen Gruppe zu evaluieren; als Orientierung, wenn es darum geht, bestimmte Mandate anzunehmen oder zu verweigern;2 als Entscheidungshilfe, um einen Auftrag als legitim3 (wenn auch nicht legal) einzustufen; im Umgang mit Dilemmata; um die eigene Argumentation zu stärken.
Die Allgemeine4 Erklärung der Menschenrechte (AEMR) beinhaltet 26 Menschenrechte, von denen 24 in UN-Konventionen kodifiziert worden sind. Damit sind diese – sofern Staaten sie und die entsprechenden Zusatzprotokolle ratifizieren – justiziabel, da sie auch Beschwerde- und Überwachungsmechanismen beinhalten. Beschämenderweise muss aber festgestellt werden, dass eines der zwei Rechte, die niemals in ein bindendes UN-Dokument überführt wurden, das Recht auf Asyl (Art. 14.1. AEMR) ist. Die Implikation dieses Versäumnisses ist, dass Geflüchtete zwar gegen erlebte Menschenrechtsverletzungen im Herkunfts-, Transit- und/oder Zielland vorgehen können, aber ein Recht auf Asyl an sich nicht einklagen können. Sozialarbeitende, die erstmals in die Praxis gehen, bringen häufig ihre Empörung zum Ausdruck, wenn sie mit den Lebensbedingungen ihrer Adressat_innen konfrontiert sind. Diese Empörung über die beobachteten Missstände bekommt eine deutlich stärkere Aussagekraft, wenn sie unter menschenrechtlichen Vorgaben analysiert wird. Es wird dann sehr deutlich, dass es sich hierbei nicht „nur“ um „Missstände“ handelt, sondern um systematische 2 Siehe hierzu den Beitrag von Muy in dieser Publikation. 3 Siehe hierzu die Beiträge von Obexer und den Aktivist*innen des Kollektivs Erszebeth Szabo in dieser Publikation. 4 Im englischen Original die universelle und nicht allgemeine Erklärung der Menschenrechte!
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Nivedita Prasad
Menschenrechtsverletzungen in einem Land, welches vorgibt, Menschenrechte einzuhalten. Als Analyseinstrumente können hierbei folgende UN-Konventionen gelten: •
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Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt oder ICESCR); Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt oder ICCPR); Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (CERD); Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT); Übereinkommen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW); Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC); Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (ICRMW)5; Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD); Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED).
Im Folgenden wird die Lebenssituation von Geflüchteten, die sich noch im Asylverfahren befinden, dargestellt bzw. wird mit dem menschenrechtlichen Schutz, den die Vereinten Nationen vorschreiben, verglichen. In diesem Kontext werden deutliche und zum Teil auch massive Menschenrechtsverletzungen im Inland sichtbar, die darlegen, dass eine rein individuelle Unterstützung von Geflüchteten nicht ausreichen kann, um diese Probleme anzugehen. Wichtig ist zunächst, sich daran zu erinnern, dass Menschenrechte nur an eine einzige Eigenschaft geknüpft sind – nämlich die des Menschseins, sodass natürlich alle Menschenrechte auch für geflüchtete Menschen gelten. Spieß hebt hervor, dass „nur die Rechte, die ihrem Wortlaut nach auf bestimmte Personengruppen beschränkt sind, nicht für alle auf dem Staatsgebiet lebenden Menschen gelten“ (Spieß 2007: 38).
5 Nicht von der BRD ratifiziert.
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Statt einer Einführung
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Recht auf adäquate Unterbringung und Lebensstandard vs. Leben in Gemeinschaftsunterkünften6 Artikel 11 des Sozialpakts fordert Staaten auf, anzuerkennen, dass alle Menschen ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard haben. Hierzu gehören ausreichende Ernährung, Bekleidung und Unterbringung. Dass das Recht auf adäquate Unterbringung und Lebensstandard deutlich mehr als nur „Bed, Bread and Bath“ bedeutet, macht das UN-Habitat deutlich, in dem darauf hingewiesen wird, dass eine Unterkunft als nicht adäquat gelten kann, wenn sie keine physische Sicherheit oder angemessenen Raum garantieren kann. Das Gleiche gilt bei Schutz gegen Kälte, Feuchtigkeit, Wind und andere Gesundheitsgefährdungen. Auch wird eine Unterbringung als nicht adäquat eingestuft, wenn sie an einem Ort liegt, der von Arbeitsmöglichkeiten, Gesundheitsdiensten, Schulen, Kinderschutzzentren und anderen sozialen Einrichtungen abgeschnitten ist (vgl. UN-Habitat o. J.: 4). Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, müssen in eine Gemeinschaftsunterkunft ziehen, sobald sie ihren Antrag stellen. Sie werden nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel in der gesamten BRD verteilt und haben lediglich Anspruch auf Zusammenführung mit ihrer Kernfamilie;7 die Ausgestaltung vieler dieser Unterkünfte gibt Anlass zur Sorge, dass sie als nicht adäquat gewertet werden können. In seiner letzten Überprüfung Deutschlands bringt der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte seine Sorge über Asylsuchende zum Ausdruck, u. a. weil sie in unzulänglichem und überbelegtem Wohnraum leben (vgl. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2011: Abs. 13). Der ehemalige Menschenrechtskommissar des Europarates kam sogar zu dem Ergebnis, dass „der Langzeitaufenthalt von Asylsuchenden in wohnheimähnlichen Gemeinschaftsunterkünften in Mehrbettzimmern deren Wohlbefinden abträglich ist“ (Europarat 2007: Abs. 140). Diese Sorgen beziehen sich auf das Leben in Gemeinschaftsunterkünften. Die Standards der Unterbringungen in Erstaufnahmeeinrichtungen sind häufig noch schlechter; hier leben Menschen in Turnhallen, Hangars etc. Dennoch wurde die Verweildauer in Erstaufnahmeeinrichtungen 2015 von drei auf sechs Monate erhöht. Für Menschen aus Ländern, die nun zu sicheren Herkunftsstaaten deklariert wurden, kann diese Dauer deutlich länger sein, denn sie müssen während ihres gesamten Asylverfahrens in einer Erstaufnahmeeinrichtung verbleiben. Damit Geflüchtete in Deutschland menschenrechtskonform untergebracht werden, müssen laut dem Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) verbindliche Mindeststandards für Aufnahmeeinrichtungen geschaffen, durchgesetzt und 6 Siehe hierzu die Beiträge von Eichinger/Schäuble und Wahl in dieser Publikation. 7 Zur rechtlichen Grundlage des Asylverfahrens siehe den Beitrag von Würdinger in dieser Publikation.
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regelmäßig überprüft werden (vgl. DIMR 2016: 66). Neben der Überprüfung von außen müssten – gemäß dem Menschenrecht auf wirksame Beschwerde8 – Möglichkeiten für Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften geschaffen werden, die ihnen eine Beschwerdeeinreichung effektiv bieten. Das DIMR weist aber gleichzeitig darauf hin, dass „ein Großteil der Länder die Betreiber von Unterkünften nicht zur Einführung eines Beschwerdemanagements (Berlin, Hamburg, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) verpflichtet“ (ebd.: 71f.). Auch die spezifische Situation von Frauen, die entweder alleine oder mit ihren Kindern reisen und in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, gibt Anlass zu menschenrechtlichen Bedenken. Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend wies bereits 2013 darauf hin, dass es keine Seltenheit zu sein scheint, dass geflüchtete Frauen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Nivedita Prasad
„auch psychische, physische und sexualisierte Übergriffe und Grenzverletzungen durch professionelle Helferinnen und Helfer und Beratungs-/Betreuungspersonen in den Wohn- und Übergangsheimen, in Ämtern, Behörden und Hilfseinrichtungen erleben, auf deren Hilfe und Unterstützung die Frauen in besonderer Weise angewiesen sind“ (vgl. Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013: 25).
Neben Übergriffen vonseiten professioneller Helfer_innen müsste auch untersucht werden, inwiefern Gefahren von Ehrenamtler_innen ausgehen. Hierzu gibt es bislang keine Untersuchungen, wohl aber Einzelne, die dieses Phänomen thematisieren, so z. B. im Rahmen der biografischen Lecture Performance „Denken was Tomorrow“ (Nguyen o. J.), in der über sexuelle Übergriffen vonseiten eines Ehrenamtlers gesprochen wird. Ebenso berichtet die Organisation Women in Exile, dass es immer wieder Versuche gibt, – vor allen Dingen alleinreisende – Mädchen und Frauen für Menschenhandel9 zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung aus Gemeinschaftsunterkünften zu rekrutieren. Neben der Möglichkeit der Viktimisierung durch Außenstehende sind geflüchtete Frauen natürlich auch gefährdet, (sexualisierte) Gewalt durch Familienangehörige zu erleben. Auch hier ist über das Ausmaß nicht viel bekannt – aber Einzelfälle geben Anlass, über Schutzpflichten in Unterkünften nachzudenken.10 Was die Situation von Kindern in Gemeinschaftsunterkünften angeht, so ist auch hier natürlich die Schutzpflicht von Bedeutung, aber ebenso das Recht von Kindern auf Ruhe, Freizeit und Spiel. Wie dieses Recht in einer Gemein 8 Siehe hierzu den Beitrag von Janssen/Ohletz in dieser Publikation. 9 Siehe hierzu den Beitrag von Oitner/Prasad in dieser Publikation. 10 Zu Gewaltschutz in Gemeinschaftsunterkünften siehe den Beitrag von Rabe in dieser Publikation.
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Statt einer Einführung
schaftsunterkunft zumindest ansatzweise in Anspruch genommen werden kann, ist eine Herausforderung, vor der viele Sozialarbeitende stehen. Karakayali u. a. weisen darauf hin, dass die Tatsache, dass Kinder monatelange in Sammelunterkünften untergebracht werden, auch von Lehrer_innen thematisiert wird. Das Fehlen von Rückzugsräumen und Privatsphäre und der Schlafmangel aufgrund des Lärmpegels äußern sich in der Schule in Aggressionen, Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten (vgl. Karakayali u. a. 2016: 5). Neben den Bedenken bezüglich der Wohnsituation von Geflüchteten ist der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auch besorgt über die Tatsache, dass Asylsuchende keine ausreichenden Sozialleistungen erhalten (vgl. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2011: Abs. 13), und fordert die Bundesrepublik auf, „ dafür zu sorgen, dass Asylbewerber in Bezug auf den Zugang zu beitragsunabhängigen sozialen Sicherungssystemen, zur Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt Gleichbehandlung genießen“ (ebd.). Auch der UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung weist darauf hin, dass der beschränkte Zugang zu Sozialleistungen und sozialen Diensten (auf Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes) unvereinbar ist mit der UN-Antirassismus-Konvention (vgl. Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung 2015: Abs. 18). Trotz der Äußerungen von UN-Ausschüssen, deren Kompetenz die Bundesregierung durch Ratifikation anerkannt hat, hat die Bundesregierung im Oktober 2015 beschlossen, dass Geflüchtete in einer Erstaufnahmeeinrichtung kein Geld mehr erhalten sollen. Damit werden nicht nur die Stellungnahmen der UN, sondern auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 ignoriert, in dem darauf hingewiesen wurde, dass „die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren ist“ (Bundesverfassungsgericht 2012: Randnote 95). Das Gericht stellte damals fest, dass zum einen „die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes evident unzureichend ist“ (ebd. Randnote 43). Zum anderen erinnert das Urteil daran, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Menschenrecht ist, welches sowohl „die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst“ (ebd. Randnote 64). Auch kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass eine pauschale Differenzierung nach Aufenthaltstitel nicht zulässig sei (ebd. Randnote 73).
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Nivedita Prasad
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Recht auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit vs. Asylbewerberleistungsgesetz Die WHO definiert Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, sondern als einen Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens; entsprechend ist im Artikel 12 des Sozialpakts die Rede vom Recht auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit. Zusätzlich verbrieft ist dieses Recht für Kinder in Artikel 24 der Kinderrechtskonvention, für Menschen mit Behinderung11 in Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention. Daher ist es nur folgerichtig, dass sich mehrere Ausschüsse über die gesundheitliche Versorgung von Asylsuchenden besorgt äußern (vgl. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2011: Abs. 13, Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2015: Abs. 47 und Ausschuss für die Rechte des Kindes 2014: Abs. 56b). Der Antifolterausschuss spezifiziert diese Sorgen, indem er darauf hinweist, dass „es in einigen Ländern kein Verfahren dafür gibt, besonders schutzbedürftige Asylbewerber, wie beispielsweise traumatisierte12 Flüchtlinge oder unbegleitete Minderjährige, zu erkennen, da bei der Ankunft in der Gewahrsamseinrichtung – abgesehen von Tuberkulosetests – keine medizinischen Untersuchungen und keine systematischen Überprüfungen auf psychische Erkrankungen oder Traumatisierungen vorgeschrieben sind“ (CAT/C/DEU/CO/5: Abs. 24).
Trotz dieser wiederholten Äußerungen diverser UN-Gremien unterstehen Asylsuchende – weiterhin zumindest in den ersten 15 Monaten – dem Asylbewerberleistungsgesetz13, mit der Konsequenz, dass nur akute oder schmerzverursachende Krankheiten behandelt werden. Neben der Verfügbarkeit des Gesundheitsangebots ist auch der Zugang zu Gesundheitsleistungen erschwert. Nach wie vor ist dieser in einigen Bundesländern über Krankenscheine geregelt, die vor jedem Arztbesuch beantragt werden müssen. Eine adäquate Gesundheitsversorgung in Notfällen ist dadurch kaum möglich. Auch ist die Qualität der Angebote – hier insbesondere die monolinguale Ausrichtung der Gesundheitsversorgung – ein Faktor, der es Geflüchteten erschwert, „ein Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ auch nur annährend zu erreichen. Zu klären wäre, ob die obligatorischen Röntgenaufnahmen bei Asylantragstellung oder Altersfeststellungen nicht an sich schon einen Eingriff in das Recht auf Gesundheit darstellen. Ebenso müssten die gesundheitlichen Auswirkungen von Gemeinschaftsunterkünften mehr untersucht werden. 11 Zur Intersektion Flucht und Behinderung siehe den Beitrag von Heilmann/Köbsell in dieser Publikation. 12 Siehe hierzu den Beitrag von Velho in dieser Publikation. 13 Siehe hierzu den Beitrag von Pelzer in dieser Publikation.
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Recht auf innerstaatliche Freizügigkeit vs. Wohnsitzauflagen Artikel 12 des Zivilpakts garantiert allen Menschen, die sich rechtmäßig in einem Land aufhalten, das Recht auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit. Viele UN-Ausschüsse brachten wiederholt ihre Sorge darüber zum Ausdruck, dass Asylbewerber_innen in ihrer Bewegungsfreiheit gesetzlich eingeschränkt sind. Im Dezember 2014 wurde die sogenannte Residenzpflicht für Asylsuchende abgeschafft, um sie im Oktober 2015 wieder einzuführen. Seither unterliegen Geflüchtete – sofern sie in Erstaufnahmeeinrichtungen leben – der Residenzpflicht, d. h. ihr Aufenthalt ist auf den Bezirk „ihrer“ Ausländerbehörde reduziert; diesen dürfen sie nicht ohne Erlaubnis verlassen. Für Geflüchtete aus Ländern, die zu sicheren Herkunftsstaaten deklariert wurden, heißt dies, dass sie für die Dauer ihres Verfahrens der Residenzpflicht unterliegen. Eine Einhaltung dieser Regelung setzt allerdings voraus, dass Geflüchtete wissen, bis wohin der Bezirk der Ausländerbehörde reicht: eine Voraussetzung, die wohl die wenigsten Neuankömmlinge erfüllen können. Ein besonderes Problem stellt die Residenzpflicht dar, wenn sie eine Wegweisung eines Gewalttäters oder den Umzug einer von Gewalt Betroffenen beispielsweise in ein Frauenhaus verhindert. Rabe weist aber darauf hin, dass „Ausländerbehörden zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt Ausnahmen von der Residenzpflicht zulassen und Wohnsitzauflagen auf eine andere Unterkunft, Stadt oder Region umschreiben können“ (Rabe 2015: 13). Eine weitere Verschärfung schränkt das Recht auf innerstaatliche Freizügigkeit für anerkannte Geflüchtete zusätzlich ein – ein Novum, da bisherige Wohnsitzauflagen ausschließlich für Geflüchtete galten, die sich im Asylverfahren befanden: Seit Juli 2016 müssen nunmehr bereits anerkannte Geflüchtete ihren Wohnsitz in dem Bundesland beibehalten, dem sie nach Ankunft zugewiesen wurden, sofern sie in einem erheblichen Maß auf finanzielle Unterstützung des Staates angewiesen sind (§ 12 a Aufenthaltsgesetz).
Recht auf Bildung vs. „Willkommensklassen“ Das Recht auf Bildung ist zunächst in Artikel 13 des Sozialpakts festgeschrieben; zusätzlich ist es für Kinder in Artikel 28 der Kinderrechtskonvention und für Menschen mit Behinderung in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention verbrieft. Sozialarbeitende verbringen einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeitszeit damit, das Menschenrecht auf Bildung für geflüchtete Kinder umzusetzen: Sie suchen beispielsweise Schulplätze, überzeugen Schulen/ Kitas, dass eine Aufnahme auch ohne Deutschkenntnisse möglich ist, suchen 17
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Nivedita Prasad
Übersetzer_innen für die ärztliche Untersuchung. In der Praxis stehen viele Geflüchtete aber vor dem Problem, dass ihre Kinder häufig erst nach Monaten eingeschult werden, oft erst nachdem die Familien eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben. Eine Beschulung in Erstaufnahmeeinrichtungen hängt davon ab, in welchem Bundesland sich diese befindet. Das DIMR weist darauf hin, dass einzig in Berlin, Bremen, Hamburg, dem Saarland und Schleswig-Holstein die Schulpflicht ab Ankunft in der Erstaufnahmeeinrichtung gilt. In den anderen Bundesländern betragen die Fristen bis zu sechs Monate (vgl. DIMR 2016: 70). Diejenigen, die beschult werden, kommen häufig in sogenannte „Willkommensklassen“. Sowohl eine Untersuchung von Karakayali u. a. (2016) als auch Schwenkel (2016) legt nahe, dass die Qualität des Angebots deutlich abweicht von der Qualität der Schulangebote für nicht geflüchtete Kinder. Besonders problematisch erscheint: • • • • • •
die sehr hohe Fluktuation in den Klassen; räumliche Separierung und schlechtere Räume; kein einheitliches Curriculum; Qualifikation und Anzahl der Lehrkräfte; vermehrter Unterrichtsausfall; wenig Geld für Lehr- und Lernmaterial.
Auch ist problematisch, dass Kinder in Willkommensklassen vorwiegend nur Deutsch lernen; der Unterricht in anderen Fächern findet häufig erst wieder statt, wenn die Kinder in regulären Klassen sind. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte formulierte in Bezug auf das Recht auf Bildung 1999 Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Recht als umgesetzt gelten kann. Der Ausschuss geht danach davon aus, dass Mittel für die Umsetzung des Rechts auf Bildung „available, accessible, acceptable und adaptable“ (vgl. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1999: Abs. 6) sein müssen. Hieraus erwächst die Verpflichtung der Staaten, dafür zu sorgen, dass funktionierende Bildungsinstitutionen und Programme für alle Menschen zur Verfügung stehen müssen, die sowohl physisch als auch ökonomisch und diskriminierungsfrei zugänglich sind. Die Annehmbarkeit umfasst den Inhalt der Lehre, der für alle akzeptabel sein muss, und schließlich soll die Adaptierbarkeit garantieren, dass die Lehre flexibel genug ist, sich den Anforderungen sich verändernder Gesellschaften anzupassen (vgl. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1999: Abs. 6). Dieses Schema auf die Realitäten von geflüchteten Kindern und ihr Recht auf Bildung zu übertragen, macht sehr schnell deutlich, dass hier eine
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Geflüchtete Kinder Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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große Diskrepanz zwischen der deutschen Umsetzung und den menschenrechtlichen Vorgaben besteht. Für Jugendliche, die zehn Jahre lang eine Schule besucht haben, ist eine weitere Beschulung nur sehr schwer möglich; Ähnliches gilt für Ausbildungsplätze oder Studienplätze14. Hier sind künftig Bildungsträger_innen gefragt, darüber nachzudenken, wie Zugänge geschaffen oder bereits bestehende Zugänge so erweitert werden können, dass auch Geflüchtete ihr Recht auf Bildung umfassend in Anspruch nehmen können.15
Auch wenn sich nicht alle Ausschüsse explizit zu Kindern äußern, so ist klar, dass die Mindeststandards, die definiert werden, für alle Menschen und damit selbstverständlich auch für Kinder gelten. Der Kinderrechtsauschuss hingegen ist fokussiert auf die spezifischen Belange von Kindern. So geht er z. B. davon aus, dass der Grundsatz des Kindeswohls in Deutschland16 noch nicht vollständig in der Bundesgesetzgebung aufgenommen worden ist. Dieser wird – so der Ausschuss – insbesondere „gegenüber Kindern aus bildungsfernen und sozioökonomisch benachteiligten Familien einschließlich Flüchtlingskinder und asylsuchende Kinder häufig missachtet“ (Ausschusses für die Rechte des Kindes 2014: Abs. 26). Für geflüchtete Kinder sind zudem besonders Artikel 8 und 10 der Kinderrechtskonvention von Bedeutung. In Artikel 8.1. verpflichten sich Staaten, das Recht des Kindes zu achten, seine Identität, einschließlich seiner Staatsangehörigkeit, seines Namens und seiner gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen ohne rechtswidrige Eingriffe zu behalten. Der Kinderrechtsausschuss ist aber über die Probleme bei Geburtenregistrierung von Kindern von Geflüchteten in Deutschland besorgt und fordert die Bundesregierung auf, „geeignete Maßnahmen zu ergreifen um sicherzustellen, dass die Geburtenregistrierung schnellstmöglich für alle Kinder unabhängig von der Rechtsstellung bzw. der Herkunft ihrer Eltern möglich ist“ (ebd. Abs. 29). Hintergrund dieser Sorge ist die Tatsache, dass es Probleme bei der Registrierung von Kindern gibt, deren Eltern nicht über die nötigen Papiere verfügen. Eine fehlende Nichtregistrierung stellt die Eltern vor größere Hindernisse und beraubt die Kinder faktisch der Möglichkeit, viele ihrer Menschenrechte (Recht auf Gesundheit, Recht auf Bildung etc.) in Anspruch zu nehmen. Auch macht eine Nichtregistrierung die Kinder vulnerabler für Kinderhandel. 14 Siehe hierzu das Interview von Diane Izabiliza mit Mohammend Jouni in dieser Publikation. 15 Siehe hierzu den Beitrag von Böhm/Misbach/Oitner/Völter in dieser Publikation. 16 Siehe hierzu den Beitrag von Thiele in dieser Publikation.
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Unbegleitete minderjährige Geflüchtete In Bezug auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete äußert sich der Kinderrechtsausschuss zum Verfahren der Altersfeststellung und geht davon aus, dass dies in der BRD auch „herabwürdigende und erniedrigende Praktiken umfassen kann und zudem keine verlässlichen Ergebnisse liefert“ (ebd.: Abs. 68b). Daher fordert er die Bundesregierung auf, „sicherzustellen, dass das bei asylsuchenden Kindern und Flüchtlingskindern angewandte Verfahren der Altersfeststellung auf wissenschaftlich gesicherten Methoden beruht und dabei die Würde des Kindes vollständig gewahrt bleibt“ (ebd.: Abs. 69 b). Artikel 10.1. der Kinderrechtskonvention verpflichtet Staaten, zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise wohlwollend, human und beschleunigt zu bearbeiten. Die bis März 2018 geltende Aussetzung des Familiennachzugs ist mit dieser menschenrechtlichen Verpflichtung kaum im Einklang zu bringen. Neben all diesen dargestellten Menschenrechtsverletzungen wäre zu prüfen, inwiefern einzelne Komponenten der Unterbringungs- und Lebenssituation, denen Asylsuchende unterworfen werden, so gravierend sind, dass sie als inhuman oder erniedrigend – im Sinne der Antifolterkonvention – beschrieben werden könnten (vgl. McAdam 2014: 208). Dies könnte z. B. der Fall sein, wenn Menschen über Monate hinweg in Turnhallen, Baumärkten, Zelten oder ehemaligen Flughafengebäuden untergebracht werden und/oder von ihren Familien getrennt leben müssen.
Menschenrechtsverletzungen in der Sozialen Arbeit Zivilgesellschaftlichen Akteur_innen wie z. B. Sozialarbeitenden fällt es häufig leicht, Menschenrechtsverletzungen des Staates anzuprangern und zu thematisieren. Es herrscht allerdings ein eigentümliches Schweigen, wenn es darum geht, eigene Versäumnisse bzw. Beteiligung an Verletzungen von (Menschen-) Rechten zu reflektieren. Eine seltene Ausnahme sind die Stellungnahmen, die beispielsweise eine mögliche Beteiligung von Sozialarbeitenden an Handlungen, die zu einer Abschiebung von Klient_innen führten, im Kontext von Menschenrechtsverletzungen analysierten – und damit selbstverständlich ablehnen (Initiative Hochschullehrender 2016, Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit, München 2017 und Leinenbach 2017) – oder aber deutlich machten, dass eine umfassende unabhängige Beratung in diesem Kontext unabdingbar ist (vgl. DGSA Vorstand 2017). Während die Menschenrechtsrelevanz im Kontext von Abschiebungen auf den ersten Blick erkennbar ist, ist dies im Zusammenhang von Diskriminie20
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rung(en) nicht immer der Fall. Diskriminierungen, die auf Hautfarbe/Herkunft, Gender und/oder körperliche Fähigkeiten etc. basieren, sind selbstverständlich nicht kompatibel mit einer menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit, weil dies zum einen der Grunddefinition Sozialer Arbeit und zum anderen allen Menschenrechtsdokumenten widersprechen würde. Wichtig dabei ist, dass Diskriminierung nicht nur die beabsichtigte, sondern auch die unbeabsichtigte bzw. indirekte Diskriminierung umfasst, hierbei geht es um scheinbar neutrale Kriterien, die aber de facto eine Gruppe überproportional betreffen. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn Deutschkenntnisse17 und/oder die Fähigkeit, zu laufen, Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer Beratung sind. Rassifizierende18 und missionarische Praxen in kolonialer Kontinuität19 in der Sozialen Arbeit sind ein Thema, welches in der akademischen Welt vor allen Dingen im Kontext der kritischen Migrationsforschung Beachtung findet; die Umsetzung dieser Erkenntnisse in der Praxis ist häufig defizitär. Ebenso geben selbstgewählte Ein- und Ausschlüsse Anlass zur Sorge, denn es ist kaum nachvollziehbar, warum Einrichtungen wie z. B. Frauenhäuser ihr Angebot nicht selbstverständlich allen (und damit auch den Nicht-Deutschsprachigen und/oder denjenigen mit einem prekärem Aufenthaltsstatus20) zur Verfügung stellen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, sich daran zu erinnern, dass Staaten zwar verpflichtet sind, angemessene finanzielle und personelle Mittel für geeignete Umsetzung, z. B. für Gewaltschutz, zur Verfügung zu stellen; sie können hierbei aber einen Teil ihrer Verpflichtung an nichtstaatliche Organisationen und die Zivilgesellschaft abgeben (vgl. Europarat 2011: Artikel 8). Dadurch erhalten diese die Macht, zu entscheiden, wie sie beispielsweise ihre Angebote gestalten, wen sie implizit oder explizit ausschließen. So kann die Verweigerung einer Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel oder eines Frauenhauses, Frauen im Asylverfahren trotz vorhandener Kapazitäten aufzunehmen, auch als eine Beteiligung an Verletzung der Schutzrechte der betroffenen Frauen gewertet werden. Auch stellt sich die Frage, inwiefern ein solches Verhalten kompatibel ist mit dem internationalen ethischen Kodex der Sozialen Arbeit, welcher Sozialarbeitende verpflichtet, Ressourcen gerecht zu verteilen und sicherzustellen, dass „die Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, den Bedürfnissen entsprechend gerecht verteilt werden“ (IASSW/IFSW 2004: Pkt. 4.2.3).
17 Zur Zusammenarbeit mit Sprachmittler_innen siehe den Beitrag von Wille in dieser Publikation. 18 Siehe hierzu den Beitrag von Melter in dieser Publikation. 19 Siehe hierzu die Beiträge von Bendix und Çetin in dieser Publikation. 20 Siehe hierzu den Beitrag von Kampf in dieser Publikation.
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Nutzung des UN-Menschenrechtsschutzsystems für/mit Klient_innen Eine weitere Säule des Verständnisses von Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession ist die aktive und passive Nutzung des UN-Menschenrechtsschutzsystems. Dieses sieht fünf Möglichkeiten der Beschwerdeeinreichung vor: Schattenberichtsverfahren, Individualbeschwerdeverfahren, Untersuchungsverfahren, die Anrufung von Sonderberichterstatter_innen und die Beteiligung am Universal-Periodic-Review-Verfahren (vgl. Hüfner/Sieberns/Weiß 2012; Prasad 2011). Die Verfahren unterscheiden sich deutlich, sowohl was die Effektivität angeht als auch was die Hürden der Beteiligung betrifft. So nimmt die Beteiligung am Berichtsverfahren eher wenig Zeit in Anspruch und kann auch neben oder in der alltäglichen Arbeit geleistet werden. Die hier eingereichten Informationen können auch in Forschungsprojekten im Studium gesammelt werden – wie beispielsweise im Rahmen der letzten Berichterstattung zur Umsetzung des Sozialpakts in Deutschland, in der Studierende des deutschsprachigen Masterprogramms: Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession Erkenntnisse zu Armut im Rahmen eines Forschungsprojektes sammelten und in den Bericht einspeisten (vgl. WSK-Allianz 2011). Während sich Schattenberichte eher dafür eignen, strukturelle Defizite aufzuzeigen, ohne dass eine betroffene Person ihre Identität preisgeben muss, bietet die Individualbeschwerde die Möglichkeit der Klärung eines Einzelfalls durch einen UN-Ausschuss. Personen, die der Ansicht sind, dass ihre – durch eine UN-Konvention geschützten – Menschenrechte verletzt wurden, haben so die Möglichkeit, sich nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs bei dem entsprechenden Ausschuss zu beschweren. Die Initiierung einer eigenen Einzelfallbeschwerde ist sehr ressourcen- und zeitintensiv; bei Beschwerdeführer_innen mit prekärem Aufenthaltstitel bleibt sie ohnehin eine theoretische Option, denn die Bereitschaft, gegen einen Staat vorzugehen, von dem gerade Schutz beantragt wird, dürfte eher gering sein. So ist hier die passive Nutzung der Beschwerden gegen andere Staaten möglich, denn die Ergebnisse anderer Prüfungen können bei vergleichbarer Fallkonstellation vielfältig in der Praxis genutzt werden. Sie können Argumentationshilfen, Machtmittel, aber auch eine Ressource sein, die zum Empowerment beitragen kann.
Menschenrechte als Orientierungs- und Referenzrahmen Die Notwendigkeit von Menschenrechten als Referenzrahmen im Umgang mit mandatswidrigen Forderungen und/oder Dilemmata in der Sozialen Ar22
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beit wird deutlich, wenn Sozialarbeitende sich mit Forderungen seitens der Arbeitgeber_innen konfrontiert sehen, die weder mandatskompatibel21 noch menschenrechtskonform sind. Dies ist z. B. der Fall, wenn Sozialarbeitende vorübergehende Abwesenheiten von Bewohner_innen ihrer Einrichtungen an Behörden „weitermelden“, mit der Folge, dass diesen die Sozialleistungen gekürzt werden können, oder der Anordnung Folge leisten, nur Kinder „mit Bleibeperspektive“ zu beschulen. Eine solche Praxis kann auch als Beteiligung an der Verletzung des Menschenrechts auf adäquaten Lebensstandard – wie in Artikel 11 bzw. Artikel 13 (Recht auf Bildung) des Sozialpakts definiert – verstanden werden. In einem anderen Fall, wo Sozialarbeitende dafür sorgen sollen, dass junge Männer einer bestimmten Herkunft weniger Eier essen dürfen sollen als andere, um eine vermeintliche Übersexualisierung[!] vorzubeugen22, braucht es keine kodifizierten Rechte; hier dürfte der Hinweis auf die Würde von Menschen, die über alle Menschenrechte steht, zur Orientierung ausreichen. Auch können Vorgaben von Arbeitgeber_innen und/oder Geldgeber_innen, die den Kern professioneller Sozialer Arbeit betreffen – wie in etwa die Drohung des Entzugs der finanziellen Förderung, wenn sie Geflüchtete umfassend über ihre Rechte im Kontext von Abschiebung beraten (vgl. Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit München 2017) –, Professionelle mit ihrer Haltung zu solchen Praxen konfrontieren23. Besonders schwer kann eine Entscheidung diesbezüglich sein, wenn die verlangte Praxis rechtskonform ist oder erscheint. Forst weist darauf hin, dass, wenn sich Recht und Gerechtigkeit zu weit voneinander entfernen, sich eine Diskrepanz zwischen Legalität und Legitimität24 auftut; es entsteht so ein Pflichtenkonflikt: einerseits ungerechten Gesetzen Folge leisten zu sollen, andererseits jedoch gravierende Ungerechtigkeit nicht hinnehmen zu dürfen (vgl. Forst 1998: 201). Den Eindruck, dass Recht und Gerechtigkeit sich immer mehr voneinander entfernen, dürften viele haben, die im Bereich Flucht und Asyl tätig sind; dieser wird bestätigt durch den Vergleich des nationalen Rechts mit den (zum Teil ignorierten) Vorgaben in den Menschenrechten. Die Antwort auf diese Realität dürfte reichen von überzeugter Akzeptanz der Vorgaben, unhinterfragtem Gehorsam, Gehorsam aus der (Zeit-)Not heraus, stillem Widerstand, zivilem Ungehorsam25 und öffentlichem Skandalisieren.
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Siehe hierzu Beitrag von Muy in dieser Publikation. Dieses Beispiel wurde mir von einer Mitarbeiterin eines Trägers in Berlin berichtet. Siehe hierzu Beitrag von Burzlaff/Eifler in dieser Publikation. Siehe hierzu Beitrag von Obexer in dieser Publikation. Siehe hierzu Beitrag des Aktivist*innen-Kollektivs Erszebeth Szabo in dieser Publikation.
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Widerständige Praxen (in der Sozialen Arbeit) Es gibt Berichte aus der Praxis, die nahelegen, dass widerständige Praxen auch in der Sozialen Arbeit stattfinden; es bleibt jedoch das Problem, dass sie nicht ohne Weiteres öffentlich diskutiert werden können, weil dies sowohl die Sozialarbeitenden als auch deren Praxis gefährden könnte. Daher können in diesem Beitrag nur wenige widerständige Handlungen angesprochen werden – in der Hoffnung, dass sie dazu anregen, neue Praxen zu entwickeln. Die hier dargestellten Praxen können als Weigerung aus Gewissensgründen, Praxen zivilen Ungehorsams, Critical Monitoring und öffentliches Skandalisieren von Unrecht gewertet werden. Rawls unterscheidet zwischen zivilem Ungehorsam und der „Weigerung aus Gewissensgründen“. Er geht davon aus, dass die Weigerung aus Gewissensgründen nicht notwendigerweise ein Appell an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit darstelle und somit nicht vor der Öffentlichkeit stattfinden müsse (vgl. Altnöder 2012: 35). Zivilen Ungehorsam definiert er hingegen als „eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politische gesetzeswidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“ (vgl. Rawls 1971: 401) – so z. B. der Protestmarsch von Geflüchteten mit der anschließenden Besetzung des Oranienplatzes in Berlin (vgl. Wilcke/Lambert 2015); hier haben mehrere hundert Menschen in aller Öffentlichkeit ein Gesetz – die Residenzpflicht – gebrochen, um auf den menschenrechtswidrigen Charakter dieser Regelung hinzuweisen. Auch kann die anschließende – vorübergehende – Aufhebung der Residenzpflicht als Änderung in Folge dieses Protests gewertet werden. Während der Protestmarsch in jeder Phase laut und sichtbar sein konnte, sind andere Praxen zunächst unsichtbar, aber durch ihre zugleich anonymisierte und öffentliche Thematisierung nicht weniger effektiv. So hat die faktische Praxis einiger Schulen und Krankenhäuser, Menschen ohne Papiere aufzunehmen, ohne sie zu denunzieren, und die gleichzeitige abstrakte Berichterstattung hierüber dazu geführt, dass diese Regelungen etwas verbessert worden sind. In diesem Fall war sicher auch von Nutzen, dass gesellschaftlich ressourcenstarke Akteur_innen (wie Kirchen und Verbände von Ärzt_innen) beteiligt waren. Zwar waren Sozialarbeitende Teil dieser Praxen, sie und ihre Klient_innen profitieren zudem enorm von den Verbesserungen, aber weder sie noch die Profession an sich sind in diesem Kontext sichtbar geworden. Andere Praxen sind leise und kaum sichtbar, wenn beispielsweise aus Gewissens- oder Professionsgründen die Zuarbeit zu Abschiebungen oder die Mitteilung von vermutetem Alter von Klient_innen verweigert wird. Auch das Critical Monitoring ist eine eher unsichtbare Handlung aus Gewissensgründen: Hier geht es darum, dass Sozialarbeitende die Realität einer Gemeinschaftsun24
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terkunft mit den Vorgaben des Gesetzgebers vergleichen, um bei deutlichen Diskrepanzen das Ergebnis den Behörden (anonym oder durch Dritte) zukommen lassen, wenn eine interne Verbesserung nicht möglich ist. Sozialarbeitende mögen viele Gründe haben, still ungehorsam und widerständig zu sein und so zumindest ihre Klient_innen individuell zu unterstützen. Dass ein offensives Vorgehen vielversprechend sein und strukturelle Klärung bringen kann, zeigt der Fall, den Georg Dimitz – mithilfe des österreichischen Berufsverbandes diplomierter SozialarbeiterInnen – angeführt hat. Hintergrund war, dass eine leitende Sozialarbeiterin des Wiener Jugendamtes 2004 – offenbar von finanziellen und möglicherweise rassistischen Interessen geleitet – erklärte, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge über 14 Jahre keine_n gesetzliche_n Vertreter_in mehr an die Seite gestellt bekommen sollten. Sie verteilte eine entsprechende Weisung an Sozialarbeitende, die unbegleitete minderjährige Geflüchtete betreuten. Dimitz – einer von ihnen – hat diese offensichtlich (menschen-)rechtswidrige Praxis herausgefordert, indem er zunächst die Zuständigen intern auf die Menschrechtswidrigkeit bzw. die Unvereinbarkeit dieser Vorgabe mit der Berufsethik der Sozialen Arbeit und der UN-Kinderrechtskonvention hinwies. Als dies zu keinem Ergebnis führte, schrieb er einen offenen Brief an alle Mitarbeitende des Jugendamtes und leitete ein Disziplinarverfahren gegen die Zuständigen ein. Gleichzeitig stellte er einen Antrag auf Sachverhaltsüberprüfung bei der Staatsanwaltschaft, was zur Klärung führte, dass sich Sozialarbeitende nicht strafbar machen, wenn sie dieser Weisung nicht Folge leisten (vgl. Dimitz 2004). Schließlich erstritt er fast zwei Jahre später eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes Österreichs, die bestätigte, dass alle Minderjährigen in Österreich einen Anspruch auf eine_n gesetzliche_n Vertreter_in haben (OGH 19.10.2005 7Ob209/05v) – was keine Überraschung war, denn nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention deklariert alle Menschen unter 18 Jahren zu Minderjährigen. Für Deutschland sind solche Widerstandspraxen kaum dokumentiert.
Plädoyer für strukturelle Veränderungen Eine menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit verfolgt das Ziel, neben der individuellen Unterstützung von Klient_innen strukturelle (menschenrechtliche) Lücken zu erkennen und diese je nach Konstellation mit Methoden zu bearbeiten, die geeignet sind, Probleme jenseits der individuellen Verletzung anzugehen. Hierzu gehören Methoden wie z. B. Öffentlichkeitsarbeit, Lob-
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byarbeit, Strategische Prozessführung26, Whistleblowing27 und Nutzung des UN-Menschenrechtsschutzsystems. Über die Nutzung dieser Methoden im Kontext von Sozialer Arbeit und Flucht in Deutschland ist wenig bekannt. Eine rühmliche Ausnahme ist ein sehr effektives Beispiel von Whistleblowing aus Berlin, wo anonym gebliebene Mitarbeitende einer Unterkunft für Geflüchtete veröffentlichten, dass leitende Angestellte ihrer Unterkunft in E-Mails über den Kauf einer Kinderguillotine und eines Krematoriums phantasierten! (Beikler 2016: o. S.). Diese Unterkunft wurde nicht nur geschlossen; die PeWoBe (Gemeinnützige Soziale Betreuungsgesellschaft GmbH), – über die es bereits mehrere aktenkundige Beschwerden gab – verlor daraufhin fast alle ihre Unterkünfte für Geflüchtete in Berlin. Andere Methoden wie z. B. Strategische Prozessführung sind häufig nicht einmal als solche bekannt. Dies ist gerade im Kontext von Flucht besonders bitter, denn hier ist zum einen die Verletzung von einigen fundamentalen Menschenrechten offensichtlich, es gäbe hier viele strukturelle Defizite, die es herauszufordern gilt. Zum anderen warten ressourcenstarke und erfahrene Akteur_innen – wie z. B. Pro Asyl oder der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e. V. – auf Fälle, die sie im Rahmen von Strategischer Prozessführung finanziell, ideell und medial unterstützen würden. Verstärkte Kooperationen könnten einerseits dazu beitragen, Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten in Deutschland effektiver anzugehen und andererseits das viel beschworene politische Mandat Sozialer Arbeit sichtbarer zu machen und mit Inhalt und Handlungen zu füllen. Es sind bislang wenig koordinierte Praxen bekannt, die menschenrechtswidrige Praxen in der Sozialen Arbeit – zumindest im Bereich Flucht28 – herausfordern; zu überlegen wäre, ob es künftig nicht zielführend sein könnte, solche Aktivitäten mit ressourcenstarken Akteur_innen strategisch und langfristig zu planen.
26 In Anlehnung an Weiss (2015: o. S.) verstehe ich Strategische Prozessführung als eine Form der juristischen Prozessführung, die exemplarisch (Menschen-)Rechtsverletzungen verdeutlicht und anstrebt, den Fall bis zur höchsten Instanz zu bringen. Ziel hierbei ist, eine strukturelle Klarheit für alle ähnlich gelagerten Fälle zu erreichen und/oder bestimmte strukturelle Lücken aufzuzeigen und/oder Klient_innen weitere Handlungsoptionen zu geben. 27 In Anlehnung an Near und Micelli verstehe ich Whistleblowing als „eine Offenlegung von illegalem, unmoralischen oder illegitimen Verhalten, das innerhalb des Kontrollbereichs des Arbeitgebers liegen“ (1985: 4), Übersetzung N. P. 28 Ein sehr gelungenes Beispiel einer koordinierten Intervention nach menschenrechtswidrigen Vorfällen ist die Schließung der Jugendhilfeeinrichtung „Die Haasenburg“ in Brandenburg.
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Literatur Altnöder, Ferdinand (2012): Ziviler Ungehorsam. Diplomarbeit, Uni Wien. http://othes. univie.ac.at/20489/1/2012-04-04_0030646.pdf [Zugriff: 02.04.2017]. Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit München (2017): Wir sind Sozialarbeiter*innen und keine Abschiebehelfer*innen! www.aks-muenchen.de/2017/04/wir-sind-sozialarbeiterinnen-und-keine-abschiebehelferinnen-positionspapier-und-unterschriftensammlung/ [Zugriff: 02.04.2017]. Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (2015): Schlussbemerkungen zu den 19. bis 22. Staatenberichten der Bundesrepublik Deutschland CERD/C/ DEU/CO/19-22. Ausschuss für die Rechte des Kindes (2014): Abschließende Bemerkungen des VN-Ausschusses für die Rechte des Kindes vom 31. Januar 2014, zum gemeinsamen dritten und vierten periodischen Staatenbericht Deutschlands. Deutsche Arbeitsübersetzung, CRC/C/DEU/CO/3-4. www.netzwerk-kinderrechte.de/fileadmin/dokumente/crc_state_report.pdf [Zugriff: 10.01.2016]. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2015): Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands CRPD/C/DEU/CO/1. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2011): Prüfung der Staatenberichte nach Artikel 16 und 17 des Paktes, Mai 2011. E/C.12/DEU/CO/5. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1999): General Comment No. 13: The Right to Education (Art. 13). Ausschuss gegen Folter (2011): Prüfung der von den Vertragsstaaten nach Artikel 19 des Übereinkommens vorgelegten Berichte. CAT/C/DEU/CO/5. Beikler, Sabine (2016): „PeWoBe-Mitarbeiter fabulierten über „Kinderguillotine“. In: Der Tagesspiegel vom 14.08.2016, o. S. http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlinerfluechtlingsheimbetreiber-pewobe-mitarbeiter-fabulierten-ueber-kinderguillotine/14008346.html [Zugriff: 09.04.2017]. Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Kurzfassung. https://www.bmfsfj.de/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf [Zugriff: 30.08.2017]. Bundesverfassungsgericht (2012): Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012. 1 BvL 10/10 – Rn. (1-114). http://www.bverfg.de/e/ls20120718_1bvl001010.html [Zugriff: 10.01.2016]. DGSA, Vorstand (2017): Für eine fachlich begründete unabhängige Arbeit im Bereich Asylberatung in Bayern, Stellungnahme vom 07.04.2017. http://www.dgsainfo.de/ aktuelles-aus-der-dgsa/ [Zugriff: 10.04.2017]. Dimitz, Georg (2004): Die „moralische Profession“ im Härtetest. In: SiÖ, H. 4, S. 4–6. DIMR (Deutsches Institut für Menschenrechte) (2016): Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland. Januar 2015–Juni 2016. Berlin. http://www.insti27
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Nivedita Prasad
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Statt einer Einführung
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Lebensbedingungen von Geflüchteten
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Andrea Würdinger
Leben im Rahmen des Asylverfahrens1
Unterscheidung von Migrations- und Flüchtlingsrecht
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1. Allgemeines Deutschland hat sich sowohl durch die Verfassung (Art. 16 a GG) als auch völkerrechtlich (Genfer Flüchtlingskonvention/GFK) verpflichtet, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren. Die Beschreibungen der Flüchtlingsgruppen sowie die Verfahrensregelungen finden sich u. a. im Asylgesetz (AsylG). Weitere Abschiebungsverbote sind in § 60 Abs. 5 und 7 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländer_innen im Bundesgebiet Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geregelt. Um die Systematik des Verfahrens zu verstehen, ist es hilfreich, den grundsätzlichen Unterschied zwischen Migrations - bzw. Aufenthaltsrecht und Flüchtlingsrecht zu kennen sowie den wesentlichen Inhalt von internationaler Schutzgewährung. Migration, d. h. Einwanderung nach Deutschland, wird für Drittstaatsangehörige, also nicht Unionsbürger_innen, im AufenthG geregelt. Das Ziel des AufenthG ist es, den Zuzug von Migrant_innen zu steuern und zu begrenzen, wobei die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen Deutschlands berücksichtigt werden sollen. Aus diesem Grunde ist ein Antrag auf längerfristigen Aufenthalt in der Regel bei der deutschen Auslandsvertretung im Herkunftsland zu stellen und der begehrte Zweck des Aufenthaltes, z. B. Arbeitsmigration, Familiennachzug, Studium, offenzulegen. Dieser Antrag wird an die örtlich zuständige Ausländerbehörde im Inland weitergeleitet. Dort wird ausführlich geprüft, ob die nach dem AufenthG erforderlichen Voraussetzungen auch tatsächlich vorliegen. Erst dann wird ein Visum erteilt. Ein Antrag auf Einreise zur Durchführung eines Asylverfahrens kennt das AufenthG nicht. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Geflüchtete ihr Herkunftsland meist ohne die Einholung eines Visums verlassen und illegal einreisen, um im Bundesgebiet Schutz vor Verfolgung oder Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in den Verfolgerstaat zu finden. Für 1 Stand 31.12.2016.
Andrea Würdinger
Mitwirkungs- und Duldungspflichten Die Antragsteller_innen unterliegen strengen persönlichen Mitwirkungspflichten (§ 15 AsylG), denen sie auch nachkommen müssen, wenn sie anwaltlich vertreten werden. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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die Dauer des Prüfungsverfahrens, zumindest beim Erstantrag, wird ihnen der Aufenthalt für die Dauer des Prüfungsverfahrens gestattet. Da die Einreise für diesen Zweck keiner vorherigen Kontrolle unterliegt, wird dies durch restriktive Regelungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit, Unterbringung, Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung nachgeholt und erst sukzessive wieder aufgeweicht. Mitwirkungspflichten werden auferlegt und Verstöße oder Versäumnisse mit Nachteilen geahndet.
Sie sind insbesondere verpflichtet: • • • • • •
•
den ausführenden Behörden die erforderlichen Angaben mündlich und nach Aufforderung auch schriftlich zu machen; das Bundesamt unverzüglich zu unterrichten, wenn während des Asylverfahrens ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, z. B. wegen Eheschließung oder der Geburt eines deutschen Kindes; den Anordnungen, sich bei bestimmten Behörden oder Einrichtungen zu melden oder dort persönlich zu erscheinen, Folge zu leisten; den Pass oder Passersatz den Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen; alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in ihrem Besitz sind, den ausführenden Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen; im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes an der Beschaffung eines Identitätspapieres mitzuwirken; allerdings kann bei einem Asyl-Erstverfahren die Kontaktaufnahme mit den Behörden des Herkunftslandes den Antragsteller_innen nicht zugemutet werden, solange das Asylverfahren noch nicht unanfechtbar oder jedenfalls vollziehbar abgeschlossen ist; erkennungsdienstliche Maßnahmen zu dulden.
Die mit der Ausführung des AsylG betrauten Behörden können hierzu die von den Antragsteller_innen mitgeführten Sachen durchsuchen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die benannten Unterlagen vorhanden und nicht freiwillig herausgegeben werden (§ 15 Abs. 4 AsylG). Zusätzlich besteht die Gefahr, dass das Asylverfahren in einem beschleunigten Verfahren (§ 30a 34
AsylG) durchgeführt wird und die Antragsteller_innen dazu in eine besondere Aufnahmeeinrichtung (§ 5 Abs. 5 AsylG) eingewiesen werden (siehe hierzu der Abschnitt 6 in diesem Beitrag). Bestehen im Rahmen der Anhörung Zweifel an der Identität bzw. Herkunft der Antragsteller_innen, kann zur Bestimmung des Herkunftsstaates, eine Sprachanalyse vorgenommen werden. Durch einen Sachverständigen wird in einem Gespräch u. a. die Aussprache, Dialekt, Verwendung von typischen Redewendungen und Begriffen der angegebenen Herkunftsregion mit der Sprach- und Ausdrucksweise der Antragsteller_innen verglichen. Die Angaben zur Herkunftsregion werden dann entweder bestätigt oder in nach einem differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab in Abrede gestellt. Teilweise wird auch eine konkrete andere Länderzuordnung behauptet. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
Die Pflicht zur umgehenden Antragstellung – Zuständigkeitsfragen Hätten Geflüchtete aufgrund ihrer Reiseroute bereits in einem anderen als sicher geltenden Drittstaat, wozu alle EU-Staaten sowie Norwegen und die Schweiz gehören, einen internationalen Schutzantrag stellen können, so sind sie von dem verfassungsrechtlich verbürgten Flüchtlingsschutz des Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz (GG) ausgeschlossen. Auch die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der GFK sind umgehend in dem Staat anzubringen, in dem die Geflüchteten nach ihrer Ausreise Sicherheit finden – sofern dieser ein Unterzeichnerstaat der GFK ist. Geschieht dies nicht, wird ihr Asylgesuch in Deutschland als unzulässig abgelehnt mit dem Hinweis, dass sie ihr Asylverfahren in einem konkret bezeichneten anderen Staat durchführen müssen. Die Zuständigkeitsregelungen sind im Rahmen der Dublin-Verordnung (derzeit Dublin III VO) europarechtlich festgeschrieben.
Verschiedene Formen der Schutzgewährung Im deutschen Asylsystem werden vier verschiedene Schutzpositionen unterschieden: 1. Asylberechtigung nach Art. 16 a GG (§ 1 AsylG); 2. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der GFK (§ 3ff. AsylG); 3. subsidiärer Schutz nach § 4 AsylG; 4. nationaler Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
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Andrea Würdinger
Flüchtlinge, die durch ein Landes- oder Bundesaufnahmeprogramm (§ 23 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG) vom Ausland her aufgenommen werden, durchlaufen kein Asylverfahren. Die Voraussetzungen für die Aufnahme, z. B. weil hier Familienangehörige leben, werden geprüft, solange sie noch im Ausland sind. Zuständig für die Prüfung sind die obersten Landesbehörden (Innenministerium) oder der Bund (Bundesinnenministerium). Sie erhalten nach erfolgreichem Abschluss des Prüfungsverfahrens bereits ein Einreisevisum durch die deutsche Botschaft und die Aufenthaltserlaubnis direkt von der Ausländerbehörde. Sie sind dann aber frei, nochmals hier einen Asylantrag zu stellen, und durchlaufen im Anschluss das Asylverfahren. Die erteilte Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erlischt dann (§ 51 Abs. 1 Nr. 8 AufenthG), und sie erhalten eine Aufenthaltsgestattung für die Dauer des Asylverfahrens. Die Anerkennung als Asylberechtigte_r nach Art. 16 a GG hat heute kaum mehr Bedeutung. Dies liegt zum einen daran, dass die Einreise über einen sicheren Drittstaat viele Geflüchtete von der Asylberechtigung schon alleine aufgrund ihrer Reiseroute ausnimmt. Zum anderen wurden die Folgerechte, u. a. Dauer des Aufenthalts, Familiennachzug, Ausstellung eines Flüchtlingsausweises, Sozialleistungen sowie Sprach- und Berufsförderung zwischen Asylberechtigten (Art. 16a GG) und den „GFK Flüchtlingen“ (§ 3 AsylG), im Laufe der Jahre angeglichen. Der wesentliche Unterschied zwischen der „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“ (§ 3 AsylG) und dem „subsidiären Schutz“ (§ 4 AsylG) liegt darin, dass die Verfolgung im Flüchtlingsschutz an ein bestimmtes Merkmal anknüpft (Verfolgung wegen „Rasse“, Religion, Nationalität, politische Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe). Fehlt es bei der Verfolgung an dieser Verknüpfung und droht gleichwohl ernsthafter Schaden i. S. von § 4 AsylG wird subsidiärer Schutz gewährt. So wird Syrer_innen auf jeden Fall subsidiärer Schutz gewährt, unabhängig davon, ob sie bereits vor ihrer Ausreise politisch aktiv waren und deshalb mit Verfolgung rechnen müssen. Ob alleine die illegale Ausreise und die Asylantragstellung von Syrer_innen ein Umstand darstellt, der vom Assad-Regime als Gegnerschaft gewertet und damit zu einer Verfolgung im Falle einer Rückkehr führt, wird von den Gerichten derzeit noch sehr unterschiedlich beurteilt. Allerdings führt die Unterscheidung des Schutzstatus zu einer unterschiedlichen Behandlung in den Folgerechten, u. a. hinsichtlich der Dauer des Aufenthaltstitels und den Voraussetzungen für die Erteilung eines Daueraufenthaltsrechts (§ 26 AufenthG). Subsidiär Schutzberechtigte erhalten keinen Flüchtlingspass nach der GFK. Sie können aber grundsätzlich unter den gleichen Voraussetzungen ihre Familienangehörigen nachziehen lassen (§ 29 Abs. 1 AufenthG). Der Gesetzgeber hat allerdings die Anwendung dieser erst 2016 eingeführten Angleichung im gleichen Jahr bis zum 16.03.2018 ausge36
setzt. Der Gesetzgeber befürchtete, dass die Aufnahmekapazitäten für die erwartete große Anzahl nachziehender Familienangehöriger von Syrer_innen nicht ausreichen würden. Die politisch gewollte Reduzierung des Familiennachzugs dürfte der eigentliche Grund für die veränderte Anerkennungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von syrischen Flüchtlingen sein und nicht etwa die veränderte Verfolgungssituation durch das Assad Regime. Zuständig für die inhaltliche Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz ist das BAMF (§ 5 AsylG).
2. Einreise und Verteilung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
Ein Asylverfahren beginnt regelmäßig mit der Einreise in die Bundesrepublik und Stellung eines Asylgesuchs (§§ 13 Abs. 3; 18 AsylG). Ist es der Person bereits gelungen, legal oder illegal einzureisen, hat sie sich unverzüglich persönlich bei einer Aufnahmeeinrichtung (§ 22 AsylG), einer Ausländerbehörde oder der Polizei (§ 19 AsylG) als asylsuchend zu erkennen zu geben. Ist der Grenzübertritt noch nicht gelungen, ist das Asylgesuch an der Grenze zu äußern. Die Einreise darf nur verweigert werden (§ 18 Abs. 2 AsylG), wenn • • •
die Person aus einem sicheren Drittstaat (§ 26 AsylG) einreist; Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates für das Asylverfahren vorliegen und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird; es sich um eine_n Straftäter_in handelt, die_der wegen einer besonders schweren Straftat in Deutschland zu einer Mindestfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt wurde und die Ausreise nicht länger als 3 Jahre zurückliegt.
Die Person ist in die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung weiterzuleiten. Sie ist sowohl über ihre Pflicht zu belehren, dem unverzüglich nachzukommen, als auch über die Folgen, wenn gegen Mitwirkungspflichten (§§ 20, 22 AsylG) verstoßen wird. Die Aufnahmeeinrichtung ist ebenfalls über die Weiterleitung und das Asylgesuch zu unterrichten. Einbehaltene Dokumente sind an diese weiterzuleiten. Die einbehaltenen Unterlagen können der Person auf Verlangen, spätestens wenn das Verfahren abgeschlossen ist, wieder ausgehändigt werden (§ 21 Abs. 4 AsylG). Die Aufnahmeeinrichtung informiert spätestens eine Woche nach Erhalt der Weiterleitungsmitteilung die Behörde darüber, ob sich die Person auch eingefunden hat. Einbehaltene Unterlagen werden von der sicherstel37
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Andrea Würdinger
lenden Behörde/Polizei an das BAMF weitergeleitet. Sollten Geflüchtete ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sein, besteht die Möglichkeit, dass das Verfahren eingestellt wird (§§ 20 Abs. 1; 22 Abs. 3; 23 Abs. 2; 33 Abs. 1, 5, 6 AsylG), mit der Folge, dass das Verfahren nicht mehr vor Abschiebehaft und Rückführung schützt. Allerdings kann beim ersten Mal die Wiederaufnahme des Verfahrens innerhalb von 9 Monaten bei der zuständigen Außenstelle des BAMF gestellt werden. Es wird dann in dem Stadium wiederaufgenommen, in dem es sich bei der Einstellung befand (§ 33 Abs. 5 AsylG). Das so geäußerte Asylgesuch stellt noch keinen Asylantrag dar. Hintergrund der Regelung ist, dass die Erfassung von Begehren von Asylsuchenden vermieden werden soll, die ihren Asylantrag nicht in der Bundesrepublik bearbeitet wissen wollen oder kein Interesse an der Durchführung eines Asylverfahrens haben. Dies kann der Fall sein, wenn für die Geflüchteten Deutschland tatsächlich nur Transitland ist. Mit dieser Regelung soll ein Anreiz geschaffen werden, sich schnellstmöglich und direkt zur zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu begeben, in welcher erstmalig ein Dokument, der sogenannte Ankunftsnachweis (§ 63a AsylG) ausgestellt wird. Dieser wird längstens für 6 Monate ausgestellt und kann nur in Ausnahmefällen um weitere 3 Monate verlängert werden. Art. 6 der Asylverfahrensrichtlinie sieht vor, dass eine Registrierung (Ausstellung des Ankunftsnachweises) innerhalb von 3 Tagen, in Zeiten großen Andrangs in maximal 10 Tagen zu erfolgen hat. Die Ausstellung des Ankunftsnachweises ist dann für alle Vorschriften maßgeblich, bei denen es auf Voraufenthaltszeiten2 ankommt. Dies kann bei Anfragen nach der Dublin-Verordnung oder Zugang zum Arbeitsmarkt durchaus eine Rolle spielen. Da die Regelung erst im August 2016 eingeführt wurde, gelten Übergangsbestimmungen des § 87 c Abs. 2 AsylG. Sobald ein förmliches Asylverfahren durch das BAMF eingeleitet wurde, wird anstelle des Ankunftsnachweises eine Aufenthaltsgestattung ausgestellt (§ 55 AsylG), mit denen sich Geflüchtete ausweisen können. Der Aufenthaltsgestattung kann das Aktenzeichen des BAMF sowie der zugewiesene Aufenthaltsort, möglicher Zugang zum Arbeitsmarkt und sonstige Nebenbestimmungen entnommen werden. Die Aufenthaltsgestattung dient der geflüchteten Person als Ausweisersatz für die Dauer des Asylverfahrens und wird in der Regel für 6 Monate ausgestellt. Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung unterliegen dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)3. In der Aufnahmeeinrichtung müssen sich die Antragsteller_innen bis zu 6 Wochen maximal aber 6 Monate aufhalten (§§ 47; 48; 49AsylG). Solange die 2 Das heißt Zeiten, die die_der Geflüchtete bereits gestattet in Deutschland sein muss, bevor ihr_ihm Rechte eingeräumt werden. Zum Beispiel kann frühestens nach 3 Monaten gestattetem Aufenthalt der Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnet werden § 61 Abs. 2 AsylG. 3 Zum Asylbewerberleistungsgesetz vgl. den Beitrag von Pelzer in diesem Band.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
Antragsteller_innen verpflichtet sind, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, unterliegen sie der sogenannten Residenzpflicht (§ 56 AsylG). Sie müssen sich dann in dem Bezirk der Ausländerbehörde aufhalten, in dem die Aufnahmeeinrichtung liegt. Ansonsten erlischt die Residenzpflicht in 3 Monaten, wenn sich die Geflüchteten bereits seit 3 Monaten ununterbrochen erlaubt, geduldet oder im Rahmen des Asylverfahrens gestattet im Bundesgebiet aufgehalten haben4. Nach der Aufnahmeeinrichtung erfolgt die Verteilung in Gemeinschaftsunterkünfte (§ 53 AsylG), teilweise dann auch in andere Landkreise des gleichen Bundeslandes. Die landesinterne Verteilung erfolgt gem. § 50 AsylG. Hierbei sind die persönlichen Belange der Geflüchteten zu berücksichtigen, d. h. Familienangehörige (Kernfamilie)5 sind – soweit noch nicht geschehen – zusammenzuführen. Dies gilt auch, wenn sich minderjährige Kinder oder der_die Ehepartner_in in einem anderen Bundesland aufhalten (§ 51 AsylG). Bei einer bundeslandübergreifenden Verteilung ist der Antrag bei der Ausländerbehörde zu stellen, in dessen Bezirk sich die geflüchtete Person aufhält, die in das andere Bundesland übersiedeln will. Die Ausländerbehörde des aufnehmenden Bundeslandes muss der Verteilung zustimmen.
Ausnahmen von der persönlichen Antragstellung bei der Außenstelle des BAMF In Ausnahmefälle ist der Antrag beim BAMF in Nürnberg (schriftlich) und nicht durch persönliche Vorsprache bei der Außenstelle zu stellen (§ 14 Abs. 2 AsylG). Dies ist der Fall, wenn die geflüchtete Person: • • •
im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die bei der Ersterteilung länger als 6 Monate gültig war; sich in Haft, einem Krankenhaus oder Jugendhilfeeinrichtung befindet oder minderjährig (unter 18 Jahre) ist.
In diesen Fällen erfolgt unter Abweichung von § 20 Abs.1 AsylG in der Regel keine Verteilung in ein anderes Bundesland, weil gerade nicht die Außenstelle des BAMF zuständig ist (§§ 20 Abs. 1; 19 Abs. 1; 14 Abs. 1 AsylG).
4 Ausnahmen hierzu § 59b AsylG; Durchsetzung der Residenzpflicht § 59 ASylG. 5 Kernfamilie sind Eheleute und minderjährige Kinder.
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Andrea Würdinger
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Formelle Asylantragstellung (§ 14 Abs. 1 AsylG) Die Antragsteller_innen erhalten in der Aufnahmeeinrichtung einen Termin zur persönlichen Asylantragstellung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes. Durch das Bundesamt wird nunmehr eine Akte angelegt und ein Aktenzeichen vergeben. Die Personalien werden erneut aufgenommen und unter Umständen mit denen des Asylgesuchs abgeglichen. Sollte noch keine erkennungsdienstliche Behandlung erfolgt sein, findet dies spätestens jetzt statt. Den Betroffenen wird nunmehr eine Vielzahl von Informationsmaterial und Belehrungen über den Ablauf des Verfahrens sowie die Mitwirkungspflichten und Rechte ausgehändigt. Dies erfolgt nicht nur auf Deutsch, sondern auch in einer Sprache, „deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann“. Den Erhalt der Belehrungen bestätigen die Antragsteller_innen durch ihre Unterschrift. Die Betroffenen werden darüber belehrt, dass sie jeden Anschriftenwechsel dem Bundesamt mitteilen müssen (§ 10 AsylG). Wird ein Anschriftenwechsel durch Geflüchtete oder die unterstützenden Sozialarbeiter_innen lediglich der Ausländerbehörde oder der Meldestelle mitgeteilt, reicht dies nicht aus. Das BAMF ist eine Bundesbehörde und nicht identisch mit der Ausländerbehörde und der Meldestelle, die beide Landesbehörden sind. Die zuständige Landesbehörde, die die Zuweisung in eine Gemeinschaftsunterkunft veranlasst, ist nur verpflichtet dem Bundesamt den Bezirk der Ausländerbehörde mitzuteilen, in dem die Antragsteller_innen ihren Wohnsitz nehmen müssen (§50 Abs. 3 AsylG). Dies ist nicht die Adresse. Wenn das Bundesamt eine Ladung zur persönlichen Anhörung oder sonstige Post an die Antragsteller_innen sendet, wird immer nur an die zuletzt bekannte Adresse zugestellt. Dies gilt gerade auch dann, wenn die Geflüchteten aus der Aufnahmeeinrichtung in ein anderes Heim eingewiesen wurden. Die einweisende Behörde, in der Regel die Ausländerbehörde, informiert das BAMF nicht über den Wohnungswechsel. Gleiches gilt für die Meldebehörde. Wenn Ladungen auf diese Weise nicht zugestellt werden können, stellt dies eine Verletzung der Mitwirkungspflichten dar, die zu Lasten der antragstellenden Person geht. Daher ist es absolut notwendig, jeden Umzug dem BAMF explizit mitzuteilen. Erst wenn Rückführungen oder Abschiebungen erfolgen sollen, fragt das BAMF bei der zuständigen Ausländerbehörde oder der Meldestelle den aktuellen Wohnsitz ab. Aus diesem Grunde sollte dem BAMF, am besten per Fax, umgehend die aktuelle Adresse mitgeteilt werden.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
3. Dublin-Verfahren
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Anhörung im Dublin-Verfahren § 29 AsylG In der Regel finden zwei Anhörungen statt. Die erste Anhörung, die meist von den Betroffenen als „kleine Anhörung“ bezeichnet wird, ist eine Anhörung im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung (§ 29 Abs. 2 AsylG). Hier geht es dem BAMF einzig und allein darum, Informationen abzufragen, die erforderlich sind, um festzustellen, ob das Asylverfahren überhaupt in Deutschland durchzuführen ist. Stellt sich heraus, dass aufgrund des Einreiseweges ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin III VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, wird dieser Mitgliedstaat unverzüglich angefragt, ob er seine Zuständigkeit erklärt. Die mögliche Zuständigkeit kann sich aufgrund eines sogenannten „Dublin-Treffers“ aus dem gemeinsamen Datenverbund (Eurodac) oder aus den Angaben der geflüchteten Person zu ihrem Reiseweg ergeben. In beiden Fällen erhalten die Antragsteller_innen ein formloses Schreiben vom BAMF, dass ein Dublin-Verfahren eingeleitet wurde. Es ist dann zeitnah mit der Zustellung eines Dublin-Bescheides zu rechnen, in dem der Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat angedroht wird, sollte die Person nicht freiwillig innerhalb der gesetzten Frist ausreisen. Sollten sich keine Informationen über den Reiseweg finden lassen, kann keine anderweitige Zuständigkeit festgestellt werden; damit wäre Deutschland dann für das Verfahren zuständig. Der Bescheid ist mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen, aus der hervorgeht, bei welchem Verwaltungsgericht die Klage und gegebenenfalls ein vorläufiger Rechtsschutzantrag zu stellen ist. Die Klagefrist und die Frist für den vorläufigen Rechtsschutzantrag betragen hier lediglich eine Woche. Es besteht kein Anwaltszwang, sodass die Betroffenen zumindest zur Fristwahrung selbst zur Rechtsantragsstelle beim Verwaltungsgericht gehen können. Wenn sie dort den Bescheid vorlegen, wird der_die Rechtspfleger_in zumindest die Klage und den vorläufigen Rechtsschutzantrag formulieren. Die Begründungen sind dann umgehend nachzureichen, da das Verwaltungsgericht ebenfalls schnell entscheiden wird.
Zuständigkeitsregelungen nach Dublin III VO Die Dublin III VO regelt, welcher europäische Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In der Regel ist das der Staat, •
über den die geflüchtete Person erstmals die Europäische Union betreten hat (Art. 13 Dublin III VO) oder 41
Andrea Würdinger
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der geflüchteten Person ein Einreisevisum oder eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat (Art. 12 Dublin III VO); in dem (bei Wunsch) bereits Familienangehörige6 ein Asylverfahren betreiben oder eine Aufenthaltserlaubnis haben (Art. 9, 10, 11 Dublin III VO); der die legale Einreise in die EU aufgrund fehlender Visumspflicht ermöglicht hat (Art. 14 Dublin III VO); der aufgrund einer Asylantragstellung im Flughafentransitbereich zuständig ist (Art. 15 Dublin III VO); der ausnahmsweise aufgrund humanitärer Gründe (Art. 17 Dublin III VO Ermessensklauseln; Schwangerschaft; neugeborenes Kind, Krankheit, familiäre Bindungen etc.) von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht hat. Von diesem Recht kann selbstverständlich auch Deutschland Gebrauch machen.
Die Zuständigkeit kann auch auf Deutschland übergehen, wenn die geflüchtete Person nachweisen oder glaubhaft machen kann, dass sie sich nach einem früheren Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat der EU länger als 3 Monate außerhalb der EU aufgehalten hat (Art. 19 Abs. 2; 20 Abs. 5 Dublin III VO). Dann gilt der Antrag als neuer Antrag. Beispiel: Eine Familie kehrt nach negativ abgeschlossenem Asylverfahren in Belgien nach Aserbaidschan zurück, Kinder im Alter von 16, 17 Jahren reisen dann nach 4 Monaten wieder nach Deutschland ein. Deutschland kann zur Klärung der Zuständigkeit über Eurodac abfragen, ob die geflüchtete Person schon einmal in der EU kontrolliert, abgeschoben wurde oder eingereist war (sogenannter Dublin-Treffer). In diesen Fällen wird ein Rücknahmeersuchen/Wiederaufnahmeersuchen an den zuständigen Mitgliedstaat gestellt (Art. 21ff. Dublin III VO). Die Dublin-Verordnung ist eine Zuständigkeitsregelung der Mitgliedstaaten und verpflichtet die Mitgliedstaaten untereinander, Geflüchtete zurückzunehmen, wenn sie nach den oben aufgeführten Grundsätzen zuständig sind. Vom Grundsatz her hat die geflüchtete Person selbst kein subjektives Recht, dass ihr Asylverfahren in einem bestimmten Mitgliedstaat geprüft wird. Ausnahmen von dieser Zuständigkeitsregelung sind nur dann möglich, wenn in dem zuständigen Aufnahmestaat eklatante Mängel im Asylsystem vorgetragen und festgestellt werden können. Lange Zeit galt dies z. B. uneingeschränkt für Griechenland und Ungarn, teilweise für Bulgarien, aber auch für Italien. Die 6 Im Rahmen der Dublin-III-Verordnung sind Familienangehörige neben Eltern und minderjährigen Kindern auch nichteheliche Partnerschaften oder nach den Gepflogenheiten des Landes Sorgeberechtigte vgl. Art. 2 g) Dublin III VO.
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systemischen Mängel in den verschiedenen Ländern werden jedoch immer wieder neu überprüft und bewertet. Es können aber auch ganz persönliche Gründe, z. B. eine laufende Behandlung einer schweren Krankheit, ausnahmsweise eine Rückführung in den Aufnahmestaat unmöglich erscheinen lassen. Allerdings gilt auch völkerrechtlich der Grundsatz, dass sehr wohl zeitnah jede schutzsuchende Person darauf vertrauen darf, dass ihr Schutzbegehren inhaltlich geprüft und entschieden wird. Sie darf nicht aufgrund von Zuständigkeitsstreitigkeiten „zerrieben werden“. Wird die Rückführung nicht innerhalb bestimmter Fristen (Art. 21 Dublin III VO) eingeleitet oder gelingt die Rückführung in den zuständigen Staat innerhalb bestimmter Fristen (Art. 29 Dublin III VO) nicht, geht die Zuständigkeit auf den Staat über, in dem sich die geflüchtete Person bereits aufhält und den Asylantrag gestellt hat. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
Fristen für das Aufnahmegesuch (Art. 21 Dublin III VO): Das BAMF muss innerhalb von 3 Monaten ab Asylantragstellung in Deutschland den zuständigen Mitgliedstaat um Rückübernahme ersuchen, ansonsten geht die Zuständigkeit auf Deutschland über; die Anfragefrist verkürzt sich auf 2 Monate, wenn die Zuständigkeit aufgrund eines Eurodac-Treffers festgestellt werden konnte (Art. 21 Abs. 1 Dublin III VO). Ist das Rückübernahmeersuchen gestellt worden, kann davon ausgegangen werden, dass zeitnah eine Antwort des ersuchten Staates erfolgt. Wurde die Zuständigkeit aufgrund eines Dublin-Treffers geklärt, wird der angefragte Staat seine Bereitschaft zur Übernahme bestätigen und um die rechtzeitige Mitteilung des Überstellungstermins bitten. Der ersuchte Staat kann jedoch seine Zuständigkeit nach der Dublin III VO auch verneinen, wenn er den Geflüchteten bereits die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuerkannt hat. Für diese Fälle gilt die Dublin III VO nicht, denn es braucht kein Asylverfahren mehr durchgeführt werden. Die Geflüchteten werden dann nach den allgemeinen Vorschriften des AufenthG abgeschoben. Das Einverständnis des ersuchten Staates wird fingiert, wenn nicht innerhalb einer Frist von 2 Monaten, in dringlichen Fällen von 1 Monat, eine Ablehnung erfolgt (Art. 22 Abs. 7 Dublin III VO). Er kann sich damit nicht durch Untätigkeit seiner Rückübernahmeverpflichtung entledigen.
Fristen für die Überstellung Art. 29 Dublin III VO Sobald der Dublin-Bescheid vollziehbar ist, d. h. spätestens nach Ablehnung eines vorläufigen Rechtsschutzantrages durch das Verwaltungsgericht, teilt das BAMF der Ausländerbehörde mit, dass die Rückführung in den Aufnahmestaat nunmehr umgesetzt werden soll. Dies muss innerhalb von 6 Monaten er43
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Andrea Würdinger
folgen, da andernfalls die Zuständigkeit auf Deutschland übergeht. Die Frist beginnt in der Regel mit der Rückübernahmeerklärung des Aufnahmestaates anzulaufen. Sollten Klage und ein vorläufiger Rechtsschutzantrag beim Verwaltungsgericht gestellt worden sein, hindert der vorläufige Rechtsschutzantrag zunächst die Rücküberstellung. Sobald jedoch ein ablehnender Beschluss des Verwaltungsgerichts über den vorläufigen Rechtsschutzantrag zugestellt wurde, läuft die Sechsmonatsfrist neu an, denn der Ausländerbehörde werden 6 Monate zur Bearbeitung der Rücküberstellung zugestanden. Kann die Überstellung nicht innerhalb dieser Frist durchgeführt werden, ohne dass die antragstellende Person dafür verantwortlich gemacht werden kann, ist Deutschland zuständig. Die Frist erhöht sich in den Fällen der Inhaftierung auf 12 Monate. Scheitert die Rücküberstellung am Untertauchen der geflüchteten Person, erhöht sich die Überstellungsfrist auf 18 Monate (Art. 29 Abs. 2 Dublin III VO). Nach dieser Zeit wird eine Überführung nach der Dublin III VO nicht mehr durchgeführt, da spätestens jetzt die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf Deutschland übergegangen ist.
Familienzusammenführung im Rahmen des Dublin-Verfahrens Auch während des Dublin-Verfahrens kann es eine Familienzusammenführung geben. Dies ist in Art. 9, 10, 11 Dublin III VO geregelt. Vom Grundsatz her kann die antragstellende Person ihre Zuweisung in einen anderen Mitgliedstaat beantragen, wenn dort Familienangehörige7 bereits internationalen Schutz erhalten haben (Art. 9 Dublin III VO). Für den Fall, dass die Familienangehörigen im Aufnahmestaat noch in einem laufenden Verfahren sind, kann gleichwohl eine Aufnahme beantragt werden (Art. 10 Dublin III VO). Ist die Familie über mehrere Mitgliedstaaten verteilt, ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem die meisten Familienmitglieder ihren Antrag gestellt haben (Art. 11 Dublin III VO). Ist dieses Kriterium untauglich, ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem der älteste Antrag anhängig ist. Jede Verteilung auf dieser Grundlage ist von der Zustimmung der zu verteilenden Person abhängig. Die Familienangehörigen sollten deshalb bei Einreise in die EU schnellstmöglich einen Asylantrag stellen und gleichzeitig ihre Verteilung in den anderen EU-Staat beantragen.
7 Vgl. Fußnote 6.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
4. Zuständigkeit Deutschlands
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Persönliche Anhörung Sobald die Zuständigkeit Deutschlands feststeht, wird die antragstellende Person zu ihren Fluchtgründen persönlich angehört (§ 25 AsylG). Die persönliche Anhörung ist das Kernstück des Asylverfahrens, da Geflüchtete nunmehr die Möglichkeit haben, ihre Fluchtgründe ausführlich und vollständig persönlich vorzutragen. Alles das, was in der persönlichen Anhörung nicht gesagt oder nicht richtig gestellt wurde, ist im späteren Verfahren nur unter großen Schwierigkeiten nachzutragen. Die Antragsteller_innen sollten sich deshalb auf die persönliche Anhörung intensiv vorbereiten. Dokumente, die die Verfolgungsgeschichte belegen oder stützen, sind hilfreich, jedoch nicht zwingend erforderlich. Vielmehr kommt es auf das glaubhafte Vorbringen der Antragsteller_innen an. Kriterium für die Glaubhaftigkeit des Vorbringens ist eine detailreiche, widerspruchsfreie sowie konstante Schilderung. Die persönliche Anhörung kann bereits zeitnah mit der Asylantragstellung während der Wohnsitzverpflichtung8 in der Aufnahmeeinrichtung erfolgen (§ 25 Abs. 4 AsylG). Meist erfolgt die Anhörung zu den Asylgründen jedoch erst, wenn die Antragsteller_innen in eine Gemeinschaftsunterkunft in einem anderen Landkreis zugewiesen wurden. Die Anhörung ist nicht öffentlich. Damit wird dem besonderen Schutzbedürfnis der Antragsteller_innen Rechnung getragen. Geheimdienstmitarbeitende der Herkunftsstaaten sollen durch den Ausschluss der Öffentlichkeit keine Möglichkeit der Teilnahme haben. An der Anhörung können Vertreter_ innen des Bundes, eines Landes oder des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen teilnehmen. Auch anderen Personen kann durch das Bundesamt die Anwesenheit gestattet werden, wenn die Antragsteller_innen damit einverstanden sind bzw. die Teilnahme einer Vertrauensperson wünschen.
Begleitung durch einen Beistand Die Antragsteller_innen können sich durch einen Beistand begleiten lassen (§ 14 VwVfG; § 25 Abs. 6 AsylG). Beistände sind Personen des Vertrauens und müssen sich bei der Teilnahme an einer Anhörung durch die Vorlage von Identifikationspapieren ausweisen. Dem Beistand steht ein Anwesenheits- und Fragerecht in der Anhörung zu, eine Genehmigung zur Teilnahme an der Anhörung durch das BAMF ist nicht erforderlich (Schreiben des parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder vom 18. Oktober 2016 an den Abgeordneten 8 Die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einer Aufnahmeeinrichtung nach § 20 AsylG.
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Volker Beck). Gleichwohl sollte dem BAMF angekündigt werden, dass die antragstellende Person mit einem Beistand erscheint.
Die Anhörung erfolgt grundsätzlich unter Hinzuziehung einer sprachmittelnden Person (§ 17 AsylG). Hierbei handelt es sich in der Regel aus Kostengründen nicht um vereidigte Dolmetscher_innen. Die antragstellende Person kann eine_n Sprachmittler_in wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen (§ 191 GVG analog); diese_r darf dann nicht weiter im Verfahren tätig sein. Die Antragsteller_innen sind auch berechtigt, auf eigene Kosten zusätzliche Sprachmittler_innen ihrer Wahl hinzuzuziehen (§ 17 Abs. 2 AsylG). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Sprachmittler_innen
Verlauf der Anhörung Zu Beginn der Anhörung werden zunächst die persönlichen Daten der Antragsteller_innen abgeglichen. Dann beginnt die Anhörung zunächst mit ca. 18 konkreten Fragen, die eine fortlaufende Nummerierung enthalten. Dies sind Fragen9 zu den abgegebenen Dokumenten, der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, den Ausreisedaten, dem Reiseweg und dem Einreisedatum. Es werden die Namen und die Wohnsitze der Eltern und anderer Familienangehörige im Herkunftsland abgefragt, ebenso der schulische Werdegang und mögliche Ausbildungen. Nach diesen konkreten Einzelfragen wird bei Geflüchteten häufig der Eindruck erweckt, dass alle wichtigen Umstände von dem_der Anhörer_in auch konkret erfragt werden. Das ist jedoch nicht der Fall, da sich nach diesen konkreten Fragen die Antragsteller_innen mit einer sehr offenen und weiten Fragestellung konfrontiert sehen. Ihnen wird eröffnet, dass sie nunmehr „zu dem Verfolgungsschicksal und den Gründen für den Asylantrag angehört werden und aufgefordert werden, die Tatsachen vorzutragen, die die persönliche Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihr drohenden ernsthaften Schadens begründen“10. Bei dieser Art der Befragung fällt es den Antragsteller_innen nachvollziehbarerweise ausgesprochen schwer, von sich aus eine zusammenhängende, detaillierte und vollständige Schilderung zu ihren Fluchtgründen abzugeben. Der_die Anhörer_in diktiert das Übersetzte auf einen Tonträger. Am Ende einer Anhörung werden die Antragsteller_innen ausdrücklich gefragt, ob eine vollständige Rückübersetzung der Aufnahme nochmals erfolgen soll. Hierauf sollte auf keinen Fall verzichtet werden. Sind die Antragsteller_innen nicht 9 § 25 Abs. 1, S. 2 AsylG. 10 § 25 Abs. 1, S. 1 AsylG.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
mehr in der Lage, einer Rückübersetzung zu folgen, dann sollten sie dies zum Ausdruck bringen und darauf bestehen, dass ein neuer Termin zur Rückübersetzung angesetzt wird. Ebenso sollten sie darauf bestehen, dass sämtliche Änderungswünsche auch aufgenommen werden. Mit ihrer Unterschrift bestätigen sie, dass sie ausreichend Gelegenheit hatten, zu ihren Asylgründen Stellung zu nehmen, und auch die Verständigung mit der sprachmittelnden Person beanstandungsfrei war. Die Verschriftlichung des Protokolls erfolgt erst zu einem späteren Zeitpunkt und soll den Antragsteller_innen nach Fertigstellung zugesandt werden. Es ist wichtig, das Protokoll zu überprüfen und schnellstens Fehler oder Missverständnisse zu klären. Es ist nicht immer gewährleistet, dass der_die Anhörer_in selbst dann auch den Bescheid fertigt, sondern der Vorgang zur Entscheidung an eine_n andere_n Mitarbeiter_in abgegeben wird. Dies ist misslich, da diese andere Person keinen persönlichen Eindruck von den Antragsteller_innen gewinnen konnte. Das Gesetz selbst schreibt keine Identität zwischen dem_der Anhörer_in und dem_der Entscheider_in vor. Die Personenidentität war in der Vergangenheit zwar angestrebt, inzwischen ist es jedoch so, dass die Anhörung in sogenannten Ankunftszentren durchgeführt und die Entscheidung dann in Entscheidungszentren ausgelagert wird. Das ist gerade für die Prüfung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens bedenklich. Aus diesem Grunde schreibt das BAMF in einer Dienstanweisung vor, dass der Sachverhalt so ausführlich zu dokumentieren ist, dass gegebenenfalls auch ein_e Entscheider_in, der_die die Anhörung nicht selbst durchgeführt hat, die Entscheidung ohne weitere Sachverhaltsermittlung treffen kann. Insbesondere müssten auch Umstände, die für die Beurteilung der Glaub- oder Unglaubwürdigkeit der antragstellenden Person erheblich seien, in der Anhörungsniederschrift erkennbar sein. Aus diesem Grunde muss eine Anhörungsniederschrift durchaus auch Vermerke über geäußerte Emotionen oder Unterbrechungen enthalten.
Sonderbeauftragte Für bestimmte Personengruppen gibt es besonders geschulte Personen beim BAMF. Dies gilt insbesondere für: • • • • •
unbegleitete minderjährige Geflüchtete; Folteropfer; traumatisierte Menschen; bei geschlechtsspezifisch Verfolgten; Opfern von Menschenhandel.
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Vor der Anhörung sollte gegebenenfalls mitgeteilt werden, dass eine_e entsprechende_r Sonderbeauftragte_r die Anhörung durchführen soll. In den Fällen der geschlechtsspezifischen Verfolgung sollte, wenn dies gewünscht wird, die Anhörung nicht nur durch eine Anhörerin, sondern auch durch eine Dolmetscherin erfolgen. Sollte das Asylverfahren sehr lange dauern, besteht die Möglichkeit, beim BAMF eine Sachstandsanfrage zu stellen und eine Mitteilung anzufordern, wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist. In der Regel sollte das Bundesamt innerhalb von 6 Monaten nach der Anhörung über den Asylantrag entschieden haben (§ 24 Abs. 4 AsylG).
5. Besondere Verfahrensformen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Beschleunigtes Verfahren nach § 30a AsylG Am 25.02.2016 wurden weitreichende Vorschriften zur Beschleunigung der Asylverfahren beschlossen mit der Folge, dass es im Asylrecht weitgehende Verschärfungen gibt. Neben den normalen Aufnahmeeinrichtungen, wie oben beschrieben, können die Bundesländer nunmehr auch „besondere Aufnahmeeinrichtungen“ einrichten, in denen ein beschleunigtes Verfahren durchgeführt wird. Nach § 30a AsylG werden für das beschleunigte Verfahren besondere Aufnahmeeinrichtungen (§ 5 Abs. 5 AsylG) geschaffen. Hier sollen u. a. Staatsangehörige aus den sicheren Herkunftsstaaten (§ 29a AsylG) untergebracht werden. Dies sind neben den Staaten der Europäischen Union derzeit Albanien, Bosnien-Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal, Serbien. Diese Liste soll sukzessive erweitert werden. Die Staatsangehörigen aus sicheren Herkunftsstaaten sollen von der Einreise bis zur Abschiebung in diesen besonderen Aufnahmeeinrichtungen verbleiben. Sie unterliegen einem konsequenten Arbeitsverbot, der Residenzpflicht und erhalten lediglich Sachleistungen. Jegliche Möglichkeit einer Integration soll dadurch verhindert und die Personen zu einer schnellstmöglichen freiwilligen Ausreise veranlasst werden (§ 47 Abs. 1a AsylG). Ferner werden auch diejenigen Personen diesen besonderen Einrichtungen zugewiesen, die durch falsche Angaben, falsche Dokumente oder Verschweigen wichtiger Informationen, zurückhalten von Dokumenten über Identität und Staatsangehörigkeit offensichtlich getäuscht haben. Ebenso sind hiervon Personen betroffen, die durch mutwilliges Vernichten oder Beseitigen von Identitäts- oder- Reisedokumenten die Identität/Staatsangehörigkeitsfeststellung unmöglich gemacht haben sollen. 48
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
In die besonderen Aufnahmeeinrichtungen sollen auch die Antragsteller_innen untergebracht werden, die bereits ein erstes Asylverfahren erfolglos durchlaufen haben, sogenannte Asylfolgeantragsteller_innen. Das Gleiche gilt, wenn der Antrag nur zur Verzögerung oder Behinderung der Vollstreckung einer bereits getroffenen oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung gestellt wurde, die zur Abschiebung führen würde. Dies betrifft insbesondere Straftäter_innen, die aus der Haft heraus durch die Stellung eines Asylantrags eine Abschiebung verhindern wollen. Auch wer sich weigert, Fingerabdrücke abzugeben, oder bei dem schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung vorliegen, die eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder öffentliche Ordnung darstellen, ist hiervon betroffen. Über die Asylanträge im Schnellverfahren soll innerhalb einer Woche ab Antragstellung entschieden werden. Kann nicht innerhalb der Wochenfrist entschieden werden, wird das beschleunigte Verfahren nicht durchgeführt und es erfolgt eine Zuweisung in eine normale Aufnahmeeinrichtung oder ein Übergangswohnheim. Das gleiche Schicksal erleiden diejenigen, deren Asylverfahren eingestellt, oder der Asylantrag wegen Unbeachtlichkeit (§ 29 AsylG) oder als offensichtlich unbegründet (§ 29 a AsylG oder § 30 AsylG) abgelehnt wurde.
Flughafenverfahren nach § 18a AsylG Bei Personen, die aus einem sicheren Herkunftsstaat (§ 29 AsylG) über einen Flughafen einreisen, soll das Asylverfahren bereits durchgeführt werden, bevor die Einreise erlaubt wird. Allerdings ist jetzt erforderlich, dass auf dem Flughafengelände eine entsprechende Unterbringungsmöglichkeit geschaffen wurde. Das Gleiche gilt für Antragsteller_innen, die bei ihrer Einreise auf dem Flughafen keinen gültigen Pass oder Passersatz vorzeigen können. Es erfolgt eine schnelle Anhörung durch das BAMF. Danach erst ist den Antragsteller_ innen unverzüglich Gelegenheit zu geben, sich um anwaltlichen Beistand zu bemühen. Wird der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt, wird die Einreise verweigert und es kommt zur Rückschiebung, wenn die Betroffenen nicht umgehend beim zuständigen Verwaltungsgericht Klage eingelegen und innerhalb von 3 Tagen nach Zustellung der ablehnenden Entscheidung einen vorläufigen Rechtsschutzantrag zusätzlich anhängig machen. Eine Einreise wird im Flughafenverfahren nur dann gestattet, wenn mit einer kurzfristigen Entscheidung des BAMF nicht zu rechnen ist oder das BAMF nicht innerhalb von 2 Tagen über den Asylantrag entschieden hat. Kann das Verwaltungsgericht nicht innerhalb von 14 Tagen über den Eilantrag entscheiden, wird die Einreise zugelassen. 49
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6. Entscheidungen des BAMF über den Asylantrag § 31 AsylG Nach persönlicher Anhörung entscheidet das BAMF und unterrichtet die zuständige Ausländerbehörde über die Entscheidung. Sind die Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz oder eine Abschiebehindernis zuerkannt worden, ist diese Entscheidung für die Ausländerbehörde bindend, und den Antragsteller_innen wird eine Aufenthaltserlaubnis von der dafür zuständigen Ausländerbehörde erteilt. Das BAMF kann bei Familienangehörigen11 das sogenannte Familienasyl nach § 26 AsylG zuerkennen, d. h. es erfolgt keine individuelle Prüfung des Asylvorbringens des Familienangehörigen mehr, wenn bereits ein_ Familienangehörige_r als Asylberechtigte_r anerkannt oder die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt bekommen hat. So können Ehepartner_innen12 oder die Eltern oder andere personensorgeberechtigte Erwachsene13 eines bereits anerkannten minderjährigen Geflüchteten oder die minderjährigen Kinder von ihren bereits anerkannten Eltern ihre Flüchtlingsanerkennung ableiten. Bei Ehepartner_innen müssen u. a. die Ehe bereits im Verfolgerstaat bestanden haben und der Asylantrag gleichzeitig oder unverzüglich nach der Einreise gestellt worden sein (§ 26 Abs. 1 AsylG). Bei den Eltern oder anderen personensorgeberechtigten Erwachsenen muss die familiäre Lebensgemeinschaft ebenfalls im Verfolgerstaat bereits bestanden haben (§ 26 Abs. 3 AsylG). Auch müssen die Eltern die Personensorge innehaben. Dies kann bei alleinerziehenden Müttern aus arabischen Ländern durchaus ein Problem sein, da sie nicht immer über das Sorgerecht verfügen.
Einstellung des Asylverfahrens (§ 33 AsylG) als Folge von Verstößen gegen Mitwirkungspflichten Wird gegen Mitwirkungspflichten verstoßen, kann dies dahingehend ausgelegt werden, dass die Antragsteller_innen ihr Verfahren nicht betreiben. In diesen
11 In diesem Zusammenhang gelten als Familienangehörige eigene minderjährige Kinder, Ehepartner_innen und deren minderjährige Kinder, nichteheliche Partnerschaften oder nach den Gepflogenheiten des Landes Sorgeberechtigte, eingetragene Lebenspartner_innen oder Erwachsene, die nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich sind, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist ( siehe Art. 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU). 12 Gilt auch für Lebenspartnerschaften § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. 13 § 26 Abs. 3 AsylG i. V. m. Art. 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/Eu (EU-Qualifikations-RL).
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
Fällen wird eine Rücknahme des Asylantrags angenommen mit der Folge, dass das Asylverfahren eingestellt wird. Diese Rücknahmefiktion (§ 33 Abs. 2 AsylG) greift insbesondere dann, wenn die Antragsteller_innen
• • • Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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•
eine Aufforderung zur Vorlage von für den Antrag wesentlichen Informationen nach § 15 oder eine Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 nicht nachgekommen sind; untertauchen oder gegen die räumliche Beschränkung einer Aufenthaltsgestattung gemäß § 56 verstoßen; während des Asylverfahrens freiwillig in ihr Herkunftsland reisen.
Die Vermutung ist allerdings widerlegbar. Hierzu müssen Antragsteller_innen unverzüglich den Nachweis erbringen, dass die Säumnis oder die vorgeworfene Handlung auf Umständen beruht, auf die sie keinen Einfluss hatten. Gelingt der notwendige Nachweis, ist das Verfahren fortzuführen. Besondere praktische Relevanz zeigt die Vorschrift in den Fällen, in denen der Anhörungstermin versäumt wurde. Dies ist meist der Fall, wenn dem BAMF nicht rechtzeitig die aktuelle Adresse mitgeteilt wurde und die Ladung zum Anhörungstermin an eine alte Adresse erfolgte. Auf die Möglichkeit der Einstellung des Asylverfahrens müssen die Betroffenen ausdrücklich hingewiesen werden. Die Belehrung über die Rechtsfolgen des Ausbleibens erfolgt mittlerweile in den Ladungsschreiben zur persönlichen Anhörung. Zum Nachweis, dass die Betroffenen die Belehrung erhalten haben, werden die Anhörungstermine mit der rechtlichen Belehrung förmlich zugestellt. Allerdings haben die Betroffenen die Möglichkeit, innerhalb einer Frist von 9 Monaten persönlich bei der für sie zuständigen Außenstelle des BAMF die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen. In diesen Fällen nimmt das Bundesamt das alte Asylverfahren wieder in dem Verfahrensabschnitt auf, in dem es eingestellt wurde. Sollte es erneut wegen Nichtbetreibens nach dieser Vorschrift eingestellt werden, wird ein neuer Antrag als Asylfolgeantrag bearbeitet. Dies hat zur Folge, dass das reine Asylverfahren keinen Abschiebeschutz mehr gewährt und nur noch neue Gründe und neue Beweismittel im Verfahren berücksichtigt werden; die eigentlichen Fluchtgründe sind damit in der Regel verbraucht.
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Andrea Würdinger
Ablehnung des Asylantrages Der Asylantrag kann in verschiedener Weise abgelehnt werden. Entweder als 1. (einfach) unbegründet mit der Folge, dass die Antragsteller_innen innerhalb von 2 Wochen Klage erheben können und während des Klageverfahrens der Aufenthalt weiterhin gestattet wird, 2. unbeachtlich § 29 AsylG, d. h. der_die Antragsteller_in hat in einem anderen Staat bereits Sicherheit gefunden, oder als 3. offensichtlich unbegründet § 30 AsylG.
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oder in qualifizierter Form als
Wurde der Asylantrag abgelehnt, wird in der Regel auch eine zeitlich befristete Einreise- und Aufenthaltssperre verhängt, wenn die Antragsteller_innen nicht innerhalb einer gesetzten Frist freiwillig ausreisen oder abgeschoben werden müssen (§ 11 Abs. 7 AufenthG). Bei Ablehnung des Asylgesuchs als offensichtlich unbegründet oder unbeachtlich (§ 36 AsylG) beträgt die Ausreisefrist 1 Woche. Die Klage hat keine aufschiebende Wirkung, es muss zusätzlich ein vorläufiger Rechtsschutzantrag gestellt werden. Beides hat innerhalb einer Woche zu geschehen, und die Anträge müssen in dieser Frist auch begründet werden (§§ 36 Abs. 3; 74 AsylG). Das Gericht soll innerhalb einer Woche über den vorläufigen Rechtsschutzantrag entscheiden. Wird der Antrag abgelehnt wird die Ausländerbehörde die Abschiebung vorbereiten, wenn die Antragsteller_innen nicht ihren Ausreisewillen glaubhaft kundtun. Ohne anwaltliche Vertretung wird bei diesen kurzen Fristen ein effektiver Rechtsschutz gegen die behördliche Entscheidung kaum möglich sein.
7. Zugang zum Arbeitsmarkt während des Asylverfahrens Durch das Integrationsgesetz im August 2016 wurden weitreichende Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt und in die Ausbildung für Geflüchtete schon während des Asylverfahrens beschlossen. Hiervon ausgenommen sind allerdings Staatsangehörige aus sicheren Herkunftsländern. Geflüchtete, die nicht mehr verpflichtet sind, in den (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen ihren Wohnsitz zu nehmen, und sich bereits länger als 3 Monate (ab Ausstellung des Ankunftsnachweises) in Deutschland aufhalten, haben aufgrund einer generellen Zustimmung der Arbeitsagenturen die Möglichkeit, ohne Vorrangprüfung 52
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
eine Arbeitnehmertätigkeit aufzunehmen (§ 32 Abs. 1, Abs. 4 BeschV i. V. mit Anlage zu § 32; § 61 AsylG). Lediglich mit Ausnahme der Arbeitsagenturen in Mecklenburg-Vorpommern sowie einiger Arbeitsagenturen im Bundesland Bayern haben alle Arbeitsagenturen in den sonstigen Bundesländern eine generelle Zustimmung zur Ausübung der unselbstständigen Erwerbstätigkeit für Geflüchtete im Asylverfahren erteilt. Für die Bundesländer, die keine generelle Zustimmung erteilt haben, bedeutet dies, dass die Antragsteller_innen nur Zugang zur unselbstständigen Tätigkeit unter den Voraussetzungen des § 32 Beschäftigungsverordnung (BeschV) haben. In den ersten 15 Monaten ist ihr Zugang zum Arbeitsmarkt noch von der Zustimmung der örtlichen Arbeitsagentur abhängig. Die Antragsteller_innen müssen eine Beschäftigungserlaubnis bei der Ausländerbehörde beantragen. Hierzu müssen sie ein Arbeitsplatzangebot vorweisen. Dieser Antrag wird dann an die örtliche Arbeitsagentur weitergeleitet. Dort wird geprüft, ob für diese Stelle bereits andere arbeitslos gemeldete Arbeitnehmer_innen in Betracht kommen (sogenannte Vorrangprüfung). Der potenzielle Arbeitgeber muss eine Stellenbeschreibung der Arbeitsagentur vorlegen und die Stelle auch als offene Stelle melden. Wenn keiner der anderen arbeitslos gemeldeten Arbeitnehmer_innen für diese Stelle in Betracht kommt, wird geprüft, ob die angebotene Stelle auch hinsichtlich des Gehalts den tarifvertraglichen und gesetzlichen Mindestlohnbestimmungen entspricht. Erst dann kann die Beschäftigungserlaubnis erteilt werden. Nach 15 Monaten ununterbrochenem gestattetem oder geduldetem Aufenthalt wird auf diese Vorrangprüfung verzichtet und nur noch die Einhaltung der allgemeinen gesetzlichen, berufsrechtlichen und tarifvertraglichen Bestimmungen geprüft. Für alle Antragsteller_innen gilt, dass nach 48 Monaten gestattetem oder geduldetem Aufenthalt ohne weitere Prüfung durch die Arbeitsagentur ein unbeschränkter Zugang zur unselbstständigen Beschäftigung durch die Ausländerbehörde erlaubt werden kann.
8. Teilnahme an Integrationskursen und berufsbezogener Deutschförderung Seit November 2015 können Geflüchtete mit guten Bleibeperspektiven bereits während des laufenden Asylverfahrens sowohl eine berufsbezogene Deutschförderung erhalten (§ 45a Abs. 2 AufenthG) als auch an einem Integrationskurs teilnehmen (§ 44 Abs. 4 Nr. 1 AufenthG). Damit soll bereits frühzeitig die Integration gefördert werden. Ausgeschlossen hiervon sind insbesondere Staatsangehörige aus sicheren Herkunftsländern, da die gute Bleibeperspektive 53
Andrea Würdinger
verneint wird. Derzeit gehören Antragsteller_innen aus Syrien, Eritrea, Irak, Iran und Somalia zu der Gruppe, bei denen von einer guten Bleibeperspektive ausgegangen wird.
9. Weitere Asylanträge
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Asylfolgeantrag § 71 AsylG Jeder weitere Asylantrag nach Rücknahme oder negativem Abschluss eines Erstantrags gilt als Asylfolgeantrag. Zuständig ist die Außenstelle des BAMF, die auch für den ersten Antrag zuständig war. Der Antrag muss in der Regel durch persönliche Vorsprache gestellt werden (§ 71 Abs. 2 AsylG). Ist wegen des früheren erfolglosen Verfahrens der_die Antragsteller_in bereits zur Fahndung ausgeschrieben worden, kann es zu einer Verhaftung und Abschiebehaft kommen. Der Asylfolgeantrag ist der Natur nach ein Wiederaufnahmeantrag. Ob das Asylverfahren wiederaufgenommen wird, hängt davon ab, ob Wiederaufnahmegründe vorliegen. Dies sind: • •
Entweder können neue Asylgründe oder Abschiebungsverbote (z. B. exilpolitische Tätigkeit, Putsch im Herkunftsland, Religionswechsel; krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot) vorgetragen werden oder es liegen neue Beweismittel vor.
Die neuen Gründe oder Beweismittel müssen innerhalb von 3 Monaten ab Kenntnis der Umstände durch den_die Antragsteller_in beim BAMF vorgetragen werden.
Zweitantrag § 71a AsylG Ein Zweitantrag nach § 71a AsylG betrifft Geflüchtete, die in einem sicheren Drittland erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt haben und nun einen weiteren Antrag in Deutschland stellen. Ein solcher Antrag ist hier nur zulässig, wenn Deutschland für die Prüfung zuständig ist und die Voraussetzungen für ein Wiederaufnahmeverfahren vorliegen, also neue Gründe vorliegen, die von dem sicheren Drittstaat noch nicht berücksichtigt werden konnten.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
10. Nach positiver Entscheidung des BAMF
• • • •
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Nach positiver Entscheidung des BAMF unterrichtet es auch die zuständige Ausländerbehörde. Der_die Betroffene muss dann aber auch die Aufenthaltserlaubnis beantragen. Eine Aufenthaltserlaubnis wird nach § 25 Abs. 1 AufenthG in den Fällen Art.16a GG erteilt; § 25 Abs. 2, 1. Alternative AufenthG bei GFK/§ 3 AsylG; § 25 Abs. 2, 2.Alternative AufenthG bei Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 4 AsylG (subsidiärer Schutz) oder § 25 Abs. 3 AufenthG bei bestehenden Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erteilt.
Alle Inhaber_innen eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 1 und 2 AufenthG haben vollen Arbeitsmarktzugang und können auch selbstständig tätig werden (§ 25 Abs. 1, S. 4; Abs. 2 S. 2 AufenthG). Sie fallen nicht mehr unter das AsylbLG, sondern erhalten Leistungen nach dem SGB II (§ 7 Abs. 1, S. 2 SGB II). Die Inhaber_innen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG habe vollen Zugang zum Arbeitsmarkt (§ 31 BeschV), benötigen aber für eine selbstständige Tätigkeit eine besondere Erlaubnis der Ausländerbehörde. In den Fällen des §§ 25 Abs. 1 und 2, 1. Alt. AufenthG erhalten Geflüchtete einen Flüchtlingspass nach der GFK. Damit erfüllen sie ihre Passpflicht. Ein alter, noch gültiger Nationalpass kann ihnen wieder ausgehändigt werden, doch sollten sie nicht die Verlängerung oder Neuausstellung des Nationalpasses veranlassen, da sie damit zu erkennen geben, dass sie sich wieder unter den Schutz des Verfolgerstaates stellen. Dies führt in der Regel zum Erlöschen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Reisen in das Herkunftsland ist anerkannten Geflüchteten nicht möglich, da die Konventionspässe für die Herkunftsländer nicht gültig sind und dies ebenfalls zum Erlöschen der Flüchtlingsanerkennung führen kann (§ 72 Abs. 1 Nr. 1a AsylG). Um Verwandte zu treffen, können sie aber in Nachbarstaaten reisen. Vorsprachen bei der Botschaft zwecks Ausstellung von anderen Dokumenten, die z. B. für eine Heirat oder die Ausstellung einer Geburtsurkunde durch das Standesamt benötigt werden, sind unschädlich. Die Gruppe, die einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG erhalten hat, ist ebenfalls von der Passpflicht befreit (§ 5 Abs. 3, S. 1 i. V. mit § 3 AufenthG). Diese Personen haben jedoch keinen Anspruch auf einen Konventionspass. Sie erhalten in der Regel zunächst einen Ausweisersatz, wenn der Nationalpass nicht vorhanden ist. Die Aufenthaltserlaubnis wird in den noch gültigen Nationalpass oder in den Ausweisersatz eingetragen. Die Vorlage und
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Andrea Würdinger
Wohnsitzauflage § 12 a AufenthG
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Verlängerung des Nationalpasses sind bei dieser Personengruppe gänzlich unschädlich. Sie können auch ein deutsches Reisedokument für Ausländer_innen (§§ 5, 8 AufenthV) beantragen. Dieses wird jedoch erst ausgestellt, wenn sich die Person intensiv und erfolglos um die Ausstellung eines Nationalpasses bemüht hat und dies auch nachweisen kann.
Durch das Integrationsgesetz wurde eine allgemeine Wohnsitzregelung für anerkannte Geflüchtete, subsidiär Schutzberechtigte sowie Personen mit einem festgestellten Abschiebehindernis eingeführt. Das Gleiche gilt für Personen mit einem Aufenthaltstitel nach §§22; 23; 25 Abs. 3 AufenthG. Die gesetzliche Wohnsitzregelung gilt nur für Personen, die nicht schon während des Asylverfahrens bzw. bei erstmaliger Erteilung der Aufenthaltserlaubnis bereits gearbeitet haben (15 Wochenstunden/Mindestverdienst 710 €) oder in Ausbildung sind. Zur Förderung einer nachhaltigen Integration besteht die Möglichkeit, den Wegzug in ein anderes Bundesland zu verhindern, wenn dort keine Möglichkeit der beruflichen und wirtschaftlichen Situation nachgewiesen werden kann. Wird der Nachweis erbracht, dass in einem Umfang von mindestens 15 Wochenstunden und ein Mindestverdienst von derzeit 710 € eine Arbeit zur Verfügung steht, eine Berufsausbildung oder ein Studium/Ausbildung aufgenommen wurde oder die Aufnahme bevorsteht wird auf Antrag die Wohnsitzregelung aufgehoben (§ 12a Abs. 1 AufenthG). Nach der Neuregelung besteht auch die Möglichkeit, innerhalb des Bundeslandes die Zuweisung an einen bestimmten Ort vorzunehmen, an dem hinsichtlich Sprache, Beruf, Ausbildung, Wohnung integrationsförderliche Bedingungen angenommen werden (§ 12a Abs. 3 AufenthG). Ebenso kann eine Zuzugssperre verhängt werden, wenn die Geflüchteten ihren Wohnsitz in einem Ort nehmen möchte, in dem integrationsschädliche Bedingungen angenommen werden (§ 12a Abs. 4 AufenthG). Die Betroffenen können in all den Fällen die Aufhebung erfolgreich beantragen, wenn sie entsprechende integrationsfördernde Bedingungen für sich schaffen, also insbesondere Wohnraum, Arbeit/Ausbildung und Möglichkeiten der sprachlichen Integration nachweisen (§12a Abs. 5 AufenthG).
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
11. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete (UMG) In Deutschland sind bei Einreise eines_einer UMG alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls im Rahmen des staatlichen Wächteramtes auf der Grundlage des VIII. Sozialgesetzbuches (SBG VIII) sicherzustellen. Leitgedanke dieses Gesetzes ist es, dass jeder junge Mensch in Deutschland ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat (§ 1 Abs. 1 SGB VIII).
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Deutsches Recht
Vorläufige Inobhutnahme zur Prüfung der Verteilung (§ 42a SGB VIII) Seit dem 1. November 2015 werden Kinder und Jugendliche nach ihrer Ankunft zunächst vom örtlich zuständigen Jugendamt vorläufig in Obhut genommen und nach dem Königsteiner Schlüssel unter Umständen auf andere Bundesländer und Jugendeinrichtungen verteilt. Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme hat das örtlich zuständige Jugendamt zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen fünf zentrale Punkte einzuschätzen: 1. Würde das Wohl des_der Minderjährigen durch die Durchführung des Verteilungsverfahrens gefährdet, im Hinblick sowohl auf die physische als auch auf die psychische Belastung? 2. Halten sich Verwandte im In- oder Ausland auf? 3. Erfordert das Wohl des_der Minderjährigen eine gemeinsame Inobhutnahme mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen? 4. Schließt der Gesundheitszustand der minderjährigen Person die Durchführung des Verteilungsverfahrens innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme aus? Hierzu soll eine ärztliche Stellungnahme eingeholt werden. 5. Alterseinschätzung nach § 42f. SGB VIII. Wenn keine Gründe gegen die Verteilung des_der Minderjährigen sprechen, meldet das Jugendamt die Person zur Verteilung (bei der Landesstelle) an. Verweigert sich das Kind oder die jugendliche Person der Durchführung des Verteilungsverfahrens und ist aufgrund des seelischen Zustandes zu befürchten, dass eine Durchführung der Verteilung entgegen dieser starken Ablehnungs57
Andrea Würdinger
haltung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer (Re-)Traumatisierung führen kann, dann ist von der Durchführung des Verteilungsverfahrens abzusehen.
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Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) Alle UMG unter 18 Jahren haben Anspruch auf Inobhutnahme im Rahmen der Jugendhilfe. Sie sind nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII i. V. m. § 87 SGB VIII durch das Jugendamt am tatsächlichen Aufenthaltsort in Obhut zu nehmen. Das Kind oder die jugendliche Person ist in einer geeigneten Einrichtung oder sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Es ist dem Kind oder der jugendlichen Person unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines/ ihres Vertrauens zu benachrichtigen. Das Jugendamt hat während der vorläufigen Inobhutnahme für das Wohl der minderjährigen Person zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen.
Altersfeststellung Seit dem 1. November 2015 ist das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung in § 42f. SGB VIII aufgenommen worden. Das Jugendamt hat im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. Das Jugendamt soll sich dabei aller Beweismittel bedienen, die es für erforderlich hält, um die Minderjährigkeit festzustellen. In der Gesetzesbegründung wird ausdrücklich das Kindeswohl bzw. das Wohl der minderjährigen Person als Maßstab zur Festsetzung des Alters festgelegt. Das bedeutet u. a., dass die Festsetzung unter Achtung ihrer Menschenwürde und ihrer körperlichen Integrität erfolgen muss. Ferner muss die Altersfeststellung auf der Grundlage von Standards erfolgen, wie sie beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter in ihren „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ auf ihrer 116. Arbeitstagung beschlossen hat (Mai 2014). Die Gesetzesbegründung führt ferner aus, dass eine qualifizierte Inaugenscheinnahme den Gesamteindruck würdigt, der neben dem äußeren Erscheinungsbild insbesondere die Bewertung der im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand umfasst. Daneben kann zu einer qualifizierten Inaugenscheinnahme auch gehören, Auskünfte jeder Art einzuholen, Beteiligte anzuhören, Zeug_innen und Sachverständige zu vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeug_ innen einzuholen sowie Dokumente, Urkunden und Akten beizuziehen.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
Minderjährige unbegleitete Geflüchtete sind in das Verfahren einzubeziehen. Sie sind vom Jugendamt über die Vornahme der Alterseinschätzung, die Methode sowie über die möglichen Folgen der Alterseinschätzung und die Folgen einer Verweigerung der Mitwirkung bei der Sachverhaltsmitteilung umfassend zu informieren und über ihre Rechte aufzuklären. Es ist sicherzustellen, dass diese Informationen in einer der minderjährigen Person verständlichen Sprache mitgeteilt werden; sie muss auch die Möglichkeit haben, eine Person des Vertrauens zu benachrichtigen. Nur in den Fällen, in denen Zweifel an der Minderjährigkeit nicht auf andere Weise beseitigt werden, kann das Jugendamt von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zu Alterseinschätzung veranlassen. Die ärztliche Untersuchung ist mit den „schonendsten Methoden“ von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen. Zentrale Bestandteile der Altersdiagnostik sind Anamnese, körperliche Untersuchung (Reife), Röntgenuntersuchung der Hand, Panoramaröntgenuntersuchung der Kieferregion und gegebenenfalls ein Dünnschicht-CT der medialen Claviculaepiphysen (Schlüsselbein), sofern eine Rechtsgrundlage für Röntgenuntersuchungen ohne medizinische Indikation angenommen wird. Dies ist sehr umstritten, da die Röntgen-Verordnung einen solchen Eingriff an eine medizinische Indikation knüpft, die bei einer forensischen Altersdiagnostik erkennbar nicht vorliegt. Zur Erzielung einer größtmöglichen Aussagesicherheit werden mehrere Methoden kombiniert. Im Altersgutachten werden in der Regel das Mindestalter und/oder das wahrscheinlichste Alter angegeben (Schmeling et al. 2016). Dies schließt ausdrücklich Genitaluntersuchungen laut Gesetzesbegründung aus. Die betroffene Person ist umfassend über die Untersuchungsmethode und über die möglichen Folgen des Untersuchungsergebnisses aufzuklären. Weiter darf die Untersuchung nur nach Einwilligung der betroffenen Person und ihrer juristischen Vertretung erfolgen. Eine Verweigerung kann allerdings als Verletzung der Mitwirkungspflicht gewertet werden, mit der Folge, dass im äußersten Fall Leistungen gestrichen werden können. Wenn kein Kontakt zu den Personensorgeberechtigten besteht, werden beim zuständigen Amtsgericht das Ruhen der elterlichen Sorge und die Bestellung eines Vormunds beantragt. Die Clearingstelle oder Jugendhilfeeinrichtung leitet nach dem Jugendhilferecht und dem Aufenthaltsrecht entsprechende Schritte ein. Zum Clearingverfahren gehört u. a. auch die Klärung des Aufenthaltsstatus. Dabei ist zu prüfen und zu entscheiden, ob ein Asylantrag gestellt werden sollte oder aber ein Antrag bei der zuständigen Ausländerbehörde auf Erteilung einer Duldung oder eines Aufenthaltstitels sinnvoller ist. Stammt die schutzbedürftige Person aus einem Land mit hohen Anerkennungschancen (derzeit 59
Andrea Würdinger
Syrien, Irak, Somalia, Eritrea, Iran14 ist es im Hinblick auf einen möglichen Familiennachzug sinnvoll, in das Asylverfahren zu gehen. In allen anderen Fällen ist genau abzuwägen, ob und wann ein Asylantrag sinnvoll ist.
Unbegleitete Minderjährige gelten als besonders schutzbedürftige Personen und genießen besondere Garantien im Asylverfahren. Ihr Verfolgungsschicksal und die Fluchterfahrungen erfordern eine besondere Rücksichtnahme sowie eine sensibilisierte Herangehensweise. Aus diesem Grunde wird ihr Asylverfahren von Sonderbeauftragten betreut. Hierbei handelt es sich um Entscheider_innen, die spezielle Schulungen erhalten haben. Für die Anhörung von UMG gelten folgende Besonderheiten: Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Anhörung und Entscheidung im Asylverfahren
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Die Anhörung findet erst nach der Vormundschaftsbestellung statt. Der Termin zur Anhörung wird in der Regel dem Vormund mitgeteilt. Die Anhörung findet grundsätzlich in Anwesenheit des Vormunds bzw. Verfahrensbevollmächtigten statt. Zusätzlich kann auch eine weitere Person wie eine_r Bezugsbetreuer_in aus der Einrichtung bei der Anhörung anwesend sein, bei einer besonders traumatisierten Person auch der_die behandelnde Therapeut_in. Wenn mehr als 2 Personen die jugendliche Person begleiten, sollte dies zuvor dem_der zuständigen Sachbearbeiter_in des BAMF mitgeteilt werden. Vormund und Betreuung können sich im Verlauf der Anhörung auch zum Einzelfall äußern bzw. Fragen an den_die Jugendliche_n stellen, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Bei der Anhörung wird ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, ob Anhaltspunkte für bestimmte kinderspezifische Fluchtgründe vorliegen. Dies sind z. B. drohende Genitalverstümmlungen, Zwangsverheiratung, häusliche Gewalt, Menschenhandel oder Zwangsrekrutierungen als Kindersoldat_innen.
Auf Grundlage der Anhörung wird dann eine Entscheidung über den Asylantrag getroffen. Dieser Bescheid wird dem Vormund zugestellt.
14 Gesamtanerkennungsquote Stand Februar 2017: Syrien ca. 94 %; Irak 61%,Eritrea 73 %, Somalia 64 %, Iran 55 %, Afghanistan 44 %.
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Leben im Rahmen des Asylverfahrens
Besonderheiten im Dublin-Verfahren für UMG Auch für UMG gilt grundsätzlich die Dublin III VO. Zuständig für das Asylverfahren ist, sofern es dem Wohl des UMG dient, der Mitgliedstaat, in dem sich
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Familienangehörige (auch Geschwister) rechtmäßig aufhalten (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 und 2 Dublin III VO); sonstige Verwandte rechtmäßig aufhalten und eine Einzelfallprüfung ergeben hat, dass der_die Verwandte für die minderjährige Person sorgen kann (Art. 8 Abs. 2 Dublin III VO).
Gibt es Personen nach Abs. 1 bzw. Abs. 2 in mehreren Mitgliedstaaten, ist das Wohl des_der Minderjährigen entscheidend (Art. 8 Abs. 3 Dublin III VO). Ansonsten ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem die unbegleitete minderjährige Person ihren Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Nach Art. 17 Dublin III VO kann Deutschland jederzeit auch im Wege des Selbsteintrittsrechts das Asylverfahren übernehmen. Mit Eintritt der Volljährigkeit können die Betroffenen aus der Jugendhilfeeinrichtung in eine normale Gemeinschaftsunterkunft eingewiesen werden. Junge Menschen, die bereits volljährig sind, benötigen meist jedoch besondere Hilfe auf dem Weg hin zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung. Die Anhaltspunkte für einen solchen Hilfebedarf sind vielfältig. Dazu gehören beispielsweise Schul- oder Ausbildungsabbrüche, Obdachlosigkeit, Sucht, lange Heimaufenthalte oder eine gestörte seelische Entwicklung. Ein weitergehender Betreuungsbedarf auch mit Eintritt der Volljährigkeit besteht bei jungen Geflüchteten nicht selten. Beratung, Unterstützung bei Behördengängen oder der Wohnungssuche sowie Therapien können Teil der Hilfemaßnahmen sein. Auch die Nachbetreuung im Rahmen betreuten Einzelwohnens kommt häufiger vor. Die Hilfsmaßnahmen sind stets flexibel und werden auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt. Hilfe wird so lange gewährt, wie sie aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. In der Regel kann die Hilfe für Junge Erwachsene bis zum 21. Lebensjahr gewährt werden. In besonderen Ausnahmesituationen auch darüber hinaus. Zuständig für die Prüfung ist das Jugendamt. Erhalten die UMG Flüchtlingsschutz15, können ihre Eltern im Wege des Familiennachzugs (§ 36 Abs. 1 AufenthG) nachkommen. Allerdings wird von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung nur 15 Flüchtlingsschutz: Asylberechtigung Art. 16a GG, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §3 AsylG, subsidiären Schutz nach § 4 AsylG.
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abgesehen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Wird der Asylantrag insgesamt abgelehnt, dann erhalten die UMG eine Duldung, in der Regel bis zum 18. Lebensjahr. Sie sind dann wie auch die anderen abgelehnten Erwachsenen verpflichtet, im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten (§ 82 AufenthG) Ausweis-und Reisedokumente zu beschaffen. Meist gelingt es jedoch, dass die UMG die Zeit ihres Aufenthalts für die schulische Bildung und zur Aufnahme einer Ausbildung nutzen können. Dann besteht die Möglichkeit, im Anschluss an das erfolglose Asylverfahren eine Ausbildungsduldung (§ 60a AufenthG) zu beantragten. Wichtig ist, dass die UMG sich nach dem negativen Abschluss des Asylverfahrens auch umgehend und ernsthaft um Personaldokumente16 bemühen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Andrea Würdinger
Literatur Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016): Persönliche Anhörung. http://www. bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/AblaufAsylv/PersoenlicheAnhoerung/persoenliche-anhoerung-node.html [Zugriff: 12.07.2017]. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2017): Aktuelle Zahlen zu Asyl. Ausgabe Juni 2017. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/ Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-juni-2017.html?nn=7952222 [Zugriff: 12.07.2017]. Hofmann, Rainer M. (Hrsg.) (2016): Ausländerrecht: AufenthG | AsylG (AsylVfG) | GG | FreizügG/EU | StAG | EU-Abkommen | Assoziationsrecht. 2. Auflage. BadenBaden: Nomos. Marx, Reinhard (2017): Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht. Handbuch, 6.Auflage. Baden-Baden: Nomos. Schmeling, Andreas/Dettmeyer, Reinhard/Rudolf, Ernst/Vieth, Volker/Geserick, Gunther (2016): Forensische Altersdiagnostik. Methoden, Aussagesicherheit, Rechtsfragen. In: Deutsches Ärzteblatt International, 113(4), S. 44–50; DOI: 10.3238/ arztebl.2016.0044.
16 Pass oder zumindest alle Dokumente, die die Heimatbotschaft benötigt, um einen Pass auszustellen. Dies sind i. d. R. Geburtsurkunde, Staatsangehörigkeitsnachweis.
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Marei Pelzer
Leben unter dem AsylbLG1
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1. Einleitung Das Asylbewerberleistungsgesetz – kurz: AsylbLG – stellt die rechtliche Grundlage für die soziale Existenzsicherung für Asylsuchende und andere Flüchtlingsgruppen dar. Die Betroffenen haben keine Ansprüche auf Grundsicherung nach SGB II oder Sozialhilfe nach SGB XII. Stattdessen beziehen sie für einen gewissen Zeitraum im Vergleich zur Grundsicherung oder Sozialhilfe (SGB II/SGB XII) geringere Leistungen, zeitweise Sachleistungen und in manchen Fällen sogar dauerhaft drastisch gekürzte Leistungen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 die alte Fassung des AsylbLG für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt hatte, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auch für Asylsuchende zu realisieren, wurde das Gesetz mehrfach verändert. Herausgekommen ist ein ausdifferenziertes Regelwerk, das sowohl in der Höhe der Leistungen als auch in der Form (Sach- oder Geldleistungen) je nach betroffener Gruppe starke Unterschiede macht. Die extremen Leistungskürzungen stehen erneut unter dem Verdacht, verfassungswidrig zu sein. Die sozialrechtliche Diskriminierung von Asylsuchenden wird seit ihrer Einführung von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Flüchtlingsorganisationen und anderen gesellschaftlichen Akteur_innen abgelehnt. Sie fordern die Abschaffung des AsylbLG. Der aktuelle Kurs der Politik schlägt indes die entgegengesetzte Richtung ein und weitet problematische Regelungen aus. Der nachfolgende Text soll einen kurzen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Gesetzes geben (2.), seine Grundannahmen hinterfragen (3.), die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts benennen (4.) sowie die einzelnen Regelungen des AsylbLG erläutert (5.), um mit einen Ausblick auf die sozialpolitischen Herausforderungen zu schließen (6.).
1 Stand: 01.01.2017.
Marei Pelzer
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2. Entstehungsgeschichte des AsylbLG: Abschreckung von Geflüchteten und rassistische Gewalt Das AsylbLG wurde als Bestandteil des sogenannten Asylkompromisses 1993 verabschiedet. Vorangegangen war eine langanhaltende öffentliche Stimmungsmache gegen Geflüchtete seitens der etablierten Parteien und vieler Medien. Schutzsuchende wurden öffentlich als „Schein-Asylanten“ diffamiert, und mit Bildern wie „Das Boot ist voll“ wurde eine vermeintliche Überforderung der deutschen Gesellschaft angesichts steigender Flüchtlingszahlen herbeigeredet. 1992 stiegen die Zahlen der neu eingereisten Asylsuchenden kurzfristig auf ca. 400.000, da der Krieg im auseinanderfallenden Jugoslawien viele Menschen zur Flucht zwang. Rassistische Kampagnen gegen Schutzsuchende und das Asylgrundrecht schufen einen Nährboden für zahlreiche Gewaltübergriffe auf Geflüchtete, die seit der Wiedervereinigung 1990 an der Tagesordnung waren. Im September 1991 wurde das sogenannte Ausländerwohnheim in Hoyerswerda tagelang zum Ziel rechtsextremer Angriffe. Im Oktober 1991 wurden in Hünxe vier libanesische Flüchtlingskinder bei Brandanschlägen schwer verletzt. Im August 1992 kam es zum Höhepunkt der Pogrome: In Rostock-Lichtenhagen setzten Neonazis unter dem Beifall der umstehenden deutschen Nachbar_innen ein Haus in Brand, in dem 120 vietnamesische Vertragsarbeiter_innen eingeschlossen waren. Die Eingesperrten mussten unter akuter Lebensgefahr stundenlang im Haus ausharren. Die Feuerwehr kam zu spät und auch die Polizei schritt nicht rechtzeitig ein. Nur durch Zufall gab es keine Toten. Nach den Anschlägen von Rostock-Lichtenhagen wurden die Forderungen nach der Abschaffung des Asylgrundrechts und den Kürzungen von Sozialleistungen noch lauter. Die Politik gab auf perfide Art und Weise den Opfern die Schuld: Die zu hohen Flüchtlingszahlen würden den inneren Frieden gefährden. Am 26. Mai 1993 wurde der Asylkompromiss von CDU/CSU, SPD und FDP beschlossen: Statt der Feststellung „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ (Art. 16, Abs. 2, S. 2 GG, alte Fassung) wurde ein neuer Artikel 16a GG geschaffen, der eine lange Liste an Einschränkungen enthielt: Drittstaatenregelung, das Konzept der sicheren Herkunftsländer und die Abschaffung des einstweiligen Rechtsschutzes sowie das Flughafenverfahren. Das AsylbLG wurde etwas später am 30. Juni 1993 verabschiedet. Der Gesetzgeber schuf damit ein sozialrechtliches Sondergesetz für Asylsuchende, das im Vergleich zur damaligen Sozialhilfe deutlich reduzierte Leistungen vorsah. Die Zeit, aus der das AsylbLG stammt, erinnert in Teilen an die heutige Situation: Brutale und lang andauernde Kriege zwingen viele Menschen zur Flucht. Vergleichsweise wenige schaffen es nach Europa – und dennoch reagieren die europäischen Regierungen mit einer Politik der Abwehr und Abschreckung. Der „Sommer der Migration“ 2015 war nur ein kurzes Aufflackern 64
Leben unter dem AsylbLG
3. Grundannahme des AsylbLG: Reduzierung der Anreize für Einreise und Aufenthalt?
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humanitären Handelns. Seither ist die Flüchtlingspolitik wieder zum Zankapfel der Politik geworden: Die Bundesregierung – getrieben von manchem Landespolitiker – setzt immer weitere Gesetzesverschärfungen durch, um so Populismus zu bedienen. Zweckmäßigkeit und verfassungsrechtliche Vorgaben spielen dabei kaum noch eine Rolle.
Der Einführung des AsylbLG liegt die politische Absicht zugrunde, durch Reduzierung der Sozialleistungen künftige Asylsuchende davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen (BT-Drs. 12/4451: 5ff.). Die damalige Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP wollte wirtschaftliche Anreize für die Einreise nach Deutschland beseitigen (BT-Drs. 12/5008: 13f.). Die Behauptung war, dass Asylsuchende aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen, um das Geld der Sozialfürsorge zu erhalten. Einen Beleg für diese Aussage lieferte die damalige Bundesregierung nicht. Es ist höchst zweifelhaft, dass die Grundannahmen des Gesetzes zutreffen. Studien aus der Migrationsforschung kommen zu einem grundlegend anderen Ergebnis, als dass erwartete Sozialleistungen einen hervorstechenden Migrationsanreiz darstellen. Demnach spielen derartige Faktoren für Migration – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle (Pries 2008). Wenn man von der besonderen Situation im Jahr 2015 ausgeht, haben Asylsuchende kein spezifisches Land vor Augen, wenn sie sich zur Flucht entschließen (Crawley 2010: 26ff.) Bei Vorstellungen über ein bestimmtes Zielland stehen andere Aspekte im Vordergrund: Historische Verbindungen zwischen Herkunfts- und Zielland sind beispielsweise ein entscheidender Faktor. Ehemalige Kolonien europäischer Länder weisen neben der sprachlichen Nähe auch noch nach langer Unabhängigkeit enge Bezüge zur ehemaligen Kolonialmacht auf, die Einfluss auf die Migrationsbewegungen haben. Weiterhin haben sich in vielen Ländern ehemaliger Kolonialmächte Communities gebildet, aus denen sich für die Migrationsbewegungen wichtige soziale Netzwerke ergeben. Auch für Deutschland sind ähnliche Phänomene zu beobachten. Es geht also nicht um Sozialleistungen, sondern vielmehr um Hilfestellung und Informationen durch Netzwerke. Zudem ist es für Asylsuchende von entscheidender Bedeutung, dass im Falle eines Schutzbedürfnisses im Zielland tatsächlich Asylstrukturen bestehen. Da diese z. B. in Italien lange Zeit nicht ausreichend vorhanden waren, gingen viele Geflüchtete aus Somalia, nachdem sie sich lange Zeit perspektivlos dort aufgehalten hatten, weiter nach Großbritannien (Wagner/Platzer 2010: 65
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Marei Pelzer
28ff.). Vor Erreichen des Ziellandes sind die Informationen, die Asylsuchende über potenzielle Zielländer erhalten, zumeist diffus und oberflächlich (Crawley 2010: 26ff.). Allerdings wird dem Ansehen des Ziellandes und dessen politischen Wertvorstellungen nach verschiedenen Studien eine große Bedeutung zugemessen; europäische Länder gelten offenbar als liberal, frei und demokratisch (Wagner/Platzer 2010: 32). Politisch Verfolgte verbinden damit wichtige Erwartungen an die Zielländer, in denen sie Schutz vor Verfolgung suchen. Neben den Erkenntnissen der Migrationsforschung stellen auch prinzipielle Erwägungen die Abschreckungspolitik infrage: Abschreckung ist bereits kein legitimes Ziel, da es die Menschenwürde verletzen kann, denn damit werden die Leistungsberechtigten aus generalpräventiven Gründen zu Objekten staatlicher Politik gemacht, was ein Verstoß gegen das Prinzip der Menschenwürde ist. Die eigentlichen Normadressat_innen leben im Ausland, während es für die Regelungsbetroffenen im Inland keine Möglichkeit gibt, sich entsprechend dem Normbefehl – Unterlassen der Einreise und des unbegründeten Asylantrags – zu verhalten (Stolleis/Schlamelcher 1985: 309ff.).
4. Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum Das Bundesverfassungsgericht hat am 18. Juli 2012 entschieden, dass die Geldleistungen des damaligen § 3 AsylbLG evident unzureichend und damit verfassungswidrig waren. Die Barbeträge waren seit 1993 nicht angepasst worden und lagen ca. 40 Prozent unterhalb der Hartz-IV-Leistungen. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums besteht demnach aus zwei Komponenten: Zum einen dient es der Sicherung der physischen Existenz des Menschen, umfasst also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (BVerfG, Urteil v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, Rn. 136). Zum anderen muss es Leistungsbezieher_innen die Möglichkeit geben, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen zu pflegen, sowie ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleisten. Dieses Recht auf soziokulturelle Teilhabe gründet das Bundesverfassungsgericht auf der Tatsache, dass der Mensch als Person notwendig auch in sozialen Bezügen existiert. Schließlich legte das höchste Gericht dem Gesetzgeber die Maßgabe auf, dass bei einer künftigen Regelung (wenn er denn die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen wolle) nicht pauschal nach dem Aufent66
Leben unter dem AsylbLG
„Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen“ (ebd. Rn. 95). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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haltsstatus differenziert werden dürfe. Eine Differenzierung sei nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne (BVerfG 18.7.2012, 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11, Rn. 73). Ebenfalls dürfen soziale Minderleistungen laut Bundesverfassungsgericht nicht mehr als Abschreckungsinstrument eingesetzt werden. Ausdrücklich stellt das BVerfG fest:
Und weiter: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (ebd. Rn. 95).
Das Verfassungsgericht bringt damit zum Ausdruck, dass eine menschenwürdige Existenzsicherung nicht aus migrationspolitischen Gründen infrage gestellt werden darf. Generalprävention und Abschreckung sind im Bereich des Sozialleistungsrechts illegitime Ziele (Röseler 1994: 293).
5. Regelungsinhalte des AsylbLG Das AsylbLG regelt, wer nach dem AsylbLG leistungsberechtigt ist – oder anders ausgedrückt, Leistungen nach dem AsylbLG beziehen muss, anstatt die regulären Sozialleistungen zu erhalten. Außerdem wird die Höhe und Form der Leistung festgelegt. Weiterhin werden auch Leistungen für besondere Situationen wie z. B. Schwangerschaft und generell der Zugang zur medizinischen Versorgung geregelt. Außerdem ist die Möglichkeit vorgesehen, in das Leistungssystem des SGB XII (Sozialhilfe) zu wechseln. Schließlich werden Sanktionen normiert, wonach empfindliche Leistungskürzungen vorgesehen sind. Die einzelnen Vorschriften sollen nun erläutert werden.
5.1 Welche Gruppen fallen unter das AsylbLG? Unter das AsylbLG fallen nicht nur Asylantragsteller_innen, sondern noch weitere Gruppen von Migrant_innen. Die Liste der vom AsylbLG erfass67
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ten Gruppen ist in § 1 definiert. Darunter befinden sich auch Geduldete und Migrant_innen mit einem humanitären Aufenthaltstitel. Anders als es der Name des Gesetzes vermuten lässt ist also die Gruppe der Betroffenen wesentlich umfangreicher als die der „Asylbewerber_innen“.
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Im Einzelnen definiert § 1 Abs. 1 AsylbLG folgende „Leistungsberechtigte“: •
Asylbewerber_innen (Nr. 1 und Nr. 7) Die erste Gruppe sind Personen, die im Besitz einer Aufenthaltsgestattung sind – also Asylbewerber_innen. Der Anspruch entsteht mit der Stellung des Asylgesuchs einer Aufnahmestelle oder der Polizei. Die Person muss kein Papier mit der Aufenthaltsgestattung oder einem Ankunftsausweis vorlegen. Leistungsberechtigt sind auch Asylbewerber_innen, die einen Folgeantrag stellen.2
•
Ausländer_innen mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (Nr. 3) Zur zweiten Gruppe gehören Personen, „die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen a) wegen des Krieges in ihrem Heimatland nach § 23 Abs. 1 oder § 24 des Aufenthaltsgesetzes, b) nach § 25 Abs. 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder c) nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes, sofern die Entscheidung über die Aussetzung ihrer Abschiebung noch nicht 18 Monate zurückliegt“. Unter a) werden nur bestimmte Flüchtlingsgruppen erfasst: Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG haben z. B. Geflüchtete aus Syrien erhalten, die über die Landesaufnahmeprogramme nach Deutschland gekommen sind. Sie fallen unter das AsylbLG. Dagegen besitzen Syrer_innen, die im regulären Asylverfahren anerkannt worden sind, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG – sie erhalten keine AsylbLG-Leistungen, sondern im Bedarfsfalle Hartz IV oder Sozialhilfe. Unter b) und c) finden sich Personen, die meist vormals geduldet waren, denen nun eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, weil die Ausreise vorübergehend oder dauerhaft unmöglich ist.
2 Ein Folgeantrag ist ein Asylantrag, der nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut gestellt wird. Hintergrund kann die veränderte Situation im Herkunftsland (Regimewechsel, Militärputsch) oder Veränderung bei den Asylsuchenden sein (Wechsel der Religion, exilpolitische Tätigkeiten).
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Leben unter dem AsylbLG
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•
Geduldete und vollziehbar ausreisepflichtige Migrant_innen (Nr. 4 und Nr. 5) Geduldete und vollziehbar Ausreisepflichtige sind Personen, die kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben und denen deswegen die Abschiebung droht. Eine Duldung liegt vor, wenn die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt ist (§ 60a AufenthG). Hierüber wird eine Bescheinigung ausgestellt. Vollziehbar Ausreisepflichtige sind jedoch nicht nur Geduldete, sondern auch Migrant_innen ohne Papiere (sogenannte Sans-Papiers, Illegale oder Illegalisierte). Deren Leistungsbezug ist jedoch oft nur ein theoretischer, da sie sich generell keinen staatlichen Stellen offenbaren. In der Praxis wird der Anspruch deswegen nur selten realisiert, z. B. wenn ein vorübergehendes Abschiebungshindernis besteht wie im Falle einer Entbindung.
5.2 Grundleistungen nach dem AsylbLG Die Höhe und Form der existenzsichernden Leistung wird in § 3 AsylbLG geregelt. Der Gesetzgeber hat ein relativ kompliziertes Konstrukt von Regeln und Ausnahmen gebildet. Physische und soziokulturelle Existenzsicherung Die Grundleistung setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: dem „notwendigen Bedarf “ und dem „notwendigen persönlichen Bedarf “. Diese beiden Komponenten spiegeln die Definition des Bundesverfassungsgerichts von einem menschenwürdigen Existenzminimums wider: Denn dieses setzt sich aus dem „physischen Existenzminimum“ (= notwendiger Bedarf) und dem „soziokulturellen Existenzminimum“ (= notwendiger persönlicher Bedarf “) zusammen. Die zweite Kategorie wurde und wird teilweise noch als „Taschengeld“ oder „Barbetrag“ bezeichnet, da vor dem Urteil des Verfassungsgerichts 2012 dieser Betrag sehr gering (40,90 €/Monat) und das Einzige war, das in bar ausgezahlt werden musste. Inzwischen wurden die Leistungen für die soziokulturelle Teilhabe nach oben hin (135 €/Monat) angepasst. Die folgenden Bedarfe sollen mit den jeweiligen Bestandteilen der Grundleistungen abgedeckt werden: Notwendiger Bedarf: Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts. Notwendiger persönlicher Bedarf: Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens. Dazu gehören: Ausgaben für Verkehr, Nachrichtenübermittlung, Freizeit, Unterhaltung, Kultur, Bildung, Beherbergungs69
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und Gaststättendienstleistungen und andere Waren und Dienstleistungen (vgl. § 5 und § 6 Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe). Form der Leistung In welcher Form die Leistungen nach dem AsylbLG gewährt werden, hängt von der Art der Unterbringung ab. Während Asylbewerber_innen in der Erstaufnahmeeinrichtung (§ 44 AsylG) untergebracht sind, dominiert das Sachleistungsprinzip. Der notwendige Bedarf wird immer als Sachleistung erbracht, der notwendige persönliche Bedarf ebenfalls, es sei denn, der Aufwand hierfür ist nicht vertretbar. Asylbewerber_innen sind in den ersten Monaten (bislang bis zu sechs Monate; nach der letzten Gesetzesänderung sogar für bis zu 24 Monate) in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht. Bei Asylsuchenden aus den sog. „sicheren Herkunftsländern“ kann eine solche Unterbringung sogar dauerhaft sein (§ 47 Abs. 1a AsylbLG).3 Bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft (§ 53 AsylG), einem Hostel, einer Pension, einer Notunterkunft für Wohnungslose, einer Wohnung oder einer sonstigen Unterkunft ist auch in den ersten sechs Monaten des Aufenthalts in der Regel die Leistung in Form von Geldleistungen zu erbringen (Classen 2016: 6). Bei Anmietung einer Wohnung sind die angemessenen Mietkosten sowie Hausrat und Möbel vom Sozialamt zu übernehmen (ebd.: 9). Viele Bundesländer verweigern Asylsuchenden, eine Wohnung anzumieten. Eine Politik der generellen dezentralen Unterbringung in Wohnungen verfolgen nur die Bundesländer Berlin und Bremen (ebd.). In anderen Bundesländern stehen entweder noch Unterbringungen in Gemeinschaftsunterkünften im Vordergrund oder Asylbewerber_innen dürfen zwar theoretisch in eine Privatwohnung umziehen, aber ohne Unterstützung auf dem angespannten Wohnungsmarkt bleibt die Chance auf einen Mietvertrag faktisch aussichtslos. In manchen Bundesländern ist es Sache der Kommunen, über die Form der Unterbringung zu entscheiden.
3 Als sichere Herkunftsländer hat der Gesetzgeber folgende bestimmt: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal, Serbien (Anlage II AsylG).
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Leben unter dem AsylbLG Form der Grundleistung nach § 3 AsylbLG
Notwendiger persönlicher Bedarf Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Notwendiger Bedarf
Erstaufnahmeeinrichtung (EAE)
Gemeinschaftsunterkunft (GU)
Außerhalb von EAE und GU
Sachleistung
vorrangig Geldleistungen
vorrangig Geldleistungen
Ausnahme: soweit nach den Umständen erforderlich, kann* die Leistung in Form von Sachleistungen/ Wertgutscheine u. Ä. erfolgen.
Ausnahme: soweit nach den Umständen erforderlich, kann* die Leistung in Form von Sachleistungen/ Wertgutscheine u. Ä. erfolgen.
Geldleistungen. Ausnahme: Es kann* der notwendige persönliche Bedarf soweit wie möglich auch durch Sachleistungen gedeckt werden.
Geldleistungen
bei vertretbarem Aufwand: Sachleistung (Soll-Regelung*) wenn Aufwand unvertretbar: Geldleistungen (Kann-Regelung*)
*Erläuterung: Soll-Regelung=nur ausnahmsweise ist ein Abweichen möglich; Kann-Regelung=die Entscheidung erfolgt im Ermessen, ein Abweichen ist möglich. Quelle: eigene Darstellung.
Höhe der Geldleistungen Wie bereits gezeigt, werden die Leistungen nach dem § 3 AsylbLG in unterschiedlichen Formen gewährt. Die Höhe der Geldleistungen muss wie bei Hartz IV oder der Sozialhilfe regelmäßig angepasst werden. Der aktuelle Stand der zu zahlenden Geldleistungen kann der unten stehenden Tabelle entnommen werden. Der Betrag ist je nachdem, ob eine Person alleinstehend ist oder in einer Partnerschaft lebt, unterschiedlich hoch. Bei zusammenlebenden Partner_innen wird von Einsparmöglichkeiten ausgegangen. Geringere Leistungen erhalten minderjährige Kinder.
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Höhe der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG seit 17.3.2016 Alleinstehende
Partner_in
Haushaltsangehörige ab 18 Jahre
Kind 14–17 Jahre
Kind 6–13 Jahre
Kind 0–5 Jahre
soziokulturelles Existenzminimum, § 3 Abs. 1 AsylbLG
135 €
122 €
108 €
76 €
83 €
79€
physisches Existenzminimum, Bedarfe § 3 Abs. 2 AsylbLG
219 €
196 €
176 €
200 €
159 €
135 €
Grundleistung, § 3 Abs. 1 und 2 gesamt
354 €
318 €
284 €
276 €
242 €
214 €
Analog-Leistungen SGB XII, § 2 AsylbLG; seit 01.01.2017
409 €
368 €
327 € (nur wenn sie in stationären Einrichtungen leben; siehe: Anlage zu § 28a SGB XII)
311 €
291 €
237€
5.3 Sonstige Leistungen Sonstige Leistungen können nach § 6 Abs. 1 AsylbLG insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Die Leistungen sind als Sachleistungen, bei Vorliegen besonderer Umstände als Geldleistung zu gewähren. Auch wenn im Gesetz „können“ steht, ist durch völkerrechtliche, europarechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben dieses „Ermessen“ stark eingeschränkt: Normalerweise müssen diese zusätzlichen Leistungen erbracht werden – z. B. Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder mit Behinderungen oder für Menschen mit chronischen Erkrankungen.
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Leben unter dem AsylbLG
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5.4 Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt Nach § 4 AsylbLG ist der Zugang zur medizinischen Versorgung beschränkt. Lediglich bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen besteht ein Anspruch auf die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung. Zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten werden Schutzimpfungen und die medizinisch gebotenen Vorsorgeuntersuchungen erbracht. Eine Versorgung mit Zahnersatz erfolgt nur, soweit dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist. Aber: Die Behandlung chronischer Erkrankungen muss in vielen Fällen über den oben genannten § 6 AsylbLG übernommen werden. Bei einem Antrag sollte auf diese Regelung hingewiesen werden, und Ablehnungen durch das Sozialamt sollten mithilfe eines Widerspruchs angegriffen werden. Ohne Einschränkung wird Schwangeren und Wöchnerinnen die üblichen Leistungen auf ärztliche Versorgung und Unterstützung durch Hebammen gewährt. Neben diesen eingeschränkten Leistungen besteht die Möglichkeit nach § 6 AsylbLG, weitere medizinische Leistungen zur Sicherung der Gesundheit zu gewähren. Hierunter fallen z. B. psychotherapeutische Behandlungen und Schwangerschaftsverhütungsmittel. Auf Kostenübernahme eines Schwangerschaftsabbruchs besteht indes kein Anspruch, auch wenn sich die betroffene Frau den Abbruch aus eigenen Mitteln nicht leisten kann. In einigen Bundesländern werden nach dem sogenannten Bremer Modell Gesundheitskarten ausgegeben, sodass die Betroffenen wie andere Versicherte auch zum Arzt gehen können. Dies ist in Hamburg, Bremen, Berlin, Schleswig-Holstein und einigen Kommunen in NRW der Fall. Die Rechtsgrundlage für diese Verträge mit den Krankenkassen ist § 264 Abs. 1 SGB V. In Bremen beispielsweise enthalten die Karten keinen Hinweis auf einen eingeschränkten Behandlungsanspruch. Dennoch gibt es einige Leistungsvorbehalte, bei denen das Sozialamt entscheidet: z. B. eine Kostenerstattung einer Psychotherapie setzt eine vorherige Begutachtung durch einen Arzt voraus. Eine solche Lösung bundesweit einzuführen, scheiterte bislang am politischen Willen von Bund und den meisten Ländern.
5.5 Übergang in die Sozialhilfe Das Leben unter dem AsylbLG ist grundsätzlich nicht als Dauerlösung gedacht. § 2 Abs. 1 AsylbLG sieht vor, dass nach 15 Monaten Aufenthalt in Deutschland die Betroffenen Leistungen entsprechend der Sozialhilfe (SGB XII) erhalten sollen. Der Übergang in die Sozialhilfe stellt die Betroffenen zumindest nach Ablauf der 15 Monate mit anderen Hilfebedürftigen ,was die Existenzsicherung angeht, gleich. Eine Gleichstellung mit Hartz-IV-Empfänger_innen (SGB II) bei den Hilfen zur Arbeitsmarktintegration, ist jedoch nicht vorgesehen. 73
Praxisbeispiel: Anspruch auf orthopädische Schuhe? Herr A. aus Mauretanien lebt nach der Ablehnung seines Asylantrages mit einer Duldung in Deutschland. Er beantragte eine Beihilfe zum Erwerb von orthopädischen Schuhen. Er legte ein Attest des ihn behandelnden Arztes vor. Herr A. litt an einer alten entzündlichen Knochenveränderung des Beines, wodurch die Gehfähigkeit stark eingeschränkt ist, sodass eine Gehbehinderung vorliegt. Die zuständige Behörde lehnte den Antrag von Herrn A. mit folgender Begründung ab: Eine Akutverschlechterung des Entzündungszustandes liege jedoch nicht vor. Auch könne die vorgesehene orthopädische Versorgung ohne gesundheitliche Gefährdung aufgeschoben werden. Eine dringende Erforderlichkeit bzw. Lebensnotwendigkeit der Behandlung sei nicht gegeben. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Marei Pelzer
Urteil des VGH Baden-Württemberg „Die Regelung des § 4 Abs. 1 AsylbLG eröffnet Hilfeleistungen bei akuten Krankheiten und Schmerzzuständen und schließt Ansprüche nur bei chronischen Krankheiten ohne Schmerzzustände aus. Demgemäß ist es einem Leistungsberechtigten, der an einer chronischen Erkrankung leidet, unbenommen, Maßnahmen zur Linderung seines Schmerzzustandes (hier: orthopädische Schuhe) in Anspruch zu nehmen“ (VGH Baden-Württemberg 7 S 920/98 U. v. 04.05.98, IBIS C1348, FEVS 1999: 33; www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE100089900&psml=bsbawueprod.psml&max=true [Zugriff: 23.08.2017]).
Von dem Übergang in die Sozialhilfe profitieren jedoch nicht alle Leistungsempfänger_innen des AsylbLG. Auch hier gibt es wieder eine sogenannte Missbrauchsklausel: Wer die Dauer des Aufenthalts nach Auffassung der Behörden rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, bleibt im AsylbLG-Bezug. Ein solches eigenes Verschulden wird in der Praxis regelmäßig Geduldeten unterstellt, wenn sie keine für die Abschiebung nötigen Pässe vorlegen können.
5.6 Leistungskürzungen als Sanktion, Druckmittel und zur Abschreckung § 1a AsylbLG sieht die Möglichkeit vor, dass die Leistungen für den Lebensunterhalt u. a. empfindlich reduziert werden können. Im Zuge der Asylverschärfungen 2015 und 2016 wurde dieser Paragraf deutlich ausgeweitet (vgl. zum Ganzen Pelzer/Pichl 2016). Jede Leistungskürzung darf nur für sechs Monate
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Leben unter dem AsylbLG
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angeordnet werden – allerdings besteht eine Verlängerungsmöglichkeit (§ 14). Im Einzelnen sieht § 1a AsylbLG Folgendes vor: Leistungskürzung bei Einreise zum Leistungsbezug Die erste Fallgruppe von Leistungskürzungen betrifft abgelehnte Asylbewerber_innen oder andere ausreisepflichtige Migrant_innen, denen unterstellt wird, sie seien nach Deutschland geflohen, um Sozialleistungen zu beziehen. Betroffen von den Kürzungen waren z. B. viele Bürgerkriegsflüchtlinge, die während des Kosovokrieges Ende der 1990er Jahre nach Deutschland geflohen sind. Wegen der damaligen restriktiven Asylpraxis erhielten viele keinen Schutzstatus. Der Schluss der Sozialämter war: „Wer kein Asyl bekommt, reist missbräuchlich ein“ (vgl. Classen 2015: 26ff.). Angesichts eines damals sehr restriktiven Schutzkonzeptes, das Bürgerkriegsflüchtlinge ausschloss, ist diese Gleichsetzung von Ablehnung des Asylantrags und Missbrauch besonders problematisch gewesen. Die Betroffenen mussten vor Gericht ziehen, um gegen die, für manche, völlige Streichung ihrer Leistungen anzugehen. Leistungsreduzierung auf das unabweisbar Gebotene Der Umfang der Leistungskürzung ist im Fall von § 1a Abs. 1 AsylbLG mit vielen Unklarheiten versehen. Die Leistungen sind nur noch zu gewähren „soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist“ (§ 1a AsylbLG). Manche Sozialämter haben die Leistungen bis auf das Anbieten einer Rückfahrkarte ins Herkunftsland vollständig gestrichen. Andere streichen das sog. „Taschengeld“ – damit ist der Betrag zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums gemeint (siehe oben). In der Rechtsprechung ist die Frage, was das „unabweisbar Gebotene“ ist, ebenfalls umstritten.4 Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2012 gehen nun viele Sozialgerichte von der Verfassungswidrigkeit der Leistungskürzung aus. Das Landesozialgericht NRW stellte neben vielen anderen Gerichten fest, dass die Kürzungen verfassungswidrig sind, weil auch der Barbetrag zur sozialen Teilhabe nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts stets zum unabweisbar Gebotenen gehört.5 Der Leistungsumfang des menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht unterschritten werden. Auch in der sozialrechtlichen Forschung wird darauf hingewiesen, dass das menschenwürdige Existenzminimum nicht der Abwägung zugänglich ist (vgl. Drohsel 2014: 96ff.).6 Die Beschneidung des Existenz4 Seit 2005 sind die Sozialgerichte für das AsylbLG zuständig. Vorher waren die Verwaltungsgerichte zuständig. 5 LSG NRW B.v. 24.04.13 – L 20 AY 153/12 B ER, www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/docs/C2592. pdf [Zugriff: 16.01.2016]. 6 Vgl. zur generellen Verfassungswidrigkeit von Sanktionen: Drohsel 2014: 96ff.
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Die Armentafel – Keine Alternative Darf der Staat die Existenzsicherung an karitative Einrichtungen und Initiativen abschieben? Ist die Privatisierung der Solidarität im Sozialstaat zulässig? Auf diese Frage hat das Landessozialgericht NRW eine Antwort gegeben. „Es obliegt der … Trägerin der Leistungen nach dem AsylbLG selbst, die Sicherung des Existenzminimums der Personen zu gewährleisten, die ihr gesetzlich anvertraut wurden. Sie kann sich dieser Aufgaben nicht dadurch entledigen, dass sie den Antragsteller auf die Nutzung privatrechtlich organisierter ,Armentafeln‘ verweist. Dies ergibt sich schon daraus, dass solche Tafeln auf einem ehrenamtlichen Engagement beruhen, für dessen Fortsetzung und Dauerhaftigkeit keine Gewähr übernommen werden kann. Eine Fortsetzung dieser Tätigkeiten wird insbesondere dann in Frage gestellt, wenn es staatlichen Organisationen tatsächlich gestattet würde, ihre Fürsorgeverpflichtungen auf diese Organisationen abzuwälzen, denn diese Tafeln verstehen sich nach einschlägigen Presseverlautbarungen als ein System, das neben staatlichen Sozialleistungen weitere Hilfen anbieten will. Dem liegt die Einschätzung zugrunde, dass die gesetzlichen Leistungen nicht in allen Fällen ausreichend sind und es einer ergänzenden Hilfe bedarf. Keinesfalls ist aber davon auszugehen, dass sich die Zielrichtung der Tafeln auch darauf richtet, staatliche Leistungen etwa des AsylbLG zu ersetzen, so dass die Gewährung des Mietgliedbeitrages für die Tafel von 1,50 EUR wöchentlich auch nicht als Sachleistung i. S. d. § 3 Abs. 1 S. 1 AsylbLG angesehen werden kann“ (LSG NRW L 20 B 74/07 AY, B.v. 07.11.07, www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/docs/ C2119.pdf [Zugriff: 23.08.2017]).
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minimums zum Zwecke der Abschreckung ist also nicht zu rechtfertigen. Zu einer endgültigen Klärung dieser Rechtsfrage ist eine erneute Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nötig. Einstweilen dürfte es bei kontroversen Entscheidungen vor den Gerichten bleiben.
Die Ausweitung des § 1a: neue Fallgruppen Der Gesetzgeber hat 2015 eine deutliche Ausweitung des § 1a AsylbLG beschlossen. Nach dem neuen Gesetz soll in bestimmten Fällen das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum – also der Betrag für die persönlichen Bedarfe – gleich ganz gestrichen werden können. Die Neuregelung des § 1a Abs. 2–5 AsylbLG sieht im Einzelnen vor, dass den Betroffenen nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt werden, und zwar in der Regel in Form von Sachleistungen. Damit sind Teile des physischen 76
Existenzminimums ausgeschlossen – nämlich Leistungen für Kleidung sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts (diese dürfen „nur, soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen“ zusätzlich erbracht werden). Außerdem werden keine Leistungen des soziokulturellen Existenzminimums („notwendiger persönlicher Bedarf “) gewährt, ebenso wenig die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets sowie die „unerlässlichen“, „erforderlichen“ oder für Kinder „gebotenen“ Leistungen nach § 6 AsylbLG. Außerdem ist der ansonsten nach 15 Monaten vorgesehene Wechsel in die SGB-XII-Leistungen (Sozialhilfe) nach § 2 AsylbLG ausgeschlossen. Die Leistungskürzung ist also auf Dauer gestellt. Dies wird dadurch unterstrichen, dass § 1a Abs. 2 AsylbLG vorsieht, die reduzierten Leistungen bis zur Ausreise oder der Durchführung der Abschiebung zu gewähren. Damit macht der Gesetzgeber deutlich, dass es hier um eine unbegrenzte Leistungskürzung geht. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Leben unter dem AsylbLG
Betroffen von den neuen Leistungsausschlüssen sind folgende Gruppen: Feststehender Ausreisetermin: vollziehbar Ausreisepflichtige, für die ein Ausreisetermin und eine Ausreisemöglichkeit feststehen, es sei denn, die Ausreise konnte aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden (§ 1a Abs. 2). Fehlende Mitwirkung an Abschiebung: vollziehbar Ausreisepflichtige und Geduldete, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können (§ 1a Abs. 3). Dies wird bei fehlenden Reiseausweisen oftmals angenommen. Relocation-Fälle: Personen, die in Abweichung vom normalerweise geltenden Dublin-Verfahren aufgrund eines speziellen Verteilungsschlüssels in einen anderen EU-Staat verteilt worden sind, sich aber dennoch in Deutschland aufhalten. Die Leistungskürzung gilt für diejenigen, die sich nicht an die Zuweisung an einen anderen EU-Staat halten, sondern nach Deutschland weitergereist sind (§ 1a Abs. 4). Dasselbe gilt für Personen, die in einem anderen EU-Staat schon einen internationalen Schutzstatus oder ein anderes Aufenthaltsrecht erhalten haben. Fehlende Mitwirkung im Asylverfahren: Personen, die der im Asylverfahren geltenden Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sind, also z. B. Urkunden nicht vorlegen, die Aufschluss über die Identität geben. Verlassen des Zuweisungsortes: Wer sich an einem Ort aufhält, der nicht dem Zuweisungsort entspricht – also gegen die „asyl- oder ausländerrechtliche räumlichen Beschränkung“ verstößt – bekommt nur noch die Reisebeihilfe zur Deckung des unabweisbaren Bedarfs für die Reise zu ihrem rechtmäßigen Aufenthaltsort gewährt (§ 11 Abs. 2 AsylbLG). Diese Leistungskürzung tritt 77
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außer Kraft, wenn die betroffene Person wieder an den Zuweisungsort zurückkehrt.
5.7. Arbeitsgelegenheiten und Integration
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Fehlender Ankunftsnachweis: Schließlich wurde die Anwendung des neuen § 1a AsylbLG auf alle Asylsuchenden in der ersten Phase ihres Aufenthalts in Deutschland ausgedehnt, und zwar so lange ihnen der Ankunftsnachweis noch nicht ausgestellt wurde. Diese Leistungskürzung gilt nicht, wenn die Betroffenen es nicht zu vertreten haben, dass ihnen der Ankunftsnachweis noch nicht ausgestellt wurde (§ 11 Abs. 2a AsylbLG).
In Aufnahmeeinrichtungen und in vergleichbaren Einrichtungen sollen Arbeitsgelegenheiten insbesondere zur Aufrechterhaltung und Betreibung der Einrichtung zur Verfügung gestellt werden (§ 5 AsylbLG). Außerdem sollen Arbeitsgelegenheiten bei staatlichen, kommunalen und gemeinnützigen Trägern zur Verfügung gestellt werden, sofern die zu leistende Arbeit sonst nicht verrichtet werden würde. Die Aufwandsentschädigung beträgt 80 Cent pro Stunde. Wenn ein_e Asylbewerber_in sich ohne wichtigen Grund weigert, die Arbeit zu verrichten, werden die AsylbLG-Leistungen gestrichen. Insbesondere die Sanktion durch Leistungsentzug stößt auf gravierende verfassungsrechtliche Bedenken (Deibel/Hohm 2016: 92f.). Jenseits dessen ist auch fraglich, welchen Sinn diese Maßnahmen haben. Für einige mögen Arbeitsgelegenheiten eine willkommene Abwechslung vom tristen Alltag in der Unterkunft darstellen. Denn Asylsuchende sind während der Zeit des Asylverfahrens vielfach zum Warten und zur Untätigkeit verurteilt. Hilfreicher wären jedoch Programme, die eine echte Arbeitsmarktintegration ermöglichen. Einer ähnlichen Kritik sieht sich das neue Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ ausgesetzt, das mit dem sogenannten Integrationsgesetz von 2016 eingeführt wurde (§ 5a AsylbLG). Hierdurch sollen 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Geflüchtete geschaffen werden. Auch diese Maßnahme ist nicht nachhaltig. Eine Integration in den Arbeitsmarkt kann dauerhaft nur gelingen, wenn bestehende Berufsqualifikationen anerkannt werden und zudem der Zugang zu Sprachkursen, Schulbildung, Ausbildung und Hochschulen ermöglicht wird. Schließlich können AsylbLG-Leistungsempfänger_innen zu Integrationskursen nach § 5b AsylbLG verpflichtet werden. Wird der verpflichtenden Teilnahme an einem Integrationskurs nicht nachgekommen, werden die Leistungen nach § 1a Abs. 2 AsylbLG gekürzt. Auch diese Sanktion ist mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht zu vereinbaren.
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6. Ausblick: AsylbLG in der Sozialen Arbeit Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 18. Juli 2012 den fast 20 Jahre währenden verfassungswidrigen Zustand der Mangelversorgung unter dem AsylbLG ein Ende bereitet hatte und die Leistungen auf Hartz-IV-Niveau anhob, hat der Gesetzgeber 2015 und 2016 erneut massive Verschärfungen vorgenommen. Das Grundrecht auf eine menschenwürdige Existenzsicherung ist wieder infrage gestellt, wenn für bestimmte Flüchtlingsgruppen das Recht auf eine soziokulturelle Teilhabe komplett gestrichen wird. Die Ausweitung der Kürzungsmöglichkeiten der ohnehin niedrigen Sozialleistungen für Asylsuchende und Geduldete wird sich massiv in der Praxis bemerkbar machen. Statt ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, werden die Betroffenen in sozial prekarisierte Lebensumstände gedrängt. Aufgabe der Arbeit mit geflüchteten Menschen sollte es sein, sie dabei zu unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Wenn Leistungskürzungen dieses verhindern, können Klagen bis hin zum Bundesverfassungsgericht nötig werden. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht seinem Credo „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ treu bleibt und möglichst bald der sozialen Entrechtung der Betroffenen ein Ende bereitet. Neben der Initiierung von Klagen im Einzelfall sowie strategischer Prozessführung kann Soziale Arbeit auch dazu beitragen, den Druck auf die Politik zu erhöhen, indem sie ihre Expertise im Rahmen von Lobbyarbeit einbringt und auf die Folgen der Politik auf ihre Adressat_innen und/oder der Gesellschaft hinweist, nicht zuletzt damit die zaghaft ausgebauten Angebote für Asylsuchende flächendeckend ausgebaut werden.
Literatur Bundestagsdebatte zur Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes, BT-Drs. 12/ 5008: 13f. Classen, Georg (2015): Rechtsprechungsübersicht zum Flüchtlingssozialrecht, abrufbar unter: http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/gesetzgebung/Urteile2.doc [Zugriff: 16.01.2016]. Classen, Georg (2016): Leitfaden zum Asylbewerberleistungsgesetz. http://www. fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/Leitfaden_AsylbLG.pdf [Zugriff: 16.01.2016]. Classen, Georg (2000): Menschenwürde mit Rabatt: Das Asylbewerberleistungsgesetz und was wir dagegen tun können. Orig.-Ausg., 2., vollst. überarb. Aufl. Frankfurt a. M.: von Loeper Verlag.
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Zülfukar Çetin
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Politik der Zivilisierungsmission im Zusammenhang von Homophobie und Sexismus1 In diesem Beitrag möchte ich anhand unterschiedlicher Rassismustheorien auf die Debatten um Homophobie und Sexismus eingehen, die auch im Kontext von Flucht und Migration immer wieder medial und politisch thematisiert werden. Zum einen zeige ich auf, dass Homophobie und Sexismus auch im „Westen“ eine lange christliche und koloniale Tradition haben, sie aber dennoch kulturalisiert und als etwas, was von außerhalb des Westens kommt, verortet und diskutiert werden. Zum anderen werde ich die gegenwärtige Migrations- und Flüchtlingspolitik in Deutschland aufgrund ihrer negativen Konsequenzen für rassismuserfahrene Menschen kritisch analysieren. Zentrale Fragen dieses Beitrages sind in diesem Zusammenhang: •
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Wie kann Rassismus als Machtverhältnis zwischen einem kolonialen Westen und einem kolonisierten Rest verstanden werden? Diese Frage wird anhand von Stuart Halls Konzept von „the West and the Rest“ beantwortet. Demnach ist „West“ ein historisch-politisches und kein geografisches Konstrukt. Mit Westen ist ein Gesellschaftstyp gemeint, der als entwickelt, industrialisiert, kapitalistisch, säkularisiert und modern beschrieben wird (vgl. Hall 1992). Wie haben sich die rassistischen Verhältnisse verändert, und von welchen neuen Formen des Rassismus kann heute gesprochen werden? An dieser Stelle beschreibe ich zwei wichtige Formen des Rassismus. Als erstes schildere ich den kulturalistischen Rassismus, der das Konstrukt „Rasse“ durch den Begriff der „Kultur“ ersetzt und die Unterschiede zwischen einem westlichen Wir und den Anderen mit der radikalen Unvereinbarkeit der Kulturen erklärt. Zweitens gehe ich auf den Elitenrassismus ein, der vor allem von den politischen, wirtschaftlichen, medialen und akademischen Eliten ausgeht und die rassistischen Verhältnisse aufgrund der Machtposition der Eliten in der Gesellschaft legitimiert bzw. durchsetzt (vgl. van Dijk 1992).
1 Für die Erstkorrektur bedanke ich mich herzlich bei Julia Stegmann.
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In welchem historischen Zusammenhang stehen die gegenwärtigen Diskussionen um Homophobie und Sexismus bzw. wie wird heute in Deutschland über Homophobie und Sexismus debattiert, und welche Rolle spielt hierbei Rassismus? An dieser Stelle betrachte ich Homophobie in einem postkolonialen Kontext, in dem sie in Deutschland mit kulturalistischen Argumenten als migrantisch-muslimisches Problem skandalisiert wird. Im letzten Abschnitt beziehe ich mich auf das Konzept der Dominanzkultur von Birgit Rommelspacher (1995), mit dem sie u. a. die deutsche Frauenbewegung kritisiert. Rommelspacher bescheinigt dieser einen Hegemonieanspruch, den sie mit den Argumenten der kolonialen Aufklärung durchzusetzen trachtet: Neben dem Kolonialismus übernahm die deutsche Frauenbewegung auch eine Zivilisierungsmission, bei der die nicht-westlich-christliche Welt aufgrund ihrer vermeintlichen patriarchalen Strukturiertheit diskreditiert wurde und wird.
1. Rassismus als Machtverhältnis Rassismus als soziales, politisches und historisches Phänomen reproduziert sich seit spätestens 1492 mit der europäischen Expansion in Herrschafts- bzw. Machtverhältnissen immer wieder (vgl. Çetin 2012). Diese Machtverhältnisse manifestieren sich in soziopolitischen Handlungen und Diskursen, die historisch miteinander verknüpft sind. Meines Erachtens beinhaltet Rassismus folgende Elemente: • • • • • •
Macht- bzw. Herrschaftsverhältnisse; Ausgrenzungspraxen durch die Herrschaft; Legitimation der Ausgrenzung durch Konstruktion von biologischen und kulturellen Differenzen; negative Wertung der als verschieden konstruierten Menschengruppen; Hierarchisierung dieser Menschengruppen; Verfestigung bzw. Sicherung der vorherrschenden Machtverhältnisse.
Laut Rommelspacher existiert Rassismus in einem Herrschaftsverhältnis zwischen einer herrschenden Mehrheitsgruppe und einer dominierten Minderheitsgruppe, wobei in der kolonialen Geschichte die Situation oft anders war und die koloniale weiße Minderheit die kolonisierte Mehrheit gewaltvoll unterdrückte. Aufgrund der vermehrten transnationalen Migrationsbewegungen seit der Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese rassistische Dominanz fortgesetzt, indem die weiße Mehrheitsgruppe in (West-)Europa die migrierte Minderheit und deren Nachkommen unterdrückt(e) und struk82
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Politik der Zivilisierungsmission im Zusammenhang von Homophobie und Sexismus
turell diskriminierte, um sie vom Zugang zu bestimmten sozialen, kulturellen, symbolischen und politischen Ressourcen auszuschließen (Hall 1992; Rommelspacher 2009). Dieser Ausschluss erfordert zugleich eine Legitimation (vgl. Memmi 1987). Die Legitimation des Ausschlusses funktioniert dadurch, dass der rassistisch diskriminierten Gruppe negative Eigenschaften zugeschrieben werden wie etwa Rückständigkeit, Dummheit, Sexismus, Aggressivität oder Gewaltbereitschaft. Diese Herstellung der Differenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen fungiert als ein Legitimationsapparat des Rassismus (vgl. ebd.). In diesem Fall spricht Miles (1989) von der Rassenkonstruktion. Ihm zufolge werden „Rassen“ konstruiert und hierarchisiert. Auf diese Weise werden Menschengruppen in unterlegene und überlegene „Rassen“ sortiert. Das heißt, dass allen Mitgliedern der Minderheitsgruppe eine negative Bedeutung beigemessen wird. Durch diese negative Bedeutungskonstruktion wird die dominierte Menschengruppe als anders, unvereinbar mit dem Eigenen bezeichnet und anderen Menschengruppen untergeordnet. Damit werden als „fremd“ oder „anders“ klassifizierte Menschengruppen in eine Rangordnung zu der als überlegen gedachten Eigengruppe gebracht (vgl. Rommelspacher 2009). Die Machtverhältnisse entstehen durch diese Hierarchisierungsmechanismen. Mark Terkessidis (2004) spricht von einer kulturellen Hegemonie. Rommelspacher geht davon aus, dass es sich beim Rassismus nicht einfach um individuelle Vorurteile, sondern um die Legitimation von gesellschaftlichen Hierarchien handelt, die auf der Diskriminierung der als „anders“ konstruierten Gruppen basieren. In diesem Sinn ist Rassismus immer auch ein gesellschaftliches Verhältnis.
2. Kulturalistischer und differenzialistischer Rassismus Étienne Balibar bezeichnete Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre den damaligen Rassismus in den westeuropäischen Ländern als Anti-Immigranten-Rassismus, der sich gegen die „Gastarbeiter_innen“, ihre Familien und ihre Nachkommen richtete (Balibar 1992). Dabei handelte es sich um eine Form von „Rassismus ohne Rassen“, den Balibar bereits Ende der 1980er Jahre kulturalistischen Rassismus nannte (Balibar 1989). Hier wird der Rassismus nicht mehr biologistisch begründet, sondern an (vermeintlichen) kulturellen Unterschieden festgemacht (vgl. ebd.). Diese konstruierten kulturellen Differenzen werden im neuen Rassismus als Basis der rassistischen Diskriminierungen genutzt. Das Kulturelle, das Soziale oder die Geschichte werden dabei naturalisiert und als vererbtes und unveränderbares Merkmal eines Individuums oder einer Gruppe erklärt (vgl. Balibar 1990). Dieser kulturalistisch argumentierende Rassismus wird oftmals, etwa von Taguieff, auch als differenzialisti83
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scher oder Neorassismus bezeichnet (Taguieff 1992). Nach der Theorie des kulturalistischen bzw. differenzialistischen Rassismus werden unterschiedlich imaginierte kulturelle oder ethnische Herkünfte als nicht zu entfernender Fleck beschrieben (vgl. ebd.). Der Begriff der „Rasse“ wird durch denjenigen der Kultur oder der Ethnie ersetzt, wodurch der Rassismus und Kolonialismus scheinbar unsichtbar werden. Zudem werden die gewöhnlichen rassistischen Argumentationen nicht mehr auf Diskurse der überlegenen und unterlegenen „Rassen“ bezogen, sie basieren vielmehr auf den unüberwindlichen kulturellen Differenzen zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“. In dieser Hinsicht wird Kultur jedoch biologistisch bzw. erblich gedeutet. Diese ideologische Rassialisierung manifestiert sich auch sehr wirkmächtig in der Kulturalisierung von Homophobie, Sexismus, Antisemitismus, Gewalt und bestimmten sexuellen Begehrenskonstellationen durch einen „zivilisierten“ Westen. So werden beispielsweise auch Geflüchtete aus arabischen oder nordafrikanischen Ländern zu Anderen gemacht, die vermeintlich einen großen Gegensatz zu einer weiß-deutschen und oder westeuropäischen „Kultur“ darstellen. Die Debatten um die Ereignisse nach der Silvesternacht in Köln im Jahr 2016 und die Fortsetzung dieser rassistischen Debatten nach der Silvesternacht 2017 zeigen immer noch die rassistischen Kompetenzen der Institutionen und große Teile der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft auf. Beispiele hierfür wären die rassistische Bezeichnungspraxis der Kölner Polizei, die vermeintlich nordafrikanische Männer als „Nafris“ titulierte, und die kontinuierliche Ausübung von Racial Profiling, wodurch die „Nafris“ als kriminell gefährliche „Andere“ diskursiv sichtbar gemacht werden. Ihnen wurde und wird kontinuierlich eine abweichende Kultur, ein unvertrautes Fremdsein und deshalb ein Gefahrenpotenzial für das „demokratisch“ bestimmte zivilisierte Europa zugeschrieben. Aufgrund solcher kulturalistischer Differenzierungen wird davon ausgegangen, dass muslimische und westliche Kulturen niemals zusammenpassen würden. Taguieff bezeichnet das als das Prinzip der radikalen Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Kulturen (vgl. ebd.). Diesem Prinzip zufolge werden soziale Konflikte kulturalisiert, die Differenzen werden verherrlicht und verabsolutiert (vgl. ebd.). Die Verabsolutierung der vermeintlichen kulturellen Differenzen ist auf eine Unterscheidung von Assimilierbarem und Nicht-Assimilierbarem gerichtet. Neben anderen Migrant_innen, Schwarzen und People of Color wird seit der Silvesternacht 2016 arabischen und nordafrikanischen Männern bzw. denjenigen, die dafür gehalten werden, wieder verstärkt eine konträre kulturelle Zugehörigkeit zugewiesen, die nicht nur die heterosexistische weiße Mehrheitsgesellschaft bedrohen würde, sondern auch ihre Kinder, ihre Frauen, ihre Homosexuellen und sogar ihre Juden und Jüdinnen: So brächten sie aus dem „Morgenland“ „Kinderschändung“, Vergewaltigungskul84
Politik der Zivilisierungsmission im Zusammenhang von Homophobie und Sexismus
3. Elitenrassist_innen und ihr moderner Rassismus
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tur, Homosexuellenhass und Antisemitismus mit nach Westeuropa. Extrem rechte Parolen wurden in dieser Zeit Teil des alltäglichen Diskurses der Mitte der Gesellschaft, die heute das angeblich „nicht Sagbare“ nun laut(er) sagen darf. Die Vorschläge, die hierbei entstehen, zielen darauf ab, Muslim_innen durch politische Mittel zu zivilisieren. Das ist eine westliche Idee, die seit Anfang des Kolonialismus existiert und fortdauert.
Rassismus und seine unterschiedlichen Formen zeigen in der Tat eine homogene Haltung des Westens, der sich, wie Stuart Hall herausgearbeitet hat, auf unterschiedlichste Weise von seinem „Rest“ abzugrenzen trachtet. Die Unterscheidung von West und Rest hat zum einen eine koloniale Geschichte, die unsere Gegenwart noch prägt. Zum anderen wird sie in fast allen Bereichen der als zivilisiert konstruierten westlichen Gesellschaft vertreten. Diese Unterscheidung ist eine Politik der unüberwindbaren und dennoch ausgeblendeten Rassismen der westlichen Gesellschaften, die sich von ihren kolonialen Überlegenheitsanspruch immer noch nicht trennen können. Zu der Fortschreibung dieses Überlegenheitsanspruchs tragen insbesondere die politischen, medialen und wissenschaftlichen Eliten bei. Zu den relevanten Rassismustheorien gehört somit auch das Konzept des Elitenrassismus, das von van Dijk geprägt wurde. Ihm zufolge sind die Eliten diejenigen, die zentrale Politikkonzepte entwickeln, die einflussreichsten Entscheidungen treffen und die Modalitäten ihrer praktischen Umsetzungen kontrollieren. Zu diesen Eliten gehören die Regierungs- und Parlamentsmitglieder, Direktor_innen oder Gremien des staatlichen Handelns, führende Politiker_innen, Manager_innen, einflussreiche Wissenschaftler_innen und auch Journalist_innen bzw. Vertreter_innen der Massenmedien (van Dijk 1992). Die Elitenrassist_innen haben die Macht, institutionelle und öffentliche Texte und Reden zu veranlassen, zu steuern und zu kontrollieren (vgl. ebd.). Sie haben in der Gesellschaft eine privilegierte Position und einen bevorzugten Zugang zu Ressourcen wie den Massenmedien. Mithilfe ihres Elitestatus können sie Politik, Medien und öffentliche Diskurse beeinflussen, bestimmen oder ändern. Verschiedene Elemente des alltäglichen Rassismus werden durch verschiedene Elitengruppen vorfabriziert. Bezogen auf den alltäglichen Rassismus dieser Elitengruppen spricht van Dijk von unterschiedlichen Formen rassistischer Äußerungen. So stellt er fest, dass deren Rassismus sich in indirekten, subtilen und toleranten Formulierungen ausdrückt. Indirektheit und Biologisierung sind die Hauptcharakteristika dieser Form des Rassismus, den van Dijk neuen Rassismus nennt (1998). Die Elitenrassist_innen, die van Dijk auch als moderne Rassist_innen bezeichnet, neigen 85
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4. Zivilisierungsmission I: Homophobie, postkolonial
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zur Leugnung des Rassismus (van Dijk 1992). Der Grund dieser Leugnung besteht darin, dass die Eliten sich selbst als höchst tolerant und pluralistisch definieren. Van Dijk vertritt die Meinung, dass Eliten ganz wesentlich und sehr viel direkter als Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft in verschiedene Formen des institutionellen Rassismus involviert sind; so haben sie z. B. großen Einfluss auf die Asyl- und Grenzpolitik, von der vor allem Geflüchtete betroffen sind.
Basierend auf den bisher ausgeführten Rassismustheorien kann an dieser Stelle von einem (neuen) Homophobiediskurs gesprochen werden, der das Phänomen der Homophobie nicht als westlich, sondern als muslimisch neu definiert. In der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft wird beispielsweise davon ausgegangen, Homophobie sei eine selbstverständliche kulturelle Eigenschaft von muslimischen Migrant_innen, Schwarzen, Roma und Sinti und anderen rassismuserfahrenen Menschen, die nicht als Bestandteil der westlichen Kultur bzw. Zivilisation betrachtet werden. Hierzu stellen sich einige Fragen: Warum hat sich ein solcher Diskurs etabliert? Wie hat er sich in den mittel- und westeuropäischen Gesellschaften durchgesetzt? In welcher Art und Weise hat sich der eurozentrische Glaube – Migrant_innen seien homophob – verstärkt und verbreitet? Vor dem Hintergrund dieser Fragen bedarf diese neu definierte Homophobie einer sozialen, aber auch historischen Kontextualisierung mit dem Kolonialismus und dem Orientalismus (Said 1978). Im Folgenden werde ich aufzeigen, dass Rassismus und Homophobie historisch eng miteinander zusammenhängen, denn zum einen war es die christliche Morallehre, die Homosexualität als widernatürlich, Unzucht und damit zur Straftat erklärte. Zum anderen gibt es einige Belege dafür, dass es die Kolonialmächte waren, die Asiat_innen, Afrikaner_innen und „Oriental_innen“ die Heteronormativität brachten, und schließlich kann von einer europäischen Gegenwart gesprochen werden, die sich keineswegs von ihrer christlichen Morallehre, die Homosexuelle negativ bewertet, und kolonialen Vergangenheit lösen kann (Bauer 2010; Castro Varela 2009; Klauda 2008). Antihomosexuelle Positionen sowie Homophobie sind ein wesentlicher Kern auch der christlichen Kultur. Christliche Gesellschaften haben in erster Linie männliche Homosexualität unter Strafe gestellt. So stand im 13. und 14. Jahrhundert z. B. „Sodomie“ (mann-männlicher Analverkehr) fast im ganzen christlichen Europa unter Todesstrafe. Diese Einstellung basierte auf dem dritten Buch Mose, in dem Homosexualität als Unzucht, widernatürlich und als Gräuel beschrieben wird (vgl. Buch Mose 3, Leviticus 18:22; Çetin 2012). Auch wenn heute diese Stellen des Alten Testamentes zum größten Teil in 86
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Politik der Zivilisierungsmission im Zusammenhang von Homophobie und Sexismus
Europa und anderen Regionen von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden, sind sie für die Erörterung gegenwärtiger homophober Traditionen von großer Relevanz und werden von den Kirchen verteidigt. Das Beispiel der „besorgten Eltern“ im Baden-Württemberg, die 2013 mit ihrem Kampf gegen sexuelle Aufklärung an Schulen und in Kindertagesstätten in der Öffentlichkeit standen, belebt diese Tradition der christlichen Homophobie. Jenseits der alten christlichen Morallehre und der neuen „besorgten Eltern“ wurden und werden Muslim_innen in der christlichen und kolonialen Geschichte immer wieder als Feindbild dargestellt. So sahen die Engländer_innen in der Zeit der Kolonialisierung homosexuelle Akte als türkische Sünde an (vgl. Klauda 2008). Die als widernatürlich und unzüchtig geltende Homosexualität in westeuropäischen Gesellschaften wurde im Zuge der Kolonialisierung auf Nicht-Europäer_innen projiziert bzw. ihnen vorgeworfen. Während des Kolonialismus, in dem die Kolonisator_innen wieder mit Muslim_innen in Berührung kamen, wurden Klischees ihnen gegenüber mobilisiert, diesmal freilich unter der Maßgabe, ihnen westliche Zivilisation und Lebensarten beibringen zu wollen. Um eine Überlegenheit ihnen gegenüber zu legitimieren, schrieben die Kolonialländer ihnen bestimmte sexualisierte Eigenschaften zu (vgl. Çelik/Petzen/Yılmaz/Yılmaz-Günay. 2009). Die Konstruktionen der „homophoben Anderen“ und deren negative Zuschreibungen gingen nicht nur biologistisch vor, sondern sie hatten auch kulturalisierenden und sexualisierenden Charakter, der die Kolonialmächte in die Lage versetzte, die diffamierenden rassistischen Praxen zu wirtschaftlichen Zwecken zu rechtfertigen (vgl. Çetin 2012). Die Kolonialmächte betrachteten nicht-europäische Frauen und Männer als sexuell unersättlich, unkontrollierbar; aufgrund dieser konstruierten Eigenschaften würden diese eher zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen neigen (vgl. Castro Varela 2009: 18ff.), die es zu unterbinden galt. Diese Art der eurozentrischen Betrachtungen erzeugten Narrationen über den „Orient“ und die „Oriental_innen“, die zudem exotisiert wurden. Mit den exotisierenden Erzählungen wie beispielsweise Haremsgeschichten beabsichtigten sie, Phantasien des lesbischen Begehrens hervorzurufen (vgl. ebd.). Diese Narrationen über den „Orient“ definierten einerseits „andersartiges“ Sexualverhalten und andererseits normierten sie die richtige Sexualpraxis im „Abendland“ (vgl. ebd.). Durch die Konstruktion der devianten Sexualitäten im „Morgenland“ und die gleichzeitige Normierung der heterosexuellen Sexualpraxen im „Abendland“ konnten die Kolonialmächte – besonders Britannien – in ihren Kolonien eine gesetzliche Grundlage für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung schaffen: Sie kriminalisierten gleichgeschlechtliche Praxen (vgl. ebd.). Aus der juristischen und religiösen Kriminalisierung der Homosexualität resultierte die Verfolgung und Bestrafung homosexueller Handlungen. Während des Kolonialisierungsprozesses definierten die Kolon87
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ialländer ihre Kolonien als Brutstätten sexueller Andersartigkeit, die zivilisatorisch gesäubert werden müssten (vgl. ebd.). Um diese zivilisatorische Reinigung umsetzen zu können, fügten die Briten z. B. das Anti-Sodomit-Statut in das indische Strafgesetzbuch (Section 377) ein (vgl. ebd.). In seinem Buch „Heteronormalisierung der islamischen Welt“ belegt Georg Klauda, dass die Repression gleichgeschlechtlicher Lebensweise nicht Bestandteil traditioneller Rechtsvorstellungen ist, sondern durch die Formierung von Homosexualität als einer spezifizierenden Identitätskategorie erst in der Durchsetzung moderner Verhältnisse in den islamischen Ländern produziert wird (vgl. Klauda 2008; Çetin 2012). Auch hier stabilisiert die Modernisierung des Rechts einen Prozess, der am Ende zur Verdammung von Homosexualität führt. Homophobie erscheint so als Ergebnis einer gewaltsamen Anpassung an die Denkformen der Kolonialmächte, die die gleichgeschlechtliche Lebensweise im Modernisierungsprozess erstmals identifizierten, bezeichneten und damit zum Objekt staatlichen Handelns machten (vgl. Klauda 2008). Aus europäischer Perspektive scheint der Islam eine Religion zu sein, die die Unterdrückung von Frauen, die Ausgrenzung von Homosexuellen und die Ausübung von Gewalt im Namen Gottes zu erlauben scheint. In diesem Zusammenhang wird in den westeuropäischen Gesellschaften den Migrant_innen vorgeworfen, dass sie sichere Lebensräume von Schwulen, Lesben und Trans_Menschen bedrohen (vgl. Çetin 2012). Durch die pauschale Beurteilung der (muslimischen) Migrant_innen als anders, rückständig, sexistisch, homophob oder aggressiv wird ein klares Wir, das als frei, tolerant und vorurteilsfrei imaginiert werden kann, erzeugt (vgl. do Mar Castro Varela 2008). Mithilfe solcher Diskurse zu Migrant_innen können die westlichen Mehrheitsangehörigen die Gewinne der Zivilisation für sich beanspruchen. Dass diese Gewinne bzw. die Herrschaft u. a. auf Gewalt basiert, bleibt ungehört (vgl. ebd.). In dieser Hinsicht geht es um eine strukturelle Macht, die nach wie vor den Weißen gehört und durch die sexualisierter Rassismus sowie rassifizierte/s Sexualität/ Geschlecht aufrechterhalten wird.
5. Zivilisierungsmission II: Kolonialer Feminismus Sexismus und Homophobie sind zu zwei gesellschaftlich wichtigen Themen geworden, mit denen sich die bundesrepublikanische Gesellschaft medial, politisch, akademisch und zivilgesellschaftlich immer intensiver befasst. Bereits in den 1990er Jahren kritisierte Birgit Rommelspacher den hegemonialen weißen Feminismus (Prasad 2014), der mittlerweile zum Symbol der gesamten „weiß-deutschen Nation“ wurde. Sie problematisierte diesen hinsichtlich seiner rassistisch aufgeladenen Repräsentationspolitik in der Bundesrepublik. 88
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Politik der Zivilisierungsmission im Zusammenhang von Homophobie und Sexismus
In ihrem Buch „Dominanzkultur“ (1995) und anderen Beiträgen hinterfragte sie den universalistischen Gleichheitsanspruch des Westens am Beispiel des Emanzipationsdiskurses in der weißen Frauenbewegung (Çetin/Voss 2016; Çetin 2015), die von der Annahme ausgeht, dass die muslimischen Frauen in einer (imaginierten) muslimischen Welt unterdrückt werden würden, während aber die weiß-europäischen Frauen als von patriarchalen Verhältnissen befreit betrachtet werden. Auch in diesem Diskurs gilt der Westen als „zivilisiert“, während dem „Rest der Welt“ ein „unzivilisierter“ Status zugeschrieben wird. Rommelspacher argumentiert ihre Kritik am weißen Feminismus u. a. mit dessen Übernahme der Widersprüche der kolonialen Aufklärung. Demnach verstehen auch die Vertreterinnen der weiß-deutschen Frauenbewegung die Aufklärung immer noch als Basis eines „zivilisierten Westens“ in Abgrenzung zum nicht-aufgeklärten Rest. So ist Rommelspacher der Meinung, dass der weiße Feminismus heute Sexismus und Rassismus, die schon in der Zeit der Aufklärung mit „wissenschaftlichen“ Argumenten legitimiert wurden, übersehen und/oder sie übernommen haben: „Mit der Aufklärung wurde die Vernunft zum Masstab von Menschenwürde und politischen Rechten – wer aber als vernünftig zu gelten hatte, entschied die Wissenschaft. Dabei waren die Erfindung des physiologischen Schwachsinns des Weibes ebenso wie die Hierarchisierung von Menschen aufgrund ihrer Hautpigmentierung bezeichnende Produkte dieser ‚aufgeklärten‘ Wissenschaft“ (Rommelspacher 2010: o. S.).
Rassismus und Sexismus der kolonialen Aufklärung tradierten sich weiter mit dem Nationalsozialismus und sind auch heute noch wirkmächtig. Rommelspacher betont die Kompatibilität des Feminismus mit Kolonialismus und Nationalsozialismus. Sie schreibt, „dass auch im Nationalsozialismus Frauen ihre ‚rassische‘ Überlegenheit mit ihrem Einsatz für die Gleichstellung von Mann und Frau begründeten. So formulierte etwa Sophie Rogge-Börner in der Zeitschrift ‚Die deutsche Kämpferin‘, dass man gemeinsam mit den arischen Rassegenossen gegen das ‚orientalisch-jüdische Patriarchat‘ kämpfen sollte, weil dies die ursprüngliche, germanische Gleichstellung der Frau zerstört habe“ (ebd.: o. S.).
Jenseits dieser ausgeblendeten Geschichte befasst sich der gegenwärtige hegemoniale Feminismus im Rahmen seines „Emanzipationsdiskurses um die „unterdrückte muslimische Frau“ kaum noch mit den Geschichten und der Gegenwart der Unterdrückung und den Gewalterfahrungen von „westlichen“ Frauen und ihrer Unterordnung in patriarchale Dominanzverhältnisse. Vielmehr reproduziert diese Form des Feminismus das heteronorm-mann-dominierte Erbe des christlichen Kolonialismus, der die Frau hysterisiert, den 89
Homosexuellen pathologisiert und die Kolonisierten animalisiert (vgl. Çetin 2012; Fanon 1961; Foucault 1983). Gleichzeitig versäumt der hegemoniale Feminismus zum einen eine notwendige Auseinandersetzung mit den aktuellen sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, von denen vor allem Women of Color, Schwarze und andere rassismuserfahrene Frauen betroffen sind. Indem er die betroffenen nicht-weißen Frauen auf ihre Unterdrückung innerhalb ihrer Communities reduziert bzw. sie immer nur als Opfer einer Kultur, die oftmals den Islam symbolisieren soll, sieht, trägt er auch zum Fortbestehen dieser Ungleichheitsverhältnisse bei. Auch die Reproduktion des feministischen Rassismus, der „den anderen“ – oftmals muslimischen Mann als Bedrohung für die weiße Frau und den weißen (geouteten) Schwulen imaginiert, ist sehr wirkmächtig. Bei dieser Repräsentationspolitik spielt die koloniale Tradition eine signifikante Rolle, denn hier wird nicht mehr Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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„das Argument ‚rassischer‘ Überlegenheit benutzt, sondern die Argumentation stützt sich auf die zivilisatorische Funktion des Westens. Teil dieser ‚zivilisatorischen Mission‘ war jedoch schon zu Zeiten des Kolonialismus das Bestreben, ‚die unterdrückte Muslimin‘ zu befreien, was die Harvard-Professorin Leila Ahmed von einem ‚kolonialen Feminismus‘ sprechen lässt“ (vgl. Rommelspacher 2010: o. S.).
Der koloniale Feminismus übernahm nicht nur die koloniale Tradition des Otherings, er führte sie auch erfolgreich in unterschiedlichen Epochen der europäischen Geschichte fort. Die deutsche Frauenbewegung der 1970er Jahre hatte beispielsweise kein Problem, antisemitisch zu sein, wenn sie damals dem „Juden“ Patriarchalität vorwarf und ihn deshalb diskreditierte. So ein feministischer Antisemitismus wird heute möglicherweise latent praktiziert, aber Rommelspacher erinnert daran: „In den siebziger Jahren richtete er (Kolonialer Feminismus) sich vor allem gegen die Juden. Ihnen wurde vorgeworfen, einem archaisch verwurzelten Patriarchat verhaftet zu sein, und unter anderem auch, den sexuellen Missbrauch von Kindern zu legitimieren. Dass Jüdinnen Feministinnen sein konnten, war unvorstellbar“ (ebd.).
Mit den Ereignissen am 11. September fand die westliche Zivilisation eine „gute“ Legitimationsgrundlage, sich für die Rechte von Frauen und LSBTIQ im Nahen Osten einzusetzen. Sie wurden zum Instrument politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, der Medien und sogar akademischer Auseinandersetzungen, die Sexismus und/oder Homophobie nun nicht mehr als jüdisches, sondern als ein muslimisch-migrantisches Problem in „unserer“ Gesellschaft thematisieren. Seither wird von einer erfundenen Binde-Identität eines christlich-jüdischen Wertesystems gesprochen, dass scheinbar nicht mit einem „Islamisch-muslimischen“ Wertesystem vereinbar sei. Dabei wird 90
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Politik der Zivilisierungsmission im Zusammenhang von Homophobie und Sexismus
das Patriarchat externalisiert und als ein großes (problematisches) Feld in der Migrations- und Grenzregimepolitik erklärt. Auch wenn diese kolonial gefärbte Unterscheidung zwischen einem „frauenfreundlichen jüdisch-christlichen Wir“ und den „frauenfeindlichen muslimischen Anderen“ in der (kritischen) Gender- und Geschlechterforschung mehrfach kontrovers diskutiert wird, fehlt oft die Bereitschaft, über Sexismus ohne rassistische Argumente zu verhandeln. In dieser Hinsicht kann an dieser Stelle von einem antimuslimischen Feminismus gesprochen werden, der nicht nur von Teilen der Frauenbewegung vertreten wird, sondern auch die weite Mehrheitsgesellschaft erreicht hat. Feminismus wird damit von rechten Parteien, der Spitze der Parlamentspolitik und in den etablierten Medien als Basis einer deutschen „Leitkultur“ instrumentalisiert; diese konstruierte Leitkultur sollen sich nun Geflüchtete und andere Migrant_innen aneignen. Die Verbreitung dieses weißen Feminismus in einer weiß-heteronormativen Gesellschaft ist deshalb als Ausdruck einer etablierten deutschen Dominanzkultur zu verstehen, die, wie Rommelspacher zum Ausdruck brachte, keinen Widerspruch zueinander darstellen müssen, um einen Hegemonieanspruch zu legitimieren: „Der Einsatz für Frauenrechte und der Kampf um Hegemonie schließen sich also nicht zwingend aus. So ist es auch in anderen Bereichen üblich geworden, die eigene Überlegenheit mit dem Einsatz für Menschenrechte zu begründen. Für den Einmarsch in den Irak ist der Kampf um Demokratie ins Feld geführt worden, und in Holland forderte man eine Ausweisung von Muslimen im Namen des Kampfs um die gesellschaftliche Anerkennung und Gleichberechtigung von Homosexuellen“ (ebd.).
6. Fazit Die Debatte über die Vorkommnisse in der Silvesternacht 2015/16 waren in diesem Zusammenhang die Krönung eines Natio-Feminismus, der bemüht ist, das gefährliche Andere entweder zu zivilisieren oder es abzuschieben. In seiner Geschichte hat Deutschland noch nie so intensiv über Sexismus diskutiert, wie im Zusammenhang mit dieser Nacht. Die Skandalisierung des Sexismus, der vom mutmaßlich arabischen oder nordafrikanischen Mann gegen die weiß-deutsche Frau ausgegangen sein soll, begünstigte in erster Linie die Ausblendung des gewaltvollen Rassismus, von dem insbesondere Geflüchtete strukturell wie institutionell betroffen sind. Auch wenn mit der Silvesternacht 2015/16 einiges „sagbar“ wurde, sind antimuslimische Politiken in der Mitte der weiß-deutschen Gesellschaft schon seit Langem etabliert. Zum Beispiel hat sich 2014 Pegida herausgebildet und 91
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Zülfukar Çetin
richtet sich vorrangig gegen Geflüchtete aus Syrien und anderen muslimischen/arabischen Ländern. Auch diese Gleichsetzung von Muslim_innen und Araber_innen ist problematisch, nicht nur, weil es auch arabische Christ_innen gibt, deren Christlichkeit aber oft nicht „auffällt“, wodurch sie automatisch zum Opfer eines antimuslimischen Rassismus werden. „Pegida konnte bundesweit Anhänger_innen, Nachahmer_innen und weitere Gruppen gewinnen, die Geflüchteten als Terrorist_innen, Armutsbringer_innen, Sexisten, Homophobe, Antisemit_innen oder als gefährliche Andere deklarieren (vgl. Çetin 2016). Diese selbsternannten patriotischen Europäer_innen haben heute ihre politische Vertreter_innen in vielen Bundesländern unter dem Dach der Partei Alternative für Deutschland, die heute als demokratisch gewählte Vertretung der Bürger_innen anerkannt werden muss. Diese aktuelle Situation, also die große gesellschaftliche Anerkennung der AfD, zeugt davon, dass die westliche Demokratie längst von Rassismus bedroht ist. In Demonstrationen und sozialen Medien erhoben Pegida und ihre Sympathisant_innen ihre Stimme nicht nur gegen Geflüchtete, auch verbreiten sie Verschwörungstheorien über eine vermeintliche Islamisierungs-, Verarmungs- und Entzivilisierungsgefahr für das „Abendland“. Eine „abendländische“ Identität wird dabei in Abgrenzung zu einer gefährlichen „morgenländischen“ Identität zementiert. Diese klare rassistische Abgrenzung wird fast auf allen Ebenen der Gesellschaft auch gewaltsam vollzogen, sodass diejenigen, die zu „Morgenländer_innen“ gemacht werden, mit den lebensbedrohlichen Konsequenzen solch eines „abendländischen“ Identitätskampfes rechnen müssen (Çetin 2016): Rassistische Gewalt, Racial Profiling, Diskriminierungen auf der institutionellen Ebene und die aktuellen Abschiebungspraxen sind nur einige Beispiele der jüngst durchgesetzten Antiflüchtlingspolitik. Trotz der zunehmenden Fluchtbewegungen aus Syrien und anderen muslimischen Ländern (nicht nur) nach Deutschland und Europa wird weiterhin kaum über Fluchtgründe diskutiert. Politik und Medien beschäftigen sich vorrangig mit den vermeintlich negativen Folgen der Fluchtbewegungen für die „eigenen“ gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ressourcen. Es handelt sich in den öffentlichen Diskussionen ferner um die Frage nach der Stabilität der inneren und äußeren Sicherheit, von der (Un-)Vereinbarkeit der Werte der Mehrheitsgesellschaft und Normen, die den Geflüchteten zugeschrieben werden. In der Folge dieser öffentlichen Diskussionen gelang es (in) Deutschland, das Recht auf Asyl und auf Familiennachzug mit dem beschönigenden Titel „Asylpaket II“ am 25. Februar 2016 massiv einzuschränken bzw. auszusetzen. Damit wird das (Über-)Leben von Hunderttausenden Schutzsuchenden noch gefährdeter.
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Politik der Zivilisierungsmission im Zusammenhang von Homophobie und Sexismus
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Zülfukar Çetin
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Besonders vulnerable Geflüchtete
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Trauma als Konzept der Diagnose, Verdeckung und Skandalisierung in der Sozialen Arbeit im Kontext Flucht – rassismuskritische und menschenrechtliche Perspektiven1
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Astride Velho
„Flüchtlinge und Trauma“: ein Nexus, ein Zusammenhang, eine Verbindung, die eingängig erscheint und auf die vergangenen Erfahrungen verweist, die Geflüchtete zur Flucht bewogen. „Flüchtlinge und Trauma“, damit assoziieren wir in der Sozialen Arbeit Menschen, die aufgrund gewaltvoller Erfahrungen flüchten- Erfahrungen, die sie in Gefahr bringen, schwer belasten und auch traumatisieren können. Traumatisierung im Herkunftsland löst psychisches Leid aus, mit dem Soziale Arbeit, Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und der Pädagogik hier befasst und konfrontiert sind. Mit dieser Perspektive liegen die oftmals immens belastenden Erfahrungen in der Vergangenheit und deren Auslöser außerhalb des nationalen Territoriums Deutschlands und des direkten Wirkungskreises Sozialer Arbeit in diesem Land. Diese Perspektiven sind in der Sozialen Arbeit, Pädagogik und Psychologie oftmals (auch unbewusst) handlungsleitend, obgleich die gesellschaftliche Lage und gesetzlichen Bestimmungen in der Bundesrepublik für viele geflüchtete Menschen äußerst prekäre und belastende Lebensbedingungen herstellen, die umso gravierendere Wirkung zeigen können, wenn bereits gewaltvolle Erfahrungen vor und auf der Flucht gemacht wurden. Erfahrungen bundesdeutscher sozialer Ungleichheit, von Gewalt und Exklusion gehören überproportional häufig zum Erfahrungshintergrund und Alltag von Menschen, die als „Flüchtlinge“ gelten. Soziale Arbeit im Kontext Flucht ist so unweigerlich mit den Belastungen geflüchteter Menschen und deren (psychischen) Folgen, die durch inländische soziale Ungerechtigkeit hergestellt werden, und somit auch mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit befasst.
1 Die Ausführungen in diesem Beitrag beziehen sich immer wieder auf Velho (2008) und Velho (2011).
Astride Velho
Trauma als Diagnose im Kontext Flucht: ICD-10 und DSM-5
„mindestens die Hälfte der Flüchtlinge in Deutschland psychisch krank ist. Meistens leiden sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (40 bis 50 Prozent) oder unter einer Depression (50 Prozent). Beide Erkrankungen kommen häufig gemeinsam vor. Flüchtlinge, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erkranken, sind oft suizidal. 40 Prozent von ihnen hatten bereits Pläne, sich das Leben zu nehmen oder haben sogar schon versucht, sich zu töten. Auch bei Flüchtlingskindern in Deutschland sind Erkrankungen aufgrund traumatischer Erlebnisse besonders häufig. Jedes fünfte von ihnen ist an einer PTBS erkrankt. Das ist 15 Mal häufiger als bei Kindern, die in Deutschland geboren wurden“ (BPtK 2015: 1). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Die Bundespsychotherapeutenkammer geht davon aus, dass
Die internationalen Diagnosemanuale „International Classification of Disease“ ICD-10 von 20162 und das DSM-5 von 2013 dienen als Grundlage, um in der Bundesrepublik Deutschland Traumatisierung zu diagnostizieren. Die prominent zum Einsatz kommende Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bezieht sich auf bleibende Nachwirkungen von gewaltvollen Erfahrungen. Ein Ereigniskriterium muss vorliegen einhergehend mit gewissen gesundheitlichen Konsequenzen, d. h. Symptomen. Im Deutschen Rechtssystem müssen Diagnosen nach dem ICD-10 gestellt werden, das DSM-5 wird aber immer wieder zusätzlich herangezogen. Nach dem ICD-10 kann die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ nur gestellt werden, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: „A: Die Betroffenen sind einem kurz- oder langhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. B: Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen. C: Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis. D: Entweder 1. oder 2.: 1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern. 2 Die Version ICD-11 wird 2018 von der Weltgesundheitsorganisation WHO fertiggestellt und verabschiedet.
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht 2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale: a) Ein- und Durchschlafstörungen b) Reizbarkeit oder Wutausbrüche c) Konzentrationsschwierigkeiten d) Hypervigilanz e) erhöhte Schreckhaftigkeit.
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Die Kriterien B., C. und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden)“ (Dreßing 2016: 272).
Erfahrungen von Folter, das Erleben von Tötungen, Vergewaltigung, massive körperliche Gewalt oder andere schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen sind zwar als Ereigniskriterium A anerkannt, dies allein garantiert aber keineswegs die Diagnose PTBS. Hinzukommen müssen die unter B–D aufgelisteten Symptome. Gewisse Gewalterfahrungen und deren Auswirkungen finden bei entsprechenden Symptomen durch die PTBS-Diagnose eine spezifische Anerkennung und werden als wahr gewertet. Dies kann, wenn die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen und die entsprechende Behörde zustimmt, zur Kostenübernahme für eine Traumatherapie führen. Dass ein_e entsprechende_r Therapeut_in mit den notwendigen Qualifikationen gefunden werden kann, ist die nächste immer wieder auch unüberwindbar erscheinende Hürde, mit der Sozialarbeitende regelmäßig konfrontiert sein dürften. Es ist u. a. kritisch zu hinterfragen, ob die unter A zusammengefassten Ereignisse und Geschehnisse als Kriterien für eine PTBS-Diagnose nach ICD-10 alle möglichen macht- und gewaltvollen Erfahrungen von geflüchteten Menschen, die schwere psychische Belastungen nach sich ziehen können, beinhalten. Entsprechen die Kriterien „kurz- oder langhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“ den möglichen multipel belastenden Erfahrungen, die beispielsweise für Geflüchtete ohne gesicherten Aufenthalt in der Bundesrepublik bestehen? Die PTSD (die englische Schreibweise des PTBS), so der Sozialpsychologe David Becker, „ignoriert nicht einfach nur den Hauptaspekt sozialpolitischer Traumatisierung, sondern hilft dabei, ein soziales und politisches Problem in ein psychopathologisches umzuwandeln. Das ,D‘ steht für disorder (Störung). Im PTSD wird Trauma zur simplen Psychopathologie, neben anderen. Genau damit erweist er den Opfern einen Bärendienst. Er erkennt ihr Leiden an, aber nur als psychisches, nicht als soziales Leid“ (2014: 173).
Die Diagnosemöglichkeit der PTBS ist abhängig davon, ob die individuelle Befindlichkeit als Reaktion auf gewaltvolle Erfahrungen in das Symptomraster des ICD passt. Und zudem, ob die Erfahrungen von Marginalisierung, Unrecht und Gewalt überhaupt nach den Kriterien des ICD als traumatisierendes Er99
Astride Velho
„Die Zuweisung der PTBS mag gut gemeint sein; es ist, als würde den Menschen, denen Schreckliches widerfahren ist, eine Stimme gegeben werden; eine ernstzunehmende Stimme, eine medizinisch inthronisierte und juristisch akzeptierte Stimme. Es besteht aber das Risiko, dass dieses Verfahren Dominanzverhältnisse in die geflüchtete Person einschreibt: Wir deklarieren die Schädigung, die das Entsetzliche in dir angerichtet hat. Wir geben dieser Schädigung einen Namen und indem wir auf diese Weise verfahren, erheben wir das traumatische Ereignis zu einer von uns verwaltbaren Realität“ (Mosser 2016: 60).
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eignis oder Geschehen gewertet werden können. Peter Mosser beschreibt die Ambivalenz, die mit einer derartigen Diagnostik einhergehen kann:
Neben der Problematik bei der Diagnostik weist beispielsweise Kühner darauf hin, dass Trauma als Konzept der westlich dominierten Psychologie von einem gewissen Menschenbild und Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung ausgeht, dieses aber als universell gültig erklärt wird (2008: 75). David Becker sieht Traumaarbeit in verschiedenen, zumeist postkolonialen Konfliktregionen der Welt als „imperiales Kulturprojekt“, das in der Tradition der Mission Menschen glauben machen will, sie stünden ihren Retter_innen gegenüber (Becker 2006: 272). Sie verdecke die tatsächlichen Machtverhältnisse und transportiere den Opfern, dass diejenigen, die sie entmachten und unterdrücken, ihnen helfen, ihre individuell und nicht durch soziales Leid erworbenen Krankheiten zu überwinden. Die „westlichen“ Traumasymptome und Diagnosekriterien werden als kulturgebunden kritisiert, damit langerprobte Heilmethoden und Strukturen der sozialen Unterstützung untergraben und mehr Schaden als Nutzen angerichtet (vgl. Brunner 2004: 20). Auf einen weiteren Kritikpunkt weist Suman Fernando (2012) hin, nämlich dass das System der psychologisch-psychiatrischen Gesundheitsfürsorge in zunehmend von Diversität geprägten Gesellschaften des Westens nach wie vor von institutionalisiertem Rassismus geprägt ist, und diskutiert, wie ein zeitgemäßer antirassistischer Zugang zur Behandlung aussehen kann.
Bundesdeutsche Erfahrungen des Alltagsrassismus – Rassismus als dreifaches Gewaltphänomen Rassismus kann in der aktuellen bundesrepublikanischen Gesellschaft als dreifaches Macht- und Gewaltphänomen kategorisiert werden. Die große Bandbreite an Erfahrungen, die Menschen mit Fluchterfahrung in der Bundesrepublik Deutschland begegnet, reicht
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht
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1. von der Alltäglichkeit der Rassismuserfahrungen, dem Erleben institutioneller und struktureller restriktiver, diskriminierender, exkludierender gesetzlicher Regelungen und Bestimmungen, bis hin zu Diskriminierung in Interaktionen, gewalttätigen Angriffen und stigmatisierenden medialen Diskursen, 2. über die Abwehr einer kritischen Thematisierung dieser rassistischen Normalität, 3. bis hin zu dem Hilfe- und Bildungssystem, das machtvolle rassistische Praxen (auch ungewollt) fortsetzt, Unterstützung unterlässt und Hilfe verweigert. 1. Die Alltäglichkeit der Rassismuserfahrungen Formen von Alltagsrassismus zeigen sich nach Melter (2006: 26) auf verschiedenen Ebenen. Alltäglicher Rassismus von Einzelpersonen und Gruppen tritt in regelmäßig praktizierten auftretenden offenen und subtilen rassistischen Handlungspraxen auf (ebd.). In Gesetzen, Regelungen und Handlungspraxen von staatlichen und staatlich finanzierten Institutionen schlägt sich alltäglicher institutioneller Rassismus nieder (ebd.). In der Sozialstruktur, dem Arbeitsmarkt, in den Einkommensverhältnissen sowie im Schul- und Bildungssystem findet sich alltäglicher struktureller Rassismus wieder, der zudem in veröffentlichen Diskursen durch Medien, im Internet oder durch Reden verbreitet wird (ebd.). Unter Rassismus wird hier verstanden, dass bestimmte Menschen – auf Grundlage historischer und aktueller Machtkonstellationen – aus dem Kollektiv der Bevölkerung herausgeschrieben werden. Dies geschieht mit Rückgriff auf eine ihnen zugeschriebene „Fremdheit“ bezüglich „Abstammung“, „Ethnie“, „Nationalität“, körperlicher „Merkmale“, „Kultur“ oder „Religion“ und damit vermeintlich verbundenen Wesenseigenschaften. Mit der festgestellten Andersheit dieser fremdgemachten Anderen wird ihre Besonderung, ihre gesellschaftliche Benachteiligung, der verwehrte Zugang zu materiellen und weiteren Ressourcen und Rechten, ihr Ausschluss bis hin zu Abschiebung und offener Gewalt legitimiert. Rassismus zu erfahren, ist u. a. für „People of Color“ und Geflüchtete in Europa eine Alltäglichkeit. Machtvolle rassistische Differenzierungen entscheiden nicht nur darüber, wer fraglos dazugehört und wer eben nicht als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft gilt und entsprechend „besondert“, herabgewürdigt und exkludiert wird oder offene Gewalt erfährt. Sie entscheiden auch, wem welche Rechte zustehen und wer welchen Zugang zu sozialen, ökonomischen, materiellen und kulturellen Ressourcen hat und wessen tausendfacher Tod an den europäischen Grenzen in Kauf genommen wird. Hanewald et al. verdeutlichen in einer Studie das Zusammenwirken medizinischer und juristischer Aspekte:
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„Für die Situation von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Deutschland und der Europäischen Union im Allgemeinen heißt das: Die aktuelle Rechtslage sowie Rechts- und Verfahrenspraxis können als ,strukturelle Gewalt‘ eine die psychische Gesundheit von Flüchtlingen und Asylbewerbern schädigende Wirkung entfalten. Diverse Studien haben bereits den ,pathologischen‘ Effekt von restriktiven Maßnahmen im Rahmen staatlicher Migrationspolitik und dabei insbesondere von psychosozial belastenden Aufenthaltsbedingungen auf traumatisierte Flüchtlinge aufgezeigt (Steel Z., Momartin S., Silove D. et al. 2011; Nickerson A., Steel Z., Bryant R. et al. 2011; Storm T., Engberg M. 2013; Goosen S., Stronks K., Kunst AE. 2014; Lamkaddem M., Essink-Bot ML., Devillé W. et al. 2015)“ (2016: 5).
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Astride Velho
Geflüchteten wird im Zuge von Grenzsicherung, Asylrechtsverschärfungen, Dublin-Verordnungen, Abschiebepolitik, Lagerunterbringung, ökonomischer Marginalisierung, eingeschränkter Gesundheitsversorgung, verwehrten Bildungsmöglichkeiten, Arbeitsverboten, vermehrten, offen rassistischen Diskursen, zunehmenden gewalttätigen Angriffen gegen Unterkünfte und Übergriffen gegen Personen ein Recht auf Überleben bzw. Leben in Würde und Sicherheit quasi abgesprochen oder faktisch verweigert. „Ankunfts- und Rückführungseinrichtungen“, in denen in Bayern vor allem Menschen aus den Westbalkanstaaten, (unter ihnen viele Roma) und aus der Ukraine untergebracht werden, stellen Sonderlager mit besonders menschenunwürdigen isolierenden Bedingungen dar, in denen jene, denen einen schlechte Bleibeperspektive unterstellt wird, zur Ausreise „motiviert“ werden sollen bzw. durch die Sammelabschiebungen praktisch erleichtert und umsetzbar werden. Angesichts dieser Realitäten und Lebenslagen wird deutlich, dass Menschen, die als „Flüchtlinge“ oder „illegale Migrant_innen“ etikettiert werden, auf unterschiedliche Art und Weise grundlegende Rechte verwehrt werden, Teilhabe ver- oder behindert und Zugehörigkeit verweigert wird und so gesellschaftlich sehr grundsätzliche Inklusionshindernisse bestehen. Insofern haben wir es mit dieser rassistischen Normalität als erster Art von Macht- und Gewaltphänomen im Kontext Flucht zu tun, in der sich Alltagsrassismus sowohl institutionell als auch strukturell zeigt, sowohl in den individuellen Begegnungen als auch medial. 2. Die Abwehr einer kritischen Thematisierung rassistischer Normalität Die Normalität des Rassismus führt gesellschaftlich zu einer Nicht- oder Dethematisierung der macht- und gewaltvollen Realität und Entrechtung. Es wird vermieden, die sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die durch rassistische Praxen hergestellt, legitimiert und aufrechterhalten werden, kritisch zu thematisieren. Rassismus wird als Teil der Normalität, in der Menschen hier aufwachsen, sozialisiert sind und leben, beispielsweise in Interaktionen von Mehrheitsange102
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht
hörigen, immer wieder selbstverständlich ausgeübt, was häufig nicht oder nicht unbedingt bewusst geschieht. Im Kontext von Sexismus hat sich zumindest in manchen gesellschaftlichen Teilen bereits wesentlich mehr ein kritischer Blick durchgesetzt, auch wenn es hier einen vehementen und bedenklichen Backlash gibt. Im Zusammenhang mit Alltagsrassismus fehlt auch bei gesellschaftskritisch orientierten Personen häufig sowohl ein Bewusstsein darüber, wie sich Rassismus äußert, als auch ein Bewusstsein über die eigenen Verstrickungen. Insofern kann eine kritische Benennung von rassistischen Interaktionspraxen irritieren, da insbesondere auch Selbstbilder ins Wanken geraten können. Die kritische Thematisierung rassistisch begründeter Macht- und Gewalt unterliegt immer wieder einer Tabuisierung bzw. wird auch offen abgewehrt und bekämpft. Claus Melter bezeichnet dies als sekundären Rassismus (Melter 2006: 311ff.). In seiner Analyse bezieht Melter sich auf Befragungen von Pädagog_innen, die er im Rahmen einer Studie befragt hat; sie brachten deutlich zum Ausdruck, dass wenn Jugendliche von Rassismuserfahrungen berichteten, diese von den Pädagog_innen tendenziell geleugnet, verharmlost oder für den_die zu betreuenden Jugendliche_n als unproblematisch dargestellt wurden (vgl. ebd.). Neben der Leugnung und Bagatellisierung von rassistischen Ereignissen, kann im Umgang mit Rassismus die Entstehung von Abwehrmechanismen beobachtet werden. Astrid Messerschmidt (2010) spricht von spezifisch post-nationalsozialistischen Abwehrmechanismen, die in einer Gesellschaft nach dem Holocaust aus dem Wunsch heraus entstehen, sich von Dingen, die eine Kontinuität der Geschichte symbolisieren, zu distanzieren. Rassismus wird gerne als etwas gesehen, was heute lediglich Rechtsextreme praktizieren, was es in der Nazi-Zeit gab und was dann in einer Stunde-Null-Imagination verschwunden ist. Das heißt, wenn Rassismus thematisiert wird, stört dies das Selbstbild von Einzelnen und einer Gesellschaft, die für sich reklamiert einen Neubeginn gemacht zu haben. 3. Das Hilfe- und Bildungssystem, das machtvolle rassistische Praxen fortsetzt Das dritte Macht- und Gewaltphänomen besteht darin, dass das Hilfesystem immer wieder ein Teil dieser rassistischen Normalität abbildet und so in prekären Lebenslagen oftmals keine zugängliche Ressource darstellen kann. Durch pädagogische und soziale Organisationen und das Bildungs- und Hilfesystem wird Alltagsrassismus (auch ungewollt und unbewusst) nicht nur immer wieder fortgesetzt, sondern das institutionelle Setting ist strukturell und konzeptionell häufig gar nicht darauf angelegt, Menschen zu unterstützen, die Alltagsrassismus erfahren. Die Ausbildungs- und Studiengänge sind in den al-
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Astride Velho
„von Institutionen/Organisationen (durch Gesetze, Erlasse, Verordnungen und Zugangsregeln sowie Arbeitsweisen, Verfahrensregelungen und Prozessabläufe) oder durch systematisch von Mitarbeiter_innen der Institutionen/Organisationen ausgeübtes oder zugelassenes ausgrenzendes, benachteiligendes oder unangemessenes und somit unprofessionelles Handeln gegenüber ethnisierten, rassialisierten, kulturalisierten Personen oder Angehörigen religiöser Gruppen sowie gegenüber so definierten ‚Nicht-Deutschen‘ oder Nicht-Christen“ (Melter 2006: 27).
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lermeisten Fällen nicht darauf ausgerichtet, im Sinne migrationssensibler und rassismuskritischer Praxen auszubilden. Institutioneller Rassismus in Deutschland kann in Anlehnung an die Stephen Lawrence Inquiry (Macpherson Report 1999) in Großbritannien verstanden werden als
Im Kontext von Praxen des institutionellen Rassismus in der Sozialen Arbeit sind drei Aspekte zu beachten (vgl. ebd.: 311): Wird nicht empathisch auf geflüchtete Menschen eingegangen, ihre Lebenslagen, aufenthaltsrechtlichen Probleme, ihre Lage in der Unterkunft, ihre unterschiedlichen Erfahrungen von Alltagsrassismus, können diese auch keine adäquate Unterstützung im Sinne des Auftrags Sozialer Arbeit erhalten. Werden berichtete institutionelle Diskriminierungspraxen wie durch Behörden, durch die Soziale Arbeit nicht aufgegriffen und erfolgt keine Unterstützung, wird die Aufgabe, sich hier zu positionieren und zu intervenieren, vernachlässigt. Haben Einrichtungen der Sozialen Arbeit keine effektiven Fortbildungs-, Konzeptentwicklungs- und Kontrollmöglichkeiten und Interventionsmechanismen etabliert, um migrationssensible und rassismuskritische Soziale Arbeit zu gewährleisten, liegt ein systemisches Problem vor, das dringend bearbeitet und behoben werden muss. Es besteht ein soziales, und auch pädagogisches, psychologisches und medizinisches System, das im Kontext Flucht der Gefahr unterliegt, inadäquat zu arbeiten, obgleich es den Auftrag hat, auch denen, die Alltagsrassismus, die Exklusion, Entrechtung und Ausweisung erfahren, Hilfe und Unterstützung anzubieten.
Trauma im Kontext von Erfahrungen des Alltagsrassismus Die multiplen, möglichen Erfahrungen des Alltagsrassismus von Geflüchteten, die im Rahmen des beschriebenen dreifachen Macht- und Gewaltphänomens gemacht werden können, sind vielfältig und heterogen. Da sie Teil einer Normalität sind, die sich in und durch institutionelle Praxen, in strukturellen Bedingungen, durch mediale Diskurse und Interaktionen herstellt, sind sie zwar als mögliche massive, sozial hergestellte, psychische Belastungen (vgl. Velho 104
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht
2011) zu bezeichnen. Nur zum kleineren Teil allerdings können sie als A-Kriterium der PTBS als „kurz- oder langhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“, beschrieben werden. Sicherlich gelten so die meisten Rassismuserfahrungen, denen Geflüchtete in der Bundesrepublik ausgesetzt sind, nach den international anerkannten Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-5 nicht als traumatisierende Ereignisse. Insofern kann die Bezugnahme auf die Diagnosekriterien des ICD-10 in der Sozialen Arbeit für Geflüchtete bedeuten, dass zwar die Folgen von Menschenrechtsverletzungen und Traumatisierung durch spezifische Erfahrungen in Herkunfts- und Transitländern erkannt werden, diese dann jedoch vorwiegend als pathologisch definiertes psychisches Leid erscheinen und verhandelt werden. Schwerwiegende und multiple Erfahrungen der Entrechtung, Diskriminierung, Marginalisierung, Bedrohung und psychische Gewalt im Zielland Bundesrepublik werden jedoch verdeckt und nicht wahr- und ernst genommen, und so erfahren diese durch die Soziale Arbeit keine adäquate Anerkennung, Unterstützung und Intervention. Peter Fischer und Gottfried Riedesser gehen in ihrer ebenso am Individuum orientierten Traumadefinition über die engen Kriterien des ICD-10 hinaus und eröffnen hiermit Anknüpfungspunkte im Kontext von Rassismuserfahrungen. Sie beschreiben Trauma als „ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen der Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung im Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer/ Riedesser 1998: 79). Die zentrale subjektive Bedeutung, die eine traumatische Situation für die betroffene Persönlichkeit annimmt, „besteht hier weniger in der objektiven Intensität der traumatischen Faktoren als in deren qualitativer Eigenheit, die sich entweder an ein schon bestehendes Traumaschema anschließt oder zentrale Momente eines Lebensentwurfs oder auch erworbene traumakompensatorische Strategien jäh in Frage stellt“ (ebd.: 84).
Welche erworbenen Traumaschemata oder kompensatorischen Strategien sich Einzelne angeeignet haben, kann nur individuell betrachtet werden. Es ist von unterschiedlichsten Faktoren abhängig und sicherlich auch davon, ob die kindliche Sozialisation bereits in einem von Diskriminierung, Gewalt und Rassismus (oder anderen Ausschließungsmechanismen) geprägten Klima stattfand und ob bereits andere gewalttätige oder traumatische Erfahrungen gemacht bzw. wie diese verarbeitet wurden. Es ist jedoch zu beachten, dass Rassismuserfahrungen, Exklusion und Entrechtung gerade bei Personen, die unter großen Opfern in die Bundesrepublik geflüchtet sind – und annahmen, sich hier
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in Sicherheit gebracht zu haben –, den Lebensentwurf existenziell und grundsätzlich infrage stellen können.
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Psychische Auswirkungen von Rassismus Im Gegensatz zur Bundesrepublik, in der sich klinische und sozialwissenschaftliche Forschung erst in den letzten Jahren und auch nur in sehr beschränkter Weise der Fragestellung hinsichtlich der Auswirkungen von Rassismuserfahrungen und Exklusion angenommen hat, gibt es im internationalen Rahmen eine rege langjährige Forschungstätigkeit zum Thema Rassismus, die sich zumeist nicht explizit auf Menschen mit Fluchterfahrung bezieht (vgl. Velho 2011). Williams und Williams-Morris (2000) folgern aus US-amerikanischen Forschungsergebnissen, dass die psychische Gesundheit durch mangelnden Zugang zu Ressourcen, ökonomische Marginalisierung aufgrund von physiologischen und psychischen Reaktionen, der Internalisierung von negativen Stereotypen und durch Effekte auf das Selbstwertgefühl beeinträchtigt werden. Bryant-Davis und Ocampo (2005) und Chou, Asnaani und Hofmann (2012) sind in ihrer Analyse deutlich expliziter, sie kommen jeweils zur Schlussfolgerung dass Rassismus als traumatische Erfahrung bezeichnet werden könne. Wegweisend ist eine Studie von Robert Carter (2007), der die Effekte von rassistischer Diskriminierung untersuchte. Zentral ist sein Konzept der „Psychological Injury“, das davon ausgeht, dass traumatische Reaktionen nicht notwendigerweise auf physische Gewalt oder Bedrohung zurückgehen müssen, sondern auch aus rassistisch begründeten emotionalen Verletzungen hervorgehen können. Er beschreibt, dass Traumatisierung durch einen Vorfall entstehen kann, doch zumeist ein Prozess ist, in dem ein weiteres Ereignis den Stresslevel so anhebt, dass die Grenze zum Trauma überschritten wird. Auch Rassismuserfahrungen können als kritische Lebensereignisse wirken und traumatischen Stress verursachen. Physiologische Reaktionen, wie ein erhöhtes Risiko für Herzkrankheiten konnten auf Grundlage der von ihm herangezogenen Studien vorwiegend in Beziehung zu subtilen Formen von Rassismuserfahrungen gesetzt werden. Tätliche Angriffe zählt Robert Carter deshalb nicht unbedingt zu den gravierendsten Erfahrungen. Im Gegensatz dazu bezeichnet er die alltäglichen Herabwürdigungen und Mikroaggressionen, wenn sie durch kumulative und chronische Erfahrungen erinnerbar bleiben und langanhaltende Effekte nach sich ziehen, als schwerwiegend. Die subjektive Wahrnehmung, die Dauer und Anzahl der Erfahrungen, der Umfang der sozialen Unterstützung und die physische Vulnerabilität der Person tragen alle – laut Robert Carter – dazu bei, wie schwerwiegend ein Ereignis wahrgenommen wird. Als mögliche phy106
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht
sische Symptome benennt Robert Carter zudem Bluthochdruck, Übergewicht und Überreizbarkeit gegenüber Situationen, die an den Stress oder das Trauma erinnern. Als psychische Auswirkungen von traumatischen Rassismuserfahrungen beschreibt er Intrusion, Vermeidung, Verleugnung, Übererregbarkeit, Angst, Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Überaktivität, Aggressionen gegen sich und andere, Flashbacks, Alpträume und mangelnde Konzentrationsfähigkeit. Robert Carters Fokus auf vorwiegend individuelle rassistische Handlungen, der sowohl die im Besonderen auch im Kontext Flucht relevante strukturelle Reproduktion als auch die Institutionalisierung rassistischer Machtverhältnisse in den Hintergrund treten lässt, ist zwar kritikwürdig (siehe z. B. Speight 2007: 126f.), dennoch ist Carters Konzept eines, welches bedeutsame Lebensbedingungen von Geflüchteten mitberücksichtigt. Robert Carters Beschreibung lässt auch Analogien zu der Definition des kumulativen Traumas von Masud Khan zu, das von Peter Fischer und Gottfried Riedesser in ihrem Lehrbuch zu Psychotraumatologie aufgegriffen wurde. Hier wird kumulatives Trauma verstanden als „eine Abfolge von traumatischen Ereignissen oder Umständen, die jedes für sich subliminal bleiben können, in ihrer zeitlichen Abfolge und Häufung jedoch die restitutiven Kräfte das Ich so sehr schwächen, dass insgesamt eine oft sogar schwertraumatische Verlaufsgestalt entsteht. Immer von neuem wird die ‚Erholungsphase‘ unterbrochen. Die ständige Wiederholung durchbricht die Abwehrbarriere und hinterlässt tiefe Spuren im Persönlichkeitssystem“ (Fischer/Riedesser 1998: 124).
Rassismuserfahrungen Geflüchteter zeichnen sich durch ihre Permanenz, Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit aus. Die Erfahrungen können in ihrer Summe, auch wenn es nicht oder nicht vorwiegend um offen gewaltvolle Erfahrungen geht, zu einer Belastung werden, die nicht mehr konstruktiv bewältigt werden kann. Erholung kann aufgrund der Permanenz und des sozialen Klimas, das die Gewaltförmigkeit nicht anerkennt, schwierig oder unmöglich sein. Traumatische Dynamiken können entstehen. David Becker (2002: 68f.) führt aus, dass wir mit Trauma einerseits einen klinischen Begriff haben, „der wichtig ist und der uns zeigt, dass individuelles Leid und soziales Leid miteinander verknüpft sein können“, aber dieser Begriff „sei an den Rändern unscharf “. Er schlägt vor „zwischen Trauma als individuelles Phänomen, traumatischen Situationen als soziales Phänomen und den Symptomen (die wiederum ein individuelles Phänomen sind)“ zu unterscheiden. Außerdem fordert er dazu auf, anzuerkennen, „ dass bei einer bestimmten Art der Traumatisierung das wesentliche Thema die gesellschaftlichen Machtverhältnisse“ sind. David Becker schlägt vor, die Ambivalenz zwischen einer 107
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klinischen Perspektive, die sich auf die Schwere der psychischen Prozesse einlässt, und einer politischen und sozialen, die die Wirkmächtigkeit von Machtverhältnissen thematisiert, auszuhalten (ebd.). Wenn wir die Wirklichkeit des Alltagsrassismus und der Diskriminierung, Entrechtung und Exklusion in der Bundesrepublik, nun David Becker und anderen folgend, als alltägliche macht- und gewaltvolle soziale Phänomene bezeichnen, die auf Geflüchtete und andere traumatisierend wirken können, möchte ich den Blick weiter auf die Perspektive „Trauma“ richten, allerdings soll der Gebrauch des Traumabegriffs nicht weiter inflationiert werden (vgl. Becker 2014: 7ff.). Dennoch ist es wichtig, ein Bewusstsein und eine Sprache für die Verletzungen und Entrechtung zu finden, die die Flüchtlingspolitik und das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik verursachen können; auch deswegen, da wir aus den Sozial- und Heilberufen im Sinne des Präventionsgedankens aufgefordert sind, hier zu intervenieren, bevor es zu traumatischen Dynamiken kommt. Wir sind aufgefordert, denen, die aufgrund der Verhältnisse belastet, krank geworden sind oder parteiliche Unterstützung und den Zugang zu Ressourcen und Rechten benötigen, solidarisch beizustehen. Inwiefern insbesondere die Erfahrungen in der Bundesrepublik von Bedeutung für das Wohlergehen und die psychische Gesundheit sind, wird im Folgenden anhand sequenzieller Traumatisierungsprozesse verdeutlicht, um dann abschließend und ausblickend auf Traumadynamiken und Perspektiven Sozialer Arbeit im Kontext Flucht einzugehen.
Sequenzielle Traumatisierung im Kontext Flucht Im Zusammenhang mit den Erfahrungen von Geflüchteten im Herkunftsland, auf dem Fluchtweg und in der Bundesrepublik können wir von möglichen kumulativen Traumata sprechen, also einer Traumatisierung durch eine Anhäufung von Erfahrungen, die nicht verarbeitet werden können, nicht zuletzt weil in der Bundesrepublik nach der erfolgten Zuflucht auch keine Erholungsphasen gegeben sind und eine sehr grundsätzliche existenzielle Unsicherheit und Prekarisierung bestehen kann. Hans Keilsons Konzept von „Trauma als Prozess“, als Abfolge von Ereignissen, „beinhaltet einen grundlegenden Wechsel im Verständnis von Traumata: Anstatt ein Ereignis zu betrachten, das Konsequenzen hat, haben wir jetzt einen Prozess, in dem die Beschreibung einer sich verändernden traumatischen Situation der Rahmen ist, der festlegt, wie wir Trauma verstehen“ (Becker 2014: 176). In einer systematischen Langzeituntersuchung hat Hans Keilson die Entwicklung jüdischer Kriegswaisen nach dem Holocaust untersucht. Seine Analyse der „sequentiellen Traumatisierung“ ergab, dass nicht unbedingt 108
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht
ein einzelnes Ereignis als traumatisch wirkt, sondern es sich um einen Prozess handelt, in dem Traumatisierung entsteht (vgl. Keilson 1979). Hans Keilson – so David Becker – unterscheidet z. B. die Sequenz der direkten Verfolgung von der Sequenz der Nachkriegszeit. Er zeigt, dass der Verlauf der letztgenannten Sequenz für die Gesundheitsperspektive der Opfer bedeutsamer sein kann als der Schweregrad in der vorangegangenen. „Die Traumatisierung hält an, auch nachdem die aktive Verfolgung beendet wurde, weshalb es ein Missverständnis wäre, Traumata als die psychischen Folgen eines bestimmten eingegrenzten Ereignisses zu verstehen“ (Becker 2014: 176). Keilsons Modell wurde von David Becker und Barbara Weyermann um einige Elemente erweitert, um damit auch für Prozesse der Traumatisierung im Kontext Flucht für die berufliche Praxis ein größeres Verständnis bereiten zu können. In Anlehnung an ihr Konzept von Flucht als sequenzielle Traumatisierung können folgende Phasen aus menschenrechtlicher und rassismuskritischer Perspektive im Leben von Geflüchteten traumatisierend wirken: • • • • • •
vom Beginn der Verfolgung bis zur Flucht; auf der Flucht; die Ankunftszeit (in der Bundesrepublik Deutschland); die Chronifizierung der Vorläufigkeit durch befristeten und ungesicherten Aufenthaltsstatus bis hin zur Illegalisierung; im Rahmen eines Bleiberechts; bei Weiterflucht und Rückkehr/Ausweisung/Abschiebung (vgl. Becker/ Weyermann 2006; Becker 2014).
Es wird deutlich, dass die Lebenssituationen von Geflüchteten im Zielland auch Teil einer sequenziellen Traumatisierung sein können. Becker und Weyermann sprechen hier sehr treffend von einer „Chronifizierung der Vorläufigkeit“. Diese Chronifizierung stellt insbesondere bei bereits vorangegangener schwerer psychischer Belastung und Traumatisierung eine weitere psychische Destabilisierung dar. Hanewald et al. verdeutlichen in ihrer Studie anhand einer Fallbeschreibung die Wirkung der bundesdeutschen Lebensbedingungen im Zusammenhang mit Prozessen sequenzieller Traumatisierung: „In dem beispielhaft geschilderten Fall zeigt sich eine beinahe fatale Dynamik zwischen individuellem Leid, geltender Rechtslage und -praxis, therapeutischer Hilf- und Ratlosigkeit, Entfremdung der Patientin von ihrer Familie und schweren Dekompensationen mit ausgeprägter Suizidalität. Der über Jahre ungeklärte Rechtsstatus und das komplizierte Asylverfahren können dabei ohne Zweifel als
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maßgeblich die Erkrankung fördernde und die Therapie behindernde Faktoren angesehen werden. Das Aufenthalts- und Asylrecht, sowie die daraus abgeleitete behördliche Praxis haben sich in die Psyche der Patientin eingeschrieben und die psychosozialen Folgen der im Herkunftsland erlebten Traumata dramatisch verstärkt. Dieser Befund entspricht traumatheoretischen Ansätzen wie der ,sequenziellen Traumatisierung‚, aber auch empirischen Studien zur großen Bedeutung von äußerer Sicherheit, sozialer Unterstützung und Anerkennung der durchlebten Traumata im Aufnahmeland für die Prognose traumatisierter Flüchtlinge. Das Aufenthaltsrecht und die damit verbundene Rechtspraxis können also erhebliche ,pathologische‚ Folgen haben“ (2016: 170).
Ähnliches schildern Ulrike Loch und Heidrun Schulze, bezogen auf Forschungsergebnisse in der stationären Kinder- und Jugendhilfe: Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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„Die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes sind als strukturell fortschreitende Traumatisierung zu verstehen, die nicht nur jede weitere positive Entwicklung und Genesung von psychischen Leiden behindert, sondern weitere Schäden hervorrufen kann. Die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes stehen in direktem Gegensatz zu einer Vermittlung von Sicherheit in der elementaren dritten Sequenz der sequentiellen Traumatisierung nach Keilson und damit im Gegensatz zu einem günstigen Entwicklungsverlauf“ (2016: 96).
Ausblicke: Traumadynamiken Das Dilemma Sozialer Arbeit, so der US-amerikanische Sozialarbeiter und Lehrende David Gil (2006: 176), besteht darin, dass Sozialarbeiter_innen durch ihren Code of Ethics zwar das Mandat haben, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung im Kontext Flucht vorzugehen, doch es fehlen ihnen häufig adäquate theoretische Kenntnisse zum Verständnis ihrer Ursachen und Dynamiken sowie Strategien zur Überwindung dieser Phänomene. Im Sinne David Gils und dem Konzept der sequenziellen Traumatisierung ist in der Sozialen Arbeit zu beachten, welche Dynamiken im Sinne der Erschütterung von Selbstverhältnissen bei Geflüchteten im Rahmen der bundesdeutschen Erfahrungen entstehen können. Nur so können adäquate Konzepte der Unterstützung und Ansätze des Empowerments entwickelt und Beziehungen adäquat gestaltet werden. In der Sozialen Arbeit ist die Kenntnis von Traumadynamiken (vgl. Velho 2010, 2011), bei denen betroffene Personen beispielsweise die Fähigkeit verlieren können, „zwischen nützlichen und schädlichen Beziehungsangeboten zu unterscheiden und gleichzeitig noch die Grenzziehung zwischen Selbst und Außen“ vorzunehmen, von Relevanz (Fischer/Riedesser 1998: 88). Eine Invasion des Täters in das Selbst des Opfers, eine traumabedingte Subjekt-Ob110
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht
jekt-Verschmelzung, kann stattfinden, die entweder zu einer Selbstaufgabe zugunsten des Täters führen kann oder Fähigkeiten erfordert, die verletzte Integrität des Selbst wiederherzustellen (ebd.: 294). Die aus traumatologischer Sicht beschriebene Beschäftigung und partielle Identifizierung mit Täter_innen, „die Spuren des Täters im Opfer“, können als „komplexes Beziehungsgeschehen analysiert werden“, die auch in der Sozialen Arbeit ihren Niederschlag finden können (Kühner 2008: 50). Traumadynamiken haben Einfluss auf Selbstbildungsprozesse (vgl. Velho 2010) und geben uns Hinweise darauf, wie diese Prozesse im Kontext von Erfahrungen des Alltagsrassismus, der Exklusion und Entrechtung Geflüchteter verstehbarer und beschreibbarer werden. Es ist beispielsweise auch zu analysieren, welche Selbstbildungsprozesse (vgl. Velho 2016) bei Kindern entstehen, deren Aufwachsen und Leben durch Flüchtlingsabwehrmaßnahmen und Abschreckungspolitiken und -praxen und durch alltägliche rassistische Gewalt und Exklusion gekennzeichnet ist und welche sozialpädagogischen Implikationen sich daraus ergeben. Die Ambivalenz der PTBS-Diagnosen, die bei entsprechender juristischer Intervention bis zur Asylrechtsreform II im Jahr 2016 eine (befristete) Aufenthaltssicherung ermöglichen konnten, wird auch aus anderer Perspektive deutlich: Ein durch gewaltvolle Erfahrungen im Herkunftsland und auf dem Fluchtweg schwer psychisch belasteter geflüchteter Mensch, dessen Asylgründe nicht anerkannt wurden, konnte bis zur Asylrechtsreform II ein befristetes Aufenthaltsrecht aus dem Grund erlangen, dass seine psychische Befindlichkeit z. B. im Sinne der PTBS als „pathologisch“ und behandlungsbedürftig eingestuft wurde. Eine juristische Möglichkeit, die vielen Menschen das Leben gerettet hat, da sie Suizide verhindert, gewisse psychische Stabilisierung ermöglicht und Spielräume eröffnet hat. Im Umkehrschluss bestand für die so diagnostizierte Person bei vermehrter seelischer Gesundheit die Gefahr, keine weitere Aufenthaltsverlängerung zu bekommen. Dies stellt/e eine Art diabolischen Kreislauf dar, in dem Adressat_innen unserer Arbeit und somit auch die zuständigen Sozialarbeiter_innen gefangen waren, und trotzdem war die Beantragung eines solchen Abschiebeschutzes oft das einzig letztlich verbliebene mögliche Mittel, um (vorerst) bei entsprechend schlechtem seelischen Gesundheitszustand eine Ausweisung zu verhindern oder auszusetzen. Dem wurde inzwischen von staatlicher Seite – in Form des Asylpakets II – abgeholfen, im Rahmen dessen wurden auch die Bedingungen für die Erstellung ärztlicher Atteste im Zusammenhang mit Abschiebungen verschärft. Es dürfen nun nur noch die Migrant_innen nicht aus gesundheitlichen Gründen abgeschoben werden, die unter einer „lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung“ leiden, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. In dem Gesetz wird zudem betont, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland nicht gleichwertig sein 111
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Ausblicke: Befähigung und Gerechtigkeit – Soziale Arbeit im Kontext Flucht
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muss. In der Gesetzesbegründung wird deutlich Bezug genommen auf „schwer diagnostizier- und überprüfbare Erkrankungen psychischer Art, z. B. PTBS, die als Abschiebungshindernis geltend gemacht wurden. Unter den neuen Bedingungen sei eine PTBS nun in der Regel kein Abschiebungshindernis mehr (vgl. Osterloh 2016).
In gewisser Weise verbinden wir mit der Diagnose PTBS die Möglichkeit, der Dramatik der Effekte der Erfahrung einen Ausdruck zu verleihen. Wenn die Person belegbar als traumatisiert gilt, können wir in der Sozialen Arbeit davon moralisch, eventuell öffentlichkeitswirksam skandalisierend und manchmal (und immer weniger auch) praktisch für Einzelfälle im Zusammenhang mit ungesichertem Aufenthalt gewisse Rechte ableiten: Ein Recht auf Behandlung, Psychotherapie und (dazu notwendigen) Aufenthalt aus humanitären Gründen, Abschiebehindernisse oder auch den Auszug aus der Unterkunft in eine Privatwohnung. Die Kehrseite dieser Diagnosemöglichkeit ist, dass Soziale Arbeit in ein System der Bewertung von Menschen involviert wird, das aktuelle Symptome und damit psychische Krankheit in den Vordergrund stellt und die Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart in den Schatten. Denk- und Handlungsschemata, die (unbewusst) an Alltagsrassismus und andere Ungleichheitsdimensionen anschließen, werden über Medien und Handlungspraxen erlernt und angeeignet. Sie stehen auf allen gesellschaftlichen Ebenen als Deutungs- und Handlungsmuster zur Verfügung. Bezogen auf die stationären Kinder- und Jugendhilfe betonen Ulrike Loch und Heidrun Schulze (2016: 96), dass es Aufgabe Sozialer Arbeit ist, den institutionellen Kontext als entscheidende Phase im Traumatisierungskontext anzuerkennen und entsprechend qualifiziert wissensbasiert und traumaspezifisch zu handeln. „In einer Lebenssituation, die durch eine unsichere Zukunft geprägt ist, können pädagogische Normalisierungsprozeduren zur Unterdrückung von Traumafolgesymptomen führen, die die Belastungssymptome geradezu aufrechterhalten oder durch Ohnmachtserleben erst aufkommen lassen“ (ebd.). Soziale Beziehungen, die mit Adressat_innen aufgebaut werden, können im Kontext Flucht im Zusammenhang mit sequenziellen Traumatisierungsdynamiken schützende Wirkung entfalten (vgl. Loch/Schirmer 2016). Loch und Schulze führen aus: „Eine Betreuung in einer Kinder- und Jugendhilfemaßnahme kann viel zur Unterbrechung des Traumatisierungsprozesses beitragen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass die gegenwärtige institutionell gerahmte Lebenssituation in
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht
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einer Kinder- und Jugendhilfemaßnahme als elementare Phase innerhalb eines Traumatisierungsprozesses verstanden wird und folglich die Alltagsgestaltung eine theoretische Dimensionierung aufseiten der professionellen Fachkräfte der Sozialen Arbeit erfährt. Durch Unwissenheit können Strukturen, Handlungen und Deutungssysteme in den jeweiligen Institutionen, die eine Fortführung des Traumatisierungsprozesses begünstigen, nicht aufgedeckt und verändert werden“ (2016: 97).
Hierbei spielen sichere Bindungsangebote eine wichtige Rolle, und in diesem Sinne können die von Heidrun Schulze und Martin Kühn (2016) entwickelte „Pädagogik des Sicheren Ortes“ bzw. die „Traumapädagogischen Standards in der stationären Kinder- und Jugendhilfe“ der BAG Traumapädagogik (Lang et. al. 2013) aus rassismuskritischer Perspektive in Hinblick auf menschenrechtliche Perspektiven im Kontext Flucht weiter ausgebaut werden. José Brunner weist uns darauf hin, dass „es noch ein schlimmeres politisches Schicksal“ gibt, „als ein Traumaopfer zu sein, nämlich nicht einmal als solches anerkannt zu werden“ (2004: 18). Wie auch Hans Keilsons Konzept von „Trauma als Prozess“ und David Beckers und Barbara Weyermanns Ausführungen dazu verweist dies ebenso auf die nicht zu unterschätzende Bedeutung der bundesdeutschen Erfahrungen für Geflüchtete, also der Sequenz nach der Flucht für das Befinden der Betroffenen. Unter anderem von Willi Butollo et. al. (1999) wird das Fehlen sozialer Unterstützung im Umfeld als bedeutsamer Risikofaktor für PTBS gesehen. Eine „Recovery Environment“, die mithilfe anderer Personen und Institutionen Heilung und Verarbeitung möglich macht, wird als eminent wichtig beschrieben (ebd.). Es „bedarf daher einer Sensibilität für psychosoziale Prozesse, Konflikte und traumatische Brüche. Dabei führt kein Weg daran vorbei, auch die Verletzungen der Betroffenen ernst zu nehmen, wenn wirkliche Veränderungen im Sinne sozialer Integration und einer Stärkung der Betroffenen in ihrem sozialen Kontext als Teil einer nachhaltigen Abwehrstrategie gegenüber rechtsextremen Hegemoniebestrebungen gelingen sollen“ (Sischka 2015: 85).
An dieser Stelle muss noch einmal auf die immens zentrale Wirkung der bundesrepublikanischen Erfahrungen für die gesamte psychische Verfasstheit von Geflüchteten Bezug genommen werden. Soziale Arbeit ist hier im Sinne ihres Mandats beauftragt und verpflichtet, flucht- und migrationssensibel, rassismuskritisch und menschenrechtsorientiert zu handeln und sich dazu die notwendige Wissensbasis, Analyse-, Reflexions- und Handlungsfähigkeit anzueignen, adäquate institutionelle Bedingungen herzustellen, aber auch gemeinwesenorientiert, sozialpolitisch intervenierend und skandalisierend zu handeln. Für die Soziale Arbeit stellt sich wie auch in Bezug auf andere Kontexte, die von Machtverhältnissen mitgeprägt oder dominiert sind, die Frage, 113
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wie Exklusion, Marginalisierung, Entrechtung sowie die Gewaltförmigkeit und Brutalität der bundesdeutschen Verhältnisse und deren Effekte auf geflüchtete Menschen und ihre Kinder thematisiert, skandalisiert und dagegen interveniert werden können, wie der Zugang zu grundlegenden Rechten und sozialen Ressourcen vermehrt und hergestellt werden kann, wie Solidarität praktisch umgesetzt und verhindert werden kann, dass Menschen mit Fluchterfahrungen durch sozialarbeiterisches Handeln wiederum paternalistisch zu hilflosen Objekten gemacht werden, und wie gleichzeitig auch die Würde, Stimme, Subjektivität und Handlungsfähigkeit von Menschen mit Fluchterfahrungen gesellschaftlich zur Geltung kommen und unterstützt werden sowie eine angemessene Anerkennung erfahren.
Einen wichtigen Bezugspunkt für die Soziale Arbeit mit Geflüchteten liefert Gayatri C. Spivak, eine Theoretikerin der Postcolonial Studies. Sie spricht darüber, dass das Darstellen der (geflüchteten) Anderen und das Sprechen für die Anderen wie selbstverständlich praktiziert wird und als legitim gilt. Die Anderen werden repräsentiert, und es wird für sie gesprochen – anstatt mit ihnen (vgl. Olalde/Velho 2011). Ihre Stimme wird nicht gehört. Burzlaff und Eifler bemerken, dass „vor allem eine Kritische Soziale Arbeit aufzeigt, dass eine besondere Verantwortung darin besteht, Machtverhältnisse inklusive eigener Positionierungen kritisch zu hinterfragen“ (2015: 6). Der Ausspruch „Refugees must not be seen as victims or burdens, dependent and in need of help. There should be political solidarity“ (Bahar 2015) verweist darauf, den Auftrag Sozialer Arbeit und das Recht von Menschen, Rechte zu haben, wie es Hannah Arendt einmal ausgedrückt hat, ernst zu nehmen. Es gilt, einen Zugang zur Sozialen Arbeit zu wählen, der sowohl gerechtigkeitsorientiert als auch subjektorientiert ist, der auf Solidarität basiert und es den einzelnen Geflüchteten und Kollektiven geflüchteter Menschen ermöglicht, selbst zu sprechen, Gehör zu finden und soziale Gerechtigkeit zu erreichen.
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Trauma als Diagnose im Kontext Flucht
Becker, David (2002): Flüchtlinge und Trauma. http://www.lateinamerika-tage.de/wpcontent/uploads/2009/02/0611david-becker_trauma.pdf [Zugriff: 20.01.2017]. Becker, David/Weyermann, Barbara (2006): Gender, Konflikttransformation und der Psychosoziale Ansatz. Arbeitshilfe. Hrsg. von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) Bern. https://www.eda.admin.ch/dam/deza/de/documents/themen/gender/91135-arbeitshilfe-gender-konflikttrans-psychosoz-ansatz_DE.pdf [Zugriff: 28.08.2017]. Brunner, José (2004): Politik der Traumatisierung. Zur Geschichte des verletzbaren Individuums. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 1, S. 7–24. Bryant-Davis, Thema/Ocampo, Carlota (2005): Racist Incident-Based Trauma. In: The Counseling Psychologist 33, S. 479–500. Bundespsychotherapeutenkammer (2015): Mindestens die Hälfte der Flüchtlinge ist psychisch krank. BPtK-Standpunkt „Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen“. http://www.bptk.de/aktuell/einzelseite/artikel/mindestens-d.html [Zugriff: 20.01.2017]. Burzlaff, Miriam/Eifler, Naemi (2015): Deutsche Asylpolitik, Proteste Geflüchteter und das Schweigen Sozialer Arbeit. In: Forum Gemeindepsychologie 20. http://www. gemeindepsychologie.de/fg-1-2015_05.html [Zugriff: 26.01.2016]. Butollo, Willi/Hagl, Maria/Krüsmann, Marion (1999): Kreativität und Destruktion posttraumatischer Bewältigung. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta. Carter, Robert (2007): Racism and Psychological and Emotional Injury: Recognizing and Assessing Race-Based Traumatic Stress. In: The Counselling Psychologist, 35, S. 13–105. Chou, Tien/Asnaani, Anu/Hofmann, Stefan (2012): Perception of Racial Discrimination and Psychopathology Across Three U.S. Ethnic Minority Groups. In: Cultural Diversity & Ethnic Minority Psychology 18, 1, S. 74–81. Dreßing, Harald (2016): Kriterien bei der Begutachtung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). In: Hessisches Ärzteblatt 5/2016, S. 271–275. https:// www.laekh.de/images/Hessisches_Aerzteblatt/2016/05_2016/CME_Fortbildung_ PTBS_05_2016.pdf [Zugriff: 20.01.2017]. Fernando, Suman (2012): Race and culture issues in mental health and some thoughts on ethnic identity. Counselling Psychology Quarterly Vol. 25 , Iss. 2, S. 113–123. Ferreira, Grada Kilomba (2004): Rewriting the Black Body. In: Perko, Gudrun/Czollek, Leah Carola (Hrsg.): Lust am Denken. Queeres jenseits kultureller Verortung. Köln: PapyRossa, S. 54–64. Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter (1998): Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Ernst Reinhardt. Gil, David (2006): Gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Konzepte und Strategien für Sozialarbeiter. Bielefeld: Kleine Verlag. Goosen, Simone/Tronks, Karien/Kunst, Anton (2014): Frequent relocations between asylumseeker centres are associated with mental distress in asylum-seeking children: a longitudinal medical record study. In: International Journal of Epidemiology, 43, S. 94–104. 115
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Astride Velho
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Heiner Thiele
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Kindeswohl und Flucht. Minderjährige Geflüchtete als vulnerable Gruppe Allein in Berlin befanden sich zum 8. September 2016 12.071 Kinder mit ihren Sorgeberechtigten in Einrichtungen des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten, hinzu kamen 2.803 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) in entsprechenden Einrichtungen der Jugendhilfe. Dies ergab eine schriftliche Anfrage der Abgeordneten Marianne Burkert-Eulitz (Abgeordnetenhaus Berlin 2016: 1). Legen wir den Berliner Zahlen den Königsteiner Schlüssel zugrunde, wonach ca. 5 % aller Geflüchteten nach Berlin verteilt werden, so deutet dies darauf hin, dass sich im September 2016 ungefähr 240.000 begleitete und 56.000 unbegleitete Kinder in der Bundesrepublik aufgehalten haben müssen1. Werden einerseits unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in aller Regel durch die Jugendämter in Obhut genommen und nach einem Clearing in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht, so werden andererseits begleitete geflüchtete Minderjährige weder in der Öffentlichkeit noch durch die entsprechenden staatlichen Instanzen wahrgenommen. Sie leben mit ihren Familien häufig in Not-, Erstaufnahme- oder Gemeinschaftsunterkünften mit allen damit verbundenen Problemen und Risiken. Für die Jugendämter sind sie nur selten Zielgruppe. Kindeswohlgefährdungen, die in anderen Fällen zu Jugendhilfemaßnahmen führen würden, werden hier als normal hingenommen und führen zu strukturellen Ausschlüssen minderjähriger Geflüchteter und ihrer Familien aus dem Hilfespektrum des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII). Hinzu kommt eine generelle Überlastung der Jugendämter, die z. B. in Schließungen zur Aktenaufarbeitung ihren Ausdruck findet (Struck 2016: 127). Dass in einer solchen Situation tendenziell keine neue Klient_innengruppe in das Spektrum des Hilfesystems aufgenommen wird, hat seine Ursachen 1 Diese Zahlen sind lediglich eine grobe Hochrechnung, so gilt z. B. der Königsteiner Schlüssel für umF erst seit dem 1. November 2015, und die Berliner Zahlen beinhalten auch Geflüchtete, die in Notunterkünften leben, aber unter Umständen noch nicht verteilt worden sind, die Verteilungsquoten werden nicht immer exakt eingehalten, und nicht alle Geflüchteten sind untergebracht bzw. registriert. Allerdings decken sich die Zahlen mit Recherchen der „Zeit“, die von mindestens 300.000 geflüchteten Minderjährigen in Deutschland ausgeht (o. A. 2016a).
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Kindeswohl und Flucht
also auch in Budgetierungsmaßnahmen und Mittelkürzungen, wie unzählige Brandbriefe aus verschiedensten Jugendämtern anschaulich belegen. Präventive Ansätze geraten schnell aus dem Fokus und insbesondere geflüchteten Familien bleibt der Zugang zu wirksamer Kinder- und Jugendhilfe verschlossen. Dabei sollten gerade begleitete Minderjährige und ihre Angehörigen verstärkt in den Blick Sozialer Arbeit genommen werden, sind sie doch, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, vielfältigen Gefährdungen ausgesetzt. Im vorliegenden Artikel wird daher in einem ersten Schritt eine Definition von Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung vorgenommen, um dann relevante ausländerrechtliche Widersprüche sowohl auf supranationaler als auch auf bundesdeutscher Ebene darzustellen. Dies geschieht unter Bezugnahme auf die Kinderrechtskonvention (KRK), das zentrale Dokument der Vereinten Nationen für Kinderrechte. Im Anschluss werden Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe aufgezeigt und die konkreten Aufgaben Sozialer Arbeit in diesem Bereich benannt. Begrifflich werden in diesem Text „Geflüchtete“ und „Flüchtlinge“ analog verwendet; auch wenn Letzterer aus sprachpolitischen Gründen häufig durch Ersteren ersetzt wird, transportiert der Begriff des Flüchtlings doch „auch den historischen und rechtlichen Bedeutungshorizont“ (Kothen 2016: 24), wie auch der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. in seiner Kritik an der Bezeichnung „unbegleitete minderjährige Ausländer_in“ feststellt (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. o. D.).
Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung Man könnte vermuten, dass gerade der Begriff des Kindeswohls als zentraler Begriff sowohl der Kinderrechtskonvention (hier im Original weit treffender als best interest of the child gefasst) als auch des bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilferechts detailliert ausgestaltet wurde. Allerdings ist genau das Gegenteil der Fall: Beim Kindeswohl handelt es sich um einen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriff. Daher kommt es hier insbesondere in der Praxis darauf an, den Begriff mit Inhalt zu füllen. Hinzu kommt, dass Kinder nicht die alleinigen Adressat_innen der entsprechenden Rechtsnormen sind. Gerade das deutsche Recht mit dem im Grundgesetz (Art. 6 Abs. 2 GG) verankerten Elternrecht macht dies deutlich. Johannes Münder beschreibt das Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Staat als ein Dreiecksverhältnis, in dem „den Eltern das Elternrecht um des Kindes und seiner Persönlichkeitsentfaltung willen gewährleistet ist und damit in dem Maße zurücktritt, in dem das Kind in die Mündigkeit hineinwächst, bis schließlich das Elternrecht selbst überflüssig wird“ (Münder 2008: 12).
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Das Kindeswohl steht weiterhin im Widerspruch zwischen dem akuten Kindeswillen und dem gegebenenfalls aus Erwachsenensicht antizipierten zukünftigen Wohl des Kindes. Claudia Wiesemann und Sabine Peters definieren Kindeswille als „die nachdrückliche Meinungsäußerung des Kindes, die wiederholt vorgetragen wird, für das Kind eine besondere emotionale Bedeutung hat und deren Nichtbeachtung die Selbstachtung des Kindes untergraben würde“ (Wiesemann/Peters 2013: 29). Nun sind durchaus Situationen vorstellbar, in denen der aktuelle Kindeswille dem zukünftigen Kindeswohl widerspricht, insofern muss im Konfliktfall abgewogen werden, wobei der Kindeswille in jedem Fall berücksichtigt werden muss. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das Kindeswohl sowohl aus rechtlicher und ethischer Perspektive als auch in der Praxis so schwer zu fassen ist. Jörg Maywald schlägt die folgende Arbeitsdefinition vor: Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Heiner Thiele
„Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjenige, welches die an den Grundrechten und Grundbedürfnissen von Kindern orientierte, für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative wählt“ (Maywald 2012: 104).
Ausgehend vom Begriff des Kindeswohls kommt Harry Dettenborn zu folgender Definition: „Kindeswohlgefährdung ist die Überforderung der Kompetenzen eines Kindes, vor allem der Kompetenzen, die ungenügende Berücksichtigung seiner Bedürfnisse in seinen Lebensbedingungen ohne negative körperliche und/oder psychische Folgen zu bewältigen“ (Dettenborn 2014: 57f.).
Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) geht von einer Kindeswohlgefährdung aus, wenn eine Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes oder seines Vermögens vorliegt und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Für diesen Fall hat das Familiengericht Maßnahmen zu ergreifen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind (§ 1666 Abs. 1 BGB). Gerade im Kontext Flucht erscheint die strukturelle Dimension, die in dieser Definition mitschwingt, relevant. Eltern müssen das Wohl ihrer Kinder nicht vorsätzlich gefährden, sondern es reicht, wenn sie (z. B. strukturell oder durch Traumatisierung bedingt) nicht in der Lage sind, entsprechende Gefahren abzuwenden: „Kindesvernachlässigung ist eine situative oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns. Der Begriff beschreibt die Unkenntnis oder Unfähigkeit von Eltern, die körperlichen, seelischen, geistigen und materiellen Grundbedürfnisse eines Kindes zu befriedigen, es angemessen zu ernähren, zu pflegen, zu kleiden, zu beherbergen, für seine Gesundheit zu sorgen, es emotional, intellektuell, be-
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Kindeswohl und Flucht
Kindesvernachlässigung kann, wie später noch zu zeigen sein wird, hauptsächlich in Gemeinschaftsunterkünften der Fall sein. Die Definition des BGB umfasst sowohl das körperliche als auch das geistige bzw. seelische Wohl des Kindes. Lässt sich körperliches Wohl noch recht einfach bestimmen – ausreichende Ernährung, Bekleidung, Sicherheit, Freiheit von körperlicher Gewalt etc. – so fällt die Definition von seelischem und geistigem Wohl schon deutlich schwerer. Jenseits von Bedürfnistheorie2 lässt sich dieses Wohl rechtlich beschreiben, nämlich mit den Kinderrechten, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention gefasst sind: Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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ziehungsmäßig und erzieherisch zu fördern“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin e. V. 2009: 43).
„Kennzeichnend für den Kinderrechtsansatz ist, dass nicht nur allein nach den Bedürfnissen, sondern gleichermaßen nach den Rechten von Kindern gefragt wird. Während Bedürfnisse subjektiv und situationsabhängig sind, handelt es sich bei den Rechten der Kinder um objektive, von einzelnen Situationen unabhängige Ansprüche“ (Maywald 2012: 112).
Die 1989 von den Vereinten Nationen verabschiedete Kinderrechtskonvention ist die bis dato meistratifizierte Menschenrechtskonvention der UN. In ihr „wird ausdrücklich postuliert, das ,beste Interesse des Kindes‘ zur Richtschnur der Interpretation und Umsetzung der Kinderrechte zu machen. [...] [D]er Begriff des Interesses drückt einen Bezug zum Willen des Subjekts aus, im vorliegenden Fall dem Willen des Kindes, der in der Konvention im Recht des Kindes zum Ausdruck kommt, sich an allen es betreffenden Entscheidungen beteiligen zu können“ (Liebel 2017: 51f.).
Dieses best interest of the child steht konstituierend über den Prinzipien der Kinderrechtskonvention und ihren drei Rechtsbereichen (3 P’s) protection (Schutzrechte), provision (Versorgungsrechte) und participation (Partizipationsrechte). Diese Rechte sind durch die Konvention als Rechte dem jeweiligen Staat gegenüber festgeschrieben. Die Vertragsstaaten und ihre Institutionen sind also in der Pflicht, Schutz und Fürsorge für jedes Kind zu gewährleisten, das sich auf ihrem Hoheitsgebiet aufhält (Artikel 2 und 3 KRK). Der Vorbe2 Das Wohl des Kindes sollte nicht primär an Bedürfnisse gekoppelt werden, da sich diese nach dem jeweiligen Kontext, den Lebensumständen und dem Alter individuell unterscheiden können, sondern muss von einem allgemeingültigen und verbindlichen Rechtsanspruch abgeleitet werden (Maywald 2012: 111). Neben der individuellen Lebenssituation werden so „auch die [Kinder] umgebenden gesellschaftlichen Einheiten wie Familie, Gemeinwesen, Nation und Weltbevölkerung in den Blick“ (ebd.: 113) genommen. Kinder sind somit nicht mehr vom guten Willen Erwachsener abhängig, sondern haben ein Recht darauf, dass ihre Rechte respektiert werden und können diese gegebenenfalls einfordern (Fritzsche 2016: 134).
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Heiner Thiele
halt der Bundesrepublik gegen die Kinderrechtskonvention, wonach Asyl- und Ausländerrecht den Kinderrechten vorrangig seien, musste 2010 nach Druck von Nichtregierungsorganisationen und Zivilgesellschaft und einer Abschließenden Bemerkung des Kinderrechtsausschusses zurückgenommen werden. In dieser Abschließenden Bemerkung empfahl der Ausschuss 2004, die Vorbehalte schnellstmöglich zurückzunehmen (United Nations 2004), der UN-Menschenrechtsausschuss hatte bereits 1994 festgestellt, dass Vorbehalte, wie sie in der Wiener Vertragsrechtskonvention vorgesehen sind, nicht auf Menschenrechtskonventionen übertragbar und somit unzulässig sind (United Nations 1994). Eine ähnlich definierte Schutzpflicht findet sich im Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern (KSÜ), das in Deutschland 2011 das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) ablöste: „Die Behörden, seien es Gerichte oder Verwaltungsbehörden, des Vertragsstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sind zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes zu treffen“ (Artikel 5 Satz 1 KSÜ). Des Weiteren schreibt die EU-Grundrechtecharta den Vorrang des Kindeswohls vor nationalem Recht vor: „Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein“ (Artikel 24 Satz 2 EU-Grundrechtecharta). Übertragen auf den Kontext Flucht wird schnell deutlich, dass das Kindeswohl – um nur ein Beispiel zu nennen – in Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften, in Erstaufnahmeeinrichtungen und Turnhallen schon aufgrund der räumlichen Enge regelmäßig eingeschränkt sein dürfte. Hier zeigt sich deutlich, dass der Begriff des Kindeswohls – unabhängig von individuellen Problemlagen – in Verbindung mit dem präventiven Charakter des § 27 SGB VIII durchaus Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe rechtfertigen kann, wenn nämlich die Eltern durch strukturelle Einschränkung ihrer Lebensbedingungen de facto eine angemessene Erziehung nicht mehr zu leisten in der Lage sind. Ähnlich interpretiert Thomas Trenczek die Norm: „Der jugendhilferechtliche Leistungsanspruch wird ausgelöst, wenn die Sozialisationsbedingungen den jungen Menschen im Vergleich zu anderen erheblich benachteiligen. Benachteiligung liegt vor, wenn das, was für Sozialisation, Ausbildung und Erziehung Minderjähriger in dieser Gesellschaft ,normalʻ, üblich und erforderlich ist, tatsächlich nicht vorhanden ist“ (Trenczek 2002; Hervorh. im Original).
Liegen dem Jugendamt Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vor, so muss es dem Schutzauftrag aus § 8a SGB VIII entsprechend eine Gefährdungseinschätzung vornehmen und den Eltern gegebenenfalls Hilfen zur Abwehr der Gefährdung anbieten. Sollten die Eltern nicht kooperieren, kann es das 122
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Familiengericht anrufen. In einer Situation „dringender Gefahr“ ist das Kind nach § 42 SGB VIII in Obhut zu nehmen.
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Widersprüche nationalen Rechts vs. menschenrechtliche Vorgaben Auf der Ebene europäischer Legislation lässt sich ein ambivalenter Umgang mit minderjährigen Geflüchteten konstatieren. Einerseits betont beispielsweise die Dublin-III-Verordnung bereits in ihrer Präambel die vorrangige Bedeutung des Kindeswohls und die besondere Schutzbedürftigkeit unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (Präambel Punkt 13) und legt in Artikel 6 spezielle Garantien für Minderjährige fest – u. a. eine qualifizierte rechtliche Vertretung (Artikel 6 Absatz 2) und die Berücksichtigung der „Ansichten des Minderjährigen“ (Artikel 6 Absatz 3d). Andererseits sprechen z. B. die Vielzahl der Haftgründe in der Aufnahmerichtlinie (Artikel 8 Absatz 3) in Kombination mit dem expliziten Nicht-Verbot der Inhaftierung Minderjähriger (sowohl begleiteter als auch unbegleiteter) in Artikel 11 Absatz 2 und 3 eine andere Sprache. Eine kindeswohlkonforme Inhaftierung ist in Hinblick auf die Kinderrechtskonvention schlichtweg nicht denkbar, auch wenn Artikel 37b der Konvention Freiheitsentzug nicht grundsätzlich ausschließt (Cremer 2015: 36). Aber auch deutsches Recht und die Umsetzung in die Praxis stehen den Kinderrechten häufig konflikthaft gegenüber. So widerspricht die Unterbringung Minderjähriger in Gemeinschaftsunterkünften, Hostels oder Turnhallen häufig ihrem in Artikel 31 Kinderrechtskonvention verbrieften Recht auf Ruhe und Freizeit. Der Menschenrechtsbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte konstatiert daher: „Bislang wird in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen: Für Kinder, die in Heimen untergebracht werden, enthält das Kinder- und Jugendhilfegesetz detaillierte Vorgaben zur Wahrung des Kindeswohls. Für geflüchtete Kinder in Gemeinschaftsunterkünften gelten diese Regelungen bislang nicht“ (Deutsches Institut für Menschenrechte 2016: 8).
Andere gesetzliche Einschränkungen der Lebensbedingungen, z. B. Residenzpflicht, Sachleistungsprinzip und gesundheitliche Mangelversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), wirken mit der Pflicht, in einer Sammelunterkunft zu wohnen, zusammen. Als Konsequenz dieser Restriktionen leiden viele erwachsene und minderjährige Geflüchtete, die über Jahre in solchen Einrichtungen untergebracht werden, unter körperlichen und psychischen Problemen. Dies trifft Kinder besonders hart und widerspricht min123
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Heiner Thiele
destens dem Recht auf Gesundheitsvorsorge (Artikel 24 KRK), dem Recht auf soziale Sicherheit (Artikel 26 KRK), dem Recht auf angemessene Lebensbedingungen (Artikel 27 KRK) und dem Recht auf Bildung, Schule und Berufsausbildung (Artikel 28 KRK). Massiv verletzt wird hier auch die Verantwortung des Staates für das Kindeswohl (Artikel 18 KRK), außerdem kann in großen Gemeinschaftsunterkünften die Einhaltung der Artikel 19 (Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung) und 34 (Schutz vor sexuellem Missbrauch) kaum gewährleistet werden. Hinzu kommt laut Thomas Berthold (2014: 38ff.) häufig eine hohe Belegung solcher Einrichtungen, was sich negativ auf Privat- und Intimsphäre auswirkt, ein Verstoß gegen Artikel 16 der Kinderrechtskonvention. Durch ihre oft abgeschiedene Lage entsteht eine sozialräumliche Isolation, die die Situation von Kindern nicht ausreichend berücksichtigt; eine Teilhabe am kulturellen Leben wie in Artikel 31 der Kinderrechtskonvention gefordert, ist häufig unmöglich. Neben dieser räumlichen Ausgrenzung konstatiert Berthold weitere Bereiche, in denen die Verletzung des Kindeswohls wahrscheinlich ist, nämlich im Zugang zu Unterstützung und Bildung (ebd.: 44ff.) und im Familienkontext, in dem Kinder Geflüchteter häufig enorme Verantwortung übernehmen müssen, sei es, dass sie die Sprache bereits besser beherrschen als die Eltern, einen einfacheren Zugang zur Umgebung außerhalb der Wohneinrichtung finden oder dass die gute Integration der Kinder über § 25a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) den Aufenthalt der gesamten Kernfamilie sichern kann (ebd.: 32ff.). Speziell im Asylverfahren findet Berthold weitere Widersprüche: die unzureichende Berücksichtigung kinderspezifischer Fluchtgründe, fehlende Sonderbeauftragte und eine mangelhafte Vorbereitung und Beratung für begleitete Minderjährige und ihre Eltern laufen dem Kindeswohl entgegen (ebd.: 19ff.). Der häufig unsichere Aufenthaltsstatus, Rückführungen im Rahmen der Dublin-Verordnung oder die 2015 um den Kosovo, Montenegro und Albanien erweiterte Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten betreffen selbstverständlich auch Minderjährige. Die Unterbringung von Kindern in Sonderlagern, wie zuletzt in Bamberg und Manching etabliert, widerspricht gleich mehreren Prinzipien der Kinderrechtskonvention: Hier werden Geflüchtete entsprechend ihrer Herkunft untergebracht, in der Regel Personen aus den Balkanstaaten, deren Asylantrag im Schnellverfahren geprüft werden soll. In diesen Sonderlagern werden Kinder für lediglich zwölf Stunden in der Woche beschult, in Mathematik, Englisch und Naturwissenschaften; Deutschunterricht ist komplett ausgeschlossen (o. A. 2016b). Eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Herkunft aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ verbietet sich jedoch nach Artikel 2 der Kinderrechtskonvention und verstößt gegen den Kindeswohlvorrang aus Artikel 3; die rudimentäre Beschulung läuft zudem den Artikeln 28 und 29 zuwider, nämlich dem Recht auf Bildung und den in der Konvention 124
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Kindeswohl und Flucht
definierten Bildungszielen. Auch dürfte die Neuregelung, nach der auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel umverteilt werden, menschenrechtliche Bedenken verursachen, denn die Kinder und Jugendlichen werden zum Teil in Gegenden untergebracht, die weder über die notwendige Infrastruktur noch über ausreichend Erfahrung in der Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger verfügen. Neben Ausschlüssen von Bildung stellt die im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes vorgesehene Minimalmedizin einen Eingriff in „das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ (Artikel 24 KRK) dar. Durch die Übermittlungspflicht aus § 87 AufenthG sind Geflüchtete ohne Papiere sogar vom Großteil der medizinischen Leistungen ausgeschlossen, wenn sie nicht eine Meldung an die entsprechende Ausländerbehörde riskieren wollen. Einem Zugang zu therapeutischen Leistungen steht in der Regel neben dem Asylbewerberleistungsgesetz auch die strukturelle Knappheit passender Angebote im Wege; lange Wartelisten und mangelnde inhaltliche und/ oder sprachliche Qualifikation verfügbarer Therapeut_innen wirken weiterhin erschwerend. Hinzu kommen strukturelle Ausschlüsse aus der Jugendhilfe: Insbesondere begleitete minderjährige Flüchtlinge werden selten als Zielgruppe für Jugendhilfemaßnahmen nach dem SGB VIII angesehen, obwohl sie formal meist anspruchsberechtigt sind. Finanzieller Druck durch Haushaltssperren oder Budgetierungsmaßnahmen der Jugendämter vor allem in bundesdeutschen Großstädten sowie fehlendes Wissen und Weiterbildungen auf allen Ebenen Sozialer Arbeit im Bereich Flucht begünstigen diesen Prozess der Nichtgewährung von Hilfen (Thiele 2016: 366f.). Ein weiterer eklatanter Widerspruch bundesdeutschen Rechts in Zusammenhang mit der Kinderrechtskonvention findet sich auch in der Aussetzung von Familienzusammenführungen bei subsidiär geschützten Personen durch das Asylpaket II. Vornehmlich die Artikel 9 und 10 werden hier verletzt, insofern die Wiedervereinigung einer Familie verhindert bzw. eine Situation aufrechterhalten wird, in der ein Kind gegen seinen Willen von der Familie getrennt ist. Der rechte Diskurs von den „Ankerkindern“ wird so aufgegriffen und manifestiert sich in einer dem Kindeswohl massiv widersprechenden Rechtsnorm. Die asylrechtliche Handlungsfähigkeit unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge wurde durch die Umsetzung des Artikels 25 Absatz 1b der Verfahrensrichtlinie der EU durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz im neuen § 12 AsylG zwar auf 18 Jahre heraufgesetzt, gleichzeitig wurde jedoch durch das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ die pauschale Umverteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel analog zu 125
Heiner Thiele
Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen für junge Geflüchtete Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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erwachsenen Geflüchteten implementiert. Eine nicht an individuellen Bedürfnissen orientierte Verteilung widerspricht ebenfalls dem Kindeswohl (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. 2014). All diese Ambivalenzen und Widersprüche bundesdeutschen Rechts bewegen sich noch vor der Frage, ob eine Abschiebung kindeswohlkonform gestaltet werden kann oder was nach vollzogener Abschiebung droht – die Verletzung der Kinderrechtskonvention ist alltägliche Praxis und muss als solche wahrgenommen werden.
Häufig herrscht Zweifel, welcher Personenkreis für Maßnahmen nach dem SGB VIII anspruchsberechtigt ist, vor allem, wenn diese Personen keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Dennoch ist die Gesetzeslage diesbezüglich recht eindeutig: § 6 Absatz 2 SGB VIII schließt ausdrücklich Ausländer_innen ab Duldungsstatus ein, sofern sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Auch der vormals bestehende Ausweisungsgrund bei Inanspruchnahme von Heimerziehung in § 55 Absatz 2 Nr. 7 AufenthG ist durch die Neufassung des Ausweisungsinteresses durch das „Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27.07.2015“ weggefallen. Lediglich § 5 Absatz 1 Nr. 1 AufenthG kann unter Umständen die Erteilung eines Aufenthaltstitels einschränken, wenn nämlich durch stationäre Hilfen die eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes von Jugendlichen außerhalb der Familie nicht gewährleistet werden kann. Insbesondere bei Hilfen nach §§ 32–35 SGB VIII (Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpflege, Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform und intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung) muss daher im Einzelfall geprüft werden, ob sie nicht einer ausländerrechtlichen Besserstellung entgegenstehen (Hoffmann 2006: 6f.). Des Weiteren erwächst laut Holger Hoffmann aus dem SGB VIII ein „interkultureller Auftrag“ (ebd.: 8): § 9 Nr. 2 SGB VIII verlangt, dass „die jeweiligen besonderen sozialen und kulturellen Bedürfnisse und Eigenarten junger Menschen und ihrer Familien zu berücksichtigen“ sind. Daraus lässt sich ein Anspruch auf spezifische, den Bedürfnissen geflüchteter Familien entsprechende Hilfeformen ableiten, den umzusetzen Aufgabe der Jugendämter und Jugendhilfeträger ist. Weiterhin herrschen eklatante Unterschiede im Zugang zu Jugendhilfemaßnahmen für unbegleitete und begleitete minderjährige Geflüchtete. Für Erstere hat sich in den letzten Jahren ein am Kindeswohl orientiertes Verfahren etabliert, das im Idealfall und bei Anerkennung der Minderjährigkeit mit der Inobhutnahme durch das Jugendamt beginnt und in einem Clearing mün126
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Kindeswohl und Flucht
det, das sowohl ausländerrechtliche und medizinische Abklärung beinhaltet sowie eine am Kindeswohl und Kindeswillen orientierte Erhebung des Erziehungsbedarfes und der Weiterbetreuung einschließt (Riedelsheimer/Wiesinger 2004: 40). Dieses Verfahren verläuft selten ohne Probleme, wie sich bereits bei der Inobhutnahme zeigt. Seit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz von 2005 müssen alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Obhut genommen werden. Allerdings werden Minderjährige, die sich in Begleitung von nicht erziehungsberechtigten Verwandten (wie erwachsenen Geschwistern, Tanten oder Onkel) befinden, in der Praxis nicht immer in Obhut genommen. Sie gelten als sogenannte verdeckte umF, die häufig nicht den entsprechenden Zugang zur Jugendhilfe erhalten (Lewek/Klaus 2016: 11). Zum Clearing gehört oft eine Altersfeststellung, die meist bei fehlenden Papieren verlangt wird. Neben einer Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt findet häufig eine medizinische Altersschätzung mit unterschiedlichen Untersuchungen des Knochenalters sowie des Entwicklungszustandes primärer Geschlechtsorgane statt. Die Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (ZEKO) kommt jedoch zu dem Schluss, „dass die gängigen Verfahren zur Altersschätzung von jungen Flüchtlingen ethisch nicht gerechtfertigt sind, insbesondere Röntgenuntersuchungen und Genitaluntersuchungen sind abzulehnen“ (Bühring 2016: 1410). Hier ist ein anwaltschaftliches Engagement Sozialer Arbeit gefordert, unter Umständen auch gegen die Interessen der Jugendämter. Ebenfalls im Clearingverfahren sollte die Klärung der Vormundschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erfolgen. § 42 Absatz 3 SGB VIII verlangt, dass die Bestallung eines Vormundes unverzüglich erfolgt. Hier wird unterschieden zwischen Amtsvormunden, Vereinsvormunden und Einzelvormunden. Vor allem Amtsvormunde betreuen oft eine Vielzahl von Minderjährigen und haben weniger Ressourcen für eine persönliche Betreuung, wie Einzelvormunde sie leisten können. Allerdings muss bei Letzteren auf eine entsprechende Schulung geachtet werden. In besonderen Fällen können Rechtsanwält_innen im Rahmen einer Ergänzungspflegschaft nach § 1909 des BGB hinzugezogen werden. Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eröffnet sich nach dem Clearing in der Regel das gesamte Spektrum der Leistungen des SGB VIII, im Speziellen aber eröffnen sich stationäre Hilfen wie die Vollzeitpflege nach § 33, die stationäre Unterbringung nach § 34 oder Verselbstständigung im Rahmen eines betreuten Einzelwohnens für junge Volljährige nach § 41. Bei nichtstationärer Unterbringung, z. B. bei Verwandten, bieten sich ambulante Hilfen zur Erziehung (§§ 27ff.) als ergänzende Maßnahmen an. Begleitete minderjährige Flüchtlinge werden jedoch noch viel zu selten als potenzielle Empfänger_innen von Hilfen nach dem SGB VIII gesehen. Hier könnten gerade Hilfen zur 127
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Erziehung Kinder und Eltern dabei unterstützen, sich angesichts struktureller Einschränkungen, wie sie durch Unterbringung und Aufenthaltsstatus entstehen, zurechtzufinden (Breit 2015: 23; Thiele 2016: 365f.).
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Besonderheiten und Handlungsoptionen in der Arbeit mit jungen Geflüchteten In der Arbeit mit jungen Geflüchteten ergibt sich eine ganze Reihe von Besonderheiten, die im sozialarbeiterischen Alltag eine wichtige Rolle spielen. So ist eine grundlegende Kenntnis der ausländerrechtlichen Vorgaben und Zusammenhänge Voraussetzung, um im gesetzlichen Rahmen bestmöglich handeln zu können. Eine externe Beratung ist insbesondere bei aufenthaltsrelevanten Entscheidungen und Anhörungen hinzuzuziehen. Neben einer generellen Offenheit für Herkunftsidentitäten ist Wissen um Traumafolgeerscheinungen unabdingbar. Die vielfältigen Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung äußern sich auch im pädagogischen Alltag, eine Retraumatisierung kann ebenfalls in solchen Settings ausgelöst werden. Das Verständnis traumatischer Sequenzen bzw. sequentieller Traumatisierung (Keilson 2005) kann dazu beitragen, einer weiteren Traumatisierung nach der Ankunft entgegenzuwirken3. Eine wichtige Aufgabe Sozialer Arbeit besteht weiterhin darin, den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Auch wenn die Schulpflicht in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich geregelt ist, haben alle Minderjährigen nach der Kinderrechtskonvention ein Recht auf Bildung, das es einzufordern gilt. Dies trifft analog für die Betreuung in Kindertageseinrichtungen bzw. die Berufsschulpflicht zu. Neben der Wissensvermittlung können über diesen Weg auch wichtige Beziehungen zu Gleichaltrigen hergestellt werden. Eine Rückführungsberatung sollte lediglich auf eigenen Wunsch der Minderjährigen durchgeführt werden, wobei auch dieser Wunsch als gerechtfertigter Ausdruck des Kindeswillens zu betrachten ist. An einer Abschiebung mitzuwirken, ist keine legitime Aufgabe Sozialer Arbeit. Jedoch sollte sie betroffene Personen immer über alle Handlungsmöglichkeiten aufklären, um ihnen so eine informierte Entscheidung zu ermöglichen (Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016: 5). Eine Möglichkeit, die insbesondere bei begleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Betracht gezogen werden muss, ist die der oben bereits erwähnten Aufenthaltsgestattung nach § 25a AufenthG. Diese Regelung sieht eine „Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden“ vor. Hier darf allerdings nicht der große Druck vergessen werden, der somit auf 3 Siehe hierzu auch den Beitrag von Velho in dieser Publikation.
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Kindeswohl und Flucht
den Schultern der Jugendlichen liegt (Breit 2015: 21). Eine weitere Möglichkeit, eine bevorstehende Abschiebung unter Umständen abzuwenden, liegt in der Härtefallkommission. Eine solche ist nach § 23a AufenthG in allen Bundesländern tätig und kann in begründeten Fällen die oberste Landesbehörde um die Erstellung eines Aufenthaltstitels ersuchen. Grundvoraussetzungen für beide Möglichkeiten sind Straffreiheit; für die Aufenthaltsgewährung nach § 25a AufenthG kommen noch vier Jahre erlaubter oder geduldeter Aufenthalt, erfolgreicher Schulbesuch und eine „positive Integrationsprognose“ hinzu. Auf einer übergeordneten Ebene hat Soziale Arbeit weiterhin die Möglichkeit, über Monitoring und Lobbyarbeit strukturelle Veränderungen anzustoßen. Gerade die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen wie dem Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. hat die Etablierung von kindeswohlorientierten Standards wie dem Clearingverfahren erst möglich gemacht. Hinzu kommt die Option, über das 2014 in Kraft getretene dritte Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention, welches auch Deutschland ratifiziert hat, Beschwerde beim Ausschuss für die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen einzulegen. Dies soll ebenso Kindern ermöglichen, sich Gehör bei der UN zu verschaffen, auch wenn die Hürden je nach Beschwerdeverfahren sehr hoch sein können (so muss z. B. bei Individualbeschwerden zuerst der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft werden). Neben der Unterstützung von Jugendlichen bei der Wahrnehmung ihrer (Menschen-)Rechte täten Sozialarbeitende gut daran, auch ihre Beteiligung an der Verletzung der Rechte ihrer Adressat_innen im Blick zu behalten, hierzu gehört zwingend eine Analyse von Aufträgen, bevor sie unüberlegt ausgeführt werden. Ist ein Auftrag an Soziale Arbeit mandatswidrig, so ist eine Weigerung professionsethisch geboten (AKS Dresden 2016: 7). Dies erfordert jedoch, gerade im Hinblick auf immer prekärere Arbeitsbedingungen, Organisation im Team und über das Team hinaus, z. B. im Berufsverband oder in Gewerkschaften. Wie Sebastian Muy feststellt, können innerhalb der jeweiligen Institution „durch ein ,lockeres‘ Handhaben restriktiver Vorgaben Spielräume geschaffen werden“ (Muy 2016: 159). Generell sind Handlungsoptionen Sozialer Arbeit nicht primär in Bezug auf ihre Legalität zu beurteilen, sondern ihre Legitimität muss im Vordergrund stehen, um so „von illegitimem gesellschaftlichem Konformitätsdruck“ (Staub-Bernasconi 2007: 36) unabhängig zu werden. Soziale Arbeit muss Partizipation als leitendes Gebot der Kinderrechtskonvention ernst nehmen und Kinder und Jugendliche an den sie betreffenden Prozessen beteiligen. Dies ist besonders schwierig in der restriktiven Umgebung von Gemeinschaftsunterkünften, wo in der Regel maximal von einer „Scheinpartizipation“ gesprochen werden kann (Prasad 2017: 27). Die Kinderrechtskonvention und ein mandatspolitisches Verständnis können hier jedoch
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Heiner Thiele
als Argumentationsgrundlage dienen, um das Kindeswohl als normativen Bezugspunkt Sozialer Arbeit auch in diesem Bereich zu etablieren.
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Ausblick Ein vager Blick in die nahe Zukunft lässt hinsichtlich der Rechtsgenese sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene nichts Gutes erahnen. Eine Renationalisierung unter „pseudokonservativen“ (Adorno 1980: 205) Vorzeichen, in der sich rechte Vorurteile und Dogmen niederschlagen, sorgt für einen migrationspolitischen rollback. Lange erkämpfte Rechte und Mindeststandards werden sukzessive zurückgenommen, soziale Bewegungen finden sich oft in der Position, das falsche Bestehende gegen weitere Verschlechterungen verteidigen zu müssen; eine emanzipatorische Perspektive bleibt so in Abwehrkämpfen stecken. Beispiel für einen solchen rechtlichen rollback auf europäischer Ebene ist der Vorschlag der EU-Kommission für die neue Dublin-IV-Verordnung, die in ihrer Verschärfung selbst die aktuell geltenden Regelungen in einem positiven Licht erscheinen lässt. Neben der Einschränkung des Selbsteintrittsrechts der Staaten auf familiäre Fälle und dem geplanten Ausschluss von Sozialleistungen bei Sekundärmigration innerhalb der EU, soll das deutsche Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ nun auch auf EU-Ebene übernommen werden. Aus Kinderrechtsperspektive besonders problematisch ist, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Zukunft ebenso wie Erwachsene dem Dublin-Verfahren unterzogen werden sollen, d. h. ihr Asylantrag darf nur in dem Land bearbeitet werden, in dem sie zuerst die Europäische Union betreten haben. Dies bedeutet Dublin-Abschiebungen für umF, noch mehr Unsicherheit und einen eklatanten Verstoß gegen den Kindeswohlvorrang (Pichl 2016: 11). Auf nationaler Ebene zeigt bereits die Aussetzung der Familienzusammenführung für subsidiär Geschützte, dass der im Grundgesetz garantierte Schutz und die Einheit der Familie lediglich für Familien mit deutschem Pass oder gesichertem Aufenthaltstitel gelten sollen. Eine solch gravierende Einschränkung der Menschenrechte bedeutet eine Rücknahme zivilisatorischer Fortschritte. Ein weiterer bedenklicher Prozess ist die geplante SGB-VIII-Reform, die neben einer massiven Erweiterung des Ermessensspielraumes des Jugendamtes bei der Gewährung und Auswahl der Hilfen insbesondere Einschränkungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vorsieht: die Etablierung einer neuen Hilfeform mit „ausgesprochen niedriger Intensität“ (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. 2016: 1). Begründet wird dies mit dem Bedarf, der „häufig weniger individuell, personenbezogen, sondern stärker gesellschaftlich bedingt [ist], so z. B. die unbegleitete Flucht eines Minderjährigen nach Deutschland“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frau130
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Kindeswohl und Flucht
en und Jugend 2016: 27). So wird für geflüchtete Kinder und Jugendliche eine abgespeckte Hilfeform erfunden, die einer Kürzung der Jugendhilfe für diese spezielle Gruppe gleichkommt. In Bezug auf die Unterbringung Minderjähriger in Gemeinschaftsunterkünften ließen sich ganz praktisch Analogien in der Kinder- und Jugendhilfe finden: eine Zertifizierung und regelmäßige Überprüfung von Gemeinschaftsunterkünften durch das entsprechende Jugendamt nach Maßgaben des Kindeswohls oder zumindest die Installation einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“ nach §§ 8a und 8b SGB VIII in Gemeinschaftsunterkünften, in denen auch Minderjährige leben. Hier sind Soziale Arbeit und ihr politisches Mandat gefragt, sich in eben diese Prozesse in allen Bereichen einzumischen, Kinderrechte und Kindeswohl nicht nur in der eigenen täglichen Praxis, sondern auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene einzufordern und umzusetzen.
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Heiner Thiele
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Kindeswohl und Flucht
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Diane Izabiliza im Interview mit Mohammed Jouni
Zur Positionierung von Sozialer Arbeit mit Geflüchteten am Beispiel von Jugendliche ohne Grenzen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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„Ich muss eine politische Haltung haben, ich muss verstehen, dass meine Arbeit dadurch geprägt wird, dass Leute strukturell benachteiligt werden.“
Diane Izabiliza: Wie ist der Verein Jugendliche ohne Grenzen entstanden und was war eure Motivation? Mohammed Jouni: Jugendliche ohne Grenzen ist kein Verein – das ist eine Entscheidung, die wir bewusst getroffen haben, und etwas, was wir jedes Jahr neu verhandeln. Es gab so was wie Vorstufen: Schon in den 1990ern haben ganz viele Menschen aus Bangladesch für ein Bleiberecht gekämpft, die damals auch von Abschiebung bedroht waren und Duldungen bekommen haben. Da gab es einen Sozialarbeiter, Walid Chahrour, der sehr aktiv war, in dem Bereich und in der Szene. Ungefähr 2003/2004 gab es ganz viele Jugendliche, u. a. ich, die speziell mit dem Problem konfrontiert waren, dass wir mit der Schule fertig oder fast fertig waren. Da stand der Realschulabschluss bevor oder das Abitur, möglicherweise ein Studium, eine Ausbildung oder ein Praktikum. Aber wir alle hatten nur eine Duldung und hätten eigentlich nicht weiter zur Schule gehen dürfen oder ein Studium oder eine Ausbildung aufnehmen dürfen. Und dann war jeder Einzelne in der Beratungsstelle BBZ 1 im Prinzip, um individuelle Beratung zu kriegen. Dann haben wir mitbekommen, dass es rechtlich keine Möglichkeiten gab. Ich hatte auch eine Duldung. Ich kam auch kurz vor meinem Abitur zum BBZ und wollte mich einfach nur informieren, was ich nach dem Abschluss machen könnte. Dann hat er [Walid Chahrour] mir erzählt, dass es schon ein paar Leute gibt, die sich treffen. Ich kam irgendwann zu dem Treffen und da wurden dann Sachen besprochen, die ich eigentlich bis dato nie in Räumen, bei 1 Beratungs-und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen.
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Zur Positionierung von Sozialer Arbeit mit Geflüchteten
Veranstaltungen oder in Gruppen besprochen habe. Themen wie Heimunterbringung, Duldung, Probleme bei der Ausländerbehörde, Einbürgerung usw. Es hat mich interessiert, und dann haben wir ein paar Aktionen gemacht in Berlin. Wir sind u. a. zur Innenminister*innen-Konferenz gefahren. Das war 2006. Parallel dazu haben wir eine Kinder- und Jugendkonferenz gemacht. Jugendliche ohne Grenzen wurde auf einer ähnlichen Konferenz gegründet, 2005 in Garmisch-Partenkirchen. Seitdem existieren wir. Wie gesagt, es waren hauptsächlich Probleme von Jugendlichen zum Thema: Zugang zu Bildung, Weiterbildung, Ausbildung, Studium. Ich erinnere mich gerade, dass wir ganz am Anfang einen Workshop, eine Art Wochenendseminar mit Sanchita Basu von „ReachOut“2 hatten. Das war das erste Mal, dass Rassismus und Flucht ein Thema waren. Wir haben darüber gesprochen, was es heißt, eine schwarze Hautfarbe zu haben, und was es heißt, Ausländer*in zu sein. Das war sonst nie ein Thema. Das fand ich so spannend und es ist ja doch ein Thema wert. In der Retrospektive betrachtet, war das schon eine Sache, die uns auch als Gruppe zusammenwachsen ließ. Wir haben Gemeinsamkeiten gesehen, obwohl wir Schwarz, weiß, muslimisch, christlich, schiitisch, palästinensisch, libanesisch, kongolesisch und/ oder ghanaisch waren. Also sehr unterschiedlich. Aber trotzdem waren da so viele Gemeinsamkeiten zwischen uns, die ich so nicht gedacht hätte. Seitdem bin ich dabei und mache ganz viel politische Arbeit. Wir sind derzeit ein bisschen gewachsen, in manchen Städten außerhalb von Berlin sind wir auch vertreten. Allerdings hängt es immer sehr stark davon ab, welche Unterstützungsstrukturen vor Ort sind oder auch nicht. Ob es geschützte Räume gibt, wo sich die Leute treffen und austauschen und streiten und sich danach wiedersehen können oder auch nicht. Ob es Sozialarbeiter*innen gibt, die zumindest den Blick dafür haben, dass das wichtig ist. In Berlin haben wir das BBZ, das auch ideologisch sehr stark hinter Jugendliche ohne Grenzen steht. Sie haben dazu beigetragen, dass das JoG3 das ist, was es ist. Welche Hürden gab und gibt es und welche Erfolge habt ihr erzielt? Ich finde diese Frage ist richtig schwer, weil Erfolg im allgemeinen Kontext das ist, was man auf dem Papier sehen kann. Ich brauche irgendetwas Materielles, um den Erfolg bemessen zu können. Aber auch auf der individuellen Ebene gab es ‚Erfolge‘; ich studiere heute Soziale Arbeit, Ibrahim Kanalan ist promovierter Jurist an der Uni Erlangen, Paimana Heydar ist Ärztin4. 2 „ReachOut ist eine Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin“ (ReachOut). 3 Jugendliche ohne Grenzen. 4 Ehemalige Gründungsmitglieder bei Jugendliche ohne Grenzen.
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Diane Izabiliza im Interview mit Mohammed Jouni
Auf der strukturellen Ebene gab es schon ganz viele Gesetzesänderungen, die positiv waren und die für viele ein Bleiberecht erwirkt haben. Es gab in der Folge 2006 bis 2010 fast jedes Jahr eine neue Bleiberechtsregelung. Bleiberechtsregelung für bestimmte Personen: Also wer eine ‚gute Bleiberechtsperspektive‘ hat und wer ‚ganz toll‘ ist und ‚integriert‘ ist und die Schule besucht und gute Noten hat, der kann hier bleiben. Das war schon für viele hilfreich. Es gab Lockerungen beim BAföG5, bei der BAB6, und es gab Lockerungen bei der Residenzpflicht. Es gibt schon ein bisschen Verbesserungen. Den Erfolg, den wir sehen, ist, dass das Thema jetzt ein Thema ist und dass das Thema auch ein Thema war, bevor die ‚Flüchtlingskrise‘ da war. Wir haben das auch in vielen Kreisen zum Thema gemacht, wo es kein Thema ist oder war. Wir haben Leute befähigt, u. a. mich, wir haben uns selbst befähigt, dass wir nicht nur die Opfer sind, die Stillen, die Schwachen im Heim7. Sondern, dass wir selber darüber reden und nicht nur ein ‚Hans-Peter‘ darüber redet, weil er so schlau ist und das studiert hat oder angeblich uns erforscht hat. Nein, stattdessen haben wir angefangen zu reden und das ist auch ein langer Prozess, weil sich kein Mensch traut, rauszukommen aus dem Heim und zur AWO8 zu gehen und dem ‚Hans-Peter‘ zu sagen: Pass auf, ich rede jetzt, wir reden jetzt auf Augenhöhe. Das macht kein Mensch. Das ist ein riesenlanger Prozess, bis du so emanzipiert bist, bis du so empowert bist, bis du stark bist. Die Kraft für uns zusammenzukriegen und jetzt selber aufzutreten und selber auf einer Pressekonferenz aufzutauchen, selber eine Demonstration zu machen: Das sind Erfolge, die auf den ersten Blick nicht so zu sehen sind, weil die Leute selber jetzt so stark sind, und das kannst du nicht mit einem Gerät messen. Wie wir darüber reden, wie wir über das Thema sprechen, wie wir auftreten, wie selbstbewusst wir auftreten, nicht nur mit den Ausländerbehörden, sondern auch mit Unterstützer*innen, mit Helfer*innen, mit Beratungsstellen, mit gutgemeinten Organisationen, welche Kämpfe wir auch da führen – das ist auch ein Riesenerfolg. Wenn wir Leute zur Ausländerbehörde begleiten und plötzlich ist der Sachbearbeiter nett, weil er sieht, da ist nicht nur die ‚kleine schwache Fatima‘, die jetzt vor mich tritt und ich bin jetzt die starke Ausländerbehörde, sondern die hat auch Freund*innen dabei. Die erzählen irgendetwas von Petition und Unterschriftensammeln und dass sie zur Schule geht usw. Das bedeutet richtig viel. Wenn wir Workshops machen, wie man mit Medien umgeht und wie man auftritt, oder wenn wir einfach nur Workshops machen, wo die Leute informiert werden, z. B. über ihre Rechte. Sie verstehen: Ich krieg jetzt Geld für Kleidung, nicht weil die Frau beim Sozialamt so lieb ist, sondern 5 6 7 8
Bundesausbildungsförderungsgesetz. Berufsausbildungsbeihilfe. Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete. Arbeiterwohlfahrt.
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Zur Positionierung von Sozialer Arbeit mit Geflüchteten
weil ich ein Recht darauf habe. Ich brauche mich gar nicht dafür zu bedanken, sondern das steht mir zu. Die Leute, die im Heim arbeiten, die machen das nicht aus Nächstenliebe, sondern sie werden dafür bezahlt. Wie der*die Busfahrer*in, wie der*die Polizist*in und so weiter. Also das sehe ich auch als Riesenerfolg, dass solche Themen auch von uns besetzt werden, die vorher gar nicht besetzt oder von anderen auf eine andere Art und Weise besetzt waren. Jetzt habe ich auch was zu den Hürden erzählt. Hürden sind auf jeden Fall da. Hürden wie beispielsweise die rechtlichen: Wenn unsere Leute wegen der Residenzpflicht nicht ohne Erlaubnis einfach zu einer Konferenz kommen können, weil die Münchner Ausländerbehörde schreibt und ich zitiere jetzt: „Es gibt kein öffentliches Interesse, dass Herr X an der Konferenz von Jugendliche ohne Grenzen teilnimmt.“ Das ist ein faktisches Hindernis. Wenn Leute einfach nicht zur Schule gehen können, weil sie nicht den richtigen Aufenthaltstitel dafür haben. Wenn die Leute kein Geld haben, um zu unserer Konferenz zu kommen. Wenn die Leute kein Geld auftreiben können, weil wir nicht förderungswürdig sind und kein Verein sind und deswegen keine Konferenz machen können und Leuten absagen müssen. Aber eine Hürde ist es auch, die Köpfe aufzuschlüsseln von Leuten, die bis dato dieses Feld besetzt haben und die denken: Wenn das Thema jetzt so besetzt wird, dann verliere ich meine Daseinsberechtigung, als Helfer*in, als Unterstützer*in, Berater*in, als die schlaue Person. Das tut weh. Ich kann mir schon vorstellen, dass wenn du plötzlich das Gefühl hast, ich bin nicht so unabdingbar, wie ich dachte, dass das schon weh tut. Kannst du noch mal darauf eingehen, was die Anfangsmotivation war und was euch immer noch motiviert, weiterzumachen? Ich glaube, dass es bei ganz vielen von uns eine individuelle Motivation war. Um zu schauen, wie ich meinen Status verbessern kann. Wir sind damals zu einer Beratungsstelle gegangen und dachten uns, die machen das irgendwie schon. Das ist der erste Schritt. Ich habe ein Problem und ich will das Problem aus der Welt schaffen. Ich weiß nicht, was die anderen antreibt, aber ich kann sagen, wie es bei mir ist. Irgendwann haben mich die politischen Gruppentreffen so gereizt, weil das kein Muss war. Ich glaube, 2003 war ich schon da und danach war ich fast ein Jahr gar nicht da und dann kam ich wieder und das war ok. Keine*r hat gesagt, wo warst du und wir haben die Deadline verpasst und das war ganz blöd, dass du nicht da warst. Sondern es war ok und ich hatte das Gefühl, ich mache da weiter, wo ich bin und da sind ein paar neue und ein paar alte dabei und es ist ok. Dann habe ich mich einfach mit den Leuten gut verstanden und mir gefiel es. Ich bin ein Mensch, der viel Humor mag und Sarkasmus, und ich mochte die Art und Weise, wie wir mit diesen Themen 137
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Diane Izabiliza im Interview mit Mohammed Jouni
umgegangen sind. Das war jetzt kein Raum, wo wir alle geheult haben, sondern das war ein Raum, wo wir über die schmutzigen Toiletten im Heim Witze gemacht haben. Oder wir haben uns gegenseitig erzählt, wie man die Wachleute austricksen kann, um doch mehr Waschzeit im Waschmaschinenraum zu bekommen. Oder wie eklig es ist, wenn du ungeduscht zur Schule gehst und trotzdem irgendwie darüber einen Witz machen kannst, weil du an dem Abend gar nicht mehr duschen durftest, weil die Duschräume abgeschlossen waren. Wie es ist, wenn du ein Nahrungspaket bekommst und da steht ‚Moslem‘ drauf. Da denkst du, mache ich jetzt auf und da ist ein Moslem drin? Darin war trotzdem kein halāl-Fleisch, sondern es war einfach kein Schweinefleisch und damit war es für die Deutschen halāl. Wir haben Witze darüber gemacht und wir haben Leute, die angefangen haben zu heulen, weil es irgendetwas gab, umarmt und das war auch ok. Dann haben wir danach wieder gesprochen und wir haben gelacht. Da sind Leute, die sehen nicht aus wie ich, aber trotzdem haben sie fast dasselbe wie ich erlebt. Ich habe z. B. nie einen weißen deutschen Freund oder weiße Freundin von der Schule nach Hause mitgenommen. Ich war in einem Raum, wo sieben Personen geschlafen, gegessenen, getrunken und gespielt haben. Wo willst du da mit Besuch hingehen? Also erzählst du, es geht nicht oder erfindest irgendetwas. Im BBZ waren Leute, die machen das genauso wie ich und die nahmen auch nie eine*n mit. Aber wenn du jemanden vom BBZ mitnimmst, dann sagen die nicht: Ach krass gemeinsame Toiletten. Oh krass, ich muss jetzt meinen Ausweis beim Pförtner abgeben. Die kennen das auch, das ist so was von scheißegal. Das war für mich echt cool, einfach mal darüber lachen, sich austauschen und sich wohlfühlen. Es war einfach so eine Wohlfühlzone [im BBZ] und wir hatten die Räume, damit wir auch an den Wochenenden, wenn wir lernen wollten, einfach mal hingehen konnten. Es war einfach gleich unglaublich viel Vertrauen da. Ich glaube, es liegt daran, dass Walid selber auch so ist, wie die meisten. Er ist kein weißer Deutscher, er spricht auch nicht akzentfrei Deutsch. Walid ist ein Flüchtling. Ich hatte richtig schnell ganz viel Vertrauen zu dieser fremden Person. Ich habe ihm ganz viel erzählt, um mir das von der Seele zu sprechen. Also zu Walid war einfach unglaublich viel Vertrauen da und auch sehr schnell viel Vertrauen da. Weil bei dem brauchtest du dich oder brauchte ich mich nicht zu verstellen oder drumherum zu reden, sondern: zack raus und dann ist es ok. Im BBZ arbeiteten viele, die schwer aussprechbare Namen haben, die nicht Sarah und Maria heißen. Das BBZ ist auch ein Raum, wo du gibst und nimmst. Ich habe dort ganz viel Nachhilfe bekommen und hab dann irgendwann, als ich mit meiner Krankenpflegeausbildung fertig war, dort fast zwei Jahre Nachhilfe gegeben.
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Kannst du etwas zu der Kampagne Ausbildung statt Abschiebung sagen? Ja, das Thema Bildung, egal welche Art von Bildung, war uns schon immer ganz wichtig. Schon bei der Entstehung. Ich glaube 2010 hatten wir eine Konferenz in Hamburg. Wir haben mit den Leuten gesprochen und stellten fest, dass es zwar scheiße ist. im Heim zu leben, irgendwo in der Kaserne im Wald, wo der Bus nur einmal am Tag fährt. Und es ist auch echt blöd, wenn du Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt bekommst, die du gar nicht magst. Trotzdem war gerade für ganz viel Jugendliche das Thema Bildung richtig wichtig. Weil sie sahen, dass du in Deutschland auch nur Straßenfeger*in werden kannst, wenn du keinen Abschluss hast. Du kannst im Prinzip gar nichts werden, wenn du keinen Abschluss hast oder ein Zertifikat. Dann haben wir in kleineren Gruppen und Arbeitskreisen geguckt, wo die Probleme liegen. Es war klar, das Problem ist nicht nur, dass da auf dem Pass oder auf der Duldung draufsteht: die Aufnahme einer Ausbildung ist nicht gestattet. Sondern das Problem ist, auch wenn das gestrichen wird, wenn die Leute Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz kriegen, dann haben die Leute kein Geld für bestimmte Sachen. Wenn die Leute eine Residenzpflicht haben, können sie auch nicht zum nächsten Oberstufenzentrum gehen, wenn dieses in einem anderen Bundesland liegt, auch wenn dies räumlich sehr nah ist. Also, dann können die Leute auch nicht zur Schule gehen oder ein Studium anfangen, wenn sie kein BAföG kriegen. Es war dann schon klar, das ist, wie man so schön sagt, ein Querschnittsthema. Wo viele Themen zusammenkommen, viele Ministerien zuständig sind und so weiter. Dann haben wir uns gesagt, dann machen wir die Kampagne Bildungslos9 . So eine Kombination aus Bildungslos, also ohne Bildung aber auch Bildung los starten. Daraufhin sind wir in Kontakt mit der Kultusminister*innenkonferenz getreten, mit der wir bis heute richtig gut vernetzt sind. Es wurden viele Sachen verändert. Es gab z. B. Lockerungen beim BAföG u. a., weil wir Fachkräftemangel haben. Mit dem Thema Jugendliche ohne Bildung kriegst du jede*n rum. Da kriegst du auch die härtesten CDUler*innen und die konservativsten FDPler*innen. Besonders, wenn Jugendliche von uns zu solchen Gesprächen gehen, wissen wir, wie wir ankommen. Wir wissen auch, dass wir ganz anders ankommen als Karawane, als No-Border-Leute usw., weil wir realpolitische Forderungen stellen und weil wir Jugendliche sind. Und weil wir so ‚softe Themen‘ ansprechen, die auch mainstreamfähig sind.
9 http://bildung.jogspace.net/
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Welche Kompetenzen und welches Wissen müssen Sozialarbeiter*innen mitbringen, die mit Geflüchteten arbeiten? Ich meine, Sozialarbeiter*innen können auch unbeteiligt sein, wenn ich meine Arbeit so verstehe, dass ich Formulare im Heim austeile. Ich kann auch einfach nur irgendetwas austeilen und das Essen ausgeben. Aber das ist nicht Soziale Arbeit, weil das kann im Prinzip jeder Mensch machen. Ob die Person ein Studium hinter sich hat, ob die Person links, rechts, sonst was ist. Dafür brauche ich aber keine Sozialarbeiter*innen. Wenn ich aber begleiten will, wenn ich befähigen will, wenn ich unterstützen will, wenn ich empowern will, dann muss ich mich auf die Seite meiner Klient*innen – der Menschen, die ich unterstütze – stellen. Ich muss eine politische Haltung haben, ich muss verstehen, dass meine Arbeit dadurch geprägt wird, dass Leute strukturell benachteiligt werden. Und dass ich, als Sozialarbeiter*in teilweise davon profitiere, dass Leute strukturell benachteiligt werden, dass ich dadurch eine Arbeit habe. Aber meine Arbeit endet nicht da, wo ich etwas austeile. Soziale Arbeit soll befähigen, sodass ich in bestimmten Bereichen irgendwann überflüssig werde. Ich muss verstehen, dass eine alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin in Hellersdorf es schlecht hat, in der Gesellschaft. Nicht, weil sie doof ist und weil sie selber verantwortlich ist, sondern dass das so gewollt ist. Auch dass da kein Wille da ist, das zu verändern. Es gibt eine sehr schöne Masterarbeit von Sebastian Muy10, in der er eine Szene beschreibt, wo Sozialarbeitende in Heimen für Geflüchtete dazu degradiert wurden, Zuckerstücke auszuteilen und darauf zu achten hatten, dass jede Person nur zwei Stück nimmt anstatt drei. Wenn ich meine Arbeit als Sozialarbeiter*in so verstehe, dass ich die zuckerstückchenzählende Person bin, also dann möchte ich kein Sozialarbeiter sein. Anstatt zu sagen, ich kämpfe jetzt mit dir gegen diese bescheuerte Leitung, die deinen Zucker rationieren will. Wir schauen beide mit der Leitung, warum das so ist und wie man das verändern kann. Wenn das nicht passiert, wird eine unpolitische Arbeit ausgeführt. Es ist so ein blödes Beispiel, aber ich finde es auch so wunderbar, da es zeigt, wie Soziale Arbeit nicht aussehen sollte. Wir hatten im Heim Sozialarbeiter*innen, die zum Teil ihre Aufgaben so verstanden haben, dass sie nur auf die Einhaltung der Hausregeln achten, regelmäßig Zimmerdurchsuchungen mit dem Wachschutz durchführen und uns die Post aushändigen. Und auch dabei haben sie uns nicht darüber aufgeklärt, wie man bestimmte Briefe beantwortet und auf die Fristen achtet. Gerade im Asylverfahren kann man sich dadurch das Leben ruinieren, wenn bestimmte Briefe nicht oder nicht ausreichend beantwortet werden. Denkst du, die greifen da ein und helfen einem? 10 Siehe auch den Beitrag in diesem Buch.
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Du hast schon öfter erwähnt, welche Kompetenzen Sozialarbeiter*innen haben müssen, die mit Geflüchteten arbeiten, und was sie nicht machen sollten ... Ich kann nicht die Anforderung haben, dass jede*r Sozialarbeitende zuerst fliehen muss, um die Arbeit im Bereich Flucht und Migration richtig zu machen. Aber wenn du nicht selber geflüchtet bist, dann musst du, ob du willst oder nicht, dich richtig fortbilden. Du musst verstehen, warum die Leute so ticken, warum ein bestimmtes Wartesystem im Warteraum nicht funktioniert. Warum ich mit einer Person so sprechen soll und nicht so. Wie ich mit bestimmten Fragen umgehe. Wenn du das nicht mitbringst, dann musst du dich einfach ranhalten und ständig lernen. Es ist schon leichter, wenn du das von klein auf kennst und damit vertraut bist, aber es ist auch nicht unmöglich. Es gibt auch viele weiße Deutsche, die nie geflohen sind und die machen das auch richtig gut. Aber sie sind sehr neugierig, sie sind überall, fragen nach und sind unheimlich reflektiert und sehr sensibel. Sie erkennen ihre Privilegien und kennen sich selber. Nehmen wir an, du könntest einen Plan schreiben, was zukünftige Sozialarbeiter*innen unbedingt lernen müssen: Was würde darauf stehen? Sozialarbeiter*innen müssen verstehen, dass sie eine Profession ausüben, die sehr politisch ist. Die auch von politischen und rechtlichen Rahmen geprägt wird. Ich finde den Ansatz wunderbar, Soziale Arbeit als eine Menschenrechtsprofession zu verstehen. Ich mach meine Arbeit nicht als Verwaltung, sondern ich mach das, weil Menschen Rechte haben – einfach nur, weil sie Menschen sind. Ich bin nur Begleiter*in, Vermittler*in, Unterstützer*in, denn sie haben schon das Recht, aber sie kommen nicht ran. Und ich ermögliche es ihnen, diese Rechte zu erhalten. Es ist wichtig, seine eigene Rolle auch herunterzubrechen. Also nicht: Ich bin allmächtig, sondern ich bin nur Vermittler*in. Denn sie haben schon diese Rechte, schon als sie auf die Welt gekommen sind. Vermittler oder die Vermittlerin sein ist nicht wenig. Sie haben unheimlich viele Anforderungen, die sie erfüllen müssen. Es ist auf jeden Fall ganz wichtig, sich ständig fortzubilden. Ich sehe auch ganz viele Sozialarbeiter*innen, die sich wenig mit dem Thema Recht beschäftigen und Gesetzen im Zusammenhang mit Asyl, aber das ist wirklich unabdingbar. Du kannst es blöd finden, aber du musst die Gesetzeslage kennen – gerade im Bereich Flucht. Ich wollte mir vor Kurzem das Ausländer- und Aufenthaltsgesetzbuch kaufen und da sagte die Buchhändlerin: Ach, warten Sie bis Ende Oktober, weil das kommt schon das nächste. Und das innerhalb von einem Jahr. Es verändert sich ständig was und du musst dich ständig fortbilden und vernetzen. 141
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Diane Izabiliza im Interview mit Mohammed Jouni
Vernetzung ist unheimlich wichtig. Und ich sehe ganz viele Beratungsstellen, die in ihrer eigenen Suppe schwimmen und nie wirklich blicken, was die anderen machen. Diese Beratungsstellen wollen alles machen: Frauenthemen, Kinderrechte, Behandlungszentrum für Folteropfer, Opfer rassistischer Gewalt. Sie wollen jedes Thema besetzen. Anstatt zu sagen, wir spezialisieren uns auf etwas, vernetzen uns aber mit anderen, die das schon richtig perfekt machen und dann schauen wir, wie wir zusammenarbeiten. Das sehe ich ganz selten. Sich zu vernetzen, zu kooperieren und zu schauen, was die anderen machen, ist wichtig. Vielleicht ist das auch ein bisschen abgehoben, wenn man sagt, die Klient*innen muss man als rechtebesitzende Subjekte sehen. Nicht nur als die Fälle, die ich bearbeite, da hinter dem Fall vielleicht tausende Schicksale stecken. Darunter können sich wenige etwas vorstellen. Das klingt ja irgendwie ganz nett, aber wenn man sich damit beschäftigt, dann ist da unheimlich viel dahinter. Du hast gerade Kooperationen angesprochen und das ist auch eine Frage der Ressourcen. Mich würde interessieren, ob du tolle Kooperationspartner*innen benennen kannst und Strategien kennst, um geflüchtete Menschen zu unterstützen? Ich kann ja von JoG erzählen. Wir haben uns ganz früh mit dem Grips-Theater befreundet und kooperiert, z. B. für die Kampagne Hier geblieben oder die Kampagne SOS for Human Rights11. Das war eine wirklich richtig gute Kooperation, weil wir mit dem Grips-Theater ein Publikum erreicht haben, das eigentlich mit dem Thema so gut wie nichts zu tun hat. Wir sind in Schulen gegangen, wo das Thema nie ein Thema war. Die Lehrer*innen haben dann festgestellt: Oh, bei mir sitzen fünf Leute, die ständig zu spät kommen oder gar nicht kommen, weil sie eine Duldung haben und ständig zur Ausländerbehörde gehen müssen, ah! Wir arbeiten bis heute mit dem Grips-Theater zusammen. Wir nutzen ihre Ressourcen, sie unsere Expertise. Wir kooperieren auch sehr gut mit dem Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge. Der Bundesfachverband und JoG kooperieren richtig gut, auch da nutzen wir gegenseitig unsere Ressourcen. Ob das jetzt personelle Ressourcen sind oder ganz banal das Konto ist, die Expertisen die da sind, die Beratung oder aber die Kanäle in den einzelnen Bundesländern. Auch ihre Expertisen in Fundraising, in PR usw. Mit Pro Asyl und mit der GEW12 z. B. haben wir auch sehr gute Kooperationen, wenn es um Kampagnen zum Thema Bildung geht. Natürlich kooperieren wir auch mit den Landesflüchtlingsräten. Aber da ist die Kooperation von Bundesland zu Bundesland sehr, sehr unterschiedlich, weil es davon 11 http://www.sos-for-human-rights.eu/ 12 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
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Zur Positionierung von Sozialer Arbeit mit Geflüchteten
abhängt, wie bestimmte Flüchtlingsräte aufgestellt sind. Du hast z. B. den Saarländischen Landesflüchtlingsrat, der mit einer halben Stelle besetzt ist, und den Sächsischen Landesflüchtlingsrat mit fast 60 vollen Stellen. Für uns war das von Anfang an wichtig, so viele Adressat*innen und Kooperationspartner*innen wie möglich zu haben, um unsere Themen weit zu streuen.
Genau! Es geht uns auch darum, deren Strukturen zu nutzen. Ob das jetzt ganz banal der Presseverteiler ist oder die Strukturen vor Ort. Das ist insofern wichtig, da sich der Ort unserer Konferenzen von Jahr zu Jahr ändert. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Es ist also eine eurer Strategien, über verschiedene Kooperationspartner*innen auch Leute anzusprechen, die sonst nicht mit dem Thema zu tu haben?
Ich habe jetzt eine letzte Frage, zu der du schon einiges gesagt hast. Und zwar: Was sollten Sozialarbeiter*innen in der Praxis vermeiden? Es gibt Praxisbeispiele, die darauf hinweisen, dass Sozialarbeiter*innen mit restriktiven Maßnahmen arbeiten, um beispielsweise die Altersfeststellung bei minderjährigen Geflüchteten durchzuführen. Hast du schon etwas darüber gehört? Noch nicht, aber das wäre doch so ein wunderbares Beispiel dafür, was Soziale Arbeit nicht machen soll und dass sie sich positionieren soll. Du bist Sozialarbeiter*in, woher willst du wissen, wann diese Person geboren ist. Ich stehe zwar am Anfang meines Studiums [Soziale Arbeit], aber ich weiß nicht, ob es ein Seminar gibt, indem wir lernen, wie man das Alter eines Menschen bestimmt. Natürlich nicht! Selbst als Arzt habe ich das nie gelernt. Radiolog*innen und Kinderärzt*innen sagen, es gibt keine wissenschaftliche Methode, die das bestimmen kann. Man kann nur ungefähre Zahlen geben und da ist das Zeitfenster ungefähr 4 Jahre. Klingt erst mal gar nicht viel, aber ob ich 16 oder 20 Jahre alt bin, ist ein Riesenunterschied. Ich muss mich doch auf die Seite meiner Klient*innen schlagen. Wenn ich das nicht mache, was hab ich dann für eine Arbeitsgrundlage mit dieser Person oder Gruppe in Zukunft. Also da ist jedes Vertrauen weg. Das kann mir als Sozialarbeiter*in vielleicht egal sein, aber dann muss ich mir im Klaren sein, dass ich mit dieser Person, vielleicht sogar Personengruppe nie wieder arbeiten kann. Es gibt Länder, wo keine medizinische Altersfestlegung vorgenommen wird. Es geht nicht um ein medical age assessment, sondern mehr um ein need assessment. Das heißt: Was brauchst du, auch wenn du schon 20 Jahre alt bist? Wenn du 20 Jahre alt bist und du gibst an, dass du 17 Jahre alt bist, dann machst du das mit einer bestimmten Intention. Du willst entweder eine Psychotherapie haben, Betreuung, noch zur Schule gehen, einen Schulabschluss nachholen oder Unterstützung in 143
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Diane Izabiliza im Interview mit Mohammed Jouni
einem anderen Bereich haben. Und warum sollte ein*e 20-Jährige*r nicht zur Schule gehen, warum sollen 20-Jährige nicht auch Psychotherapie kriegen usw. In diesem Kontext arbeiten Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und viele Professionen mit dieser Person, um nach einem gemeinsamen Lernprozess mit dieser Person das Alter festlegen zu können. Das ist viel mehr im Sinne der Klient*innen als die Vorgänge in Deutschland. Jedoch ist auch auf der Welt eines gleich: Sobald ein*e Arzt*Ärztin sagt, der Himmel ist rot, dann ist der Himmel rot. Dann spricht keine*r mehr drüber. Das ist ein*e Arzt*Ärztin, wie kann man da widersprechen. Das ist es jedoch nicht: Der*die Arzt*Ärztin weiß auch nicht, wie alt eine Person ist. Wir brauchen über die Methoden gar nicht zu reden, wenn es um die Bemessung von Kopfumfang und um die Bemessung von Wachstumsfugen geht. Das ist besonders im deutschen Kontext unheimlich fragwürdig. Was mich vor allem stört, ist die Tatsache, dass das auch so unwissenschaftlich ist. Der Professor, der das macht – Professor Schmeling, stellvertretender Direktor am Institut für Rechtsmedizin in Münster – hat eine Studie mit 50 Personen gemacht. Wenn ich als Student eine Studie vorstelle mit 50 Personen, dann kriege ich von den Professor*innen Kritik, da die Fallzahl nicht repräsentativ sein kann, also A, es ist unheimlich unwissenschaftlich, und B, es ist inhuman, und C, es ist erniedrigend, wenn sich ein Mensch vor einer fremden Person komplett ausziehen muss. Ich krieg mit, dass Sozialarbeiter*innen untereinander unorganisiert sind, auch gewerkschaftlich z. B. sie sind unorganisiert, wenn es um Solidarität unter sich geht oder wenn es darum geht, gegen den*die Betreiber*in eines Heims oder gegen den*die Arbeitgeber*in vorzugehen. Ich kann wirklich keine*n Sozialarbeiter*in verstehen, die*der sagt: Naja, ich brauch aber das Geld. Du kriegst heute Arbeitsstellen hinterhergeschmissen. Das heißt auch, wenn du nicht so viel Mut hast, gegen den Träger vorzugehen, oder wenn er dich rausschmeißt, dann kriegst du überall einen neuen Job. Zwar handelt es sich auch um ein Abhängigkeitsverhältnis, aber ich habe auch Loyalität gegenüber meinen Klient*innen, denk ich mir, oder nicht? Hast du noch was, was du sagen möchtest, etwas, was nicht in den Fragen aufgekommen ist oder in dem, was du gesagt hast? Vielleicht nur eine Sache: Wenn Sozialarbeiter*innen mit Flüchtlingen arbeiten, darf nicht vergessen werden, dass es nicht nur um das Thema Flucht geht. Da geht es auch um andere Themen. Um Solidarität unter den Gruppen, um Klassenunterschiede. Es gibt ganz viele Gruppen, die benachteiligt sind, strukturell benachteiligt sind. Aber trotzdem solidarisieren wir uns nicht genug miteinander und sehen nicht, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Ob 144
du jetzt queer bist, ob du Frau bist, ob du körperlich oder geistig behindert bist/wirst, Flüchtling bist etc. Das ist meiner Meinung nach eine langfristige Arbeit im Feld der Sozialen Arbeit. Zu sagen, ich arbeite mit Geflüchteten und zeige irgendwann im Verlauf, dass es noch andere Gruppen gibt, die ähnlich benachteiligt sind, und zeige die Parallelen auf, die da sind. Warum soll ein*e Geflüchtete*r aus Hellersdorf nicht auf die Straße gehen und für eine gemeinsame Sache mit einer alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängerin in Hellersdorf kämpfen? Wir haben vieles gemeinsam, aber jede*r schwimmt so in der eigenen Suppe und alle hetzen irgendwie gegeneinander. Und zum Schluss gewinnt sowieso jemand, dem*der scheißegal ist, wie wir alle leben.
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Zur Positionierung von Sozialer Arbeit mit Geflüchteten
Wenn es diese Solidaritäten untereinander geben würde, würdest du dir davon versprechen, dass es nicht dieses Teile-und-herrsche-System gäbe oder es zumindest weniger ins Gewicht fallen würde? Das hoffe ich, oder einfach nur ein besseres Verständnis. Ich beobachte, dass rechte Parteien 5 Prozent, 10, 20, zum Teil 30 oder 39 Prozent in einigen Wahlbezirken bekommen. Da wählen Leute, Hartz-IV-Empfänger*innen z. B. eine Partei, die gegen sie hetzen wird. Die die Hartz-IV-Sätze abschaffen will oder reduzieren will. Aber die Leute checken das nicht. Sie wählen sie, weil sie glauben, dass es ihnen danach besser geht, und checken es einfach nicht, dass es ihnen mit Flüchtlingen oder ohne genauso beschissen geht. Und dass es keine Rentenerhöhung geben wird und keine Erhöhung von Hartz-IV-Beiträgen, wenn sie die AfD wählen. Ich halte sehr viel von einfachen unbürokratischen Begegnungsräumen ohne spezielle Zielsetzung. Wo sich Menschen begegnen können und einfach feststellen, der*die andere ist genauso doof oder schlau oder cool wie ich. Und irgendwie macht er*sie seinen*ihren Kampf und ich mache meinen Kampf. Und eigentlich sind wir uns viel näher und haben mehr Gemeinsamkeiten, als uns suggeriert wird. Ich habe das Gefühl, dass öffentlich ein Kampf ausgetragen wird, zwischen benachteiligten weißen Deutschen und Flüchtlingen. Aber ganz im Gegenteil: Es ist unser gemeinsamer Kampf! Du bist arm und verarmt, weil davon Menschen profitieren, und ich verlasse mein Land, weil davon Menschen profitieren. In den meisten Fällen sind es vielleicht die Gleichen. Das sind dieselben Firmen, die gleichen Lobbygruppen. Uns geht es strukturell schlecht, weil andere davon profitieren. Wenn du aber denkst, dass ich schuld bin, und ich denke, dass du doof bist, dann bringt uns das überhaupt nicht weiter. Ich sehe einfach zu wenig Raum, wo sich viele unterschiedliche Gruppen treffen können. Es gibt Flüchtlingskonferenzen, es gibt Frauenkonferenzen und es gibt Behindertenkonferenzen und es gibt Queerkonferenzen. Diese Konferenzen sind auch wichtig, weil sie empowern können. Zu denken, ich bin auch stark 145
Diane Izabiliza im Interview mit Mohammed Jouni
und jetzt gehe ich raus. Aber der nächste Schritt muss eine Konferenz für uns alle Benachteiligten oder irgendwie mit Absicht Ausgeschlossenen sein. Wo ist die Konferenz, wo wir uns begegnen und schauen, wie wir über die Grenzen unseres eigenen Kampfes etwas anders machen können?
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Das ist auch ein schönes Schlusswort! Danke!
Onlineinformation zu Jugendliche ohne Grenzen: http://jogspace.net/ [Zugriff: 15.07.2017] https://www.facebook.com/jogspace/ [Zugriff: 15.07.2017]
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Josefine Heilmann & Swantje Köbsell
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Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen Niemand kann sagen, wie viele Menschen mit Beeinträchtigungen und/oder chronischen Erkrankungen sich unter den nach Deutschland Geflüchteten befinden. Obwohl Deutschland gemäß der EU „Aufnahmerichtlinie für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge“ (2013/33/EU) dazu verpflichtet ist, bei der Erstaufnahme festzustellen, ob bei der jeweiligen Person eine Beeinträchtigung vorliegt, wird dies nicht bzw. nicht einheitlich erhoben und erfasst. Die Antwort der Bundesregierung auf eine diesbezügliche Anfrage der Bundestagsfraktion der LINKEN lässt keinerlei Absicht erkennen, diese Praxis in absehbarer Zeit zu ändern (Deutscher Bundestag 2015: 107). Berichte aus der sozialarbeiterischen Praxis zeigen jedoch, dass es sich keinesfalls um seltene Ausnahmen handelt.1 In Deutschland gibt es sowohl für behinderte Menschen wie auch für Migrant_innen bzw. Geflüchtete jeweils gut ausgebaute Beratungs- und Versorgungssysteme, beides etablierte Einsatzfelder Sozialer Arbeit. Allerdings gibt es zwischen diesen beiden „Säulen“ so gut wie keine Schnittstellen oder Berührungspunkte: Im Versorgungssystem für behinderte Menschen ist oft nichts über migrationsspezifische Rechtsfragen und Problemlagen bekannt und in den mit Migration befassten Strukturen sind wiederum mit dem Thema Behinderung zusammenhängende Fragen häufig unbekannt. Diese Situation führt einerseits zu strukturellen Benachteiligungen für bereits in Deutschland lebende Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund und Beeinträchtigungen (Amirpur 2016); in viel stärkerem Maße trifft dies jedoch für nach Deutschland geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen zu, sodass hier vielfach von Menschenrechtsverletzungen gesprochen werden muss (Eisenhardt 2014b). Diese Problemlage, die aus der Intersektion von Fluchterfahrungen und Behinderung erwächst, sowie ihre Hintergründe sollen zunächst erläutert und sodann Vorschläge entwickelt werden, mittels derer eine adäquate Versorgung dieser Personengruppe, die gemäß EU-Aufnahmerichtlinie zu den besonders schutzbedürftigen Geflüchteten gehört, ermöglicht werden soll.
1 Dies wurde zuletzt deutlich bei der öffentlichen Anhörung der Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte am 15.02.2017 in Berlin (vgl. auch AWO Bundesverband 2017).
Josefine Heilmann & Swantje Köbsell
Behinderung
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Dieser Text konzentriert sich auf die Gruppe Geflüchteter, welche sich vor, während oder nach einem Asylverfahren befinden. Fluchtwege und Ursachen sind allerdings komplex, und die Gruppe geflüchteter Menschen in Deutschland ist sehr heterogen. Ein Schutzgesuch muss sich nicht zwingend in einem Asylantrag ausdrücken. Die Lebensrealitäten auf andere Art migrierter Menschen, z. B. nicht registrierter Menschen oder Arbeitsmigrant_innen, werden hier allerdings nur angeschnitten.
Da das Thema Behinderung hier an zentraler Stelle steht, zunächst einige Anmerkungen zum aktuellen Stand des Diskurses. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird oft davon gesprochen, dass Menschen eine Behinderung „haben“. Damit ist in der Regel gemeint, dass bei der jeweiligen Person körperliche, sensorische, kognitive oder psychische Abläufe nicht den gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen entsprechen. Die Gruppe derer, die hier bezeichnet wird, ist somit sehr heterogen; auch sind die Grenzen zur Nichtbehinderung nicht immer klar zu ziehen. Häufig ist davon die Rede, dass bestimmte Menschen behindert „sind“ oder auch behindert „werden“, weil sie z. B. aufgrund von Barrieren an der gesellschaftlichen Teilhabe gehindert werden. Oftmals werden diese Aspekte nicht getrennt betrachtet, sondern es wird der Teilnahmeausschluss als mehr oder weniger zwangsläufige Folge dessen, dass jemand eine Behinderung „hat“ bzw. „etwas nicht kann“, angesehen. Diese Sichtweise, die Behinderung vor allem in der betroffenen Person verortet, an deren Defiziten festmacht und als überzeitlich und quasi-natürlich betrachtet2, dominierte über einen langen Zeitraum das Versorgungssystem und den behindertenpolitischen Diskurs. In dieser Perspektive waren behinderte Menschen nicht Rechtsträger_innen, sondern „arme Menschen“, denen geholfen werden musste. Gleichzeitig wurden sie jedoch als unfähig angesehen, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen – das „mussten“ nichtbehinderte Fachleute für sie tun. Vehement infrage gestellt wurde diese paternalistische und bevormundende Haltung von der sich ab den späten 1970er Jahren entwickelnden politischen Behindertenbewegung, die mit zum Teil spektakulären Aktionen Menschenrechte, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe einforderte (Köbsell 2012).3 Grundlage der zunehmenden Politisierung behinderter Menschen war, dass Behinderung nicht mehr als schicksalhaft begriffen, sondern als gesellschaftliche Konstruktion, als gesellschaftliche Reaktion des Ausschlus2 Wird auch als medizinisches oder individuelles Modell von Behinderung bezeichnet (Waldschmidt 2005). 3 Entsprechende Bewegungen gab es bereits einige Jahre früher in den USA und Großbritannien.
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Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen
ses auf Menschen mit Beeinträchtigungen betrachtet wurde4. Gesellschaftliche Konstruktionen sind jedoch nicht überzeitlich und „natürlich“, sondern jeweils in ihrer historischen und kulturellen Gewordenheit zu betrachten – und sie sind veränderbar. Die Analyse der zahlreichen Facetten des historisch und kulturell geprägten Prozesses des Behindertwerdens, bei dem insbesondere Ableism5 eine zentrale Rolle spielt, ist wesentliches Anliegen der aus den Behindertenbewegungen entstandenen Disability Studies, die mit ihren Erkenntnissen die Grundlagen zu einer veränderten Rolle behinderter Menschen in Gesellschaft und Forschung schaffen wollen. Anliegen der Behindertenbewegung war es, Veränderungen hin zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe vor allem auf politischer Ebene zu bewirken. Die Forderungen aus der Behindertenbewegung haben einen Prozess des Umdenkens – von der Fürsorge zur Teilhabe – angestoßen, der sich mittlerweile in veränderten Leitbildern in Einrichtungen für behinderte Menschen, vor allem aber in zahlreichen Gesetzen, in denen die Rechte behinderter Menschen festgeschrieben wurden, niedergeschlagen hat.6 Besonders deutlich zeigt sich dieser sogenannte Paradigmenwechsel an der 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Behindertenrechtskonvention (UN BRK): Diesem Menschenrechtsdokument liegt eine Sichtweise von Behinderung zugrunde, die sehr deutlich individuelle Voraussetzungen von gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen trennt. Als behindert gelten hier Menschen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (UN 2006, Artikel 1, Abs. 2). Behinderung wird hier nicht im betroffenen Individuum verortet und als zwangsläufige Folge einer vorliegenden Beeinträchtigung gesehen, sondern als prozesshaftes Geschehen, das durch den Abbau von Barrieren verändert werden kann. Auch wird in der UN BRK deutlich darauf hingewiesen, dass Behinderungserfahrungen nicht universell sind, sondern durch die Intersektion mit anderen Kategorien beein4 Das sogenannte Soziale Modell von Behinderung (Waldschmidt 2005). 5 Gebildet in Analogie zu Begriffen wie Rassismus und Sexismus, beschreibt Ableism ein Gesellschaften durchziehendes und strukturierendes Verhältnis, das auf „abilities“, also Fähigkeiten fokussiert ist. In diesem Verhältnis werden bestimmte geistige und körperliche Fähigkeiten als für den Menschen ‚normal‘ und für das Menschsein unabdingbar gesetzt. Als Folge wird anhand der (Nicht-)Erfüllung dieser Kriterien – also des (A-)Normalseins – darüber entschieden, welcher gesellschaftliche Wert Individuen zugemessen wird und welche gesellschaftlichen Positionen sie einnehmen können. Wie in rassistischer oder sexistischer Perspektive werden durch den ableistischen Fokus als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse Menschen entlang der Achse „normal-behindert“ polarisierend zugeordnet und hierarchisiert („die“ und „wir“) (vgl. Maskos 2010; Köbsell 2015). 6 Zu nennen wären hier u. a. das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG, 2001/ 2016), die Gleichstellungsgesetze der Bundesländer sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006.
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Josefine Heilmann & Swantje Köbsell
flusst werden, sodass es zu „mehrfachen oder verschärften Formen der Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen, indigenen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt, des Alters oder des sonstigen Status“ kommen kann (UN 2006, Präambel p). Vor diesem Hintergrund weist der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung immer wieder darauf hin, dass das Thema Behinderung einer intersektionalen Analyse bedarf. So wird in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 3 darauf aufmerksam gemacht, dass weibliche Geflüchtete mit Beeinträchtigungen sowie behinderte Migrantinnen und Asylsuchende einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, Opfer von Gewalt zu werden, weil ihnen der Zugang zum Gesundheits- und Justizsystem wegen ihrer Staatsbürgerschaft verweigert wird (UN 2016: Abs. 49). Im Hinblick auf das Unterstützungssystem für Menschen mit Beeinträchtigungen bedeutet der eingeleitete Paradigmenwechsel eine Abkehr von bevormundender und fremdbestimmter Fürsorge hin zu gesellschaftlicher Teilhabe, Selbstbestimmung und Inklusion, wobei jedoch angemerkt werden muss, dass sich im Alltagsdenken wie auch im Alltag vieler Einrichtungen das individuelle Modell von Behinderung hartnäckig hält (Weinbach 2016: 116). Dennoch: Die traditionellen Versorgungsstrukturen und das damit verbundene Denken wurden durch die Forderungen der Behindertenbewegung herausgefordert, sich zu verändern – und mit dem System die darin tätigen Menschen wie Heil- und Sonderpädagog_innen und Sozialarbeiter_innen, wie Weinbach treffend formuliert: „Für die professionellen Helfer stellte die radikale Kritik der Behindertenbewegung an den etablierten Institutionen der Behindertenhilfe einerseits und an ihrem Handeln andererseits einen […] heilsamen Schock dar. Mit dem durch die politische Selbsthilfe ausgelösten Aufbrechen der aus- und besondernden Strukturen und Denkweisen und der Durchsetzung neuer, bürger- bzw. menschenrechtlicher Normen für die Unterstützung von behinderten Menschen bricht auch das professionelle Selbstverständnis von in diesem Bereich tätigen Pädagogen auf“ (ebd.: 146).
So waren die helfenden Professionen gefordert, ihre Haltungen und Einstellungen gegenüber behinderten Menschen kritisch zu überprüfen und neue Konzepte zu entwickeln, die dem Paradigmenwechsel Rechnung trugen. Dieser Prozess kann jedoch noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden; Deutschland wird hier immer wieder ein „Modernisierungsdefizit“ (ebd.: 145) bescheinigt und festgestellt, dass die traditionellen Strukturen und Einstellungen nach wie vor eine große Rolle spielen (Schädler 2003). Allerdings ist durch die 2009 erfolgte Ratifizierung der UN-BRK nun Druck entstanden, die 150
Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen
„die Veränderung des professionellen Selbstverständnisses dar: Die Aufhebung des Ungleichgewichts im Machtverhältnis von Fürsorge und Bevormundung hin zu einer Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Durchsetzung und Formulierung ihres rechtlich kodifizierten Anspruchs auf eine differenzierte und individuelle Hilfe“ (vgl. ebd.). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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rechtlichen Ansprüche behinderter Menschen als „Umsetzung von international gültigen Menschenrechten“ (Günther 2015: 56) zum zentralen Bestandteil der Arbeit zu machen. Dies bedeutet nicht nur eine partizipativere Gestaltung von Angeboten und Dienstleistungen für Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern auch den Abbau von Barrieren, die diese am Genuss ihrer Menschenrechte (be-)hindern. Die „größte Herausforderung“ für helfende Berufe wie die Soziale Arbeit stellt
Dieser noch weitgehend uneingelöste Anspruch sowie die Beharrlichkeit des individuellen Modells von Behinderung bilden eine Hypothek, mit der das Versorgungssystem für behinderte Menschen und die darin Tätigen auf beeinträchtigte Menschen mit Fluchterfahrungen treffen.
Behinderung und Flucht: Zusammenhänge Die meisten der derzeit als Flüchtlinge registrierten Menschen sind vor Krieg bzw. Bürgerkrieg und deren Auswirkungen geflohen. Schon deshalb muss davon ausgegangen werden, dass sich unter ihnen Menschen mit durch kriegerische Handlungen verursachten Beeinträchtigungen befinden, denn (Bürger-) Kriege und ihre Folgen stellen weltweit eine der Hauptursachen von Beeinträchtigungen dar (Stientstra/Nyerere 2016: 259; Berghs/Kabbara 2016: 269ff.). Verursacht werden diese nicht nur durch direkte kriegerische Handlungen, sondern auch durch Landminen, Misshandlungen, Vergewaltigungen oder Folter. Auch ohne direkte Gewalteinwirkung können kriegerische Handlungen zum Auslöser für das Entstehen von Beeinträchtigungen werden, wenn sie z. B. verhindern, dass Menschen rechtzeitig Krankenhäuser oder Ärzt_innen aufsuchen können, keine Medikamente zur Verfügung stehen, die Krankenhäuser zerstört sind und wichtige Behandlungen nicht durchgeführt werden können. Neben denjenigen, die mittelbar oder unmittelbar durch (Bürger-)Kriege, Unruhen oder Verfolgung Schaden an Leib und Seele genommen haben, leben in allen Ländern der Welt bereits Menschen mit Beeinträchtigungen; auch diese flüchten, wenn die Zustände unerträglich werden. Dabei kann auch die Beeinträchtigung eines Familienmitgliedes, die oftmals mit ungenügenden medizinischen Versorgungsmöglichkeiten für das beeinträchtigte Familienmitglied und der Verarmung der ganzen Familie einhergeht, zum Fluchtgrund werden 151
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(Pisani et al. 2016: 287). Und in manchen Gegenden der Welt kann schon das Vorliegen einer verkörperten Differenz als solche lebensgefährdend sein – wie z. B. für Menschen mit Albinismus in Tansania, wo in einigen Regionen der Glaube verbreitet zu sein scheint, dass ein mit ihren Körperteilen gebrauter Trank ein glückliches und wohlhabendes Leben bewirkt. Als Folge sind sie gefährdet, getötet oder schwer verletzt zu werden (vgl. Behm 2015). Über die bereits genannten hinaus bestehen weitere Zusammenhänge zwischen Behinderung und Flucht. Das Vorliegen einer Beeinträchtigung kann ein gravierendes Fluchthindernis sein, denn dadurch wird oftmals die Flucht erschwert (Mustafa 2016). Auf der Flucht besteht für behinderte Menschen eine erhöhte Vulnerabilität; sie sind auf Hilfen angewiesen, was u. U. Auswirkungen auf die Planung der Flucht hat, sie verlangsamen die Flucht der Angehörigen und erhöhen das Risiko, in Kontrollen zu geraten (ebd.). Aber auch die Flucht selbst erhöht u. a. durch Mangelernährung und/oder Dehydrierung, Unterkühlung, fehlende Medikamente und Nichtversorgung von Wunden und Infektionen das Risiko, sich eine Beeinträchtigung zuzuziehen oder eine bereits bestehende zu verschlimmern. Auch erhöht das Vorliegen einer Beeinträchtigung das Risiko, auf der Flucht zu Tode zu kommen, z. B. weil behinderte Menschen größere Probleme haben, sich Wasser und Nahrung zu organisieren und sich aufgrund ihrer Beeinträchtigung u. U. schlecht orientieren, sich schlecht verständlich machen oder Gefahrensituationen mitunter nicht bewerten können (Pisani et al. 2016: 291). Und schließlich sind viele Geflüchtete durch psychische Probleme aufgrund von Traumata durch unterschiedlichste Gewalt- und Hilflosigkeitserfahrungen, die sie vor, während oder nach der Flucht gemacht haben, belastet. Erschwerend kommt noch hinzu, dass Beeinträchtigungen weder bei der Errichtung von Flüchtlingslagern noch bei der Planung von Hilfsmaßnahmen mitgedacht werden, wodurch es für Geflüchtete mit Beeinträchtigungen nur erschwert oder gar nicht möglich ist, z. B. die sanitären Einrichtungen zu benutzen. Diese Situation führt oft dazu, dass möglichst wenig getrunken wird, was wiederum zu weiteren gesundheitlichen Problemen führt (Mustafa 2016: 202). Auch die Verteilungspunkte für Wasser und Nahrungsmittel zu erreichen, ist für beeinträchtigte Menschen oftmals nicht möglich, was sie faktisch von der Versorgung ausschließt und damit ihre Vulnerabilität dramatisch erhöht (Mayer 2014; Mustafa 2016: 172). Auch stehen beeinträchtigungsbedingt notwendige Artikel wie Seife, Windeln, erhöhte Mengen von Wasser etc. nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung, und es ist in der Regel nicht möglich, für Abhilfe zu sorgen. Darüber hinaus sind gerade behinderte Menschen besonders gefährdet, in den Lagern Gewalt in jeglicher Form zu erfahren sowie Diskriminierungen ausgesetzt zu sein (Pearce 2015: 261).
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Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen
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Unsichtbar und unterversorgt im Aufnahmeland Deutschland Nachdem die Strapazen der Flucht überstanden sind, treffen beeinträchtigte Geflüchtete und ihre Angehörigen in Deutschland auf ein System, das auf sie in keiner Weise vorbereitet ist, was sich in vielerlei Hinsicht zu ihrem Nachteil auswirkt. Da es, wie eingangs bereits erwähnt, kein verlässliches Feststellungsverfahren bei der Erstaufnahme gibt, fehlt die Planungsgrundlage, z. B. für die Bereitstellung und Zuteilung von Unterkünften, die den beeinträchtigungsbedingten Bedürfnissen Rechnung tragen. Und so häufen sich inzwischen die Berichte über Menschen, deren Unterbringungssituation nicht einmal die Erfüllung der basalsten Bedürfnisse erlaubt, weil z. B. mobilitätsbeeinträchtigte Menschen in Unterkünfte einquartiert werden, in denen sie weder Zugang zu den sanitären Anlagen noch zur Küche haben (Eisenhardt 2014a: 7; AWO Bundesverband 2017: 31ff.). Solche inadäquaten Unterbringungssituationen, die mitunter über Jahre andauern, bedeuten für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine große Belastung, die zu Isolation führen und als „mangelnder Integrationswille“ fehlinterpretiert werden kann, z. B. wenn aufgrund der Unterbringungssituation die Angehörigen, aber auch die behinderten Menschen selbst keinen Sprachkurs besuchen können (AWO Bundesverband 2017: 18). Die fehlenden Daten über sowohl die Anzahl der Betroffenen als auch die Art ihrer Beeinträchtigungen hat nicht nur negative Auswirkungen für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen im Hinblick auf fehlende Barrierefreiheit der Unterkünfte. So ist es für gehörlose Menschen geradezu überlebenswichtig, direkten Kontakt zu anderen Gehörlosen zu haben – vereinzelt sind sie von jeglicher Kommunikation ausgeschlossen und damit auch von Informationen über das Antragsverfahren und vieles andere mehr. Auch Gebärdensprache ist nicht international, sondern unterscheidet sich mitunter erheblich – so hat die deutsche Gebärdensprache mit der arabischen kaum Gemeinsamkeiten. Somit ist es dringend erforderlich, dass gehörlose Menschen a) gemeinschaftlich untergebracht werden, um ihre Kommunikationsmöglichkeiten zu erhöhen, und b) Zugang zu Kursen in deutscher Gebärdensprache (DGS) bekommen. Diese werden jedoch erst ab einer Gruppengröße von fünf Teilnehmer_innen durchgeführt, was bedeutet, dass diejenigen, die vereinzelt in Unterkünften untergebracht sind, keine Zugangsmöglichkeiten haben und ihnen somit ihr Menschenrecht auf Kommunikation (Art. 9 UN BRK) vorenthalten wird.7 7 Die Hamburger Initiative „Deaf Refugees Welcome“, die gehörlose Geflüchtete vor allem im Raum Hamburg unterstützt und begleitet, geht davon aus, dass es insgesamt in Deutschland ca. 180 gehörlose Geflüchtete gibt (http://www.hamburg.de/forum-fluechtlingshilfe/7618416/ zuflucht/ [Zugriff: 24.08.2017]).
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Neben der oft menschenrechtswidrigen Unterbringungssituation ist die Unterversorgung vor allem im Hinblick auf die gesundheitliche Versorgung und hier insbesondere die Versorgung mit Hilfsmitteln bzw. den Zugang zu benötigten therapeutischen Interventionen festzustellen. Die gesundheitliche Versorgung von Menschen im Asylverfahren ist in § 4 Asylbewerberleistungsgesetz geregelt8. Dieser Paragraf legt fest, dass lediglich ein Anspruch auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände besteht – die Versorgung mit Hilfsmitteln9 und der Zugang zu Physio- und Psychotherapie fallen nicht darunter. Erst nach 15 Monaten – oder nach Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung – wird der Krankenversicherungsstatus so verändert, dass er dem von ALG-II-Bezieher_innen entspricht. 15 Monate ohne adäquate Hilfsmittel und/oder benötigte Therapien sind ein sehr langer Zeitraum, in dem sich chronische Erkrankungen und/oder Beeinträchtigungen dramatisch verschlechtern können (GfG 2017: 10ff.). Dies ist insbesondere bei Kindern gravierend, da bei ihnen vieles Versäumte nicht nachgeholt werden kann (Eisenhardt 2014a: 7). Diese strukturelle Unterversorgung erfüllt den Tatbestand der Menschenrechtsverletzung, was von der Kampagne „Gesundheit für Geflüchtete“ (2017) mit Nachdruck bestätigt wird. Wenig bekannt ist, dass nach § 6 Asylbewerberleistungsgesetz die Möglichkeit besteht, „in begründeten Einzelfällen über die Pflichtleistungen hinaus weitere Leistungen zu gewähren“ (Amadeu Antonio Stiftung 2016: 7). Das heißt über § 6 kann der Zugang zu Gesundheitsleistungen ermöglicht werden, die über die Notversorgung nach § 4 hinausgehen, aber für z. B. beeinträchtigte Menschen erforderlich sind. Problematisch ist allerdings, dass die Bewilligung der Leistungen nach § 6 AsylbLG in das Ermessen der jeweiligen Sachbearbeiter_in gestellt ist. Nur bei Personen, bei denen der Status der besonderen Schutzbedürftigkeit anerkannt wird, handelt es sich um Pflichtleistungen. Die Feststellung der sogenannten besonderen Schutzbedürftigkeit ist somit für den Zugang zu den Leistungen nach § 6 AsylbLG von entscheidender Bedeutung. Leider erfolgt die Ausstellung dieser Bescheinigung von Stadt zu Stadt, von Kommune zu Kommune unterschiedlich, auch gibt es keine einheitliche Regelung, welchen Stellenwert diese Bescheinigung tatsächlich hat. Die Anerkennung der besonderen Schutzwürdigkeit erleichtert den Zugang zu Leistungen also nicht zwangsläufig, denn sie ist für das Bewilligungsverfahren von Hilfeleistungen nicht verbindlich (Heilmann 2016: 33). In vielen Gemeinden muss für den Zugang zu Leistungen des Gesundheitswesens von den Sachbearbeiter_innen der zuständigen Behörde ein Krankenschein ausgestellt werden. Durch dieses Verfahren werden Menschen im Asylverfahren in mehrfacher Hinsicht benachteiligt: Sie müssen vor jedem 8 Siehe hierzu auch den Beitrag von Pelzer in dieser Publikation. 9 Hierzu gehören Rollstühle, Rollatoren und Pflegebetten, aber auch Inkontinenzmaterial.
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Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen
Arztbesuch in der zuständigen Behörde vorsprechen, was oft mit langen Anfahrten und fast immer mit Wartezeiten verbunden ist. Da Behörden an Samstagen, Sonn- und Feiertagen geschlossen sind, kann an diesen Tagen auch kein Krankenschein ausgestellt werden, dringende Arztbesuche müssen verschoben werden. Die Beurteilung der Notwendigkeit des Arztbesuches ist in das Ermessen der Sachbearbeiter_innen gestellt, die nicht medizinisch ausgebildet sind und so gar nicht beurteilen können, ob jeweils ein Arztbesuch notwendig ist oder nicht – die Nichtausstellung eines solchen Scheines in einer verkannten Akutsituation kann zu lebensbedrohlichen Situationen führen. Vor dem Hintergrund dieser Problematik übernehmen inzwischen Städte und Gemeinden zunehmend das sogenannte „Bremer Modell“. Gemeint ist damit die Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte an Asylsuchende; dies wird in Bremen seit 2005 mit großem Erfolg praktiziert. Mit der Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte wird ein leichterer und weniger für Diskriminierungen anfälliger Zugang zum Gesundheitssystem möglich, wobei sich das Leistungsspektrum auch bei diesem Verfahren am Asylbewerberleistungsgesetz orientiert. Darüber hinaus entlastet die Ausgabe der Gesundheitskarte die Behörden von den zusätzlichen Aufgaben des Krankenscheinausstellens und Abrechnens der erbrachten Gesundheitsleistungen. Durch die Beauftragung der Krankenkassen mit der Abrechnung wird gleichzeitig Geld eingespart (Flüchtlingsrat Bremen o. J.). Für die Asylsuchenden erhöht sich so die Chance, benötigte Medikamente und Behandlungen auf direktem Wege zu bekommen, da der Unsicherheitsfaktor der Bewilligung durch die Behörde wegfällt (GfG 2017: 6). Das „Bremer Modell“ stellt insbesondere für Menschen mit Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen eine große Erleichterung dar. Leider hat es sich bis jetzt noch nicht bundesweit durchsetzen können10, sodass vielerorts die oben genannten Einschränkungen und Benachteiligungen nach wie vor bestehen. Etliche andere Wege, Hilfen zu erhalten, sind im Asylverfahren nicht oder nur sehr eingeschränkt offen. So ist es nicht möglich, Leistungen der Pflegeversicherung zu erhalten, da hierfür eine zweijährige Vorversicherungszeit vorgeschrieben ist. Ebenso ist die Beantragung von Eingliederungshilfe nahezu aussichtslos; zwar sind Härtefallregelungen möglich; grundsätzlich besteht jedoch für Menschen im laufenden Asylverfahren kein Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Dies wird im gerade neu in Kraft getretenen Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (sogenanntes Bundesteilhabegesetz) noch einmal bestätigt: „Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes erhalten keine 10 Zwar haben sich die meisten Bundesländer der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte zugestimmt, da sich jedoch viele Gemeinden weigern, sie einzuführen, bleibt die Versorgungslage ein „Flickenteppich“ (Kötter 2016: o. S.).
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Leistungen der Eingliederungshilfe“ heißt es dort in § 100, Abs. 2. Grundsätzlich möglich ist die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises, der u. a. benötigt wird, um einen Wohnberechtigungsschein für eine barrierefreie Wohnung zu bekommen. Die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft ist nicht an einen bestimmten rechtlichen Status geknüpft und theoretisch auch im laufenden Asylverfahren möglich. Es ist nicht bekannt, in wie vielen Fällen ein Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung tatsächlich erfolgreich war (GfG 2017: 7); auch hier scheint es keine allgemein gültigen Regelungen zu geben (Lätzsch 2015: 56; Mustafa 2016: 242). Im Hinblick auf die Unterversorgung beeinträchtigter Geflüchteter spielen neben den zahlreichen strukturellen Barrieren auch noch andere Faktoren eine Rolle: Nicht jede Beeinträchtigung ist offensichtlich; somit müssten alle Geflüchteten darauf hin befragt werden. Wie jedoch können diese Fragen gestellt werden, damit sie auch wahrheitsgemäß beantwortet werden? Viele Beeinträchtigungen, die bei uns als Schwerbehinderung eingestuft werden, gelten in anderen Ländern nicht als Behinderung. Als „behindert“ zu gelten, kann auch mit einem Stigma verbunden sein, das viele tunlichst vermeiden möchten, zumal den meisten nicht klar sein dürfte, dass weder mit der Einstufung als „behindert“ noch mit der Inanspruchnahme von beeinträchtigungsbedingten Hilfen Nachteile im Asylverfahren einhergehen (Bundesvereinigung Lebenshilfe o. J.). Die Angst vor der Ausweisung oder davor, Angehörige, die noch im Heimatland sind, nicht nachkommen lassen zu können, ist bei allen Geflüchteten immer präsent (Razum et al. 2004) – hier muss kontext- bzw. länderspezifische Aufklärungsarbeit geleistet und den Menschen die Angst vor antizipierten negativen Konsequenzen des Benennens beeinträchtigungsbedingter Unterstützungsbedarfe genommen werden. Ist eine Beeinträchtigung bekannt, stellt sich im nächsten Schritt die Frage, was die betreffende Person im Hinblick auf Unterkunft, Unterstützung und Begleitung benötigt, was je nach Art der Beeinträchtigung sehr unterschiedlich sein kann. So benötigen mobilitätsbeeinträchtigte Menschen vor allem eine barrierefreie (im Sinne von schwellen- und stufenlos) Unterkunft, Hilfsmittel und gegebenenfalls beeinträchtigungsspezifische Therapien. Barrierefreiheit für blinde und sehbehinderte Menschen hingegen bedeutet vor allem, ein Umfeld zu bieten, das klar strukturiert ist, sodass sich Wege leicht einprägen lassen – die Unterbringung z. B. in einer Turnhalle ist hier kontraindiziert (Link 2015). Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Autismus benötigen eine möglichst reizarme Umgebung mit wenig räumlichen und personellen Veränderungen und unter Umständen spezielle Fördermaßnahmen sowie oft auch Hilfsmittel und Unterstützung für die Angehörigen bei der alltäglichen Versorgung. Die Sozialarbeiter_innen in den Erstaufnahmen und weiteren Stellen, die mit Geflüchteten befasst sind, wissen in der Regel nicht, welche 156
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Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen
Leistungen behinderten Menschen im Asylverfahren zustehen und auf welchen Wegen diese zu bekommen sind. Es ist nicht erforderlich, dass sie dies alles selbst wissen, aber sie sollten darüber Bescheid wissen, welche Schritte eingeleitet bzw. welche Stellen hierfür kontaktiert werden müssen. Noch prekärer ist die Situation für sogenannte statuslose Menschen, unter ihnen einige ehemalige Asylbewerber_innen. Schätzungen zufolge leben 500.000 bis eine Million illegalisierte Menschen, die nicht registriert wurden oder einer Ausreiseaufforderung nicht nachkamen und Wege fanden, sich der Abschiebung zu entziehen, in Deutschland. Auch sie sind theoretisch in die Gesundheitsversorgung über das AsylbLG eingeschlossen, können aber auch nicht nach 15 Monaten in die Krankenversicherung aufgenommen werden. Leistungen nach AsylbLG werden von illegalisierten Menschen allerdings nur im äußersten Notfall in Anspruch genommen. Der Haupthinderungsgrund ist die Angst vor der Aufdeckung der Identität und der damit einhergehenden Abschiebung, da die Kostenübernahme bei den Sozialämtern beantragt werden muss und diese wiederum eine Meldepflicht gegenüber den Ausländerbehörden haben (§87 AufenthG). Es gibt zwar vor allem in Berlin einige Anlaufstellen, in denen Menschen ohne Aufenthaltsstatus anonym medizinische Versorgung vermittelt bekommen, wie das „Büro für medizinische Flüchtlingshilfe“ des „Flüchtlingsrats Berlin“ oder die „Malteser Migranten Medizin“. Da Leistungen in diesem Fall aber eben nicht über die Sozialämter abgerechnet werden können, wie es im AsylbLG vorgesehen wäre, sind diese Stellen, obwohl sie in Berlin auch vom Senat unterstützt werden, auf ehrenamtlich arbeitendes medizinisches Personal und Spendenunterstützung angewiesen. So ist nur eine sehr eingeschränkte Versorgung möglich. Dadurch werden akute Krankheiten zu einem existenzbedrohenden Ereignis. Gleichzeitig werden diese Menschen unsichtbar gemacht, da ein Sich-zu-erkennen-Geben zu Haft und Deportation führen würde (Frings 2009: 147–148; Misbach 2013; Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales o. J.).
Was zu tun ist Wie deutlich geworden ist, erfahren geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland eine strukturelle Unterversorgung, und es kommt oftmals zu Menschenrechtsverletzungen, sodass schnelles Handeln vonseiten der Politik nicht nur eine moralische, sondern auch eine rechtliche Verpflichtung ist, die sich aus UN BRK, UN KRK und der EU-Aufnahmerichtlinie ergibt (Veigl 2014: 22f.; Gummich 2014: 18). In den Bereichen Identifikation, Unterbringung, medizinische und Hilfsmittelversorgung sind zwar die augenscheinlichsten Missstände zu sehen, allerdings sollte nicht vergessen werden, 157
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Josefine Heilmann & Swantje Köbsell
dass zum Recht auf Teilhabe weit mehr gehört, als die Erfüllung der lebensnotwendigen Grundbedürfnisse. Die Verantwortung, Unterkünfte bereitzustellen sowie das AsylbLG umzusetzen, liegt auf Länderebene. So kommt es einerseits zu großen regionalen Unterschieden in der Versorgung, andererseits sind Länder handlungsfähig und können aktiv werden, bevor die Aufnahmerichtlinie endlich auf Bundesebene umgesetzt wird (Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg 2015: 10). In Berlin ist beispielsweise das Netzwerk für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge als Projekt etabliert, das allerdings nur zeitlich befristet aus Projektmitteln finanziert wird (Zentrum Überleben 2017). Dieses soll zum Identifizierungsverfahren beitragen, indem bei der Erstaufnahme Informationsflyer in mehreren Sprachen ausgehändigt werden, um Menschen mit unterschiedlichen Schutzbedürfnissen zu den jeweils spezialisierten Beratungsstellen zu lotsen. Dort können sie eine Bescheinigung über die besondere Schutzbedürftigkeit sowie eine umfassende Beratung erhalten (Lätzsch 2015: 66). Zwar ist damit eine Identifizierung bei Weitem nicht sichergestellt, zumal eine Voraussetzung ist, dass Menschen lesen können, allerdings ist eine Unterstützungsstruktur geschaffen, wie sie sonst nur in wenigen Kommunen vorhanden ist. Um diese nachhaltig zu gestalten, müssten solche Projekte allerdings eine Regelfinanzierung erhalten. Damit das in der Aufnahmerichtlinie geforderte Feststellungsverfahren der besonderen Schutzbedürftigkeit tatsächlich umgesetzt wird, sollte mittelfristig ein systematisches Verfahren entwickelt werden, welches bereits im Aufnahmeverfahren Asylsuchender angewendet werden kann, beispielsweise in Form eines Fragebogens (2013/33/EU: Art. 22). In der Atmosphäre einer Registrierung oder Aufnahme in Erstaufnahmeeinrichtungen und unter Benutzung eines standardisierten Fragebogens wäre eine Feststellung zwar zwangsläufig eher oberflächlich und viele besondere Schutzbedürfnisse würden nicht erkannt, zumal diese oft erst später auftreten. Dennoch ist eine aktive Ansprache, welche nicht von der subjektiven Wahrnehmung der Mitarbeiter_innen abhängt, weitaus zuverlässiger als das bloße Aushändigen eines Informationsflyers. Dieses Verfahren müsste jedoch ergänzt werden mit der fortführenden Sensibilisierung dieser und weiterer Kontaktstellen, z. B. in Form von Weiterbildungen für Mitarbeiter_innen in Registrierungs- und Leistungsstellen, in Unterkünften sowie für asylspezifische und behinderungsspezifische Beratungs- und Netzwerkstellen. Langfristig kann zwar nur eine Abschaffung des AsylbLG für eine Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie und eine Sicherstellung der medizinischen Versorgung in den ersten 15 Monaten sorgen. Allerdings könnten Länder bereits jetzt entsprechende Weisungen erteilen, die den Ermessensspielraum bei Entscheidungen über Hilfsmittel und Therapien nach §6 auf null reduzieren, wenn ein besonderer Schutzbedarf vorliegt. Zudem sollte die Einführung 158
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Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen
der elektronischen Gesundheitskarte als erster Schritt in Richtung Abbau bürokratischer Hürden in allen Bundesländern zeitnah erfolgen. Des Weiteren müssen Beantragungsverfahren transparenter werden. Ausgehend von der Aufnahmerichtlinie wäre auch die Festlegung einer verbindlichen, angemessenen Bearbeitungsfrist notwendig (2013/33/EU: Art. 22). Bei den Fachtagungen „geflohen, behindert und unterversorgt“, die das Berliner Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg 2014 und 2015 veranstaltet hat, wurden in Workshops Forderungen entwickelt. Diese beinhalten unter anderem den Vorschlag, Leistungen bis zu einem Höchstbetrag von beispielsweise 500 Euro in einem verkürzten Antragsverfahren zu bewilligen. So könnten kleinere Bedarfe mit einer ärztlichen Verschreibung schneller und mit weniger Aufwand gedeckt werden (Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg 2015: 39). Ärztliche Empfehlungen über notwendige Therapien, Behandlungen und Hilfsmittel sollten allgemein einen höheren Stellenwert bekommen, sodass aufwendige Prüfungsverfahren entfallen. Ein weiterer in den Workshops der Fachtagung entstandener Vorschlag ist die Schaffung einer zentralen Ansprechstelle, welche konkret für die Bearbeitung von Leistungsanträgen besonders schutzbedürftiger Geflüchteter verantwortlich ist. Diese müsste auch Eilverfahren annehmen und entscheiden können (ebd.: 38). Laut der EU-Aufnahmerichtlinie müssen Unterkünfte zur Verfügung stehen, die die Gesundheit der Bewohner_innen gewährleisten (2013/33/ EU: Art. 13). Dazu wäre die Verfassung von Mindestnormen, wie in einigen Ländern vorhanden, unter Berücksichtigung von Beeinträchtigungen und anderen Schutzbedürfnissen nötig. Neben einem angemessenen sozialarbeiterischen Betreuungsschlüssel sollte der Ausbau von individuellen, barrierefreien Wohneinheiten gefördert und Mindestanforderungen an Barrierefreiheit in den Gemeinschaftsräumen wie Sanitär-, Küchen- und Eingangsbereichen zur Regel werden. Weiterhin sollten Betreiber von Unterkünften verpflichtet sein, ein Schutzkonzept zu erarbeiten, in welchem alle besonderen Schutzbedarfe sowie Vorschriften zum Gewaltschutz thematisiert sind. Denkbar wäre u. a. die Ernennung von Schutzbeauftragten, welche, mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet, die Konzepte umsetzen könnten. Ein Vorschlag für ein „Schutzkonzept für Geflüchtete mit Behinderung“ wurde vom Landesverband der Lebenshilfe Hamburg veröffentlicht (ZuFlucht Lebenshilfe 2016). Gleichzeitig sollte der Umzug in Wohnungen stärker unterstützt und bürokratisch vereinfacht werden. Allerdings darf die Unterbringung in individuellen Wohnungen nicht mit der Gefahr von Isolation einhergehen und die Mobilität durch inadäquate Ausstattung nicht einschränken. Eine ausreichende Unterstützung der Personen durch beispielsweise Pflegedienste ist sicherzu159
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stellen. Da Geflüchtete mit Beeinträchtigung allerdings nicht nur von der rassistischen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und den eingeschränkten Möglichkeiten aufgrund begrenzter Kostenübernahmen betroffen sind, sondern auch von dem allgemeinen Mangel an barrierefreiem, bezahlbarem Wohnraum, kann es sein, dass Personen den zeitnäheren Umzug in eine nicht barrierefreie Wohnung dem Verbleib im Wohnheim vorziehen. Um Bedarfe wie z. B. barrierefreien Wohnraum, Beratungsmöglichkeiten oder auch barrierefreie Sprachkurse abschätzen zu können und diese möglicherweise vorausschauend zu decken und dadurch Versorgungslücken zu vermeiden, müssen quantitative Daten erhoben werden. Entsprechende Forschungsaufträge sollten vergeben sowie jeweilige Statistiken in den Behörden angefertigt werden. Zudem müssten bereits vorhandene Strukturen, die beispielsweise die oben genannten Bedarfe decken, vollständig erfasst werden, um jeweils Fehlstellen zu erkennen bzw. die nötigen Netzwerkverbindungen herstellen zu können. Geflüchtete mit Beeinträchtigungen sind in den meisten Fällen auf eine umfassende Beratung und Unterstützung angewiesen, um ihre Rechte durchzusetzen und ihre Grundbedürfnisse erfüllen zu können. Deshalb müssen zum einen spezifische Beratungsstellen, wie sie in einigen Städten bereits bestehen, geschaffen und finanziert werden, zum anderen bestehende Strukturen der migrantischen und behinderungsspezifischen Unterstützung und Selbstvertretung inklusiver werden. Dazu gehört auch ein einfacherer Zugang zu Sprachmittlung, die gegebenenfalls geschult sein muss, medizinische oder aufenthaltsrechtliche Sachverhalte übersetzen zu können oder Kompetenzen im Umgang mit hilfsmittelgestützter Kommunikation und Einfacher oder Leichter Sprache11 hat. Zudem bedarf es einer grundsätzlichen Öffnung des Regelsystems für diverse Lebensrealitäten und Erfahrungen, beispielsweise durch explizit „interkulturelle“ Angebote. Außerdem gehört zur Teilhabe die Zugänglichkeit von Sprachkursen für Menschen mit Beeinträchtigungen, also auch für gehörlose sowie Menschen mit Lernschwierigkeiten, und für deren Angehörige. Obwohl diese Maßnahmen sicherlich eine Abmilderung der menschenrechtsverletzenden Zustände bewirken können, ist letztlich eine Asylgesetz11 Leichte Sprache ist eine von Behindertenselbstvertretungen entwickelte Art des Sprechens und Schreibens, die nach bestimmten Regeln und durch die Prüfung von Texten von Menschen mit Lernschwierigkeiten darauf abzielt, die Verständlichkeit für alle Menschen, aber insbesondere für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu erhöhen. Einfache Sprache richtet sich in erster Linie an Menschen, deren Muttersprache eine andere als Deutsch ist, Menschen mit geringer Lesefähigkeit oder Lese-/Rechtschreibschwäche, ältere Menschen und funktionale Analphabet_innen. Dabei gibt es keine festen Regeln und Texte bleiben komplexer als in Leichter Sprache (Netzwerk Leichte Sprache 2013; Seitz 2014; Klar und Deutlich Agentur für Einfache Sprache).
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gebung, die nicht den Schutz der Menschen ins Zentrum rückt, sondern das politische Ziel der Abschreckung und Einschränkung bzw. Steuerung von Migration verfolgt, das eigentliche Problem (Müller 2010: 144ff.). Auf lange Sicht kann nur die Abschaffung von Gemeinschaftsunterkünften zugunsten von Einzelwohnungen oder kleinen Wohneinheiten sowie die Abschaffung des AsylbLG die physische und psychische Gesundheit der Geflüchteten fördern und Selbstbestimmung und Teilhabe sicherstellen. Sozialarbeiter_innen, vor allem in den Erstaufnahmeeinrichtungen, sind momentan oft in einer Schlüsselposition, um Geflüchtete mit Beeinträchtigungen zu erreichen und über ihre Rechte aufzuklären. Um geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen und chronischen Krankheiten umfassend unterstützen zu können, bedarf es sehr spezifischen Wissens um deren Rechte, die Zuständigkeiten der Behörden, Beantragungswege, Strukturen vor Ort sowie einer Sensibilität für kulturspezifische und behinderungsspezifische Belange. Dies sind hohe Anforderungen an Sozialarbeiter_innen, die z. B. in Unterkünften oftmals mit großem Zeit- und Personalmangel konfrontiert sind und teils unzureichende Sprachmittlung zur Verfügung haben. Zudem sind die Voraussetzungen bundesweit sehr unterschiedlich. Während Sozialarbeiter_innen in Berlin auf eine gut vernetzte Struktur von Beratungsstellen für besonders Schutzbedürftige hinweisen können und Informationsmaterial zur Hand haben, wie z. B. den „Leitfaden zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen mit Behinderungen“ der Amadeu Antonio Stiftung, stehen sie in dezentralen Unterkünften oder in kleinen Städten und Gemeinden oftmals alleine da. Im Sinne einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit ist vor allem ein Verständnis von Behinderung im Sinne des in der UN BRK zugrunde gelegten Behinderungsbildes und der dort sowie in der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) verankerten (Menschen-)Rechte zentral, um zu verhindern, dass sich restriktiver Gesetzgebung und Auslegung untergeordnet wird bzw. um gegen diese argumentieren zu können. Gleichzeitig darf die Wahrnehmung der Menschen als besonders schutzbedürftig und die Konzentration auf die Versorgungslücken nicht zu einer paternalistischen, bevormundenden Einstellung führen, die individuelle Bedürfnisse ignoriert und die Betroffenen auf eine Opferrolle festlegen, die ihre Potenziale und Ressourcen negiert.
Fazit Die Situation behinderter Geflüchteter ist dadurch gekennzeichnet, dass unterschiedlichste Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnisse zusammentreffen, was für die Betroffenen zu struktureller Unterversorgung und zur Verletzung ihrer Menschenrechte führt. Diese Überschneidungen bzw. dieses Zusammenspiel 161
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muss jeweils genau in intersektionaler Perspektive analysiert werden, um darüber Kenntnis zu erhalten, welche Barrieren welchen Missstand verursachen und wie Abhilfe zu schaffen ist (Yeo 2015: 527; Amirpur 2016: 83). Behinderte Geflüchtete sind weder in Gesetzen noch in den Beratungs- und Versorgungsstrukturen mitgedacht – so bleiben sie unsichtbar, sie „verschwinden“ in der nicht gefüllten Lücke zwischen den beiden separaten Beratungs- und Versorgungs„säulen“ für Geflüchtete bzw. behinderte Menschen und ihre Angehörigen. Erfreulich ist, dass das Interesse an der Füllung dieser Lücke zunehmend wächst12, nach wie vor scheinen hier jedoch vor allem Akteur_innen aus dem Bereich der Unterstützung für behinderte Menschen interessiert und aktiv, Akteur_innen aus dem Bereich Flucht und Migration jedoch eher die Ausnahme zu sein (Amirpur 2016: 41). Was völlig fehlt, aber aus nachvollziehbaren Gründen auch nicht erwartet werden kann, ist eine Selbstorganisation behinderter Geflüchteter und ihrer Angehörigen, die sich aktiv in diese Debatte mit einbringt. Bis es dazu kommt, wird noch einige Zeit vergehen müssen – wer sich in einem fremden Land aufhält, dessen Regeln unbekannt sind und in dem man zunächst vor allem mit der Regelung der existenziellsten Bedürfnisse beschäftigt ist, wird sich kaum zivilgesellschaftlich organisieren. So ist der ansonsten in der Behindertenpolitik verbindliche Grundsatz des „Nichts über uns ohne uns“ hier bis auf Weiteres nicht umsetzbar und es muss im bestverstandenen Sinne anwaltlich für die nach Deutschland geflüchteten Menschen mit Beeinträchtigungen gehandelt werden, um ihre Lebenssituation menschenwürdiger zu gestalten. Alles noch so engagierte Handeln kommt jedoch dort nicht weiter, wo es an strukturelle – in diesem Fall überwiegend gesetzlich vorgegebene – Grenzen stößt. So wird sich die Situation behinderter Geflüchteter erst dann entscheidend wandeln, wenn die gesetzlichen Grundlagen verändert werden. Dazu gehört zunächst die sofortige Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie, wozu Deutschland ohnehin verpflichtet ist. Mit Erfüllung der Richtlinie lägen dann auch verlässliche Daten vor, auf deren Basis passgenauer geplant werden könnte. Ferner sollte das AsylbLG, zumindest aber seine restriktiven Regelungen bezüglich der medizinischen Versorgung beeinträchtigter Menschen, abgeschafft und so die Umsetzung vom Art. 25 UN BRK (Gesundheit) ermöglicht werden. Auch alle anderen gesetzlichen Grundlagen, die behinderte Menschen betref12 Neben der bereits genannten Anhörung der Monitoringstelle fand auf Bundesebene am 21.02.2017 in Berlin ein gemeinsam von der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Verena Bentele, und der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Aydan Özoğuz, organisiertes Vernetzungstreffen statt. Auch auf lokaler Ebene gibt es inzwischen zahlreiche Initiativen, die sich für die Verbesserung der Situation von geflüchteten Menschen mit Beeinträchtigungen einsetzen.
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Unsichtbar und unterversorgt: Geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen
fen, müssen darauf hin überprüft werden, inwiefern sie auch für Geflüchtete gelten und, falls nicht, entsprechend verändert werden. Hierzu liegt der Bundesregierung bereits ein offizieller Arbeitsauftrag seitens der Vereinten Nationen vor: Nach der Staatenprüfung, die im April 2015 stattfand – also noch bevor die große Anzahl geflüchteter Menschen nach Deutschland kam – monierte der Ausschuss zur Umsetzung der UN BRK in seinen „abschließenden Bemerkungen“ die strukturelle Vernachlässigung der Menschenrechte behinderter Menschen mit Fluchterfahrungen und Migrationshintergrund in mehrfacher Hinsicht: Der Prüfungsausschuss kritisierte die ungenügenden Anstrengungen, die mehrfache Diskriminierung behinderter Mädchen und Frauen wirksam zu bekämpfen, „insbesondere von Migrantinnen und weiblichen Flüchtlingen“ (VN 2015: 3), ebenso wurde „die unzureichende Sammlung einschlägiger Daten“ bemängelt (ebd.). Kritisch angemerkt wurde darüber hinaus der „ungleiche Zugang zu Behandlung und Chancen für Kinder mit Behinderungen von Eltern mit Migrations- oder Flüchtlingsgeschichte“ (ebd.: 4). Und schließlich wurden „Barrieren beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, besonders beim Zugang zu Gesundheitsversorgung für Asylsuchende und Flüchtlinge mit Behinderungen“ bemängelt (ebd.: 9) und Deutschland eindringlich aufgefordert, „Pläne für die Zugänglichkeit von Gesundheitsdiensten, einschließlich Diensten für Flüchtlinge, zu erarbeiten und umzusetzen“ (ebd.).
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Josefine Heilmann & Swantje Köbsell
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Heike Rabe
1. Einleitung
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
Menschen können in verschiedenen Phasen rund um ihre Flucht Gewalt ausgesetzt sein. Gewalt kann auch einen Fluchtgrund darstellen. Insbesondere geschlechtsspezifische Gewalt wie häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung oder Zwangsheirat sind für Frauen zusätzlich zu politisch oder religiös motivierter Verfolgung Gründe für die Flucht aus ihren Herkunftsländern. Aktuelle Befragungen von Geflüchteten1 (Brücker/Rother/Schupp 2016) belegen, dass die Flucht selbst erhebliche Risiken für die körperliche und psychische Unversehrtheit sowie das wirtschaftliche Vermögen birgt. So gaben z. B. gut ein Viertel der 2016 insgesamt 2.349 Befragten an, Opfer eines Schiffbruchs geworden zu sein. Zwei Fünftel der Männer und ein Drittel der Frauen berichten von körperlichen Gewalterfahrungen, 15 Prozent der Frauen und 4 Prozent der Männer von sexuellen Übergriffen. Mehr als die Hälfte der Geflüchteten gibt an, von wirtschaftlicher Ausbeutung, etwa durch Erpressung oder Raubüberfälle, betroffen gewesen zu sein (ebd. 2016: 27). In Deutschland angekommen, kann Gewalt zudem relevant werden in Form von rassistisch – häufig antimuslimisch – motivierten Übergriffen gegen Geflüchtete durch die Mehrheitsbevölkerung. Die Auswertung des Bundeskriminalamtes hat mit insgesamt 472 der Polizei bekannten politisch motivierten Delikten gegen Asylunterkünfte im 4. Quartal 2015 einen Höchststand ausgewiesen. Dieser ist zwar mit den sinkenden Flüchtlingszahlen auf 122 Straftaten im 4. Quartal 2016 zurückgegangen, es handelt sich dennoch um ein bis zwei Angriffe pro Tag. Dazu kamen 403 entsprechende Delikte, die sich direkt gegen Geflüchtete außerhalb von den Unterkünften gerichtet haben.2 1 Die Ergebnisse beruhen auf einer Befragung aus dem Jahr 2016 von insgesamt 2.349 erwachsenen Geflüchteten, die in 1.766 Haushalten leben. Sie sind zwischen dem 1. Januar 2013 und 31. Januar 2016 in Deutschland eingereist und haben einen Asylantrag gestellt. 2 Diese Zahl wird erst seit Anfang 2016 erhoben, sodass ein Vergleich mit 2015 nicht möglich ist. Entsprechende Übergriffe werden auf der Grundlage unterschiedlicher Definitionen zum einen in der „Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle“ von der Amadeu Antonio Stiftung zusammen mit Pro Asyl dokumentiert (https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/chronik-vorfaelle) [Zugriff: 28.03.2017] und zum anderen vom Bundeskriminalamt in einer Sonderauswertung
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Heike Rabe
Zum anderen kann es Gewalt in Flüchtlingsunterkünften geben. Täter_ innen sind Mitwohnende, aber auch Personal, Ehrenamtler_innen oder der Wachschutz. In diesem Zusammenhang ist seit 2014/2015 insbesondere über das Ausmaß von geschlechtsspezifischer Gewalt viel spekuliert worden. Verlässliche Zahlen gibt es dazu bisher nicht. Bei Schätzungen ist Vorsicht geboten. Auf der einen Seite kann eine Überbetonung gerade geschlechtsspezifischer Gewalt durch Partner oder Mitbewohner in Unterkünften in der Diskussion vermutet werden. So ist zum Teil in den Medien, aber auch in der Fachdiskussion aufgrund kulturalisierender Zuschreibungen ein pauschales Bild des geflüchteten Mannes entstanden, der in seiner patriarchalen „Herkunftskultur“ Geschlechtergleichstellung nicht kenne und auch nicht bereit sei, sie zu akzeptieren. Dies ist unabhängig von Wissen über Schicht, Bildung oder Milieu der Geflüchteten erfolgt, wurde losgelöst vom Kontext der Flucht und Unterbringung geschlussfolgert. Es hat dazu geführt, dass reflexartig Aufklärungsmaterialien zur Verdeutlichung von Frauenrechten in Deutschland statt beispielsweise die Ausweitung von Täterkursen gefordert wurden. Auf der anderen Seite ist aus Forschung und Praxis bekannt, dass häusliche und sexualisierte Gewalt stark schambelastet ist und Frauen nur selten oder nur im geschützten Rahmen darüber sprechen (Schröttle 2004). Neuere Forschung betrachtet Bedrohung und Gewalt innerhalb der Phasen vor, während und nach der Flucht nicht getrennt voneinander, sondern versteht sie als ein Kontinuum (Krause 2015a). Innerhalb dessen sind Wechselwirkungen zu berücksichtigen, um Aufkommen, Ursachen und Folgen der Gewalt in ihrer Komplexität zu verstehen und effektive Unterstützungsmaßnahmen für die Betroffenen zu entwickeln. Auch das Recht reagiert phasenübergreifend. Gewaltvorfälle aus den unterschiedlichen Phasen haben Auswirkungen auf die Ansprüche der Betroffenen in Deutschland. So begründet z. B. geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und LSBTI in den Herkunftsländern im Asylverfahren einen Verfolgungsgrund über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Asylgesetz (AslyG) und kann zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen. Die EU-Verfahrensrichtlinie (2013/32/EU) verpflichtet die Staaten dazu, vor der Anhörung im Asylverfahren zu prüfen, ob Antragsteller_innen infolge von Folter, Vergewaltigung oder schweren Formen von Gewalt besondere Unterstützung benötigen wie beispielsweise mehr Zeit, eine vorrangige Prüfung, eine medizinische Behandlung oder psychosoziale Beratung (Artikel 24). Dabei ist es unerheblich, wo die Belastungen und damit der Unterstützungsbedarf entstanden sind. Menschenrechtliche Verträge sowie die „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ erhoben (https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Nachrichten/Kurzmeldungen/2016/kernaussagen-kriminalitaet-im-kontext-von-zuwanderung.pdf?__blob=publicationFile) [Zugriff: 28.03.2017].
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
2. Vorgaben aus den Menschenrechten und dem EU-Recht
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EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) formulieren Anforderungen an die Unterbringung von Geflüchteten sowohl mit Blick auf Belastungen, die geflüchtete Menschen in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht erlebt haben, als auch mit Bezug auf Prävention und Intervention in Fällen von Gewalt in Unterkünften. Der folgende Beitrag bezieht sich auf die rechtlichen Möglichkeiten des Gewaltschutzes in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland.
Die Verpflichtung zum Schutz vor Gewalt ist in den meisten Menschenrechtsverträgen oder deren Auslegung durch ihre Vertragsorgane sowie EU-Richtlinien explizit verankert. Aufgrund der Vielzahl der Vorschriften werden im Folgenden beispielhaft solche mit einem expliziten Flüchtlingsbezug oder Gewaltfokus ausgewählt. Die allgemeine Verpflichtung aus Artikel 2 e) der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW), Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen, hat der für die Einhaltung der Konvention zuständige CEDAW-Ausschuss in seine jüngsten Allgemeinen Empfehlung Nr. 32 auch in Bezug auf die Situation von geflüchteten Frauen konkretisiert. Frauen in Asylverfahren müssen sicher vor geschlechtsspezifischer Gewalt untergebracht werden. Dies erfordert zumindest die Möglichkeit der getrennten Unterbringung von Alleinreisenden. Es sind sichere Sanitäranlagen und Überwachungs- und Beschwerdemechanismen einzurichten.3 Zunehmend werden auch Stimmen laut, die auf den Unterstützungsbedarf von Geflüchteten mit Beeinträchtigungen hinweisen.4 Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sieht hierzu in Artikel 11 die Verpflichtung des Staates vor, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um in Gefahrensituationen, einschließlich bewaffneter Konflikte, humanitärer Notlagen und Naturkatastrophen, den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.5 Bisher gibt es hierzu Ausführungen des Fachausschusses „nur“ im Rahmen der Allgemeinen Empfehlung Nr. 3 zu Artikel 6 UN-BRK (Frauen mit Behinderungen).6 Der Ausschuss weist auf deren erhöhtes Risiko 3 UN, Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (2014): General Recommendation No. 32 on the gender-related dimensions of refugee status, asylum, nationality and statelessness of women, UN-Dok. CEDAW/C/GC/32, Ziffer 48. 4 Siehe beispielsweise European Disability Forum. 5 Siehe hierzu den Beitrag von Heilmann/Köbsell in dieser Publikation. 6 UN, Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2016): General Recommendation No. 3 on Article 6 Women and Girls with Disabilites, UN-Dok. CRPD CRPD/C/GC/3, Ziffern 5, 39, 49, 50.
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Heike Rabe
hin, von Gewalt betroffen zu sein, sowie auf eine Reihe von Hindernissen bei der Gewährleistung ihrer Rechte aus der Konvention im Fluchtkontext. Die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) stellt in einem eigenen Artikel 22 für Flüchtlingskinder sicher, dass diese Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer Rechte erhalten. Dies betrifft sowohl allein reisende Kinder als auch Kinder, die mit ihren Eltern flüchten und direkt oder indirekt von Gewalt betroffen sein können. Der in Artikel 22 enthaltene explizite Bezug zu den Rechten der UN-KRK wie auch zu denen anderer Menschenrechtsverträge stellt klar, dass Flüchtlingskindern umfangreiche Schutzgarantien zustehen. Ein zentraler Menschenrechtsvertrag zum Gewaltschutz ist die Europaratskonvention gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (Istanbul-Konvention). Sie sieht keine Maßnahmen explizit für Geflüchtete vor, enthält aber eine Reihe an konkreten Verpflichtungen, die auch in Flüchtlingsunterkünften umzusetzen sind. Mangelndes Wissen über Rechte, fehlende Kenntnis der Sprache sowie der Unterstützungsmöglichkeiten und Isolation verhindern, dass Betroffene ihre Rechte dort auch in Anspruch nehmen. Aus diesem Grund sieht die Konvention in Art. 19 vor, dass die Vertragsparteien die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass Opfer angemessen und rechtzeitig über verfügbare Unterstützungsmöglichkeiten und rechtliche Maßnahmen in einer ihnen verständlichen Sprache informiert werden. Damit sind die Staaten verpflichtet, Informationen nicht in jeder, aber in den am häufigsten gesprochenen Sprachen vorzuhalten. Der erläuternde Bericht zur Konvention hebt hervor, dass die Informationen zu dem benötigten Zeitpunkt und gut zugänglich angeboten werden sollen. Durch Fortbildungen muss entsprechendes Wissen bei den Berufsgruppen sichergestellt werden, die mit Betroffenen in Kontakt kommen, Art. 15. Artikel 52 und 53 stellen sicher, dass kurzfristige Schutzmaßnahmen, die auf die Trennung von Täter_innen und Opfer abzielen, für Betroffene unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus und Aufenthaltsort nutzbar sein sollten. Die unionsrechtlichen Regelungen der Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) zielen konkret auf die Unterbringung von Asylsuchenden in den EU-Mitgliedstaaten ab. Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie ist im Juli 2015 abgelaufen, ohne dass der Gesetzgeber Schritte zu deren Umsetzung unternommen hat. Das hat zur Folge, dass die Vorschriften der Richtlinie, die so konkret formuliert sind, dass zu ihrer Ausführung keine weiteren Rechtsvorschriften erforderlich sind, von den Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden sind. Die Richtlinie enthält in Artikel 18 und 21 Regelungen mit Bezug zum Gewaltschutz. So müssen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen ergreifen, damit Übergriffe und geschlechtsbezogene Gewalt einschließlich sexueller Übergriffe und Belästigung in den Unterkünften verhindert werden. Des Weiteren 170
sind sogenannte Identifizierungsmechanismen einzurichten, damit besonders schutzbedürftige Asylsuchende (u. a. Personen, die Folter, Vergewaltigung, sonstige schwere Formen von psychischer, physischer Gewalt oder sexueller Gewalt erfahren haben, Betroffene von Menschenhandel, Genitalverstümmelung) frühzeitig im Verfahren erkannt und entsprechend ihrer Bedarfe versorgt werden können. An diesen menschen- und EU-rechtlichen Vorgaben sind die bestehenden Regelungen zum Gewaltschutz in ihrer praktischen Anwendung in Flüchtlingsunterkünften zu messen.
3. Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
Das Risiko, in Flüchtlingsunterkünften Gewalt ausgesetzt zu sein, sowie die Möglichkeiten, sich dagegen schützen zu können, werden maßgeblich durch verschiedene Faktoren beeinflusst: (1) bauliche Bedingungen wie Größe, Lage, Ausstattung und Belegung der jeweiligen Einrichtung, (2) personelle Bedingungen wie der Personalschlüssel, die Sensibilisierung des gesamten Personals für Gewalt, (3) rechtliche Rahmenbedingungen wie die räumliche Beschränkung durch Residenzpflicht und Wohnsitzauflage im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Verantwortlich für die Schaffung von rechtskonformen Rahmenbedingungen für den Gewaltschutz sind der Gesetzgeber sowie die Bundesländer, Landkreise und kreisfreien Städte als Träger von Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften. Daneben spielt das Personal – die Heimleitung, Sozialarbeitende sowie der Wachschutz – in den Unterkünften eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung des Gewaltschutzes. Abhängig von den Ressourcen und dem Verhältnis zu den Bewohner_innen bekommen sie Gewaltvorfälle mit, sie werden ihnen anvertraut oder Bewohner_innen suchen in einer akuten Situation ihre Hilfe. Sie regeln den Ablauf bei akuten Gewaltvorfällen, müssen entscheiden, wann die Polizei eingeschaltet wird oder ein Hausverbot notwendig ist. Sozialarbeitende beraten oder unterstützen unter Umständen die Betroffenen bei ihrem weiteren Vorgehen, bei einer Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz oder der Umverteilung in eine andere Unterkunft. Hierfür ist es notwendig, die Möglichkeiten des Rechts zumindest in Grundzügen zu kennen und mit der Infrastruktur der Antigewaltarbeit vertraut zu sein.
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3.1 Gewaltfördernde Bedingungen der Unterbringung Insbesondere in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften kommen zum Teil mehrere hundert Personen unter. In 2015 waren es vereinzelt auch mehrere tausend. Untätigkeit, Isolation und Überfüllung führen zu einer angespannten Situation. Die Privatsphäre ist aufgrund fehlender Einzelzimmer stark eingeschränkt. Je nach Qualität der Einrichtung mangelt es an ausreichenden Duschen und Toiletten, zum Teil an fehlender Trennung der sanitären Anlagen nach Geschlecht. Auch 2015 wurde wie in den Jahren davor mit 69,2 % die Mehrheit der Asylerstanträge von Männern gestellt. Der Anteil der Antragsteller überwiegt in allen Altersgruppen bis „unter 65 Jahre“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016: 22). Die Statistik der Empfänger_innen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die am 31.Dezember 2015 in Unterkünften versorgt wurden, zeigt ein ähnliches Geschlechterverhältnis (Statistisches Bundesamt 2016: Fachserie 13, Reihe 7, Tabelle A 1.1.1.). Unterkünfte, denen nicht im Schwerpunkt besonders schutzbedürftige Antragsteller_innen oder Familien zugewiesen sind, werden somit quantitativ von Männern dominiert. Frauen haben häufig keine Rückzugsräume. Der Mangel an günstigem Wohnraum in Ballungsgebieten sowie Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt verschärfen die Situation. Familienzusammenhänge und Partnerschaften sind in diesem Kontext stark belastet. 2015 hat die zunehmende Thematisierung dieser Missstände innerhalb von Flüchtlingsunterkünften im Rahmen von Fachveranstaltungen oder Kleinen Anfragen an die Parlamente zu einer Vielzahl verschiedener Konzepte auf den Ebenen des Bundes, der Länder (z. B. Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg) und der Kommunen geführt.7 Die Konzepte sehen in den Bereichen Prävention, Intervention und Schutz zahlreiche Maßnahmen vor. Da die Entwicklung maßgeblich von gleichstellungspolitischen Akteur_innen initiiert wurde, stehen Frauen und Kinder als Betroffene häufig im Zentrum dieser Maßnahmen. Zunehmend werden Diskriminierungs- und Gewalterfahren anderer Gruppen wie Menschen mit Beeinträchtigungen oder LSBTI berücksichtigt. Überwiegend haben die Konzepte bisher Empfehlungscharakter. Noch kurz vor Ende der Legislaturperiode hat der Bundestag aber am 30. Juni 2017 im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen Änderungen in §§ 44 und 53 AsylG beschlossen. Hiernach sollen zukünftig Träger von Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften Konzepte zum Schutz von Minderjährigen und Frauen vorlegen. Nach der Zustimmung des 7 Siehe z. B. BMFSJ/UNICEF (o. J.), Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (2016), Brandenburg, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie (2016) und Niedersachsen, Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung/Ministerium für Inneres und Sport (o. J.).
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
Bundesrates ist das Inkrafttreten der Regelungen am 1. Januar 2018 geplant. Dies dürfte sich förderlich auf die flächendeckende Implementierung von Schutzstandards auswirken.
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3.2 Einschränkungen des Gewaltschutzes durch Residenzpflicht, Wohnverpflichtung und Wohnsitzauflage Menschen, die nicht Flüchtlingsunterkünften zugewiesen sind und keine Wohnsitzauflage haben, können sich in der Regel entscheiden, ob sie rechtliche Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen oder der Gewalt ausweichen wollen. Sie können ihre Wohnung, ihre Stadt, das Bundesland verlassen oder bei Bekannten unterkommen. Frauen haben die Möglichkeit, vorübergehend in ein Frauenhaus zu gehen. Diese Optionen haben geflüchtete Menschen aufgrund der aufenthalts- und asylrechtlichen Regelungen zunächst nicht. Ihre Möglichkeiten sind eingeschränkt und erschweren einen effektiven Gewaltschutz. Die Ausgestaltung der Regelungen über Residenzpflicht, Wohnverpflichtung und Wohnsitzauflage ist in Teilen Ländersache und macht Unterschiede zwischen Asylsuchenden und Geduldeten. Die Regelungen werden in den Ländern nicht einheitlich umgesetzt und unterliegen zusätzlich politischen Entwicklungen. Für die Einschätzung der rechtlichen Beschränkungen von Schutzsuchenden ist es daher wichtig, genau zu unterscheiden, in welchem Stadium des Verfahrens sie sind, wie ihr aktueller Aufenthaltsstatus ist und in welchem Bundesland sie sich aufhalten. Residenzpflicht Asylsuchende und Geduldete sind nach ihrer Ankunft bis zu drei Monaten ihres Aufenthaltes mit der sogenannten Residenzpflicht belastet (§ 56, 59a AsylG8). Sie dürfen danach das ihnen zugewiesene Gebiet nicht ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde verlassen. Der Verstoß gegen die Residenzpflicht kann mit einem Bußgeld belegt werden, im Wiederholungsfall droht ein Strafverfahren. Die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsmöglichkeiten bezieht sich für Asylsuchende auf den Bezirk der Ausländerbehörde, in der die Erstaufnahmeeinrichtung liegt.9 Den Bezirk definieren die Bundesländer unterschiedlich: In den Stadtstaaten Berlin und Bremen entspricht der Bezirk der Ausländerbehörde dem Gebiet des Bundeslandes. Dasselbe gilt für das Saarland. In 8 Siehe hierzu auch den Beitrag von Würdinger in dieser Publikation. 9 Werden Asylsuchende innerhalb der dreimonatigen Residenzpflicht in eine Gemeinschaftsunterkunft überwiesen, greifen die zusätzlichen Länderregelungen. Da mittlerweile die meisten Länder die Residenzpflicht durch eine Erweiterung auf das Bundesland gelockert haben, erhöht sich dann die Bewegungsfreiheit.
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den anderen Flächenstaaten ist der Bezirk der Ausländerbehörde entweder ein Landkreis oder das Stadtgebiet. Wohnsitzverpflichtung in Gemeinschaftsunterkünften und Wohnsitzauflage Zusätzlich sind Asylsuchende mit der Antragstellung verpflichtet, in der für sie zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung bis zu sechs Wochen, längstens sechs Monaten zu wohnen (§ 47 AsylG). Abs. 1a verpflichtet Asylsuchende aus den für sicher erklärten Herkunftsstaaten (siehe unten), darüber hinaus sogar bis zur Entscheidung des Bundesamtes über ihren Asylantrag und in bestimmten Fällen bis zur Ausreise oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung oder -anordnung dort zu wohnen. Dies gilt auch für Antragsteller_innen, für deren Verfahren ein anderes EU-Land zuständig ist und Antragsteller_innen, deren Verfahren beschleunigt bearbeitet werden (§ 30 a AsylG). Diese Regelungen sollen es den Behörden erleichtern, den Aufenthalt schneller zu beenden. Zwar wurde mit den Regelungen keine Rechtspflicht der Länder verbunden, diese Personengruppen in einer solchen Einrichtung unterzubringen. Einige Bundesländer haben aber bereits sogenannte Schwerpunkteinrichtungen geschaffen, in denen dann überwiegend Asylsuchende aus diesen Ländern ohne Bleibeperspektive mit der Ausweisung vor Augen wohnen müssen. Die Gruppen, die dieser Wohnverpflichtung unterliegen verändern sich entlang der innenpolitischen Prämissen zur Migrationssteuerung. Seit einiger Zeit gibt es wieder eine Entwicklung, Schutzsuchende in Gruppen mit hoher und mit geringer „Bleibeperspektive“ zu unterteilen. Letztere sollen zunehmend separiert und schnellstmöglich zur Ausreise bewegt oder rückgeführt werden. Hierunter fallen die Länder, die der Gesetzgeber auf der Grundlage von Artikel 16a Absatz 3 Grundgesetz zu sicheren Herkunftsländern10 erklärt hat. Eine weitere Änderung, die der Bundestag im Sinne dieser Stoßrichtung im Juni 2017 bereits beschlossen hat, ist die gesetzliche Ermächtigung der Länder, die Befristung der Verpflichtung für weitere Asylsuchende, in Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen, zu verlängern(§ 47 Abs. 1b AsylG). Laut Gesetzesbegründung soll sich diese Möglichkeit vor allem auf Asylbewerber_innen „ohne Bleibeperspektive“ beziehen, ohne dass aber näher definiert wird, was darunter zu verstehen ist.
10 Derzeit sind das Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, ehemalige jugoslawische Republik, Montenegro, Senegal, Serbien (siehe Anlage II zu § 29a AsylG).
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
Wohnsitzauflage Nach Ablauf dieser Wohnverpflichtung in der Erstaufnahme sollen Asylsuchende auf Gemeinschaftsunterkünfte oder Wohnungen verteilt werden, wobei die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften der gesetzliche Regelfall ist (§ 53 Abs. 1 S. 1 AsylG). Einige Landesgesetze bzw. Durchführungsbestimmungen sehen auch für Geduldete entsprechende Regelungen vor. Dieses asylund aufenthaltsrechtlich vorgesehene Verfahren verlief insbesondere in 2015 aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen und fehlenden Unterbringungskapazitäten häufig nicht entsprechende der gesetzlichen Vorgaben. Zum Teil haben geflüchtete Menschen nach Ablauf der sechs Monate oder mit einer Asylanerkennung noch in Erstaufnahmeeinrichtungen gewohnt – obwohl sie dies nicht mehr mussten. Bei der Beurteilung ihrer räumlichen Beschränkung ist daher ausschlaggebend, ob die Betroffenen rechtlich einer Wohnsitzauflage unterliegen, und nicht, wo sie tatsächlich wohnen. Im Rahmen der Verteilung erhalten Asylsuchende wie Geduldete, die nicht in einer Gemeinschaftsunterkunft leben müssen, häufig eine Wohnsitzauflage, die sie verpflichtet, an einem bestimmten Ort zu wohnen, solange sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können. Auch diese Beschränkung variiert zwischen den Bundesländern: Wohnsitzauflagen können sich auf eine bestimmte Unterkunft, einen Landkreis oder ein Bundesland beziehen. Die Entscheidung, ob eine Auflage erteilt wird, liegt im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde, deren Praxis über die Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundes und Ländererlasse bestimmt wird. Mit dem Integrationsgesetz hat der Gesetzgeber darüber hinaus 2016 eine neue Regelung zur Zuweisung eines Wohnsitzes auch für bereits anerkannte Schutzsuchende eingeführt (§ 12a AufenthG). Für drei Jahre können die Behörden den Wohnort von anerkannten Flüchtlingen, Asylberechtigen sowie subsidiär Schutzberechtigten, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, bestimmen. Die Regelung hat das Ziel, den vermuteten starken Zuzug in Ballungsgebiete zu verhindern. Sie gehörte zu den am heftigsten kritisierten des Gesetzespaketes, weil es die freie Wohnortwahl nicht nur während des Asylverfahrens beschneidet, sondern dies nunmehr auch nach Abschluss des Verfahrens möglich ist. Bis Januar 2017 ist die Umsetzung dieser Regelung in den Bundesländern uneinheitlich verlaufen. Einige Länder, die Stadtstaaten sowie Flächenländer wie Niedersachen oder Rheinland-Pfalz, haben bereits erklärt, dass sie hierfür keinen Bedarf sehen und keinen Gebrauch von dieser Regelung machen werden.
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3.3 Schutzmöglichkeiten der Ausländerbehörden und des BAMF
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Von diesen rechtlichen Beschränkungen gibt es Ausnahmen. Die zuständigen Behörden können den Bewegungsradius von Asylsuchenden und Geduldeten erweitern – auch aus Gründen des Gewaltschutzes. Schutzmöglichkeiten vor der Zuweisung in eine Erstaufnahmeeinrichtung Geflüchtete werden gemäß § 46 AsylG auf der Grundlage der Quote des sogenannten Königsteiner Schlüssels auf die Bundesländer verteilt und dort zunächst einer Aufnahmeeinrichtung zugewiesen. Sie haben grundsätzlich keinen Anspruch darauf, in ein bestimmtes Land oder eine Stadt zu kommen. Dies kann u. a. dann zu einem Problem werden, wenn die Behörden bei der Zuweisung Sicherheitsaspekte oder Gesundheitsgefährdungen im Kontext von Gewalt nicht berücksichtigen. Hierzu gibt es vereinzelte Entscheidungen von Verwaltungsgerichten. So hat das Verwaltungsgericht Magdeburg11 einer Frau Recht gegeben, die sich gegen die Zuweisung in eine Erstaufnahmeeinrichtung gewandt hat, in der sie ihre körperliche Unversehrtheit gefährdet sah. Sie begründet das mit einer Zwangsehe mit einem einflussreichen Mann aus Saudi-Arabien und der Bündelung von Verfahren von Asylsuchenden aus diesem Land in der Erstaufnahme. Sie würde dort in jedem Fall als saudische Frau erkannt werden und sei aufgrund ihrer Flucht aus der Ehe stark gefährdet. In einem anderen Fall war eine Frau bereits vor ihrer Zuweisung in eine Aufnahmeeinrichtung in einer Mutter-Kind Einrichtung untergebracht worden und besuchte eine Selbsthilfegruppe für Betroffene weiblicher Genitalverstümmelung in einem Krankenhaus mit einem außergewöhnlich guten medizinischen und psychosozialen Angebot. Das Verwaltungsgericht Ansbach ist in diesem Fall ihrer Argumentation gefolgt, nach der ein Umzug in eine Aufnahmeeinrichtung in einem anderen Bundesland ihre psychische und physische Gesundheit gefährden würde, und sah darin einen zwingenden Grund (§ 15a Abs. 1 Satz 6 Aufenthaltsgesetz analog), der der Umverteilung entgegensteht.12 In beiden Fällen waren die Frauen gut im Hilfesystem verankert. Den Anträgen lagen ärztliche Atteste bzw. Unterstützungsschreiben von Beratungsstellen bei.
11 Verwaltungsgericht Magdeburg, Beschluss vom 22.01.2015, Aktenzeichen 9 B 464/14. 12 Verwaltungsgericht Ansbach, Beschluss vom 25.06.2015, Aktenzeichen AN 3 S 15.30853.
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
Schutzmöglichkeiten in Erstaufnahmeeinrichtungen Kommt es gleich in den ersten Wochen in der Erstaufnahmeeinrichtung zu Gewalt, dann kann die für die Zuweisung in die Gemeinschaftsunterkunft zuständige Landesbehörde die Verpflichtung, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu leben, „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ vorzeitig aufheben und die Zuweisung in eine Kommune veranlassen (§ 47 Abs. 2 AsylG). Dies gilt für alle Antragsteller_innen, auch für diejenigen aus den für sicher erklärten Herkunftsstaaten (§ 47 Abs. 1a S. 2 AsylG). Hier hat der individuelle Gewaltschutz Vorrang vor dem staatlichen Anliegen der Migrationssteuerung. Handelt es sich um akute Gewalt, kann es sein, dass z. B. eine Frau kurzfristig in ein Frauenhaus in einem anderen Landkreis oder einem anderen Bundesland muss, ohne dass die Entscheidung der Behörde schon vorliegt. Dann brauchen die Betroffenen in der Phase, in der sie noch in der Aufnahmeeinrichtung leben müssen, zusätzlich die Erlaubnis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dieses Gebiet vorübergehend verlassen zu dürfen. Diese Ermessensentscheidung kann die Behörde treffen, wenn „zwingende Gründe“ – etwa humanitäre Aspekte aufgrund der persönlichen Lebenssituation der Betroffenen – dies erforderlich machen (§ 57 Abs. 1 AsylG). Das Ermessen reduziert sich auf null, das heißt die Behörde kann rechtsfehlerfrei nur die eine Entscheidung treffen, die Erlaubnis zu erteilen, wenn das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen nicht anders geschützt werden kann. Schutzmöglichkeiten in Gemeinschaftsunterkünften Geflüchtete Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen und sich von einem gewalttätigen Partner räumlich trennen oder einem gewalttätigen Mitbewohner ausweichen wollen, müssen ein Verfahren auf Umverteilung betreiben. Diese Verfahren sind häufig langwierig und die Verfahren der zuständigen Ausländerbehörden bisher nicht auf das kurzfristige Schutzbedürfnis gewaltbetroffener Personen zugeschnitten. Bei der Umverteilung innerhalb eines Bundeslandes müssen die Behörden die Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen oder sonstige „humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht“, beispielsweise Krankheit, Schwangerschaft, Alter oder besondere Betreuungsbedürftigkeit, berücksichtigen (§ 50 Abs. 4 AsylG). Diese gesetzliche Vorgabe wird in den meisten Bundesländern durch Richtlinien oder Durchführungsverordnungen ergänzt, die die Zuständigkeiten von Behörden und Verfahren festlegen. Zum Teil definieren sie auch den Begriff der „humanitären Gründe“ für eine Umverteilung. Bei der Unterstützung von gewaltbetroffenen Personen ist es daher wichtig, die entsprechenden Vorschriften des jeweiligen Bundeslandes zu kennen. Hierin gibt es vereinzelt auch Bezüge zu Gewalt. So benennen die Berliner Verfahrenshinweise 177
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für die Ausländerbehörden explizit Schutz vor Partnergewalt als humanitären Grund für eine Umverteilung.13 In Nordrhein-Westfalen muss die Behörde eine Umverteilung vornehmen, „wenn aufgrund der Gefahr das weitere Zusammenleben mit der oder dem Familienangehörigen unzumutbar ist und eine Person daher die Aufnahme in eine in der ursprünglichen Zuweisungsgemeinde nicht vorhandene, spezielle Schutzeinrichtung (z. B. Frauenhaus) in einer anderen Gemeinde begehrt“.14 Die Umverteilung wird in der Regel auf Anregung der Betroffenen erfolgen. Einige Durchführungsverordnungen legen aber auch explizit die Möglichkeit der Umverteilung von Amts wegen aufgrund öffentlichen Interesses fest. Das bedeutet, dass auch die für die Zuweisung Asylsuchender zuständige Behörde das Verfahren initiieren kann. So hat z. B. das Verwaltungsgericht Augsburg eine Umverteilung für rechtmäßig befunden, die eine bayerische Bezirksregierung veranlasst hatte, da ein Bewohner nach Angaben der Einrichtungsleitung wiederholt aggressiv gegenüber Bewohner_innen und Personal aufgetreten war. Das Gericht sah darin die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört, da die innere Ordnung und die internen Betriebsabläufe der Unterkunft in nicht unerheblichem Maß beeinträchtigt waren.15 Je nach Bundesland sind unterschiedliche Behörden für die Entscheidung über die Umverteilung innerhalb eines Bundeslandes zuständig. Über Anträge auf Umverteilung innerhalb von Nordrhein-Westfalen entscheidet beispielsweise die Bezirksregierung während dies in Brandenburg durch die Ausländerbehörde, auf deren Bezirk der Aufenthalt beschränkt ist, geschieht. Eine Umverteilung ist hier nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde, in deren Bezirk der Asylbewerber umverteilt werden will, möglich. Insbesondere solche Regelungen, in denen zwei Behörden zustimmen müssen, stehen zum Teil schnellen Entscheidungen entgegen. Auch bei einem Wunsch nach Umverteilung in ein anderes Bundesland müssen die zuständigen Behörden Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen oder sonstige „humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht berücksichtigen (§ 51 AsylG). Über den Antrag entscheidet die zuständige Behörde des Bundeslandes, für das der weitere Aufenthalt beantragt wird. Diesbezüglich gibt es vereinzelte Entscheidungen mit Bezug zu Gewaltvorfällen. 2005 hat beispielsweise das Verwaltungsgericht Göttingen entschieden, dass die Behörde dem Antrag einer Asylbewerberin zu ihrem Schutz vor ihrem gewalttätigen Ehemann in ein anderes Bundesland zu Verwandten umverteilt zu werden, stattgeben muss. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit 13 Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin 2015: Ziffern 61.1d. 2.-3. 14 Richtlinien zur Verteilung und Zuweisung von asylbegehrenden oder unerlaubt eingereisten Personen, Runderlass des Innenministeriums vom 25.06.1997 – I B 4 – 141. 15 Verwaltungsgericht Augsburg, Beschluss vom 20.12.2016, Aktenzeichen Au 6 S 16.1711.
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3.4 Polizeirechtlicher Gewaltschutz
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aus Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes entspreche einem humanitären Grund von vergleichbarem Gewicht im Sinne des § 51 AsylG. Dem Hinweis des Bundeslandes, in das die Frau ziehen wollte, sie könne in der für sie zuständigen Kommune in ein Frauenhaus gehen, hat das Gericht ausdrücklich widersprochen. Jeder Person in einer konkreten Bedrohungslage sei es zuzugestehen, „sich der Nähe und Geborgenheit von Vertrauten zu vergewissern, statt sich in eine staatliche geförderte Einrichtung wie ein Frauenhaus begeben zu müssen.“16
Fast alle Polizeigesetze der Bundesländer enthalten spezielle Regelungen für eine Wohnungsverweisung durch die Polizei und/oder die Ordnungsbehörden. Der gewalttätigen Person, dem sogenannten Störer, wird aufgegeben, die gemeinsame Wohnung zu verlassen und je nach Bundesland bis zu 14 Tagen nicht wieder zu betreten, wenn dies zur Abwendung einer Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer anderer Person erforderlich ist. Darüber hinaus ermächtigt das Polizeirecht der Länder die Behörden, flankierende Maßnahmen gegen den Störer anzuordnen, wie Betretungsverbote für Orte, an denen sich die Betroffenen aufhalten, oder Kontakt- und Näherungsverbote. Diese Regelungen wurden nach und nach in den letzten 15 Jahren eingeführt, um der Polizei ein effektives Eingreifen bei häuslicher Gewalt zu ermöglichen. Die kurzfristige Intervention zielt darauf ab, eine Krisensituation zu entschärfen und den Betroffenen eine Schutz- und Ruhephase zu verschaffen, in der sie sich überlegen können, wie sie ihr Leben gestalten möchten und ob sie gegebenenfalls weitere zivilrechtliche Schutzmaßnahmen benötigen. Hierzu informiert die Polizei vor Ort über Beratungsangebote und gibt die Kontaktdaten der Betroffenen je nach Bundesland mit oder ohne ihr Einverständnis an Beratungsstellen weiter.17 Trotz einer mittlerweile langjährigen Praxis der polizeilichen Wegweisung hat die Frage nach der Anwendbarkeit in Erstaufnahmen und Gemeinschaftsunterkünften zu zum Teil noch anhaltenden Diskussionen und Rechtsunsicherheit geführt. Einige Innenministerien wie z. B. Schleswig-Holstein18 oder Brandenburg19 haben darauf mit Erlassen zum polizeilichen Vorgehen reagiert, die die Rechtslage verdeutlichen. 16 Verwaltungsgericht Göttingen, Urteil vom 17.11.2005, Aktenzeichen 4 A 169/05. 17 Ein Beispiel für eine solche Norm ist § 34a Polizeigesetz NRW. 18 Schleswig-Holstein hat im April 2015 den Erlass zum polizeilichen Einschreiten in Fällen von häuslicher Gewalt vom 21.03.2013 ergänzt um Vorgaben zum „Sonderfall HG in Flüchtlingsund Asylunterkünften“. 19 Erlass zum Umgang der Polizei mit häuslicher Gewalt in der Erstaufnahmeeinrichtung und ihren Außenstellen sowie Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende vom 12.05.2016:
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Es handelt sich im Grundsatz nicht um eine Sondersituation. Die polizeirechtlichen Vorschriften sind anwendbar, und es gelten die grundlegenden Prämissen des Gewaltschutzes: Für die Betroffenen ist Sicherheit zu gewährleisten, und sie sollen durch die polizeiliche Intervention so wenig wie möglich zusätzlich belastet werden. Auf der anderen Seite müssen auch die Rechte und die Situation des Störers berücksichtigt werden, und die Wegweisung darf nicht unverhältnismäßig sein. Für die durchschnittliche Situation in Privathaushalten bedeutet das, dass in der Regel die gewaltausübende Person das Haus verlassen muss, solange die Betroffene sich damit sicher fühlt. Diese Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Störers stellt vor dem Hintergrund des grundgesetzlich hoch gewichteten Schutzes von Leib und Leben der Betroffenen einen hinnehmbaren Nachteil dar (Petersen-Thrö 2004: 181). Entsprechendes gilt auch in Flüchtlingsunterkünften. In einem Fall von geschlechtsspezifischer Gewalt wird die Trennung von Täter_innen und Opfer in der Regel erforderlich sein. Aus Schutzgründen ist die Unterbringung in verschiedenen Gebäudeteilen, Fluren oder Stockwerken der Unterkunft keine geeignete Maßnahme, da die meisten Räume zwangsläufig von allen Bewohner_innen mehrfach am Tag genutzt werden müssen. Der „individuelle“ Bereich ist in der Regel ein Mehrbettzimmer oder ein kleines Einzelzimmer und auf wenige Quadratmeter beschränkt. Der gemeinsam zu nutzende Raum überwiegt deutlich. Asylsuchende dürfen aufgrund des Sachleistungsprinzips in der Erstaufnahmeeinrichtung nicht selbst kochen; ihnen wird das Essen zu bestimmten Zeiten in der Essensausgabe zugeteilt. Die Küche, Waschküche, Waschräume, das Büro der Sozialarbeiter_innen oder Heimleitung und das Spielzimmer für Kinder sind Knotenpunkte, an denen sich die Bewohner_innen zwangsläufig begegnen müssen. Dazu kommt, dass Geduldete und Asylsuchende aufgrund von zeitlich beschränkten Beschäftigungsverboten und nachrangigem Arbeitsmarktzugang viel Zeit in den Unterkünften verbringen. Da die Sicherheit der Betroffenen unter diesen Umständen in der Unterkunft kaum gewährleistet werden kann, sollte in der Regel der Störer gehen. Je nach Unterkunft und Lebensumstände kann es für die Betroffenen eine zusätzliche Belastung sein, in eine andere Flüchtlingsunterkunft zu wechseln. Ist die Betroffene z. B. einer kleinen, gut betreuten Gemeinschaftsunterkunft zugewiesen, hat sie dort soziale Kontakte und gehen ihre Kinder dort zur Schule, bedeutet der Wechsel in eine andere Unterkunft unter Umständen eine zusätzliche hohe Belastung. Aufseiten der Täter_innen sind insbesondere deren rechtliche Verpflichtungen aus der Wohnsitzauflage oder der Residenzpflicht zu berücksichtigen. Daraus resultieren etwa dann Nachteile, wenn sie als Asylsuchender in den ershttp://www.masgf.brandenburg.de/media_fast/4055/Broschuere_Gewaltschutz-fuer-Frauen-in-Fluechtlingsunterkuenften.pdf [Zugriff: 19.04.2017].
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
ten drei Monaten der engen Residenzpflicht unterliegen. Auch ein kurzfristiges Verlassen dieses Gebietes ohne Erlaubnis des BAMF wäre ein Verstoß gegen die Residenzpflicht, die mit einem Ordnungsgeld belegt ist. Auch würden sie bei einer Wegweisung für beispielsweise sieben Tage nicht ihren Pflichten nach § 47 Abs. 3 AsylG genügen, die eine kurzfristige Erreichbarkeit der Person voraussetzen In diesen Fällen müsste also die Wegweisung flankiert werden mit der Information der Behörde und einer anderen Unterbringung. Nach den ersten drei Monaten können Asylsuchende und Geduldete den ihnen in der Wohnsitzauflage zugewiesenen Ort vorübergehend – also z. B. für die Zeit der Wegweisung – verlassen, sie dürfen nur ihren Wohnsitz nicht außerhalb dieses Gebietes verlegen. Für die relativ kurze und klar begrenzte Zeit der polizeilichen Wegweisung scheint der Verweis auf Obdachlosenunterkünfte – wie bei Täter_innen in anderen Fällen auch – verhältnismäßig. Auch hier müssen die Täter_innen Hinweise auf Übernachtungsmöglichkeiten erhalten.
3.5 Zivilrechtlicher Gewaltschutz Das Gewaltschutzgesetz eröffnet die Möglichkeit, aufbauend auf einer polizeilichen Wegweisung, aber auch unabhängig davon, eine längerfristige räumliche Trennung von Betroffenen und Täter_innen herzustellen. Die im Gesetz verankerten Ansprüche auf Zuweisung der gemeinsamen Wohnung zur alleinigen Nutzung (§ 2 Gewaltschutzgesetz) sowie auf Anordnung von umfangreichen Betretungs-, Kontakt- und Näherungsverboten (§ 1 Gewaltschutzgesetz in Verbindung mit § 1004 BGB analog) können auch im Eilverfahren ohne anwaltliche Vertretung geltend gemacht werden. Versichern Betroffene die Verletzung von Körper, Gesundheit oder Freiheit bzw. die Drohung in einer eidesstattlichen Erklärung, können Familiengerichte diese Maßnahmen zur Abwendung weiterer Verfahren innerhalb weniger Tage anordnen. Bisher gibt es keine in juristischen Datenbanken auffindbare Rechtsprechung zur Anwendung der Normen im Kontext von Flüchtlingsunterkünften. Gerade weil die Umverteilung von Asylsuchenden durch die Ausländerbehörden auch in Gewaltfällen zum Teil langwierig ist, kann das Gewaltschutzgesetz für bestimmte Fälle ein geeignetes Instrument sein, welches ermöglicht, dass die Täter_innen die Gemeinschaftsunterkunft verlassen müssen. Das Gewaltschutzgesetz ist immer dann in Betracht zu ziehen, wenn geflüchtete Menschen als Paar oder als Familie in Wohnungen untergebracht sind, wenn sie innerhalb von Unterkünften in abgeschlossenen Wohneinheiten oder Familienzimmern leben, aber auch, wenn es um Belästigungen oder Übergriffe in sanitären Anlagen oder Mehrbettzimmern durch Mitbewohner_
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innen geht.20 Bedeutsam wird zusätzlich, wenn Kontakt- und Näherungsverbote außerhalb der Unterkünfte, z. B. in der Kita, in Sprachkursen etc., notwendig sind. Da die baulichen Gegebenheiten in den Unterkünften divers sind, ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Maßnahme nach dem Gewaltschutzgesetz geeignet ist und ob nicht niedrigschwelligere Interventionen wie ein Hausverbot (siehe unter 3.5) durch die Heimleitung als erster Schritt sinnvoller ist. § 2 Gewaltschutzgesetz setzt voraus, dass Betroffene und Täter_innen einen „auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt“ geführt haben. Über das Bewohnen derselben Wohnung hinaus verlangt dieser Begriff eine Lebensgemeinschaft, die sich durch innere Bindungen und ein gegenseitiges Füreinandereinstehen auszeichnet (Reinken 2012: § 2, Rz. 6). Somit fallen unter § 2 Gewaltschutzgesetz keine Wohngemeinschaften, die sich aus Kostengründen zusammengeschlossen haben, oder Mitbewohner_innen in Flüchtlingsunterkünften, die unabhängig voneinander aufgrund einer behördlichen Zuweisung in der Unterkunft leben. Dementsprechend muss man zwischen den Bewohner_innen unterscheiden, die dort als Paar wohnen, und denjenigen, die zwar in derselben Unterkunft, unter Umständen sogar im selben Zimmer, aber nicht als Einstandsgemeinschaft miteinander leben. Die erste Gruppe kann die Zuweisung des gemeinsam genutzten Zimmers auf § 2 Gewaltschutzgesetz stützen. Letztere könnte bei sexueller oder körperlicher Gewalt durch Mitbewohner_innen eine Anordnung der Aufgabe, z. B. eines Nebenzimmers oder des gemeinsamen Zimmers nach § 1 Gewaltschutzgesetz, auf der Grundlage von § 1004 BGB stellen.21 In jedem Fall müsste eine solche Maßnahme mit einem Betretungsverbot der Unterkunft nach § 1004 BGB analog i. V. m. § 1 Gewaltschutzgesetz flankiert werden, sodass sich der Schutz auf den gesamten Wohnbereich der Betroffenen bezieht. Betretungsverbote der Zimmer gegenüber gewalttätigen Mitbewohner_innen sowie Kontakt- und Näherungsverbote innerhalb der Unterkunft als alleinige Maßnahmen werden in der Regel keinen ausreichenden Schutz bieten. Enge Räumlichkeiten, die Beschränkung des „individuellen“ Bereichs auf Mehrbettzimmer und die Notwendigkeit, Gemeinschaftsräume zu nutzen, führen dazu, dass sich Bewohner_innen in vielen Unterkünften kaum aus dem Weg gehen können. Kontakt und Näherungsverbote nach § 1 Gewaltschutzgesetz können aber eine sinnvolle zusätzliche Maßnahme sein, wenn z. B. die Täter_innen in eine andere Unterkunft umverteilt wurden und sichergestellt
20 Mehr Informationen zur Anwendung des Gewaltschutzgesetzes unter: http://www.bmjv. de/SharedDocs/Publikationen/DE/Schutz_haeusliche_Gewalt.pdf?__blob=publicationFile&v=13 [Zugriff: 19.04.2017]. 21 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.02.2014, XII ZB 373/11, Rz.13.
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
werden soll, dass sie die alte Unterkunft nicht mehr betreten und sich der Betroffenen auch außerhalb der Unterkunft nicht mehr näheren. Bei der Anwendung beider Normen des Gewaltschutzgesetzes sind - wie bei der polizeilichen Intervention auch – die Belange der Täter_innen zu berücksichtigen. Ist sein Aufenthalt zur Wahrung seiner „berechtigten Interessen“ an einem bestimmten Ort erforderlich, kann eine Schutzanordnung gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 Gewaltschutzgesetz nicht ohne Weiteres angeordnet werden. In § 2 stellen „besonders schwerwiegende Täterinteressen“ einen Ausschlussgrund des Anspruchs auf Wohnungszuweisung der Betroffenen dar. Der liegt etwa vor, wenn den Täter_innen eine schwierige Beschaffung von Ersatzwohnraum bei schwerer Krankheit oder Behinderung nicht zuzumuten ist (Ehinger 2011: 567). Interessen der Täter_innen, die in diesem Kontext ins Gewicht fallen, können je nach individueller Fallkonstellation Obdachlosigkeit oder die räumliche Beschränkung Asylsuchender und Geduldeter durch Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen sowie die Verpflichtung sein, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Hier gilt dasselbe wie unter 3.4. Die zuständigen Behörden sind zu informieren, die kurzfristig eine Zuweisung der Täter_innen in eine andere Unterkunft veranlassen müssen.
3.6 Interventionsmöglichkeiten der Heimleitung und/oder Sozialarbeitender Bei akuter Gewalt ist es aufgrund der Verantwortung des Personals für den Schutz der Bewohner_innen notwendig, die Polizei zu rufen oder im Rahmen des Hausrechts ein Hausverbot auszusprechen. Das Hausrecht steht dem Träger der Einrichtung zu und wird der Einrichtung übertragen, damit diese einen störungsfreien Ablauf des Betriebes gewährleisten und die dazu erforderlichen Maßnahmen ergreifen kann. Satzungen bzw. Hausordnungen der Unterkünfte enthalten häufig Bezüge zu konflikthaftem Verhalten oder Gewalt. Sie konkretisieren die erforderlichen Maßnahmen zur Ausübung des Hausrechts und sind beispielsweise Ermächtigungsgrundlage einer Einrichtung, die störende oder gewalttätige Person auch gegen deren Willen vom Aufenthalt in der Unterkunft auszuschließen. Wer von den Mitarbeiter_innen der Einrichtung das Hausrecht ausüben darf, ist innerbetrieblich zu regeln. Üblicherweise ist dies die Einrichtungsleitung. Diese kann das Hausrecht wiederum auf Mitarbeitende übertragen.
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Heike Rabe
Unabhängig davon, ob es sich um einen staatlichen, freien oder privaten Träger22 der Einrichtung handelt, ist er, da er eine öffentlich-rechtliche Aufgabe wahrnimmt, zumindest mittelbar grundrechtsverpflichtet; d. h. er kann weder das öffentlich-rechtliche noch das privatrechtliche Hausrecht frei oder gar willkürlich wie ein Privater nach Belieben ausüben, sondern muss bei der Erteilung von Hausverboten die Grundrechte aller Bewohner_innen sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Hierzu gibt es eine Reihe von gerichtlichen Entscheidungen zu Hausverboten aufgrund häuslicher Gewalt in Obdachlosenunterkünften, in denen Gerichte feststellten, dass das Hausverbot der Täter_innen einem legitimen Ziel, dem ordnungsgemäßen Betrieb der Einrichtung dient. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit werden die Belastungen der Täter_innen aufgrund der Dauer des Hausverbotes, des zeitlichen Ablaufes, erneuter Obdachlosigkeit sowie der Beschränkung seines Rechts auf Familienleben berücksichtigt und selbst ein unbefristetes, kurzfristig angeordnetes Hausverbot als geeignet und erforderlich bewertet, solange die Täter_innen unterbringungsfähig sind, über eigene Mittel verfügen oder eine andere Unterkunft angeboten bekommen.23 Wie oben bereits ausgeführt, sind bei Asylsuchenden und Geduldeten darüber hinaus die ausländerrechtlichen Beschränkungen zu berücksichtigen. Daraus resultieren je nach Dauer des Hausverbotes Anforderungen an flankierende Maßnahmen wie bei der polizeilichen Intervention oder der gerichtlichen Anordnung. Unabhängig von der Intervention im Einzelfall ist es sinnvoll, frühzeitig Fragen zu klären, wie, wann und durch wen die Polizei gerufen wird , wann ein Hausverbot erteilt wird oder welche anderen Maßnahmen wirksamen Gewaltschutz darstellen könnten. Die Antworten darauf werden stark von den baulichen Voraussetzungen der jeweiligen Unterkunft, dem Betreuungsschlüssel, der Qualifikation und Sensibilisierung des Personals, der Zusammensetzung der Bewohnerschaft sowie der individuellen Situation von Täter und Opfer abhängen. Die ersten Erfahrungen mit Gewaltvorfällen und der Implementierung von Gewaltschutzkonzepten in Unterkünften haben gezeigt, dass es, wie bei Gewalt in Privathaushalten auch, keine Pauschallösungen geben kann. Wichtig scheint es zu sein, die Bedeutung und die Enge sowohl der der sozialen Gemeinschaft in den Unterkünften, als auch fluchtbedingte Spezifika in (Paar-)Beziehungen zu berücksichtigen. Wo eine mangelnde Infrastruktur wie fehlende Sprachmittlungsangebote, schlechte Verkehrsanbindung, keine Kinderbetreuung etc. 22 Staatliche Träger sind je nach Verwaltungsstruktur der Bundesländer das Land, die Bezirksregierung, der Kreis, die Gemeinde oder eine Stadt; freie Träger sind z. B. die Wohlfahrtsverbände, die gemeinnützig sind, sowie private Träger, die nicht gemeinnützig, sondern auf wirtschaftlichen Profit ausgerichtet sind. 23 Zum Beispiel VG Augsburg, Beschluss vom 23.08.2012, Az. Au 7 S 12.1108; VG Osnabrück, Beschluss vom 04.05.2012, Az. 6 B 44/12; VG Aachen, Beschluss vom 04.04.2007, Az. 6 L 113/07.
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Ein Recht auf effektiven Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
4. Fazit Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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das Angewiesensein auf Mitbewohner_innen verstärkt, werden Betroffene von Gewalt sich gut überlegen, ob sie eine Wegweisung des Täter_innen initiieren und damit unter Umständen auch auf Ablehnung und damit Verlust von Unterstützung stoßen. Zusätzlich können auch der Verlust sozialer Beziehungen durch die Flucht, aber auch rassistische Übergriffe von außen die Bedeutung der Kontakte in der Unterkunft erhöhen. Um effektiven Gewaltschutz zu implementieren ist es notwendig, die Bedarfe der Bewohner_innen zu verstehen und sie bei ihrer Entwicklung einzubinden.
Die menschen- und unionsrechtlichen Vorschriften sehen eine Reihe von Verpflichtungen für einen effektiven Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften vor, die für die Betroffenen in der Umsetzung sowohl zugänglich als auch effektiv sein müssen. Dies ist in der Praxis bisher nur zum Teil gewährleistet. Adressat der Verpflichtungen sind der Staat und seine Organe, also in erster Linie der Gesetzgeber, die Bundesländer, Landkreise und kreisfreien Städte als Träger von Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften sowie Behörden und Gerichte. Eine gewichtige Rolle bei der Durch- und Umsetzung dieser Verpflichtungen im Sinne der Betroffenen spielt die Soziale Arbeit. Sie ist maßgeblich beteiligt an der Entwicklung und Erprobung von Gewaltschutzkonzepten. Sie kann und sollte ein Motor sein für die Gewährleistung des Rechts auf Gewaltfreiheit in den Unterkünften.
Literatur Berlin, Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (2015): Verfahrenshinweise der Ausländerbehörde Berlin, Stand 20.03.2017. BMFSJ/UNICEF (o. J.): Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Flüchtlingsunterkünften. https://www.bmfsfj.de/blob/107848/5040664f 4f627cac1f2be32f5e2ba3ab/schutzkonzept-mindeststandards-unterkuenfte-data. pdf [Zugriff: 28.03.2017]. Brandenburg, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie (2016): Gewaltschutz für Frauen in Flüchtlingsunterkünften. http://www.masgf.brandenburg.de/media_fast/4055/Broschuere_Gewaltschutz-fuer-Frauen-in-Fluechtlingsunterkuenften.pdf [Zugriff: 28.03.2017]. Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (2016): In Bremen zuhause. Frauen, Kinder und Personen, die aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität von Übergriffen und Gewalt bedroht 185
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Heike Rabe
sind, in Flüchtlingsunterkünften schützen. http://senatspressestelle.bremen.de/ sixcms/detail.php?gsid=bremen146.c.184414.de&asl=bremen02.c.732.de [Zugriff: 28.03.2017]. Brücker, Herbert/Rother, Nina/Schupp, Jürgen 2016 (Hrsg.): IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Überblick und erste Ergebnisse. Forschungsbericht 29, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016): Das BAMF in Zahlen, Nürnberg. Ehinger, Uta (2010): Die Ehewohnungszuweisung nach dem Gewaltschutzgesetz. In: FPR, H. 12, S. 567–569. European Disability Forum (o. J.): Migration and refugees with disabilities. http://www. edf-feph.org/migration-refugees-disabilities [Zugriff: 28.03.2017]. Flüchtlingsrat Niedersachsen (2011): Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung. Wo stehen wir heute? In: Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, H. 137, S. 18. Niedersachsen, Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung/Ministerium für Inneres und Sport (o. J.): Gemeinsames Konzept des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (MS) und des Ministeriums für Inneres und Sport (MI) für den Kinderschutz und Gewaltschutz für Frauen in Aufnahmeeinrichtungen des Landes für Flüchtlinge und Asylbegehrende: http://www.opferschutz-niedersachsen.de/daten/module/aktuelles/datei/Gewaltschutzkonzept-MS-MI-XBjt. pdf [Zugriff: 28.03.2017]. Nordrhein-Westfalen, Ministerium für Inneres und Kommuales (2016): Landesgewaltschutzkonzept für Flüchtlingseinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen. http://www.mik.nrw.de/fileadmin/user_upload/Redakteure/Dokumente/Themen_und_Aufgaben/Auslaenderfragen/170323lgsk_nrw.pdf [Zugriff: 28.03.2017]. Petersen-Thrö, Ulf (2004): Die Wohnungsverweisung nach § 21 Abs. 3 SächsPolG. In: Sächsische Verwaltungsblätter – SächsVBl, Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung, S. 173, 181. Statistisches Bundesamt (2016): Fachserie 13, Reihe 7, Tabelle A 1.1.1. Reinken, Werner (2012): § 2 Gewaltschutzgesetz. In: Bamberger, Heinz Georg; Roth, Herbert, Kommentar zum Bürgerglichen Gesetzbuch, Bd. 3, 3. Auflage: München: C. H. Beck, Rz. 6.
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Juliane Kampf
Situation gewaltbetroffener geflüchteter Frauen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Die Rolle von Frauenhäusern bei der Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen – Zugang und Barrieren
Die Arbeit von Sozialarbeiter_innen mit geflüchteten Menschen ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in einem Feld stattfindet, welches durch nicht erfüllte Bedürfnisse, Unsicherheit und Menschenrechtsverletzungen vor, während und nach der Flucht geprägt ist (vgl. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016: 4). Die Diskussion um die Qualität der Unterbringung von geflüchteten Menschen sowie die Wahrung ihrer Rechte wird momentan von der Frage, wo sie überhaupt untergebracht werden können, überlagert. Dabei entstehen aufgrund der Situation in Gemeinschaftsunterkünften diverse soziale, psychische, physische und organisatorische Probleme für geflüchtete Menschen. Die Gewährleistung des Schutzes und die Förderung besonders vulnerabler Gruppen sind somit von großer Bedeutung (vgl. ebd.). Der besondere Schutz von Frauen und ihren Kindern wird hinsichtlich des Schutzes vor geschlechtsspezifischer Gewalt und sexueller Belästigung kaum thematisiert. Dabei sind die Aufnahmestaaten menschenrechtlich dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sich die Gewalt in den Aufnahmeländern nicht fortsetzt, und geflüchteten Frauen wirksamen Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu gewährleisten (vgl. Rabe 2015: 3).1 Für viele Frauen ziehen sich Partnergewalterfahrungen durch mehrere Lebensphasen in ihren Herkunftsländern, auf der Flucht und/oder im Zielland. Zudem kann in Gemeinschaftsunterkünften die Gefahr bestehen, auch geschlechtsspezifische Gewalt durch andere Bewohner, seitens des Personals oder durch Ehrenamtler_innen zu erleben. Der Gewaltschutz, unabhängig davon, ob es sich um private Wohnungen, kleinere Gemeinschaftsunterkünfte oder Notunterkünfte handelt, ist derzeit defizitär und ungenügend. Ebenfalls wird die rechtliche sowie tatsächliche Situation der von Gewalt betroffenen geflüchteten Frauen vom Ausländerrecht 1 Siehe hierzu auch den Beitrag von Rabe in dieser Publikation.
dominiert, welches derzeit keine Ausrichtung auf Gewaltschutz beinhaltet, der demzufolge eine untergeordnete Rolle spielt (vgl. ebd.). Viele Frauenhäuser fordern seit einiger Zeit den uneingeschränkten und niedrigschwelligen Zugang zu Frauenhäusern für geflüchtete Frauen (vgl. Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser 2015: 2). Die Praxis weist zum Teil hinsichtlich deren Aufnahme und Unterstützung Probleme und Defizite auf. Mit zunehmender Anzahl an Geflüchteten wird immer deutlicher, dass es unabdingbar ist, effiziente Gewaltschutzkonzepte in Unterkünften zu etablieren. Zudem müssen im Antigewaltbereich Interventionen stattfinden, um den Schutz geflüchteter Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu gewährleisten (vgl. Rabe 2015: 22f.).
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Juliane Kampf
Forschungsgegenstand Die weiteren Ausführungen zu der Thematik beruhen auf einer Untersuchung, deren Ziel es war, herauszufinden, welche Handlungsmöglichkeiten zur Verbesserung der derzeitigen Situation von Gewalt betroffener geflüchteter Frauen in Frauenhäusern und deren Zugang zu diesen Schutzeinrichtungen bestehen und wie in der Praxis entwickelte sinnvolle Lösungsvorschläge aussehen. Im Rahmen einer Bachelorarbeit (Kampf 2016) wurde anhand von qualitativen Interviews mit Mitarbeiterinnen aus drei Berliner Frauenhäusern im Mai/Juni 2016 folgenden Fragestellungen nachgegangen: 1. Wie wird in den Frauenhäusern mit der Situation umgegangen, dass die Praxis zum Teil hinsichtlich der Aufnahme und Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen Probleme und Defizite aufweist? Haben von Gewalt betroffene geflüchtete Frauen uneingeschränkten Zugang zu den Frauenhäusern? 2. Welche strukturellen Hindernisse gibt es für geflüchtete Frauen, die Unterstützung und Zuflucht in Frauenhäusern suchen? Welche weiteren strukturellen Benachteiligungen machen sich in der Unterstützungsarbeit bemerkbar? 3. Welche Ressourcen, Strategien und Machtquellen können genutzt werden, um gewaltbetroffenen geflüchteten Frauen einen uneingeschränkten Zugang zu Frauenhäusern zu gewähren? 4. Welche weiteren Ideen, Gedanken und Entwicklungen gibt es hinsichtlich der aktuellen Situation?
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Die Rolle von Frauenhäusern bei der Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen
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Aufnahmepraxen Die Aufnahmepraxis und der Zugang zu den untersuchten Frauenhäusern gestalten sich für geflüchtete Frauen momentan unterschiedlich; eine diesbezügliche verbindliche Vorgabe vonseiten des Senats gibt es nicht. Eine uneingeschränkte Aufnahme wird durch zwei der drei befragten Frauenhäuser in Berlin gewährleistet. Die Mitarbeiterinnen eines Frauenhauses versuchen grundsätzlich, geflüchteten Frauen Zuflucht zu gewähren, entscheiden sich aber im Einzelfall auch gegen eine Aufnahme. Eine Mitarbeiterin erwähnt, dass es auch Frauenhäuser gäbe, die zeitweise eine festgelegte Begrenzung der Plätze für von Gewalt betroffene geflüchtete Frauen haben. Als Hauptgründe für eine Nicht-Aufnahme nennt die Interviewpartnerin vor allem den hohen Unterstützungsbedarf, den viele geflüchtete Frauen und ihre Kinder ihrer Meinung nach aufweisen, sowie fehlende Kapazitäten hinsichtlich der materiellen Ausstattung und des Personals, wodurch keine adäquate Betreuung der Frauen geleistet werden könne. Befinden sich im Frauenhaus bereits mehrere Frauen mit einem hohen Unterstützungsbedarf, können die Mitarbeiterinnen nicht vertreten, weitere Frauen, bei denen die Intensität der Unterstützung hoch ist, aufzunehmen, und beschreiben es als verantwortungslos, die vorherrschende Situation in der Entscheidung über die Aufnahme nicht mit einzubeziehen. Auch die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser, die uneingeschränkt aufnehmen, sprechen den höheren Arbeitsaufwand in der Unterstützungsarbeit an, wobei dieser im Laufe der Befragung im Vergleich zu anderen „Bewohnerinnengruppen“ der Frauenhäuser immer wieder relativiert wird, indem sie herausstellen, dass es auch andere von Gewalt betroffene Frauen gibt, die einen hohen Unterstützungsbedarf haben, und auf die Konstruktion, Homogenisierung und den Diskurs über die Gruppe der geflüchteten Frauen zu sprechen kommen. Dennoch lässt sich erkennen, dass aufgrund von aufenthaltsrechtlichen Gegebenheiten und deren Konsequenzen in der Unterstützungsarbeit und durch den Bedarf an Sprachmittlung der Aufwand in der Regel höher ist. Ein strukturelles Hindernis für geflüchtete Frauen stellen u. a. die aufenthaltsrechtliche Situation und die daraus resultierenden Benachteiligungen wie z. B. Einschränkungen durch die Residenzpflicht oder die Bedingungen in den Landesbehörden in Berlin dar. Die Hochschwelligkeit einiger Hilfsangebote im sozialen Netz führt zudem dazu, dass gewaltbetroffene geflüchtete Frauen diese weniger in Anspruch nehmen können und viele Fragen im Frauenhaus geklärt werden müssen, wodurch sich häufig die Verweildauer der Betroffenen in den Häusern verlängert. Diskriminierungen geflüchteter Frauen, z. B. auf dem Wohnungsmarkt, stellen einen weiteren Aspekt dar. So kann die Wohnungssuche sehr lange dauern.
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Juliane Kampf
Gerade diese besondere Verletzlichkeitsposition von geflüchteten Frauen macht einen uneingeschränkten Zugang zu Schutzeinrichtungen wie Frauenhäusern zwingend erforderlich. Es stellt sich die Frage, wie dieser gewährt werden kann.
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Bereits erprobte gute Praxen und Strategien Die Mitarbeiterinnen der befragten Frauenhäuser versuchen, mit unterschiedlichen Strategien, geflüchtete Frauen einerseits adäquat zu unterstützen und ihnen andererseits einen uneingeschränkten Zugang zu ihren Schutzeinrichtungen zu gewähren. Hierbei haben sie einige gute Praxen entwickelt, die für andere Einrichtungen hilfreich sein können. So geben alle Befragten an, bei der Zusammensetzung des Teams auf sprachliche Vielfalt zu achten und Mitarbeiterinnen mit unterschiedlichen Lebensweisen und mit Migrations- oder Fluchtgeschichte einzustellen. Die Fähigkeit des inter- bzw. transkulturellen Arbeitens stellt eine weitere Einstellungsvoraussetzung dar. Dabei geht es darum, die unterschiedlichen Verletzlichkeiten der Bewohnerinnen im Frauenhaus in die Arbeit mit einzubeziehen und vorhandene soziale Ungerechtigkeiten zu vermindern. In diesem Sinne sollten die Mitarbeiterinnen mehrere Diskriminierungsformen und deren Verwobenheiten, denen die Bewohnerinnen ausgesetzt sind, erkennen und folglich die verschiedenen Alltags- und Lebenswelten der Frauen in ihre praktische Arbeit einbeziehen und damit umgehen können. Eine gute Zusammenarbeit im Team wird auch als eine Praxis benannt, aufgrund derer die Möglichkeit besteht, Arbeit umzuverteilen und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. So werden die vorhandenen Ressourcen im Team optimal genutzt, um Unterstützungsprozesse zu erleichtern und sich gegenseitig bei der Arbeit auszuhelfen. Zudem legen die Interviewpartnerinnen aus zwei der drei befragten Frauenhäuser Wert auf eine horizontale Teamstruktur. Auch greifen alle auf außenstehende Personen zurück, welche beispielsweise Begleitungen zu Behörden übernehmen und für Sprachmittlungen in den Beratungsgesprächen zur Verfügung stehen. Im Einzelfall wird auch auf sprachliche Ressourcen anderer Bewohnerinnen zurückgegriffen. Das Einbeziehen der Perspektiven von geflüchteten Frauen, die häufig lange in Unterkünften gelebt haben, stellt demnach ein wichtiges Element der Unterstützungsarbeit und die Anpassung dieser an die vorherrschenden Bedarfe dar. Vernetzungsarbeit bezieht sich auf die Bezirksebene sowie auf die Verknüpfung von spezifischen Angeboten für Migrantinnen und dem Antigewaltbereich. So können beispielsweise der Zugang zu bestimmten Institutionen erleichtert oder über diese Kontakte Sprachmittlungen und Begleitungen 190
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Die Rolle von Frauenhäusern bei der Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen
organisiert werden. Auch Wohnungsvermittlungen oder die Vernetzung zwischen Selbstorganisationen geflüchteter Frauen und dem Antigewaltbereich spielen eine wichtige Rolle, damit sich die Unterstützung verbessern kann, sich der spezifische Bedarf der Frauen feststellen lässt und zielgruppenorientierte Hilfsangebote bereitstehen. Über Leihgelder und Spenden können die Frauen, die für ihren Lebensunterhalt vorübergehend nicht alleine aufkommen können, erst einmal unterstützt werden. Dies gilt demnach auch auf für Frauen, deren Aufenthalt ungeklärt ist. Zudem können auch die Ressourcen der Bewohnerinnen im Haus in Bezug auf Begleitungen bei personalen Engpässen genutzt werden. Schließlich will eines der Frauenhäuser vermehrt Integrationslotsinnen hinzuziehen, die hinsichtlich der Begleitung von geflüchteten Frauen, Sprachmittlung bei Beratungsgesprächen und Hilfe bei administrativen Tätigkeiten im Bezirk leisten und Defizite in der Unterstützungsarbeit ausgleichen können.
Ideen und Perspektiven Über die bereits gewählten Strategien hinaus diskutierten die befragten Frauenhausmitarbeiterinnen weitere Ideen, wie die Unterstützung geflüchteter Frauen in den Frauenhäusern und der Zugang verbessert werden könnte. Als ein neuer Ansatz erwies sich die Ausweitung der Beratung im Sinne einer mobilen Beratung. Idee und Ziel dahinter sind, von Gewalt betroffene Frauen zu erreichen, die Frauenhäuser oder frauenspezifische Fachberatungsstellen bisher nicht kannten und aufsuchen konnten. Zudem soll mehr Vernetzung über die mobile Beratung zustande kommen und auch in den Unterkünften das Personal hinsichtlich Gewaltschutzmaßnahmen und den Umgang mit geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt geschult werden. Es wurde zudem der Wunsch nach mehr Frauenhausplätzen bzw. nach frauenspezifischen Unterbringungen für geflüchtete Frauen und das Etablieren von Gewaltschutzkonzepten in Unterkünften geäußert. Auch in Bezug auf Zufluchtswohnungen und Wohnprojekte für geflüchtete Frauen besteht Bedarf. Aufgrund der vielfältigen Erfahrungen ist zudem die nachgehende Beratung ein wichtiger Aspekt in der Unterstützungsarbeit. Eine andere Idee bezieht sich auf die Zusammenarbeit mit Behörden und relevanten Institutionen. Die Möglichkeit, über eine Ansprechperson zu verfügen, die mit dem Thema häusliche Gewalt vertraut ist, kann zum einen hinsichtlich der Verhinderung von Diskriminierungen gegenüber den Frauen und zum anderen in Bezug auf kürzere Bearbeitungszeiten hilfreich sein. Der Ausbau des Netzes von Ehrenamtlichen, des Austauschs und der Vernetzung zwischen unterschiedlichen Institutionen, die die Frauenhausarbeit 191
Juliane Kampf
betreffen, sowie der Vernetzungsarbeit zwischen den Projekten des Antigewaltbereichs und den Selbstorganisationen von Migrantinnen und geflüchteten Frauen stellten sich als weitere Perspektiven heraus.
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Theoretischer Hintergrund Gemäß der globalen Definition der Sozialen Arbeit hat diese als Profession die Aufgabe, zu sozialer Veränderung und zur Ermächtigung und Befreiung von Menschen beizutragen, um ihr Wohlbefinden zu verbessern (vgl. IFSW 2014: 1). Sie stützt sich auf eigene Theorien sowie auf Theorien der Sozial- und Humanwissenschaften und bezieht gleichzeitig das Erfahrungswissen des beruflichen Kotextes mit ein. Als normative Handlungswissenschaft in Disziplin und Praxis sind die Einhaltung und Beachtung der Menschenrechte sowie die Herstellung sozialer Gerechtigkeit fundamentale Bestandteile (vgl. ebd.). Da die Soziale Arbeit ein Teilsystem der Sozialpolitik bildet, steht sie in Abhängigkeit von aktuellen politischen Machtbalancen und sozialen Kräften, die von Bedeutung für die Verteilung von kulturellen, sozialen und materiellen Ressourcen für ihre Dienstleistungen sind (vgl. Sagebiel 2013: 35). Soziale Arbeit ist in ihrer Theorie und professionellen Praxis unweigerlich mit Fragen der Macht konfrontiert. Dies bezieht sich einerseits auf ihre Auswirkungen auf das Individuum und andererseits auf die Inklusion bzw. Exklusion in soziale Systeme und somit auf alle gesellschaftlichen Ebenen. Dementsprechend wirkt Macht im Interaktionsverhältnis des Klient_in-Helfer_in-Systems zwischen Institutionen und Organisationen und als strukturelle Macht in politischen Prozessen. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis und der eigenen individuellen Machtbiografie als gesellschaftliche Kraft und Gegenmacht sowie die Legitimation von Interventionen sollten Teil der Reflexion zu Macht in der Sozialen Arbeit darstellen (vgl. ebd.). Die prozessual-systemische Machttheorie von Silvia Staub-Bernasconi (1994, 2007) gilt als eine der zentralen Machttheorien in der Sozialen Arbeit. In ihrer Auseinandersetzung mit Machtquellen und Machtstrukturen geht es ihr insbesondere darum, theoretisch und handlungstheoretisch über Macht „als [einen] der wichtigsten Aspekte des ‚Sozialen‘ nachzudenken“ (Staub-Bernasconi 2007: 374). Die Bewertung von Macht stellt eine wichtige Perspektive in ihrer Theorie dar, denn sie geht davon aus, dass Macht an sich weder gut noch schlecht, sondern die Art ihrer Verwendung ausschlaggebend für ihre Bewertung ist (vgl. Sagebiel 2013: 37). Dementsprechend spricht sie von zwei Arten der Macht: von der legitimen, menschengerechten Begrenzungsmacht, die zur Bewältigung von sozialen Problemen führen kann, und von der ihr gegenüberstehenden illegitimen Behinderungsmacht, die den Ausbau von Herrschaft er192
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Die Rolle von Frauenhäusern bei der Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen
möglichen kann, indem sich Behinderungsregeln sozial selektiv gestalten (vgl. Staub-Bernasconi 2011: 376f.). In Bezug auf den Umgang mit vorhandenen Machtquellen und Machstrukturen zeigt Staub-Bernasconi, dass einerseits Machtstrukturen des Sozialwesens und der Organisationen und andererseits die Macht der Sozialarbeitenden ihrer Klientel gegenüber von Bedeutung sind. Beide können sich anstatt problemlösend auch problemverursachend auswirken (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 397). Auch Wolfgang Krieger beschäftigt sich in seinen konstruktivistischen Überlegungen mit Macht in der Sozialen Arbeit. In seiner Auseinandersetzung mit Begriffen, Formen und Quellen der Interaktionsmacht geht er vor allem auf Machtphänomene in zwischenmenschlichen Beziehungen ein. Die Interaktionsmacht in zwischenmenschlichen Beziehungen sieht er in der Praxis der Sozialen Arbeit in allen Aufgabenbereichen (vgl. Krieger 2011: 45). Krieger versucht, den Machtbegriff anhand eines konstruktivistischen Paradigmas erkenntnistheoretisch zu positionieren, um eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Macht, mit Machtphänomenen und der Analyse von Machtstrukturen, Machtmitteln und -ressourcen sowie Machtpraktiken in der Sozialen Arbeit vorzunehmen. Wird Macht artikuliert, so bedingt sie eine Analyse von Machtverhältnissen und führt zur Frage nach Machtmitteln und -quellen, Ressourcen und Abhängigkeiten (vgl. ebd.: 45f.). Machtmittel in der Sozialen Arbeit weisen laut Krieger eine ambivalente Struktur auf, indem sie einerseits über den Zugang zu Ressourcen bestimmen und andererseits als Instrumente gegen den Willen der Betroffenen eingesetzt werden und einen bestimmten Weg vorgeben können, der sich an den zur Verfügung stehenden Ressourcen orientiert. Machtmittel im Interaktionsverhältnis sind demnach Instrumente der Hilfe und Kontrolle (vgl. ebd.: 70f.). Auch Krieger geht es um einen konstruktiven Umgang mit Macht in der Sozialen Arbeit. Er fordert eine Soziale Arbeit, die sich zum Auftrag macht, ihre faktischen Machtquellen transparent gegenüber den Klient_innen zu offenbaren, und plädiert demnach für eine kritische Soziale Arbeit, die sich ihre Machtressourcen und -quellen vor Augen führt und immer wieder das Machtgefälle zwischen Professionellen und Klient_innen analysiert. Wird einer von Gewalt betroffenen geflüchteten Frau die Unterbringung in einem Frauenhaus verwehrt, obwohl ein freier Platz vorhanden ist, geht es auch um die Frage des Machtwirkens im Klient_in-Helfer_in-System, also konkret zwischen den Sozialarbeitenden und den zufluchtsuchenden geflüchteten Frauen, sowie um die Wahrnehmung und das Einsetzen der vorhandenen Machtquellen der Sozialarbeitenden. Die Position von Sozialarbeitenden bringt sie in eine Situation, in der sie über bestimmte Machtmittel verfügen und hinsichtlich der Aufnahme gewaltbetroffener Frauen über den Zugang zum Frauenhaus in der Regel selbst be193
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stimmen können. Somit ist ihr erstes Machtmittel, über die Gewährung oder die Verwehrung der Zuflucht einer von Gewalt betroffenen Frau zu entscheiden. Als Teil des Antigewaltbereichs hat die sozialarbeiterische Tätigkeit im Frauenhaus den Auftrag, die Rechte schutzbedürftiger Individuen zu sichern und den Zugang zum Frauenhaus zu gewährleisten, und bezieht sich demzufolge auf die sogenannte positionale und organisationale Macht (vgl. Krieger 2011: 53). Im Sinne Staub-Bernasconis kann die Soziale Arbeit als Profession ihre Organisationsmacht ergreifen, um mit mehr Gegenmacht soziale Gerechtigkeit zu etablieren (vgl. Staub-Bernasconi 2011: 378f.). Sie verdeutlicht, dass sich die Macht der Sozialarbeitenden anstatt problemlösend auch problemverursachend auswirken kann. Somit steht die Verwehrung von Schutz im Frauenhaus dem Recht auf Gewaltschutz grundlegend entgegen. Sozialarbeitende können also die ihnen in dieser Situation zur Verfügung stehende Macht im behindernden oder im begrenzenden Sinne einsetzen. In ihrer stärkeren Machtposition gegenüber der Klientel und den dazugehörigen Kontrollinstrumenten wie die Gewährung bzw. Verwehrung von Schutz ist es folglich unumgänglich, sich mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen und das Thema Macht in der sozialarbeiterischen Praxis aufzugreifen. Ziel dabei ist, einen verantwortungsvollen und den Menschenrechten entsprechenden Umgang hinsichtlich des Zugangs zur Hilfeleistung sowie der Hilfeleistung an sich zu finden (vgl. Krieger 2011: 72).
Fazit Als normative Handlungswissenschaft in Disziplin und Praxis zielt die Soziale Arbeit auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und die Einhaltung und Beachtung der Menschenrechte. Im Sinne sozialer Gerechtigkeit ist es Aufgabe der Sozialen Arbeit, eine Gegenmacht zu Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalterfahrung und Diskriminierung der Adressat_innen zu etablieren und Macht auf professionelle Weise zu behandeln (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 200). Bezüglich der Unterstützungsarbeit der Frauenhäuser für gewaltbetroffene geflüchtete Frauen bedeutet dies, dass Differenzen hinsichtlich der Gewalt- und Unterdrückungssituation ernst genommen und kritisch analysiert werden können. Somit sind die unterschiedlichen Verletzlichkeitsstrukturen und Unterdrückungszusammenhänge der Frauen auf professionelle Art zu bearbeiten und beim Zugang zu Frauenhäusern zu beachten. Dabei spielen vor allem strukturelle Benachteiligungen und Hindernisse der Betroffenen eine Rolle, denn diese können sich in Gewalt- und Misshandlungssituationen problemverschärfend auswirken (vgl. Baghramian et al. 2006: 11).
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Die Rolle von Frauenhäusern bei der Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen
Es stellte sich heraus, dass von Gewalt betroffene geflüchtete Frauen aufgrund institutioneller Barrieren weniger andere soziale Hilfsangebote in Anspruch nehmen können, obwohl sie häufig einen umfassenden Unterstützungsbedarf haben. Kommen Traumatisierungen der geflüchteten Frauen hinzu, können sie zudem extremen Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht ausgesetzt sein und die von ihnen empfundene Ausweglosigkeit kann sich besonders groß anfühlen (vgl. Castro Varela 2006: 27f.). Diese Gegebenheiten machen den uneingeschränkten Zugang von Gewalt betroffener geflüchteter Frauen zu Frauenhäusern unerlässlich. Da Frauenhäuser in ihrer Arbeit viel mit von Gewalt betroffenen Migrantinnen und geflüchteten Frauen zu tun haben, ist es von Bedeutung – unter Einbeziehung intersektional-feministischer Theorien –, Strategien und Handlungsmöglichkeiten zu schaffen, die verschiedene gesellschaftliche Machtstrukturen mitdenken und die Unterstützungsarbeit dahingehend verbessern. So leisten Frauenhäuser nicht nur einen Beitrag für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, sondern beteiligen sich auch an der Überwindung von Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung. Eine Nichtreflexion dieser Macht kann aber auch zur Verfestigung bereits bestehender Ungleichheiten beitragen. Die professionelle Praxis muss demnach immer wieder kritisch hinterfragt werden und neue Vorgehensweisen entwickeln. Eine angemessene Unterstützung und zielgruppenorientierte Hilfsangebote berücksichtigen folglich strukturelle Benachteiligungen. Das Wohlergehen und der Schutz sowie die effektive Ermächtigung der von Gewalt betroffenen Frauen sollten somit im Mittelpunkt stehen. Die Niedrigschwelligkeit als wichtiges Charakteristikum der Antigewaltarbeit, zeigt sich in der Frauenhausarbeit durch die unbürokratische Aufnahme und die prinzipielle Zugänglichkeit für jede Frau, die von Gewalt betroffen ist. Frauenhäuser sollten demnach alle vorhandenen Ressourcen nutzen, neue Strategien entwickeln und ausreichende Ressourcen seitens der Geldgeber zur Verfügung gestellt bekommen, um dies zu gewährleisten. Die Auseinandersetzung mit Macht ist seitens der Mitarbeiterinnen unerlässlich. Eine differenzierte und theoretisch reflektierte Analyse von Macht im Sinne eines wissenschafts- und ethischen Professionsverständnisses ist von Bedeutung, um vorhandene Machtquellen in der sozialarbeiterischen Tätigkeit wahrzunehmen und sie auf eine produktive und legitime Weise zu nutzen. Für die Frauenhäuser bedeutet dies, wie die Beispiele durchaus gezeigt haben, dass trotz vorhandener struktureller Defizite, Wege und Möglichkeiten gefunden werden, um geflüchteten Frauen in Gewaltbeziehungen einen uneingeschränkten Zugang zu ihren Schutzeinrichtungen zu gewährleisten und sie zu unterstützen. 195
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Literatur Baghramian, Louise/Grubic, Rada/Lehmann, Nadja/Weinbach, Heike (2006): Einleitung der Herausgeberinnen: Gründung und Hintergrund der Interkulturellen Initiative e. V. In: Baghramian, Louise/Grubic, Rada/Lehmann, Nadja/Weinbach, Heike (Hrsg.): Qualität in der Arbeit mit von Gewalt betroffenen Migrantinnen. Ein Projekt der Interkulturellen Initiative e. V., Berlin im Rahmen des entimon-Programms „Qualitätsmanagement in der Arbeit mit von Gewalt betroffenen Migrantinnen“. Berlin, S. 6–18. Castro-Varela, María do Mar (2006): Gewalt intersektionell betrachtet. In: Baghramian, Louise/Grubic, Rada/Lehmann, Nadja/Weinbach, Heike (Hrsg.): Qualität in der Arbeit mit von Gewalt betroffenen Migrantinnen. Ein Projekt der Interkulturellen Initiative e. V., Berlin im Rahmen des entimon-Programms „Qualitätsmanagement in der Arbeit mit von Gewalt betroffenen Migrantinnen“. Berlin, S. 24–29. IASSW/IFSW (2014): Globale Definition der Sozialen Arbeit von 2014 mit Kommentar, S. 1–4. http://cdn.ifsw.org/assets/ifsw_100253-6.pdf [Zugriff: 04.09.2016]. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften: Positionspapier: Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften. Professionelle Standards und sozialpolitische Basis, Berlin 2016. www.fluechtlingssozialarbeit.de/ [Zugriff: 04.09.2016]. Kampf, Juliane (2016): Die Rolle von Frauenhäusern bei der Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen – Zugang und Barrieren. Unveröffentlichte Bachelorarbeit im Rahmen des Studiums Soziale Arbeit, ASH Berlin. Krieger, Wolfgang (2011): „Macht jenseits der konstruierten Selbstunterwerfung?“ Begriffe, Formen, Quellen der Interaktionsmacht. Konstruktivistische Ansätze zur Mikrophysiologie der Macht in der Sozialen Arbeit. In: Kraus, Björn/Krieger, Wolfgang (Hrsg.): Macht in der Sozialen Arbeit. Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. 3. überarb. u. erw. Auflage. Jacobs Verlag. Lage, S. 45–93. Rabe, Heike (2015): Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften. Policy Paper Nr. 32. Berlin: Institut für Menschenrechte. Sagebiel, Juliane (2013): Macht in der Sozialen Arbeit. In: FORUM sozial 4, S. 35–41. Staub-Bernasconi, Silvia (1994): Soziale Probleme – Soziale Berufe – Soziale Praxis. In: Heiner, Maja/Meinhold, Marianne/von Spiegel, Hiltrud/Staub-Bernasconi, Silvia (Hrsg.): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Freiburg i. Br.: Lambertus, S. 11–101. Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Systemtheoretische Grundlagen und professionelle Praxis – Ein Lehrbuch. Bern/Stuttgart/ Wien: Haupt (UTB). Staub-Bernasconi, Silvia (2011): Macht und (kritische) Soziale Arbeit. In: Kraus, Björn/ Krieger, Wolfgang (Hrsg.): Macht in der Sozialen Arbeit. Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. 3. überarb. u. erw. Auflage. Lage: Jacobs Verlag, S. 363–392. 196
Die Rolle von Frauenhäusern bei der Unterstützung gewaltbetroffener geflüchteter Frauen
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Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (2015): Pressemitteilung zum 8. März 2015, S. 1–2. http://www.autonome-frauenhaeuser-zif.de/sites/default/ files/report_attachment/2015-03_zif-pressemitteilung_zum_8.maerz_2015.pdf [Zugriff: 03.09.2016].
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Menschenhandel und Flucht: Herausforderungen für die Soziale Arbeit mit Geflüchteten Menschenhandel ist nicht nur ein Straftatbestand, sondern stellt auch eine eklatante Verletzung der Menschenrechte der Betroffenen dar. Dies kann auch dahingehend interpretiert werden, „dass Menschenhandel aufgrund seiner weltweiten Ausbreitung und seines systematischen Charakters unmittelbare Verpflichtungen des Staates als Adressaten von Menschenrechten auslöst“ (Follmar-Otto 2009: 30). Diese Verpflichtungen sind größtenteils in nationales Recht übertragen worden: So sind Staaten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass (potenziell) Betroffene identifiziert, informiert und gegebenenfalls geschützt werden. Hier sind es nicht zuletzt Sozialarbeiter*innen, die in Deutschland für die Identifikation sowie die psychosoziale Versorgung von identifizierten Betroffenen des Menschenhandels zuständig sind. Da die Verletzlichkeit durch Menschenhandel und andere Formen von Ausbeutung mit einem prekären Aufenthaltstitel steigt, geht es im Folgenden darum, Sozialarbeiter*innen, die mit Geflüchteten arbeiten, über das Phänomen Menschenhandel umfassend zu informieren, um die Identifikation und Betreuung von (potenziell) Betroffenen zu erleichtern.
Menschenhandel – Internationale Vorgaben Die erste international anerkannte Definition von Menschenhandel erfolgte im Rahmen des Zusatzprotokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels als Teil der UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität am 15. November 2000 und trat im Dezember 2003 in Kraft. In diesem sogenannten Palermo-Protokoll wird Menschenhandel in Artikel 3 definiert als: „[…] die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von
Menschenhandel und Flucht
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Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen“ (UN 2000: 64).
Nach dieser internationalen, konsensualen Definition kann von Menschenhandel ausgegangen werden, wenn mindestens eine der genannten Tathandlungen, mindestens ein Tatmittel und in jedem Fall das Ziel der Ausbeutung zusammenkommen. So ist beispielsweise die reine Beförderung oder Beherbergung eines Menschen natürlich nicht menschenhandelsrelevant1, wohl aber die Unterbringung oder Beherbergung durch das Tatmittel Betrug, Täuschung etc. zum Zwecke der Ausbeutung. Elemente des Tatbestands Menschenhandel (Dolinsek 2014 o. S.) Tathandlung die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen
Tatmittel Tatziel die Androhung oder Anwen= Ausbeutung dung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, Ausbeutung umfasst dabei durch Entführung, mindestens: Betrug, die Ausnutzung der ProstitutiTäuschung, on anderer oder andere Formen Missbrauch von Macht oder sexueller Ausbeutung, Ausnutzung besonderer HilfloZwangsarbeit oder Zwangssigkeit oder dienstbarkeit, durch Gewährung oder EntSklaverei oder sklavereiähnligegennahme von Zahlungen che Praktiken, oder Vorteilen zur Erlangung Leibeigenschaft oder des Einverständnisses einer die Entnahme von Organen; Person, die Gewalt über eine andere Person hat
Während der Fokus des Palermo-Protokolls stark auf der Strafverfolgung, nicht jedoch auf dem Schutz der Betroffenen (Opferschutz) liegt, gibt es Dokumente der UNO und der Europäischen Gemeinschaft, in denen auch Menschenrechte für von Menschenhandel Betroffene implizit oder explizit garantiert werden. Explizit befassen sich das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Frauenrechtskonvention, CEDAW), das 1. Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention zum Übereinkommen über 1 Sonst wäre es beispielsweise möglich, Fluggesellschaften oder Hotels zu kriminalisieren, wenn sie Betroffene von Menschenhandel befördert oder beherbergt hätten.
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die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie (Kinderrechtskonvention, CRC) sowie das ILO-Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte mit dem Phänomen des Menschenhandels bzw. mit den Rechten der Betroffenen von Menschenhandel.2 Da Menschenhandel mehrfach auch als eine Form von grausamer und/oder erniedrigender Behandlung deklariert worden ist, ist auch das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Antifolterkonvention CAT) von Bedeutung ebenso wie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt), der jede Form von Zwangsarbeit verbietet. Auch sind sowohl der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) als auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von Bedeutung, die beide Sklaverei verbieten. Eine Einordnung von Menschenhandel als eine Form von Sklaverei ist spätestens seit 2010 auch juristisch durch die Entscheidung Ranstsev gegen Zypern und Russland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 2010) bestätigt worden. So beinhaltet die EMRK, die 1953 formuliert wurde, keine Bestimmungen gegen Menschenhandel, wohl aber Artikel 4 gegen Sklaverei und Zwangsarbeit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat erstmals 2010 einen Fall von Menschenhandel unter Artikel 4 entschieden und damit deutlich gemacht, dass Menschenhandel auch juristisch als eine Form von Sklaverei gewertet werden kann. Seither hat es fortlaufend Entscheidungen des EGMRs zu Menschenhandel gegeben (siehe hierzu European Court of Human Rights 2017; Rabe 2017). Während der Fokus des Palermo-Protokolls deutlich auf der Strafverfolgung von Menschenhandel liegt, gelang es, auf europäischer Ebene 2005 mit dem Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels ein Übereinkommen zu verabschieden, das den Schutz und die Unterstützung von Betroffenen klar stärkte. EU-Mitgliedsstaaten sind zudem durch die Richtlinien 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten zur Umsetzung der dort beschriebenen Standards/Normen in nationales Recht verpflichtet.
2 Das Internationale Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer*innen und ihrer Familienangehörigen (Wanderarbeiterkonvention) zur Verbesserung der Rechtssituation und Unterstützung von Wanderarbeiter*innen ist im Jahr 2003 von der UNO verabschiedet worden, jedoch bislang von keinem westeuropäischen Staat unterzeichnet oder ratifiziert worden.
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Menschenhandel und Flucht
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Menschenhandel – Nationale Rechtsgrundlagen Als Folge der Ratifikation des Palermo-Protokolls musste Deutschland eine Neudefinierung von Menschenhandel auf nationaler Ebene vornehmen. Seit 2005 fällt Menschenhandel nunmehr unter den 18. Abschnitt des StGB und wird als Straftat gegen die persönliche Freiheit eines Menschen geahndet. Im Jahr 2016 wurde zudem das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU beschlossen, das umfangreiche rechtliche Veränderungen nach sich zog. Hierbei hat der Gesetzgeber eine Unterteilung in § 232 StGB Menschenhandel, § 232a StGB Zwangsprostitution und § 232b StGB Zwangsarbeit vorgenommen. Der Straftatbestand Ausbeutung der Arbeitskraft ist ferner in § 233 StGB festgehalten, wobei hier die Anwerbung mit dem Ziel, die Arbeitskraft auszubeuten, zur Erfüllung des Straftatbestandes ausreicht und dadurch von Menschenhandel abgegrenzt wird (KOK 2016b: 5ff.). Alle vier Paragrafen sprechen von „der Ausnutzung der persönlichen oder wirtschaftlichen Zwangslage oder einer Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist“, und erwähnen explizit „Personen unter einundzwanzig Jahren“ als besonders schutzbedürftige Gruppe. Es wird dadurch deutlich, dass neben Kindern und jungen Erwachsenen vor allen Dingen Migrant*innen, die einen prekären Aufenthaltsstatus haben und/oder wirtschaftlich arm sind und/oder sich in Deutschland noch nicht gut zurechtfinden, als besonders vulnerabel erachtet werden; diese Art der Vulnerabilität dürfte auch auf einen Großteil von neu angekommenen Geflüchteten zutreffen. Zur Definition von „besonderer Hilfslosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist“, wird auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zurückgegriffen, wonach das Tatmittel dann vorliegt, „wenn die betroffene Person aufgrund der spezifischen Schwierigkeiten des Auslandsaufenthalts nach ihren persönlichen Fähigkeiten nicht oder nur wesentlich eingeschränkt in der Lage ist, sich dem Verlangen nach der entsprechenden ausbeuterischen Betätigung zu widersetzen“ (BGH NstZ-FF 2007, 46-48); dabei spielen in der Praxis Deutschkenntnisse, Ausreisemöglichkeiten sowie das Maß der Abhängigkeit von und der Überwachung durch Täter*innen eine wesentliche Rolle (ebd.).
§ 232 StGB Menschenhandel Pönalisiert wird hier zum einen die Beförderung, Weitergabe, Beherbergung oder Aufnahme von Menschen, mit dem Ziel, sie bei der Ausübung von Prostitution oder anderen sexuellen Handlungen oder aber durch eine Beschäf-
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tigung, bei der Ausübung von Betteltätigkeiten oder strafbaren Handlungen3 auszubeuten. Zum anderen wird hier die Haltung einer Person in sklavereiähnlichen Verhältnissen oder eine rechtswidrige Organentnahme bestraft. Die Neuaufnahme von erzwungenem Betteln und strafbaren Handlungen ist eine praxisrelevante Änderung; beide Tätigkeiten gelten nicht als eine Form von Arbeit und waren damit nur schwer unter Arbeitsausbeutung zu subsumieren. Durch die Aufnahme in diesen Paragrafen wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass dies Tätigkeitsfelder sind, in denen es in der Vergangenheit zu menschenhandelsrelevanten Ausbeutungsverhältnissen gekommen ist (siehe Kuntz 2014; Küblbeck 2016). Von Ausbeutung wird in diesem Paragraf ausgegangen bei Arbeitsverhältnissen, „die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen solcher Arbeitnehmer stehen, welche der gleichen oder einer vergleichbaren Beschäftigung nachgehen“ (§ 232 StGB). Das Strafmaß wird deutlich höher angesetzt, wenn die Betroffenen minderjährig sind und/oder wenn mit Gewalt, List oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel vorgegangen wird.
§ 232a StGB Zwangsprostitution Die Terminologie „Zwangsprosituierte“ ist zunächst irreführend, weil sie unterstellt, dass hier nur diejenigen Personen erfasst sind, die zur Prostitution gezwungen wurden. Tatsächlich ist in diesem Paragrafen aber die Rede von „Aufnahme oder Fortsetzung von Prostitution oder anderer ausbeuterischer sexueller Handlungen“. Es kann sich hier also neben den zur Prostitution Gezwungenen auch um Betroffene handeln, die mit der Art der Tätigkeit einverstanden waren, diese aber unter ausbeuterischen oder betrügerischen Bedingungen ausüben mussten. Auch hier ist das Strafmaß deutlich höher angesetzt, wenn mit Gewalt, List oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel vorgegangen wird. Problematisch an diesem Paragrafen ist die Androhung einer Bestrafung von Prostitutionskunden, wenn sie Dienste von Betroffenen in Anspruch nehmen – was in der Praxis häufig nicht erkennbar ist. Zwar wird garantiert, dass eine Strafverfolgung nicht stattfindet, wenn der Freier eine Anzeige bei der Polizei erstattet, aber alleine die Androhung einer Bestrafung dürfte die Hemmschwelle von Prostitutionskunden senken, Unterstützung für potenzielle Betroffene von Menschenhandel zu organisieren. Zusätzlich zu diesem Paragrafen können auch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Bedeutung sein; z. B. § 179 StGB sexueller Missbrauch 3 Dies ist z. B. der Fall wenn jemand gezwungen wird gestohlene Kreditkarten einzusetzen, selbst zu stehlen oder mit illegalen Substanzen zu handeln.
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Menschenhandel und Flucht
widerstandsunfähiger Personen, § 180a StGB Ausbeutung der Prostitution oder § 181a StGB Zuhälterei.
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§ 232b StGB Zwangsarbeit Auch im §232b StGB ist die Rede von Ausnutzung einer persönlichen oder wirtschaftlichen Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, hier allerdings verknüpft mit der Aufnahme oder Fortsetzung einer ausbeuterischen Beschäftigung, Sklaverei, Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft. Explizit erwähnt ist auch hier die Ausbeutung von Betteltätigkeiten. Im internationalen Kontext wird davon ausgegangen, dass ausbeuterische Arbeit bzw. Zwangsarbeit in allen Branchen vorkommen kann, die keine formale Qualifikation benötigen und dirty, demeaning und/oder dangerous, also schmutzig, erniedrigend und/oder gefährlich sind. Bestätigte Fälle gibt es bislang im Rahmen von Haushaltsdienstleistungen (einschließlich Au-pair), in der Landwirtschaft, der fleischverarbeitenden Industrie, der Gastronomie, im Kontext von Produktionsarbeiten in sogenannten „Sweat Shops“, im Baugewerbe und im Bereich von Dienstleistungen im Transportwesen (Spedition). Hier werden die Betroffenen ebenfalls – wie bei der sexuellen Ausbeutung – über die Arbeits- und/Lebensbedingungen getäuscht, es werden Verdienste nicht oder nur in geringem Maß ausbezahlt und weitere, zum Teil absurde Kosten für Anreise oder Vermittlung in Rechnung gestellt.
§ 233 StGB Ausbeutung der Arbeitskraft Dieser Paragraf ist explizit dafür geeignet, Ausbeutungsverhältnisse jenseits der Prostitution aufzufangen, die keine Form von Menschenhandel oder Zwangsarbeit darstellen, d. h. Fälle, in denen „nur“ eine Ausbeutung stattfindet, ohne dass Merkmale von Zwang, Sklaverei etc. erkennbar oder nachweisbar sind. Dies ist z. B. dann gegeben, wenn ein Arbeitgeber Stundenlöhne von 1 Euro und 1,79 Euro zahlt, wie in einem Fall, einer Reinigungsfirma, die auf Autobahnraststätten tätig war (OLG Naumburg, Beschluss vom 1.12.2010 Aktenzeichen 2 Ss 141/10)4. Ausbeutungsverhältnisse in der Prostitution, die nicht menschenhandelsrelevant sind, werden in § 181a StGB erfasst. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Menschenhandel vorliegt, wenn eine Person unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die sich daraus ergibt, dass sie sich in einem fremden Land befindet, unter Beeinflussung, Zwang oder mittels Täuschung von dritten Personen zur Auf4 Für eine ausführliche Darstellung des Falls siehe Rechtsprechungsdatenbank des KOK: https:// www.kok-gegen-menschenhandel.de/rechtsprechungsdatenbank/ [Zugriff: 05.07.2017].
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nahme ausbeuterischer oder sklavereiähnlicher Beschäftigung oder Handlungen veranlasst wird. Die Ausbeutung kann verschiedene Formen annehmen, z. B. die Ausbeutung sexueller Handlungen, der Arbeitskraft sowie von Betteltätigkeit, durch das Veranlassen und Ausbeuten von strafbaren Handlungen oder auch durch die unrechtmäßige Entnahme von Organen.
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Menschenhandel und Flucht bzw. Migration Zwischen Menschenhandel und Migration besteht ein enger Zusammenhang, was aber nicht bedeutet, dass jede*r Betroffene von Menschenhandel Migrant*in ist. Vielmehr sind Menschen aufgrund eines prekären Aufenthaltstitels in einer vermehrt verletzlichen Situation, weil sie durch die Prekarität erpressbar sind und/oder wenig Zugang zu Informationen haben. Das UNHCR und andere internationale Agenturen gehen außerdem davon aus, dass besonders Geflüchtete sehr vulnerabel für Menschenhandel sind und häufig bereits in ihrem Herkunftsland mit dem Ziel der Ausbeutung angeworben werden. Dies wird u. a. folgendermaßen begründet: „They often have little resources to provide for their needs and are vulnerable to opportunities offered to them by traffickers. Many have lost their traditional family and community support networks which could potentially protect them from traffickers […]. There is a greater risk of persons of concern to UNHCR falling victim to traffickers as they often use illegal routes without appropriate safeguards in attempting to reach countries of asylum“ (Riiskjær/Gallagher 2008: 6ff.).
Gesicherte Aussagen über Aufkommen von Menschenhandel im Kontext von Flucht gibt es bislang zumindest für Deutschland nicht. Der KOK – der bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel – hat zwar von seinen Mitgliedsorganisationen erfahren, dass es einen Anstieg von Beratungsanfragen bei Betroffenen von Menschenhandel im Jahre 2016 gab; interessant ist aber, dass die Herkunftsländer der Betroffenen nicht mit den fluchtrelevanten Herkunftsländern übereinstimmen (KOK 2016a: 11). Vorstellbar wäre hier, dass die Vulnerabilität für Menschenhandel sinkt, wenn der Asylschutz gewährt wird; dies würde zumindest erklären, warum beispielsweise kaum syrische Menschen in Beratungsstellen für Betroffene von Menschenhandel anzutreffen sind. Denkbar wäre auch, dass Menschenhändler*innen dieselben Routen verwendet haben wie Geflüchtete; so wäre zumindest der Anstieg von Beratungsaufkommen im Jahr 2016 nachvollziehbar.
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Menschenhandel = Schleusung? Häufig wird nicht genau unterschieden zwischen Menschenhandel und Menschenschmuggel bzw. „Schleusung“; diese Trennung ist aber wesentlich. Schleusung wird in Deutschland definiert im § 96 des Aufenthaltsgesetzes, während menschenhandelsrelevante Taten in § 232ff. StGB definiert werden. So ist Menschenhandel ein Verbrechen gegen die persönliche Freiheit eines Menschen, während Menschenschmuggel – je nach Sichtweise – ein Angriff auf die Souveränität eines Staates bzw. dessen Nationalgrenzen darstellt. Im Falle von Menschenhandel werden Menschen, manchmal über mehrere Jahre hinweg, ausgebeutet, während im Falle von Menschenschmuggel Menschen eine absurde Summe Geld für eine verbotene Dienstleistung zahlen, aber nach der vollbrachten Leistung im Zielland frei sind und keinem Ausbeutungsverhältnis unterworfen werden. So können sich Menschen natürlich freiwillig und selbstbestimmt dazu entscheiden, ein Land mithilfe von „Menschenschmuggler*innen“ oder Fluchthelfer*innen zu verlassen und hierfür auch eine hohe Summe zahlen. Sie können aber per Definition niemals damit einverstanden sein, sich in eine Menschenhandelssituation zu begeben (vgl. United Nations 2014: 3f.). Praktisch heißt dies, dass ein ursprüngliches Einverständnis, ohne die nötigen Dokumente in ein Land einzureisen (siehe hierzu auch EGMR 2013: C. N. vs. UK5), niemals als ein Einverständnis zur Menschenhandelsviktimisierung gewertet werden kann; nicht zuletzt deshalb ist die Trennung der beiden Phänomene wesentlich. Wann aber handelt es sich nun um Menschenhandel? Die nachstehenden Fallbeispiele sowie die Indikatorenliste sollen Praktiker*innen im Feld ermöglichen, sich zum einen Einblick in mögliche Praxisvorkommen und zum anderen einen Überblick zu konkreten Indikatoren zu verschaffen.
5 In diesem Fall reiste C. N. wissentlich mit gefälschten Papieren nach Großbritannien ein, wo sie Opfer von Menschenhandel wurde. Der Staat hatte u. a. deshalb nicht wegen Menschenhandel ermittelt.
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Fallbeispiele für Menschenhandel und Ausbeutung im Kontext von Flucht
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Fall Herr A. Herr A., 22 Jahre alt, kam vor einem Jahr nach Deutschland. Er beantragte Asyl und findet in einer Gemeinschaftsunterkunft in Hessen Aufnahme. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, weil er aus einem Staat kommt, der als sicherer Herkunftsstaat eingestuft worden ist. Die Ablehnung seines Asylantrages ist in der Unterkunft bekannt. Einige seiner Mitbewohner*innen – deren Anträge ebenfalls abgelehnt wurden – wurden abgeschoben. Herr A. hat Angst, dass ihm dasselbe passiert; auch will er unbedingt arbeiten. Er spricht hierüber mit einigen Bewohner*innen, aber auch mit Mitarbeitenden in der Unterkunft. Ein in einem Subunternehmen tätiger Mitarbeiter der Unterkunft bietet ihm – und anderen – ebenfalls von der Abschiebung bedrohten Bewohner*innen – eine Arbeit an. Die Rede ist von täglichen 12-Stunden-Schichten (7 Tage die Woche) mit einem Stundenlohn in Höhe von 5 €. Da die angeworbenen Personen keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis haben, besorgt der Chef ihnen Papiere mit anderen Namen für je 850 €, die sie von ihrem späteren Lohn abbezahlen sollen. Es werden Arbeitsverträge unter diesen Namen abgeschlossen. In den Verträgen steht eine deutlich geringere Arbeitszeit, die angeblich zum Mindestlohn (8,50 €) entlohnt wird. Alle Arbeitnehmer*innen werden bei der Krankenkasse angemeldet und erhalten auch eine Krankenkassenkarte. Den Arbeitnehmer*innen wird erklärt, dass sie eigentlich 8,50 €/Std. verdienen, aber dass der Arbeitgeber 3,50 €/Std. für die Krankenkassenbeiträge einbehalten muss. Herr A. kann sofort in eine Wohnung umziehen, in der acht Kollegen wohnen. Sie teilen sich eine Zweizimmerwohnung, deren Miete 1000 €/Monat beträgt. Die Kollegen wohnen und arbeiten alternierend, d. h. es sind immer vier Kollegen in der Wohnung, während zeitgleich die anderen vier arbeiten. Für die Anmeldung in der Wohnung müssen die Arbeitnehmer*innen je 150 € zahlen. Herr A. zahlt diese Summe einmalig; manche Kollegen müssen sie monatlich bezahlen. Herr A. arbeitet schließlich einige Monate unter diesen Bedingungen. Mal hat er Nachtschicht, mal Tagschicht. Wenn er krank ist, muss er sich um einen Ersatz kümmern und verdient dann kein Geld. Der Lohn wird am Ende der Schicht bar ausgezahlt. Wenn die Arbeitnehmer*innen eine Pause machen, reduziert sich der Lohn auf 55 €/Schicht. Im Falle von Herrn A. wurde das Geld unmittelbar nach der Schicht ausbezahlt; einige seiner Kollegen haben über Monate auf ihren Lohn gewartet. Anfangs macht Herr A. die Arbeit sehr gerne; er hat das Gefühl, endlich anerkannt zu sein und zeigen zu können, was er kann. Sehr bald wird er auch als Vorarbeiter eingesetzt – allerdings zu denselben finanziellen Bedingungen. Je länger er arbeitet,
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desto mehr bekommt er Angst vor einer Kontrolle. Denn der Chef macht deutlich, dass – falls es eine Kontrolle gäbe – die Arbeitnehmer*innen Problem bekämen, weil sie falsche Papiere hätten. Die Beteiligung des Chefs an der falschen Dokumentation ließe sich seiner Meinung nach nicht nachweisen. Auch wird A. immer deutlicher, dass diese Arbeit ihn zwar kurzfristig finanziert, ihm aber keine längerfristige Perspektive eröffnet. Zudem ist er nach einigen Monaten sehr erschöpft. Da der Arbeitgeber auch die echten Identitäten der Arbeitnehmer*innen kennt, ist Herrn A. viel daran gelegen, die Situation einvernehmlich zu beenden, was ihm auch gelingt. Er kündigt und kann problemlos aus dem „Vertrag“ aussteigen und reist „freiwillig“ aus.
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Menschenhandel und Flucht
Frau B. Frau B., 28 Jahre alt, kommt mit Papieren einer bereits in Deutschland lebenden Bekannten nach Deutschland. Sie möchte hier arbeiten und damit sich und ihre Tochter im Herkunftsland finanzieren. In Deutschland angekommen, vermittelt diese „Freundin“ sie an einen Witwer, der alleine für seine Kinder verantwortlich ist. In diesem Haushalt soll Frau B. leben und arbeiten. Es gibt keine Absprachen über Arbeitszeiten, Aufgaben, Lohn etc. Sie hat keinen Wohnungsschlüssel und verlässt die Wohnung so gut wie nie. Auch weiß sie nicht, wo diese sich befindet. Faktisch arbeitet Frau B. rund um die Uhr in diesem Haushalt und hat nie frei. Sowohl der Witwer als auch die „Freundin“ raten ihr, nicht rauszugehen, da sie keine Papiere in Deutschland hat und als Schwarze Frau sicher auffallen und damit ins Visier der Polizei kommen würde. Sie arbeitet über ein Jahr in diesem Haushalt, bekommt hierfür kein Geld; stattdessen wird ihr gesagt, dass ihr Arbeitgeber der Freundin das Geld zur Tilgung der Einreisekosten von Frau B. gibt. Nach einer Weile wird Frau B. schwanger von dem Witwer. Als die Schwangerschaft sehr fortgeschritten ist, bringt die „Freundin“ Frau B. zur der Behörde, wo sie Asyl beantragen kann. Da schon bei der ersten Befragung durch die Behörde der Verdacht auf Menschenhandel entsteht und Frau B. hochschwanger ist, wird sie an eine Fachberatungsstelle für Betroffene von Menschenhandel vermittelt. Zwar macht sie eine Anzeige bei der Polizei, aber ihre Angaben reichen nicht aus um Täter*innen festzunehmen.
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Das Mädchen C.
Sie fliegt mit einem Direktflug in eine deutsche Stadt und wird instruiert, am Flughafen „Asyl“ zu sagen. C. weiß nicht, was das heißt. Da sie aber keine andere Alternative hat, sagt sie „Asyl“ und wird in eine Ersteinrichtung für minderjährige Geflüchtete gebracht. Am nächsten Morgen kommen Männer, die ihren „Arbeitgeber“ kennen, und nehmen sie mit in eine Wohnung, von wo aus sie an Freier vermittelt wird. Nach 1,5 Jahren kann sie mit der Hilfe eines Freiers – bei dem sie häufiger ist – der Situation entkommen und wird über die Polizei an eine Fachberatungsstelle verwiesen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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C. ist 14 Jahre alt und wurde bereits im Herkunftsland gezwungen, in der Prostitution zu arbeiten. Nach einiger Zeit beschließt der „Arbeitgeber“, sie nach Deutschland zu schicken. C. vermutet später, dass er hierfür sehr viel Geld erhalten hat. Ihr wird gesagt, dass es ihr in Deutschland deutlich besser gehen wird.
Frau Z. gegen die Niederlande (United Nations 2008) Frau Z. wurde in China geboren, wo sie als Waisenkind auf der Straße lebte und zur Prostitution gezwungen wurde. Schließlich wurde sie in die Niederlande gebracht, wo sie der Prostitution nachgehen soll. Vor dieser Situation konnte sie fliehen, kam aber zu einer Frau, die sie – trotz Schwangerschaft – zwang, extrem harte Hausarbeit zu verrichten. Im Jahr 2003 beantragte Frau Z. in den Niederlanden Asyl. Bei einer Anhörung gab sie an, Opfer von Menschenhandel in China und in den Niederlanden geworden zu sein. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, weil sie weder Angaben zu ihrer Einreise machen noch ihre Dokumente präsentieren konnte; vor allem wurde ihr Antrag abgelehnt, weil zwischen Einreise und Antragstellung acht Monate vergangen waren. Eine Gefahr bei der Rückkehr nach China wurde von den niederländischen Gerichten verneint. Frau Z. wandte sich an den CEDAW-Ausschuss der Vereinten Nationen mit der Argumentation, dass sie als Opfer von Menschenhandel vonseiten des Staates nicht auf Schutzmöglichkeiten hingewiesen worden sei, obwohl sie beim Kontakt mit Behörden ausgesagt hatte, dass sie Opfer von Menschenhandel sei. Sie wurde im Rahmen ihres langjährigen Asylverfahrens zu keiner Zeit von den Behörden darauf aufmerksam gemacht, dass sie, wenn sie als Opfer von Menschenhandel gegen die Täter*innen aussagen würde, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten könnte. Leider scheiterte diese Beschwerde an der Zulässigkeit, weil der innerstaatliche Weg nicht ausgeschöpft worden war. Die möglichen formalen Versäumnisse in diesem Fall erklärten Mitglieder des Ausschusses mit der extrem vulnerablen Situation von Frau Z., als junge, traumatisierte Betroffene des Menschenhandels mit sehr wenig Bildung (United Nations 2008: 8).
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Menschenhandel und Flucht
So unterschiedlich diese Fälle auch sein mögen, sie verdeutlichen, dass in allen vier Fällen die ausbeuterische Situation nicht so leicht auf den ersten Blick zu erkennen war. Im Fall von Herr A. kann sein „Verschwinden“ aus der Unterkunft ebenso als ein Untertauchen wahrgenommen werden. Auch die Tatsache, dass er und andere in der Unterkunft für ein ausbeuterisches Verhältnis angeworben wurden, ist offensichtlich unbemerkt geschehen. Im Fall von Frau B. – die aus einem Land mit einer sehr niedrigen Asylanerkennungsquote stammt – ist es dem sensibilisierten Blick der Mitarbeiterin der Behörde und dem Gesamteindruck (hochschwanger, sehr erschöpft und durcheinander wirkend) zu verdanken, dass ein Erstverdacht entstand. Der Fall des Mädchens C. kann auch als ein Fall gesehen werden, in dem eine Jugendliche einfach nur der Erstunterbringung entkommen will; auch ist es nicht möglich, zu erkennen, dass der „Besucher“ Teil einer Menschen- bzw. Kinderhandelskette ist. Im Fall Frau Z. gegen die Niederlande hingegen wird das Versagen der staatlichen Behörden sehr deutlich. In allen Fällen wäre eine Sensibilisierung zum Thema Menschenhandel keine Garantie für einen opferzentrierten Umgang, aber sie machen deutlich, dass das Erkennen von Menschenhandel viel Wissen und Sensibilisierung voraussetzt.
Indikatoren für Menschenhandel Um das Erkennen von Menschenhandel zu erleichtern, gibt es viele sogenannte Indikatorenlisten, die eine Identifikation von (potenziell) Betroffenen von Menschenhandel erleichtern sollen. Die von der International Labour Organisation (ILO) erstellte Indikatorenliste (ILO 2009) ist die differenzierteste, weil sie zwischen starken, mittleren und schwachen Indikatoren unterscheidet und davon ausgeht, dass Menschenhandel vorliegt, wenn mindestens zwei starke oder ein starker und ein mittlerer Indikator oder drei mittlere Indikatoren oder aber zwei mittlere und ein schwacher Indikator zutreffen. Zu den starken Indikatoren zählt die ILO u. a.: • Betrug über Art der Tätigkeit oder/und über Arbeitgeber*innen; • Gewaltausübung; • exzessiv lange Arbeitszeiten; • Schuldknechtschaft6. 6 Im Entwurf der Gesetzgebung zu Menschenhandel von 2005 wurde davon ausgegangen, dass Schuldknechtschaft als ein „Abhängigkeitsverhältnis verstanden werden kann, bei dem der Gläubiger die Arbeitskraft eines Schuldners über Jahre mit dem Ziel ausbeutet, tatsächlich bestehende oder vermeintliche Schulden abzutragen“ (Bundestag Drucksache 15/3045, 2004). In der Praxis heißt dies, dass beispielsweise Frauen aus Osteuropa Summen um 3500 € für die
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Zu den mittleren Indikatoren zählt die ILO u. a.: • Betrug über den Aufenthaltsstatus; • Beschlagnahme von Dokumenten; • Zwangsheirat; • Isolierung; • Drohungen z. B. mit der Denunziation vor der Ausländerbehörde; • Keine Einhaltung von Arbeitsschutzmaßnahmen; • Betrug über Arbeits- und/oder Lebensbedingungen; in der Praxis der Prostitution heißt dies etwa, dass Frauen keine Kunden oder Sexualpraktiken ablehnen durften, nicht das Recht hatten, auf Kondome zu bestehen, und/ oder sexuelle Wünsche der Täter und ihrer Freunde (ungewollt und unentgeltlich) erfüllen mussten; • geringer bis kein Verdienst.7 Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Zu den schwachen Indikatoren zählt die ILO u. a.: • Verletzung von kulturellen/religiösen Empfindungen; • Drohung der Offenlegung vor der Familie. Zusätzliche Indikatoren im Rahmen von Asylverfahren: Eine Untersuchung von IOM/UNHCR und BAMF weist darauf hin, dass es bei einem erheblichen Teil der Betroffenen von Menschenhandel, die Asyl beantragten, zu Zeitverzögerungen zwischen Einreise und Asylantragstellung kam. Zusätzlich fiel auf, dass vielfach Voraufenthalte in anderen Mitgliedsstaaten der EU vorgetragen und nachgewiesen wurden; ebenso war zu beobachten, dass auffallend viele Antragstellerinnen schwanger waren oder Kinder im Kleinkindalter hatten (vgl. IOM/UNHCR/BAMF 2012: 34). Auch hier gilt, dass nicht einzelne dieser Faktoren als Indikatoren für Menschenhandel gewertet werden können, sondern diese zu den oben benannten hinzukommen und das gleichzeitige Auftreten mehrerer Faktoren ein Hinweis darauf sein könnte, dass dies einen Fall von Menschenhandel ist.
Reise „abarbeiten“ müssen, während thailändische Frauen Beträge von 15.000 €–35.000 € und afrikanische Frauen Summen bis 50.000 € „abgearbeitet“ haben. Nicht nur für die Einreise, auch für Kost, Logis etc. werden unverhältnismäßig hohe Kosten verlangt. Die Höhe der Summen macht deutlich, dass diese den realen Kosten einer Einreise nicht im Geringsten entsprechen. Die Rückzahlungsmodalitäten sind in der Regel einseitig bestimmt und von den Betroffenen nicht verhandelbar. 7 In der Praxis heißt dies, dass der tatsächliche Verdienst von Betroffenen von Menschenhandel – sofern überhaupt vorhanden – in einem absoluten Missverhältnis zu ihren Einnahmen steht. Hinsichtlich der Einnahmeverteilung ist beispielsweise für die Berliner Polizei ein wichtiges Indiz für Menschenhandel, wenn mehr als 50 Prozent des Prostitutionserlöses abgegeben werden müssen. In der Praxis sind Fälle bekannt, wo Frauen bis zum „Abarbeiten“ ihrer Schulden gar kein Geld erhalten haben; manche konnten bis zu 15 Prozent behalten.
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Menschenhandel und Flucht
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Unterstützung für von Menschenhandel Betroffene in Fachberatungsstellen In Deutschland gibt es in fast allen Städten (zumindest aber in allen Bundesländern) Fachberatungsstellen für von Menschenhandel Betroffene und Unterkünfte und Beratungsstellen für Geflüchtete. Diese arbeiten bislang jeweils in ihren Feldern mit sehr wenig Vernetzung mit der jeweils anderen Seite. Dies ist bedauerlich, weil so weder eine Überlappung der Fälle erkennbar wird noch Synergien in der Unterstützung von (potenziell) Betroffenen entstehen können. Um die Zusammenarbeit in Zukunft zu erleichtern, soll hier ein Überblick über die Aufgaben und Unterstützungsmöglichkeiten der Fachberatungsstellen gegen Menschenhandel gegeben werden, nicht zuletzt, um Sozialarbeitende, die mit Geflüchteten arbeiten, anzuregen, betroffene Geflüchtete von Menschenhandel an professionelle Stellen weiterzuvermitteln. Neben der psychosozialen Beratung und Betreuung umfasst das Beratungsangebot eine breite Palette an möglichen Unterstützungsmaßnahmen. Im Zusammenhang mit der Aufdeckung von Menschenhandel kommt erschwerend hinzu, dass dieser in den seltensten Fällen wegen einer Strafanzeige der Betroffenen aufgedeckt wird. Die Betroffenen haben – z. B. aufgrund ihrer Illegalisierung, dem Druck der Täter*innen und/oder ihrer psychischen Situation – faktisch selten die Möglichkeit, sich aus ihrer Situation zu lösen und die Straftaten aktiv anzuzeigen; auch ist ihr Zugang zu Informationen eher limitiert. Vielmehr wird Menschenhandel oft durch Kontrollen von Behörden aufgedeckt; allerdings ist hier die Gesprächsbereitschaft der Betroffenen häufig eher gering, weil sie z. B. eine Verfolgung ihrer aufenthaltsrechtlichen Verstöße befürchten. Menschenhandelsfälle, die über das soziale Umfeld der Betroffenen aufgedeckt werden, scheinen eher dafür geeignet zu sein, dass sich Betroffene offenbaren. Der Kontakt zwischen Betroffenen und den Fachberatungsstellen wird in diesen Fällen über Mitarbeiter*innen von Behörden (Polizeidienststellen, Landeskriminalämter, Ausländerbehörden, Staatsanwaltschaften, Bundespolizei, Zoll, Jugendämtern, Botschaften, Haftanstalten usw.), von Beratungsstellen, Frauenhäusern, Unterkünften für Geflüchtete sowie sozialen Einrichtungen hergestellt, aber auch über Angehörige anderer Berufsgruppen (Ärzt*innen, Hebammen, Rechtsanwält*innen usw.) und Privatpersonen (Angehörige, Freund*innen, Nachbar*innen, Freier, Passant*innen usw.). Manche Beratungsstellen beteiligen sich auch an Tätigkeiten, die (potenziell) Betroffene informieren oder aber ihnen die Möglichkeiten des Ausstiegs8 näherbringen sollen. Dies geschieht durch aufsuchende Arbeit in Abschiebe8 Zumindest die nicht-konfessionellen Beratungsstellen legen Wert darauf, hinzuweisen, dass es hier um den Ausstieg aus einer Menschenhandelssituation geht und nicht per se aus der Prostitution.
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haftanstalten, Streetwork oder auch Kampagnen zur Sensibilisierung von Betroffenen oder deren Umfeld. Einzelne Fachberatungsstellen kooperieren bereits mit Unterkünften für Asylsuchende, in dem sie Sprechstunden vor Ort anbieten und/oder Material zur Verfügung stellen. Zu überlegen wäre, ob eine flächendeckende Ergänzung des Angebots nicht sinnvoll wäre. Ebenso müsste über eine Erweiterung des Angebots für junge9 und erwachsene Männer nachgedacht werden. In der Praxis ist es häufig nicht sehr einfach, einzuschätzen, ob eine Form von Menschenhandel vorliegt oder nicht; dies ist aber sehr relevant für den weiteren (aufenthaltsrechtlichen) Verbleib der Betroffenen. Sollte ein*e Betroffene*r eine Anzeige erwägen, empfiehlt es sich dringend, sowohl eine rechtliche Beratung von einer*m fachkundigen Anwält*in in Anspruch zu nehmen als auch mit einer Fachberatungsstelle in Kontakt zu treten. Fast alle Beratungsstellen haben entweder Kooperationsverträge oder andere institutionalisierte Kooperationsformen mit den Strafverfolgungsbehörden, die einen möglichst reibungslosen und opferzentrierten Umgang mit einem „Fall“ garantieren sollen. Diese Kontakte können auch im Vorfeld einer Anzeige zur Klarheit beitragen. Ziel des Erstkontaktes ist es, den persönlichen Beratungskontakt zur betroffenen Person direkt herzustellen und Informationen zur Situation der Person zusammenzutragen, um entweder eine erste Beratung oder eine Krisenintervention vorbereiten zu können. Sowohl die Krisenintervention als auch die weitere Beratung finden in der Regel in der Erstsprache statt oder werden übersetzt. Der Bedarf an Krisenintervention durch die Fachberatungsstelle entsteht häufig am Anfang eines Beratungsprozesses, kann aber auch im Verlauf (wiederholt) auftreten. Vor allem zu Beginn, insbesondere dann, wenn die betroffene Person die Gewaltsituation gerade erst verlassen hat, benötigt diese aufgrund des Erlebten eine erste Stabilisierung und Orientierung. Zusätzlich können Betroffene durch Wohnungs- und Mittellosigkeit sowie durch einen prekären Aufenthaltsstatus belastet sein. Ziel der Krisenintervention ist die zeitnahe Stabilisierung der Person, um eine Zuspitzung der krisenhaften Situation zu verhindern. Auslöser für Krisen können u. a. sein: • •
unvermittelt auftretende Gefährdungssituation (Bedrohung oder physische Gewalt durch Täter*innen, Begegnung mit Täter*innen); psychische Belastungsmomente (Zukunftsängste, drohende Abschiebung, anlassbezogene Sorge um Angehörige, durch Traumatisierung auftretende
9 Gerade in Großstädten wie Berlin gibt es Hinweise darauf, dass sich junge geflüchtete Männer vermehrt prostituieren; über die Umstände dieser Ausübung ist bislang wenig bekannt (siehe hierzu z. B. Bachner 2017).
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Flashbacks, Retraumatisierung u. a. aufgrund von Zeug*innenvernehmungen, Suizidalität); lebenspraktische Probleme und Konflikte (z. B. am Unterbringungsort, ungewollte Schwangerschaft); suchtbedingte Problemlagen.
Im Rahmen des weiteren Beratungsprozesses, der über einen kurzen oder längeren Zeitraum andauern kann, treffen die Sozialarbeiter*innen der Fachberatungsstellen stabilisierende Maßnahmen und setzen sich für den Schutz sowie die Einhaltung der Rechte von Betroffenen ein. Neben den stabilisierenden Maßnahmen unterstützen Sozialarbeiter*innen die betroffenen Personen im Verlauf des Beratungsprozesses auch bei der Klärung ihrer rechtlichen Situation, vermitteln Rechtsberatung und begleiten die Personen während des Verfahrens, wenn ein solches eingeleitet wird (vgl. KOK 2014: 44f.). Da die meisten Betroffenen zu Beratungsbeginn in den seltensten Fällen über einen geschützten Wohnraum oder ein soziales Netzwerk verfügen, hat die Unterbringung zunächst Priorität. Für Betroffene, die keinen Aufenthaltstitel haben und ambivalent bezüglich der Stellung einer Strafanzeige stehen, wird mit Behörden über die Erteilung der sog. Bedenkfrist10 verhandelt. In der Regel sind Betroffene von Menschenhandel mittellos, wenn sie die Ausbeutungssituation verlassen. Die Fachberatungsstellen stellen deshalb durch eine Erstversorgung sicher, dass die Personen mit dem Notwendigsten versorgt werden. Wesentlich ist hierbei der Zugang zu Hygieneartikeln sowie zu Lebensmitteln. Als nächstes wird die*der Sozialarbeiter*in die betroffene Person darin unterstützen, einen Antrag auf Sozial- oder Asylbewerberleistungen zu stellen, um die Grundsicherung zu gewährleisten. Betroffene von Menschenhandel haben ein Recht auf Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts. Bei der Alimentierung wird zwischen der Gruppe der Betroffenen aus Drittstaaten und aus den Unionsländern differenziert. Betroffene von Menschenhandel aus Drittstaaten erhalten in der Regel Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wenn sie mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren. In dieser Zeit unterliegen sie dem Asylbewerberleistungsgesetz11 auch was ihre gesundheitliche Versorgung angeht, was gerade in Hinblick auf ihre psychische Gesundheit sehr problematisch ist; therapeutische Behandlungen werden nur im Ausnahmefall finanziert. In manchen Fachberatungsstellen 10 Wenn die Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass eine Person von Menschenhandel betroffen ist, so ist es ihr möglich, eine Ausreisefrist von mindestens drei Monaten zu erteilen; Grundlage hierfür ist § 59 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz. Diese Bedenkfrist soll Betroffenen die Möglichkeit eröffnen, eine informierte Entscheidung über die nächsten Schritte zu treffen. 11 Siehe hierzu den Beitrag von Pelzer in dieser Publikation.
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sind deshalb Mitarbeiter*innen mit speziellen Weiterbildungen zum Umgang mit traumatisierten Betroffenen tätig. (Potenziell) Betroffene von Menschenhandel, die sich im Asylverfahren befinden, haben in der Regel sowohl eine Unterbringung, einen Aufenthaltstitel als auch eine Finanzierung ihres Lebensunterhalts. Der Verbleib in einer Gemeinschaftsunterkunft ist allerdings sowohl, was die Ausstattung betrifft, als auch, was das Gefährdungspotenzial angeht, für diese Gruppe mehr als ungeeignet. Da Betroffene von Menschenhandel gemäß der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU als besonders schutzbedürftig gelten, müssten Kommunen entsprechende Einrichtungen zur Verfügung stellen. Sollte eine solche Einrichtung nicht zur Verfügung stehen, kann eine Unterbringung im Rahmen von Unterbringungsmöglichkeiten für Betroffene von Menschenhandel angestrebt werden. Sollte die Residenzpflicht hierbei ein Hindernis darstellen, so ist es möglich, einen Antrag mit entsprechender Begründung zur Umverteilung zu stellen.12 Wesentlich ist hierbei, dass es sich um eine Unterbringung handelt, in der die Betroffenen nicht dem Risiko ausgesetzt werden, von den Täter*innen gefunden zu werden. Eigene Schutzwohnungen für Betroffene von Menschenhandel sind dafür am besten geeignet, stehen aber nicht allen Fachberatungsstellen zur Verfügung, weshalb es in der Praxis oft zu einer Unterbringung in Frauenhäusern kommt. Was die Unterbringung von Männern angeht, so gibt es hierfür je nach Bundesland verschiedene Modelle (Czarnecki 2017).
Ausblick und Fazit: Plädoyer für eine koordinierte Kooperation Sowohl im Bereich der Unterstützung von Betroffenen von Menschenhandel als auch in der Versorgung von Geflüchteten gibt es eine lange Tradition der professionellen Sozialen Arbeit, die sich immer mehr spezialisiert und so immer besser auf die Bedürfnisse ihrer jeweiligen Adressat*innen eingehen kann. Leider sind diese Bereiche aber kaum miteinander vernetzt bzw. verfügen häufig nicht über ausreichendes Wissen aus dem jeweiligen anderen Bereich. Eine koordinierte Vernetzung bzw. ein Verfahren zur systematischen Identifizierung von Betroffenen von Menschenhandel würde nicht nur (potenziell) Betroffenen zugutekommen, sie könnte Synergien erzeugen und damit einzelne Mitarbeiter*innen längerfristig entlasten. Sie könnte auch Kräfte bündeln und damit politische Lobbyarbeit stärken wie z. B. gegen das sogenannte Asylpaket II. Denn so stellen die da beschlossenen „Schnellverfahren“ zwar ein großes Problem für alle dar, für Betroffene von Menschenhandel heißt dies aber fak12 Siehe hierzu den Beitrag von Rabe in dieser Publikation.
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tisch, dass keine Zeit bleibt, um sie zu identifizieren, geschweige denn, sie zu animieren, sich zu offenbaren (siehe auch KOK 2016a: 12). Natürlich ist sowohl Vernetzung als auch die Entwicklung und Umsetzung eines systematischen Identifizierungsverfahrens ressourcenintensiv; zu überlegen wäre, ob nicht ein Appell an staatliche Geldgeber an die Erinnerung der staatlichen Verpflichtungen gegenüber Betroffenen von Menschenhandel geknüpft werden könnte. Eine dieser Verpflichtungen ist die Informationspflicht gegenüber den Betroffenen, auf die Rabe/Tanis im Rahmen der Konvention des Europarates Nr. 197 hinweisen,
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Menschenhandel und Flucht
„die die Durchsetzung der Rechte von Betroffenen und die Strafverfolgung der Täterinnen und Täter als gleichgewichtige Schwerpunkte formuliert und Staaten unter anderem dazu verpflichtet die Betroffenen konsequent zu identifizieren, zu informieren, zu unterstützen und zu entschädigen. Die Konvention ist am 1. April 2013 für Deutschland in Kraft getreten. Die Bundesregierung ist damit verpflichtet, Bundes- und Landesrecht in Einklang mit den Vorgaben der Konvention zu bringen“ (Rabe/Tanis 2013: 15).
Die Konsequenzen einer Verletzung staatlicher Verpflichtungen werden u. a. in dem Fall Rantsev gegen Zypern und Russland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 2010) deutlich. Hier wurde dem Staat Zypern erfolgreich vorgeworfen, dass seine Behörden Frau Rantsev nicht unterstützt und sie nicht auf ihre Rechte hingewiesen haben, obwohl sie aller Wahrscheinlichkeit nach eine Betroffene von Menschenhandel war. Durch dieses Versäumnis sieht das EGMR eine Mitverantwortung an dem Tod von Frau Rantsev. Der zypriotische Staat musste daraufhin eine beachtliche Summe als Entschädigung an Herrn Rantsev – den Vater der Verstorbenen – bezahlen und strukturelle Änderungen vornehmen, um solchen Fällen künftig vorzubeugen (vgl. Prasad 2010). Dass menschenrechtliche Verpflichtungen nicht nur in internationalen Gerichtshöfen bindend sind, macht ein Urteil in der Schweiz aus dem Jahr 2016 deutlich. Hier ging es um eine Nigerianerin deren Asylantrag abgelehnt wurde. Sie hatte (erst im Verlauf des Asylerfahrens) offenbart, dass sie Betroffene von Menschenhandel war; das zuständige Amt ging diesen Hinweisen aber nicht nach. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass das Amt durch diese Unterlassung den Anspruch der Frau auf rechtliches Gehör mehrfach verletzt hat, indem es den Untersuchungsgrundsatz sowie die diversen völkerrechtlichen Verpflichtungen missachtet hat (vgl. Hürlimann 2016: o. S.). Die argumentative Nutzung solcher Fälle kann die eigene Position gegenüber staatlichen Geldgebern deutlich stärken. Sollte diese Strategie nicht erfolgreich sein, bietet es sich an, mit Akteur*innen der Unterstützungsstrukturen gegen Menschenhandel UND für Geflüchtete ähnliche Prozesse mit strategisch günstigen Konstellationen zu führen, um damit Betroffene dabei zu 215
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unterstützen, ihre Menschenrechte in Anspruch zu nehmen und strukturelle Veränderungen zu erreichen. Zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wie z. B. Sozialarbeitenden fällt es häufig leicht, Menschenrechtsverletzungen des Staates anzuprangern, es herrscht aber eine überraschende Zurückhaltung bei der Thematisierung eigener Versäumnisse oder Beteiligung an Verletzungen von (Menschen-)Rechten. So sind Staaten zwar verpflichtet, angemessene finanzielle und personelle Mittel für geeignete Umsetzung von Gewaltschutz zu Verfügung zu stellen, sie können hierbei aber einen Teil ihrer Verpflichtung an nichtstaatliche Organisationen und die Zivilgesellschaft abgeben (vgl. Europarat 2011: Artikel 8). Hierdurch erhalten diese nichtstaatlichen Stellen sehr viel Macht übertragen; sie können beispielsweise entscheiden, wie sie ihre Angebote gestalten und wen sie implizit oder explizit ausschließen. So kann die Verweigerung einer Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel oder eines Frauenhauses13, Frauen im Asylverfahren trotz vorhandener Kapazitäten aufzunehmen, auch als eine Beteiligung an der Verletzung der Schutzrechte der betroffenen Frauen gewertet werden. Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern ein solches Verhalten kompatibel ist mit dem internationalen ethischen Kodex der Sozialen Arbeit, welcher Sozialarbeitende verpflichtet, Ressourcen gerecht zu verteilen und sicherzustellen, dass „die Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, den Bedürfnissen entsprechend gerecht verteilt werden“ (IASSW/IFSW 2004: Pkt. 4.2.3). Es bleibt zu hoffen, dass Sozialarbeitende in Zukunft neben der absolut berechtigten Anprangerung der Versäumnisse des Staates eigene Verantwortungen analysieren und daraus Handlungsstrategien ableiten, die kompatibel mit ihrem professionellen Mandat sind.
Literatur Bachner, Frank (2017): Wie Flüchtlinge in die Prostitution abdriften. In: Tagesspiegel vom 19.4.2017. http://www.tagesspiegel.de/berlin/treffpunkt-berliner-tiergartenwie-fluechtlinge-in-die-prostitution-abdriften/19685260.html [Zugriff: 05.07.2017]. Czarnecki, Dorothea (2017): Unterbringung von Betroffenen des Menschenhandels in Deutschland gesichert? Herausgegeben vom Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel - KOK. e.V., Berlin. Dolinsek, Sonja (2014): Was ist Menschenhandel? In: menschenhandel heute – kritisches magazin gegen Ausbeutung. http://menschenhandelheute.net/was-ist-menschenhandel [Zugriff: 10.04.2017]. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (2010): Rantsev gegen Zypern und Russland. Entscheidung vom 07.01.2010, ECHR 25965/04. 13 Siehe hierzu auch den Beitrag von Kampf in dieser Publikation.
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Menschenhandel und Flucht
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Silvia Oitner & Nivedita Prasad
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Professionelle Soziale Arbeit mit Geflüchteten
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Soziale Arbeit zwischen zuschreibenden Kulturalisierungen und einer diskriminierungs- und rassismuskritischen Migrationspädagogik sowie der Orientierung an der Integrität jedes Menschen
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Claus Melter
„Ich kenne dich und weiß, was für dich gut ist, was du tun musst – und das alles, ohne mit dir zu reden und dich vorher gesehen zu haben. Ich brauchte nur eine dieser Informationen: die Adresse im Brennpunktviertel, das Aussehen, die Aussprache oder Hinweise auf bestimmte Migrationshintergründe.“ So können anhand empirischer Studien (s. u.) in polemischer Weise zuschreibend-kulturalisierende Praxen Sozialer Arbeit beschrieben werden.1 Soziale Arbeit soll sich laut Grundgesetz, Sozialgesetzbüchern und dem Ethik-Codex der Sozialen Arbeit (vgl. DBSH 2014) an den Menschenrechten orientieren – aber Sozialarbeitende, Lehrer_innen und Fortbildner_innen mach(t)en dies oft nicht (vgl. Kappeler 2000; Prasad 2017). Im Gegenteil: Viele Theorien und Praxen sind anschlussfähig an klassen- und geschlechterabwertende, an rassistische, behindernde und religiös-nationalistisch-rassistisch-kulturalisierende Ideologien und die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit. Manfred Kappeler fragt in Bezug auf Praxen sexualisierter Gewalt in Bildungseinrichtungen wie der Odenwaldschule, ob nicht nur Verfehlungen von Pädagog_innen gegen Gesetze sowie Theorien und Ethik Sozialer Arbeit stattfinden, sondern in Theorien und Ethiken Sozialer Arbeit gewalttätige Handlungspraxen eingelagert oder gar zentraler Bestandteil dieser Theorien sind (vgl. Kappeler 2010). So war die auf Platon zurückgehende geisteswissenschaftliche Pädagogik bis in die 1970er Jahre die dominante pädagogische Richtung in Deutschland und ein zentraler Bestandteil der lebensweltorientierten Pädagogik (diese auch mit Bezugnahmen auf den rassistischen und den Nationalsozialismus befürwortenden Pädagogen Herman Nohl). Bis vor kur1 Dies ist die erweiterte und überarbeitete Fassung eines Beitrages, der 2017 in der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg erscheinen wird: eine Auseinandersetzung zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden des Ansatzes gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit versus Rassismuskritik
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Claus Melter
zem wurde auch die Idee des pädagogischen Eros, welche ein Einfallstor für Praxen sexualisierter Gewalt an Adressat_innen ist, von Hauptvertretern der Lebensweltorientierung befürwortet (vgl. zur Debatte um die Lebensweltorientierung: Thiersch 2017; Melter 2017). Auch der Ansatz der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch skizziert die Adressat_innen Sozialer Arbeit vorwiegend als defizitär, wenn strukturelle Bedingungen bei diesen zu Identitätsverlust und Handlungsunfähigkeit zu führen drohen. Bei anderen Ansätzen werden die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Integrität – z. B. im Capabiliy-Approach – aller Personen betont, jedoch keine oder wenig Selbst- und Mitbestimmungsrechte und Möglichkeiten der Adressat_innen theoretisch, konzeptionell und praktisch verankert und realisiert. Dem stehen politisch-pädagogische Ansätze der Selbstbemächtigung und der diskriminierungs- und rassismuskritischen Bündnisangebote durch die Soziale Arbeit gegenüber (vgl. Alridge 2008 [zum Erziehungsdenken von W. E. B. du Bois]; Eggers 2005; Prasad 2011; Salgado/maiz 2015; Madubuko 2016; Mecheril 2016; Gebrande/ Melter/Bliemetsrieder 2017a). Die Theorien und Praxen Sozialer Arbeit und Bildung bedürfen, so mein Plädoyer, einer grundlegenden diskriminierungskritischen und machtreflexiven Befragung.
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Wir erleben gegenwärtig wieder einmal, dass geflüchtete Personen und als „Migrant_innen“, Flüchtlinge oder „nicht-weiß“ kategorisierte Menschen abgewertet und physisch angegriffen werden. Zudem wird das Asylrecht systematisch weiter eingeschränkt. Den Perspektiven und der Unterstützung sowie der Selbstorganisation der Opfer und geflüchteten Personen wird wenig Aufmerksamkeit geschenkt, während die Einstellungen und Bedürfnisse der Täter_innen und der Dominanzgesellschaft in Relation vermehrt wissenschaftliche und pädagogische Begleitung erfahren. Auch in der pädagogischen Praxis erleben wir, dass aufenthalts- und asylrechtliche Probleme, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen sowie die Perspektiven der als „Andere“ angesehenen Personen vernachlässigt werden. Dies geschieht auch bei Arbeitsansätzen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Im Folgenden wird anhand eines realen Beispiels aus der pädagogischen Praxis exemplarisch der Umgang mit rassistischen Übergriffen in den Bereichen Bildung, Soziale Arbeit und Forschung analysiert. Nach der Darstellung verschiedener Verständnisse von Rassismus werden einige rassismuskritische Studien und die Geschichte der Gewalt in den Bereichen Bildung und Soziale Arbeit skizziert, um aktuell praktizierte Benachteiligungs-„Logiken“ erkennbar zu machen. 222
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
Im Anschluss wird der Ansatz der Orientierung an den Integritäten2 aller Menschen (vgl. Gebrande/Melter/Bliemetsrieder 2017b) kurz dargestellt. Dieser ist eine Erweiterung der rassismuskritischen Perspektive, da es ihm sowohl um den Schutz vor Diskriminierung3 und Rassismus4 als auch um Entfaltungsmöglichkeiten und Rechtsansprüche aller Menschen geht. Der theoretische und pädagogische Gewinn dieses Ansatzes ist eine reflexive Berücksichtigung sowohl von Diskriminierungserfahrungen und sozial/materiell/rechtlicher Ungleichheit als auch die positive Skizzierung von Handlungsmöglichkeiten und Ressourcenzugängen. Abschließend werden aktuelle Themen, Herausforderungen und Prinzipien für den Bereich der Sozialen Arbeit formuliert. Diskriminierungskritische pädagogische Theorien und Praxen können durch die Berücksichtigung von Einteilungs- und Zuschreibungslogiken, die jeweils mit Bevorteilung und Diskriminierung verbunden sind, die ureigene Aufgabe der Gerechtigkeitsorientierung von Sozialer Arbeit und Bildung engagiert, reflexiv und intervenierend verwirklichen.
Zum Umgang mit Rassismuserfahrungen Auf einem Sommerfest einer Jugendhilfeeinrichtung beschimpften vor einigen Jahren zwei ca. zehnjährige, von vielen Beteiligten als ‚nicht-deutsch‘ angesehene Jungen einen zwölfjährigen, sich selbst als ‚deutsch‘ definierenden Jungen. Daraufhin schlug der Zwölfjährige einen der ‚nicht-deutschen‘ Jungen. Er war sehr aufgebracht und warf ihn auf den Boden. Auf dem ‚nicht-deutschen‘ Jungen liegend drohte er ihm mit den Worten: „Euch Ausländer mache ich fertig!“ Ein Pädagoge aus der Einrichtung griff in die Situation ein und hielt den schlagenden Jungen von weiteren Schlägen und Beleidigungen ab, indem er ihn wegzog. Er brachte den gewalttätigen Jungen, der von der Einrichtung betreut wurde, ins Haus in ein Besprechungszimmer, stellte ihn zur Rede und verurteilte sein Verhalten.
2 Integritäten schreiben wir als Wortneuschöpfung bewusst im Plural, um auf die unterschiedlichen Arten von Integritäten (physische, psychische, kognitive, soziale, rechtliche usw.) hinzuweisen, die durch das gemeinsame Dach der Menschenwürde miteinander verbunden sind (vgl. Gebrande/Melter/BLiemetsrieder 2017: 293). 3 Unter Diskriminierung kann verstanden werden, dass Gruppen hergestellt und die Personen, die diesen Gruppen zugeordnet werden, absichtlich oder unabsichtlich unterschiedlich fair behandelt werden. 4 Rassismus kann als gesellschaftliches Konfliktverhältnis gesehen werden, in dem mittels „Rasse“-Konstruktionen Menschen unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden und diese systematisch unterschiedlichen Zugang zu materiellen, finanziellen, rechtlichen, sozialen und symbolischen Ressourcen bekommen (vgl. Mecheril/Melter 2010).
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Claus Melter
In der Nachbesprechung des Sommerfestes und des Übergriffes fiel den Sozialarbeitenden beschämt auf, dass sie sich nicht um den geschlagenen Jungen, der nicht von der Einrichtung betreut wurde, gekümmert hatten. Wie war es ihm ergangen? Hat er Unterstützung, Begleitung oder medizinische und psychologische Versorgung benötigt? Wie wurde diese öffentliche Abwertung, Gewalt und Androhung gegen die Gruppe der als „Ausländer“ bezeichneten Personen von den Beteiligten, die so adressiert und behandelt werden, erlebt und gedeutet? Sie hatten sich nur um den rassistisch argumentierenden und physische Gewalt ausübenden Täter, jedoch nicht um die rassistisch und körperlich angegriffene Person, den Jungen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte, gekümmert. Sie hatten einen gravierenden professionellen Fehler begangen, indem sie nicht alle Beteiligten einer Gewaltsituation berücksichtigt und diese pädagogisch begleitet oder dies zumindest angeboten hatten (vgl. Melter 2006). Über die Gründe, warum sie sich nicht um ihn gekümmert haben, kann in Nachhinein nur spekuliert werden: War es die Scham, dass ein in der Einrichtung betreuter Junge öffentlich rassistisch und gewalttätig gehandelt hat? War es die Unsicherheit gegenüber einem als „migrantisch“ angesehenen Jungen, der zudem Rassismus erlebt hat? War es der Gedanke, für „diesen Jungen“ nicht zuständig zu sein? Auch in wissenschaftlichen Studien ist das Schema, die Betroffenenperspektive auszublenden, erkennbar. So befragen die Studien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (vgl. kritisch Möller u. a. 2016) in der quantitativen 10-Jahresstudie „Deutsche Zustände“ nur deutsche Staatsbürger_innen und vernachlässigen die Perspektiven von staatsbürgerlich nicht-deutschen Personen. So wird nicht die Frage gestellt, wie der Anstieg abwertender Einstellungen und die seit den 1990er Jahren bis heute vielfach ausgeübte physische Gewalt, die Anschläge auf Wohnungen sowie die medialen Abwertungen und auch die NSU-Morde von den angegriffenen und abgewerteten Personen, den als „Migrant_innen“ angesehenen Personen, erlebt werden.
Diskriminierungs- und rassismuskritische Studien Rassismuskritische und pädagogische Studien5 thematisieren in qualitativ empirischen und quantitativen Forschungsarbeiten hingegen seit den 1990er Jahren auch im deutschsprachigen Raum zum einen, dass Diskriminierungs5 Unter anderem: Essed 1991; Beinzger/Kallert/Kolmer 1995; Lewis 2000; Deniz 2001; Mecheril 2003; Terkessidis 2004; Eggers 2005; Seukwa 2006; Melter 2006; Yildiz 2009; Kuster-Nikolić 2012; Jagusch u. a. 2012; Textor 2014; Scharathow 2014; Velho 2015; Ozawa 2016; Amirpur 2016.
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
und Rassismuserfahrungen für Personen, die nicht als „weiß“, „deutsch“ und mehrheitsangehörig angesehen werden, regelmäßig und systematisch vorkommen, diese für die Bereiche Bildung, Arbeit, Freizeit und Beziehungen relevant sind und es unterschiedliche Deutungs- und Handlungspraxen gibt, mit diesen Situationen umzugehen. Zum anderen wird in den Studien deutlich, dass Sozialarbeitende und Lehrer_innen die migrationsgesellschaftliche Differenzkonstruktion des Einteilens in „die Deutschen“ und „die Anderen“ systematisch im pädagogischen Handeln realisieren. Diese Unterscheidungen sind verwoben mit religiösen Zugehörigkeitsvorstellungen sowie rassistischen Konstruktionen, wie „Deutsche“ und „Nicht-Deutsche“ aussehen und handeln würden, welche „Kulturen“ diese Gruppen hätten und wie die Identitätsvorstellungen der jeweiligen Gruppen wären. In der Regel gründen sich diese Zuschreibungen jedoch auf Vermutungen und Zuschreibungen und NICHT auf der Kommunikation mit den Beteiligten. Zudem sind die Folgen für diejenigen, die als „mit Migrationsgeschichte oder mit Migrationshintergrund“, als „Nicht-Deutsche“, als „Nicht-Christ_innen“, die als Roma und Sinti angesehen und behandelt werden, eher negativ im Vergleich zu Ansichten und Handlungspraxen gegenüber als mehrheitsangehörig, „deutsch“, „weiß“, „sesshaft“ und „christlich“ angesehenen Personen. Die genannten rassismuskritischen Studien zu Migration, Rassismus und Sozialer Arbeit (s. o.) belegen, dass Sozialarbeitende und Fortbildende wenig über die bei allen Menschen vorhandenen (mehrfachen) Zugehörigkeits- und Identitätsverständnisse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte wissen und sich wenig dafür interessieren. In der Regel gründen sich die Vorstellungen der Pädagog_innen und Fortbildner_innen auf Vermutungen und Zuschreibungen und NICHT auf der Kommunikation mit den Beteiligten. Zudem sind die Folgen für diejenigen, die als „mit Migrationsgeschichte oder mit Migrationshintergrund“, als „Nicht-Deutsche“, als „Nicht-Christ_innen“ angesehen und behandelt werden, eher negativ im Vergleich zu Ansichten und Handlungspraxen gegenüber als mehrheitsangehörig, „deutsch“, „weiß“, „sesshaft“ und „christlich“ angesehenen Personen. Die genannten rassismuskritischen Studien zu Migration, Rassismus und Sozialer Arbeit belegen, dass Sozialarbeitende und Fortbildende wenig über die bei allen Menschen vorhandenen (mehrfachen) Zugehörigkeits- und Identitätsverständnisse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte wissen und sich wenig dafür interessieren. Interessant ist, dass sich – wie eine Untersuchung von Lena Dittmer zeigt – Pädagog_innen, die sich bewusst rassismuskritisch qualifiziert hatten, dies im pädagogischen Alltag nicht umsetzten (vgl. Dittmer 2008). Dies verweist darauf, dass es auf institutioneller, wie auf konzeptioneller Ebene weiterer Anstrengungen bedarf, eine rassismuskritische, partizipative Praxis weiterzuentwickeln. 225
Claus Melter
Zuschreibende Kulturalisierungen Wenn von Kulturalisierungen in den genannten Studien gesprochen wird, sollten verschiedene Verständnisse von „Kultur“ erläutert werden.
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Idealtypisch unterschieden werden kann zwischen 1) dem essentialistischen, biologistischen, ahistorischen, statischen Kulturverständnis. Dieses Modell wird auch Kugel-, Container-, Kulturkreis- oder Marionetten-Modell von Kultur genannt (vgl. Yildiz 2009). Gedacht wird zum einen, das jede Person zu nur einem Land mit jeweils nur einer, und zwar über alle Zeiten, gleich bleibenden Kultur lebt und zwanghaft nach den kulturellen Vorstellungen des Landes, der Nation, des „Kulturkreises, der „Rasse“ oder Ethnie entsprechend handeln muss. Die Menschen werden NICHT als handlungs-, entscheidungs- oder verantwortungs- und reflexionsfähig angesehen. Sie sind Marionetten, Roboter ihres „kulturellen Wesens“ (vgl. kritisch Leiprecht 2001; Yildiz 2009). 2) dem individualistisch-autonomen Kulturverständnis der europäischen Aufklärung, welches einerseits als „weiß“, europäisch und christlich sowie „zivilisiert“, mündig und aufgeklärt definierten Personen Denk-, Handlungs- und Regierungsfähigkeiten zuschreibt und andererseits durch diskriminierende Rechtsordnungen sowie ideologische Abwertungen die Gruppen der inneren und äußeren zu „Anderen“ gemachten Personen entrechtet, abwertet, diskriminiert oder gar verfolgt und tötet (vgl. Brumlik 2015; Taubira 2015; Melter 2016). 3) dem Verständnis von Kultur als soziale Handlungspraxen von Einzelpersonen, die sich einzelnen oder mehreren Gruppen, Ländern und Kontexten zugehörig fühlen können und situativ in bestehenden Machtverhältnissen Entscheidungen treffen. Dieses Verständnis schließt an Theorien von du Bois, Luxemburg, Gramsci, Freire, Fanon und Holzkamp an (vgl. Mecheril u. a. 2010; Bernhard 2005). In den empirischen Studien zeigt sich tendenziell, dass Pädagog_innen kulturalisierende Zuschreibungen gegenüber als „Migrant_innen“ angesehenen Personen anwenden, während gegenüber Personen ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund eher das autonome Kulturverständnis angewandt wird. Das dritte, gesellschaftskritische und auf Bündnisangebote, Aushandlung und Selbstermächtigung zielende Kulturverständnis wird selten realisiert. Wie sind nun die kulturalisierenden und mit Benachteiligungen verbundenen Praxen der Sozialen Arbeit, die im Wesentlichen die Machtverhältnisse der Gesellschaft reproduziert und selten kritisch interveniert, zu benennen? 226
Diskriminierungs- und Rassismuskritik
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„Ausländerfeindlichkeit“, „Fremdenfeindlichkeit“ oder Rassismus? Alltäglich erleben Personen im Kontext Sozialer Arbeit und anderen Bereichen nationalstaatliche Diskriminierungserfahrungen (Asyl und Aufenthaltsrecht) und Rassismuserfahrungen; sie erleben, als „nicht-deutsch“, als „fremd“, „geflüchtet“, „exotisch“ und als nicht selbstverständlich zu diesem Land dazugehörig angesehen zu werden. Dies reicht von Fragen wie „Woher kommst du?“, der Kommentierung der Sprachfertigkeiten in der deutschen Sprache („Du sprichst aber gut Deutsch!“) oder der Aufforderung des Lehrers, an eine als Muslima Markierte, den anderen Mitschüler_innen doch den Islam zu erklären, über die Erfahrung, in Schulen und bei der Ausbildungsplatzsuche faktisch und oftmals auch juristisch nicht die gleichen Chancen zu haben, Einlasskontrollen an Diskotheken oder Polizeikontrollen entlang von äußerlichen körperlichen Merkmalen zu erleben, bis hin zu verbalen und physischen Übergriffen. Nicht alle hier genannten Handlungen erfolgen mit bewusster ausgrenzender oder verletzender Absicht, aber sie wirken ausgrenzend und verletzend. Wie können diese Handlungen theoretisch und begrifflich gefasst werden? Da die meisten genannten Handlungen genauso Personen treffen, die staatsbürgerlich Deutsche sind und in der BRD geboren und aufgewachsen sind, die also weder „Fremde“ noch „Ausländer_innen“, sind, können oft genutzte Begriffe wie „Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit“ als offensichtlich ungeeignet angesehen werden. Entscheidend sind vielmehr die Vorstellungen der bewusst oder unabsichtlich benachteiligend handelnden Personen, für die „Deutsch-Sein“ vorwiegend mit Eigenschaften in Bezug auf Körperform und Hautpigmentierung verbunden sind. Nationen-Vorstellungen werden mit „Rasse“-Konstruktionen verwoben. Es geht um Rassismus. Es gibt keine menschlichen „Rassen“ und dennoch werden seit langer Zeit Menschen entsprechend rassistischer Kategorisierungen eingeteilt, hierarchisiert und unterschiedlich behandelt. Die Einteilung in unterschiedliche Gruppen und die Ausübung benachteiligender Handlungen wird Diskriminierung genannt. Sind systematisch und über einen längeren Zeitraum ausgeübte Diskriminierungen mit „Rasse“-Konstruktionen verbunden, handelt es sich um das gesellschaftlich ungleiche Machtverhältnis Rassismus. Eine Gemeinsamkeit der gesellschaftlichen Machtverhältnisse Kolonialismus, Nationalsozialismus (vgl. Otto/Sünker 1991) und gegenwärtigem Rassismus ist, dass Menschen mittels nationaler, religiöser, kultureller oder rassistischer Unterscheidungen in unterschiedliche Gruppen eingeteilt und ihnen ungleiche Rechte und Möglichkeiten gegeben werden. Eine Gruppe wird systematisch abgewertet und diskriminiert, während die andere in das Zentrum von Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Entscheidungen rückt. 227
Claus Melter
Wie fanden diese Ideologien und Praxen der Ungleichwertigkeit in Praxen Sozialer Arbeit und Bildung ihren Niederschlag?
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Grada Kilomba benennt Rassismus als Re-Inszenierung kolonialer Situationen von Herr-Versklavten-Konstellationen (vgl. Kilomba 2008). Gemeint sind hier nicht nur bewusste und offensichtlich herabwürdigende Handlungen. Es kann sich auch um „kleine“ und alltägliche Herstellungen von Differenz und zugeschriebener Nicht-Zugehörigkeit und „Minderwertigkeit“ handeln.
In Zeiten von Kolonialismus, Nationalsozialismus und anderen rassistischen Gesellschaftsverhältnissen wurden durch spezifische Erziehungsmethoden und Curricula die jeweilige Herrschaftsideologie und Praxis den zu Erziehenden vermittelt. Hierbei werden jeweils Vorstellungen über „die Anderen“ und über „uns“ in Medien und in den Wissenschaften verbreitet, die gesellschaftliche Benachteiligungen als sinnvoll und notwendig erscheinen lassen. Bei Rassismus geht es weit über den Nachweis individueller oder allgemeiner Vorurteile, Einstellungen und Haltungen hinaus. Diverse Studien im Bildungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Scherr u. a. 2015) und bei Polizei und Justiz (vgl. Migrationsrat Berlin Brandenburg 2011) belegen gegenwärtig institutionelle Diskriminierung. Institutionelle Diskriminierung liegt dann vor, wenn eine Institution Menschen (ohne rechtliche Grundlage) entlang beispielsweise geschlechterbezogener, nationalstaatlicher, religiöser oder rassistischer Kriterien unterscheidet und eine Gruppe benachteiligend behandelt – sei dies unbeabsichtigt oder gewollt. So zeigen die PISA-, TIMS- und TIES-Studien zum einen, dass in deutschsprachigen Ländern Einkommen und Bildungserfolg der Eltern für den Bildungserfolg der Kinder bedeutsam gemacht werden. Zum anderen stellt sich heraus, dass die Zuschreibung, einen Migrationshintergrund zu haben, eine negative Auswirkung auf den Bildungserfolg hat (vgl. Melter/Karayaz 2013). Institutioneller Rassismus gegenüber Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben oder denen seitens staatlicher Behörden anhand körperlicher Kriterien das Deutsch-Sein abgesprochen wird, z. B. bei Polizeikontrollen oder in der Schule, zeigt sich aktuell sowohl im Bereich Bildung als auch in den Feldern Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie Polizei und Justiz. Birgit Rommelspacher benennt verschiedene Elemente des gesellschaftlichen Machtverhältnisses Rassismus: rassistische Gruppenkonstruktionen, die Homogenisierung/Vereinheitlichung der konstruierten Gruppen, die Behauptung einer natürlichen Essenz und von biologischen Unterschieden der Ange228
hörigen der konstruierten Gruppen sowie die Hierarchisierung (Höher- und Abwertung), Polarisierung (Behauptung der unvereinbaren Unterschiedlichkeit) und die Kulturalisierung der Gruppenmitglieder (vgl. Rommelspacher 2009). Jede Form des (biologischen oder kulturellen) Rassismus operiert mit kulturalisierenden Zuschreibungen, sei es in Bezug auf Religion, Geschlechterverhältnisse und/oder angenommene Einstellung zur Arbeit. Das alltägliche Zusammenspiel von individuellen Denk- und Handlungsweisen, von institutionellen und medial-diskursiven Unterscheidungs-Logiken und Benachteiligungen bewirkt die systematische gesellschaftliche Benachteiligung bestimmter Gruppen und beeinflusst die Subjektbildungsprozesse (vgl. Mecheril/Melter 2010; Velho 2015). Historisch und aktuell relevant sind die Diskriminierung von als „nicht-deutsch“ und/oder „nicht-weiß“ kategorisierten Personen darunter: Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
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Rassismus gegen Roma und Sinti (vgl. Randjelović 2015); antimuslimischer Rassismus (vgl. Attia 2014); Antisemitismus (vgl. Brumlik 2004; Rommelspacher 2009); Rassismus gegenüber als „schwarz“ definierten Personen und People of Color (vgl. El-Tayeb 2011); Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa; nationalstaatliche Diskriminierung und Rassismus gegenüber Personen, die als geflüchtete Personen oder mit (bestimmtem) Migrationshintergrund gesehen werden.
Ein Teil der Herstellung dieser national, religiös, sprachlich und kulturell oder rassistisch als unterschiedlich angesehenen Gruppen erfolgt auf politisch, medialer Ebene im sogenannten Integrationsdiskurs, der weiter auf Anpassung und geringere Rechte und Möglichkeiten der Gruppen der Eingewanderten und der Nicht-Staatsbürger_innen abzielt. Gegen diese Logik der Einteilung in Menschengruppen, die Höher- und Abwertung und Ungleichbehandlung wendet sich die rassismuskritische Migrationspädagogik. Die Frage, wie Zugehörigkeitsordnungen sozial und formell in Migrationsgesellschaften ausgehandelt sowie mit Diskriminierung und Privilegierung verbunden werden, soll nun mit der Perspektive „Migrationsgesellschaft“ analysiert werden. Die migrationsgesellschaftliche Perspektive (vgl. Mecheril 2010) untersucht, wie in ein „Wir“ und „die Anderen“ hinsichtlich natio-ethno-kultureller sowie religiöser und rassistischer Kategorien unterschieden und dies mit Benachteiligungen oder Bevorzugungen verbunden wird.
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Claus Melter
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Rassismuskritische Migrationspädagogik Beim anfänglich genannten Beispiel des Konfliktes zwischen den Jungen handelten die Pädagog_innen unprofessionell. Diverse Studien zeigen, dass dies nicht die Ausnahme ist. Es kann gefragt werden, ob und wie mit dem gewalttätigen Jungen im genannten Beispiel inhaltlich rassismuskritisch gesprochen wurde? Ironischerweise wird in der prinzipiell wichtigen und notwendigen Arbeit mit den jugendlichen und erwachsenen Täter_innen rassistischer/ rechtsextremer Gewalt vielfach opferorientiert gearbeitet, indem deren Mangel- und Leiderfahrungen und wenig bis gar nicht deren Tathandlungen und Abwertungskonstruktionen fokussiert werden, wie eine empirische Studie zur Arbeit mit rechtsextremen männlichen Aussteigern zeigt (vgl. Pfeil 2016). In der Beratung mit gewalttätigen Männern, die ihre Gewalttätigkeit beenden wollen, zeigt sich demgegenüber in der Beratungsarbeit (vgl. Lempert/Oelemann 1994), dass mit Tätern über ihre Tat, ihre Tatverantwortung und ihr Tatziel (wozu, mit welchem Ziel haben sie geschlagen?) sowie Vorstellungen von männlicher Überlegenheit zu sprechen ist, um Gewalt zu beenden und sie effektiv in Denk- und Handlungspraxen bezüglich Verantwortungsübernahme, Wahrung von Grenzen und Respekt (gegenüber anderen und sich) begleiten zu können. Leider gibt es keine Garantie dafür, dass die konfrontative und verantwortungsbezogene Ansprache zum Ende von Gewalthandlungen führt. Meines Erachtens ist es sinnvoll, Prinzipien aus der Arbeit mit gewalttätigen Männern auf die Arbeit mit rassistischen Handelnden zu übertragen. Bedeutsam ist dabei, zu verstehen, dass rassistische Handlungen im Sinne von Karin Scherschel, die „Rassismus als flexible symbolische Ressource“ (Scherschel 2009) analysiert, bewusst oder unabsichtlich eingesetzte Instrumente sind, um Macht, Anerkennung und Ressourcen zu erreichen. Es gibt mittlerweile ein breites Netzwerk rassismuskritischer Stimmen6 in Theorie und Praxis, bestehend aus Autor_innen und Aktivist_innen mit und ohne alltägliche Rassismuserfahrungen. Gemeinsam ist ihnen eine rassismuskritische und machtreflexive Perspektive, die systematisch und situativ untersucht, ob gleiche Möglichkeiten für die Gruppen und deren Angehörigen bestehen und wie Soziale Arbeit und Bildung sich demgegenüber positionieren. Vor allem steht hierbei im Fokus, wie Lebenslagen, Ressourcen und Handlungen wechselseitig voneinander beeinflusst werden und welche Funktion Institutionen in diesem Kontext erfüllen. Verbunden ist dieser Fokus zumeist mit einer historisch fundierten und/oder gegenwartsbezogenen Gesellschaftsana6 Siehe z. B. die Aufrufe www.fluechtlingssozialarbeit.de; www.aufruf-fuer-solidarische-bildung.de [Zugriff: 13.06.2017] und in Baden-Württemberg das „Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik“, www.rassismuskritik-bw.de [Zugriff: 13.06.2017].
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
lyse und der Betrachtung, wie gesellschaftliche Vorstellungen auf Subjekte wirken und welche Handlungsmöglichkeiten diese haben (vgl. Velho 2015).
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Die wissenschaftliche (De-)Thematisierung von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen in verschiedenen Studien Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Personen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte wurden in Deutschland lange Zeit entweder gar nicht als pädagogisches Thema angesprochen oder stets in Verbindung mit problematischen, delinquenten Einstellungen und Handlungen der zumeist männlichen Jugendlichen verbunden, oftmals im Sinne einer FrustrationsAggressions-Logik (Diskriminierungserfahrungen führen zu Negativhandlungen, so die Logik vieler Studien). Ein reflektiertes und elaborierteres Konzept ist das KISSES-Konzept von Möller u. a. (2016), das jedoch der gleichen Mängel-Kompensations-Logik folgt. Polemisch kann von einer Gewalt-Belohnungs-Logik gesprochen werden, da die rassistisch gewalttätig Handelnden mit pädagogischer und materieller Aufmerksamkeit (Hilfe bei Wohnung, Bildung, Arbeitsmarkt, Führerschein) belohnt werden, meist jedoch ohne oder nachrangige inhaltliche Auseinandersetzungen mit den Tathandlungen (vgl. Pfeil 2016). Die Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt werden demgegenüber mit weitaus geringeren pädagogischen und materiellen Mitteln begleitet (vgl. Amadeu Antonio Stiftung 2012).
„Migrationsgesellschaft“ als Analyseperspektive und Realutopie „Migrationsgesellschaft“ als Perspektive meint nicht vor allem „Migrant_innen“ oder ausschließlich Communities, Gesellschaften von „Migrant_innen“, sondern bedeutet, dass alle Menschen in einer Gesellschaft gemeint sind, und betont, dass Migrationsphänomene von Einwanderung, Auswanderung, Pendel- und Transmigration sowie globale Kontakte grundlegend für fast alle Gesellschaften sind. Es wird gefragt, ob und wie zwischen „Einheimischen“ und „Mehrheimischen“, zwischen Menschen ohne und mit Migrationsgeschichte oder Schwarzen und Weißen unterschieden wird und welche Folgen rechtlich, institutionell und sozial damit verbunden sind (vgl. Mecheril u. a. 2010, 2016). Eine migrationsgesellschaftliche Perspektive geht also nicht von natürlich bestehenden Gruppen oder gar damit verbundenen (Vor-)Rechten versus Ent231
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Claus Melter
rechtlichungen anderer Gruppen aus (vgl. Melter 2016), sondern untersucht zum einen analytisch die Logiken des Unterscheidens in Menschengruppen. Zum anderen wird in diskriminierungs- und speziell rassismuskritischer Perspektive angestrebt, dass alle Menschen faire Ressourcenzugänge sowie Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten bekommen und nicht in ihrer Würde durch diskriminierende und rassistische Denkfiguren und Handlungspraxen verletzt werden. Es handelt sich dementsprechend um eine analytische und normativ-handlungsrelevante Perspektive. Für Soziale Arbeit und Bildung bedeuten diese Herangehensweise notwendigerweise eine persönliche, professionelle und institutionelle (Selbst-)Reflexion der Logiken und Praxen des eigenen Handelns sowie der Effekte für unterschiedliche, sozial und rechtlich hergestellte Gruppen. Die gegenwärtige weltweite Migrationsgesellschaft ist gekennzeichnet einerseits durch die Rede von Chancengleichheit und Demokratie und andererseits von der Realität fortwährender einkommens-, behinderungs-, geschlechterbezogenen sowie migrationsgesellschaftlichen und rassistischen Diskriminierungen, die Ausdruck und Grundlage sozialer Ungleichheit sind. Ungleichheiten werden in der Regel zu rechtfertigen gesucht. Eine oft verwendete, jedoch nicht hinreichende Erklärung für strukturelle Gewalt bzw. die systematische Diskriminierung beispielsweise der „Armen“ sind Stereotype und Vorurteile als Grundlage und Mittel der Differenzherstellung und Ungleichbehandlung („Die wollen nicht arbeiten“ und „Die sind faul“ als gängige Vorurteile). Stereotype werden hier als verallgemeinernde Gruppenkonstruktionen und Vorurteile als verallgemeinernde Gruppenkonstruktionen mit zusätzlichen Negativurteilen verstanden. Möglicherweise finden Stereotype und Vorurteile jedoch ausschließlich in den Köpfen von Personen statt. Einstellungen können, aber müssen nicht unsere Handlungen beeinflussen. Eine kritischere Erklärung betont, dass in ungleichen Machtverhältnissen bestimmte Gruppen auch durch die Verwendung von Stereotypen und Vorurteilen bevorzugt und andere materiell und sozial diskriminiert werden. Diskriminierungen beinhalten Gruppenkonstruktionen und damit verbundene Benachteiligungen. Dementsprechend genügt es nicht, „durch Erziehung und Bildung an den individuellen Vorurteilen anzusetzen. Denn so lange diskriminierende Strukturen und Praktiken wirksam sind, entsteht auf Seite der Privilegierten ein Bedarf an Vorurteilen und befinden sich die Benachteiligten in einer Situation, in der ihre Möglichkeiten der Gegenwehr beschränkt sind“ (Scherr 2010). Dies gilt sowohl für kapitalistische und geschlechterbezogene Ungleichheiten als auch für Rassismus. So haben in Deutschland lebende Menschen real nicht die gleichen Teilhabechancen in den Bereichen Bildung, Wohnen und Arbeit. Diese Diskriminierungsrealität widerspricht den Gedanken des Grundgesetzes, den Menschenrechten und dem Allgemeinen 232
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
Gleichbehandlungsgesetz. In Institutionen sowie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erhalten bestimmte Personen und Gruppen nicht den gleichen professionellen Service wie ihn Angehörige anderer Gruppen erhalten. So belegt der 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass die finanziell ärmere Hälfte der Bevölkerung 0,9 Prozent des Nettofinanzvermögens (des vorhandenen Geldes) besitzt und die reichere Hälfte 99,1 Prozent (vgl. BMAS 2015: 506). Die rassismuskritische und migrationsgesellschaftliche Perspektive geht also über die Frage von Vorurteilen, Einstellungen und Haltungen hinaus und berücksichtigt reale Handlungen, ungleiche Machtverhältnisse und zielt in reflexiv intervenierender pädagogischer Arbeit auf eine Änderung von personalem Handeln und beeinträchtigender Verhältnisse. Um gerechtigkeitsorientiert zu handeln, bedarf es des Wissens darum, dass Soziale Arbeit und Bildung vielfach eher auf problematische Weise an rassistischen Verhältnissen beteiligt war.
Wissen um die Geschichte rassistischer Gewalt – auch durch Soziale Arbeit und Bildung Es bedarf historischer und aktueller Analysen, um die Wurzeln aktueller (auch pädagogischer) Logiken und Praxen der Entrechtung, Gewalt, pädagogischen Anpassung gegenüber den als „anders“ hergestellten Personengruppen beschreiben, kritisieren und verändern zu können. Denn jede rassistische Herrschaftsform nutzte Pädagogik und Bildung zur Vermittlung von Herrschaftslogiken und zur Beruhigung bestehender ungleicher Machtverhältnisse. Dieses Thema wird im Folgenden ausführlicher behandelt, da Soziale Arbeit und Bildung oft einseitig und selbstverständlich als sinnvoll und hilfreich für die Adressat_innen dieser Angebote angesehen werden und Aspekte von Benachteiligung und Gewalt in und durch Soziale Arbeit und Bildung oft vernachlässigt werden. Susanne Spieker spricht davon, dass das moderne Erziehungsdenken seinen Ausgang und seine Grundprinzipien während des europäischen Kolonialismus seit Ende des 15. Jahrhunderts entwickelt hat: die Einteilung und Erziehung von Menschen entlang rassistischer und geschlechterbezogener Kategorien sowie die Erziehung und Bildung von Personengruppen in vorgesehene Positionen in der kapitalistischen Ordnung (vgl. Spieker 2015). „Rasse“-Konstruktionen und eine angeblich „natürliche Hierarchie“ konstruierter Menschengruppen wurden verwandt, um Ausbeutung, Vertreibung in Amerika, Afrika, Australien, Asien und in Europa vermeintlich zu rechtfertigen. Rassistische Ideologien und koloniale Unterwerfungen beruhten auf Absprachen und Verträgen zwischen europäischen Staaten. Befürwortet und 233
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Claus Melter
verwirklicht wurden die Vorstellungen europäischer Überlegenheit und Bevorrechtigung durch Politiker_innen, Händler_innen, Missionierende und rassistisch argumentierende Philosophen wie Kant und Hegel (vgl. Brumlik 2015). Gemäß dem antiken Teile-und-herrsche-Prinzip wurden Gruppen konstruiert und zueinander in Konkurrenz gesetzt. Historisch wurde die rassistische Konstruktion von Menschengruppen stets auch von entsprechenden Gesetzgebungen gerahmt (vgl. Melter 2016). Christine Taubira beschreibt den Code Noir, das Gesetz über die kolonisierte Bevölkerung in den von Frankreich beherrschten Kolonien (vgl. Taubira 2015). Taubira spricht angesichts der rechtlichen Privilegierung der Europäer_innen und der Entrechtung der kolonialisierten Bevölkerung durch den Code Noir und der straflos verübten Gewalt an kolonisierten Personen von der „privatisierten Todesstrafe“ (ebd.). In den von Deutschland beherrschten Kolonien galten seit 1907 sogenannte „Eingeborenenverordnungen“, die ebenfalls nach dem Prinzip des Code Noir operierten: eine Privilegierung der Europäer_innen, der Deutschen, gegenüber der systematischen Entrechtung der Kolonialisierten. In (Hoch-)Schulen wird der deutsche Kolonialismus wenig behandelt. Er war und ist jedoch auch für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft folgenreich. Das deutsche Kolonialreich umfasste zeitweise etwa eine Millionen Quadratkilometer und zwölf Millionen Einwohner_innen, in Teilen oder im Gesamten die heutigen Staaten Namibia, Tansania, Togo, Kamerun, Nigeria, Ghana, Ruanda, Burundi, Papua Neuguinea, die Republik der Marshall-Inseln, die Republik Nauru, die nördlichen Marianneninseln, Palau, die Föderierten Staaten von Mikronesien und West-Samoa (vgl. Dietrich/Strohschein 2011: 116f.). Wie Jürgen Zimmerer in seinem Buch „Von Windhuk nach Auschwitz?“ aufzeigt, waren die Praxen der Hungermärsche, des Vernichtungskriegs und der Konzentrationslager, in denen auch Praxen der Vernichtung durch Aushungern, Krankheit und Arbeit (entgegen ökonomischen Interessen der Herrschenden) angewandt wurden, während des Völkermordes an den Herero und Nama im heutigen Namibia einer von mehreren ideologischen, organisatorischen und handlungspraktischen Wegen zum Holocaust (vgl. Zimmerer 2011).
Kolonialpädagogik Unter „Kolonialpädagogik“ können zusammengefasst die in einem Kolonialsystem veranstalteten pädagogischen Handlungen und Institutionen verstanden werden. Hierbei ist mit dem Begriff „Kolonialsystem“ die neuzeitliche Kolonialherrschaft europäischer Mächte in Übersee gemeint und mit dem Begriff „Pädagogik“ die intendierte Einflussnahme auf Erziehungs- und Bildungsprozesse. 234
Diskriminierungs- und Rassismuskritik
Charakteristisch für die „Kolonialpädagogik“ ist
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„die gesellschaftliche Fremdbestimmtheit der Erziehungs- und Bildungsprozesse im Kolonialsystem, d. h. der Versuch der einseitigen Indienstnahme dieser pädagogischen Handlungen und Institutionen für die Zwecke der kolonialen Fremdherrschaft. Sie unterscheidet sich ihrem Wesen nach von der in allen Erziehungs- und Bildungsprozessen anzutreffenden Art der Fremdbestimmung in pädagogischer Absicht“ (Adick 1992: 133).
Unterschieden wurde in der Kolonialpädagogik nach rassistischen und geschlechterbezogenen Kriterien, die zu einer Beschulung in verschiedenen Schulformen und zu verschiedenen gesellschaftlichen Positionen führen sollten. Es bestand eine hierarchische rassistisch-sexistische Einteilung in Menschengruppen und unterschiedliche soziale Stellung und Bildungsmöglichkeiten. Um ihr Unternehmen zu rechtfertigen, mussten die Begründer der Schule nicht nur behaupten, dass es im vorkolonialen Afrika keine Bildungsinstitutionen gab, sondern darüber hinaus den Afrikaner_innen die Fähigkeit absprechen, solche aus eigener Kraft zu entwickeln. Begleitet wurde dies durch die Ideologie zivilisatorischer, christlich-europäischer, „weißer“ Überlegenheit (vgl. Seukwa 2015: 24).
Nationalsozialistische Pädagogik Die nationalsozialistische Pädagogik7 hatte die Aufgabe, die nationalsozialistische Ideologie gedanklich und durch Erfahrungen zu vermitteln. Insbesondere die Trennung in ein „deutsch-völkisch-nationalistisches-arisches Wir“, bei dem die Leistungsstarken gefördert und die Schwachen nicht gefördert werden sollten (vgl. Kölsch-Bunzen 2016), war ein zentraler ideologischer Inhalt sowie die Befürwortung der Diskriminierung, Verfolgung und Tötung von zu den „Anderen“ gezählten Personengruppen. Zudem wurden „Rassen“-Antisemitismus, Antislawismus, Verfolgung der Roma und Sinti sowie die Abwertung und Verfolgung Schwarzer Deutscher, von Schwulen, Lesben und Menschen „mit Behinderung“ propagiert. Im Bereich der Sozialen Arbeit spielte die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) eine entscheidende Rolle. Die NSV hatte 1943 17 Millionen Mitglieder (vgl. Vorländer 1988) und war nach der Deutschen Arbeitsfront die zweitgrößte Massenorganisation im Nationalsozialismus.
7 Zu Nationalsozialismus und Schule haben Saskia Müller und Benjamin Ortmeyer von der Forschungsstelle NS-Pädagogik 2016 eine aktuelle Studie verfasst.
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„Aufgrund ihrer scheinbaren Ideologieferne war die Arbeit der NSV populär und erschien auch denjenigen, die dem Regime eher zögernd oder kritisch gegenüberstanden, aber aus Opportunitätsgründen in einer Parteiorganisation eintreten wollten, akzeptabel. Tatsächlich war die Arbeit der NSV von rasse- und erbbiologischen Kriterien bestimmt. So sollten v.a. ,rassisch wertvolleʻ, nur zeitweilig in Notlage geratene Bedürftige gefördert werden, während ,Minderwertigeʻ, ,Asozialeʻ, Alte und Kranke der (Minimal-)Unterstützung der öffentlichen Fürsorge überlassen wurden. Die Wohlfahrtspflege sollte Dienst am Volk, nicht am Individuum leisten, an die Stelle des (christlichen) Mitleids sollte die Solidar- und Opferbereitschaft der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft treten“ (Recker 1997: 619).
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Claus Melter
Waren im Kolonialismus (vgl. Axster 2013) rassistische und geschlechterbezogene Unterscheidungen dominant, wurden diese im Nationalsozialismus ergänzt zum einen durch antisemitische Abwertungen und Unterscheidungspraxen, zum anderen kamen sozialdarwinistische Ausgrenzungs- und Selektionspraxen gegenüber den nicht als „gesund“ und „tüchtig“ eingestuften Angehörigen des eigenen „Volkes“ dazu (vgl. Kölsch-Bunzen 2016).
Unterwerfende Integrationspädagogik und Rassismus Sowohl die defizitorientierte „Ausländerpädagogik“ als auch die verständnisorientierte „interkulturelle Pädagogik“, die sich auf konstruierte „kulturelle Differenzen“ fokussiert, tendieren zur Nicht-Thematisierung nationalstaatlicher Diskriminierung gegenüber den Nicht-Staatsbürger_innen sowie zur Dethematisierung von rassistischen Strukturen, Ideologien und Praxen. Wie kann die heutige bundesdeutsche Gesellschaft als Zeit nach der Gewalt und den Ideologien von Kolonialismus und Nationalsozialismus (vgl. Messerschmidt 2015) beschrieben werden? Neben den Aspekten von Demokratisierung und sozialistischer Staatsform gab es in beiden Ländern, BRD und DDR, migrationsgesellschaftliche Unternehmungen der unterwerfenden Integration. In ihrer verständnis- und dialogorientierten Variante zeigt die Integrationspädagogik Interesse an den Perspektiven und Handlungen der „Geanderten“ (dies meint Personen, die als „Andere“, als Nicht-Zugehörige angesehen und behandelt werden), hält jedoch an der Privilegierung der Nicht-Geanderten, der Mehrheitsangehörigen durch die Fortführung struktureller Ungleichheit und deren Nicht-Thematisierung fest und strebt nicht an, gleiche Rechte und Möglichkeiten in „eigenen“ Institutionen und der Gesellschaft zu verankern. Die zentralen Prinzipien waren: „Verstehen“, um besser zu missionieren, um effektiver zu herrschen (vgl. den Missionar Bernardino de Sahagun; vgl. Spieker 2015) und besser zur „Arbeit für uns“ (Axster 2010) zu erziehen und zu 236
Diskriminierungs- und Rassismuskritik
Ambition der Integritäten-Orientierung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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drängen. Die unterwerfende Integration ist nicht interessiert an der gleichberechtigten Berücksichtigung der Perspektiven und Positionen der als „Andere“ gesehen und behandelten Personen. Sie funktioniert als Anpassungszwang an dominante Regeln in einer Situation geringerer Rechte und Möglichkeiten der „Migrant_innen“ im hierarchisierten Bildungs- und Arbeitsmarktsystem (vgl. Ha/Schmitz 2006). Die Menschenrechte aller Personen stehen nicht im Fokus der Integrationspädagogik, sondern die Herstellung und Bewahrung einer hierarchisierenden Ordnung.
Menschenrechte haben Menschen, weil sie Menschen sind. Alle Menschen haben die gleiche ihnen innewohnende Würde und gleiche Rechte. So können die Anfangspassagen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und verschiedener UN-Konventionen zusammenfasst werden. Wenn versucht wird, den Begriff und das Konzept Würde zu beschreiben, kann Bezug auf religiöse (alle Menschen als Gottes Ebenbilder) oder auf philosophische Erklärungen (die Idee des Naturrechtes oder des Gesellschaftsvertrages) genommen werden. Eine Annäherung in Bezug auf die verschiedenen Aspekte und Ebenen von Würde ist die Konkretisierung der Würde als menschliche Integritäten (vgl. Gebrande/Melter/Bliemetsrieder 2017 b). Integritäten werden in Bezug auf die körperliche, psychische, kognitive, rechtliche, soziale, moralische und gruppenbezogene Ebene ausdifferenziert und analog zu den Menschenrechten wird gefordert, dass die Integritäten aller Menschen in gleicher Weise vor Verletzung geschützt und deren Entfaltung ermöglicht wird. Somit werden die Ambition der Wahrung und Ermöglichung der Integritäten aller Menschen(-Gruppen) und die Gleichwertigkeit aller Menschen als Grundlage gerechtigkeitsorientierten, diskriminierungs- und rassismuskritischen Denkens und Handelns verstanden. Es wird ausdrücklich von der Ambition, also der Zielsetzung, gesprochen, da in den Bereichen von Bildung und Sozialer Arbeit vielfach Menschenrechte gebrochen und Integritäten verletzt wurden, indem Adessat_innen systematisch ausgeschlossen oder benachteiligt wurden. Die Menschenrechte „formulieren auf leicht verständliche Weise Ansprüche des Einzelnen beispielsweise auf Leben, Freiheit und Sicherheit; Nahrung, Unterkunft und Bildung; Gleichheit vor dem Gesetz, Unabhängigkeit der Justiz und überhaupt das Recht auf ein Gemeinwesen, das die Voraussetzungen dafür schafft“ (Wetz 2008: 45). Letztendlich verbirgt sich im Konzept der Integritäten eine Idee von Menschenrechten als soziale Idee, die an Emmanuel Lévinas Konzept der Menschenrechte als die Rechte „des jeweils anderen“ (Lévinas 2007: 97ff.) anschließt. Aus diesen Überlegungen heraus haben Julia Gebrande, 237
Claus Melter
Claus Melter und Sandro Bliemetsrieder eine Ausdifferenzierung von Integritäten vorgenommen. In diesem Konzept werden alle Personen berücksichtigt, die in ihrer Würde und ihren Rechten verletzt werden (also nicht ausschließlich im Rassismus benachteiligte Personen).8
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Integritäten-orientierte Soziale Arbeit und Bildung Nivedita Prasad hat9 eine an die Arbeiten von Silvia Staub-Bernasconi (2007) anschließende menschenrechtsorientierte Handlungskonzeption Sozialer Arbeit vorgelegt. Diese beschreibt den Ansatz der Wahrung und Entfaltung von Integritäten sowie den Umgang mit drohenden und realisierten Integritätsverletzungen und weist auf die Verpflichtung und Möglichkeit menschenrechtsorientierter Handlungspraxen hin. Anhand der rechtlich verbindlichen UN-Konventionen, des UN-Zivil- und UN-Sozial-Paktes und weiterer EU-Konventionen macht Prasad deutlich, dass die genauen Kenntnisse dieser überstaatlichen Regelungen für Sozialarbeitende verpflichtend und notwendig sind, um die verbrieften Menschenrechte mit und für die Adressat_innen zu erstreiten. Menschenrechte und Integritäten sind konkretisierbar und einzufordern. Wie dies erfolgen kann, wird in den Texten anhand erfolgreicher Beispiele mit spezifischen Schritten aufgezeigt. Zudem wird empirisch analysiert, wie vielfach Sozialarbeitende in der Praxis menschenrechtsverletzende Aufträge widerspruchslos ausführen bzw. Sozialarbeitende diesen konkret widersprechen und Lösungen realisieren, die die Integritäten der Adressat_innen wahren. Selbstbestimmung10 und die Wahrung der Integritäten aller Menschen bedürfen der Aushandlung zwischen Sozialarbeitenden und Adressat_innen, wie sie schon von Antonio Gramsci in den 1930er Jahren im Konzept lernende Lehrer_innen und lehrende Lerner_innen (vgl. Bernhard 2005) beschrieben wird.
8 Für eine ausführliche Darstellung des Konzepts siehe vgl. Gebrande/Melter/Bliemetsrieder 2017b, S. 394–397. 9 Zum Beispiel in ihrem Buch „Mit Recht gegen Gewalt“ (Prasad 2011) sowie ihren Texten zur menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit mit geflüchteten Personen (vgl. Prasad 2017; vgl. auch Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016). 10 Ein eindrucksvolles Beispiel, wie der Aspekt der Selbstbestimmung der Adressat_innen hinsichtlich eigener Ressourcen und in verschiedenen Kontexten angeeigneter Kompetenzen berücksichtigt wird, ist das Buch „Der Habitus der Überlebenskunst“ von Louis-Henri Seukwa (2006), der sowohl nationalstaatliche und rassistische Diskriminierung berücksichtigt als auch die Handlungsfähigkeit der Akteur_innen in Form von Taktiken und Strategien (vgl. ebd.).
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
In diskriminierungs- und rassismuskritischer Perspektive auf die Migrationsgesellschaft zeigt sich, dass die Integritäten von rechtlich, sozial und medial vulnerabel/verletzbar gemachten Gruppen vielfach eingeschränkt und bedroht sind. Dementsprechend stellen sich vielfache Herausforderungen für eine Soziale Arbeit, die sich – was dem gesetzlichen Auftrag entspricht – strukturell, institutionell und adressat_innenbezogen gegen Benachteiligung und Integritätenverletzungen einsetzt. Als diskriminierungs- und rassismuskritische sowie integritäten-orientiert ambitionierte Handlungspraxen können u. a. folgende Grundlagen und Zielvorstellungen angesehen werden: Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Umgang mit Integritäten-Verletzungen
a) der Schutz und Ermöglichung von Integritäten aller Menschen; b) die Begleitung und Unterstützung von Personen, deren Integritäten verletzt wurden; c) die auf Nachvollziehen und Veränderung abzielende Arbeit mit Personen, welche die Integritäten anderer Personen verletzen; d) Teilhabe-Ermöglichen aller Gruppen an hegemonialen Bildungs-, Lebensund Arbeitsverhältnissen; e) Selbstbestimmung und Mitbestimmung aller Adressat_innen in der Weise, dass eigene Integritäten geschützt und ermöglicht sowie die Integritäten anderer Personen nicht verletzt werden und f) Kritik und Verändern-Wollen hegemonialer, ausgrenzender, benachteiligender Bildungs-, Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die die Integritäten von Gruppen systematisch einschränken und verletzen.
Aktuelle Herausforderungen einer rassismuskritischen sowie integritäten-orientiert ambitionierten Sozialen Arbeit und Bildung Bezugnehmend auf die am Anfang beschriebene Gewalt auf dem Sommerfest zeigen sich sowohl die Verletzung der körperlichen, psychischen, als auch der gruppenbezogen sozialen Integritäten des rassistisch angegriffenen Jungen. Dieses Muster, dass Opfer von Rassismus nicht angemessen begleitet oder angesprochen werden und ihre Sicht der Dinge schildern können und gehört werden, dass sie nicht als Opfer von Gewalt angesehen, begleitet und unterstützt werden, hat eine lange und fortdauernde Geschichte und Gegenwart – auch im Bereich Polizei und Justiz. Aktuell hat es sich in erschreckender Weise 239
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Claus Melter
im Kontext der Morde des so genannten NSU gezeigt, wo Polizei, Politik und Justiz die Angehörigen der Opfer fast ausschließlich als potenzielle Täter_innen behandelte, während Angehörige der deutschen Mehrheitsgesellschaft quasi einen Freibrief für Verfolgungsfreiheit erhielten, da gegen diese kaum oder nicht ermittelt wurde. Auch in der Debatte zur Situation geflüchteter Personen und den Umgang mit aktuellen Fragen der Migration wird dieses Muster praktiziert. Es ist die Regel, dass „Flüchtlingsgipfel“ und Tagungen zu geflüchteten Personen mit vielen Teilnehmenden stattfinden, jedoch ohne geflüchtete Personen. In zentralen Fragen, wie geflüchtete Personen wohnen, gesundheitlich versorgt werden, wie lange der Aufenthalt in der BRD dauern oder wann eine Arbeitserlaubnis erteilt oder ein Schulbesuch ermöglicht wird, werden die betroffenen Personen nicht einbezogen. Und wenn es darum geht, was gegen die rassistischen Angriffe und Brandanschläge auf Unterkünfte von geflüchteten und migrierten Personen gemacht werden soll, werden die bedrohten Personen selten an den Debatten beteiligt. Es findet ein systematisches SPRCHEN ÜBER geflüchtete und migrierte Personen statt, meist ohne deren Beteiligung.11
Rassismuskritik und Integritäten-Orientierung in der Praxis Der Ansatz einer rassismuskritisch sowie die Integritäten aller Personen ermöglichenden Sozialen Arbeit und Bildung soll abschließend anhand konkreter Praxisempfehlungen erläutert werden. •
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Eine Fragestellung für Praxiseinrichtungen kann sein, welchen (zugeschriebenen) gesellschaftlichen Gruppen die Mitarbeitenden angehören und ob die migrationsgesellschaftliche Vielfalt des Stadtteils oder Einzugsgebietes in der Zusammensetzung des Personals widergespiegelt und wie dies ggf. geändert wird. Anstellungspraxen, dass z. B. Diakonie, Caritas und andere christliche Träger nur Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK als Vereinigung christlicher Kirchen; vgl. ACK 2012) einstellen, sind zu kritisieren und abzuschaffen. Eine ausführliche Analyse sollte in diskriminierungs- und rassismuskritischer Perspektive der Frage gelten, welche Adressat_innen (nicht) in die
11 Und die Artikulationen von Selbstorganisationen geflüchteter Personen werden in den meisten Foren nicht zur Kenntnis genommen, z. B. die Texte von refugees4refugees aus Stuttgart, Rex Osa (https://rdl.de/beitrag/fl-chtlinge-sind-keine-babys-es-braucht-solidarit-t-und-r-umestatt-alter-kleider) oder von der Initiative Oury Yalloh (https://initiativeouryjalloh.wordpress. com/ [Zugriff: 13.06.2017]).
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
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Einrichtung kommen und ob Adressat_innengruppen eine unterschiedlich gute Begleitung und Unterstützung erfahren. In Bezug auf die vielfach belegte Abwehr von berichteten Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen der Adressat_innen durch die Pädagog_ innen erscheint es notwendig, das Personal so zu qualifizieren, dass den Adressat_innen eine individuelle Rekonstruktion der Erfahrungen ermöglicht und gemeinsam erarbeitet wird, welche Handlungsschritte die Adressat_innen alleine oder begleitet verwirklichen möchten. Hierzu bedarf es ein Wissen um Diskriminierung, Aufenthalts- und Asylrecht, Rassismus sowie interventionsbezogene Handlungsfähigkeiten. In historischer Perspektive stellt sich die Frage, ob und wie Theorien und Praxen der Einrichtungen Sozialer Arbeit und Bildung benachteiligende Unterscheidungen von gesellschaftlichen Gruppen eher gefördert oder kritisiert haben.
In konkreten Bildungs- und Betreuungsverhältnissen stellt sich die Herausforderung, Adressat_innen nicht vorwiegend als Angehörige von (kulturellen, religiösen, nationalen) Gruppen zu sehen, sondern zu ermöglichen, dass die Adressat_innen ihre eigenen Deutungen von (Mehrfach-)Zugehörigkeiten, Diskriminierungs- und Entfaltungserfahrungen ansprechen und diskutieren können. Eine rassismuskritische und Integritäten-orientierte Soziale Arbeit und Bildung wird die Erfahrungen und Artikulationen vulnerabler/diskriminierter Gruppen in das Zentrum ihrer Analysen und Kooperationsangebote stellen müssen, da diese im Mainstream systematisch vernachlässigt werden und vielfältige Praxen von Diskriminierung Lebenschancen beeinträchtigen. Fachlich zwingend und politisch notwendig sind in diesem Zusammenhang, dass die Adressat_innen, die Vertreter_innen der vulnerabel gemachten Gruppen, selbst definieren, was die eigenen Ziele, Schritte, Methoden und möglicherweise sinnvollen Unterstützungsangebote sind. Denn auch eine menschenrechts-/ integritäten-orientierte und rassismuskritische Arbeit ist in Gefahr, paternalistisch für die Adressat_innen zu arbeiten, ohne mit den Adressat_innen gleichberechtigt zu kooperieren. Dementsprechend braucht es gemeinsame Debatten über die Rechte und Integritäten aller Menschen, über Bündnisse und Kooperationsmöglichkeiten sowie gemeinsame und getrennte theoretische und praktische Interventionen gegen Integritätsverletzungen/Diskriminierung aller Menschen. Dies sind Kernaufgaben Sozialer Arbeit, von Bildung und einer menschenrechtsorientierten Demokratie.
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Claus Melter
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
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Claus Melter
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Diskriminierungs- und Rassismuskritik
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Claus Melter
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Daniel Bendix
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Migration und globale Ungleichheit – Perspektiven aus dem Geflüchtetenaktivismus in der BRD „We are here, because you were there“ – „Wir sind hier, weil ihr da wart.“ So brachte Ambalavaner Sivanandan, Aktivist und Direktor des Institute of Race Relations in London, bereits in den 1980er Jahren den Zusammenhang zwischen europäischer Kolonisierung und Migration aus den ehemaligen Kolonien nach Europa auf den Punkt. Seit ungefähr 20 Jahren verwenden migrierte1 Aktivist*innen in Deutschland den Slogan in leicht abgewandelter Form: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“. Er verweist auf globale Verknüpfungen, gegenwärtige Ausbeutungsstrukturen und verwehrt sich dagegen, Fragen von Bleiberecht als auf den innerstaatlichen Rahmen beschränkt zu betrachten. Fluchtursachen sind seit dem sogenannten „Sommer der Migration“ wieder ein größeres Thema in Politik und Medien. Dabei ist offensichtlich, dass es politischen Entscheidungsträger*innen vor allem darum geht, dass weniger Menschen aus armen Ländern, deren Fähigkeiten von europäischen Unternehmen nicht gebraucht werden, nach Europa kommen. Dafür sind fast alle Mittel recht: Militarisierung des Mittelmeerraums; Stärkung der Grenzsicherung in Westafrika; Verträge mit autokratischen und diktatorischen Regierungen, damit Menschen erst gar nicht Herkunfts- oder Transitländer verlassen können; oder auch Armutsbekämpfung im klassischen entwicklungspolitischen Sinn. Geflüchtete haben sich vor allem in den Protesten seit 2012 erkämpft, als politisch denkende und handelnde Subjekte gehört statt als Objekte be- und misshandelt zu werden. Dabei ging es hauptsächlich um die Bedingungen in Lagern, um Residenzpflicht und um Abschiebungen. Migrantische Aktivist*innen hatten es geschafft, in den Medien, von Gewerkschaften, Kirchen und NGOs als Expert*innen zu Asylgesetzgebung und Rassismus in Deutsch1 Ich verwende den Begriff Flucht und Migration bzw. Geflüchtete und Migrant*innen synonym. Menschen, die keine Chance haben, ein reguläres Visum zur Einreise in die BRD zu erhalten, können so gut wie nur illegal einreisen und werden in gewisser Weise gezwungen Asyl zu beantragen und das Label Flüchtling anzunehmen. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Kolonialmächten hat die BRD auch keine gesonderten Abkommen mit den sich damals in ihrem Kolonialbesitz befindlichen Ländern, die es deren Bewohner*innen ermöglichen würden, einfacher nach Deutschland zu kommen.
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Daniel Bendix
land ernst genommen zu werden. Deutlich weniger Aufmerksamkeit erhielt der zweite Strang des politischen Aktivismus von Geflüchteten, nämlich die Thematisierung der Verbindungen zwischen der deutschen Gesellschaft und ihren Herkunftsländern sowie Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen zwischen Globalem Norden und Süden oder Osten. In diesem Aufsatz geht es mir darum, die politischen Artikulationen von Geflüchteten/Migrant*innen herauszustellen, in denen auf Fragen globaler Ungleichheit eingegangen wird. Eine Perspektive, die globale Ungleichheit und Herrschaft in den Fokus nimmt und diese als historisch begründet versteht, kann sich auf Arbeiten stützen, die sich mit Fragen von ‚Entwicklung‘, Kapitalismus und Moderne aus post-/de-/antikolonialer Perspektive beschäftigen (Fanon 1963; Rodney 1975; Bhambra 2014). Während Migration an sich schon als Mechanismus verstanden werden kann, mit dem globale Ungleichheit effektiv bekämpft werden kann (Black u. a. 2005), konzentriere ich mich hier auf den gesamtgesellschaftlich marginalisierten expliziten politischen Flüchtlingsaktivismus und frage danach, inwiefern und wie dieser globale Ungleichheit zum Thema macht. Die im Aktivismus von Geflüchteten in der BRD ersichtlichen Perspektiven lese ich also im Lichte der genannten theoretischen Kritiklinien, die sich ebenfalls auf globale Kämpfe gegen Ungleichheit und Unterdrückung beziehen. Politisch verspreche ich mir davon, jenseits einer Beschränkung auf Integration, Inklusion oder gesellschaftliche Teilhabe Anhaltspunkte für „eine effektive Politik transnationaler Solidarität zwischen Kämpfen“ (Wilson 2012: 244) in Nord und Süd bereitzustellen. Dieser Aufsatz gründet auf der Analyse von Dokumenten aus den Geflüchtetenkämpfen in Deutschland seit den 1990er Jahre bis heute.2 1994 wird als das Gründungsjahr von The VOICE Africa Forum (später in The VOICE Refugee Forum umbenannt), eines selbstorganisierten politischen Zusammenschlusses von Migrant*innen vor allem aus afrikanischen Ländern, der immer wieder auf Fragen globaler Ungleichheit hingewiesen hat, zum Startpunkt genommen. Die Quellen umfassen Artikel von Aktivist*innen, Reden, Flyer und Slogans aus dem Kontext von Initiativen wie Afrique-Europe-Interact, The VOICE, der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, Plataforma und Refugee Strike Berlin. Um den hier untersuchten Aktivismus zu kontextualisieren, gebe ich zunächst einen kurzen Überblick über die neuere Geschichte und Ge2 Hier sehe ich mich nicht als externer Beobachter, denn ich war und bin selbst politisch aktiv – als nicht-geflüchteter, weißer Aktivist mit deutscher Staatsangehörigkeit. Wissenschaftliche Auseinandersetzung hat auch immer eine politische Dimension und kann im Sinne der Stärkung emanzipatorischer Prozesse auch als Aktivismus verstanden werden. Für meinen Aktivismus und mein Interesse an Fragen von Rassismus, Kolonialismus und globaler Ungleichheit ist nicht zuletzt meine Beschäftigung mit meinem Familienhintergrund, in dem Familienangehörige in der Shoah ermordet wurden und andere sowohl Nationalsozialismus als auch Apartheid unterstützt haben, entscheidend.
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Migration und globale Ungleichheit
genwart des Aktivismus von Geflüchteten/Migrant*innen in der BRD. In den drei darauf folgenden Abschnitten betrachte ich, wie die Themen (1) Kolonialismus, (2) Neokolonialismus und (3) (Neo-)Imperialismus von Geflüchteten eingebracht werden.
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Aktivismus von Geflüchteten in der BRD Die Selbstorganisierung von Migrant*innen bzw. Migrierten gegen Ausbeutung und Rassismus hat in der Bundesrepublik eine lange Geschichte. Bereits in den 1970er Jahren gab es mit dem Streik der migrantischen Arbeiter*innen bei Ford organisierte Proteste gegen kapitalistische Ausbeutung und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen (Karakayali 2005). In den 1990er Jahren dann organisierten etwa Gruppen wie die Flüchtlingsinitiative Brandenburg (FIB), The VOICE und die Karawane Aktionen und Proteste gegen Abschiebungen, Lagerunterbringung und Residenzpflicht. Das Besondere war, dass dieser selbstorganisierte Aktivismus nicht auf gemeinsamer Herkunft fußte (Jakob 2016: 185). The VOICE rief 2000 zum ersten Mal in Deutschland zu einer Geflüchtetenkonferenz auf. In den 2000er Jahren gründeten sich Organisationen von geflüchteten Frauen wie Women in Exile. Sie setzen sich seither u. a. für die Rechte und die Sichtbarkeit von geflüchteten Frauen in der Gesellschaft und auch innerhalb der Geflüchtetenbewegung ein. An diese Erfahrungen schließt die Protestbewegung der Geflüchteten von 2012 an (Langa 2015). Geflüchtete an mehreren Orten in der BRD widersetzten sich der Residenzpflicht, mobilisierten über Lager hinweg und entschlossen sich, von Süddeutschland aus nach Berlin zu laufen – also ins Zentrum der politischen Entscheidungen über ihr Leben. Vier Forderungen waren seitdem für die Geflüchtetenbewegung zentral: Abschaffung aller Lager, Stopp aller Abschiebungen, Abschaffung der Residenzpflicht sowie das Recht für Geflüchtete zu arbeiten und zu studieren. Aktivist*innen besetzten öffentliche Orte, Gebäude, Botschaften, Bäume und Dächer in Berlin, München, Hamburg und Hannover und begaben sich in Hunger- und Durststreiks (Langa 2015). Die Kritik von Geflüchteten am deutschen Asyl- und Migrationsregime, das sie über Jahre hinweg in psychisch schwer zu ertragenden Ausnahmesituationen belässt, hat seitdem merklich an Sichtbarkeit gewonnen (From the Struggles Collective 2015). Diese Proteste haben auch Veränderungsprozesse innerhalb der deutschen Linken herbeigeführt (Danielzik/Bendix 2016). Im „Sommer des Willkommens“ verblassten die Geflüchtetenkämpfe in der BRD merklich (ebd.). Einige Geflüchtetenselbstorganisationen kritisierten, dass die Willkommensinitiativen oftmals paternalistisch und unpolitisch agierten, anstatt Deutschlands Verantwortung für Fluchtursachen zu thematisieren, 249
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Daniel Bendix
die Organisierung von Geflüchteten zu unterstützen und konsequenter gegen rassistische Gesetzgebung und Asylrechtsverschärfungen vorzugehen.3 Auch kamen die Geflüchteten-Aktivist*innen des Oranienplatzes (O-Platz) und der bis heute besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg im Sommer 2015 kaum mehr zu Wort. Dennoch standen sie den neu ankommenden Geflüchteten zur Seite, hielten in deren Unterkünften Mobilisierungsveranstaltungen ab und stellten sich gegen Naziaufmärsche und rassistische Bewegungen wie Pegida. Die Massenmedien rückten allerdings vornehmlich weiße Deutsche ohne Flucht- und Migrationshintergrund ins Rampenlicht und das obwohl augenscheinlich auch „andere“ hieran beteiligt waren: Die Willkommenskultur erschien – und erscheint noch immer – vor allem als weiß und helfend. In den Protesten der Geflüchteten – und entsprechend auch in wissenschaftlicher Forschung dazu – ging es vor allem um Diskriminierung und Rassismus in der Einwanderungs- und Asylpolitik der BRD und der EU insgesamt. Dennoch erwähnten Aktivist*innen auch immer wieder die Notwendigkeit einer doppelten Perspektive, d. h. eines Blicks auf den Rassismus, den Geflüchtete in Deutschland erfahren, und ebenso auf die Gründe, warum Menschen fliehen oder migrieren (Osa 2015): „Auf der einen Seite müssen wir uns den Abschiebungen, den rassistischen Behandlungen und der sozialen Ausgrenzung hier in Deutschland entgegenstellen und auf der anderen Seite haben wir eine Sehnsucht danach, die furchtbaren Probleme unserer Brüder und Schwestern, die wir zurücklassen mussten, auszudrücken und öffentlich zu machen“ (Karawane o. J.).
The VOICE hat seit ihrer Gründung 1994 das deutsche Asylsystem mit kolonialer Herrschaft verglichen. 2009 entwickelten Aktivist*innen des Netzwerks Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen während der Konferenz „Vereinigt gegen koloniales Unrecht in Deutschland“ in Jena die Idee, ein Tribunal durchzuführen. Das Internationale Tribunal gegen die Bundesrepublik Deutschland fand schließlich 2013 in Berlin statt und legte der Regierung u. a. zur Last, „mitverantwortlich zu sein für die tägliche Generierung von Fluchtursachen“.4
3 Siehe z. B. Interview mit Rex Osa von The VOICE, 22.10.2015, https://rdl.de/beitrag/fl-chtlingesind-keine-babys-es-braucht-solidarit-t-und-r-ume-statt-alter-kleider [Zugriff: 06.01.2017]; Interview mit Turgay Ulu und Bino Byansi Byakuleka vom Protestcamp am Oranienplatz, 03.03.2016, https://heimatkunde.boell.de/2016/03/03/nur-essen-austeilen-alleine-reicht-nicht-turgay-uluund-bino-byansi-byakuleka-im [Zugriff: 06.01.2017]. 4 https://afrique-europe-interact.net/index.php?article_id=744&clang=0 [Zugriff: 06.01.2017]
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Migration und globale Ungleichheit
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Geflüchtete als Effekt von Kolonialismus In den Artikulationen von geflüchteten/migrantischen Aktivist*innen wird eine Beziehung zwischen Flucht und Migration auf der einen Seite und kolonialer Ausbeutung, insbesondere in Bezug auf afrikanische Länder, auf der anderen hergestellt. Napuli Langa, eine Aktivistin von Refugee Strike Berlin und bekannt dafür, dass sie mit einer fünftägigen Baumbesetzung die komplette Räumung des Oranienplatzes in Berlin durch die Polizei verhinderte, skizziert in einem Aufsatz die Auswirkungen des Kolonialismus auf Afrika und folgert daraus, dass „die Gründe, warum Menschen fliehen, mit Imperialismus und Kapitalismus verbunden sind“ (Langa 2015: 8). Bino von der African Refugees Union, der auch in der Besetzung des Oranienplatzes aktiv war, ist auch der Ansicht, dass die „[e]ffects of imperialism and colonialism determine the shape and conditions in my home country Uganda and other countries in my mother continent Africa until today“ (Bino 2016). Das lässt ihn u. a. zu der Schlussfolgerung kommen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Geflüchteten aus afrikanischen Ländern und der kolonialen Geschichte Deutschlands und Berlins: „It may be too easy to say that we are here because of the Berlin conference 1884 and its consequences, but the facts and connections must be acknowledged within the German society and by the authorities. [...] There are countless other examples that destroyed the balance of life in Africa and continues to do so until today. The colonies fragmented and divided African societies which produced civil wars until today [...].“
In dieser Argumentationsweise liegt der Schwerpunkt auf den politischen und wirtschaftlichen Effekten imperialer Intervention und formaler Kolonisierung. Die Argumentation stellt sich so dar, dass europäische imperiale Politik, welche im formalen Kolonialismus mündete, heute immer noch Probleme in Afrika und anderen vormals kolonialisierten Regionen zu verantworten hat, welche wiederum Menschen dazu bringen fliehen zu müssen. Solche eine Herangehensweise ähnelt der Forderung des deutschen postkolonialen Theoretikers Kien Nghi Ha, Deutschlands aktuelle postkoloniale Kondition ernst zu nehmen: „Solange die Überlagerung ineinanderlaufender Zeit- und Gesellschaftssedimente kein Thema ist und die wissenschaftliche Aufarbeitung rein historisch verbleibt, solange können die Einflüsse kolonialer Effekte auf die rassistischen Konditionen der deutschen Gegenwartsgesellschaft nicht in den Blick genommen werden“ (2005: 106).
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Daniel Bendix
Diese Betrachtungsweise der kolonialen Geschichte als gegenwärtig wirksam stellt aktuelle Ideen und Praktiken, wie die Ungleichbehandlung von Menschen mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder die Gleichsetzung von Weißsein und Deutschsein, grundlegend infrage. Es ist zu bemerken, dass die historisierende Perspektive, die im Aktivismus der Geflüchteten ersichtlich wird, selten empirisch substantiiert wird. Auch bleibt unklar, was mit dem Verweis auf Deutschlands koloniale Geschichte beispielsweise in einigen afrikanischen Ländern erreicht werden soll, d. h. welche neuen Perspektiven auf Migration und Teilhabe das ermöglichen könnte oder welche Forderungen sich daraus ableiten ließen. Um im Sinne eines „Wir sind hier, weil ihr da wart“ der Präsenz von Migrant*innen in Europa als Folge von Kolonialismus eine neue Bedeutung zukommen zu lassen, ist es meines Erachtens sinnvoll, Bezug zu nehmen auf das Konzept der „connected histories“, „that acknowledge the imperial past as the very condition of possibility of Europe and European countries today“ und „that would see migrants/refugees as already having claims upon the states they wish to enter“ (Bhambra 2014, 2015: 12). Der europäische Reichtum, der durch Industrialisierung erreicht wurde, basierte auf dem Kapitel, das durch die Ausbeutung der kolonisierten Gebiete und Gesellschaften nach Europa transferiert wurde. Ohne „de[n] Schweiß und die Leichen“ der Kolonisierten wäre Europas Aufstieg undenkbar gewesen, wie Frantz Fanon (1981: 79) es in „Die Verdammten dieser Erde“ treffend formulierte. Mit der Perspektive dieser verbundenen Geschichte werden Migrant*innen von Bittsteller*innen zu Bürger*innen Europas, bevor sie überhaupt europäischen Boden betreten haben, und die Idee von Nationalstaaten, die sich jeweils eigenständig ‚entwickelt‘ hätten, wird ad acta gelegt.
Neokolonialismus und der Armutsdiskurs Wie in den obigen Aussagen schon implizit ersichtlich wurde, verweist Aktivismus von Geflüchteten auch auf Neokolonialismus und ökonomischen Imperialismus. In ihrem Grundsatzpapier erwähnt Plataforma (2004 gegründet, um existierende selbstorganisierte Initiativen in Berlin zusammenzubringen), dass Menschen oft fliehen, weil „ihre Länder von den westlichen Industriemächten ausgeplündert und zerstört werden“ (Plataforma o. J.). Die Kontinuität kolonialzeitlicher ökonomischer und politischer Abhängigkeit wird insbesondere für afrikanische Länder hervorgehoben, in denen „continuing economic hegemony [...] means that the postcolonial state remains in a situation of dependence on its former masters, and that the former masters continue to act in a colonialist manner towards formerly colonized states“ (Young 2001: 45). Adam Bahar, ein weiterer Aktivist der Bewegung um die Besetzung des Oranienplat252
Migration und globale Ungleichheit
zes, weist auf den Zusammenhang zwischen der Unterstützung von Diktaturen in Afrika und europäischen Interessen an der Sicherung natürlicher Ressourcen hin:
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„The governments flaunting buzzwords like human rights and democracy seek nothing but to buy up dictators to secure the flow of natural wealth to their peoples to maintain their prosperity“ (Bahar 2015: o. S.).
Aktivismus von Geflüchteten in der BRD verweist regelmäßig auf ungleiche ökonomische Beziehungen zwischen der EU/dem Westen und Afrika: „Furthermore it is well known in this post-colonial – or rather neocolonial – era that the EU and the International World Bank control and destroy African markets“ (Bino 2016). Eine entsprechende Position wurde von The VOICE und der Karawane bereits in den frühen 2000ern eingenommen. Letztere hat dafür mobilisiert, in der Vorbereitung auf den G8-Gipfel in Heiligendamm Neokolonialismus auf die Agenda zu setzen. In den Worten der Karawane: „The wealth of the so-called rich countries of the North, especially the ,Group of 8‘, the Greedy 8, accrue from the massive and inhuman exploitation and colonization of our countries“ (2007: o. S.). 1999, also in den Anfangszeiten der Anti-Globalisierungsbewegung, kam The VOICE mit Hunderten von indischen Bäuer*innen zusammen, um gegen die Liberalisierung des Landwirtschaftssektors beim G7-Gipfel in Köln zu demonstrieren (Jakob 2016: 27). In ähnlicher Stoßrichtung, transnational agierend, beteiligt sich das Netzwerk Afrique-Europe-Interact (2012) „an sozialen Auseinandersetzungen um gerechte bzw. selbstbestimmte Entwicklung“ und verknüpft das „Recht zu bleiben“ mit dem „Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit“. Das Netzwerk verbindet Fluchtursachen explizit mit der Kritik an „neokoloniale[m] Landraub bzw. Landgrabbing“ in Westafrika, d. h. dem „Ausverkauf großer Wald-, Acker- und Weideflächen an global operierende Banken, Investmentfonds und Konzerne“ (ebd.). Afrique-Europe-Interact sieht Landgrabbing als nachteilig für die Lebensgrundlagen von Kleinbäuer*innen. Dieser Ansatz setzt das um, was Christoph Spehr (1996) mit dem Konzept der „Abwicklung des Nordens“ propagiert, nämlich die Kapazität des globalen Kapitals einzuschränken, sich Ressourcen aus dem Süden anzueignen. Jenseits davon, die Praktiken des Landraubs zu problematisieren und z. B. die Beteiligung der Deutschen Bank daran zu skandalisieren, unternimmt das Netzwerk auch praktische Versuche, Machtverhältnisse zu transformieren. Überzeugt davon, „that the neo-colonial relations of dominance and exploitation can only be changed if social grassroots movements from Africa and Europe work together on a large-scale basis in a fair, reliable and direct form“ (Afrique-Europe-Interact 2012: o. S.), ruft Afrique-Europe-Interact zu praktischer, wenn auch eher symbolischer Umverteilung auf. So sammelt es beispielsweise Geld für Basis253
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initiativen in Mali und stellt damit die Notwendigkeit „of the redistribution of resources between the global south and north“ heraus. Indem diese Praxis nicht über einen Hilfsdiskurs transportiert wird, dockt sie an antikoloniale Ideen an, nach denen der Reichtum der imperialen Länder auch Afrika gehöre, weswegen die Empfänger*innen von ‚Entwicklungshilfe‘ diese nicht voll Dankbarkeit entgegen nähmen, sondern sie als gerechte Entschädigung ansähen. (Fanon 1963: 102). Während die bis hierhin in diesem Abschnitt untersuchte Kritik kolonialer Kontinuitäten eher mit politökonomischen Überlegungen zu ‚ungleicher Entwicklung‘ in Einklang steht, begeben sich andere Kritikstränge eher in die Auseinandersetzung um Bedeutungsrahmen. Peter Donatus (2016), ein Umwelt- und Menschrechtsaktivist, der vor mehr als zwei Jahrzehnten aus Nigeria floh, kritisiert die Zerstörung von Umwelt und Lebensgrundlagen durch multinationale Ölfirmen und die nigerianische Regierung im Nigerdelta. Er versteht diese als „klassisches Beispiel für Ökozid im Zusammenhang mit Flucht und Migration“ und kritisiert die Heuchelei, Menschen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ in Europa zu bezeichnen, „ohne die verantwortlichen ‚Wirtschaftskriminellen‘ zu benennen und strafrechtlich zu verfolgen“ (Donatus 2016: 19). Eine distinkt postkoloniale Perspektive, die sich der Macht von Diskursen bewusst ist, wird ebenfalls offensichtlich, wenn Aktivist*innen sich weigern, ‚Armut‘ als Analyserahmen anzuerkennen. Alassane Dicko (2016), Mitbegründer der Vereinigung der abgeschobenen Malier*innen und bei Afrique-Europe-Interact aktiv, erläutert, dass er den Erklärungsrahmen, dass Armut die Ursache für Migration sei, ablehnt, weil dieser „uns [...] zu quasi natürlichen Empfänger_innen von Entwicklungshilfe [macht]“. Stattdessen schlägt er vor, von einem „Mangel an Perspektiven“ zu sprechen, die darauf gründen, dass Menschen Ressourcen nicht selbst nutzen können und dass „schlechte Regierungen“ über Jahrzehnte dafür gesorgt haben, dass Afrika durch die „reichen Industrieländer“ ausgebeutet werden konnte (Dicko 2016: 7). In ähnlicher Weise stellt Osaran Igbinoba von The VOICE fest: „Es gibt keinen Hunger. Es gibt nur Ausplünderung“ (zit. in Jakob 2016: 20).
Imperialismus und Waffenexporte Der dritte Aspekt, der aus den Verlautbarungen und Aktivitäten von Flüchtlingsaktivismus in Deutschland ersichtlich wird, ist die Kritik von militärischem Imperialismus, Waffenhandel sowie die Zusammenarbeit von westlichen Mächten bzw. Deutschland mit repressiven Staaten, vor denen Migrant*innen geflohen sind. Adam Bahar schreibt dazu:
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„The colonization strategy [...] is implemented by means of starting wars and marketing weaponry. It is quite simple really – Germany is one of the biggest manufacturers of weapons and military equipment in the world, it makes all the sense for it to want to sell these weapons and equipment, so wars have to be waged in Africa“ (2015: o. S.).
Derzeit ist die BRD militärisch alleine auf dem afrikanischen Kontinent in Mali, am Horn von Afrika und – im Kontext internationaler Missionen – in Somalia, Liberia, Sudan, Südsudan, Djibouti und Westsahara aktiv (Our reporter 2016: o. S.). Deutsche Unternehmen exportieren Waffen und militärische bzw. militärisch nutzbare Technologien in die ganze Welt. Deutschland liegt weltweit auf Platz vier der Exporteure von großen Waffen und auf Platz zwei in Bezug auf Kleinwaffen (Stockholm International Peace Research Institute 2015). Um den Zusammenhang zwischen Flucht und Waffenhandel aufzuzeigen, haben selbstorganisierte Geflüchteten-/Migrant*innen-Organisationen zusammen mit Friedens- und Anti-Kriegs-Netzwerken 2015 die „Bodensee Action Days: Stop weapons’ export! Fight the causes of flight!“ durchgeführt (Korvensyrjä/Osa 2016). Das Ziel war es, aufzuzeigen, dass die Waffen und Waffentechnologie, die in der Bodenseeregion hergestellt und entwickelt werden, Menschen dazu bringen, aus ihren Heimatländern fliehen zu müssen. Die Kampagne hat eine Verbindung zwischen dem Reichtum in der genannten Region und dem Tod von Menschen bzw. der Flucht vor bewaffneten Konflikten in anderen Ländern hergestellt: „We are dying for your privilege here in our country“ (Feliziani 2016: o. S.). Das Einzigartige an diesem Protest war, dass die Aktivist*innen die Kritik an der Waffenindustrie mit einer der Kernforderungen der Flüchtlingsproteste verknüpften, nämlich der Abschaffung der Lagerunterbringung (in diesem Fall des Lagers in Überlingen). Mit Rückgriff auf den Slogan „Close the lager, and close Diehl’s weapon production“ (Feliziani 2016: o. S.) besuchten die Protestierenden die Bewohner*innen des Lagers und wiesen darauf hin, dass die Waffenindustrie mit 80 Prozent für den überwiegenden Teil der Steuereinnahmen Überlingens verantwortlich ist (Jakob 2016: 167). Nach Rex Osa, einem der Organisator*innen der Kampagne, war die Reaktion von Bewohner*innen der Gegend positiv: „They commend[ed] us for exposing them to their region’s responsibility in causing flight and forced migration through facilitating war and armed conflict in the Middle East and Africa.“ Und lokale Friedensinitiativen „could also better understand the connection between their activism against war and weapons, and the situation of refugees“ (Korvensyrjä/Osa 2016: 105). Allgemeiner argumentiert Osa, dass Menschen in Europa verstehen sollten, wie ihre Privilegien auf globaler Ebene gesichert werden. Seiner Ansicht nach „ist der einzige Weg tatsächliche Toleranz und Respekt zu erzeugen der, Menschen über die Gründe für Flucht zu bilden, und insbesondere in Bezug 255
Daniel Bendix
auf Deutschlands imperiale Rolle in der Weltpolitik“ (Korvensyrjä/Osa 2016: 110). Zu fordern, dass Waffenproduktion und -export eingeschränkt wird, geht einher mit Spehrs (1996) Idee, zu einer „Dekolonisierung des Nordens“ beizutragen, indem dessen Kapazitäten für militärische Interventionen minimiert werden.
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Schlussfolgerung „Where the cacao is coming from? Where the coffee is coming from? Where the platinum is coming from? And where the WEAPONS ARE COMING FROM? All these things can travel free, where is the freedom of movement for refugees?“ (Zeilen aus einem Lied der Antinational Embassy, zit. in Refugee Strike Berlin 2014: 198)
Insgesamt hat der Aktivismus von Geflüchteten seit den 1990er Jahren die Themen Flucht, Migration und Asyl zusammengebracht mit Fragen globaler Ungleichheit und Ausbeutung, der gemeinsamen kolonialen Geschichte von Europa und dem Rest der Welt und insbesondere Afrika sowie auch imperialer Politik. Im vorliegenden Beitrag habe ich drei Themenstränge untersucht. Erstens wird die Präsenz von Geflüchteten in Deutschland allgemein als Konsequenz der kolonialen Vergangenheit dargestellt. Hier scheint Berlin als Ort der Afrika-Konferenz von 1884/1885, bei der die europäische Kolonisierung des Kontinents geplant wurde, eine besondere Symbolkraft zuzukommen. Zweitens stellen Aktivist*innen die spezifische Dimension neokolonialer Strukturen heraus, d. h. die Fortführung der kolonialzeitlichen Extraktion von Reichtum aus den Ländern des Südens zum Vorteil des Nordens. So wird argumentiert, dass Armut kein Naturphänomen sei, sondern zu tun habe mit der Abhängigkeit von globalem Kapitalismus und mit vergangener wie gegenwärtiger Ausbeutung. Drittens geht es Aktivist*innen um die Verbindung zwischen Waffenexporten aus Deutschland und der Zerstörung von Gesellschaften im Süden. Analysen zu Flüchtlingsaktivismus erwähnen, dass Fluchtursachen vor allem angeführt werden, um Bleiberechtsforderungen oder die Forderung, Grenzen für Migrant*innen zu öffnen, zu untermauern, sehen diese aber nicht unbedingt als politischen Aktivismus jenseits des Kampfes für Bleiberecht (Jakob 2016: 185). Pierre Monforte – in seiner Untersuchung von Protesten gegen die ‚Festung Europa‘ in Frankreich und Deutschland – argumentiert, dass man „[t]he explicit comparison between current European immigration and asylum policies on one hand and the periods of colonialism and slavery on the other [...] 256
in particular in documents relating to deportation policies“ finde (2014: 160). Wie ich zeigen konnte, werden diese Verbindungslinien nicht nur in Bezug auf den Kampf gegen Abschiebungen gezogen. Auch das Thema von Neokolonialismus als koloniale Kontinuität der ökonomischen Ausbeutung des Südens durch den Norden spielt für den Aktivismus von Geflüchteten in Deutschland offensichtlich auch eine Rolle. Insgesamt hat dieser Beitrag gezeigt, dass der migrationsbezogene Aktivismus in der BRD kontinuierlich Themen globaler Ungleichheit als verbunden mit kolonialer Herrschaft und postkolonialen ökonomischen, militärischen, politischen und diskursiven Machtverhältnissen auf die Tagesordnung gebracht hat. Dabei skandalisiert dieser Aktivismus auch die Kooperation von repressiven Regimen im Süden mit Regierungen und Unternehmen des Globalen Nordens. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Migration und globale Ungleichheit
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Sebastian Muy
Einleitung
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Mandatswidrige Aufträge an Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete
Im März 2016 veröffentlichte eine Initiative von Hochschullehrenden ein Positionspapier zu professionellen Standards und sozialpolitischer Basis von Sozialer Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften (vgl. Initiative Hochschullehrender 2016). Die dort proklamierten Standards, so die Autor_innen, konkretisierten allgemeine Grundsätze der Sozialen Arbeit bezogen auf ein spezifisches Arbeitsfeld und sollten Sozialarbeiter_innen ermöglichen, sich zur Begründung ihres Handelns auf eine gemeinsame fachliche und berufsethische Grundlage berufen zu können (vgl. ebd.: 3). Soziale Arbeit basiere, so die Autor_innen unter Bezug auf die globale Definition der Sozialen Arbeit (vgl. IFSW/IASSW 2014), auf den Grundlagen der Menschenrechte und der Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und der Achtung der Vielfalt; sie ziele auf sozialen Wandel und die Stärkung und Befreiung der Menschen: „Sozialarbeiter_innen verstehen es als ihren Auftrag, Menschen im Sinne ihrer Selbstbestimmung, Partizipation und gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen und dort Partei zu ergreifen, wo diesem Anspruch gesellschaftliche Rahmenbedingungen entgegenstehen“ (Initiative Hochschullehrender 2016: 3).
Aus diesem Zitat lässt sich eine bestimmte Haltung zur Frage herauslesen, was es mit dem (professionellen) ‚Mandat‘ der Sozialen Arbeit auf sich hat – die Selbstmandatierung der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession: Erhebe Soziale Arbeit den Anspruch, Profession zu sein, so Silvia Staub-Bernasconi (2007: 200), so müsse sie das klassische Doppelmandat – einerseits der Hilfe für ihre Adressat_innen verpflichtet, andererseits dem (Kontroll-)Auftrag des Staates bzw. der Gesellschaft – zu einem Tripelmandat erweitern. Das dritte Mandat der Profession der Sozialen Arbeit setze sich zusammen aus einer wissenschaftlichen Beschreibungs- und Erklärungsbasis sowie einer eigenständigen ethischen Basis mit den Menschenrechten als zentralem Bezugsrahmen (vgl. ebd.).
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Mandatswidrige Aufträge an Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete
Dabei handelt es sich zunächst um eine Position in der theoretischen (sozialarbeitswissenschaftlichen) Debatte. In der konkreten Auseinandersetzung um die real existierende Soziale Arbeit kann diese theoretische Position dahingehend übersetzt werden, dass konkrete Aufträge, Praxen und Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit kritisiert werden mit dem Verweis auf deren Diskrepanz zu ihrem u. a. menschenrechtlich fundierten Mandat (vgl. Staub-Bernasconi 2014: 369). Dies sei vorangestellt, um deutlich zu machen, dass die in kritischer Absicht gestellte Frage nach mandatswidrigen Aufträgen an die Soziale Arbeit, die im Zentrum dieses Textes steht, bereits theoretische Prämissen impliziert, die die Existenz eines menschenrechtsbasierten professionellen Mandats der Sozialen Arbeit voraussetzen. Davon ausgehend können die Praxis der Sozialen Arbeit, ihre Rahmenbedingungen und die an sie gerichteten Aufträge auf ihre Vereinbarkeit mit diesem Mandat hin befragt und der Fokus dorthin gerichtet werden, wo normativer Anspruch und beobachtbare Wirklichkeit auseinanderklaffen. Dies kann als eine Form der ‚immanenten Kritik‘ (vgl. Georgi 2012; Georgi/Schatral 2012) verstanden werden. Gegenstand dieses Textes sind mandatswidrige Aufträge an die Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete in Deutschland. Die Zahl der Sammelunterkünfte und der in diesen untergebrachten Menschen ist in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, deutlich gestiegen – und damit auch der Bedarf an empirischen, theoretischen und politischen Auseinandersetzungen mit Sammelunterkünften als einem Arbeitsfeld für immer mehr Sozialarbeitende und den mitunter widersprüchlichen Rollen und Aufgaben, die ihnen dabei zukommen. Albert Scherr zufolge wird in der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten „die Diskrepanz zwischen den Idealen der Profession und ihrem normativ fundierten Selbstverständnis einerseits, und den faktischen Grenzen, die aus ihrer Einbindung in die Strukturen des nationalen Wohlfahrtsstaates resultieren […] in zugespitzter Weise deutlich“ (2015: 17). Sie agiert in einem institutionellen Kontext, der dem Anspruch, eine ‚helfende‘ und menschenrechtsorientierte Profession zu sein, entgegenläuft. Der Raum der Sammelunterkunft stellt einen Zwangskontext Sozialer Arbeit dar: Asylsuchende werden von der Behörde einem bestimmten Ort und einer bestimmten Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen. Sie haben kein Mitspracherecht, in welcher Stadt und in welcher Unterkunft sie wohnen und mit wem sie in einem Haus und in einem Zimmer untergebracht werden wollen, was zu einer Form von Zwangsgemeinschaft führt.
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Sebastian Muy
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Sammelunterbringung und politisch produzierte Menschenrechtsverletzungen Wenn argumentiert wird, mit der Unterbringung in Sammellagern1 einhergehende Restriktionen seien nicht primär politisch intendiert, sondern lediglich dem ‚Unterbringungsnotstand‘ angesichts der rapide gestiegenen Zahlen an Asylsuchenden geschuldet, dann ist dem mit dem Verweis auf den politischen Entstehungskontext entgegenzuhalten: Etabliert wurden Sammelunterkünfte Anfang der 1980er Jahre als Bestandteil einer Politik der Entrechtung und Abschreckung von Geflüchteten (vgl. Pieper 2008: 46f.). Als ab Mitte der 1990er Jahre in Folge des sogenannten Asylkompromisses die Antragszahlen kontinuierlich abnahmen, wurden sukzessive Unterbringungskapazitäten abgebaut. Das Prinzip der Unterbringung in Sammelunterkünften wurde jedoch aufrechterhalten und weiter als repressives politisches Instrument eingesetzt. Menschenrechtsverletzungen sind unter diesen Bedingungen strukturell angelegt. Tobias Pieper spricht vom Flüchtlingslager als „materiell-räumliche[m] Ort des gesellschaftlichen Ausschlusses“ (2008: 343) und hat verschiedene Strukturdimensionen der Lagerunterbringung herausgearbeitet. Dazu gehören die Unterbringung in Mehrbettzimmern, die mit einer Abwesenheit von Privatsphäre und dem Leben in Zwangsgemeinschaften einhergeht, Einlasskontrollen und eingeschränkte Besuchszeiten. Die Pflicht, in einer Sammelunterkunft zu wohnen, wirkt zusammen mit anderen gesetzlichen Einschränkungen der Lebensbedingungen, etwa Beschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt, der Residenzpflicht, welche vielen Asylsuchenden verbietet, ohne behördliche Erlaubnis den ihnen zugewiesenen Landkreis zu verlassen, dem Prinzip der Sachleistungsversorgung und der gesundheitlichen Mangelversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Als Konsequenz diverser Restriktionen und Repressionen leiden viele Geflüchtete, die über Jahre in Sammelunterkünften untergebracht werden, unter körperlichen und psychischen Problemen.
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Wie in anderen Konfliktfeldern hängt auch beim Sprechen über die Unterbringung von Geflüchteten bereits die Verwendung von Bezeichnungen mit der jeweiligen Positionierung im Konfliktfeld und den mit einem Begriff jeweils verbundenen Bedeutungskonstruktionen und Bewertungen zusammen. In der offiziellen Terminologie des Asylgesetzes ist von ‚Gemeinschaftsunterkünften‘ und ‚Aufnahmeeinrichtungen‘ die Rede. Anfang der 1980er Jahre hatten gerade konservative Politiker_innen, die auf die zwangsweise Sammelunterbringung als Abschreckungsinstrument setzten, den Begriff des ‚(Sammel-)Lagers‘ benutzt (vgl. Wendel 2014: 11), während er heute von vielen als inadäquat abgelehnt wird. Tobias Pieper plädiert auf begriffsinhaltlichen, aber auch aus politischen Gründen für die Verwendung des Lagerbegriffs: „Die Nicht-Benennung als Lager als solche führt im Endeffekt zu einer Verharmlosung und Entnennung der Inhumanität und des menschenrechtlichen Skandals der Unterbringungssituation im demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland“ (Pieper 2008: 351).
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Mandatswidrige Aufträge an Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete
Darüber hinaus ist der Lagerinnenraum aus der Sicht der Bewohner_innen jedoch auch geprägt durch die konkreten Handlungen der Mitarbeiter_innen der Unterkünfte. Diese können, innerhalb der engen gesetzlich-institutionellen Grenzen, die Handlungsmöglichkeiten der Geflüchteten durch positives Engagement verbessern. Auf der anderen Seite sind die Lagerbedingungen durch asymmetrische Machtverhältnisse geprägt. Diese manifestieren sich u. a. in der Abhängigkeit der Bewohner_innen vom ‚guten Willen‘ der Sozialarbeiter_innen, wenn sie Unterstützungsleistungen von diesen benötigten (vgl. Pieper 2008: 104). Zudem bestehe durch die Zuständigkeit für das ‚Funktionieren‘ des Lagers ein Teil der Arbeit immer auch aus Kontrollfunktionen, sodass persönliches Engagement die repressive Gesamtsituation nicht aufheben könne (vgl. ebd.: 102). Die ungleichen Machtverhältnisse begünstigen strukturell – teilweise über die politisch intendierten und rechtlich erlaubten Restriktionen hinaus – Machtmissbrauch durch Heimleiter_innen, Wachpersonal oder Sozialarbeiter_innen und anderem Personal. Die Sprecher_innenpositionen sind mit unterschiedlich viel Macht verbunden, sodass in Konfliktfällen Mitarbeiter_innen tendenziell eher ‚geglaubt‘ wird als Bewohner_innen und die Heimleitung praktisch den „Ort der Wahrheitsdefinition“ (ebd.: 346) darstellen kann. Die Heimleitung hat das Hausrecht inne; bei Verstößen gegen die Heimordnung kann diese ein Hausverbot verhängen, und bei der Interpretation dessen, wann es sich um einen Ordnungsverstoß handelt und ob und wie dieser geahndet werden soll, besteht aufseiten der Heimleitung ein erheblicher Spielraum (vgl. z. B. Muy 2016a: 56). Sie verfügt damit über ein Drohinstrument, um missliebiges Verhalten zu unterbinden und zu sanktionieren. Eine unabhängige Beschwerdestelle, an die Bewohner_innen sich im Fall von Rechtsverletzungen im Lager effektiv wenden können, gibt es in der Regel nicht. Pieper charakterisiert deutsche Flüchtlingslager daher als ‚potenziell rechtsfreie Räume‘ (vgl. Pieper 2008: 345). Frauen sowie Lesben, Schwule, queere und Trans*-Personen können in besonderer Weise von Menschenrechtsverletzungen in Sammelunterkünften betroffen sein. Das Zusammenwohnen in Zwangsgemeinschaften, das Fehlen von Privatsphäre und von Schutzräumen, die asymmetrischen Machtverhältnisse und fehlende Beschwerdemechanismen bedingen ihre besondere Verletzbarkeit (vgl. GLADT e. V. 2015). Außerdem wird der Gewaltschutz durch Sondergesetze wie Residenzpflicht und Wohnsitzauflage eingeschränkt. Hierauf macht eine Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte (Rabe 2015) ebenso aufmerksam wie Initiativen wie Women in Exile oder International Women Space, in denen sich geflüchtete Frauen zusammengeschlossen haben und die Abschaffung der Lagerunterbringung fordern (vgl. Women in Exile 2015; International Women Space 2015). Auch Kinder und Jugendliche sind in Sammelunterkünften besonders von Menschenrechtsverletzungen betroffen, etwa 263
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Sebastian Muy
durch räumliche und soziale Isolation, eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten, beengte Wohnverhältnisse, fehlende Privatsphäre und eingeschränkten Zugang zu Bildung (vgl. Berthold 2014; Lewek/Naber 2017). Unter den negativen Effekten der Sammelunterbringung leiden auch jene Geflüchteten, die rechtlich nicht mehr zum Wohnen in einer Erstaufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft verpflichtet sind, die aber – etwa aufgrund von Mangel an bezahlbarem Wohnraum, einer damit einhergehenden verschärften Konkurrenz unter Wohnungssuchenden, Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, mangelnden Unterstützungsangeboten und bürokratischen Hürden – faktisch über eine lange Zeit nicht aus der Sammelunterkunft ausziehen können (vgl. Klöpper 2016). Auf der anderen Seite gibt es auch Gruppen, für die die Unterbringungsbedingungen seit dem „kühle[n] Herbst der Reaktion“ (Schwiertz/Ratfisch 2016: 19) 2015 durch Gesetzesänderungen gezielt verschärft worden sind, um Druck auf sie auszuüben. So wurde mit dem ‚Asylpaket II‘ Ende Februar 2016 der neue, besonders restriktive Lagertypus der ‚besonderen Aufnahmeeinrichtung‘ geschaffen (§ 5 Abs. 5 AsylG). In diesen sollen u. a. Asylsuchende aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘, Folgeantragsteller_innen sowie Menschen, die über ihre Identität getäuscht oder Reisedokumente beseitigt haben, untergebracht werden – also jene Gruppen, die diskursiv als ‚Asylsuchende ohne Bleibeperspektive‘ etikettiert werden. Ihre Anträge können in beschleunigten Verfahren innerhalb von einer Woche abgefertigt werden (§ 30a AsylG). Ein Verstoß gegen die Residenzpflicht soll die Einstellung des Asylverfahrens nach sich ziehen (§ 33 AsylG). Asylsuchende, deren Anträge als offensichtlich unbegründet oder unzulässig abgelehnt wurden, müssen bis zur Ausreise oder Abschiebung in diesen Lagern verbleiben (§ 30a Abs. 3 AsylG). Nach dem im Februar 2017 vom Bundesinnenministerium vorgelegten Entwurf eines ‚Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht‘ sollen die Länder ermächtigt werden, diese Verpflichtung auch auf weitere Gruppen von Asylsuchenden auszuweiten (§ 47 Abs. 1b AsylG-E vom 15.02.2017). Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs und -chefinnen der Bundesländer kamen in ihrer Besprechung am 9. Februar 2017 außerdem darin überein, „durch Maßnahmen der Unterbringung und auf andere Weise sicher[zu]stellen, dass durch Betreuung und Beratung die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise gefördert und die Erreichbarkeit für Behörden und Gerichte sowie die Durchführung der Ausreise gesichert werden, z. B. durch Unterbringung in zentralen Ausreiseeinrichtungen“ (Bund und Länder 2017: Punkt 5).
Der Bund prüfe ergänzend die Einrichtung von Bundesausreisezentren für die letzten Tage oder Wochen des Aufenthalts von Ausreisepflichtigen.
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Forcierung der Ausreise durch Soziale Arbeit?2 Die gesetzliche Grundlage für die Einrichtung von sogenannten Ausreiseeinrichtungen wurde 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz von der rot-grünen Bundesregierung eingeführt (§ 61 Abs. 2 AufenthG). Tobias Pieper hat im Rahmen seiner Studie Die Gegenwart der Lager (2008) eine solche Ausreiseeinrichtung in Bramsche, Niedersachsen, untersucht und sich dabei auch mit der Rolle der Sozialberater_innen befasst. Das Spezifikum der Ausreiseeinrichtung besteht in der Zusammenziehung aller relevanten Institutionen auf dem Lagergelände und dem für diese handlungsleitenden Konzept der Forcierung der ‚freiwilligen‘ Ausreise. Die einzelnen Behörden verschmelzen zu einem widerspruchsfreien Machtblock, „das Lager als Ort der materiellen wie symbolischen Segregation soll und muss überhaupt nicht mehr verlassen werden“ (Pieper 2008: 235). In jedem Moment des Alltags soll den Bewohner_innen die Ausweglosigkeit in Bezug auf einen legalen Aufenthalt in Deutschland vor Augen geführt werden. Hierzu dient ein differenziertes Belohnungs- und Bestrafungssystem, das auf der einen Seite individuelle Rückkehrberatung, finanzielle Starthilfen und Weiterqualifizierungsangebote für die bessere Reintegration im Herkunftsland nach einer ‚freiwilligen‘ Rückkehr und auf der anderen Seite bei Nichtkooperation die Streichung von Bargeldleistungen, häufige Zwangstermine bei Rückkehrberatung und Ausländerbehörde, Abschiebeandrohungen und Strafverfahren wegen illegalen Aufenthalts umfasst (vgl. ebd.: 218ff.). Sozialarbeiter_innen agieren als elementarer Teil dieses Systems in der Funktion als Rückkehrberater_innen und sind direkt den Anweisungen der Lagerleitung und der Zentralen Ausländerbehörde unterstellt (vgl. ebd.: 236). Sie preisen ihre Arbeit als humanitäres Konzept an, da durch die Hilfe zur ‚freiwilligen‘ Rückkehr gewaltsame und kostenintensive Abschiebungen vermieden und die Menschen bei der Reintegration in ihrem Herkunftsland unterstützt würden (vgl. ebd.: 222f.). Piepers Beschreibungen zeigen, wie weitgehend Sozialarbeiter_innen in Flüchtlingsunterkünften in restriktives Verwaltungshandeln mit dem Ziel der Durchsetzung der Ausreisepflicht eingebunden werden können, vor allem wenn die Einrichtung explizit durch diese Zwecksetzung charakterisiert ist und die Sozialarbeiter_innen direkt der Innenbehörde als Einrichtungsbetreiber unterstehen. Auch die neuen ‚besonderen Aufnahmeeinrichtungen‘ sind klar durch diese Zwecksetzung charakterisiert. Im bayerischen Erstaufnahmelager für Asylsuchende aus den per Gesetz für ‚sicher‘ erklärten Westbalkanländern in Manching sollte 2016 die ohnehin schon völlig unzureichende ergebnisoffene Beratung durch Sozialarbeiter_innen der Caritas gekürzt werden. Die 2 Der folgende Abschnitt ist in Teilen dem Beitrag Muy 2016b (66f.) entnommen.
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Sebastian Muy
Sprecherin der Regierung von Oberbayern teilte mit, es reiche eine „niederschwellige Sozialbetreuung“ (zit. n. Bayerischer Flüchtlingsrat 2016). In einem Lager mit dem erklärten Ziel der „Abschiebung im Schnellverfahren“, so die Sozialministerin bei dessen Eröffnung (zit. n. Jung 2016), ist unabhängige ergebnisoffene Beratung nichts anderes als ein Störfaktor. Auch wenn die Einrichtung letztlich von einem freien Träger geführt würde und die Sozialarbeiter_innen nicht alleine dem Auftrag der Rückkehrförderung verschrieben sind, so blieben der Sozialen Arbeit in einem solchen institutionellen Setting kaum Spielräume, die untergebrachten Menschen beim Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe wirksam zu unterstützen. Zumal nicht ausgeschlossen ist, dass sich Sozialarbeiter_innen und ihre Organisationen mit dem restriktiven staatlichen Auftrag der Forcierung der Ausreise identifizieren – vor allem, wenn sie ihre Tätigkeit als ‚humanitäre Hilfe‘, die Förderung der ‚freiwilligen‘ Ausreise als das ‚kleinere Übel‘ gegenüber der sonst unvermeidlichen Abschiebung (um) deuten können. Erinnert sei etwa an ein Positionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) aus dem Jahr 2006 zu Bedingungen freiwilliger Rückkehr, in dem diese dem „Grundsatz, dass Flüchtlinge in ihr Herkunftsland zurückkehren sollen, wenn keine Notwendigkeit zur Schutzgewährung besteht, etwa weil sich die Situation im Herkunftsland grundlegend gebessert hat, keine Verfolgung stattfindet und die Rückkehr zumutbar ist“,
ausdrücklich zustimmt und erklärt, es gäbe lediglich „unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall gegeben sind“ (BAGFW 2006: 1). In Bayern versucht die Landesregierung gegenwärtig in besonderem Maße, in ihrem Sinne auf die von ihr finanzierte Asylsozialarbeit Einfluss und Druck auszuüben. Im März 2017 verschickte das Bayerische Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Integration ein Rundschreiben an die Träger der Asylsozialberatung. Das Schreiben zitiert aus den Förderrichtlinien für die Asylsozialberatung im Bundesland, nach denen Schwerpunkt der Beratung sei, „die Betroffenen objektiv und realistisch über ihre Situation in Deutschland, d. h. insbesondere auch über eine bereits bestehende oder in absehbarer Zeit möglicherweise eintretende Ausreisepflicht bzw. über die Anerkennungsquoten im Asylverfahren aufzuklären“ (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration 2017)
und auf Rückkehrberatungsangebote hinzuweisen. Weiter heißt es, es sei mit den Förderrichtlinien nicht vereinbar,
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Mandatswidrige Aufträge an Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete
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„wenn wie jüngst vorgekommen einzelne Mitarbeiter der Asylsozialberatungsstellen Hinweise des Bayerischen Flüchtlingsrats, wie Betroffene sich bevorstehenden Abschiebungen entziehen können bzw. wie und welche weiteren Rechtsmittel eingelegt werden können, kommunizieren“ (ebd.).
„Rein vorsorglich“ wird den Trägern für den Wiederholungsfall mit Mittelentzug gedroht (vgl. ebd.). Hiergegen ist in Bezugnahme auf das Positionspapier klar zu sagen: Eine Beteiligung an Abschiebungen sowie eine Form der Beratung, die das Verlassen des Landes als einzige wünschenswerte Option nahelegt, verstoßen gegen die Professionsethik und das fachliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit. Diese sollte sich daher jeder Erwartung verweigern, an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen mitzuwirken (vgl. Initiative Hochschullehrender 2016: 2, 5). Als weitere mandatswidrige Aufträge an Sozialarbeiter_innen in Sammelunterkünften nennt das Positionspapier u. a. die Mitwirkung an Altersfeststellungen, kontrollierend-sicherheitsdienstliche Aufgaben (wie z. B. unangekündigte Zimmerkontrollen, Durchsuchungen) oder privatwirtschaftlich-verwaltungsbezogene Tätigkeiten. Diese reduzieren nicht nur die Zeit für professionelle Unterstützungsarbeit, sondern führen auch zu Widersprüchen mit ihrem beruflichen Ethos (vgl. ebd.: 5). Wenn Soziale Arbeit ihr selbst zugeschriebenes Mandat ernst nimmt, bleibt nicht aus, dass hieraus Konflikte mit verantwortlichen Stellen entstehen und in Kauf genommen werden bzw. ausgetragen werden müssen. Dass Mandatstreue und Konfliktbereitschaft angesichts ihrer finanziellen und politischen Abhängigkeiten von staatlicher Sozial- und Migrationspolitik möglicherweise ihre eigene Existenz bedrohen können, gehört zu den unauflösbaren Widersprüchen der Sozialen Arbeit unter den herrschenden institutionellen Bedingungen. Es geht also nicht zuletzt um ein Ausloten der Grenzen, Grauzonen und Spielräume. Dies kann nicht nur ‚heimlich‘ und ‚unsichtbar‘ geschehen im Sinne widerständiger Alltagspraxen, durch welche sich praktische Soziale Arbeit ein kleines Stück weit von ihrem zugewiesenen Auftrag ablösen bzw. über ihn hinausweisen kann. Dies muss auch in Form von (professions-)politischen Positionsbestimmungen und Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit stattfinden, die die strukturellen Widersprüche offensiv thematisieren.
Soziale Arbeit und (gewerbliche) Trägerinteressen Das bisher Gesagte skizziert einige Widersprüche zwischen dem professionellen Mandat der Sozialen Arbeit auf der einen und ihren realen Praxen, Aufträgen und Rahmenbedingungen im Kontext restriktiver Asyl -und Unterbringungspolitik auf der anderen Seite. Schließlich möchte ich noch auf einige Besonderheiten Sozialer Arbeit in explizit profitorientierten institutionellen 267
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Sebastian Muy
Settings eingehen. Im Rahmen einer empirischen Forschungsarbeit habe ich im zweiten Halbjahr 2015 Sozialarbeiter_innen, die in Flüchtlingsunterkünften der beiden gewerblichen Träger PeWoBe und Gierso in Berlin tätig waren, zu Interessenkonflikten in ihrem beruflichen Alltag befragt (vgl. Muy 2016a; ausführlichere Zusammenfassung 2016c). Befragte Sozialarbeiter_innen berichteten von Konflikten mit Heimleiter_innen, die ihre Machtposition in repressiver Weise gegen Bewohner_innen ausspielten, privatsphäreverletzende Zimmerkontrollen durchführten, Bewohner_innen willkürlich als ‚Regelverletzer_innen‘ etikettierten und in der Konsequenz per Hausverbot der Unterkunft verwiesen. Die Strategien von Mitarbeiter_innen, die mit repressiven Praxen oder Vorgaben von Vorgesetzten nicht einverstanden waren und deren Ausschließungseffekte zurückdrängen wollten, reichten von Gesprächen mit der Heimleitung oder den übergeordneten Vorgesetzten innerhalb des Trägers, um eine Abänderung der Praxen oder Vorgaben zu erreichen, bis zur verdeckten Eröffnung und Ausdehnung von Spielräumen der Bewohner_innen durch ein ‚lockeres‘ Handhaben restriktiver Vorgaben. Neben solchen Konflikten um (mehr oder weniger) kontrollierende und repressive Praxen und Arbeitsanweisungen nannten die interviewten Sozialarbeitenden zahlreiche Beispiele für Ausschließungsprozesse, die sich eher als Vorenthalten der Teilhabe an materiellen Ressourcen beschreiben lassen. Die Geschäftsleitung des Trägers entscheidet über die Durchführung von Reparaturen kaputter Duschen, Waschmaschinen, Toiletten und Fenster, die Anschaffung von Gebrauchsgegenständen oder die Kontingentierung von Konsumgütern. Im Fall von Reparaturen und Anschaffungen haben die Mitarbeiter_innen vor Ort nicht die Entscheidungs- und Verfügungsmacht über die notwendigen finanziellen Mittel. Sie beschreiben ihre Rolle eher als Vermittlungsinstanz und Sprachrohr, indem sie die Bedarfe der Bewohner_innen an die Entscheidungsträger_innen in der Geschäftsleitung weitergeben und um Erledigung bitten. Die interviewten Mitarbeiter_innen sahen direkte Bezüge zwischen dem Vorenthalten von Ressourcen und dem Gewinninteresse ihres Trägers. Darüber hinaus wird Bewohner_innen auch der Zugang zu hilfreicher Sozialer Arbeit teilweise vorenthalten. Zwischen den Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter_innen und den Teilhabemöglichkeiten der Bewohner_innen besteht ein enger, wechselseitiger Zusammenhang (vgl. Osterkamp 1996: 44): Niedrige Bezahlung und mangelnde Arbeitsbedingungen senken die Attraktivität der Tätigkeit für erfahrene und qualifizierte Fachkräfte; durch hohe Personalschlüssel und personelle Unterbesetzung sowie durch hohe Zeitanteile für Verwaltungstätigkeiten verknappen sich die Zeiträume für Beratung und Betreuung; unzureichende Weiterbildungsmöglichkeiten sowie Mangel an Ausstattung und Beratungsräumen erschweren zusätzlich eine hilfreiche Sozialarbeit. Auch 268
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hier werden immer wieder Zusammenhänge mit dem Profitinteresse deutlich. So wurde etwa die Einsparung von Personalkosten auf verschiedene Weisen als zentrale ‚Stellschraube‘ zur Gewinnerwirtschaftung thematisiert – mit der Folge, dass der ohnehin unzureichende vorgegebene Betreuungsschlüssel real häufig weit überschritten wird. Die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Mitarbeiter_innen, sich auch dann für die Bedarfe und Interessen der Bewohner_innen einzusetzen, wenn dies mit einer Kritik an Strukturen, Entscheidungen oder Handlungen von Geschäftsleitung, Vorgesetzten oder Kolleg_innen verbunden ist, sind durch gesellschaftliche Bedingungen und Machtverhältnisse vermittelt. Begrenzt werden sie u. a. durch Faktoren, die eine besondere Abhängigkeit vom Arbeitgeber bedingen, z. B. hierarchische Trägerstrukturen, eine sechsmonatige Probezeit und eine verhältnismäßig schlechtere Positionierung auf dem Arbeitsmarkt. Um besser verstehen zu können, warum und wie es den Trägern überhaupt möglich ist, durch die Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten Gewinne zu erwirtschaften, ist die Art und Weise, wie Flüchtlingsunterbringung organisiert und finanziert wird, zu beachten. In Berlin etwa betreibt das Land keine eigenen Flüchtlingsunterkünfte, sondern beauftragt hierfür nicht-staatliche (gemeinnützige und gewerbliche) Träger. In den abzuschließenden Betreiberverträgen wird jeweils unterkunftsspezifisch ein Tagessatz je zugewiesener Person vereinbart. Die Tagessatzberechnungen enthalten bereits prozentuale Aufschläge für den kalkulatorischen Gewinn (vgl. Roever Broenner Susat Mazars GmbH & Co. KG 2015: 17). Darüber hinaus ist es aber auch möglich, durch Einsparungen bei den einzelnen Ausgabeposten den Gewinn zu erhöhen: Die in der Kalkulation aufgeführten Einzelpositionen sind nicht verbindlich, eine Kontrolle der tatsächlichen Kosten nicht vorgesehen (vgl. Abgeordnetenhaus Berlin 2016: 2). Dadurch ist es einem Träger prinzipiell möglich, z. B. für eine Sozialarbeitsstelle weniger Lohn auszuzahlen, als in der Kalkulation angegeben, ohne dass dies eine Rückforderung nach sich zöge. Dieses Finanzierungsmodell entspricht den prospektiven Finanzierungsformen, die seit den 1990er Jahren auch in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit vorherrschend geworden sind (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2015). Im Zusammenhang mit der Flüchtlingsunterbringung in Berlin verschärfte sich die Problematik durch die politisch provozierte Krise der zuständigen Teile der Verwaltung und den Mangel an effektiven Kontrollen der Unterkunftsbetreiber.
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Sebastian Muy
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Für einen offensiven Umgang mit den Widersprüchen Sozialer Arbeit Die Beispiele veranschaulichen die Komplexität der an die Soziale Arbeit herangetragenen Mandate: Sie ist nicht nur ausführender Bestandteil staatlicher Sozial- und Migrationspolitik und wird aus staatlichen Geldern bezahlt; da Sozialarbeiter_innen in Sammelunterkünften häufig nicht direkt bei staatlichen, sondern bei freien Trägern – gewerblichen oder gemeinnützigen – abhängig beschäftigt sind, agieren sie zusätzlich in Institutionen mit jeweils spezifischen Strukturen und Interessen. Diese können sowohl mit den Interessen der Geflüchteten und der Sozialarbeitenden als auch mit den (sozial- oder migrations-)politischen Interessen des Staates in einem Spannungsverhältnis stehen, beispielsweise im Fall von Gewinninteressen des Trägers. Albert Scherr und Karin Scherschel machen darauf aufmerksam, dass Soziale Arbeit „eine Form der organisierten Hilfe [ist], die innerhalb nationalstaatlich verfasster Gesellschaften, auf der Grundlage des nationalstaatlichen Rechts und überwiegend mit staatlicher Finanzierung erbracht wird. […] Den ihr durch nationale Politik (und die supranationale Politik der EU) sowie durch nationales und europäisches Recht vorgegebenen Rahmen kann Soziale Arbeit nicht beliebig überschreiten, denn sie handelt in einem machtgestützten politisch-rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen ihr Aufgaben, Zuständigkeiten und Ressourcen zugewiesen werden“ (Scherr/Scherschel 2016: 123).
Es sei ein wichtiger Schritt in Richtung Positionsbestimmung, diesen Rahmen weder zu ignorieren noch fraglos-selbstverständlich vorauszusetzen, sondern zu benennen. Soziale Arbeit müsse auf ihre selektiven Funktionen im nationalstaatlichen Kontext beleuchtet werden (vgl. ebd.: 123f.). Die Frage, wie Soziale Arbeit mit Rahmenbedingungen und Aufträgen umgeht, die ihrem selbst zugeschriebenen menschenrechtsbasierten Mandat zuwiderlaufen, stellt sich angesichts der zunehmend zu beobachtenden ‚Verrohung‘ des staatlichen Umgangs mit Asylsuchenden (vgl. Hohlfeld 2016) umso mehr. Aufgrund der institutionellen Abhängigkeit Sozialer Arbeit von staatlicher Sozial- und Migrationspolitik können sich unter den Bedingungen einer repressiver werdenden Politik auch die Widersprüche zwischen dem selbstproklamierten Mandat und den Erwartungen der Auftrag- und Geldgeber an die Soziale Arbeit verschärfen. Die Soziale Arbeit ist aufgefordert, mit diesen Widersprüchen transparent und offensiv umzugehen, Spielräume zu nutzen, um für die geflüchteten Menschen, mit denen sie befasst ist, so weit wie möglich eine hilfreiche Ressource darzustellen sowie darüber hinaus auch mittels politischer Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit, im Bündnis mit Geflüchteten, gegen
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jene Rahmenbedingungen zu streiten, die eine dem eigenen Mandat entsprechende professionelle Praxis Sozialer Arbeit mehr und mehr blockieren. Aus menschenrechtlicher Perspektive ist die zwangsweise Unterbringung in Sammelunterkünften für einen längeren Zeitraum nicht hinzunehmen (vgl. Cremer 2014). Nötig sind eine Abkehr von der Politik der Lagerunterbringung, der Zugang zu Wohnungen und eine entsprechende Anpassung sozialarbeiterischer Unterstützungsangebote. Auf Bundesebene geht der politische Trend in die andere Richtung; auf der lokalen Ebene fehlt es mindestens an bezahlbarem Wohnraum. Der ist, nachdem im Zuge neoliberaler Wohnungsmarktpolitik über Jahre kommunaler Wohnungsbau privatisiert wurde, nicht nur in Berlin ein verknapptes Gut (vgl. Holm et al. 2015; Pro Asyl 2015). Soziale Arbeit sollte bei ihren Kämpfen, die auf ihr eigenes unmittelbares Arbeitsumfeld, die eigenen ‚Zuständigkeitsbereiche‘, die eigene Profession und die eigene institutionelle Einbettung gerichtet sind, auch das gesellschaftliche Ganze, seine Produktionsweise und sich transformierende Staatlichkeit im Blick haben.
Literatur Abgeordnetenhaus Berlin (2016): Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Fabio Reinhardt (PIRATEN) vom 26. November 2014 und Antwort. „Careless whisper“ – Personalausstattung in Flüchtlingsunterkünften, Drucksache 17/15046: http://pardok. parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/17/SchrAnfr/s17-15046.pdf [Zugriff: 04.01.2016]. (BAGFW) Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (2006): Positionspapier zu Bedingungen von freiwilliger Rückkehr von Flüchtlingen (04.09.2006). http://www.bagfw.de/uploads/media/_Stellungnahme_freiw_Rueckkehrer.pdf [Zugriff: 29.09.2017]. Bayerischer Flüchtlingsrat (2016): Balkanlager Manching: Beratung wird gekürzt, Meldung vom 18.02.2016. http://www.fluechtlingsrat-bayern.de/beitrag/items/balkanlager-manching-beratung-wird-gekuerzt.html [Zugriff: 04.06.2016]. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (2017): Schreiben an die Träger der Asylsozialberatung vom 06.03.2017. Online veröffentlicht unter: http://www.aks-muenchen.de/wp-content/uploads/AKSAbschiebehelferPositionspapier2.pdf [Zugriff: 08.04.2017]. Berthold, Thomas (2014): In erster Linie Kinder. Flüchtlingskinder in Deutschland. Köln: Deutsches Komitee für UNICEF e. V. Bund und Länder (2017): ‚15-Punkte-Paket‘ von Bund und Ländern: Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 9. Februar 2017, TOP Asyl- und Flüchtlingspolitik, hier: Rückkehrpolitik. https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2017/02/2017-02-09-
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Sebastian Muy
abschlussdokument-treffen-bund-laender.pdf?__blob=publicationFile&v=1 [Zugriff: 17.02.2017]. Cremer, Hendrik (2014): Menschenrechtliche Verpflichtungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Empfehlungen an die Länder, Kommunen und den Bund. Policy Paper Nr. 26. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Dahme, Heinz-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (2015): Soziale Dienstleistungspolitik. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden: Springer VS. Georgi, Fabian (2012): Mit dem Messer der Kritik zum faulen Kern. Noborder und kritische Theorie. In: Hinterland, #21, S. 71–75. Georgi, Fabian/Schatral, Susanne (2012): Towards a Critical Theory of Migration Control: The Case of the International Organization for Migration (IOM). In: IMIS-Beiträge, Heft 40, S. 193–221. https://www.imis.uni-osnabrueck.de/fileadmin/4_Publikationen/PDFs/imis40.pdf [Zugriff: 26.12.2016]. GLADT e. V. (2015): Zur Situation von LGBT*QI* Refugees in Berlin und Deutschland. Ein Interview mit dem „Team Treffpunkt“ im GLADT e. V. In: Migrationsrat Berlin-Brandenburg: Leben nach Migration – Newsletter Nr. 5. http://www.migrationsrat.de/dokumente/pressemitteilungen/Leben%20Nach%20Migration%20-%20 MRBB_Newsletter_5.pdf [Zugriff: 13.02.2017]. Hohlfeld, Thomas (2016): Chronik einer fortgesetzten Asylrechtsverschärfung. In: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 105, S. 94–105. Holm, Andrej/Schönig, Barbara,/Gardemin, Daniel/Rink, Dieter (2015): Städte unter Druck. Die Rückkehr der Wohnungsfrage. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, #6, S. 69–79. IFSW/IASSW (2014): Global Definition of Social Work. http://ifsw.org/get-involved/ global-definition-of-social-work/ [Zugriff: 27.02.2016]. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften (2016): Positionspapier: Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften. Professionelle Standards und sozialpolitische Basis. Berlin. Online verfügbar unter: www.fluechtlingssozialarbeit.de [Zugriff: 20.12.2016]. International Women Space (2015): In unseren eigenen Worten. Geflüchtete Frauen in Deutschland erzählen von ihren Erfahrungen. Berlin. Jung, Harald (2016): Abschiebung im Schnellverfahren: So funktioniert das „BalkanZentrum“. In: Augsburger Allgemeine vom 02.09.2015. http://www.augsburgerallgemeine.de/bayern/Abschiebung-im-Schnellverfahren-So-funktioniert-dasBalkan-Zentrum-id35324522.html [Zugriff: 04.06.2016]. Klöpper, Anna (2016): Wartezimmer Berlin. taz.de vom 27.12.2016. http://www.taz.de/ taz-Serie-Fluchtpunkt-Berlin-10/!5365554/ [Zugriff: 13.02.2016]. Lewek, Mirjam /Naber, Adam (2017): Kindheit im Wartezustand. Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland. Köln: Deutsches Komitee für UNICEF e. V. Muy, Sebastian (2016a): Interessenkonflikte Sozialer Arbeit in Flüchtlingssammelunterkünften gewerblicher Träger in Berlin. Unveröffentlichte Masterarbeit im Rahmen des Studiengangs „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“. 272
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Mandatswidrige Aufträge an Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete
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Ulrike Eichinger & Barbara Schäuble
Einleitung
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Gestalten unter unmöglichen Bedingungen? Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
Der Beitrag beleuchtet Gemeinschaftsunterkünfte für Geflüchtete als Handlungsort Sozialer Arbeit. Er beginnt mit einer Feldbeschreibung, die vor allem für diejenigen von Interesse sein kann, die das Feld nicht aus eigener Anschauung kennen. Im Anschluss werden regime- und institutionsanalytische sowie subjektwissenschaftliche Theorieperspektiven nachgezeichnet und einschlägige Studien vorgestellt, die einen Beitrag dazu leisten können, das Geschehen in Gemeinschaftsunterkünften differenzierter zu verstehen. Im Anschluss analysieren wir auf der Basis von Aussagen einer Sozialarbeiterin, die in einer Gemeinschaftsunterkunft tätig ist, exemplarisch Herausforderungen und Spielräume und diskutieren, wie sich Professionelle in diesem Setting gestaltend bewegen können. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten zu untersuchen, ist bedeutsam, weil die Frage, inwiefern Sozialarbeiter_innen in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete ihr Handeln gestalten können bzw. auf die dortigen Umstände Einfluss nehmen sollten, wiederholt als professionspolitische Frage aufgeworfen wird. Dass Sozialarbeiter_innen ihr Handeln am Ende einer langen Kette migrationspolitischer Regulationen und restriktiv gestalteter Institutionen entfalten, wirft die Frage auf, inwiefern menschliches Handeln in einem „Land mit unzivilisierter Ausländerpolitik“ (Hamburger 2000) als Praxis Einzelner überhaupt denkbar ist. Auch stellt sich die Frage, ob die Präsenz sozialer Unterstützung an Orten, die der Abschreckung dienen, symbolische Funktionen hat. Sie stiftet Beruhigung. Albert Scherr fordert zudem dazu auf, darüber nachzudenken, inwiefern das Betonen professioneller Ziele nicht nur zur öffentlichen Beruhigung, sondern auch zu einer professionellen Selbstberuhigung und Verschleierung beiträgt (vgl. Scherr 2015: 18). Die Lebensrealität der Bewohner_innen von Gemeinschaftsunterkünften steht offenkundig in einem starken Gegensatz zu Zielbestimmungen, wie sie in aktuellen Theorien Sozialer Arbeit und programmatischen Zielsetzungen formuliert sind. Das sozialpolitische Deutschenprimat und die Einbindung in den nationalen Wohlfahrtsstaat begrenzen die Gestaltungsmöglichkeiten der Profession erheblich (ebd.: 17). Entsprechend ist im Feld der sogenannten Flücht-
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Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
lingssozialarbeit die Diskrepanz zwischen dem, was gewollt wird und dem, was organisatorisch und rechtlich möglich ist, größer als in nahezu allen anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit (vgl. ebd.). Entsprechend formulieren einige Autor_innen, dass die Spielräume von Sozialarbeiter_innen in Gemeinschaftsunterkünften gegen Null gehen (vgl. Dünnwald 2002), auch weil vielerorts gilt: „Wes’ Essenspakete ich ausgeb’, des’ Lied ich sing“ (vgl. Muy 2016a). Andere Forscher_innen hingegen beschreiben Gestaltungsmöglichkeiten (vgl. Pieper 2008). Bedeutsam ist aus unserer Sicht nicht nur die Frage des generellen Ob solcher Spielräume, sondern auch, ob Spielräume eher als Handlungsoptionen einzelner Professioneller in spezifischen organisationalen Praxiszusammenhängen zu verstehen sind oder ob es (bereits) durch fachliche Selbstverständigung sowie in Kooperation mit den Bewohner_innen entwickelte und institutionalisierte professionelle Gestaltungsoptionen gibt, auf deren Basis fachliches Handeln Einzelner erleichtert wird. Die Frage, inwiefern ‚Gestalten unter unmöglichen Bedingungen‘ denkbar ist, wie es im Titel dieses Beitrags heißt, bedeutet für uns nicht nur, zu untersuchen, wie stark das Feld die eigenen Absichten begrenzt. Es bedeutet auch, genauer zu verstehen, wo sich Anknüpfungspunkte ergeben, die zu einer Vergrößerung von Spielräumen beitragen, nicht nur durch feldexternes bzw. feldüberschreitendes Handeln wie beispielsweise durch Forderungen nach Wohnungsunterbringung, die Infragestellung des Deutschenprimats und den Verweis auf professionsethische Orientierungen. Denn Veränderungen anzustreben, heißt auch, feldintern und bottom up – gegebenenfalls gemeinsam mit den Bewohner_innen – Konflikte um die Nutzung und Erweiterung von Gestaltungsmöglichkeiten zu führen (vgl. Kunstreich 2016; May 2017).
Feldbeschreibung Um eine erste Vorstellung von Gemeinschaftsunterkünften als Arbeitsbereich zu vermitteln, wird im Folgenden zunächst die rechtliche und migrationspolitisch gerahmte Lebenssituation der Bewohner_innen vorgestellt. Im Anschluss wird der Tätigkeitsbereich der Sozialen Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften umrissen.
Rechtliche und migrationspolitische Prägungen der Lebensbedingungen der Bewohner_innen Der erste Blick in Feldbeschreibungen (vgl. u. a. Wendel 2014) zeigt Gemeinschaftsunterkünfte als Institutionen eines repressiven und im Zuge der Asylpa275
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kete I und II fortwährend verschärften Migrationsregimes, in dem Infrastrukturen teils mit dem expliziten Ziel gestaltet werden, durch die Verschlechterung der Lebenssituation hier lebender Geflüchteter diese vom Bleiben und andere vom Kommen abzuhalten (Pro Asyl in Wendel 2014: 85).1 Immer wieder machen Selbstorganisationen auf die desaströse Lebenssituation in den Unterkünften aufmerksam (vgl. u. a. The Voice Refugee Forum), und NGOs wie die Landesflüchtlingsräte und Pro Asyl (vgl. Wendel 2014) dokumentieren die durchgängig schlechten Lebenssituationen in Gemeinschaftsunterkünften. Sie fordern den freien Zugang Asylsuchender zum Wohnungsmarkt zur Gewährleistung des Menschenrechts auf Wohnen. Da die schlechten Lebensbedingungen medial nur punktuell benannt werden, entsteht leicht der Eindruck, sie seien der „worst case“ (ebd.: 82). Ihr systematischer Charakter gerät dabei leicht aus dem Blick der Öffentlichkeit (vgl. Agier 2008). Die soziale Situierung Geflüchteter ist wesentlich durch ein weithin als gültig angenommenes Primat nationaler Interessen sowie durch historisch etablierte Überlegenheitsstrukturen und -auffassungen (u. a. Rassismus, ethnische Unterschichtung etc.) bestimmt. Diese schlagen sich vermittelt über migrationspolitische Regulationen im rechtlichen und sozialen Status Geflüchteter nieder, was mit stark reglementierten Lebensbedingungen einhergeht.2 Dem Ausländerrecht zu unterliegen, bedeutet gegenüber den Rechten der Staatsbürger_innen eine Schlechterstellung, eine Stratifikation (differenzierte Abstufung) der eigenen Ansprüche und Möglichkeiten sowie ein Ausgeliefert-Sein gegenüber dem Wohlwollen der jeweils lokal und situativ zuständigen staatlichen Stellen. Diese ist auch darin begründet, dass es zahlreiche Regelungslücken, vor allem aber auch viele rechtliche Kann-Bestimmungen gibt (vgl. Cremer 2014: 6). Wendel (2014: 9) bezeichnet Geflüchtete und Geduldete deshalb als „Objekte der Verwaltung“. Asylsuchende sind gemäß § 47 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) dazu verpflichtet, zunächst für bis zu sechs Monate in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen; in den meisten Bundesländern folgt danach eine Umverteilung in Gemeinschaftsunterkünfte. Es gibt jedoch Bundesländer, die den Kommunen weder eine Vorhaltepflicht für Gemeinschaftsunterkünf1 Die Verpflichtung, in Massenunterkünften zu leben, begann mit dem im Jahr 1982 erlassenen, auf eine rigide Abschreckungspolitik setzenden Asylverfahrensgesetz (AsylVfG). Es regelte die Sammelunterbringung und war mit weiteren, die Lebensbedingungen massiv einschränkenden Regelungen verbunden: der Einführung der Residenzpflicht, dem Sachleistungsprinzip und Zeiten des Arbeitsverbots. 2 Neben dem nationalen Recht stehen Asylsuchenden Rechte aus internationalen Vereinbarungen zur Verfügung, die unabhängig vom Aufenthaltsstatus gelten und die die Staatsorgane auf der Ebene des Bundes, der Länder bis hin zu den Kommunen binden. Diese sind jedoch, solange sie nicht untersetzt und gewährleistet werden, nur äußerst schwer einklagbar (vgl. Cremer 2014), u. a. auch deswegen, weil Institutionen rechtliche Möglichkeiten de facto außer Kraft setzen. So formuliert Pieper: „Lager [...] schaffen mit Gewalt staatliche Ordnung und setzen diese gegen herrschendes Recht um“ (Pieper 2010: 221).
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te noch Asylsuchenden eine Wohnpflicht in Gemeinschaftsunterkünften vorschreiben. Die Ausgestaltung der Unterkünfte ist im AsylVfG nicht einheitlich geregelt, einige Länder bestimmen diese explizit in Form von Rechtsverordnungen und Ausführungsbestimmungen, andere nicht. Die bestehenden Regelungen unterscheiden sich in ihren Inhalten und ihrer Verbindlichkeit erheblich (vgl. ebd.: 64). Entsprechend unterschiedlich sind die konkreten Lebensbedingungen der Bewohner_innen. Solange Betreibergenehmigungen nicht an Qualitätsstandards gebunden werden, konkurrieren Unterkunftsbetreiber_innen miteinander über den Preis, was ein Dumping der Lebensbedingungen nach sich zieht (vgl. Robert Bosch Stiftung 2015: 47). Tobias Pieper arbeitet in seiner Studie „Die Gegenwart der Lager“ (vgl. Pieper 2008: 262ff., 343ff.) verschiedene Strukturdimensionen der Sammelunterbringung von Geflüchteten und deren Folgen für die Bewohner_innen heraus. Pieper benennt die isolierte Lage in städtischen Randgebieten (ebd.: 261) und den oft schlechten Infrastrukturzugang (ebd. 343). Viele Aufnahme- und Gemeinschaftsunterkünfte sind zudem baufällig und nur provisorisch ausgestattet (vgl. UNICEF 2017: 20). Den Einzelnen stehen vielerorts nur ca. 6–9 qm pro Person zur Verfügung und das oft in Mehrbettzimmern (vgl. Classen 2013: 37; UNICEF 2017: 22). Das kasernierte Wohnen in Gemeinschaftsunterkünften gefährdet, exponiert und stigmatisiert die Bewohner_innen. Sammelunterkünfte untermauern rassistische Diskurse von Masse und Armutsbedrohung, sie verdichten die aussondernde Politik (vgl. Pieper 2008: 18) und machen den privaten Lebens- und Rückzugsraum der Bewohner_innen zu Anschlagszielen und „Schauplätzen der Asylpolitik im Lichte der Brandsätze“ (ebd. 2014: 18). Ein weiteres wiederkehrendes Thema sind Gewaltgefährdung, Stress und Konflikte. Dazu tragen vor allem die Enge und die Knappheit der verfügbaren Ressourcen bei (vgl. Geiger 2016: 27). Konflikte entstehen einerseits mit dem Personal durch überlastete Mitarbeiter_innen (vgl. Osterkamp 1996: 48f.), aber auch mit anderen Bewohner_innen. Zu diesen Konflikten können auch Unterschiede in Formen der Lebensführung im Zusammenhang mit Alter, Geschlecht, Familienstand und kulturellen Hintergründen beitragen. Vor allem besonders schutzbedürftige Bewohner_innen wie z. B. Kinder sind von den unzureichenden Lebensbedingungen und der Bedrohung und Gewalt seitens anderer Bewohner_innen elementar betroffen (vgl. u. a. BMFSFJ 2017: 451; UNICEF 2017). Pieper benennt in seiner Studie noch weitere drängende Probleme, wie aus der Massenunterbringung herrührende unhygienische Zustände in Küchen und Sanitäranlagen (vgl. auch Täubig 2009: 23; UNICEF 2017: 24f.). Zudem belastet die Bewohner_innen die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf andere Bewohner_innen: Sie können ihre eigenen Bedürfnisse nicht wahrnehmen, leiden unter den mangelnden Rückzugsmöglichkeiten und unter Schlaf277
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problemen. Sie müssen sich nach der „Zeitarchitektur“ des Ortes richten (vgl. Pieper 2008: 291) und können hierdurch auch an Zeitautonomie verlieren. Das bedeutet u. a. eng geregelte Zeiten, z. B. zum Duschen, Essen ,Wäsche-Waschen und Abholen von Post und Sozialleistungen. Gleichzeitig erleben die Bewohner_innen eine zunehmende Bedeutungslosigkeit der Zeitstruktur durch Perspektivlosigkeit, vorläufige Entscheide, durch die fremdgesetzte Inaktivität durch Arbeitsverbote, das Festgelegt-Sein aufs Nichtstun außer Schlafen und Essen, die erfahrene Lethargie und die nur schwer berechenbaren Handlungen ihrer Nachbar_innen. Für die Bewohner_innen bedeutet das Leben in den Sammelunterkünften, nicht individuell behandelt zu werden, es bedeutet, fortwährend Kontrollen zu erleben, teils durch die Heimleitung und Sicherheitsdienste (ebd.: 283, 292), teils aber auch durch andere Bewohner_innen (vgl. Osterkamp 1996: 52). Der Verlust von Autonomie durch äußere Bestimmungen und das Ausgeliefert-Sein an Entscheidungen sowie die Willkür anderer Bewohner_innen und auch einzelner Mitarbeiter_innen trifft Geflüchtete als eine Gruppe, die bereits in einer existenziellen sozialen und rechtlichen Unsicherheit lebt. Ihre Lage ist unübersichtlich, auch mangels Ressourcen kaum gestaltbar, und bestehende Problemlagen sind für sie kaum kommunizierbar. Die Bewohner_innen werden sprachlos gemacht, teils weil ihnen die Sprache fehlt und eine Plattform, von der aus sie sprechen könnten, nicht verfügbar ist, teils weil niemand adressierbar ist (vgl. Osterkamp 1996: 44ff.). Es gibt kaum Beschwerdestellen oder -wege, zudem sollen vielerorts einzelne Sozialarbeiter_ innen für 160 bis 200 Bewohner_innen ansprechbar sein (vgl. u. a. LAGeSo 2015).
Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften In Folge von Bemühungen der Migrationsfachdienste und anderer sozialer Träger kommt es in jüngerer Zeit zu einem flächendeckenden Einsatz von Sozialarbeiter_innen, jedoch bei einem äußerst schlechten Personalschlüssel. Eine aktuelle Studie verweist auf einen Personalschlüssel von 1:96 in Mecklenburg-Vorpommern bis hin zu 1:150 in Bayern (vgl. Robert-Bosch-Stiftung 2015: 46). Die vor Ort tätigen Sozialarbeiter_innen müssen meist mit einer sehr schlechten materiellen Ausstattung arbeiten und haben ein sehr breites Aufgabenspektrum (vgl. MAGSF 2011). Grundlegend werden die Aufgaben der sozialen Unterstützung in den Landesaufnahmegesetzen und ihren Ausführungsbestimmungen geregelt (vgl. Wendel 2014: 52ff.). Zumeist werden Betreuungsaufgaben definiert, die vor allem die Einschränkungen der Selbstständigkeit kompensieren sollen, die sich aus der Unterbringung in einer Ge-
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Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
meinschaftsunterkunft ergeben.3 Betreuung meint vor allem das Management des Alltags, genauer die Verwaltung von Exklusion und Unterversorgung.4 Sie umfasst, dass Mitarbeiter_innen bei Konflikten der Bewohner_innen untereinander und zwischen ihnen oder der Einrichtungsleitung tätig werden, dass sie die Einrichtungsleitung bei ihren Aufgaben unterstützen sowie bei der Wohnungssuche behilflich sind (vgl. Gillo in Wendel 2014: 75). Zu ihren wesentlichen Aufgaben werden zudem gezählt: Wäsche- und Materialausgaben, Organisation von Reparaturen und Essensversorgung, Postverteilung, Unterstützung bei Außenkontakten (Benennung von Ansprechpartner_innen zuständiger Beratungsstellen, Öffnungszeiten, Wege etc.; Herbeirufen einer_eines Ärztin_Arztes, Zugang zu Deutschkursen etc.), Informationsvermittlung über grundlegende Pflichten und Rechte in der Unterkunft (Hausordnung) und Kontrolle der Einhaltung der Heimordnung (kritisch dazu Muy 2016a und 2016b). Zudem sollen sie bei Interaktionen mit Behörden, Ärzt_innen, Schulen und Kitas vermitteln. Die damit umrissenen Betreuungsaufgaben zielen bestenfalls auf eine Entlastung und eine Verwaltung der Exklusion (vgl. Bommes/ Scherr 2012).5 Darüber hinaus übernehmen Sozialarbeiter_innen Beratungsaufgaben, diese sind jedoch nicht in allen Ländern rechtlich verankert. Beratend leisten sie Unterstützung bei der Orientierung in einem ungewohnten Alltag und bei der Auswahl und Nutzung bestehender sozialer Angebote, die der sozialen Integration und Selbstentfaltung dienen sollen. Resümiert man die von Sozialarbeiter_innen in Gemeinschaftsunterkünften wahrgenommenen Aufgaben, so zeigt sich, dass diesen ein Doppelauftrag zwischen Hilfe und Kontrolle zukommt. Auch wenn dieser lokal unterschiedlich akzentuiert und für die Soziale Arbeit in vielen Bereichen üblich ist, ist hier ein deutliches Übergewicht im Bereich der Kontrolle und Exklusionsverwaltung zu beobachten. Angesichts der vielfältigen und oft schnell wechselnden Regelungen sind die landesweiten Bestimmungen des eigenen Tätigkeitsbereichs zwar für So3 Obwohl viele rechtliche Anliegen an die Sozialarbeiter_innen in Gemeinschaftsunterkünften herangetragen werden, plädieren die Migrationsfachdienste aus Gründen der Unabhängigkeit und Qualitätssicherung dafür, die Asylverfahrensberatung außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte durch andere Träger zu organisieren, was auch meist so umgesetzt zu werden scheint. 4 Vgl. zu Exklusionsverwaltung als einer Funktion Sozialer Arbeit Bommes/Scherr 2012. 5 Wie unterschiedlich die Zielsetzungen der Sozialen Arbeit entsprechend politischer Opportunitäten gestaltet sind, zeigt eine Studie von Wendel. Er vergleicht die Länderpraxen und stellt u. a. die Praxis aus Bremen derjenigen aus Bayern gegenüber: Während Bremen postuliert, die bestehenden Regelungsspielräume seien auszunutzen, um die Lebenssituation von Asylsuchenden und Geduldeten zu verbessern und das Ausländerrecht weiterzuentwickeln (vgl. Wendel 2014: 79), heißt es aus Bayern „Da der Personenkreis lediglich sozial zu versorgen ist, darf die Beratung und Betreuung keine Maßnahmen umfassen, die der sozialen, sprachlichen oder beruflichen Integration in die deutsche Gesellschaft dienen. Die Fähigkeit zur Reintegration in die Herkunftsländer soll erhalten bleiben“ (ebd.). Explizit genannt wird dabei in Bayern die Verpflichtung, dass Sozialarbeiter_innen Asylsuchende über ihre Ausreisepflicht informieren sollen (vgl. ebd.).
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zialarbeiter_innen teilweise eine Bezugsgröße für Aushandlungen um den eigenen Auftrag. Vielerorts besteht darüber aber auch Unklarheit und Unsicherheit. Nicht zuletzt auch, weil die Interessen des eigenen Trägers oft intransparent und einseitig wirtschaftlich ausgerichtet sind. Vielen Mitarbeiter_innen liegen keine Arbeitsplatzbeschreibungen vor. Unsicherheit besteht auch über die Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Hilfetätigkeit. Einschüchternd wirkt auch, dass viele Arbeitsverhältnisse in dem Feld unsicher sind. Zudem bestehen für die Bewohner_innen zwar viele existenzielle Herausforderungen, wesentliche Entscheidungen werden aber andernorts getroffen werden. Entsprechend ist unter den Mitarbeiter_innen das Gefühl der Ohnmacht nicht selten (vgl. Pross 2009). Das legt Zurückhaltung nahe, andererseits werden aber auch immer wieder Berichte über sehr engagierte Mitarbeiter_innen laut. Sozialarbeiter_innen engagieren sich über ihre Arbeitszeit und ihren trägergesetzten Auftrag hinaus (vgl. ebd.: 290f.), verbunden mit Risiken, wie z. B. die Luckenwalder Heimleiterin Nina Schmitz erfuhr: Sie wurde gekündigt, weil sie sich aus Sicht des Trägers zu sehr für die Bewohner_innen einsetzte (vgl. Baeck 2013).
Analyseperspektiven und Forschungsstand Um die institutionellen Möglichkeiten und Begrenzungen von Sammelunterkünften als Tätigkeitsfeld Sozialer Arbeit eingehender erschließen zu können, braucht es analytische Werkzeuge, weshalb wir im Folgenden exemplarisch Theorieperspektiven aus der Soziologie sowie Sozialpsychologie nachzeichnen und deren theoretische Annahmen und Ergebnisse skizzieren. Alle Positionen berücksichtigen sowohl Makro-, Meso- und Mikroperspektiven, ihre Ausgangspunkte liegen jedoch mal eher im Bereich der Gesellschaftsformation und gesellschaftsweiter Diskurse, mal maßgeblich bei der Institution und mal bei der Perspektive der Subjekte.
Gemeinschaftsunterkünfte als Instrument einer ideologischintegrativen und kapitalistischen Herrschaft In Anschluss an Michel Foucaults Machtkonzept und seine Analysen von Disziplinaranstalten (vgl. Foucault 1993) sowie biopolitischen Regimes bezeichnet Tobias Pieper (vgl. 2008, 2010) Gemeinschaftsunterkünfte als machtvolle Orte. Sie stellen einerseits ein lokal akzentuiertes Kräfteverhältnis dar, andererseits sind sie im Sinne einer „Mikrophysik der Macht“ durch übergreifende gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Herrschaft geprägt. Entsprechend können Sammelunterkünfte als ein Element eines plurilokalen Migrations280
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Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
regimes (vgl. Sciortino 2004; Tsianos/Hess 2010) verstanden werden, dessen ökonomische und politische Konstitutionsbedingungen Pieper herausarbeitet. Er beschreibt, dass das institutionelle und soziale Arrangement von Sammelunterkünften auf die ideologische Integration der Bevölkerung durch eine Skalierung sozialer Rechte und sozialer Anerkennung (gemeint ist die Herabstufung anderer im Kontext von Dominanzstrukturen) sowie auf eine Regulation des kapitalistischen Arbeitsmarkts durch ethnische Unterschichtung zielt (vgl. Pieper 2008: 17). Pieper verortet Gemeinschaftsunterkünfte nicht als durchgängig einseitige und unumstrittene Herrschaftspraxis, aber als stark durch staatliche Interessen bestimmtes Kräfteverhältnis. Er sieht die Unterbringungsform als Instrument eines repressiven, variablen, flexiblen und billigen staatlichen Bevölkerungsmanagements (Biopolitik), das über Internierung, Integrationsverhinderung und das Schaffen eines im Innern (potenziell) rechtsfreien Raums funktioniert (vgl. Pieper 2010: 221f.).
Gemeinschaftsunterkünfte als „totale Institutionen“ Erving Goffmans interaktionstheoretische Überlegungen zum Rollenverhalten in Institutionen sind im Vergleich zu Piepers Überlegungen stärker auf der Mesoebene angesiedelt. Seine Studie „Asyle“ (2012), die sich mit Interaktionen zwischen Professionellen und „Insassen“ (ebd.) in Psychiatrien befasst, ist noch heute sehr aufschlussreich. In den 1960er Jahren, zur Entstehungszeit von Goffmans Studie, waren Psychiatrien oft abgeschiedene Großeinrichtungen mit Hunderten von Bewohner_innen. Diese erfuhren wenig individuelle Behandlung, man sprach von ihrer Hospitalisierung. Goffmans Forschung trug wesentlich zu den in den 1970er Jahren beginnenden Psychiatrie- und Heimreformen bei, mit denen eine Verkleinerung und stärkere Binnenreflexion der Einrichtungen angestrebt wurde. Die Studie lässt sich einerseits entsprechend als historische Momentaufnahme lesen: Goffman analysiert eine Psychiatrie, die sich zunehmend von einer Disziplinaranstalt zu einer Dienstleitungseinrichtung wandelt. Andererseits zeigen die von Goffman beschriebenen sozialen Rollendynamiken grundsätzliche Tendenzen stationärer Settings, insbesondere solche großer Einrichtungen.6 Goffman interessierte sich für den Erhalt des Selbst im Kontext einer Gesellschaft mit zahlreichen Zwängen (vgl. Hettlage 2008: 254). Er ging davon 6 Goffmans Studie ist ethnografisch angelegt. Er ließ sich als Mitarbeiter in Kliniken einschleusen. Besonders aufschlussreich ist, dass Goffman sich um ein Verstehen der Situation aus der Sicht sowohl der Mitarbeiter_innen als auch der Patient_innen bemühte und dass diese Gegenüberstellung die Absurdität und Dynamik der Interaktionen so offenzulegen vermag, sodass seine Leser_innen geneigt sind, den Kontext zu befragen, der beiden Gruppen diese absurden Rollen nahelegt.
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aus, dass Menschen nach einem möglichst selbstbestimmten Selbst streben und dass dieses, wenn es zu sehr von anderen vereinnahmt wird, verloren gehen kann. Er beobachtete, dass die Patient_innen der von ihm untersuchten Psychiatrien mit dem Eintritt in die Institution die Möglichkeit verloren, ihr ganzes Selbst zu erhalten. Vorschriften, Kontrollen und Demütigungen schränkten die Handlungsfreiheit der Insass_innen und ihren eigenen Willen erheblich ein. Sie mussten sich anpassen, Fremdbilder übernehmen, und sie entwickelten Strategien, an einigen Stellen die Institution zu „unterleben“, d. h., sich auf klandestinem Weg Freiräume zu erhalten. Teilweise jedoch hatten diese Strategien des Erhalts von „Territorien des Selbst“ den Effekt, so Goffman, dass sie ungewollt diejenigen Stigmata bestätigten, die zur Einweisung in die Institution geführt hatten. Sich zu entziehen, bedeutete also auch, sich dem Vorwurf des abweichenden Verhaltens auszusetzen. Goffman sieht ein wesentliches Kriterium „totaler Institutionen“ darin, dass sie Menschen die Kontrolle über den eigenen Raum und die eigene Zeit nehmen. Die bürokratische Organisation der Bedürfnisse einer großen Gruppe von Menschen lässt kaum mehr Raum für Individualität. Wer in solchen Institutionen lebt, verliert sein bürgerliches Leben, denn totale Institutionen werden für ihre Bewohner_innen zum einzigen Ort. Das bedeutet, dass die Einzelnen den Spielraum für die eigene Selbstentfaltung und -bestimmung verlieren, den sie außerhalb der Institutionen haben. Dieser besteht u. a. darin, sich zwischen verschiedenen Alltagsorten, Freizeitorten und öffentlichen (Arbeits-)Orten zu bewegen und dort unterschiedliche Rollen zu haben. In totalen Institutionen haben die Menschen nur noch eine Rolle, die der_des Insassin_Insassen. Die Sphären des Privaten und Öffentlichen sind nicht mehr getrennt. Wer man vor dem Eintritt in die Institution war, ist im Kontext einer „Patient_innenkarriere“ zunehmend unbedeutend. Alle Angelegenheiten finden unter derselben Autorität und Beobachtung statt. Dabei behandeln die Mitarbeiter_innen die Bewohner_innen wie standardisierte Größen. Die Insass_innen hingegen bilden eine Gruppe von Schicksalsgenoss_innen. Ihnen wird die gleiche allgemeine Behandlung zuteil. Ihr Tag ist exakt geplant, beinahe alle Tätigkeiten werden von oben durch ein System explizierter formaler Regeln geregelt (vgl. Goffman 2014: 17ff.). Zwischen der Gruppe der Bewohner_innen und der des Personals herrscht ein extremes Misstrauen aufgrund der großen sozialen Distanz der Gruppen, der starken Asymmetrie und dem Ausmaß des Ausgeliefert-Seins. Das Personal ist überfordert, es vollzieht fortwährend Disziplinierungen, die nicht mit dem eigentlichen Auftrag verbunden sind. Das führt dazu, dass die Patient_innen sich beschweren und nicht mehr die Rolle derjenigen einnehmen, die eine Dienstleistungsbeziehung in Anspruch nehmen, was wiederum mit dazu beiträgt, dass es den Ärzt_innen schwerfällt, die Helfer_innenrolle zu behalten. Die Mitarbeiter_innen stehen so unter dem 282
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Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
Zwang, ein unangemessenes Konzept zu praktizieren, das nicht funktioniert und zum permanenten Gegenstand von Reparaturzyklen wird (vgl. Hettlage 2008). Goffmans Studie zeigt, dass große Organisationen Gefahr laufen, zu totalen Institutionen zu werden, in denen die Rollen von Mitarbeiter_innen und Klient_innen weitreichend festgelegt sind. Schon auf den ersten Blick fallen Ähnlichkeiten mit Sammelunterkünften für Geflüchtete ins Auge. Stefan Dünnwald (2002) und Vicki Täubig (2009), die Goffmans Theorie als Referenz nutzen, um Gemeinschaftsunterkünfte zu analysieren, meinen, dass die Merkmale, die Goffman für „totale Institutionen“ benennt, im Großen und Ganzen auf Gemeinschaftsunterkünfte zutreffen. In der kritischen Migrationsforschung herrscht Einigkeit darüber, dass Flüchtlingslager abgegrenzte, kasernierende Verwaltungseinheiten sind, die den Insass_innen als durchgängiges Lebensumfeld dienen, und dass in ihnen routinierte und oft wenig personenzentrierte Arbeitsweisen entfaltet werden. Umstritten ist jedoch, wie sehr Gemeinschaftsunterkünfte die Rollen und Handlungsmöglichkeiten der Bewohner_innen und Mitarbeiter_innen festlegen. Stefan Dünnwald (2002) und Vicki Täubig (2009) sind der Ansicht, dass Gemeinschaftsunterkünfte eine Rollenförmigkeit der Behandlung der Bewohner_innen und des Verhaltens nahelegen und deren Ausgeliefert-Sein erzeugen. Umstritten ist, wie weit diese Tendenzen reichen und wie sehr diese durch die Sammelunterbringung oder durch andere Kontextbedingungen erzeugt werden. Inhetveen (2010: 406) schlägt vor, auf der Basis von Goffmans Überlegungen eine Heuristik zu entwickeln, die verschiedene Grade von Totalität in Sammelunterkünften beschreibt. Für eine starke „Totalisierungsdynamik“ von Gemeinschaftsunterkünften spricht, dass die Bewohner_innen hier ihrer Rollenvielfalt weitgehend beraubt werden und ihre Mittel der Selbstdarstellung und der räumlichen und zeitlichen Gestaltung des Alltags in derartigen Einrichtungen stark beschränkt sind. Sie erhalten vielerorts Sachleistungen, normierte Essens- und Hygienepakete und können so ihr Aussehen und Auftreten nicht selbst bestimmen. Durch die Lage und Zugangsregelungen der Unterkünfte werden zudem die Außenkontakte der Bewohner_innen beschränkt. Zwischen ihnen und dem Personal existiert eine große Distanz. Zusätzlich zu den typischen Distanzen, die durch Institutionen erzeugt werden, kommen wissensbezogene Distanzen hinzu. Die zeitliche Autonomie der Bewohner_innen wird durch die Massensituation und externe Regeln deutlich eingeschränkt. In der Gemeinschaftsunterkunft selbst gibt es nicht viel zu tun, das steht in Spannung zu den Hoffnungen und beruflichen Fähigkeiten, die die Bewohner_innen mitgebracht haben. Und wie in Goffmans Psychiatrien zeigt sich auch in Flüchtlingsunterkünften ein Unterleben der Institution durch die Bewohner_innen (vgl. Dünnwald 2002; Täubig 2009). 283
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Ulrike Eichinger & Barbara Schäuble
Täubig und Inhetveen sehen in den gegenwärtigen Gemeinschaftsunterkünften im Vergleich zu Goffmans Psychiatrien trotz vieler Gemeinsamkeiten größere Freiheitsgrade. Sie meinen, dass neben der Tatsache, dass heutige Gemeinschaftsunterkünfte, anders als die historischen Psychiatrien, nicht geschlossen sind und größere Spielräume der eigenständigen Organisation des Alltagslebens eröffnen als die Einrichtungen, die Goffman im Auge hatte. In Gemeinschaftsunterkünften wird weder die eigene Zeit noch die Bewegung im Raum gleichermaßen eng reguliert. Zudem unterscheiden sich Sammelunterkünfte, so Inhetveen, von totalen Institutionen durch eine polyhierarchische Struktur und eine wechselseitige Kontrolle des Personals in Hinblick auf institutionalisierte Werte und Normen (vgl. Inhetveen 2010: 384). So werden zwar „Akteursidentitäten, die von außen in das Lager mitgebracht werden, (...) dort beschnitten und verändert“ (ebd.: 393), aber die Bewohner_innen erweisen sich „als widerspenstige Geschöpfe, die immer wieder regimefremde Interessen verfolgen oder widersprüchlichen Deutungen anhängen, die institutionalisierte Elemente des Regimes zweckentfremden, modifizieren oder schlicht ignorieren“ (ebd.: 20). Zudem waren viele der Bewohner_innen schon vor dem Einzug „als Akteure konzipiert und selbstbewusst“ (ebd.). Täubig rekonstruiert die widerständigen und das eigene Selbst erhaltenden Praxen, die die Bewohner_innen entfalten, u. a. ihre Forderungen nach Rechten und ihr Beharren darauf, dass sie in ihrem vorherigen Leben und auch aktuell im Feld von Arbeit, Partnerschaft, Freundschaft und Glauben andere Rollen besetzen (vgl. Täubig 2009: 248). Darüber hinaus wird diskutiert, inwiefern die Lage der Bewohner_innen allein den Institutionen zuzurechnen ist. Inhetveen (2010: 360) stellt heraus, dass die Handlungsprobleme von Geflüchteten auch das Ergebnis eines Ressourcen- und Rechtemangels sind, der andernorts erzeugt wird. So ist nicht die institutionelle Unterbringung dafür verantwortlich, dass die Bewohner_innen sich aufgrund von Aufenthaltsbeschränkungen und rassistischer Gewalt außerhalb der Einrichtung nicht überall gefahrlos bewegen können oder dass eine Arbeitserlaubnis und reguläre Beschäftigung schwer bzw. unerreichbar sind. Für die Bewohner_innen hat die Verbindung von rechtlichen und institutionellen Beschränkungen mit der lebenspraktischen Isolation als Neueinwander_innen eventuell ähnliche Effekte, wie sie in Goffmans totalen Institutionen beschrieben werden. Sie unterliegen einer Kombination aus institutioneninterner und äußerer Rechtlosigkeit. Täubig (2009) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Totalen Institution Asyl“. Diese gegenüber der Annahme einer totalen Macht der Institutionen vorgenommenen Einschränkungen verweisen auf dreierlei: Erstens verweisen sie darauf, dass Goffmans Analyse einen historisch spezifischen Kontext betrifft, den einer sich erst aus der Gefängnisarchitektur lösenden Psychiatrie; zweitens darauf, dass über eine zu starke Problematisierung der Institutionen eine ande284
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Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
re dominante Strukturbedingung der Lebenssituation der Bewohner_innen aus dem Blick gerät: ihre Situierung im Kontext von nationalistischer bzw. rassistischer Entrechtung und Missachtung. Das bedeutet aber keineswegs, dass diese nicht bottom up, in ihren auch institutionellen Auswirkungen zu analysieren wären. Die insbesondere von Inhetveen betonten Freiheitsgrade der Bewohner_innen decken sich drittens mit einer Kritik, die Michael Lindenberg bereits an Goffmans Überlegungen formulierte. Er kritisiert, dass Goffman zwar ein Augenmerk darauf gehabt habe, wie Einzelne in Zwangsstrukturen Freiheiten für den individuellen Rückzug nutzen, dass er aber nicht darauf geachtet habe, inwiefern die Beteiligten Möglichkeiten nutzen, „den Käfig in Frage zu stellen“ (Lindenberg 2005: 6). Goffman habe zudem die Gründe der Menschen für ihr Sich-Verhalten und ihre Deutungen zu dessen Konsequenzen außer Acht gelassen: „Er führte ein Bild vor, wonach die Handlungen der Insassen stetige Versuche der Anpassung und nicht der Gestaltung sind“ (ebd.: 8). Trotz des Versuchs, sich der Perspektive der Bewohner_innen und der Mitarbeiter_innen anzunähern, gewähren die bis hierhin behandelten Theorieperspektiven und Studien nur wenig Wissen darüber, was Gemeinschaftsunterkünfte als Arbeitskontexte vom Standpunkt der Mitarbeiter_innen bedeuten und wie diese als Ausgangspunkte für das eigene gestaltende Handeln, auch im Sinne einer potenziellen Erweiterung von Handlungsoptionen, vertiefend betrachtet werden können.
Gemeinschaftsunterkünfte als Mikrokosmos spezifischer Konflikte und Bewältigungsweisen Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre analysierte eine subjektwissenschaftliche Forschungsgruppe Gemeinschaftsunterkünfte („Flüchtlingswohnheime“) als ‚Mikrokosmos‘ typischer Konflikte und Bewältigungsstrategien. In Ute Osterkamps (1996) Buch „Rassismus als Selbstentmächtigung“ findet sich ein Überblick über die Ergebnisse, die als Heuristik für heutige Analysen herangezogen werden können. Das subjektwissenschaftliche Forschungsprojekt untersuchte Gemeinschaftsunterkünfte vom Standpunkt der Subjekte. Die sozialpsychologische Perspektive fasst dabei die Sammelunterkünfte begrifflich als institutionelle Bedeutungsanordnungen (vgl. Holzkamp 1995: 339). Diesen begegnen Individuen in ihrem Alltag nie in ihrer Totalität, sondern immer spezifisch zugewandt aufgrund ihrer jeweiligen Lage und Position. Bedeutungsanordnungen werden in diesem Rahmen als subjektive Möglichkeitsräume7 verhandelt, die sich durch die Analyse konkreter Handlungsmög7 Bedeutungen können sowohl historisch-strukturelle Dimensionen enthalten wie hier der institutionelle/organisationale Erbringungskontext, sie können theoretische wie politische Dis-
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lichkeiten/-einschränkungen ermitteln lassen. Holzkamp (ebd.: 355f.) trennt analytisch zwei Arten, wie Professionelle in diesen Möglichkeitsräumen handeln können: Sie können (1) vorhandene Möglichkeiten strategisch/eigensinnig/abwehrend realisieren, auch wenn sie mit Konflikten sowie Widersprüchen verwoben sind. Oder sie können (2) vorhandene (ungleiche) Freiheitsgrade nutzen, um den Status quo zu hinterfragen und Alternativen zu reflektieren, die darauf zielen, die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung zu erweitern (vgl. Markard 2009: 158f.). Die Autor_innengruppe um Ute Osterkamp analysierte u. a. die Qualität der Arbeitsbedingungen in Gemeinschaftsunterkünften. Sie fragte danach, wie diese von den Mitarbeiter_innen, entweder im Modus restriktiver oder im Modus verallgemeinerter Handlungsfähigkeit, verarbeitet werden. Detailreich rekonstruieren die Autor_innen die als „bloß ,soziale‘“ Konflikte erscheinenden bzw. wahrgenommenen Problemlagen und die darauffolgenden wechselseitigen „personalisierenden Schuldzuweisungen“ (ebd.: 6) zwischen Mitarbeiter_innen und Bewohner_innen in ihren politisch-institutionellen Zusammenhängen. Die aufgefundenen Konflikte und Verarbeitungsweisen von Professionellen sind, so die Forschungsgruppe, anhand eines zentralen institutionellen Widerspruchs zu begreifen: dass Beschäftigte in Gemeinschaftsunterkünften „Hilfe unter Bedingungen leisten sollen, die auf die Abschreckung Geflüchteter zielen und somit diese Hilfe weitgehend unmöglich machen“ (ebd.: 48). Mit dieser Ausgangssituation versuchen die Mitarbeiter_ innen „,irgendwie‘ fertig zu werden“ (ebd.). Es kann naheliegend sein, sich als Arbeitnehmer_innen als ‚perfekte Problembewältiger_innen‘ darzustellen, z. B. um nicht als ungeeignet für das Tätigkeitsfeld zu erscheinen. Diese den Status quo stabilisierende Verarbeitungsweise erschwert es jedoch, „das objektive Ungenügen“ (ebd.) der eigenen Arbeit aufgrund der Bedingungen zu thematisieren, aus Angst persönlich für die (Folge-)Probleme verantwortlich gemacht zu werden. Solche Ängste können in Situationen existenzieller Verunsicherung, z. B. im Kontext befristeter Arbeitsverträge, verstärkt werden. Das Arbeiten in Anbetracht des objektiv-widersprüchlichen Hilfeauftrags und das Handeln unter abschreckenden Bedingungen bedeuten für die Mitarbeiter_innen, dass sie sich bereits aus Zeitmangel kaum auf die Probleme der Bewohner_innen einlassen können, wodurch eine Zensur von deren Lebensansprüchen (ebd.: 63) begünstigt wird. Die Bewohner_innen selbst erscheinen dann nicht mehr als Personen mit verständlichen Ansprüchen, sondern als Problem, das es zu kontrollieren gilt (vgl. ebd.: 49). Eine solche Zensur der Ansprüche von Bewohner_innen wird, so die Forschungsgruppe, für die Mitarbeiter_innen z. B. dort naheliegend, wo sie sich nicht unmittelbar in der kurse umfassen, aber auch personale Dimensionen wie biografische Erfahrungen, körperliche Möglichkeiten bzw. Grenzen und soziale Beziehungen.
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Lage sehen, Ansprüchen gerecht zu werden, oder sich überfordert fühlen, z. B. aufgrund mangelnder (Rechts-)Kenntnisse oder zeitlicher Ressourcen. Problematisch ist dabei aus Sicht der Forschungsgruppe nicht in erster Linie die unterbliebene Unterstützung, sondern die Zurückweisung der Ansprüche der Bewohner_innen. „Statt zu sagen: ‚Es wäre gut, aber ich schaffe es nicht‘“ kann es dann heißen: „Weil ich es nicht schaffe, ist es unrealistisch oder unangebracht“ (ebd.: 63f.). Die Autor_innengruppe beobachtet in den untersuchten Gemeinschaftsunterkünften neben dem Ausblenden der Ansprüche der jeweils anderen Gruppe auch eine Verdrängung der Wahrnehmung der objektiven Zwänge, unter denen das Gegenüber handelt. Das Leugnen der objektiven Zwänge und damit auch das Ausblenden eines ganzen Bündels von potenziellen Handlungsgründen des Gegenübers hemmt eine gemeinsame Verständigung über die Bedingungen und die (gemeinsamen) Optionen, diese als Zumutungen zu markieren und zu hinterfragen: „Wenn man z. B. als MitarbeiterIn die Aggressivität der HeimbewohnerInnen gegen die eigenen fürsorgerisch/disziplinierenden Aktivitäten als das begreifen würde, was sie auch ist, nämlich als letzten Rest von Widerständigkeit gegen ihre Kontrolle und Entmündigung, müsste man sich nicht primär gegen das Klientel, sondern gegen die eigene einem auferlegte Kontrollfunktion [wenden]“ (Osterkamp 1996: 57f.)
Personalisierende Bewältigungsstrategien (z. B. indem andere als persönlich voreingenommen oder kulturspezifisch aggressiv markiert werden) zu analysieren, kann dazu beitragen, den Blick auf die eigene institutionelle Rolle und auf damit verbundene Sorgen (z. B. um den Arbeitsplatz) auszuweiten. Restriktive Bewältigungsweisen sind in diesem institutionellen Setting nachvollziehbar. Derartiges Verhalten lässt sich jedoch eher thematisieren, „wenn es nicht als individuelles Versagen, sondern im Zusammenhang mit den Verhältnissen, unter denen es naheliegenderweise als einziger Ausweg übrig zu bleiben scheint, reflektiert wird“ (ebd. 65f.). Ein Begreifen der jeweils übergeordneten Zusammenhänge ist, so die Forschungsgruppe, daher notwendig, um eine „Vereigenschaftung“ von strukturellen Zwängen zu vermeiden. Statt zu sagen: „Sie agieren so, weil sie so sind!“ kann so (unmögliches) Handeln im Zusammenhang mit (unmöglichen) Rahmenbedingungen wahrgenommen werden (vgl. ebd.: 83). Die Studie der Forschungsgruppe zeigt, dass die repressiven und teils paradoxen Aufträge den Mitarbeiter_innen beschränkende Bewältigungsweisen nahelegen, die sich teilweise verbunden mit den Lebensbewältigungsstrategien der Bewohner_innen zu Dynamiken der Nicht-Verständigung und zu eskalierenden Verhaltensweisen aufschaukeln – obwohl die in der Studie befrag287
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ten Mitarbeiter_innen bei vergleichsweise wohlmeinenden Trägern arbeiten. Neben repressivem Mitarbeiter_innenverhalten zeigt die Studie auch eine Art interner Arbeitsteilung. Ein Teil der Mitarbeiter_innen übernimmt die Rolle der Engagierten, während andere ordnungsstiftende und disziplinierende Aufgaben übernehmen. Es zeigen sich also Varianten des Handelns und insofern unterschiedliche Möglichkeiten des Handelns von Mitarbeiter_innen in Gemeinschaftsunterkünften. Pieper (2008) arbeitet in seiner Studie weitere Handlungsvarianten von Mitarbeiter_innen heraus. Diese richten sich weniger darauf, strukturelle Veränderungen anzustoßen, sondern bestehen beispielsweise in einem Bemühen um kostenlose Essenslieferungen durch die Tafel, das Einrichten von kostenlosen Interneträumen, ein Zur-Verfügung-Stellen von übertragbaren Monatskarten für den öffentlichen Nahverkehr, das Übersetzen von Behördenbriefen und das Schreiben von Widersprüchen. Ob Mitarbeiter_innen solche unterstützenden Praxen entwickeln, steht laut Pieper in Zusammenhang mit den Trägerkonzepten, der Größe der Unterkünfte und den persönlichen Strategien einzelner Mitarbeiter_innen. Größeres Entwicklungspotenzial sieht Pieper eher bei den nicht-gewerblichen, gemeinnützigen Trägern (vgl. ebd.: 345). Zudem betont er die Relevanz flankierender sozialer Bewegungen. Mitarbeiter_ innen haben ihm zufolge drei Optionen: Sie können die Exklusion verwalten, die Situation für die Bewohner_innen zuspitzen oder sich für Veränderungen engagieren. Er meint: „Der Lagerinnenraum wird aus der Perspektive der BewohnerInnen auch strukturiert durch das Engagement und die konkreten Handlungen der MitarbeiterInnen. Innerhalb der durch den rechtlich-institutionellen Rahmen gesetzten Grenzen – Mehrbettzimmer können beispielsweise in Gemeinschaftsunterkünften nicht abgeschafft werden – haben die MitarbeiterInnen die Möglichkeit die Handlungsfähigkeit der BewohnerInnen durch die Bereitstellung von symbolischen und materiellen Ressourcen zu erweitern. Die Wirkungsmacht des persönlichen Engagements hängt von der Position und Durchsetzungsfähigkeit innerhalb der hierarchisierten Arbeitsabläufe ab“ (Pieper 2008: 344f., vgl. S. 102f. und 118–226).
Kleinere organisationale Spielräume für das Handeln von Mitarbeiter_innen scheint es also zu geben. Sozialarbeiter_innen können sich an einer unreflektierten Reproduktion des Naheliegenden beteiligen, sie können aber auch offene oder klandestine Strategien entwickeln, die über dieses hinausweisen. Zudem betonen Autor_innen wie die Gruppe um Osterkamp die Option einer Verständigung zwischen den Beteiligten(-gruppen) über die Infragestellung und Möglichkeiten der Veränderung des Status quo (vgl. u. a. Osterkamp et al. 2002: 173).
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Spielräume und Herausforderungen in Gemeinschaftsunterkünften: Zwischen Selbstorganisation unterstützen (können) und Eigensinn ertragen lernen Auf der Basis eines Interviews über Herausforderungen und Spielräume in Gemeinschaftsunterkünften, das wir im Rahmen eines Forschungsprojektes geführt haben, möchten wir im Folgenden Handlungsspielräume diskutieren.8 Die Interviewte formuliert den Anspruch, „Selbstorganisation zu unterstützen“, beschreibt aber den Eigensinn der Bewohner_innen auch als anstrengend. Wir nutzen für die Datenauswertung die subjektwissenschaftliche Perspektive, mittels derer wir den subjektiven Möglichkeitsraum9 der Interviewten und die ihr zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten und Interpretationsangebote beleuchten. Dabei rekonstruieren wir die von ihr gewählten Denk- und Handlungsmöglichkeiten, gehen auf von ihr genannte (Auswahl-)Gründe ein und formulieren Hypothesen zu (impliziten) Bedeutungs-Begründungs-Mustern.10 Die situationsbezogenen Schilderungen11 aus dem Interview sind sowohl als Illustrationen des subjektiven Möglichkeitsraums der Befragten lesbar als auch als ein konkreter Fall eines typischen Möglichkeitsraums (vgl. Holzkamp 1985: 548ff.) von Mitarbeiter_innen in Gemeinschaftsunterkünften.12
8 Wir sehen hierin „Schlüsselkonstellationen“, d. h. „unter theoretischen Gesichtspunkten herausragende Datenkonstellationen“ (Markard 2009a: 28), die es zulassen, einen subjektiven Möglichkeitsraum sowie darin begründete Verarbeitungsweisen zu konkretisieren. 9 Das heißt die subjektive Bedeutung objektiver (Lebens- und Arbeits-)Bedingungen: hier zentral der institutionelle/organisationale Erbringungskontext in der Gemeinschaftsunterkunft, aber auch Professions(-theoretischer)Diskurse Sozialer Arbeit als auch (personale) Bedeutungen wie biografische Erfahrungen, körperliche Möglichkeiten/Grenzen, soziale Beziehungen. Die Auswahl der aufgelisteten Dimensionen erfolgte im Zuge des Rekonstruktionsprozesses entsprechend ihrer einzelfallspezifischen Relevanz. 10 In der Darstellung gehen wir zudem, soweit es die Datenlage ermöglichte, auf folgenden Prozess ein: (1) das Erkunden möglicher orientierungsrelevanter Bedeutungen aus Neugier oder aufgrund eines Handlungsproblems (Orientierungsnotwendigkeit/-bedürfnis), (2) das Bewerten der orientierungsrelevanten Bedeutungen (emotional/kognitiv) hinsichtlich ihrer Gebrauchswerthaltigkeit sowie (3) die Aneignung/Nicht-Aneignung (im Sinne der doppelten Möglichkeit) selbst (vgl. u. a. auch Marvakis 1996). 11 Zur Verdeutlichung dieser subjektwissenschaftlichen Perspektive erläutert Markard: „Das Spezifikum menschlicher Existenz besteht aber nicht darin, dass Situationen zu berücksichtigen sind, sondern dass die zu berücksichtigenden Situationen in übergreifende (für uns: kapitalistische) Strukturen eingebunden sind, ohne deren Begreifen auch ‚Situationen‘ unbegriffen bleiben müssen“ (Markard 2010: 170). 12 Verallgemeinerungen bezüglich typischer Möglichkeitsräume sind historisch-strukturelle Aussagen in einem hypothetischen Sinn, d. h. „dass überall da, wo die je herausgearbeiteten Dimensionen zu finden sind, sich auch die entsprechenden Zusammenhänge ergeben [können UE/BS]“ (Markard 2009: 297).
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Das Normale machen Die von uns befragte Sozialarbeiterin arbeitet gemeinsam mit einer Kollegin in einer Gemeinschaftsunterkunft, in der über hundert Geflüchtete wohnen. Sie schildert ihren Arbeitsalltag im Wesentlichen als organisierende Tätigkeit, die dem entspricht, was im Kapitel Feldbeschreibung als Betreuungstätigkeit gefasst wurde. Sie besteht darin, für grundlegende Bedürfnisse ansprechbar zu sein, den Rahmen zu organisieren für deren Befriedigung, u. a. indem Verträge mit einem Caterer gemacht werden, Betten aufgestellt werden etc. Zudem ist sie zuständig für die Begleitung von Einzelnen bei Unterversorgung und Konflikten. Die Interviewte sagt, dass es ihr wichtig sei, nicht einfach im Normalvollzug der Flüchtlingsverwaltung „mitzumachen“, sondern etwas „anders zu machen“.13 Das bedeutet für sie, „Teile von Selbstorganisation“ zu ermöglichen. Dies verweist darauf, dass sie Selbstorganisation als wesentliches Element ihrer Tätigkeit sieht, aber auch lediglich Anteile hiervon befördert. Als Referenzrahmen ihrer Arbeitsweise benennt sie Perspektiven jenseits einer repressiven Asylpolitik. Diese offen gegenüber Kolleg_innen sowie Bewohner_innen zu artikulieren, sieht sie in ihrem Praxisfeld aber als „No-Go“ an. Dies ist riskant z. B. aus der abschreckenden Logik der Flüchtlingsverwaltung heraus. Zudem legen ihr auch existenzielle berufsbiografische Gründe einen verdeckten, subversiven Umgang nahe. Bereits für Tätigkeiten, die die Anliegen von einzelnen Bewohner_innen zu unterstützen suchen, brauche es „Rückgrat“ und zusätzliches Engagement. In folgenden Schilderungen zeigt sich, dass „Rückgrat“ haben, nicht als persönliche Eigenschaft zu lesen ist, die man hat oder eben nicht hat, sondern hier die analytische und sensibilisierende Aufgabe erst beginnt, den subjektiven Möglichkeitsraum explizit zu machen, der „Rückgrat“-Entwickeln unterstützen sowie hemmen kann.
„Coole Projekte“ Neben der normalen Alltagsarbeit gibt es Projekte, die die Befragte als „coole Projekte“ bzw. Aktivitäten bezeichnet. Zu dieser Art von Projekten gehören ihrer Aussage nach: Bewohner_innenversammlungen, da dort z. B. wichtige Informationen zum Asylverfahren „an alle auf einmal weitergegeben“ werden können oder die Gelegenheiten genutzt werden kann, um gemeinsam Lösungen für Konflikte (u. a. das Thema Sauberkeit zwischen Müttern und 13 Wir nutzen für Darstellung der Interviewdaten Paraphrasen wie O-Töne, um explizit benannte wie auch implizite (= hypothetische Aussagen im Sinne von Prämissenspekulation vgl. Markard 2010: 177) Bedeutungsanordnungen sowie anschließende Prämissen-Gründe-Zusammenhänge aufzuzeigen.
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männlichen Einzelpersonen, Essensversorgung, Fahrradwerkstatt/Ausleihen von Rädern) zu erarbeiten und nicht um lediglich fertige Hausordnungen zu verkünden. Derartige Projekte unterstütze, so die Sozialarbeiterin, potenziell auch die Selbstorganisation von Bewohner_innen, z. B. indem nach einer Vereinbarung Bewohner_innen selbstständig die Verteilung von Zimmern und Spenden übernehmen. „Cool“ macht Projekte, die teils über die Reproduktion des Status quo hinausweisen, allerdings vermutlich nicht lediglich ihre Anschlussfähigkeit an die kritische Haltung der Sozialarbeiterin gegenüber der repressiven Asylpraxis, sondern auch, dass sie auf „eigene Ideen“ bzw. auf offen praktizierbare Initiativen zurückgehen. Hierdurch wird für die Befragte eigene Gestaltungsmacht bzw. Handlungsfähigkeit grundständig erfahrbar. Die Möglichkeit, mit Projekten zur Verbesserung der Lebensqualität der Geflüchteten und gleichzeitig zur eigenen Arbeitsentlastung beizutragen, ohne dabei (zu) viel – z. B. den Job – riskieren zu müssen, macht die hohe Attraktivität bzw. „Coolness“ derartiger Projekte nachvollziehbar. Dass hier nicht der Job riskiert werden muss, liegt eventuell auch daran, dass sowohl das Team als auch die Leitung derartige Projekte zumindest dulden bzw. dies im Zuge von Arbeitsteilung ermöglichen, z. B. indem Basisaufgaben im Bereich der Sauberkeit von anderen übernommen werden. Ein wichtiges Element „cooler Projekte“ ist es zudem, dass es Bewohner_innen gibt, die bereit und fähig sind, sich passend an diesen Projekten zu beteiligen. Unter anderem bedarf es dafür gegebenenfalls Sprachkompetenzen, einen spezifischen sozialen Status in der Gruppe etc., was Ungleichheiten nicht nur minimieren, sondern auch verstärken kann. „Coole Projekte“ scheinen solche zu sein, bei denen die eigene (professions-) politische Orientierung, Bewohner_inneninteressen, Trägerinteressen und die eigenen Interessen als lohnabhängig Beschäftigte zueinander passen. In ihnen lassen sich geteilte Anliegen entdecken, die im Status quo eine Option auf eine Realisierung haben. Entsprechend kooperativ ausgerichtete Praxen werfen Möglichkeiten, aber auch viele Fragen und möglicherweise auch Konflikte auf, worauf wir im Ausblick zurückkommen werden.
Herausforderungen: Eigensinn und Existenzielles Kontrastierend zu den „coolen“ Projekten, die kleine Gestaltungspielräume zeigen, bezeichnet die von uns befragte Sozialarbeiterin zahlreiche Situationen als herausfordernd, anstrengend und schlimm: wenn es schlicht anders kommt, als erwartet, wenn einzelne Bewohner_innen eigeninitiativ existenzielle bzw. dringliche Bedürfnisse einbringen, wenn sie nicht weiß, wie weit sie gehen kann oder will, und wenn bereits Feierabend ist. Als Beispiele nennt sie hier die von einem Bewohnerpaar unerwartet erbetene, notwendige Unterstützung bei der Vorbereitung einer lebensnotwendigen Operation für ihr Neugebore291
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nes und die unangemeldete Unterbringung einer Familie mit mehreren Angehörigen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen. Herausfordernd wird es für sie, wenn in einem materiellen Sinn unmittelbare Handlungsaufforderungen geschaffen werden, obwohl es hierfür keine (angemessenen) Betreuungskapazitäten gibt, oder wenn ihr notwendige (Rechts-)Kenntnisse fehlen. Solche Herausforderungen erleben Sozialarbeiter_innen häufig. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, wäre, sie entlastungsorientiert zu übersehen, aufgrund ihrer Haltung kann bzw. möchte die Befragte das jedoch nicht. Deutlich wird dies in zwei Konflikten: Als ein Konfliktfeld schildert sie die wiederkehrend aufflammenden Konflikte um die Essensversorgung. Die Sozialarbeiter_in beschreibt die folgende Situation: Die Bewohner_innen waren zweimal hintereinander wegen der Fremdversorgung durch einen Caterer in den (Hunger-)Streik getreten. Sie erklärt, sie habe Verständnis für das Anliegen nach Selbstversorgung und das zuständige Sozialamt gebeten, eine Küche einzubauen. Sie berichtet, sie habe den zuständigen Sozialamtsmitarbeiter_innen zudem eine kippende Stimmung prognostiziert, noch bevor diese eingetreten war, wobei sie sich zweifelnd fragt, „ob sie [die Behörden] mir die Schuld in die Schuhe schieben?“. Später habe auch ihre Vorgesetzte ihr Vorgehen im Kontakt mit dem Sozialamt unterstützt. Das Sozialamt willigte im Ergebnis zwar nicht in die Selbstverpflegung ein, u. a. begründet mit hygienischen Auflagen sowie fehlender Infrastruktur in der Unterkunft. Eine Schuldzuweisung an die Interviewte vonseiten der Behörde bleibt jedoch auch aus. Die Ermöglichung der Selbstversorgung habe zwar „nicht geklappt“, meint sie rückblickend, jedoch wären die Bewohner_innen „nicht so sauer“ gewesen. „Irgendwie war es ok“, und die Bewohner_innen hätten schließlich im Gespräch mit ihr und dem Caterer eine an die Bedürfnisse besser angepasste Essensversorgung entwickelt. Letztlich gelingt ihr, vermutlich durch ihre Bereitschaft zur für sie auch riskanten Zusammenarbeit mit einer Pressure Group unter den Bewohner_innen und schließlich auch dem Caterer, zumindest eine Verbesserung der Essensituation zu erreichen. Eine weitere herausfordernde Situation entsteht rund um eine Familienzusammenführung in der Unterkunft. Ein Bewohner hatte ein Zimmer in der Unterkunft besetzt, um für sich, seine Frau und das gemeinsame Baby einen Raum zu schaffen, die zuvor in einer anderen Unterkunft untergebracht waren und die er gleich mitgebracht habe, wofür es keine Genehmigung seitens der zuständigen Behörde gab. Diese geschaffenen Tatsachen setzten die Sozialarbeiterin unter Druck, da sie u. a. die möglichen negativen Folgen nicht habe abschätzen können, die eine Meldung der Situation bei der zuständigen Ausländerbehörde bedeutet hätte. Zudem wusste sie nicht, wie weit sie gehen konnte, ohne ihre eigene Stelle zu gefährden: „…das war sozusagen meine Grenze, was kann ich machen, was nicht, also das war anstrengend.“ Belastet 292
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habe sie auch, dass sie trotz ihres Wissens um die familiäre Not des Bewohners diesen in der Vergangenheit kaum unterstützt habe und seiner Familie so letztlich kein Umzug ermöglicht worden sei. In dieser Situation habe sie sein Anliegen aufgegriffen und durch Telefonate u. a. mit informierten Netzwerken wie dem Flüchtlingsrat im Laufe eines Tages die Umverteilung der Frau und des Babys erreicht. Eine solche herausfordernde Situation kennzeichnet, dass Bedürfnisse eigensinnig und mit Nachdruck geäußert werden, dass die Professionellen das eingebrachte Anliegen im besten Fall anerkennen und eine Bereitschaft für „kreative Lösungen“ besteht. Im konkreten Fall bedeutet das, kreative Lösungen jenseits von dem „Standardwissen: Die dürfen hier nicht bleiben – Raus!“ Es wird die Relevanz vitaler Netzwerke deutlich, um die eigenen einzelfallbezogenen Spielräume zu ergänzen. Im Interview wird angesprochen, dass das bis hin zu Netzwerken gehen kann, die versuchen, drohende Abschiebungen zu verhindern. Ihr Kontakt könne gegebenenfalls. an vertrauenswürdige Bewohner_innen vermittelt werden. Im Zusammenhang mit dem Engagement für Einzelne bzw. für spezifische Gruppen tauchen, wie das Interview zeigt, immer wieder auch Gerechtigkeitsfragen auf, die teilweise explizit von der Interviewten formuliert werden. So würden Familien in der Gemeinschaftsunterkunft wie auch vom Sozialamt bevorzugt, indem sie schneller „umverteilt“ würden oder sich zuerst bei eingegangenen Sachspenden versorgen dürften, was zu regelmäßigen Konflikten mit Einzelpersonen führe, die dies als ungerecht wahrnehmen. Die dilemmatische Frage, die hier deutlich wird, ist: Wann ist es wichtig und richtig, Einzelne zu unterstützen, obwohl nicht alle gleichermaßen individuell unterstützt werden können? Diesem Gerechtigkeitsdilemma kann ausweichend in einer Art von Umkehrschluss begegnet werden: „[…] wenn ich allen nicht angemessen helfen kann, dann helfe ich keinem individuell“ (Osterkamp 1996: 51).
Möglichkeitsräume für Sozialarbeiter_innen in Gemeinschaftsunterkünften Der Blick auf die subjektiven Möglichkeitsräume von Sozialarbeiter_innen in Gemeinschaftsunterkünften zeigt, wie herausfordernd es sein kann, sein professionelles Wissen, Können und seine Haltung für die Bewohner_innen nutzbar zu machen. Es bedeutet Extratouren jenseits der Routinen, „Überstunden“ und es bedeutet, Ungewissheiten und Risiken einzugehen. Das Interview veranschaulicht, dass es für Sozialarbeiter_innen, wie auch Pieper (2008) es beschreibt, kleine Gestaltungsspielräume in Form von Verbesserungen der unmittelbaren Infrastruktur gibt. Zudem gibt es darüber hinausgehende Möglichkeiten der Unterstützung und (gruppenbezogener) Partizipation. Herausforde293
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rungen ergeben sich vor allem da, wo Bedarfe über das basale Standardmaß an Versorgung hinausreichen und dringlich formuliert werden. Sie stoßen an die Grenzen der repressiven Zweckbestimmung von Gemeinschaftsunterkünften bzw. der eingeschränkten Hilfezielsetzung und Ausstattung der Einrichtungen oder an die Grenzen der Professionellen selbst. Herausforderungen, aber auch erweiterte Handlungsmöglichkeiten zeigen sich zudem da, wo Bewohner_innen eigensinnig individuelle und kollektive Anliegen formulieren. Sie ermöglichen Sozialarbeiter_innen, im Bündnis und in Konflikten verbesserte Lebensbedingungen zu erreichen. In Gemeinschaftsunterkünften zeigt sich aus der Perspektive der Profession ein optionaler, aber zugleich ausgesprochen kleiner und fragiler Möglichkeitsraum – fragil, da die praktisch-produktive und eben nicht lediglich symbolische Anerkennung von Bedürfnissen der Bewohner_innen unmittelbar mit den Begrenzungen des Feldes kollidiert und dort – wie im Interview – entsprechende Aktivitäten schnell mit Konflikten und Sorgen (auch um den eigenen Arbeitsplatz) einhergehen können. Damit liegt es nahe, sich strategisch zu verhalten, um Konflikte mit Kolleg_innen, Leitung oder Anstellungsträger _innen zu vermeiden. Der eigene Einsatz im Sinne kreativer, möglichkeitserweiternder Praxen ist dagegen eher weniger naheliegend bzw. er bedarf förderlicher Kontexte, wie entsprechend ausgestalteter organisationaler Möglichkeitsräume (inkl. Team, Leitung, Netzwerke, Trägerselbstverständnis etc.), die hierbei unterstützen. Das Interview macht derartige Ressourcen deutlich, z. B. die punktuellen Bündnisoptionen der Befragten mit Bewohner_innen, die Arbeitsteilung mit einer Kollegin, die während der Bemühungen der Befragten zur Stärkung der Gestaltungsspielräume der Bewohner_innen den Putzdienst organisiert. Allerdings bestehen gerade auch für stetige Kooperationen mit Bewohner_innen Herausforderungen: einerseits wegen der Notwendigkeit, andererseits aber auch aufgrund der Herausforderung unter repressiven Bedingungen und angesichts der oft kurzen Verweilzeiten der Mitarbeiter_innen und der kommunikativen Hürden, Vertrauen aufzubauen zu müssen. Zentral dürfte aber auch hier vor allem der dem Personalschlüssel geschuldete Zeitmangel sein. Dabei ist abzuwarten, ob es – angesichts des guten Arbeitsmarktes für Sozialarbeiter_innen und des zumindest etwas verbesserten Personalschlüssels – vermehrt zu Aushandlungen um Qualität bzw. Standards zwischen Sozialarbeiter_innen und Einrichtungen bzw. zwischen Einrichtungen und zuständigen Landesbehörden kommt. Im Rückblick auf unsere Analysen und den Forschungstand können wir die Situation in Gemeinschaftsunterkünften als eine migrationspolitisch und rechtlich massiv beschränkte und institutionellen Totalisierungsdynamiken unterliegende Situation erfassen. Soziale Arbeit reproduziert darin vielerorts den Status quo, sie verschärft ihn aber auch teilweise. Teilweise ringen die 294
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Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
Mitarbeiter_innen in konflikthaften Situationen aber auch um eine Verbesserung der dortigen Situation. Dass Professionelle die Erwartung haben, als Beschäftigte passförmige „perfekte Problembewältiger_innen“ (vgl. Osterkamp 1996: 48f.) sein zu wollen, ist nachvollziehbar. Ebenso nachvollziehbar ist es aber zudem, dass sie für die Bewohner_innen nützliche Problembewältiger_innen sein wollen. Dies ist in der bestehenden Überforderungssituation und ohne Bündnispartner_innen kaum einzulösen, sondern es liegt nahe, situativ abwägend sich mal den Status quo erhaltend, mal repressiv (z. B. mit Blick auf die eigene Sicherheit und Entlastung) und mal Optionen erweiternd (z. B. durch die Unterstützung eigensinniger Praxen der Bewohner_innen) zu verhalten und dabei auch Risiken einzugehen. Diese Erkenntnisse sind grundlegend für eine Praxis Sozialer Arbeit, welche sich mit den in dieser Situation befindenden Menschen um eine bestmögliche Gestaltung bzw. Veränderung ringt. Eine genauere Betrachtung von Spielräumen kann dazu beitragen, zwischen den Handlungsmöglichkeiten aktiver zu wählen. Die hier skizzierte praxisanalytische Perspektive versteht sich als (heuristisches) Angebot, das dazu beitragen kann, das eigene Orientieren in und Aneignen von institutionellen/ organisationalen, professionellen Möglichkeitsräumen zu reflektieren und bewusster zu gestalten. Hierfür bedarf es (1) einer Aufmerksamkeit und Kenntnis der Spezifika von Institutionen und der in ihnen wirkenden Dynamiken, (2) einer analytischen Vorstellung davon, wie deren Bedeutungen für die in ihnen handelnden Menschen als Möglichkeitsräume erschlossen werden. Es bedarf einer (3) Verständigungsorientierung und (4) einer Unterstützung der Bewohner_innen und Beschäftigten durch die Profession und soziale Bewegungen, um die Einzelnen in ihren Handlungsstrategien zu unterstützen. Die Profession könnte deutlich stärker als bisher problematisieren, dass die aktuelle Flüchtlingspolitik den professionellen Beitrag zum Sozialen so begrenzt, dass sie ihre Prämissen, wie sie beispielsweise in Theorien Sozialer Arbeit und professionellen Ethik-Erklärungen formuliert werden, unterläuft (vgl. Scherr 2015: 17). Das könnte dazu beitragen, den im Interview thematisierten „No-Gos“ eine Kritik am selbstverständlich erscheinenden Deutschenprimat und der damit verbundenen Vernachlässigung menschlicher Ansprüche zur Seite zu stellen. Ein Ansatz hierfür bilden Diskrepanzanalysen wie die Problematisierung, dass professionelles bzw. professions-ethisch angemessenes Handeln in Gemeinschaftsunterkünften nicht möglich ist. Einen zweiten Ansatz bilden kleinschrittige Folgeabschätzungen. So wird beispielsweise in einem Positionspapier von Hochschullehrenden zur Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften (vgl. Initiative Hochschullehrender 2016: 1) formuliert, dass die Flüchtlingspolitik selbst soziale Probleme erzeuge, z. B. die „mannigfaltigen physischen, psychischen, sozialen (u. a. Isolation, Stigmatisierung, Vertrauens295
brüche trotz räumlicher Nähe) und organisatorischen Problemen, die teilweise erst dazu führen, dass Soziale Arbeit benötigt wird“ (ebd.). Ein dritter Ansatz besteht darin, Herausforderungen und Möglichkeiten in praktischen Handlungsvollzügen zu bestimmen, wie wir es hier getan haben. Eine solche Analyse und Reflexion mag in der Praxis sowohl entlasten als auch enttäuschen, da nicht alles möglich ist, was wünschenswert ist. Gleichzeitig kann sie aber vielleicht auch ermutigen, dann wenn Praxen erkennbar werden, in denen jeweils ich mich und ich andere begrenze, diese Begrenzungen bewusster zu erfahren, zu thematisieren, zu diskutieren sowie sie vielleicht sogar gemeinsam infrage zu stellen (vgl. Kunstreich 2016: 22).
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Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
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Soziale Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften
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1. Einleitung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit in Unterkünften für Geflüchtete
Der vorliegende Artikel soll Studierenden, Praktiker_innen und weiteren Interessierten einen Einblick in die Praxis menschenrechtsbasierter Sozialer Arbeit mit Geflüchteten ermöglichen sowie Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen. Vor dem Hintergrund 26-jähriger beruflicher Erfahrung im Arbeitsfeld „Soziale Arbeit“, davon 8 Jahre als Leitung von Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete in Berlin (265 Plätze) und Potsdam (200 Plätze) sowie dem Aufbau beider Einrichtungen sollen Praxiserfahrungen reflektiert werden und als mögliche Anregungen für Praktiker_innen dienen. Grundlegend werden Problemstellungen aus der Perspektive der Mitarbeitenden beschrieben, obgleich in der Regel die unmittelbar Betroffenen der Situationen die Geflüchteten selbst sind. Handlungsweisend für die praktische und konzeptionelle Arbeit in meinen Arbeitsfeldern ist der Referenzrahmen der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession, wie er u. a. von der International Federation of Social Workers/IFSW und der International Association of Schools of Social Work/IASSW definiert wurde (IASSW/IFSW 2014). Ein wesentlicher Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Bezugnahme auf die Menschenrechte als ein weltpolitisches Paradigma, das der zunehmenden Individualisierung sozialer Problemlagen entgegenwirkt, obgleich der ungleich wirkungsmächtigere neoliberale Code nach wie vor einen umfänglichen gesellschaftspolitischen Einfluss erlangt hat (vgl. Staub-Bernasconi 1995: 57ff.). Im Jahr 2002 wurde von den internationalen Fachverbänden IFSW und IASSW eine internationale Definition Sozialer Arbeit entwickelt, die 2014 durch folgende aktualisierte Fassung – der globalen Definition – ersetzt wurde: „Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage
Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit
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der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein“ (IASSW/IFSW 2014, deutsche Übersetzung DBSH 2016).
Die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Praxis sind vielfältig und herausfordernd, wenn auch nicht alle Menschenrechtsdokumente justiziabel sind, so sind folgende UN-Dokumente rechtsverbindlich: UN-Kinderrechtskonvention, UN-Frauenrechtskonvention, UN-Behindertenrechtskonvention, UN-Konvention gegen rassistische Diskriminierung, UN-Antifolterkonvention, Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. „Die dort verankerten Menschenrechte gelten unabhängig von der Staatsangehörigkeit und dem Aufenthaltsstatus eines Menschen. Die von Deutschland ratifizierten Verträge sind geltendes Recht, das sämtliche Staatsorgane auf der Ebene des Bundes, der Länder bis hin zu den Kommunen bindet“ (Cremer 2014: 5). Nach Staub-Bernasconi bedeutet dies in Hinblick auf die Anforderungen an eine menschenrechtsorientierte soziale Profession, dass „Sozialen Professionen damit im allgemeinen Bewusstseinsbildungsprozess über die universelle Gültigkeit von Menschenrechten eine eigenständige Aufgabe zukommt. Ziele von Menschenrechtsarbeit im Rahmen sozialer Professionen sind auf der individuellen Ebene die Wiederherstellung der Achtung von Menschenwürde, Empowerment- und Lernprozesse, auf der gesellschaftlichen Ebene Integration, soziale Gerechtigkeit sowie sozialer Wandel in Anbetracht menschenverachtender sozialer Strukturen und Kulturmuster und – langfristig – die Arbeit an einer Menschenrechtskultur im Alltag“ (Staub-Bernasconi 2005: 57ff.).
Durch die Bezugnahme auf die Menschenrechte als handlungsweisende Leitlinien der Sozialen Arbeit entsteht für die Sozialarbeitenden neben dem Mandat des_der Klienten_Klientin und dem Mandat des Auftraggebers ein weiteres drittes Mandat auf der Basis der Menschenrechte. Sie bilden einen berufspolitischen Referenzrahmen, der einerseits handlungsleitend ist und andererseits nicht immer mit den beiden anderen Mandaten korrespondiert (Leideritz/ Vlecken 2016: 29ff.). Die hieraus entstehenden Herausforderungen gilt es, in der Praxis zu meistern.
2. Rahmenbedingungen Für die Unterbringung von Geflüchteten bestehen verschiedene Formen von Unterkünften, die über divergierende Standards und Rahmenbedingungen 301
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verfügen. In Berlin gibt es Notunterkünfte, beispielweise in Turn- oder Messehallen, Hangars in einem ehemaligen Flughafengebäude, Erstaufnahmeeinrichtungen, die ebenfalls in unterschiedlichen Gebäudearten untergebracht wurden, wie z. B. Wohncontainer, ehemalige Rathäuser u. a., sowie Gemeinschaftsunterkünfte, deren ursprüngliche Nutzung ebenso auf andere Zwecke bzw. Zielgruppen ausgerichtet war. Weiterhin wurden 2016 in Berlin erste Containerunterkünfte, sogenannte „Tempohomes“, für eine Unterbringungsdauer von drei Jahren speziell für Geflüchtete gebaut. In Planung sind außerdem weitere Unterkünfte, die in modularer Leichtbauweise an maximal 30 Standorten mit einer Kapazität von insgesamt bis zu 15.000 Plätzen errichtet werden sollen (Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten 2016). Im Kontext der räumlichen Unterbringung der Geflüchteten ist festzuhalten, dass die für Gemeinschafts- und Erstaufnahmeeinrichtungen geltenden räumlichen Standards nicht für Notunterkünfte verbindlich sind. In Berlin lebten Anfang November 2016 aufgrund fehlender Platzkapazitäten seit 2015 3700 Geflüchtete in Turnhallen (Friedrich 2016: o. S.) und 22.000 in Notunterkünften (Memarnia 2016: 44), darunter auch besonders Schutzbedürftige. Die Anzahl der Bewohner_innen variiert je nach Größe der Einrichtung in Berlin von circa 60 bis 80 Bewohner_innen bis zu 1300 in großen Unterkünften. Vor dem Hintergrund der skizzierten Unterbringungssituation muss festgestellt werden, dass bereits die Unterbringungssituation der Geflüchteten Menschrechtsverletzungen begünstigt und ursächlich hervorbringen kann. Somit sind sowohl die Träger der Einrichtungen als auch die Mitarbeitenden in Kooperation mit der Leitung gefordert, im Rahmen der Möglichkeiten für die Erfüllung der Grundbedürfnisse wie beispielsweise Nahrung (angemessene Versorgung mit Nahrung, termingerechte Auszahlung der Barleistungen) und Sicherheit (abschließbare Räume, separater Kinderraum, Frauenraum) zu sorgen. Für die Unterbringung in Notunterkünften sollten ebenso entsprechend angepasste Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden (z. B. Abtrennung eines separaten „Kinderbereiches“, der nur von Kindern, Erziehungsberechtigten sowie Mitarbeitenden betreten werden darf, und Bereitstellung eines Frauenbereiches). Die Umsetzung von Brandschutz- und Hygienekonzepten seitens des Trägers und der Leitung sind obligatorisch. Anzumerken bleibt, dass (soziale) Organisationen grundsätzlich darüber entscheiden können, ob sie große Einrichtungen und/oder Notunterkünfte in ihre Trägerschaft übernehmen. Demgegenüber wird in einem Policy Paper zur Unterbringung von Geflüchteten des Deutschen Institutes für Menschrechte darauf hingewiesen, dass „Deutschland durch das internationale Flüchtlingsrecht und die Menschenrechte verpflichtet ist Asylsuchende menschrechtskonform aufzunehmen“ (Cremer 2014: 5). Aufgrund fehlender verbindlicher einheitlicher Mindestan302
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forderungen für die Unterbringung von Geflüchteten wird deutlich, dass die „Lebensbedingungen von Geflüchteten stark vom Wohlwollen der zuständigen staatlichen Stellen abhängig sind“ (ebd.: 6).
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Besonders schutzbedürftige Geflüchtete Gemäß der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU, die am 19. Juli 2013 in Kraft trat, sollten für besonders schutzbedürftige Geflüchtete die Bereitstellung entsprechender Einrichtungen sowie Platzkapazitäten und die Beratung durch Fachpersonal mit einem angemessenen Personalschlüssel gewährleistet sein (Senatsverwaltung Bereich Soziales 2015). Diese Richtlinie stellt Normen für die Aufnahme von Personen auf, die internationalen Schutz beantragen. Sie legt u. a. fest, dass Mitgliedsstaaten die spezielle Situation folgender – als besonders schutzbedürftig geltender Personen – besonders berücksichtigen sollen: • • • • • • • • • •
Minderjährige; unbegleitete Minderjährige; Menschen mit Behinderung; ältere Menschen; Schwangere; Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern; Opfer von Menschenhandel; Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen; Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien.
Darüber hinaus gelten in Berlin zumindest im erweiterten Sinne auch von Gewalt bedrohte Frauen sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle und trans- und intergeschlechtliche (LSBTI) Geflüchtete als besonders schutzbedürftig (vgl. Der Senat von Berlin 2015: 12). Dies soll insbesondere bei der Unterbringung Berücksichtigung finden. In der Praxis gibt es in den meisten Städten/Regionen weder ausreichend zielgruppenspezifische Einrichtungen bzw. Platzkapazitäten noch ein ausgewogenes Verfahren zur frühestmöglichen Identifizierung der genannten Zielgruppen. Folglich werden besonders schutzbedürftige Geflüchtete in allen Arten von Unterkünften untergebracht. An dieser Stelle sind die Mitarbeitenden vor Ort gefragt, dies zeitnah zu erkennen und angemessene Hilfestellungen anzubieten, an Fachdienste zu vermitteln und/oder auf eine Aufnahme in ei303
Christiane Wahl
ner Unterkunft für besonders Schutzbedürftige hinzuwirken, was aufgrund der fehlenden Platzkapazitäten in der Regel nicht kurzfristig möglich ist. Neben der Beratung und Unterstützung im Einzelfall ist es ebenso notwendig, „Fälle“ zu dokumentieren und im Rahmen von Netzwerk- sowie politischer Lobbyarbeit entsprechende Forderungen zu stellen.
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3. Handlungsfelder Vor dem Hintergrund einer „gelebten“ menschrechtsbasierten Sozialen Arbeit in einer Unterkunft für Geflüchtete ergeben sich in der Praxis weitreichende Handlungsfelder, die aufgrund der skizzierten Rahmenbedingungen vielfältig und häufig auch herausfordernd sind. Im Folgenden sind die Kernbereiche und Handlungsempfehlungen für die Praxis beschrieben. In der Aufbauphase und während des regulären Betriebs der Einrichtung gilt es, in Kooperation mit der Leitung neben der Organisation der alltäglichen Abläufe vorrangig auch die Themenfelder Gewalt gegen Kinder – Kinderschutz, Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen LSBTI*, Gewalt zwischen Bewohner_innen und Gewalt durch das Umfeld/Rassismus im Blick zu haben bzw. damit zu arbeiten. Hierzu sollten in den Einrichtungen entsprechende Konzepte und Handlungsabläufe vorliegen, die angewandt und umgesetzt werden. Dies bedeutet, dass bereits im Zuge der Personalakquise möglichst qualifizierte Mitarbeiter_innen eingestellt werden sollten; in der Praxis müssen die Mitarbeitenden weiterhin geschult und sensibilisiert werden. Des Weiteren muss für alle Mitarbeitenden gelten, dass im Akutfall – in Absprache mit der Leitung oder Stellvertretung – unmittelbar gehandelt werden muss und im Fall von Unklarheiten Ansprechpersonen (z. B. Kinderschutzfachkraft, Ansprechperson bei Gewaltvorfällen) für Fallbesprechungen und Supervision zur Verfügung stehen müssen. Neben einem qualifizierten, mehrsprachigen, diskriminierungssensiblen und -bewussten Team ist es ebenso notwendig, ein entsprechendes Netzwerk an Sprachmittler_innen, Kontakte zu Fachberatungsstellen und Anwält_innen aufzubauen, um zeitnah Beratungen, Kriseninterventionen und Begleitungen anbieten zu können.
3.1 Kinderbereich In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist es erforderlich, entsprechend ausgebildetes Personal einzusetzen und mindestens einen separaten Raum, gegebenenfalls einen Bereich mit entsprechender Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Das Vorlegen eines erweiterten Führungszeugnisses für Mitarbeitende und Ehrenamtler_innen sollte hierbei als Standard vorausgesetzt werden. 304
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Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit
Neben altersgerechten Spiel-, Sport- und Freizeitangeboten sollten eine regelmäßige Hausaufgabenbetreuung sowie Ferienangebote durchgeführt werden. Darüber hinaus ist es wichtig, mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsame Regeln für den Kinderbereich zu entwickeln, über Kinderrechte und -schutz zu informieren und damit zu arbeiten. Grundsätzlich sollte die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung als Ergänzung zu den staatlichen Regelangeboten erachtet werden. Schule und Kindertagesstätte fungieren aus meiner Sicht als wesentliche Schnittstellen zur Mehrheitsgesellschaft, da der Zugang primär über Partizipation und Teilhabe erfolgt, d. h. Kontakte, Austausch und gegenseitiges Kennenlernen können nur entstehen, wenn die Segregation, bedingt durch die Unterbringung in separaten („Massen“-)Unterkünften, nach Möglichkeit aufgebrochen wird. Das Menschenrecht auf Bildung laut der UN-Kinderrechtskonvention muss bei Bedarf von der Heimleitung und den Mitarbeitenden umgehend eingefordert und umgesetzt werden. Elternarbeit Außerdem ist es notwendig, in Konfliktfällen Elterngespräche durchzuführen, die Kinder- und Jugendlichen zu stärken, im Falle besonderer psychischer Belastungen an Therapeut_innen und/oder Fachberatungsstellen zu vermitteln. Regelmäßig durchgeführte Elternversammlungen können vor allem dazu dienen, Fragen zur Erziehung, Gesundheit etc. gemeinsam zu besprechen. In diesem Kontext können beispielsweise auch Mitarbeitende der Jugendämter und Erziehungsberatungsstellen eingeladen werden. In diesem Kontext sollte besonders darauf geachtet werden, dass vor allem Kinder (auch Jugendliche) nicht als Sprachmittler_innen für Erwachsene eingesetzt werden! Dies ist leider häufig zu beobachtende Alltagspraxis und steht in diametralem Kontrast zum Recht auf eine angemessene kindliche Entwicklung und kann auch für die Eltern schambehaftet sein. Weiterhin sollte auf der Arbeitsebene im Team der Einrichtung ein regelmäßiger Austausch zwischen den Mitarbeitenden im Kinderbereich, dem Sozialdienst sowie der Leitung stattfinden, um Problemsituationen, Auffälligkeiten etc. im Gesamtkontext zu erfassen und angemessene Handlungsweisen zu entwickeln. Im Falle von Kindeswohlgefährdung sollte umgehend Kontakt zum zuständigen Jugendamt oder der Kinderschutzhotline aufgenommen werden und nach Möglichkeit mit den Erziehungsberechtigten das Gespräch gesucht werden. Darüber hinaus steht die Kinderschutzhotline für fachliche Beratung zur Verfügung.
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3.2 Asylrechtliche Beratung und Umgang mit Abschiebungen Unabdingbar für den Beratungskontext ist, die Bewohner_innen zur Vorbereitung auf die Asylantragsstellung, zur Begleitung des Asylverfahrens und im Rahmen von „aufenthaltsbeendenden Maßnahmen“ zeitnah an qualifizierte Asylberatungsstellen und/oder Anwält_innen zu vermitteln. Zudem ist unerlässlich, dass die Mitarbeitenden mindestens Grundkenntnisse über den Ablauf des Asylverfahrens, einschlägige Terminologien und Rechtsbegriffe kennen sowie ausreichende Kenntnisse über Fristen und die dazugehörigen folgenden Handlungsschritte haben. Die Kenntnisse sind entsprechend der aktuellen Rechtslage stetig zu aktualisieren. In Bezug auf „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ bzw. Abschiebungen empfiehlt es sich, vorab Kontakte zu Anwält_innen, zu Mitgliedern der Härtefallkommission und zu Kirchengemeinden aufzunehmen sowie im Einzelfall mit behandelnden Ärzt_ innen, Therapeut_innen und Mitarbeiter_innen von Fachberatungsstellen zu sprechen, um Unterstützungsmöglichkeiten gemeinsam abzustimmen. Daneben sollten in Kooperation mit den Mitarbeitenden des Kinderbereiches, kindgerechte Umgangsweisen und Kommunikationsformen für den Fall einer Abschiebung entwickelt werden. Dies gilt sowohl für die verbleibenden Kinder als auch für diejenigen Kinder, die mit der Angst einer Abschiebung leben müssen. Ableitend von einem Tripelmandatsverständnis Sozialer Arbeit, für das auch der internationale Code of Ethics richtungsweisend ist, verbietet sich eine Beteiligung an Handlungen, die nicht im Interesse der Klient_innen sind – mit der Ausnahme, dass diese Handlungen selbst- oder fremdgefährdend sind. So gehört es zum Kern der Arbeit, dass „Sozialarbeitende keine direkte oder indirekte Beteiligung an Abschiebungen leisten, nicht zuletzt, weil diese „dem professionellen Ethos und fachlichen Selbstverständnis Sozialer Arbeit widerspricht“ (Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016: 5; Leinenbach 2017); ebenso wie es zum Standard der Beratung gehört, nicht nur angesichts drohender aufenthaltsbeendender Maßnahmen, Klient_innen über sämtliche Handlungsoptionen zu beraten, damit sie eine informierte Entscheidung treffen können (vgl. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016: ebd.). Hierzu gehört, Bewohner_innen auch in Hinblick auf „drohende“ Abschiebungen über ihre rechtlichen Möglichkeiten zu informieren und sie an Asylverfahrensberatungen, Anwält_innen und/oder Ansprechpartner_innen der Härtefallkommission zu vermitteln. Mit den Behörden im Fall einer bevorstehenden Abschiebung wird nicht kooperiert.
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Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit
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3.3 Zielgruppen- und themenspezifische Soziale Arbeit Die zielgruppen- und themenspezifische Soziale Arbeit in den Unterkünften sollte in Form von regelmäßigen Bewohner_innenversammlungen über grundlegende Regelungen (z. B. Vorstellung der Mitarbeitenden und Arbeitsaufgaben, Hausordnung, Brandschutz, Hygiene und Gesundheit, Post- und Sachspendenausgabe, Umgang mit Beschwerden) und Abläufe in der Einrichtung informieren sowie für Fragen zur Verfügung stehen. Weiterhin sollten themen- und zielgruppenspezifische Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themenbereichen angeboten werden, beispielsweise: Gesundheit, Zugang zu Bildung und Ausbildung, Asylverfahren, Umgang mit Gewalt, Erziehung, Kinderschutz, Frauenrechte, Frauengesundheit und Verhütung. Hierbei können Referent_innen und Bewohner_innen aus der Einrichtung als Unterstützung hinzugezogen werden. Außerdem können Sprach-Cafés, Frauen- und Männergesprächskreise sowie regelmäßige Sport-, Kultur- und Freizeitaktivitäten angeboten werden. Die Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Unterstützer_innen kann auch in diesem Kontext hilfreich sein, sie kann jedoch keine professionelle Soziale Arbeit ersetzen. Im Kontext der Sozialen Arbeit empfiehlt es sich, einrichtungsspezifische Empowerment-Konzepte (vgl. Herringer 2014: 20), Trainingskonzepte und Workshops für Konfliktlotsen zu entwickeln und einen Bewohner_innenbeirat zu etablieren. Die Entwicklung und Pflege eines Bewohner_innenbeirats ist in der Praxis häufig sehr schwierig, nicht zuletzt deswegen, weil die Bewohner_innen mit den meisten Ressourcen am schnellsten wieder ausziehen. Dies hat oft zur Konsequenz, dass Personen, die Aufgaben und Verantwortung gut übernehmen können, in der Regel nach kurzer Zeit wieder weg oder durch eigene Aktivitäten ausgelastet sind. Andere wiederum haben wenig Interesse und/oder Ressourcen, Aufgaben in der Gemeinschaft zu übernehmen. Diese Aufgaben setzen neben dem Willen auch entsprechende personelle und sprachliche Kapazitäten voraus. So wird die Umsetzung der genannten Konzepte in der Praxis u. a. aufgrund von externen Terminfestlegungen durch Behörden, der notwendigen Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen sowie der Fluktuation der Bewohner_innen erschwert. Es ist ratsam, in Abstimmung mit den Bewohner_innen zunächst einen konzeptionellen Baustein auszuwählen und diesen in der Praxis zu etablieren. Ebenso ist die Kooperation mit Projekt- und Maßnahmeträgern hilfreich und unterstützend, jedoch ist auch hier eine enge Kooperation mit den Mitarbeitenden unabdingbar, um den Kontakt zu Bewohner_innen herzustellen und die organisatorischen Rahmenbedingungen abzustimmen. In der Praxis ist es aus meiner Sicht dringend erforderlich, dass Projektangebote auf die Bedürfnisse und Lebenssituationen der Geflüchteten abgestimmt sind und grundlegend auf „Augenhöhe“ durchgeführt werden. 307
In diesem Kontext möchte ich kritisch darauf hinweisen, dass bei vielen Anfragen von Schulklassen, Studierenden und Projektträgern an Mitarbeitende und Heimleitungen deutlich wird, dass solche Überlegungen im Vorfeld keine Rolle spielten, sondern Geflüchtete und ihre Kinder häufig auf einen „Objektstatus“ reduziert werden. An dieser Stelle wäre aus meiner Sicht eine tiefergehende Vorbereitung sowie Reflexionsphase sinnvoll, um sowohl die knappen personellen Ressourcen in den Einrichtungen zielorientierter und nachhaltiger einsetzen zu können, als auch den Geflüchteten als gleichberechtigte Personen gegenüber zu treten.
3.4 Aufnahme- und Abschlussgespräche Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Christiane Wahl
In Bezug auf Aufnahme- und Abschlussgespräche ist darauf hinzuweisen, dass in der Regel die Einrichtung entsprechend der freigemeldeten Plätze vorab informiert wird, wie viele Personen ihr zugewiesen wurden. Da keine konkrete terminliche Abstimmung mit den „Neuzugängen“ erfolgt, kann dies zu Wartezeiten für die Betreffenden in der Einrichtung führen oder zu einem Aufnahmegespräch am Folgetag, wenn eine spezifische Sprachmittlung unverzichtbar ist. Wichtig ist, im Aufnahmegespräch neben der Abklärung der Formalitäten, der notwendigen Datenerfassung, Aushändigung und Erläuterung der Hausordnung, Informationen zum Brandschutz, Aushändigung der Erstausstattung sowie Schlüsselkarte Erkrankungen, weitere dringliche Hilfebedarfe und besondere Schutzbedürftigkeit zu erfassen. Bei der Aufnahme von Familien mit Kindern sind neben den genannten Punkten weiterhin die wesentlichen Abläufe für den Schul- bzw. Kitabesuch zu klären. Zudem wird auf den Datenschutz und die Vertraulichkeit des Gesprächs hingewiesen. In Abschlussgesprächen werden nach der Zimmerübergabe an die Hauswirtschaftskraft, offene Fragen geklärt, beispielsweise Adressen und Zuständigkeiten, Ummeldung beim Bürgeramt, gegebenenfalls Ummeldung der Schulkinder. Hilfreich wären in diesem Kontext ausreichend Beratungsstellen für ambulante Beratung nach dem Auszug aus einer Unterkunft. Sowohl beim Einzug als auch beim Auszug ist es sehr wichtig, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die neue Adresse der Geflüchteten mitzuteilen, damit ihnen im späteren Verlauf nicht eine Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht vorgeworfen werden kann und sie die Post des BAMF erhalten. Sollten Bewohner_innen sich ein paar Tage nicht in der Einrichtung aufhalten, ohne die Mitarbeitenden zu informieren, wird der_die Betreffende abgemeldet und der Platz als frei gemeldet. Persönliche Gegenstände und Dokumente werden aufbewahrt.
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Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit
Wenn der dringende Verdacht besteht, dass ein_e Bewohner_in Opfer einer Straftat geworden sein könnte, wird umgehend eine Vermisstenanzeige gestellt, ebenso, wenn Angehörige und/oder enge Freund_innen dies wünschen.
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3.5 (Psycho-)Soziale Beratung Während des Aufenthaltes in der Unterkunft sollten zu festgelegten Sprechzeiten montags bis freitags täglich Beratungen durch die Mitarbeitenden der Unterkunft angeboten werden, je nach Bedarf mit Sprachmittlung. Die Beratungsinhalte reichen in der Praxis von Kriseninterventionen, aufenthaltsrechtlichen Fragen, Klärung von Zuständigkeiten bis hin zu Vermittlungen an Fachberatungsstellen, Ärzt_innen, Therapeut_innen und/oder Anwält_innen. Die Inhalte sind an den Bedarfen und Ressourcen der Bewohner_innen ausgerichtet. Im Falle von Konflikten, Gewaltvorfällen oder spezifischen „Auffälligkeiten“ (z. B. kein regelmäßiger Schulbesuch der Kinder) wird das Gespräch seitens der Mitarbeitenden initiiert. Wichtig ist insbesondere auch in diesem Kontext, den Bewohner_innen möglichst auf „Augenhöhe“ zu begegnen, d. h. mit einer respektvollen, trauma- und diskriminierungssensiblen Grundhaltung, die dem Gegenüber die Möglichkeit bietet, sukzessive ein Vertrauensverhältnis zu entwickeln und gleichzeitig die erforderliche Distanz zu wahren. Grundsätzlich gilt hierbei, dass Klient_innen selbstverständlich über ihre Fluchtgeschichte und -erfahrungen sprechen können, aber Mitarbeitende stellen keine „aufdeckenden“ Fragen. Fragen ergeben sich aus den Beratungskontexten, z. B. wichtige Informationen zum Ausfüllen von Antragsformularen, Anträgen für die Härtefallkommission. Informationen, die Mitarbeitende z. B. über Fluchtwege, Fluchtgründe, Identitäten, Altersangaben etc. erhalten, werden nicht an die Behörden weitergeleitet; dies wird auch mit den Bewohner_innen offen kommuniziert. Sollten Bewohner_innen im Laufe der Zeit Informationen offenlegen, die für den Verlauf des Verfahrens wesentlich sein könnten, werden sie von den Berater_innen ermutigt, diese Informationen selbst oder über den Rechtsbeistand in das Verfahren einzubringen.
3.6 (Haus-)Organisatorische Aufgaben Die hausorganisatorischen Aufgaben umfassen unterschiedliche Arbeitsbereiche und reichen von der Postausgabe, Ausgabe der Erstausstattung und Schlüsselkarten, Ausstattung der Bewohner_innenzimmer, Raumplanung, Planung der Wäschetermine, Erstellung von Reinigungsplänen bis hin zur Auflistung von Reparaturarbeiten, Materialbestellungen etc. Der Wunsch, Bewohner_innen bei der Bewältigung dieser Aufgaben zu beteiligen und dafür zu entlohnen, ist in der Praxis sehr schwierig umzusetzen. So ist es beispielsweise 309
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Christiane Wahl
aufgrund des Datenschutzes nicht möglich, Bewohner _innen im Büro einzusetzen; es gibt jedoch auch Ausnahmen, z. B. eine irakische Anwältin, die im Büro mithalf und von den Bewohner_innen als seriös und vertrauenswürdig respektiert wurde. Auch stellt sich manchmal das Problem, dass Einzelne durch ihre Mithilfe eine „Besserstellung“ erhoffen oder diese zum Teil auch vehement einfordern. Inzwischen erläutern wir die „Regeln“ der Zusammenarbeit daher vorab. Die Abläufe sollten so einfach und transparent wie möglich gestaltet und die Bewohner_innen über die für sie wesentlichen Punkte durch mehrsprachige Aushänge oder im persönlichen Gespräch informiert werden. Die Steuerung und Planung erfolgt durch die Heimleitung, die Durchführung und Umsetzung werden in der Regel nach Absprache mit den zuständigen Mitarbeiter_innen (Sozialdienst, Hauswirtschaftskraft, Hausmeister, Verwaltung, Sicherheitsdienst oder externe Dienstleister_innen) weitergeleitet.
3.7 Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Unterstützer_innen In der Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Unterstützer_innen ist es zunächst erforderlich, die Unterstützungsbedarfe nach Prioritäten in der Einrichtung zu erfassen und diese mit den Angeboten und Kompetenzen der ehrenamtlichen Unterstützer_innen abzugleichen. Einführend sollte mindestens ein Gespräch in der Einrichtung stattfinden, um die Aufgaben und die Zusammenarbeit mit den Hauptamtlichen abzustimmen. Hierzu empfiehlt es sich, einen Leitfaden zu erstellen, der als Grundlage für die Erstgespräche dient. Obligatorisch ist die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses vor Aufnahme der Tätigkeit. Des Weiteren sollten in diesem Arbeitsfeld Standards entwickelt werden, die neben Grundlagen der Zusammenarbeit (wie beispielsweise respektvoller, trauma- und diskriminierungssensibler Umgang, Beachtung des Datenschutzes) das Thema Rollenklärung beinhalten. Zusätzlich sollten Supervisions- und Weiterbildungsangebote zur Verfügung stehen sowie regelmäßige Austauschtreffen, Koordination und Begleitung der ehrenamtlichen Unterstützer_innen erfolgen. Es sollte keine Instrumentalisierung der ehrenamtlichen Tätigkeiten zum Ausgleich von fehlenden hauptamtlichen Ressourcen stattfinden. Auch wenn die Arbeit mit Ehrenamtler_innen eine sinnvolle Ergänzung zur professionellen Sozialen Arbeit sein kann, sind die Erfahrungen mit ihnen vielschichtig und nicht nur hilfreich. Einige arbeiten sehr engagiert und verlässlich mit den Bewohner_innen sowie kooperativ mit den Mitarbeitenden und unterstützen sowohl die Arbeit in den Unterkünften als auch im Stadtbezirk. Andere wiederum, zumeist Ehrenamtler_innen, die weder aus politischen Kontexten kommen, noch Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Geflüchteten 310
und/oder Migrant_innen haben, bringen zahlreiche Vorurteile mit und/oder erwarten Dankbarkeit. Besonders schwierig wird es, wenn Ehrenamtler_innen aufgrund nicht vorhandener Erfahrungen überreagieren und zum Teil unsere Arbeit damit torpedieren. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir im Gespräch mit einer gewaltbetroffenen Frau sind, die sich nicht sofort von ihrem Partner trennen will. Aus fachlichen Gründen wird sie natürlich weder bevormundet noch zu irgendetwas gedrängt – vielmehr gehen wir davon aus, dass eine solche Entscheidung Zeit braucht, und setzen auf den Gesprächsprozess. Manche Ehrenamtler_innen verstehen diese Zusammenhänge nicht; eine ehrenamtlich Tätige hat sich – ohne das Gespräch mit uns zu suchen – an den Bezirk gewendet, wodurch viel zusätzliche Arbeit, die unsere knappen Ressourcen schmälert, entsteht. Natürlich agieren solche Ehrenamtler_innen auch in bester Absicht – aber manchmal kann die Handlung eine sehr paternalistische sein. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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3.8 Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst Der Einsatz von Sicherheitsdiensten ist in Berlin und weiteren Bundesländern vertraglich vorgegeben, somit ist eine Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden der Sicherheitsdienste obligatorisch. In der Praxis sind die Voraussetzungen zur Mitarbeit in einem Sicherheitsunternehmen ein erweitertes Führungszeugnis ohne Einträge und der Nachweis über die Sachkundeprüfung nach § 34a Gewerbeordnung, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen, die Verantwortung für die Sicherheit (Bewachung) fremden Lebens und Eigentums tragen, zuverlässig (im behördlichen Sinn) sind und sich für diese Tätigkeiten auch eignen. Folgende Kernbereiche von Security-Tätigkeiten können autodidaktisch oder im Rahmen eines 40-stündigen Lehrgangs erworben und mit genannter Prüfung abgeschlossen werden: „Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einschließlich Gewerberecht und Datenschutzrecht; Bürgerliches Gesetzbuch; Straf- und Verfahrensrecht einschließlich Umgang mit Waffen; Unfallverhütungsvorschrift Wach- und Sicherheitsdienste; Umgang mit Menschen, insbesondere Verhalten in Gefahrensituationen und Deeskalationstechniken in Konfliktsituationen; Grundzüge der Sicherheitstechnik“ (IHK 2015: Pkt. 5).
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es in der Praxis – auch wenn es ein Sicherheitskonzept gibt – insbesondere in Konflikt- und Krisensituationen zu Überforderungen des Sicherheitspersonals kommen kann. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, zumindest in Form eines Rufbereitschaftsdienstes zusätzlich pädagogisches Personal einzusetzen und hierfür entsprechende Mittel bereitzustellen. Positiv anzumerken ist, dass in Berlin ein Teil des Personals der Sicherheitsdienste über eigene Migrationserfahrungen verfügt und somit 311
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vielfach eine sprachliche und diskriminierungsbewusste Kommunikation mit den Bewohner_innen möglich ist.
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3.9 Vernetzung Im Rahmen der Vernetzung empfiehlt es sich, vor der Eröffnung der Einrichtung einen „Tag der offenen Tür“ oder eine Anwohner_innenversammlung durchzuführen. Hier können bereits erste Kontakte geknüpft, Adressen ausgetauscht und Ansprechpersonen gefunden werden. Obligatorisch ist die Vernetzung mit bezirklichen Akteur_innen und Gremien, die in den Bereichen Gesundheit, Schule, Bildung, Ausbildung tätig sind. Ebenso empfiehlt sich die Kontaktaufnahme zu Fachberatungsstellen, Anwält_innen, Initiativen von und für Geflüchtete, Sportvereinen, Jugendfreizeiteinrichtungen, Familienzentren, Kirchengemeinden und zur zuständigen Polizeidienststelle. Zum Austausch mit Anwohner_innen können Feste und/oder Freizeitaktivitäten angeboten oder gemeinsam gestaltet werden. Zur Weiterentwicklung der fachlichen Arbeit ist ein regelmäßiger Austausch und die Vernetzung in den entsprechenden Fachgremien angeraten. Stellenanteile für Vernetzung haben die wenigsten Sozialarbeitenden; in akuten Phasen ist es daher kaum möglich, an Gremien teilzunehmen. Wir versuchen aber, zumindest partiell in Gremien und AGs mitzuarbeiten, um Probleme gemeinsam zu lösen. Ansonsten hätten wir kaum Möglichkeiten, Probleme strukturell zu bearbeiten, was nicht zuletzt auch für die Psychohygiene der Sozialarbeitenden sehr wichtig sein kann.
4. Hindernisse und Ressourcen Vielfach werden durch die politischen, gesellschaftlichen und faktischen Rahmenbedingungen der Aufnahme, Beratung, Begleitung und Unterbringung von Geflüchteten, eine menschenrechtsbasierte Lebensweise und die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse verhindert oder stark beeinträchtigt. Im Folgenden können aufgrund der Komplexität der Thematik nur einzelne Punkte exemplarisch skizziert werden. Der Auftrag Sozialer Arbeit sollte sein, „gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen zu fördern sowie die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen unter Wahrung der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und der Menschrechte zu stärken sowie Menschen dabei zu unterstützen und zu ermutigen, die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen und das Wohlergehen zu verbessern“ (vgl. IASSW/IFSW 2014). Dies wird in der Praxis, wie eingangs dargestellt, sowohl durch die zur Verfügung stehenden Rahmenbedingungen häufig stark erschwert als auch aufgrund gesetzlicher Grundlagen (z. B. Asyl312
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Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit
bewerberleistungsgesetz, Asylpaket II und III) in Teilbereichen ausgeschlossen. Dies hat zur Folge, dass alle in der Sozialarbeit Tätigen sich u. a. in einem stetigen Spannungsfeld befinden, dem an sie gestellten Handlungsauftrag faktisch nicht oder nur partiell gerecht werden zu können. Trotzdem bietet aus meiner Sicht die Bezugnahme auf den menschrechtlichen Referenzrahmen in der Sozialen Arbeit die Möglichkeit, zunächst in der Einrichtung Standards zu schaffen, die sich explizit an den gesetzlich verankerten Menschenrechtsdokumenten orientieren (z. B. Kinderschutz, Umsetzung der Kinderrechte, Schutz von Frauen und weiterer vulnerabler Gruppen vor Gewalt und Diskriminierung). Selbstverständlich werden einzelne Mitarbeitende nicht strukturell gegen gesetzlich verankerte Marginalisierungen wie beispielsweise das Asylbewerberleistungsgesetz vorgehen können. Dennoch bietet sich die Möglichkeit, durch Vernetzung und politische Lobbyarbeit im Rahmen der Dach- und Fachverbände, zivilgesellschaftlichen Gruppen, Migrant_innenorganisationen, eigenständigen Organisationen von Geflüchteten etc. „Missstände“ öffentlich zu machen und gemeinsame Forderungen an die Politik zu stellen. In diesem Kontext empfiehlt es sich auch, Teilziele zu formulieren, mit „Rückschlägen“ zu rechnen, übergeordnete Ziele nicht aus den „Augen zu verlieren“ und solidarische Netzwerkstrukturen zu etablieren. Weitere strukturelle Rahmenbedingungen und rechtliche Grundlagen, z. B. die Erteilung von Wohnsitzauflagen, zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs für Geflüchtete mit subsidiärem Schutzstatus, Ausgrenzung von Geflüchteten mit Behinderungen oder Erkrankungen aufgrund des Asylbewerberleistungsgesetzes, verspätete Terminzustellungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, führen in der täglichen Praxis zu massiven Einschränkungen, die ebenfalls nur durch gezielte Netzwerk- und Lobbyarbeit systematisch bearbeitet werden können. Darüber hinaus gilt es, im Rahmen von stadtteilbezogener Vernetzung (vgl. Herringer 2005) und Bündnisarbeit Vorbehalten, Diskriminierung und Rassismus seitens der Anwohner_innen und/oder im Rahmen von Agitationen durch politische Parteien aktiv zu begegnen. Innerhalb der Einrichtung selbst sollten Qualitätsstandards (weiter-)entwickelt werden, die sowohl die inhaltliche, fachliche Arbeit als auch die organisatorischen und räumlichen Rahmenbedingungen anbetreffen. Des Weiteren sollten Schutz- und Handlungskonzepte (vgl. z. B. Der Paritätische Gesamtverband 2016; DWBO/Diakonie Berlin Brandenburg schlesische Oberlausitz 2016 und BMFSFJ 2016) für unterschiedliche Zielgruppen erarbeitet und implementiert sowie Konzepte zur Teilhabe und Partizipation der Geflüchteten zusammengestellt werden.
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5. Resümee Der Referenzrahmen der Sozialen Arbeit als Menschrechtsprofession bietet neben zahlreichen Herausforderungen die Möglichkeit, den Lebenssituationen und -bedingungen von Geflüchteten sowohl ethisch als auch auf der Handlungsebene mit einem menschenrechtsbasierten Grundverständnis zu begegnen. Im Rahmen der Unterbringung von Geflüchteten haben die Mitarbeitenden sowie die Leitung und der Träger der Einrichtung maßgeblich darauf zu achten, dass die Rahmenbedingungen und räumlichen Standards den Vorgaben entsprechen sowie Sicherheits- (z. B. abschließbare Räume) und Brandschutzbestimmungen eingehalten werden. Darüber hinaus ist die Privatsphäre der Bewohner_innen zu achten und zu respektieren. Neben dem Einrichtungskonzept sollten spezifische Kinderschutz- und Gewaltpräventionskonzepte (weiter-)entwickelt werden, die neben Notfallund Ablaufplänen, einrichtungsbezogenen Risikoanalysen und transparenten Beschwerdemanagementverfahren Selbstverpflichtungserklärungen für die Mitarbeitenden, externe Dienstleister_innen und ehrenamtliche Unterstützer_innen enthalten. In diesem Kontext ist es aus meiner Sicht im Sinne einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit notwendig, auch in Zusammenarbeit mit Bewohner_innen Standards zu entwickeln, die ihre Beteiligung und ein gelingendes Zusammenleben fokussieren. In Bezug auf die Beratung der Bewohner_innen ist eine Vernetzung mit entsprechenden Fachberatungsstellen und Vertreter_innen fachspezifischer Berufsgruppen obligatorisch, ebenso eine sozialräumliche Vernetzung im Stadtteil. Darüber hinaus sollten in Kooperation mit Wohlfahrtsverbänden, Migrant_innen-, Menschenrechts-, flüchtlingspolitischen Organisationen und eigenständigen Organisationen der Geflüchteten solidarische Bündnisse zur Weiterentwicklung und Umsetzung menschrechtlicher Standards für die Aufnahme, Unterbringung und den Zugang zu den Kernbereichen der Gesellschaft für und mit Geflüchteten initiiert werden. Als übergeordnete Aufgabe besteht aus meiner Sicht die Notwendigkeit, eine strukturierte Entwicklung und Implementierung von menschenrechtsbasierten Handlungsansätzen in den Einrichtungen der Flüchtlingshilfe voranzubringen und die gezielte Anwendung der Instrumente des UN-Menschrechtsschutzsystems und des internationalen Code of Ethics (vgl. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016: 5).
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Literatur BMFSFJ (2016): Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Flüchtlingsunterkünften. www.bmfsfj.de/blob/109450/5040664f4f627cac1f2be32f5e2ba3ab/schutzkonzept-fluechtlinge-data.pdf [Zugriff: 04.12.2016]. Cremer, Hendrik (2014): Menschrechtliche Verpflichtungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen – Policy Paper Nr. 26. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. DBSH/Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit (2016) Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit. https://www.dbsh.de/beruf/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html [Zugriff: 30.11.2016]. Der Paritätische Gesamtverband (27.07.2016): Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Flüchtlingsunterkünften. http://www.migration. paritaet.org/index.php?eID=tx_nawsecuredl&u=0&g=0&t=1483546381&hash=69b7d4325dd84e64df29e01cc85ad0efca4d3f07&file=/fileadmin/dokumente/ Migration/Mindeststandards.pdf [Zugriff: 04.12.2016]. Der Senat von Berlin (2015): Versorgungs- und Integrationskonzept für Asylbegehrende und Flüchtlinge. DWBO/Diakonie Berlin Brandenburg schlesische Oberlausitz (2016):Rahmenkonzept zum Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften, insbesondere für geflüchtete Frauen, Kinder und andere besonders schutzbedürftige Personen. https://www. diakonie-portal.de/arbeitsbereiche/existenzsicherung-integration/projekte/engagiert-und-praeventiv-fuer-gewaltschutz [Zugriff: 04.12.2016]. Friedrich, Tina (2016): Zeitplan für Berliner Turnhallen scheitert erneut. rbb/24 online. de (25.10.2016) Flüchtlinge in Berlin. http://www.rbb-online.de/politik/thema/ fluechtlinge/berlin/2016/10/turnhallen-zeitplan-verzoegert-sommer-2017.html [Zugriff: 30.11.2016]. Herringer, Norbert (2005): Sozialräumliche Arbeit und Empowerment. Plädoyer für eine Ressourcenperspektive. http://www.empowerment.de/empowerment.de/files/Materialie-4-Sozialraeumliche-Arbeit-und-Empowerment.pdf [Zugriff: 04.12.2016]. Herringer, Norbert (2014): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Düsseldorf: Kohlhammer. IASSW/IFSW (2014): Global Definiton of Social Work. http://ifsw.org/get-involved/ global-definition-of-social-work/ [Zugriff: 30.11.2016], deutsche Übersetzung siehe: DBSH/Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit (2016). IHK Berlin/Industrie und Handelskammer 2015: Sachkundeprüfung für das Bewachungsgewerbe. Dok-Nr. 16245, 01.02.2015. https://www.ihk-berlin.de/blob/bihk24/ pruefungen_lehrgaenge/pruefungen/Sach-_und_Fachkundepruefung/Download/2265176/9cdcd2db19c1fc7900ecf3746f5b15c9/Merkblatt_Sachkundepruefung_Bewachungsgewerbe-data.pdf [Zugriff: 12.12.2016]. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften (2016): Positionspapier: Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften. Professionelle Standards und sozialpolitische Basis. www.fluechtlingssozialarbeit. de [Zugriff: 20.03.2017]. 315
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Christiane Wahl
Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (2016) FAQ zu Tempohomes. https://www. berlin.de/laf/unterkuenfte/tempohomes/ [Zugriff: 04.12.2016]. Leinenbach, Michael (2017): Kann Soziale Arbeit im Rahmen von Abschiebungen stattfinden? Positionspapier des DBSH. https://www.dbsh.de/fileadmin/downloads/ Kann_Soziale_Arbeit_im_Rahmen_von_Abschiebungen_stattfinden_3_2017.pdf [Zugriff: 20.03.2017]. Leideritz, Manuela/Vlecken, Silke (Hrsg.) (2016): Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit – Schwerpunkt Menschenrechte. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich. Memarnia, Susanne (2016): „Warten in der Wabe“ In: taz – die tageszeitung: Schwerpunkt, Berlin, 22./23.10.2016, S. 44–45. Senatsverwaltung, Berlin Bereich Soziales (30.01.2015) Rundschreiben Soz. 02/2015 über Leistungen nach § 6 Abs. 1 AsylbLG im Lichte der EU-Richtlinie 2013/33/EU des Rates (Mindestnormen für die Aufnahme). https://www.berlin.de/sen/soziales/ berliner-sozialrecht/land/rdschr/2015_02.html [Zugriff: 30.11.2016]. Staub-Bernasconi, Silvia (1995): Das fachliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit – Wege aus der Bescheidenheit. Soziale Arbeit als „Human Rights Profession“ In: Wendt, Wolf Rainer (Hrsg.): Soziale Arbeit im Wandel ihres Selbstverständnisses. Beruf und Identität. Freiburg: Lambertus, S. 57–104.
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Henrike Janssen & Katharina Ohletz
Empfehlungen an ein Konzept für eine externe Beschwerdestelle
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Die Umsetzung des Menschenrechts auf wirksame Beschwerde für Geflüchtete (in Gemeinschaftsunterkünften)
Das Menschenrecht auf wirksame Beschwerde – wie in Art. 13 Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 2 Abs. 3. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Art. 17 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgehalten – sieht vor, dass sich jeder Mensch bei einer entsprechenden Stelle über Menschenrechtsverletzungen beschweren kann. Für Geflüchtete ergibt sich insbesondere vor dem Hintergrund restriktiver Strukturen der Asylpolitik und menschenunwürdiger Lebensbedingungen in den Unterkünften eine besondere Notwendigkeit, sich bei einer unabhängigen Stelle über Missstände beschweren und geltende Rechte einfordern zu können (vgl. Wendel 2014: 51; Mosbahi/Westermann 2016: 5). Daher braucht es eine unabhängige Beschwerdestelle, die für Geflüchtete, insbesondere für Frauen*, Kinder, LSBTI*Q und weitere vulnerable Gruppen zugänglich ist. Vielerorts wird die Implementierung solcher Stellen bereits gefordert (vgl. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016: 7; Wendel 2014: 52; Netzwerk Refugees Welcome in Treptow-Köpenick 2013: 1ff.).
1. Beschwerdestellen im Kontext menschenrechtsbasierter Sozialer Arbeit In einem Verständnis Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession sind Menschenrechte neben einer wissenschaftlichen Fundierung und ethischen Grundlage Teil des Dritten Mandats, das „gegenüber der Profession als solche[r]“ (Staub-Bernasconi 2007: 36) besteht. Das Mandat der Profession Soziale Arbeit bietet eine unabhängige Reflexionsgrundlage, um Situationen und professionelles Handeln unabhängig von verschiedenen angetragenen Interessenlagen mit Blick auf Menschenrechte, menschliche Bedürfnisse und Machtstrukturen zu reflektieren (vgl. Leideritz 2016: 49f.). Insofern stellt Arnegger heraus, dass Ombudsstellen ein klassischer Teil menschenrechtsbasierter Sozialer Arbeit
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sind und ordnet sie in Staub-Bernasconis Verständnis einer Menschenrechtsprofession ein (vgl. Arnegger 2016: 146). Zur Überprüfung der Umsetzung eines Menschenrechts können auch auf das Menschenrecht auf wirksame Beschwerde die vom UN-Ausschuss für die Umsetzung des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte entwickelten „Kernelemente“ übertragen werden. Der Ausschuss geht davon aus, dass ein Menschenrecht erst dann als umgesetzt gelten kann, wenn die für die Umsetzung notwendigen Mittel zumindest verfügbar (availability), zugänglich (accessibility), annehmbar (acceptability) und adaptierbar (adaptability) sind (vgl. CESCR 1999). In der konkreten Umsetzung für eine Beschwerdestelle würde dies bedeuten, dass eine solche überhaupt erst zur Verfügung steht und über ausreichende Kapazitäten verfügt, um alle Beschwerden der Adressat_innengruppe aufzunehmen und zu bearbeiten. Um für möglichst alle Betroffenen zugänglich zu sein, muss ein niedrigschwelliger Zugang gewährleistet sein. Dies beinhaltet sowohl einen wirtschaftlichen als auch einen physischen, sprachlichen und diskriminierungsfreien Zugang. Nachfolgend soll sich der Frage angenähert werden, wie eine einrichtungsexterne Beschwerdestelle für Geflüchtete1 aussehen kann, und ausgeleuchtet werden, welche Faktoren zur Umsetzung des Menschenrechts auf wirksame Beschwerde im Kontext von Unterkünften für Geflüchtete zu beachten sind. Dazu wurden vier Beschwerde- und Ombudsstellen2 für unterschiedliche Zielgruppen ausgewertet: Die Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin (vgl. Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin o.J.: o. S.), der Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e. V. (vgl. Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e. V. o. J.: o. S.), der Beauftragte für die Landespolizei in Rheinland-Pfalz (vgl. Der Bürgerbeauftragte in Rheinland-Pfalz und der Beauftragte für die Landespolizei o. J.: o. S.) und die Beschwerdestelle für Opfer von Diskriminierung in Bielefeld (vgl. Stadt Bielefeld – Kommunales Integrationszentrum o. J.: o. S.)3. Die Analyse der Erfahrungen dieser vier Beschwerdestellen wurde auf die Gruppe der Geflüchteten übertragen und Kernelemente eines idealtypischen Beschwerdeverfahrens für Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften entwickelt. Da eine Beschwerdestelle auf die lokalen und personellen Anforderungen antworten muss, ist je vor Ort zu betrachten, wie die Stelle organisiert sein sollte. 1 Auf einrichtungsinterne Beschwerdeverfahren kann an dieser Stelle kein Bezug genommen werden. Jedoch muss bei einrichtungsinternen Beschwerdeverfahren im Besonderen geprüft werden, ob die nötige Unabhängigkeit gegeben ist (vgl. Mund 2014: 60). 2 Zur ausführlichen Auswertung siehe Janssen/Ohletz 2016. 3 Die Auswahl der Beschwerdestellen soll nicht eine Gleichsetzung ihrer Zielgruppen mit Geflüchteten bedeuten. Sie sollen Aufschlüsse darüber geben, wie die Beschwerdestellen aufgebaut sind und wie und mit welchen Mechanismen sie arbeiten.
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Die Umsetzung des Menschenrechts auf wirksame Beschwerde für Geflüchtete
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2. Das Beschwerdeverfahren Das Beschwerdeverfahren umschreibt den gesamten Prozess von der Beschwerdestimulierung bis zur abschließenden Dokumentation. Dabei kommen auch ombudschaftliche Aspekte zum Tragen: Während eine Beschwerdestelle vorrangig auf die Bearbeitung einer Beschwerde abzielt, wollen Ombudsstellen für den_die Beschwerdeführer_in fachlich parteilich einen Ausgleich struktureller Machtasymmetrien und eine für alle Konfliktparteien zufriedenstellende Einigung erzielen. In vielfältiger Weise stehen Klient_innen meist in einem Machtgefälle zu der Stelle, mit der ein Konflikt vorliegt (vgl. Arnegger 2016: 154ff.). Beispielsweise können aufgrund der im Vergleich zu den Fachpersonen geringeren Verfügbarkeit „an erforderlichen Voraussetzungen wie rechtliches und fachliches Wissen, aber auch emotionale[n] und finanzielle[n] Ressourcen“ (Urban-Stahl 2014: 12) Machtgefälle bestehen. Die Begriffe Beschwerdestelle und Ombudsstelle werden oft synonym verwendet – so auch in diesem Beitrag. Das Ziel einer solchen Beschwerdestelle müsste zum einen darin bestehen, die Rechte von Geflüchteten zu bewahren, zu schützen und zu stärken, und zum anderen, Missstände, Standardbrüche und Rechtsverletzungen sichtbar zu machen und diesen entgegenzuwirken. Konkrete, unbürokratische und individuelle Hilfe sollte gewährleistet werden.
2.1 Beschwerdestimulierung Der Fokus der Beschwerdestimulierung liegt darin, die Zielgruppe der Beschwerdestelle über das Vorhandensein dieser zu informieren, aufzuklären, wie Beschwerden eingereicht werden können, und dazu zu motivieren. Das Informieren kann über mehrere Kanäle erfolgen, wie beispielsweise in Form von Plakaten, Flyern, Give-aways4 und sozialen Medien. Für die Beschwerdestimulierung in der Zielgruppe der Geflüchteten ist zudem von Bedeutung, dass Informationen in allen relevanten Sprachen vorhanden sind, die jeweilige Sprache leicht verständlich ist und gegebenenfalls eine bildgestützte Sprache verwendet wird. Die Implementierung eines Beschwerdeverfahrens allein reicht nicht aus, vielmehr müssen die Bewohner_innen der Unterkünfte über ihre Rechte Kenntnis erlangen, Zugang zu Informationen haben und Strategien in der Durchsetzung ihrer Rechte erproben können (vgl. Wendel 2014: 51f.). Daher ist zu empfehlen, dass die Beschwerde- und Ombudsstelle Informationsveranstaltungen für Geflüchtete zu ihren Rechten insbesondere in Unterkünften 4 Give-aways sind Gegenstände (wie z. B. Kugelschreiber, Kondome oder Brötchentüten), die kostenlos verteilt werden und entweder selbst oder auf ihren Verpackungen Informationen tragen.
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und zu (Mindest-)Standards der Unterkünfte anbieten. Für Frauen*, Kinder sowie weitere vulnerable Gruppen sollten spezifische Informationsveranstaltungen angeboten werden, um so auf mögliche Ängste, Befürchtungen, aber auch weitere Rechte eingehen und die Teilnehmenden zur Einreichung von Beschwerden ermutigen zu können. Mosbahi und Westermann (2016) weisen darauf hin, dass vor allem für Frauen* erst durch die Vermittlung von Informationen zu ihren Rechten ein Zugang zur Beschwerdestelle geschaffen werden kann (vgl. Mosbahi/Westermann 2016: 10f.). Die Autorinnen gehen davon aus, dass Informationsveranstaltungen für Frauen* von Frauen* neben der Informationsvermittlung auch zur Vernetzung und Stärkung von Frauen* beitragen können (vgl. ebd.). Ähnliches dürfte auch für andere Gruppen gelten, die strukturell ressourcenarm sind. Neben den offiziellen Informationsveranstaltungen kann der Kontakt auch durch informelle Gespräche und die Präsenz in den Unterkünften hergestellt werden. Die Beschwerde- und Ombudsstelle sollte auch in Einrichtungen (wie z. B. Beratungsstellen, Geflüchtetenselbstorganisationen, medizinische Versorgungsstellen), die die Bewohner_innen aufsuchen, auf ihre Tätigkeit aufmerksam machen und dort Mitarbeitende dazu ermutigen, Geflüchtete bei Bedarf an die Beschwerde- und Ombudsstelle weiterzuvermitteln oder selbst eine Beschwerde einzureichen. Die Arbeit der Beschwerde- und Ombudsstelle kann erleichtert werden, wenn Fotos von allen Mitarbeitenden mit Namen in der Unterkunft öffentlich aushängen (vgl. ebd.: 13). Dies ermöglicht nicht nur den Beschwerdeführer_innen bei Bedarf den Namen einer Person, über die sie sich beschweren möchte, angeben zu können (vgl. ebd.), es ermöglicht auch eine leichtere Orientierung zu Beginn. Eine beschwerdefreundliche Kultur kann dadurch gefördert werden, dass Beschwerden nicht als Angriff auf die eigene Person gewertet, sondern als Teil einer partizipativen, selbstermächtigenden Struktur und als ein Aspekt von Qualitätssicherung verstanden werden. Um diese Befürchtung abzubauen, sollten alle in der Unterkunft Arbeitenden, Sozialarbeiter_innen, Leitung, Sicherheitspersonal, Reinigungskräfte und Ehrenamtliche, über das Beschwerdeverfahren aufgeklärt werden. Sie sollten Beschwerden an die Beschwerdestelle weiterleiten. Grundsätzlich sollten alle Beschwerden ohne eine Bewertung oder Aussortieren weitergeleitet werden. Erst die Beschwerde- und Ombudsstelle prüft sie auf ihre Zuständigkeit.
2.2 Beschwerdeannahme Die Kriterien zur Umsetzung des Menschenrechts betonen den niedrigschwelligen Zugang, hier zur Beschwerdestelle. Aus diesem Grund sollte die Beschwerdeeinreichung zu jeder Zeit gewährleistet, anonym möglich, kostenlos 320
und barrierefrei sein sowie in relevanten Sprachen erfolgen können. Es ist empfehlenswert, dass Beschwerden auf verschiedenen Wegen eingereicht werden können, damit die Kontaktaufnahme möglichst nach den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten gewählt werden kann. Konkret könnte die Einreichung einer Beschwerde telefonisch (mit Anrufbeantworter), per E-Mail, in einem persönlichen Gespräch, per WhatsApp, über ein Online-Formular und/oder durch Briefkästen der Beschwerdestelle im Bezirk erfolgen. Die beschwerdeführende Person muss selbst entscheiden können, ob eine Beschwerde anonym behandelt wird oder nicht. Wenn keine Angaben dazu erfolgen, sollte die Beschwerde zunächst automatisch anonym behandelt werden. Beschwerden sollten zudem zeitlich unbefristet eingereicht werden können.
2.3 Beschwerdeberechtigung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Die Umsetzung des Menschenrechts auf wirksame Beschwerde für Geflüchtete
Die Beschwerdestelle sollte, auch ohne dass eine Beschwerde an sie herangetragen worden ist, eigenmächtig tätig werden können, z. B. wenn sie einen Missstand beobachtet oder von einem solchen auf anderem Weg erfährt. Beschwerdeberechtigt wären somit neben den direkt Betroffenen alle, die etwas Relevantes beobachten – beispielsweise Ehrenamtliche, Freund_innen und Besucher_innen einer Unterkunft. Wenn es zu einem Beschwerdethema mehrere Beschwerden gibt, müsste geprüft werden, ob dieses schon von einer zuständigen Behörde/Person bearbeitet wird. Gegebenenfalls kann durch die Häufung von Beschwerden Druck ausgeübt werden, um eine Veränderung zu erzielen. Die beschwerdeführende Person sollte – sofern bekannt – in jedem Fall hierüber informiert werden.
2.4 Zuständigkeit der Beschwerdestelle Um eine möglichst hohe und themenvielfältige Beschwerdestimulierung zu erreichen, ist es sinnvoll, zunächst alle Beschwerden anzunehmen und erst dann den Inhalt der Beschwerde auf die Zuständigkeit der Beschwerdestelle zu prüfen. Zuständig sollte die Beschwerdestelle für alle Beschwerden sein, welche die Unterbringung betreffen. Dazu gehören technische Mängel und alle Faktoren, die einer menschenwürdigen Unterbringung entgegenstehen sowie Beschwerden zu Gewaltvorkommnissen/Diskriminierungen verbaler, nonverbaler, physischer, psychischer, ökonomischer und/oder sexualisierter Art, unabhängig davon, von wem die Gewalt ausgeübt wurde. Neben den oben genannten Beschwerdethemen sollte die Beschwerdestelle auch zuständig sein, wenn das Recht auf Privatsphäre oder das Recht auf Zugang zu Informationen verletzt wurde. Sollten bedürfnisgerechte Standards wie z. B. Barrierefreiheit, medizi-
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nische Versorgung, Lebensmittelversorgung und weitere Leistungen nicht erbracht werden, kann sich von den Betroffenen auch darüber beschwert werden. Aufgrund des Mandats ist es wichtig, sehr genau zu definieren, welche Beschwerden nicht im Rahmen der Beschwerdestelle bearbeitet werden. So scheint es sinnvoll, alle Beschwerden zum Asylverfahren auszuschließen, weil diese effektiver im Rahmen der Einzelfallprüfung durch einen Rechtsbeistand eingebracht werden können. Die beschwerdeführende Person sollte darüber informiert und an eine geeignete Stelle weitergeleitet werden. Auch Beschwerden, die diskriminierende Inhalte verbreiten und/oder offensichtlich jemanden verleumden wollen, sollten nicht Gegenstand der Auswertung der Beschwerdestelle sein. Im Zweifelsfall kann die Beschwerde mit Bitte um eine sachliche Darlegung zurückgegeben werden. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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2.5 Beschwerdebearbeitung Sowohl für die Zuständigkeit als auch für die anschließende Bearbeitung der Beschwerden sollte der Grundsatz gelten, dass alle Schritte der beschwerdeführenden Person gegenüber transparent gemacht werden. Abhängig vom Beschwerdefall stehen unterschiedliche Wege der Beschwerdebearbeitung offen. Die Bearbeitung der Beschwerde sollte möglichst partizipativ mit der_dem Beschwerdeführer_in erfolgen. Nach der Klärung der Zuständigkeit sollte daher das erwünschte Ziel erfragt, dieses auf eine realistische Handlungsoption überprüft und die nächsten Handlungsschritte daraufhin gemeinsam festgelegt werden. Die beschwerdeführenden Personen sollten über ihre Rechte informiert und darüber hinaus über Handlungsmöglichkeiten und weitere Schritte beraten werden. Die Beschwerdestelle sollte zudem über das Mandat verfügen, mit den Betroffenen klärende Gespräche vor- und nachzubereiten. Sollte anwaltschaftliche Hilfe benötigt werden, so kann die Beschwerdestelle an entsprechende Organisationen weitervermitteln. Eine weitere Handlungsmöglichkeit ist die Durchführung von Mediationsgesprächen zwischen den Konfliktpartner_innen. Dies sollte aber nur mit dem Einverständnis der beschwerdeführenden Person erfolgen. Auch kann eine Stellungnahme der kontrollierten Stellen zum Beschwerdegrund eingeholt werden, um so die Möglichkeit zu geben, auf den Beschwerdeinhalt einzugehen. Gegebenenfalls wird lediglich die Dokumentation des Beschwerdefalls gewünscht. Zur Beratung und Bearbeitung von Beschwerden sollte der Beschwerdeund Ombudsstelle ein Team aus Sprachmittler_innen für relevante Sprachen zur Verfügung stehen. Das schnelle und kurzfristig mögliche Hinzuziehen von Sprachmittler_innen dient dazu, den Bearbeitungsprozess nicht zu verzögern. Die Sprachmittlung kann per persönlicher Anwesenheit der Sprachmittler_in, 322
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per Videokonferenz oder per Telefon geschehen. Für ihre Tätigkeit sollten Dolmetscher_innenregeln gelten; eine gute Vorlage bieten beispielsweise die Regeln des Behandlungszentrums für Folteropfer (vgl. Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin o. J.: 1). Beschwerden sollten zunächst vor Ort bearbeitet werden. Können Beschwerden dort nicht gelöst werden, sollte die Beschwerde- und Ombudsstelle Vermittlungsgespräche mit den dafür verantwortlichen Behörden führen dürfen. Wenn auch hier keine zufriedenstellende Lösung herbeigeführt werden kann, sollte die Beschwerdestelle das Mandat haben, auch auf politischer und struktureller Ebene wirksam werden zu können. Der angestrebte Machtausgleich zwischen den Interessen der Geflüchteten und strukturell machtvolleren Parteien ist besonders auf der Ebene von strukturell-politischen Entscheidungen nicht zu vernachlässigen. Den Abschluss der Beschwerdebearbeitung sollte die beschwerdeführende Person bestimmen können. Weiterhin sollte sie eine Rückmeldung darüber geben, ob sie mit dem Beschwerdeprozess zufrieden ist oder ob sie noch weiteren Handlungsbedarf sieht. In der Fallberatung können Fragen und Situationen auftreten, in denen das Wissen der Ombudspersonen möglicherweise nicht ausreicht. Deswegen ist es sinnvoll, den Ombudspersonen ein Netzwerk von Fachpersonen bereitzustellen, die sie für fachliche Fragen direkt und niedrigschwellig kontaktieren können und die in den Bereichen Jura, -vor allem Verfahrensrecht und Asylrecht-, Soziale Arbeit, Psychologie, Medizin, Pädagogik, Disability Studies, Antidiskriminierungsarbeit, Gender- und Queerstudies kompetent sind. Im Sinne des für eine gelingende Soziale Arbeit relevanten Beziehungsaspektes sollte die Zuständigkeit für die Beschwerde und den Beratungsbedarf einer ratsuchenden Person für den gesamten Beratungs- und Bearbeitungsprozess einer Ombudsperson obliegen. Jedoch sollte ein Wechsel zu einer anderen Ombudsperson schnell und unproblematisch möglich sein, wenn die beschwerdeführende Person dies aus nachvollziehbaren Gründen wünscht. Die Ombudspersonen sollten einer schriftlich fixierten Verschwiegenheitspflicht unterliegen und datenschutzrechtliche Standards gewährleisten.
2.6 Dokumentation Ziel der internen Dokumentation sollte einerseits sein, den Bearbeitungsprozess festzuhalten, um eine gute Betreuung zu garantieren, und andererseits, durch die festgehaltenen Erfahrungen den Bearbeitungsprozess zu verbessern. Außerdem kann durch mehrfach dokumentierte Beschwerdethemen auch auf strukturelle Mängel hingewiesen werden. Für den gesamten Bearbeitungsprozess sollte ein Verlaufsprotokoll erstellt werden, welches den Beschwerdegrund bzw. 323
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-inhalt, das Eingangsdatum, alle in den Konflikt involvierten Personen, den Fallverlauf, stattgefundene Interventionen, die Ziele sowie den aktuellen Stand der Beschwerdebearbeitung festhält. Auch kann es sinnvoll sein, eine stark anonymisierte Auflistung der bearbeiteten Fälle öffentlich zugänglich zu machen, ebenfalls um beispielhaft strukturelle Lücken aufzuzeigen.
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2.7 Öffentlichkeitsarbeit Sowohl in Hinblick auf die Einzelfallgerechtigkeit als auch auf künftige Beschwerden von gleichermaßen betroffenen Menschen ergibt sich für Ombudschaften der Auftrag, behindernde strukturelle und politische Machtstrukturen aufzudecken, auf sie hinzuweisen und sie zu bearbeiten (vgl. Arnegger 2016: 178). Die Öffentlichkeitsarbeit sollte dazu genutzt werden, auf Missstände und strukturelle Mängel aufmerksam zu machen und durch das Ausüben von öffentlichem Druck auf die verantwortlichen Stellen und Personen Veränderung zu bewirken. Dies kann beispielsweise in Form von (Fach-)Artikeln, (Fach-)Vorträgen, Tätigkeitsberichten, Berichten in Medien, auf der Website, im Gespräch mit politischen Akteur_innen geschehen. Zudem sollten die Ombudsleute auf Informationsveranstaltungen und fachöffentlichen Tagungen auf ihre Themen und Forderungen, strukturelle Mängel und Einzelfälle aufmerksam machen und als Lobby der Betroffenen wirken.
3. Organisatorische Ausgestaltung der Beschwerdestelle Um eine effektive Beschwerde- und Ombudsstelle zu gestalten, sollte diese mit mehr als einer Person für die ombudschaftliche Tätigkeit besetzt sein. Dies dient der Perspektivenvielfalt innerhalb der Beschwerdestelle auf einen Fall sowie der Entscheidungsfreiheit für die Beschwerdeführer_innen, an welche Ombudsperson sie sich wenden möchten. Mindestens eine der Ombudspersonen sollte eine Frau* sein, damit Frauen* und Mädchen* der Zugang vor allem hinsichtlich Beschwerden zu geschlechterspezifischer Gewalt erleichtert wird. Auch jenseits von Gender kann es sinnvoll sein, darauf zu achten, dass das Team möglichst divers (z. B. bezüglich Herkunft/Behinderung/Schicht/Sprache/Alter etc.) zusammengesetzt ist. Die Ombudspersonen sollten sich als Teil professioneller Tätigkeit in regelmäßig stattfindender Supervision über ihre Tätigkeit austauschen und reflektieren können; auch kann eine Vernetzung mit Kolleg_innen anderer Beschwerdestellen bereichernd und wirkungsvoll sein.
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3.1. Unabhängigkeit der Beschwerdestelle Zentral für ihre Handlungsfähigkeit sowie die Akzeptanz seitens der Beschwerdeführer_innen ist die Unabhängigkeit einer Beschwerdestelle. Da sich auch Ombudspersonen in internen wie externen Macht- und Interessenlagen befinden und bewegen, reicht eine organisatorische Unabhängigkeit von den Unterbringungsstrukturen alleine nicht aus. Vielmehr müssen auch die Machtverhältnisse innerhalb der Ombudsstelle in die Betrachtung einbezogen werden (vgl. ebd.: 148). Unabhängigkeit beschreibt Arnegger als „die Abhängigkeit – im Sinne von entscheidendem Einfluss – von grundlegenden menschlichen Werten“ (ebd.: 179). Um ein größtmögliches Maß an Unabhängigkeit von externen wie internen Machteinflüssen zu gewähren, schlägt er vor, die Beschwerde- und Ombudsstelle ausschließlich auf Werten zu basieren, die sich beispielsweise auf die Menschenrechte und/oder den Ethikkodex der Sozialen Arbeit berufen (vgl. ebd.). Alle Strukturen und Mechanismen der Einbettung der Stelle sollten darauf ausgelegt sein, Interessen- und Machteinflüsse – von außen herangetragene wie interne – zu verhindern, um das Handeln im Interesse der Geflüchteten gestalten zu können. So sollte eine Konzeption schriftlich Ziele, Arbeitsweisen und zu verwirklichendes Handeln der Beschwerde- und Ombudsstelle festhalten, sodass anhand ihrer „eine kritische Betrachtung der konzeptionellen Ausrichtung sowie der tatsächlichen Praxis“ (ebd.: 192) geschehen kann. An diese Konzeption sollen die Mitarbeitenden schriftlich und vertraglich gebunden werden (vgl. ebd.). Auf der Ebene der „institutionell-hierarchische[n] Unabhängigkeit“ (Töpfer 2014: 11) sollte die Beschwerde- und Ombudsstelle für Bewohner_innen von Unterkünften für Geflüchtete von sämtlichen asylpolitischen Akteur_innen – von den Unterkünften, Betreiber_innen und ihrem Sicherheitspersonal, den Behörden und Ämtern, sowie den Landes-, Stadt- und Bezirksregierungen – extern und unabhängig sein. Hier kann das Dilemma auftreten, dass eine solche Beschwerdestelle eine dauerhafte finanzielle Absicherung benötigt, nicht zuletzt, um längerfristig planen und wirksam auftreten zu können. Mit der Finanzierung gehen aber auch Fragen von Interessen und Einflussnahme der Geldgeber_innen einher. Hinsichtlich der „praktischen Unabhängigkeit“ (ebd.: 10) sollten der Stelle ausreichend finanzielle Ressourcen sowie genügend hauptamtlich finanzierte Personalstellen bereitgestellt werden. Ausreichend Befugnisse ermöglichen die effektive und eigenständige Tätigkeit der Stelle, ohne dabei auf andere Institutionen angewiesen sein zu müssen. Sie ermöglichen eine unverzügliche und wirksame Bearbeitung der Beschwerden. Um vor Ort tätig werden zu können, ist zu empfehlen, dass die Ombudsleute auf Verlangen und unangekündigt zu allen Asylunterkünften Zugang haben. Es ist zudem ratsam, dass die Ombudsperson zur Bearbeitung von Beschwerden Gespräche mit politischen Vertretungen führen kann, im Besonderen mit den 325
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Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, den Integrationsbeauftragten, den Beauftragten für Menschen mit Behinderung und den Koordinator_innen für Flüchtlingsfragen. Weitere Gespräche sollten auch mit den Betreiber_innen der Unterkünfte, mit Security-Mitarbeiter_innen und mit für die Unterbringung zuständigen Mitarbeiter_innen der zuständigen Ämter und Behörden ermöglicht werden. Um den_die Beschwerdeführer_in, wenn gewünscht, bei Vermittlungsgesprächen vertreten zu können, benötigt der_die Vertreter_in im Rahmen des § 13 SGB X eine Bevollmächtigung von der beschwerdeführenden Person. Die Vollmacht ist schriftlich festzuhalten (vgl. § 13 Abs. 11 SGB X), da sie auf Verlangen vorgezeigt werden muss. Die Beschwerdestelle sollte darüber hinaus befugt sein, Empfehlungen zur Lösung struktureller Probleme an den oben erwähnten Personenkreis abzugeben. Um die nötige Unabhängigkeit zu gewährleisten, empfiehlt sich auf organisatorischer Ebene, dass die Beschwerde- und Ombudsstelle nicht mit den Unterkünften, ihren Betreiber_innen, asylpolitischen Behörden/Ämtern und der Regierung und Verwaltung von Städten, Ländern, Bezirken zusammenhängt. Sie sollte nicht Teil der institutionellen Hierarchie zwischen asylpolitischen Ämtern und Betreiber_innen/Unterkünften sein. Vielmehr ist es sinnvoll, die Beschwerde- und Ombudsstelle extern dieser Strukturen anzusiedeln. Sie könnte eine eigenständige Nichtregierungsorganisation sein oder an eine bestehende Einrichtung angegliedert werden. Hier ist aber wiederum die Unabhängigkeit von Interesseneinflüssen zu beachten.
3.2 Beirat Ein interdisziplinär zusammengesetzter (ehrenamtlicher) Beirat kann mehrere Funktionen übernehmen. Zum einen können diesem strittige Fälle vorgetragen werden, zum anderen kann er die Beschwerde- und Ombudsstelle auf ihre Einhaltung der selbstgesetzten Regeln und die Konformität mit den Menschenrechten überprüfen (vgl. Arnegger 2016: 192) sowie in ihrer fachlichen und konzeptionellen Ausrichtung unterstützen, beraten und unterschiedliche Perspektiven einbringen. Ein Beirat kann so fortlaufend prüfen, ob die nötige Unabhängigkeit der Beschwerde- und Ombudsstelle von möglichen Einflussnahmen auf ihre Tätigkeit gegeben ist (vgl. ebd.). Neben den Ombudspersonen, die die Perspektive der Berater_innen einbringen, sollte mindestens ein_e geflüchtete Person als Vertreter_in aus jeder Unterkunft des Bezirks, für die die Beschwerdestelle zuständig ist, Mitglied des Beirats sein, um die Perspektive der Geflüchteten in die Stelle zu tragen. Dies dient sowohl der Transparenz der Stelle als auch der Partizipation der Geflüchteten. Schon die Wahl dieser Person trägt sehr zu Sichtbarmachung der Beschwerdestelle bei. Dadurch, dass Vertreter_innen der Unterkünfte Bedürfnisse seitens der Geflüchteten und In326
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formationen zur Situation in Unterkünften direkt in die planerische Ebene der Stelle geben, kann diese adäquat auf die Bedürfnisse der Bewohner_innen eingehen. Zudem sollten in dem Kontext von Flucht und Migration tätige NGOs, Vertreter_innen akademischer Institutionen und Initiativen in den Beirat einbezogen werden.
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4. Mögliche Chancen und Grenzen der Beschwerdestelle Zusammenfassend zielt die Ombudsstelle darauf ab, verbesserte Lebens- und Wohnbedingungen in der Unterbringung der Geflüchteten zu erreichen. Dies ermöglicht neben der Umsetzung des Menschenrechts auf wirksame Beschwerde eine Überprüfung und Durchsetzung von Mindeststandards, die in den Unterkünften gelten sollten (vgl. Cremer 2014: 8f.). Jedoch ist durch die Einrichtung einer Beschwerdestelle der generellen Kritik an Gemeinschaftsunterkünften nicht Abhilfe getan. In Gemeinschaftsunterkünften „sind Menschen in der Ausübung ihrer Rechte und im Zugang zum gesellschaftlichen Leben in der Regel eingeschränkt“ (ebd.: 8). Eine solche Unterbringung „sollte grundsätzlich vermieden werden, da sie ein großes Konfliktpotential bietet“ (ebd.). Eine Beschwerde- und Ombudsstelle stößt daher, so lange sie als Bezugspunkt die Gemeinschaftsunterkünfte hat, an ihre Grenzen, eine menschenwürdige Unterbringung zu erreichen. Dieser Widerspruch kann für die Ombudsleute und für die Beschwerdeführer_innen unbefriedigend sein. Die Kritik an Gemeinschaftsunterkünften sollte durch die Einrichtung einer Beschwerde- und Ombudsstelle nicht geschwächt werden, sondern vielmehr durch die Sichtbarmachung von Mängeln und öffentlichen Druck eine dezentrale Unterbringung einfordern.
Literatur Arnegger, Manuel (2016): Ombuds- und Beschwerdestellen in der Kinder- und Jugendhilfe im Lichte des systemtheoretischen Paradigmas der Sozialen Arbeit. In: Leideritz, Manuela/Vlecken, Silke (Hrsg.) (2016): Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit – Schwerpunkt Menschenrechte – Ein Lese- und Lehrbuch. Opladen/ Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 146–197. Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin (o. J.): Regeln für den Einsatz von Dolmetschern. http://www.orphea.info/pdf/DolmetscherRegeln2013.pdf [Zugriff: 25.10.2016]. Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e. V. (o. J.): Home. http://www.brj-berlin.de/ [Zugriff: 11.02.2017]. 327
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Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin (o. J.): Startseite. http://www. psychiatrie-beschwerde.de/ [Zugriff: 11.02.2017]. CESCR (1999): General Comment No. 13: The Right to Education (Art. 13). Geneva: Committee on Economic, Social and Cultural Rights, 8 December 1999. E/C.12/1999/10. Cremer, Hendrik (2014): Menschenrechtliche Verpflichtungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen – Empfehlungen an die Länder, Kommunen und den Bund. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. http://www.institut-fuer-menschenrechte. de/uploads/tx_commerce/Policy_Paper_26_Menschenrechtliche_Verpflichtungen_bei_der_Unterbringung_von_Fluechtlingen_01.pdf [Zugriff: 30.10.2016]. Der Bürgerbeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz und der Beauftragte für die Landespolizei (o. J.): Der Beauftragte für die Landespolizei informiert. http://www. derbuergerbeauftragte.rlp.de/icc/assisto/nav/75e/75e56f98-5304-7417-acc6-d14c1847c614&class=net.icteam.cms.utils.search.AttributeManager&class_uBasAttrDef=a001aaaa-aaaa-aaaa-eeee-000000000054.htm [Zugriff: 11.02.2017]. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften (2016): Positionspapier: Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften. Professionelle Standards und sozialpolitische Basis. Berlin: Abrufbar unter: www. http://www.fluechtlingssozialarbeit.de/ [Zugriff: 11.02.2017]. Janssen, Henrike/Ohletz, Katharina (2016): Beschwerdestelle für Geflüchtete in Berlin Marzahn-Hellersdorf. Ein Konzeptentwurf anhand der Analyse verschiedener Beschwerdestellen. Unveröffentlichte Bachelorarbeit im Rahmen des Studiums der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule, Berlin. Leideritz, Manuela (2016): Menschenrechte als Begründungsbasis für die Profession Sozialer Arbeit. In: Leideritz, Manuela/Vlecken, Silke (Hrsg.) (2016): Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit – Schwerpunkt Menschenrechte – Ein Lese- und Lehrbuch. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 32–65. Mosbahi, Jessica/Westermann, Aische (2016): Positionspapier von medica mondiale e. V. und Kölner Flüchtlingsrat e. V. zum Gewaltschutz von Frauen und Mädchen in Flüchtlingsunterkünften des Landes Nordrhein-Westfalen. http://www.medicamondiale.org/fileadmin/redaktion/5_Service/Mediathek/Dokumente/Deutsch/ Positionspapiere_offene-Briefe/medica_mondiale_Positionspapier_Frauen_Gewaltschutz_Flucht.pdf [Zugriff: 31.10.2016]. Mund, Petra (2014): Partizipation in der stationären Kinder- und Jugendhilfe: Beschwerdemanagement und Ombudschaft. In: Archiv für Wissen und Praxis der Sozialen Arbeit, 45. Jg., H. 2. Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V., S. 36–56. Netzwerk Refugees Welcome in Treptow-Köpenick (2013): Offener Brief – Für eine menschenwürdige Unterbringung! Missstände in der Unterkunft Grünau beseitigen! http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Offener_Brief_zur_Notunterkunft.pdf [Zugriff: 19.10.2016]. Stadt Bielefeld – Kommunales Integrationszentrum (o. J.): Willkommen. http://ki-bielefeld.de/175-Antidiskriminierungsstelle [Zugriff: 11.02.2017]. 328
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Die Umsetzung des Menschenrechts auf wirksame Beschwerde für Geflüchtete
Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Soziale Arbeit: Dienstleistung oder Menschenrechtsprofession? Zum Selbstverständnis Sozialer Arbeit in Deutschland mit einem Seitenblick auf die internationale Diskussionslandschaft. In: Lob-Hüdepohl, Andreas/ Lesch, Walter (Hrsg.): Ethik Sozialer Arbeit – Ein Handbuch. Paderborn: Schöningh, S. 20–54. Töpfer, Eric (2014): Unabhängige Polizei-Beschwerdestellen – Eckpunkte für ihre Ausgestaltung. Berlin. Deutsches Institut für Menschenrechte. http://www.institutfuer-menschenrech-te.de/fileadmin/_migrated/tx_commerce/Unabhaengige_ Polizei_Beschwerdestellen.pdf [Zugriff: 09.08.2016]. Urban-Stahl, Ulrike (2014): Unabhängige Ombudsstellen – Neuland in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 12. Jg., H. 1. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 11–31. Wendel, Kay (2014): Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland – Regelungen und Praxis der Bundesländer im Vergleich. Hrsg. vom Förderverein PRO ASYL e. V., Frankfurt a. M. https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/04/Laendervergleich_Unterbringung_2014-09-23_01.pdf [Zugriff: 17.10.2016].
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Zusammenarbeit mit Sprachmittler*innen in der Betreuung von „unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten“
Wenn Sozialarbeiter*innen auf Menschen treffen, die eine andere Sprache sprechen als sie selbst, kann die gemeinsame Kommunikation sehr schnell sehr schwierig werden. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, werden Sprachmittler*innen1 eingesetzt, die für beide Parteien übersetzen. So entstehen aber nicht nur Chancen (durch die gegenseitige Verständigung), sondern auch Unsicherheiten: Wie lässt sich sicherstellen, dass die Sprachmittler*innen gut dolmetschen? Was ist gutes Dolmetschen? Wer kann oder darf überhaupt dolmetschen? Was bedeutet es für die Sozialarbeiter*innen, wenn sie nicht mehr ohne Hilfe verstanden werden, was bedeutet es für die Klient*innen? Um auch mit Sprachmittlung eine gelingende Hilfe zu ermöglichen, muss Soziale Arbeit sich kritisch mit dieser Thematik auseinandersetzen. Dabei sollte es unstrittig sein, ob es Sprachmittlung braucht. Entscheidend ist aber, wie sie eingesetzt wird.
Kommunikation und Verstehen Für Sozialarbeitende ist (gesprochene oder gebärdete) Sprache in allen Bereichen ihrer Profession ein äußerst wichtiges Kommunikationsmittel: in der Ausbildung, der Forschung, der Netzwerkarbeit und natürlich im direkten Kontakt mit den Klient*innen. Sie dient u. a. der Anamnese, Beratung, Unterstützung oder Intervention und ist daher beinahe unverzichtbar. Dabei ist es essenziell, dass sich alle Beteiligten gegenseitig verstehen: Damit Soziale Arbeit überhaupt gelingen kann, müssen sowohl die Sozialarbeiter*innen als auch die Klient*innen in der Lage sein, auf die jeweils andere Person zu reagieren, was nur gelin1 Ich werde im Folgenden den Begriff Sprachmittler*in/Sprachmittlung als Sammelbegriff für alle Tätigkeiten der mündlichen Übersetzung nutzen. Wo eine Abgrenzung nötig ist, wird dies durch entsprechend andere Begriffe wie Laiendolmetscher*in oder ausgebildete*r Dolmetscher*in deutlich gemacht.
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Zusammenarbeit mit Sprachmittler*innen
gen kann, wenn sie die Aussagen ihres Gegenübers tatsächlich begreifen. Die Sozialarbeiter*innen bspw. müssen die Bedürfnisse der Klient*innen verstehen können, um auf sie zu reagieren, und die Klient*innen wiederum müssen in der Lage sein, die Anregungen der Sozialarbeiter*innen zu verstehen, um sich entsprechend zu positionieren. Gleiches gilt auch für die Beteiligungschancen der Klient*innen: Um z. B. informierte Entscheidungen treffen zu können, müssen die jeweiligen Bedingungen und Konsequenzen verstanden werden. Auch die Sozialarbeiter*innen können entsprechende Verwirklichungschancen (Capabilities) nur dann gerecht gestalten helfen, wenn sie verstanden haben, welche individuellen Bedürfnisse und Ressourcen die einzelnen Klient*innen haben. Eine Grundproblematik bei der Kommunikation jedoch ist, dass ein tatsächliches Verstehen nie gänzlich sichergestellt sein kann. Die*der Sender*in einer Aussage wird nie sicher sein können, dass sie von der*dem Empfänger*in exakt so verstanden wird, wie es beabsichtigt wurde, und umgekehrt. Dies gilt auch dann, wenn beide Parteien dieselbe Sprache sprechen, etwa gleich alt sind und ähnliche Sozialisationen durchlebt haben, denn Sprechen übermittelt mehr als nur Wörter. Eine klassische Theorie hierzu ist das Vier-Seiten-Modell von Schulz von Thun (vgl. Schulz von Thun 2010: 27ff.), wonach jede Aussage vier Ebenen hat (Sachinhalt, Apell, Selbstkundgabe und Beziehungshinweis), die mit übermittelt werden. Diese können von der*dem Sender*in und der*dem Empfänger*in aber mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden, was zu Missverständnissen führen kann. Neben implizierten Botschaften werden aber auch soziale Beziehungen und Machtverhältnisse ausgetauscht und aktualisiert (vgl. Bourdieu 2012: 41). Die Sprecher*innen und ihre Sprache werden entsprechend bewertet und z. B. mehr oder weniger ernst genommen. Es reicht in der sozialen Interaktion daher nicht aus, korrekte Sätze zu bilden, wenn niemand auf sie hört – also die Position der sprechenden Person nicht anerkannt wird (vgl. Bourdieu 2012: 60). Es lässt sich entsprechend davon ausgehen, dass die Chance einer erfolgreichen Verständigung drastisch sinkt, wenn beide Parteien keine gemeinsame Sprache sprechen und die Aussage der jeweils anderen Person bereits auf der semantischen Ebene nicht verstanden wird. In der Sozialen Arbeit mit „unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten“2 ist dies besonders häufig der Fall. Sozialarbeiter*innen und Klient*innen haben oftmals keine gemeinsame sprachliche Basis oder müssen sich diese oft erst langsam erarbeiten. Wobei es hier u. a. aus einer machtkritischen Perspektive interessant ist, dass eher die
2 Zur Verdeutlichung, dass es sich bei dieser Gruppe immer um Menschen mit individueller Identität und Geschichte handelt und nicht um eine bloße Kategorie, wird auf die üblichen Abkürzungen umG oder umF verzichtet. Stattdessen wird der Begriff ausgeschrieben und in Anführungszeichen gesetzt, um seine soziale Konstruktion zu verdeutlichen.
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Klient*innen allmählich die Sprache der Sozialarbeiter*innen lernen und nicht umgekehrt.
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Sprachbarrieren Das System der deutschen Kinder- und Jugendhilfe ist durchaus komplex und auch für ausgebildete Fachkräfte nicht immer in allen Einzelheiten durchschaubar. Den jeweiligen Klient*innen (mit oder ohne Migrationsgeschichte) – Familien, Eltern und vor allem Kindern und Jugendlichen – dürfte es entsprechend schwerer fallen (vgl. Ahamer 2013: 46f.). Viele haben sich aber in ihrer bisherigen Sozialisation wahrscheinlich ein gewisses Systemverständnis aneignen können. Das heißt, sie haben bereits teilweise Erfahrung mit deutschen Behörden und Wohlfahrtssystemen und (zumindest) eine Vorstellung über deren grundsätzliche Funktionen. Auf diesen Erfahrungshintergrund können „unbegleitete minderjährige Geflüchtete“ vor allem in der Anfangszeit der Jugendhilfe nicht zurückgreifen. Die wenigsten haben Familienmitglieder oder andere soziale Ressourcen, die ihnen hierin Orientierung bieten können. Vor allem ist für sie aber auch die Sprache, auf der innerhalb der Systeme kommuniziert wird, neu bzw. unverständlich. Dabei ist es wesentlich, dass die jungen Menschen zumindest grundlegend verstehen können, was gerade warum passiert, und wie das weitere Vorgehen aussieht. Dabei muss es anfangs noch nicht einmal um das (unerlässliche) Wunsch- und Wahlrecht der Einzelnen gehen, sondern erstmal einfach nur um Information und damit letztlich auch um eine Anerkennung als eigenständige und gleichwertige Person. Das betrifft auch den Zugang zur Jugendhilfe, denn anderssprachigen Menschen fehlt oftmals bereits eine Verhandlungsmöglichkeit über diesen Zugang (vgl. Pöllabauer 2005: 35). Ganz konkret hat z. B. ein 18-jähriger junger Mensch Anspruch auf Jugendhilfe, wenn der Bedarf besteht. Dafür muss er selbst einen Antrag stellen und diesen oftmals begründen. Hierzu braucht er zum einen die (System-) Kenntnis, dass es überhaupt möglich ist, und zum anderen die Möglichkeit zur Verhandlung, d. h. der Verdeutlichung seines Bedarfs. Viel offensichtlicher werden Sprachbarrieren jedoch in der direkten Betreuung. Denn hier geht es sowohl um die konkrete Ausgestaltung der Hilfe entlang der Wünsche und Bedürfnisse der jungen Menschen als auch um die daraus folgenden Hilfestellungen im Alltag, psychosoziale Beratung und Reflexion sowie Alltagsgestaltung, Freizeitaktivitäten und verschiedenste Absprachen. Ohne Austausch, Verständigung und gegenseitiges Verstehen ist dies alles kaum möglich. Trotzdem ist die Behauptung nicht selten, dass die Betreuung auch ohne gemeinsame Sprache im Großen und Ganzen recht gut funktioniere und man mit „Händen und Füßen“ und Google Translate erstaunlich weit 332
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Zusammenarbeit mit Sprachmittler*innen
komme. Konkrete Strategien zur Verständigung sind u. a. der Einsatz von Gestik und Mimik, von Bildern oder die Kommunikation auf einer dritten Sprache (z. B. Französisch), die für beide Seiten nicht die Erst- oder Zweitsprache ist. Eine solche Verhandlung von Kommunikation ohne gemeinsame Sprache ist immer auch ein Lernfeld (für beide Seiten) und schafft gemeinsame Erlebnisse. Allerdings sollte sich dies eher auf einfache, lebenspraktische Themen beziehen (Wo kaufe ich ein? Wie funktioniert die Waschmaschine?). Spätestens bei komplexeren Betreuungsinhalten wie Beratung, Reflexion oder auch emotionalen Themen stößt eine solche Kommunikation schnell an ihre Grenzen. Zudem bleibt für beide Seiten immer die Frage offen, wie viel von dem Gesagten die andere Person nun tatsächlich verstanden hat, nur glaubt verstanden zu haben oder nur aus Höflichkeit oder Verlegenheit abnickt, ohne es verstanden zu haben. Um diese Grenzen zu überwinden und sich tatsächlich zu verstehen, braucht es schließlich die Hilfe von Sprachmittler*innen, die das Gesprochene übersetzen (vgl. Pöllabauer 2005: 54).
Übersetzen Eine Übersetzung ist die Übertragung eines Textes (mündlich oder schriftlich) von einer Sprache in eine andere und damit immer auch eine Arbeit mit Unterschieden bzw. Differenzen und Normen: Je unterschiedlicher zwei Sprachen voneinander sind, desto größer wird der Bedarf für eine Übersetzung. Oder anders gesagt: Wo es einer Übersetzung bedarf, zeigt sich eine Differenz zwischen zwei Sprachen besonders deutlich. Entsprechend festigt die Übersetzung diese Differenz und trägt so zur Konstruktion eines Anderen (in Abgrenzung zur Norm) bei. Natürlich dient eine Übersetzung in erster Linie der Verständigung, sodass sie eigentlich dem Prozess des Othering entgegenwirken müsste, da sie die sprachlichen Unterschiede verringert, gleichzeitig macht sie diese Unterschiede aber auch deutlich. Es muss zudem immer die Frage gestellt werden, wem die Übersetzung vorrangig (zu welchem Zweck) dient und wer wem übersetzt (vgl. Bahadır 2007: 22). Aus postkolonialer Perspektive zeigt sich z. B., dass es die Kolonialisierer*innen waren, die übersetzten, um die „fremde Kultur“ zu beschreiben, zu ordnen und zu analysieren. Die Übersetzung erfolgte meist nicht durch Erstsprachler*innen, sondern durch europäische Gelehrte, da den Einheimischen nicht zugetraut wurde, ihre eigene Lebensweise, Sprache, Gesetze etc. zuverlässig in die Kolonialsprache zu übertragen. Es waren die Wissenschaftler*innen, die von außen kamen, um die Fremde zu beschreiben, die sie so schließlich auch entlang ihrer eigenen Vorstellungen konstruierten (siehe dazu auch Hall 1996). Sprache wird so zu einem wichtigen Teil der Kolonialisierung und 333
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Machterhaltung. Es blieb nicht bei der einfachen Übersetzung, welche das Koloniale verständlich und erforschbar machen sollte. Die Sprache der Kolonialmacht wurde als Amts- und Bildungssprache eingeführt, sodass es im nächsten Schritt die Kolonialisierten waren, die einer Übersetzung bedurften. Verständigung, Verstehen, Sprache und Macht hängen also unmittelbar zusammen. Wer die Mehrheitssprache beherrscht, hat die größere Macht (vgl. Bahadır 2007: 22ff.). Die Schwierigkeit des Übersetzens ist, dass Sprache immer auch einen Kontext hat, der sich meist nicht (einfach) mit übersetzen lässt. Während sich für die Worte möglicherweise relativ klare Äquivalente in der anderen Sprache finden lassen, kann die tatsächliche Bedeutung anders sein, als es für die Rezipient*innen der Übersetzung scheint. So könnte es z. B. passieren, dass eine Person für eher religiös gehalten wird, weil ihre Sprache viele religiös-geprägte Formeln enthält, die wortwörtlich übersetzt werden. So kann z. B das arabische „inshallah“, mit „so Gott will“, aber auch mit „hoffentlich“ übersetzt werden. Ähnlich verhält es sich mit dem deutschen Gottseidank. Es ist daher die Aufgabe der Übersetzer*innen den jeweiligen Kontext stets mitzudenken und gegebenenfalls zu verdeutlichen (vgl. Marcis 2008: 97).
Dolmetschen und Community Interpreting Dolmetschen ist die Übersetzung von gesprochener oder gebärdeter Sprache, wobei es die Aufgabe von Dolmetscher*innen ist, Kommunikation zu ermöglichen, wenn diese aufgrund von Sprachunterschieden anders kaum mehr möglich ist (vgl. Bahadır 2007: 131). Wie auch beim Übersetzen allgemein ist eine Eins-zu-eins-Übersetzung allerdings kaum möglich, zumal die Dolmetscher*innen nur wenig Zeit haben, die richtigen Äquivalente in der Zielsprache zu finden. Die Annahme einer solchen Eins-zu-eins-Übersetzung bezeichnet Scheffer (2001) als Postbot*innen-Fiktion: Die Sprachmittler*innen werden als Bot*innen gesehen, welche einfach nur die getätigten Aussagen übermitteln, sie aber inhaltlich nicht verändern. Bestimmte Kontexte sind in ihrer Funktion nur möglich, wenn von dieser Fiktion ausgegangen wird, so z. B. Anhörungen im Asylverfahren: Die Angaben der asylsuchenden Person während der Anhörung sind Grundlage für die Entscheidung im Verfahren. Es geht also maßgeblich um das „Gespräch“ zwischen Entscheider*in und Antragssteller*in. Allerdings nimmt noch eine dritte Person, die*der Sprachmittler*in, am Gespräch teil und hat auch Einfluss auf dieses: Durch ihre*seine Anwesenheit, durch die Qualität ihrer*seiner Übersetzungen etc. Trotzdem wird dies weitestgehend ignoriert und die Anhörung als Zweiergespräch konstruiert, indem die Fiktion
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der dolmetschenden Person als bloße Postbot*in entworfen und aufrechterhalten wird (vgl. Scheffer 2001: 40ff.). Die Tätigkeit des Dolmetschens wird oft mit dem Konferenzdolmetschen und der Simultantechnik assoziiert. Weitaus verbreiteter und auch älter ist aber die Technik des Konsekutivdolmetschens. Hier findet die Übersetzung erst im Anschluss an eine Rede oder einen Sprechabschnitt statt und nicht zeitgleich. Im sozialen Bereich ist diese Art des Dolmetschens fast ausschließlich in Gebrauch, was neben unterschiedlichen Ansprüchen an die Sprachmittler*innen sicher auch mit dem Grad ihrer Professionalisierung und ihrer Ausbildung zu tun hat (vgl. Ahrens 2016: 84). Dieser soziale Bereich des Dolmetschens wird auch als Community Interpreting (mitunter auch Gemeindedolmetschen) bezeichnet und meint das Dolmetschen für und mit sprachlichen Minderheiten. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Zusammenarbeit mit Sprachmittler*innen
Community Interpreting Diese Form des Dolmetschens wird oftmals gegenüber dem Dolmetschen in wirtschaftlichen oder politischen Zusammenhängen abgegrenzt. Dies hilft zum einen, die eben sehr unterschiedlichen Kontexte der beiden Einsatzgebiete zu verdeutlichen, führt zum anderen aber auch eher zu einer Abwertung des Community Interpretings, da dem sozialen Bereich häufig weniger Prestige anhaftet als dem politischen Parkett (Moazedi 2008: 67f.). Entsprechend uneins ist sich auch die Literatur, ob dieser Bereich überhaupt einer eigenen Bezeichnung bedarf oder ob jegliche mündliche oder gebärdete Übersetzung (auch von Lai*innen) generell als Dolmetschen bezeichnet werden sollte (vgl. Bahadır 2007: 56). Überall dort, wo Menschen Unterstützung brauchen und auf Sprachbarrieren treffen, ist Community Interpreting notwendig. Dies ist vor allem im medizinischen, juristischen, sozialen und sozialarbeiterischen Kontexten der Fall. Die hilfesuchende Person trifft hier auf eine Einrichtung (z. B. Polizei, Gericht, Jugendamt) und/oder Funktionsträger*in bzw. Expert*in (Ärztin*Arzt, Therapeut*in, Sozialarbeiter*in etc.). Bereits an dieser Stelle gibt es einen signifikanten Machtunterschied, der auch ohne Sprachbarriere besteht, durch diese aber nochmals verstärkt wird. Anders als beim Konferenzdolmetschen, wo beide Parteien sich eher auf einer Augenhöhe befinden, braucht es hier die Sprachmittler*innen auch, um den Machtunterschied nicht noch größer werden zu lassen bzw. um überhaupt Zugang zu ermöglichen (Pöllabauer 2005: 50ff.). Zwei Gruppen von Sprachmittler*innen, die besonders häufig in der Zusammenarbeit mit „unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten“ eingesetzt werden, sollen im Folgenden näher betrachtet werden: Lai*innen und die Kinder bzw. Jugendlichen selbst. 335
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Laiendolmetscher*innen Im gesamten Bereich des Community Interpreting werden oftmals Personen ohne besondere Qualifikation – als Lai*innen – zur Sprachmittlung eingesetzt. Sie qualifizieren sich meist allein durch ihre Mehrsprachigkeit. Während dies zwar eine Grundvoraussetzung für Sprachmittlung ist, befähigt es aber nicht automatisch zu „natürlichen“ Sprachmittler*innen. Die Fähigkeit, zwei Sprachen zu sprechen, ist nicht gleichsetzbar mit der Fähigkeit, die Äquivalente einer Aussage in einer anderen Sprache zu finden und korrekt wiederzugeben (vgl. Ahamer 2013: 73). Dazu braucht es u. a. ein gutes Gedächtnis, die Fähigkeit, die Inhalte, den Stil, das Register, die Rhetorik des Ausgangstextes zu verstehen und Kontextualisierungshinweise (wie z. B. Code-Switching) zu erkennen und wiederzugeben (vgl. Ahrens 2016: 95). Hinzu kommt die Fähigkeit, die eigenen Meinungen, Bewertungen und Empfindungen möglichst zurückzustellen, was Teil einer professionellen Haltung ist, die auch erlernt werden kann. Oftmals handelt es sich bei solchen Laiendolmetscher*innen um Familienmitglieder der Klient*innen, andere Klient*innen oder Personal der Einrichtung – also z. B. Hausmeister*in oder Krankenpfleger*in. Aber auch Sozialarbeiter*innen, die für ihre Kolleg*innen dolmetschen, sind als Lai*innen zu verstehen. Sie verfügen zwar über wichtige Fachkenntnisse in dem zu übersetzenden Gebiet, aber es mangelt unter Umständen an den oben beschriebenen methodischen Kenntnissen für das Dolmetschen. Neben der Kosteneinsparung bei der Übersetzung durch Lai*innen (ausgebildete Sprachmittler*innen verlangen ein Honorar) ist die tatsächliche (Nicht-)Verfügbarkeit von Sprachmittler*innen vor allem in der alltäglichen Arbeit ein wichtiger Faktor für die Inanspruchnahme von Laiendolmetscher*innen. Der Einsatz von ausgebildeten Dolmetscher*innen muss immer geplant werden, da diese nicht rund um die Uhr auf Abruf stehen. Es müssen also Termine gefunden werden, zu denen alle Beteiligten anwesend sein können. Viele Situationen, vor allem in der Jugendhilfe – in Wohngruppen oder im Betreuten Wohnen – geben das aber nicht her. Oftmals ist ein direktes Handeln/Verstehen erforderlich und es kann nicht auf den nächsten Termin mit einer*einem ausgebildeten Dolmetscher*in gewartet werden, sodass schnell als Behelfslösung Lai*innen zur Übersetzung eingesetzt werden. Gerade hier handelt es sich besonders häufig um andere Klient*innen, die in ihren eigenen Sprachkompetenzen schon weiter vorangeschritten sind.
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Zusammenarbeit mit Sprachmittler*innen
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Kinder und Jugendliche als Sprachmittler*innen Als besondere Form von Laiendolmetscher*innen müssen Kinder und Jugendliche betrachtet werden. Gerade im Schulkontext wird von Kindern schnell erwartet, dass sie zwischen Eltern und Lehrer*innen oder Schulsozialarbeiter*innen dolmetschen. Das kann zu Loyalitätskonflikten für die Kinder führen (z. B. wenn sie den Tadel der Lehrkraft übersetzen sollen). Außerdem werden möglicherweise die Machtverhältnisse innerhalb der Familie infrage gestellt. Problematisch ist eine Sprachmittlung von Kindern und Jugendlichen vor allem dann, wenn das Gespräch ihren Erfahrungshorizont überschreitet. Gerade im medizinischen Bereich kann die Übersetzung für sie schnell zur Belastung werden. In der Betreuung mit „unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten“ kommen oft junge Menschen zum Einsatz, die für andere Betreute dolmetschen. Zu beachten ist hier vor allem, wer Auftraggeber*in ist und welchen Inhalt das Gespräch hat. Ist es also ein junger Mensch, der eine*einen Freund*in zur Hilfe holt, um einen Sachverhalt zu klären, oder ist es die*der Sozialarbeiter*in, die*der einen anderen jungen Menschen zur Übersetzung heranzieht? Im ersten Fall kann eher davon ausgegangen werden, dass der junge Mensch weiß, was angesprochen werden soll und wie weit der*dem Ad-hoc-Dolmetscher*in vertraut wird. Im zweiten Fall ist es die*der Sozialarbeiter*in, die*der zum einen entscheidet, dass die Sprachkompetenz des jungen Menschen nicht ausreicht, und zum anderen festlegt, wer übersetzen kann oder soll. Hier stellt sich nicht nur die Frage nach Partizipation und Entscheidungsmacht, sondern auch nach möglichen gruppendynamischen Prozessen: Es ist ja ein*e andere*r Klient*in, die*der übersetzen soll – welche Stellung wird ihr*ihm dadurch innerhalb der Gruppe verliehen? Schließlich ist aber auch der Inhalt des Gesprächs entscheidend: Ist es die Wegbeschreibung zur U-Bahn, ein Konflikt in der Schule oder die Fluchtgeschichte? Je persönlicher und intimer ein Thema ist, desto ungeeigneter dürften andere junge Menschen zur Übersetzung sein. Für die Person, welche die Übersetzung benötigt, kann jemand Vertrautes möglicherweise auch bei sensiblen Themen durchaus ein Zugewinn sein (sie ist nicht alleine), für den dolmetschenden jungen Menschen kann dies aber auch zu Rollenkonflikten führen: Ist er nur „Sprachrohr“, steht er eher aufseiten seiner*ihrer Bekannten oder auf der Seite der*des Sozialarbeiter*in? Problematisch ist auch, wenn es zu Falschübersetzungen kommt. Der dolmetschende junge Mensch könnte sich dafür selbst verantwortlich fühlen oder von anderen dafür verantwortlich gemacht werden. Schließlich besteht bei Sprachmittler*innen grundsätzlich die Gefahr einer Retraumatisierung oder sekundären Traumatisierung, z. B. bei der Übersetzung von Fluchtgeschichten.
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Sprachmittlung in der Praxis Sozialer Arbeit
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Das Dolmetschen durch Kinder und Jugendliche kann (wenn sensibel damit umgegangen wird) aber auch positive Effekte haben. Sie werden so in ihren (Sprach-)Kompetenzen ernst genommen und ermächtigt. Solange sie innerhalb ihrer eigenen Erfahrungswelt dolmetschen und nicht mit zu großen Erwartungen konfrontiert werden, sind sie dazu durchaus in der Lage und können Erfolgserlebnisse erfahren (vgl. Rajič 2008: 168). Es ist allerdings Aufgabe der Sozialarbeitenden, auch hierfür zu sorgen.
Das Besondere an dem Einsatz von Sprachmittler*innen ist, dass der eigentlich typischen Dualität Sozialarbeiter*in Klient*in eine dritte Partei hinzugefügt wird, die zudem essenziell ist, da erst durch sie eine Verständigung möglich ist: Sozialarbeiter*in Sprachmittler*in Klient*in. Sozialarbeiter*in und Klient*in kommunizieren also nicht mehr direkt miteinander, sondern über eine dritte Person. Dabei sind die Sprachmittler*innen zwar nötig, aber eigentlich auch störend, was sich auf die Rolle der Sprachmittler*innen auswirkt. Bahadır beschreibt sie, u. a. angelehnt an Simmels Exkurs über den Fremden (Simmel 1908: 509ff.): dabei und doch außenstehend; nicht unbedingt willkommen, aber auch nicht entbehrlich. Genau wie der*dem Fremden würde auch den Sprachmittler*innen durch ihre Nicht-ganz-Zugehörigkeit eine gewisse Objektivität und Unparteilichkeit zugeschrieben oder zumindest von ihnen erwartet. Schlägt die Kommunikation jedoch fehl, können die Sprachmittler*innen auch schnell von beiden Seiten dafür verantwortlich und zum Sündenbock gemacht werden (vgl. Bahadır 2007: 159f.). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Qualität der Sprachmittlung durch ausgebildete Dolmetscher*innen höher ist als bei Lai*innen. Neben erlernten Dolmetschtechniken verfügen ausgebildete Dolmetscher*innen in der Regel auch über einen Ethikkodex und ein klares Berufsverständnis, was allen Beteiligten Orientierung bieten kann. Die Gefahr, dass Sprachmittler*innen selbst intervenieren oder z. B. bestimmte Aussagen nicht übersetzen um die Klient*innen vermeintlich zu schützen, sinkt dadurch (vgl. Hale 2007: 101ff.). Entsprechend sind sie Laiendolmetscher*innen möglichst vorzuziehen.
Gesprächsbedingungen für den Einsatz von Sprachmittlung Das gemeinsame Gespräch mit Sprachmittler*in braucht schließlich eine besondere Beachtung, um für alle Beteiligten zufriedenstellend zu verlaufen. Dies sicherzustellen, ist u. a. Aufgabe der Sozialarbeiter*innen, da sie für ge338
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Zusammenarbeit mit Sprachmittler*innen
wöhnlich die Gesprächsführung innehaben. Sie müssen sich jedoch darauf einlassen, das Gespräch weniger als sonst kontrollieren zu können, und müssen den Sprachmittler*innen vertrauen, richtig zu übersetzen. Das bedeutet auch eine stückweise Abgabe der eigenen Macht, denn sie sind auf eine weitere Person angewiesen, ohne die sie sonst nicht verstanden werden würden. Für die Klient*innen muss dies aber nicht automatisch einen Zugewinn an Macht bedeuten: Sprachmittler*innen werden häufig vonseiten der Institution hinzugezogen und (bestenfalls) bezahlt. Oftmals betreten sie mit den Sozialarbeiter*innen den Raum und sind mit diesen bereits vertraut, was für die Klient*innen möglicherweise die Vermutung nahelegt, dass sie nicht wirklich neutral sind (vgl. Bahadır 2007: 75f.). Für den Fall, dass die Sprachmittler*innen und Klient*innen vor oder nach dem eigentlichen Gespräch Kontakt haben, sind transparente Regeln wichtig: zum einen um die Sprachmittler*innen in ihrer professionellen Rolle zu unterstützen, und zum anderen, um sicherzustellen, dass keine relevanten Informationen verloren gehen. Allein die Anwesenheit von Sprachmittler*innen beeinflusst das Gespräch, was erkannt und anerkannt werden muss. Die Gesprächsatmosphäre wird in vielen Fällen dadurch weniger intim sein. Während dies zu Hemmungen führen kann, bestimmte Inhalte zu äußern, da die*der Sprachmittler*in fremd ist, kann genau dies auch vorteilhaft sein, wenn eine Zweiersituation möglicherweise unangenehm gewesen wäre. Zudem ist in den Gesprächspausen, in denen die*der Sprachmittler*in aktiv ist, Zeit, um nachzudenken, zu reflektieren oder auf nonverbale Signale des Gegenübers zu achten. Für ein gelingendes Gespräch ist es wichtig, für alle Beteiligten Transparenz zu schaffen. Dazu sollte gleich zu Beginn sowohl die*der Sprachmittler*in vorgestellt als auch Absprachen und Regeln getroffen werden. Die Schweigepflicht der sprachmittelnden Person sollte dabei verdeutlicht werden. Während des Gesprächs sollte es möglichst keine Seiten- oder Zwischengespräche geben, wenn dies jedoch der Fall sein sollte, muss die*der Sprachmittler*in sie übersetzen können. Irritationen sollten möglichst direkt geklärt werden, z. B. wenn die Übersetzung wesentlich kürzer scheint als das Original oder Wörter im Originalbeitrag scheinbar identifiziert wurden, in der Übersetzung aber nicht auftauchen. Es sollte also möglichst alles übersetzt und nicht zusammengefasst werden. Die Redeabschnitte sollten kurz genug sein, um der*dem Sprachmittler*in die Möglichkeit zu geben, den gesamten Inhalt zu übersetzen. Dementsprechend sollte die*der Sprachmittler*in die anderen Gesprächsteilnehmer*innen auch unterbrechen dürfen. Transparenz bedeutet auch, dass alle den Kontext des Gesprächs einordnen können. Auch die*der Sprachmittler*in muss zumindest in Grundzügen verstanden haben, was z. B. der Sinn und Zweck einer Hilfekonferenz ist, wenn sie*er an einer solchen beteiligt ist. Im Idealfall gibt es die Möglichkeit für ein 339
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Vor- und Nachgespräch mit der*der Sprachmittler*in, um u. a. Fragen oder Rückfragen zu klären, Erwartungen von beiden Seiten deutlich zu machen und das Gespräch zu einem guten Abschluss zu bringen. Eine Schweigepflichterklärung oder ein schriftlicher Vertrag, der an den Ethikkodex des „Bundesverbandes der Dolmetscher und Übersetzer“ angelehnt ist (siehe BDÜ 2014), kann ein gutes Mittel zur Sicherung der Qualität sein. Die Sozialarbeiter*innen müssen zudem sensibel dafür sein, dass es gerade bei sehr intimen oder tabuisierten Themen (wie z. B. sexuelle Orientierung oder Gewalterfahrungen) für die Klient*innen ein Problem sein kann, wenn eine Person aus ihrer Community dolmetscht. Auch das Geschlecht oder weitere Differenzlinien der Sprachmittler*innen können durchaus eine wichtige Rolle für die Klient*innen spielen. Problematisch kann auch sein, wenn Klient*in und Sprachmittler*in unterschiedliche politische oder religiöse Überzeugungen oder Hintergründe haben. Im Zweifelsfall ist ein Wechsel der*des Sprachmittler*in wichtig, um gegebenenfalls die Übersetzung zu überprüfen und vor allem nicht das Vertrauen der*des Klient*in zu verlieren. Eine besondere Herausforderung entsteht, wenn Sprachmittler*innen das Verhalten von Klient*innen kulturalisieren3 oder anders bewerten und die Definitionshoheit dafür erwarten. Hier gilt es, eine kritische aber respektvolle Distanz zu wahren und im Zweifelsfall andere Meinungen einzuholen oder aber dies offen zu besprechen.
Fazit Eine Zusammenarbeit mit ausgebildeten Dolmetscher*innen sollte für die Soziale Arbeit, vor allem im Bereich Flucht und Migration, selbstverständlich sein, denn sich gegenseitig zu verstehen, ist ein integraler Bestandteil für Partizipation in den Hilfen. Um das zu erreichen, müssen Sozialarbeiter*innen ein grundlegendes Verständnis von Sprachmittlung und Sprachmittler*innen haben, und wissen, was diese leisten können oder auch nicht. Dazu braucht es sowohl Konzepte als auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Chancen und Gefahren von Sprachmittlung (durch ausgebildete Dolmetscher*innen und auch durch Lai*innen). Eine Befassung mit dem Qualifizierungsnetzwerk SprInt4 aus Sicht der Sozialen Arbeit speziell als Auftragsgeber*in wäre dabei eine Möglichkeit.
3 Siehe hierzu den Beitrag von Claus Melter in diesem Band. 4 Diese bieten eine 18-monatige, zertifizierte Qualifizierung als Sprach- und Integrationsmittler*in speziell für Migrant*innen an (siehe www.sprachundintegrationsmittler.org) [Zugriff: 15.07.2017].
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Zusammenarbeit mit Sprachmittler*innen
Das Fehlen von professioneller Sprachmittlung wird mitunter als pädagogische Maßnahme begründet, da eine Sprachmittlung dem Deutschlernprozess entgegenstehen würde, wobei Kenntnisse der deutschen Sprache nicht nur als Marker für sogenannte Integration, sondern auch für erfolgreiche Jugendhilfe gesehen werden. Das Sprechen der deutschen Sprache ist sicherlich ein wichtiges Erfordernis für den Zugang zu verschiedenen sozialen und monetären Handlungsräumen in Deutschland. Daher ist es notwendig, Möglichkeiten zu schaffen, um den Spracherwerb auch außerhalb der Schule zu unterstützen. Dabei darf aber nicht verkannt werden, dass gerade über die Mehrheitssprache ein Machtverhältnis fest- und fortgeschrieben wird, was die Sprecher*innen anderer Sprachen5 zu Anderen macht. Sozialarbeitende müssen mit diesen Prozessen kritisch umgehen und dazu beitragen, sprachliche Machtverhältnisse möglichst zu reduzieren (vgl. Mecheril/Quehl 2016: 170). Komplett auf Sprachmittlung im Hilfeprozess zu verzichten, um die Notwendigkeit eines raschen Lernprozesses zu verdeutlichen, würde das genaue Gegenteil bewirken. Es ist daher auch die Aufgabe der Sozialarbeiter*innen, zu beachten, wann es pädagogisch sinnvoll sein kann, keine Sprachmittlung zur Verfügung zu haben, und wann es die Klient*innen in ihren Partizipationsmöglichkeiten und Handlungsspielräumen einschränkt.
Literatur Ahamer, Vera (2013): Unsichtbare Spracharbeit: jugendliche Migranten als Laiendolmetscher – Integration durch „community interpreting“. Bielefeld: transcript. Ahrens, Barbara (2016): Konsekutivdolmetschen. In: Kadrić, Mira/Kaindl, Klaus (Hrsg.): Berufsziel Übersetzen und Dolmetschen – Grundlagen, Ausbildung, Arbeitsfelder. Tübingen: Narr Francke Attempo, S. 84–102. Aygün-Sagdic, Gülden/Bajenaru, Oana/Melter, Claus (2015): Gedanken zum Verhältnis von Rassismus, nationalspachlicher Diskriminierung und Neolinguizismus. In: Thoma, Nadja/Knappik, Magdalena (Hrsg.): Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften – Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis. Bielefeld: transcript, S. 109–129. Bahadır, Şebnem (2007): Verknüpfungen und Verschiebungen – Dolmetscherin, Dolmetscherforscherin, Dolmetscherausbilderin. Berlin: Frank & Timme. BDÜ (2014): Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer e. V. – Berufs- und Ehrenordnung. Karlsruhe. Online verfügbar unter: http://www.bdue.de/de/der-bdue/ statuten/berufs-und-ehrenordnung/ [Zugriff: 30.04.2017]. 5 Wobei zu beachten ist, dass nicht alle „Fremd“-Sprachen gleich bewertet werden. Englisch oder Französisch genießen ein höheres Ansehen als beispielsweise Türkisch oder Arabisch. Erstere werden in der Schule gelehrt, Letztere auf dem Schulhof verboten (vgl. Aygün-Sagdic/ Bajenaru/Melter 2015: 112ff.).
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Marco Wille
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Ausblick: Ziviler Ungehorsam und Innovative Praxen
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Miriam Burzlaff & Naemi Eifler
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Kritisch intervenieren!? Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit – oder aber: Was ist der ‚weiße Kittel‘ Sozialer Arbeit? „Refugees must not be seen as victims or burdens, dependent and in need of help. There should be political solidarity. Refugees do not need food and drink in so much as they need freedom, dignity, and safety from xenophobic attacks. Finally, they need protection from the laws that restrict their movements and remove their freedoms. They live in authoritarian conditions in countries said to be democratic“ (Adam Bahar 2015).1
Hintergründe Die Ausführungen, Erkenntnisse und Anregungen des nun folgenden Beitrags stehen im Zusammenhang mit den Berliner Geflüchtetenprotesten von 2014, die Anlass für den Artikel „Deutsche Asylpolitik, Proteste Geflüchteter und das Schweigen Sozialer Arbeit“ (Burzlaff/Eifler 2015) waren. In diesem skandalisieren wir zum einen die europäische Grenz- und Asylpolitik sowie den Umgang mit geflüchteten Menschen und ihren Protesten für ein menschenwürdigeres Leben, der – nach wie vor – von rassistischen und diskriminierenden Repressionen sowie massiven Schikanen geprägt ist. Zum anderen gehen wir der Frage nach, wie es um die Berufsethik Sozialer Arbeit bestellt ist und wie es um das Selbstverständnis dieser Profession und Disziplin steht. Dies als Ausgangspunkt markiert, entwickeln wir seitdem im Rahmen von Workshops und Fachveranstaltungen unsere Fragen, Gedanken und theoretischen Überlegungen weiter. Im Zentrum stehen dabei stets eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Sozialarbeiter*in sowie den Fragegestellungen, warum es eine Aufgabe Sozialer Arbeit ist, bei Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen kritisch zu intervenieren, und welche Werkzeuge Sozi1 Adam Bahar ist ein politischer Aktivist aus dem Sudan, der derzeit im Exil in Deutschland lebt und Teil des Refugee Movement Berlin, Deutschland und Europa ist (siehe auch Bahar 2015).
Miriam Burzlaff & Naemi Eifler
Rückblick auf die Proteste geflüchteter Menschen
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aler Arbeit dafür genutzt werden können. Den vorliegenden Artikel nehmen wir zum Anlass, um die vorläufigen Antworten darzulegen und festzuhalten2. Zunächst soll jedoch ein Rückblick auf die Proteste geflüchteter Menschen, die im Jahr 2014 stattgefunden haben, gegeben werden. Eine Skizzierung unserer daran anschließenden Überlegungen markiert den Ausgangspunkt unserer Reflexionen.
Nach dem Suizid von Mohammad Rahsepar, einem Asylsuchenden aus dem Iran, intensivierte sich im Jahr 2012 in Würzburg eine Protestbewegung, die zunächst regional auf die menschenunwürdige und (menschen-)rechtsverletzende Unterbringung in Unterkünften aufmerksam machte. Schließlich setzte sich im Oktober 2012 ein Protestmarsch von Aktivist*innen aus verschiedenen Bundesländern in Richtung Berlin in Bewegung. In der Folge kam es zu einer Besetzung des Berliner Oranienplatzes, um von dort aus öffentlich gegen die skandalöse Asylpolitik zu protestieren, für menschenwürdige(re) Lebensbedingungen zu kämpfen sowie politische Kräfte in die Verantwortung zu nehmen. Nachdem ein Teil der sogenannten O-Platz-Aktivist*innen im Dezember 2012 ein leerstehendes Gebäude, die Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg, besetzten, wurde diese schnell zu einer Unterkunft für mehrere Hundert Personen. Die Forderungen, die mit den Protesten verbunden waren, sind keinesfalls neu, sondern stehen bereits seit Jahrzehnten im Mittelpunkt von Zusammenschlüssen wie The Voice3. Inhalte der Kämpfe sind beispielsweise die Abschaffung der Residenzpflicht, von Sammelunterkünften/Lagern4 sowie der 2 An dieser Stelle möchten wir allen Teilnehmer*innen herzlich danken, die im Rahmen von Workshops und Fachgesprächen ihre Erfahrungen, Gedanken und Ideen mit uns geteilt und gemeinsam mit uns nach Antworten gesucht haben. Es ist immer wieder ermutigend festzustellen, wie viele kritische Stimmen und widerständige Haltungen es doch gibt. Hoffentlich lässt sich dieses Potential langfristig bündeln, um weitere Wege für eine solidarische und emanzipatorische Soziale Arbeit zu finden. 3 The Voice ist eine 1994 gegründete Selbstorganisation und sowohl Forum als auch politisches Netzwerk im Protest gegen soziale und rechtliche Ausgrenzungen von Geflüchteten. The Voice fordert durch unterschiedliche Protestformen wie Demonstrationen, Kampagnen, Konferenzen und andere Formen die Beendigung diskriminierender Praktiken. Mehr Informationen finden sich unter: http://www.thevoiceforum.org [Zugriff: 15.07.2017]. 4 Wir folgen der kritischen Darlegung Tobias Piepers (2008) und verwenden den Begriff ‚Lager‘, um darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Begriff bis 1982 auch von politischer Seite verwendet wurde und die Ausgestaltung entsprechender Unterkünfte eine zentrale Funktion innerhalb der rassistischen Kampagne zur Aushebelung des Grundrechts auf Asyl einnimmt. Diese Funktion ist durch räumliche Segregation, staatlich forcierte Desintegration sowie symbolische Barrieren und materielle Zäune markiert. Weiterführend sei hier auf die Ausführungen
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Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
Zuteilung von Essen. Darüber hinaus werden eine Vereinfachung der Möglichkeit der Familienzusammenführung, ein Anspruch auf zertifizierte Dolmetscher*innen sowie qualifizierte kostenlose anwaltliche Beratung eingefordert. Die Forderung eines Bleiberechts (Abschiebestopps) geht einher mit einem Anspruch auf Zugang zu Bildung, professionelle Deutschkurse sowie Arbeitserlaubnisse. Bemerkenswert an diesen Forderungen ist, dass sie weitestgehend mit grund- und menschenrechtlich abgesicherten Rechtsgrundlagen einhergehen, d. h. eine Verwehrung dieser Ansprüche stellt zum Teil massive Verletzungen menschenrechtlich verankerter Rechtsansprüche dar.5 Nachdem die Besetzungen der Schule sowie des Oranienplatzes zunächst geduldet wurden, kam es ca. eineinhalb Jahre später unter erheblichen Gewaltausschreitungen seitens polizeilicher Kräfte zu deren Räumung. Bewohner*innen der Gerhart-Hauptmann-Schule wurden gezwungen, ihr Zuhause unter massiver Polizeipräsenz zu verlassen und in ihnen zugeteilte Lager zu ziehen. Das Räumungsszenario wirkte auf Bewohner*innen wie auf andere vor Ort anwesende, sich solidarisierende Menschen erschreckend: Aus dem Gebäude, von einer Vielzahl von Polizist*innen abgeschirmt, drangen Schreie, von der Schule heimkehrende Kinder wurden nicht zu ihren Eltern gelassen und Bewohner*innen, die sich zum Zeitpunkt der Räumung außerhalb des Gebäudes befanden, durften sich nicht mehr dem Gebäude nähern – auch nicht, um ihre Habseligkeiten zu packen. Eine Gruppe von Bewohner*innen und Unterstützer*innen protestierten auf dem Dach der Schule gegen die Räumung – zum Teil dazu bereit, von diesem in den Tod zu springen, sofern ihre Stimmen und Forderungen nicht endlich gehört und die zuvor mit dem Senat vereinbarten Absprachen erfüllt würden. Gebäude und anliegende Straßenzüge wurden bis zu einer fragmentarischen Einigung acht Tage lang in eine polizeilich abgesperrte Zone verwandelt.6 Nachdem einige der aus dem Schulgebäude geräumten Bewohner*innen zunächst in einem umfunktionierten Hostelgebäude in der Gürtelstraße unPiepers zur Spezifizierung des dezentralen halboffenen Lagersystems sowie eine kritische Diskussion zur Begriffsverwendung in Pieper (2008: 527ff.) verwiesen. Außerdem möchten wir an dieser Stelle erwähnen, dass wir lange überlegt haben, ob wir den Lagerbegriff verwenden möchten. Letztendlich haben wir uns mit Bezug auf Pieper (2008) dafür entschieden, da die Überlegungen dazu sehr differenziert sind sowie benennen, was bei anderen Begriffen wie z. B. Gemeinschaftsunterkünften unsichtbar bleibt. Dennoch ist uns bewusst, dass dieser Begriff, insbesondere im bundesdeutschen Kontext, eng mit der Shoah verknüpft ist. So ist es uns ein besonderes Anliegen, explizit zu betonen, dass wir uns von Gleichmachungen distanzieren. Unsere Entscheidung für eine Verwendung des Lagerbegriffs ist nicht frei von damit einhergehenden Ambivalenzen, die nach wie vor bestehen. 5 Siehe hierzu den Beitrag von Prasad in dieser Publikation. 6 Weiterführend siehe Presseschau: https://ohlauerinfopoint.wordpress.com/presseschau [Zugriff: 11.04.2017].
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Miriam Burzlaff & Naemi Eifler
tergebracht wurden, wiederholte sich einige Monate später ein ähnliches Szenario.7 Ebenfalls aus Protest bestiegen einige geflüchtete Menschen das Dach des Hostels. Die Situation verschärfte sich, indem nicht nur sämtliche Asylanträge abgelehnt wurden, sondern die Polizeitaktik nun auf Aushungern lassen und Abschirmung setzte: Polizeiliche Kräfte verbannten den sicht- und hörbaren Protest und verweigerten den Protestierenden Nahrung, Wasser, medizinische Versorgung und Strom (vgl. Burzlaff/Eifler 2015). Im Verlauf dieser angespannten Situation, die wir, die Autor*innen dieses Artikels, vor Ort miterlebten, hatten wir ein Schlüsselerlebnis: Eine Gruppe von Ärzt*innen erschien in Berufskleidung – in weißen Kitteln – vor der Absperrung und forderte, die Einsatzleitung sprechen zu können. Sie argumentierten sowohl mit Verweis auf die Menschenrechte als auch aus ihrer eigenen Profession heraus, dass die Protestierenden ein Recht auf Wasser, Nahrung und medizinische Versorgung hätten und ihnen als Ärzt*innen dementsprechend Zutritt zu gewähren sei. Dieser Moment machte uns bewusst, dass verschiedene Berufsgruppen aus der Ethik und Definition ihrer Profession heraus handeln und argumentieren. Denn nicht nur Mediziner*innen, sondern auch Anwält*innen versuchten, in dieser Situation mit den polizeilichen und politischen Kräften für die Rechte der Protestierenden zu verhandeln – ebenso konfessionelle Einrichtungen. Sie alle bemühten sich, zwischen Protestierenden und Räumungsverantwortlichen zu vermitteln. Dies vor Augen geführt, stellte sich uns die Frage, wie es um das Selbstverständnis Sozialer Arbeit steht: Denn obgleich überdurchschnittlich viele Sozialarbeiter*innen vor Ort waren, erfolgte ihrerseits keine entsprechende Handlung – und das, obwohl offensichtlich einer der Höhepunkte eines gesellschaftlichen Ausschlusses vor ihren Augen stattfand. Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass entsprechender Aktivismus nur selten mit einer sozialarbeiterischen Perspektive verbunden wird.8 Im Gegenteil: Eines der wenigen öffentlichen sozialarbeiterischen Statements banalisierte den Protest sogar, indem die Protestierenden infantilisiert wurden. So heißt es in einem Zeitungsartikel: „Der Sozialarbeiter, der die Männer, die jetzt auf dem Dach stehen, täglich betreute, spricht von einer Trotzreaktion“ (Kopietz/Mösken 2014: o. S.). Vor diesem Hintergrund entsteht die leitende Frage unserer weiteren Unternehmungen: Was ist der ‚weiße Kittel‘ Sozialer Arbeit? Zentral ist dabei die Überlegung, wie Solidarität mit marginalisierten Personengruppen (hier: mit Fluchtgeschichte) sowohl individuell als auch struk7 Weiterführend siehe Presseschau: https://guertelstrasse.wordpress.com/presse [Zugriff: 11.04.2017]. 8 Anders z. B. die studentische Initiative Grenzen weg: https://grenzenwegberlin.wordpress. com/category/archiv/schule-ohlauer [Zugriff: 09.04.2017].
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Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
Selbstverständnisse Sozialer Arbeit: eine Standortbestimmung
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turell in konkrete Handlungen mündet, d. h. die Definition und Berufsethik Sozialer Arbeit ‚mit Leben gefüllt‘ werden kann. Unsere (vorläufige) Antwort auf diese Frage setzt sich aus einer Praxis des Fragens, einem Denken in Utopien sowie Policy Practice zusammen. Bevor wir dies jedoch näher bestimmen, folgt zunächst eine grundsätzliche theoretische Verortung unserer Überlegungen und Antwortfindungen.
Unsere Grundannahmen basieren zum einen auf der Überzeugung, dass sich im Kontext von Flucht und Migration grundsätzliche (pädagogische) Fragen besonders deutlich zeigen (vgl. z. B. Mecheril et al. 2010). Dementsprechend sind die aufgeführten Fragen und Überlegungen keine, die sich ausschließlich auf das Themenfeld Flucht und Migration beschränken, sondern solche, die Soziale Arbeit in allen Arbeitsfeldern beeinflussen. Zum anderen verstehen wir, in Anlehnung an Antonio Gramscis Hegemonietheorie, Soziale Arbeit als „hegemonialen Kampfplatz“ (Hirschfeld 1999: 76) und somit als Teil von Regierungskünsten, die Hegemonie sichern (vgl. auch Kunstreich 2013). Nicht nur, aber insbesondere für das Feld der Sozialen Arbeit ist eine Unterscheidung zwischen privat und politisch in einem solchen Verständnis obsolet (vgl. Hirschfeld 1999: 72). Eine Soziale Arbeit, deren Praxisformen unpolitisch erscheinen, ist hingegen geradezu kennzeichnend für Praxen, in denen Hegemonie des Bestehenden gefestigt, der Status quo also aktiv bestätigt wird (vgl. ebd.: 80). Aus einer solchen Perspektive ist Soziale Arbeit damit sowohl „hegemonialer Kampfplatz“ (ebd.: 76) als auch ein „zentrales Instrument gesellschaftspolitischen Handelns“ (ebd.). In der Schlussfolgerung ist Soziale Arbeit immer ein politisches Feld – ob Soziale Arbeit hingegen über ein politisches Mandat verfügt, bleibt aus einer solchen Sichtweise heraus zunächst zweitrangig. Im Fokus steht hingegen, dass Sozialer Arbeit an der Schnittstelle zwischen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und staatlicher Institution maßgebliche Bedeutung im politischen Kampf um Hegemonie beikommt. Entsprechend kann diese nicht losgelöst von jeweiligen politischen Rahmenbedingungen, dem gesellschaftlichen Klima sowie politischen Akteur*innen betrachtet werden. Sozialarbeiter*innen müssen sich vielmehr fortwährend zu (sozial-) politischen Entscheidungen verhalten. Sie implementieren, (re-)produzieren, formen oder transformieren diese, bewegen sich also fortwährend in einem Spannungsfeld zwischen Bestätigung des Status quo und Kritik. Das professionelle Selbstverständnis bestimmt dabei maßgeblich, in welche Richtung die 349
politische Wirkmächtigkeit geht: Werden beispielsweise Asylgesetze verschärft, ist es eine Frage des sozialarbeiterischen Selbstverständnisses, ob die sich dahinter verbergenden Lücken zwischen Recht und Gerechtigkeit nicht nur aufgedeckt, sondern auch skandalisiert werden. Eine weniger kritische Auslegung des Selbstverständnisses hingegen führt mitunter dazu, dass ein weiteres Fortschreiten massiver sozialer Ausschließungen stillschweigend (mit-)getragen wird und sich Sozialarbeiter*innen an einer Implementierung der Gesetze beteiligen, indem sie z. B. an Abschiebeprozessen mitwirken und damit den hegemonialen Diskurs durch Konsens bestätigen. Aber Sozialarbeiter*innen verfestigen auch beispielsweise dann ungerechte Politiken, wenn sie in Unterkünften für geflüchtete Menschen zu Kontrolleur*innen werden und unhinterfragt Regeln, etwa Besuchsverbote, umsetzen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Miriam Burzlaff & Naemi Eifler
Kritische Interventionen bei Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen Es ist eine Aufgabe Sozialer Arbeit, bei Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen kritisch zu intervenieren. Ein solcher Auftrag ergibt sich aus der gemeinsam von der International Federation of Social Workers (IFSW) und der International Association of Schools of Social Work (IASSW) verabschiedeten, globalen Definition sowie dem dazugehörigen Code of Ethics Sozialer Arbeit, aus dem besondere Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten Sozialer Arbeit resultieren. So heißt es in diesen Dokumenten beispielsweise, dass „Soziale Arbeit [...] gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen“ (DBSH 2016: o. S.) fördert und „die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt“ (ebd.) dabei ihre Grundlage bilden. Ferner ist als Aufgabe und Ziel Sozialer Arbeit festgehalten, „das Wohlergehen [zu] verbessern“, d. h. nicht nur Leid zu mildern, sondern „Strukturen ein[zubinden]“ (ebd.) und Missstände in ihren Ursprüngen zu bekämpfen. Sozialarbeiter*innen sind dementsprechend dazu aufgerufen, sich in politisch-rechtliche Entscheidungen einzumischen und ungerechte, demütigende Gesetze, Politiken, Praktiken und Handlungsanweisungen entschieden zurückzuweisen. In den internationalen berufsethischen Prinzipien Sozialer Arbeit heißt es entsprechend, dass „[d]ie Professionsangehörigen [...] aufgefordert [sind], politische Prozesse zu initiieren und zu begleiten, aktiv an Planungsprozessen der Öffentlichen Hand mitzuwirken [...] sowie die hierfür benötigten Kräfte zu mobilisieren (ebd. 2014: 32). Hieraus ergibt sich der sozialarbeiterische Auftrag, bei Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen kritisch zu intervenieren und mittels politischer 350
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Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
Einflussnahme zu sozialen Transformationen im Sinne der Berufsethik beizutragen. An dieser Stelle wird deutlich, dass nicht nur Ansätze auf einer Mikro-, sondern auch auf einer – allzu oft unangetasteten – Makroebene im Fokus Sozialer Arbeit stehen. David G. Gil (2006) weist auf die elementare Notwendigkeit einer widerständigen Praxis Sozialer Arbeit hin, da soziale Probleme, die mittels Sozialer Arbeit bearbeitet werden sollen, „in der Regel von den herrschenden gesellschaftlichen Institutionen, Politiken und Werten verursacht werden und weniger von den Eigenschaften und Schwächen der Individuen“ (ebd.: 137). Voraussetzung einer Sozialen Arbeit, in deren Selbstverständnis sich Sozialarbeiter*innen als „Agent[*innen] einer fundamentalen Gesellschaftsveränderung“ (ebd.: 135) verstehen, ist dementsprechend eine Perspektive, die sich nicht auf eine Stillung von Symptomen konzentriert, sondern von diesen abstrahiert und nach ihren Ursachen forscht, um soziale Probleme in ihren Ursprüngen zu bearbeiten – was Soziale Arbeit, der Eigendefinition und Berufsethik nach, schließlich vorgibt, zu tun. Da die abgebildeten ethischen Standards jedoch oftmals unterlaufen werden (und zudem viele Sozialarbeiter*innen erst gar nicht über diese informiert sind), ist Soziale Arbeit nicht per se als eine Disziplin und Profession ‚im Sinne der Gerechtigkeit und des Guten‘ zu verstehen. Eher sind, wie die vorherigen Beispiele oder ein Blick in die Geschichte Sozialer Arbeit (vgl. z. B. Kappeler 2000; Kappeler 2011) zeigen, Sozialarbeiter*innen auch in erheblichem Maße an einer Bestätigung sowie Stabilisierung ungerechter, unterdrückerischer, demütigender und gewaltvoller Macht- und Herrschaftsverhältnisse beteiligt. Dies wird insbesondere begünstigt, wenn die Effekte der jeweiligen Arbeit ignoriert oder eigene Verstrickungen in Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet werden; gepaart mit der weitverbreiteten Überzeugung vieler in diesem Feld tätiger Personen, aufgrund ihrer Berufswahl allein ‚Gutes‘ bewirken zu können. Konsequenz nach Wolfram Stender und Danny Kröger (2013) einer solchen Lesart ist, dass Soziale Arbeit zu einem Beruf für „gutmütige Trottel ohne politische Urteilskraft“ (ebd.: 7) werden und, so Gil, als ein „raffinierte[s] Werkzeug zur Erhaltung des Status Quo [sic]“ (ebd.: 139) fungieren kann. Anstatt ein „Instrument der Veränderung“ (ebd.) zu sein, werden auf diese Weise hegemonial eingerichtete Ungerechtigkeiten sowohl durch stillschweigenden als auch durch ausführenden Konsens bestätigt. Unter dieser Prämisse nun ist einer (selbst-)kritischen Sozialen Arbeit besondere Relevanz beizumessen. Doch was können ihre Werkzeuge in Hinblick auf eine Unterstützung sozialer Transformationsprozesse sein?
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Miriam Burzlaff & Naemi Eifler
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Eine Praxis des Fragens und ein Denken in Utopien Ein Selbstverständnis Sozialer Arbeit, das auf der globalen Definition Sozialer Arbeit, den berufsethischen Standards sowie dem Gebäude der Hegemonietheorie aufbaut, setzt zunächst fortwährende (Selbst-)Kritik voraus. Damit gemeint sind „die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden [Hervorhebung i. O.], rücksichtlos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebenso wenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten“ (Marx 1976: 344) sowie die selbstkritische Frage danach, was in Hinblick auf Soziale Arbeit schiefläuft und schiefgelaufen ist. Davon ausgehend, dass gerade im Feld der Wissenschaft, Lehre und Praxis Sozialer Arbeit machtvolle Praktiken wirken und Kategorien (re-)produziert werden, muss eine konsequente Reflexion dessen verlangt werden, wie Soziale Arbeit herrschaftlich (mit-)regiert, wie sie eingebettet in strukturelle Gewaltverhältnisse ist und wo sie sich diskriminierender und ausschließender Handlungspraxen bedient. Als Werkzeuge der (Selbst-)Kritik möchten wir eine Praxis des Fragens (vgl. Castro Varela 2013), die Norm(alität)en und Wahrheiten (nicht nur) Sozialer Arbeit erschüttert sowie ein Denken in Utopien (vgl. ebd. 2007) vorschlagen. So gilt es im Sinne einer Praxis des Fragens, jegliche Autoritäten, Normalitätsverständnisse und Wahrheitsansprüche mit Fragen zu adressieren sowie kein Wissen, keine Macht- und Herrschaftsverhältnisse, keine gesellschaftliche Konstitution als ‚natürlich‘ gegeben, sondern in ihrer Mannigfaltigkeit als veränderbar zu begreifen. Damit sind Territorien, internationale, nationale und lokale Regulierungen, organisationale Handlungs(an)weis(ung)en, geltende Normen sowie subjekteigene Überzeugungen gleichermaßen gemeint. In einem Kritikverständnis, das die Wurzeln des Seienden angreift, ergibt sich als Konsequenz für jede Realisierung einer „vernünftigen Übergangspolitik“ (Gil 2006: 121), dass zum einen Einzelereignisse als historisch geworden erfasst und analysiert werden. Zum anderen ist in der Konsequenz Kritik „immer die Kritik einer institutionalisierten Praxis, eines Diskurses, einer Episteme, einer Institution“ (Butler 2001). Im Kontext der Proteste von Geflüchteten hätte dies eine öffentliche, aus der Disziplin Sozialer Arbeit heraus entstandene Skandalisierung bedeutet, wenn – wie geschehen – Menschen Wasser, Medizin und Nahrung verweigert werden. Zeitgleich wären Sozialarbeiter*innen dazu aufgefordert, zu hinterfragen, welche institutionellen Praxen ein solches Verweigern ermöglichen. Konkret wäre folgenden Fragen nachzugehen: Welche im Zusammenhang mit Flucht und Asyl stehenden Diskursstränge bewirken, dass ein solches Vorgehen die Zustimmung oder das Schweigen der Mehrheit der Bevölkerung erhält? Welche Episteme liegen einem Denken zugrunde, in dem Personengruppen mehr oder weniger Rechte zugestanden bekommen, je nachdem, welchen Herkunftsländern sie zugeordnet werden? Sowie: Welche 352
Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
Institutionen (Ausländerbehörde, Senat, Polizeibehörden, Bürgermeister*innen, Soziale Arbeit etc.) sind an der Herstellung dieser vorherrschenden Diskursstränge beteiligt, und inwiefern bedingen sie sich gegenseitig? Fragen, die einen Angriff auf Wahrheitsregime (Foucault) darstellen und sicherste Denkweisen erschüttern, können in diesem Zusammenhang zudem wie folgt lauten:
• • • Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Was sind die Funktionen von Grenzen und warum wird eine nationalstaatliche Regulierung von Flucht und Migration als notwendig erachtet? Wer kann sich (weitestgehend) frei bewegen und wer nicht? Welche Mechanismen und politischen Entscheidungen stehen dahinter? Wer trifft diese Entscheidungen, und auf welchen Argumentationsmustern basieren sie? Inwiefern besteht Gefahr, dass die Idee der Menschenrechte instrumentalisiert wird sowie Interventionen im Namen der Menschenrechte nicht per se im Sinne der Betroffenen sind?9
Oder aber: • • •
Wer entscheidet wann und wo über Inhalte, Handhabungen und Umsetzungen von Gesetzen? Warum und zu welchem Zeitpunkt werden Asylgesetze verabschiedet und/ oder verschärft? Was sind die Unterschiede zwischen Recht und Gerechtigkeit?
Zudem: • • •
Welche Funktion nimmt Soziale Arbeit innerhalb der globalen Migrationsgesellschaft ein, und welche Ziele werden damit (nicht) verfolgt? Was blendet die Definition und Berufsethik Sozialer Arbeit aus? Was ist in Hinblick auf strukturelle Unterdrückungs- und Exkludierungsmechanismen die Rolle Sozialer Arbeit?
9 Es kommt vor, dass z. B. zwischenstaatliche Verweise auf die Menschenrechte bzw. ihre Verletzungen dazu genutzt werden, um die Souveränität anderer Staaten anzugreifen‚ da dort gegen die Menschenrechte verstoßen würde. Somit werden diese zu Legitimierungsstrategien, die mitunter auch fragwürdigen Interventionen als Begründung dienen und Gefahr laufen, für die Ausübung von (massiven) Gewalttaten missbraucht zu werden oder zu einer Schwächung von Staaten führen und somit – unabhängig von der eigentlich ‚gutenʻ Intention – Auslöser für eine Verschlechterung der Lebenssituation vieler Menschen sein können. Um diesen unerwünschten Effekten entgegenzuwirken, empfiehlt es sich, entsprechende Interventionen nicht allein mit einem Bezug auf die relativ abstrakten Menschenrechte zu begründen, sondern sich auch einer Analyse des historisch-spezifischen Kontextes zu bedienen und konkrete (Un-)Rechtserfahrungen einzubeziehen (weiterführend dazu Spivak (2008)).
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Miriam Burzlaff & Naemi Eifler
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Was sind die (un-)erwünschten Effekte Sozialer Arbeit, und wer profitiert letztendlich (nicht) von ihnen? Warum soll Soziale Arbeit sogenannte Integrationsprozesse unterstützen, und was sind die damit verbundenen Ziele? Auf welchem Gesellschafts- und Menschenbild basiert das als professionell markierte Handeln? Für welche menschlichen Themen, Fragen und Situationen begreift sich Soziale Arbeit als (nicht) zuständig? Warum? Sind angestrebte sozialarbeiterische Interventionen von der Zielgruppe erwünscht und in ihrem Sinne? Können Klient*innen mit ihren Erfahrungen, Wünschen und Bedürfnissen überhaupt gehört werden?
Ziele dieser Auseinandersetzung und Fragen sind, neben einer Reflexion der eigenen Verstrickungen in Machtverhältnisse, eine Sensibilisierung für globale und politische Zusammenhänge. Aber auch auf ein Aufdecken von Widersprüchen und Paradoxien sowie eine Historisierung und Skandalisierung von Missständen zielt diese Praxis des Fragens ab. Letztendlich geht es in diesem Zusammenhang darum, (mehr) Spielräume für kritische Interventionen erkennen und nutzen zu können. Ein Denken in Utopien als zweites Werkzeug dient ferner dazu, Alternativen zu entwerfen und entsprechenden Interventionen eine Richtung zu weisen. Leitend ist dabei die folgende Frage: In was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Diese, auf gesellschaftliche Veränderungen abzielende Frage unterstreicht auch Gils (2006) Standpunkt, dass gesellschaftliche Änderungen „von Veränderungen im Bewusstsein der Menschen ab[hängen], das sich dahingehend wandeln müsste, alternative Handlungs- und Interaktionsmuster sowie alternative Beziehungen zu erkennen und voran zu bringen“ (ebd. 2006: 64). Utopisches Denken ist deshalb fruchtbar und notwendig, da Utopien „die Wahrheitsregime […] an[greifen], die vermitteln, dass es keine Alternative gebe, dass die bestehende Welt mit ihren Gesellschaftsordnungen nicht nur die beste, sondern auch die einzig mögliche sei“ (Affront 2011: 259). Bei einem Denken in Utopien handelt es sich also keinesfalls um banales plakatives Denken, sondern um die Möglichkeit, außerhalb üblicher, rigider Denkstrukturen und Normalitätskonstruktionen, Vorstellungen zu entwickeln. So ist utopisches Denken nicht nur ein ‚simples‘ Denken des vermeintlich Unvorstellbaren, Unmöglichen, gleichsam einer Illusion, sondern ist „[e]iner Utopie [...] partielle oder radikale Kritik des Gegebenen immanent“ (ebd.). Wie können aber nun die ‚Ergebnisse‘ einer Praxis des Fragens sowie eines Denkens in Utopien praktisch umgesetzt werden? Die Beantwortung dieser 354
Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
Frage führt uns zu folgender These: Mittels Policy Practice lassen sich die Definition und ethischen Standards Sozialer Arbeit in der Praxis verwirklichen.
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Policy Practice: Umsetzung der Vorgaben der Definition und Berufsethik Sozialer Arbeit in Handlungen Was ist unter Policy Practice zu verstehen? Der auf Bruce S. Jansson zurückgehende Begriff wurde im Jahre 1984 in den US-amerikanischen Diskurs um Soziale Arbeit eingeführt, um die Rolle von Sozialarbeiter*innen in der politischen Arena zu beschreiben. Hintergrund dessen war eine Debatte von politikorientierten Lehrenden in den späten 1970er Jahren der USA, die Soziale Arbeit und Sozialpolitik in einen engen Zusammenhang bringen wollten. Damit sollte der Tendenz entgegengewirkt werden, dass Sozialarbeiter*innen ungerechte, unterdrückende und diskriminierende Politiken10 lediglich als Kontext der zwischenmenschlichen Dilemmata ihrer Zielgruppen und damit außerhalb ihrer Verantwortung sehen (vgl. Wyers 1991: 242). Weiss-Gal und Gal definieren Policy Practice als sozialarbeiterische Interventionen, die einen integralen Bestandteil des professionellen Handelns ausmachen und verschiedenste Felder Sozialer Arbeit betreffen. Diese Interventionen zielen nicht nur darauf ab, auf organisationaler, lokaler, nationaler oder internationaler Ebene neue Politiken, die den Werten Sozialer Arbeit entsprechen, zu formulieren oder zu implementieren, sondern auch darauf, bereits existierende (Sozial-)Politiken zu verbessern (vgl. Weiss-Gal/Gal 2013: 4 f.; Übersetzung aus dem Englischen M. B.; Hervorh. durch M. B.).
Ein Engagement in Policy Practice erfordert dementsprechend eine sozialarbeiterische Haltung, die sich einer Individualisierung sozialer Notlagen widersetzt und dem Prinzip des Social Justice11 verpflichtet (vgl. z. B. Cummins et al. 10 Der aus dem Englischen mit ‚Politiken‘ übersetzte Begriff policies ist weit gefasst, und eine Gestaltung von Politiken kann dementsprechend verschiedenste Ebenen betreffen. So fällt unter Policy Practice ebenso eine Abschaffung, Veränderung und Neuentwicklung staatlicher oder internationaler Gesetze, Programme, Erlasse oder Regulierungen wie auch Interventionen, die auf Veränderungen lokaler, institutioneller oder organisationsspezifischer Politiken abzielen, also z. B. zu einem bestimmten Träger oder einer bestimmten Einrichtung gehören. Policy Practice zielt in diesem Fall auf Änderung oder Abschaffung spezifischer Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, formeller Dienstanweisungen oder auch informeller Absprachen, Praxen und Verfahrensweisen ab. 11 Bezugnehmend auf die Überlegungen von Leah Carola Czollek, Gudrun Perko und Heike Weinbach verwenden auch wir den durch Bewegungen in Großbritannien und den USA maßgeblich geprägten Terminus Social Justice – so wie es zudem im Original der Definition und Berufsethik Sozialer Arbeit (vgl. IASSW/IFSW 2014) heißt. Warum Social Justice nicht einfach mit ‚Soziale Gerechtigkeit‘ zu übersetzen ist, argumentieren Czollek et al. wie folgt: „Social Ju-
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2011; Jansson 2008) oder nach Bill Jordans (1990): „Clients are not isolated individuals, nor are their problems theirs alone“ (ebd.: 77). So lässt sich das zentrale Grundverständnis, auf dem Policy Practice basiert – und das zugleich das bereits thematisierte Grundverständnis Gils (2006) widerspiegelt –, folgendermaßen beschreiben: Politiken sind oftmals nicht nur Ursache für soziale Probleme bzw. beeinflussen diese, sondern sie sind gleichzeitig auch ein entscheidender Faktor zur Behebung dieser. In Hinblick auf diese Feststellung wird schnell deutlich, warum es von elementarer Relevanz ist, dass sich Sozialarbeiter*innen, die mit von Flucht betroffenen Menschen arbeiten, in ihre Zielgruppe betreffende, politische Entscheidungsprozesse einmischen. Dies impliziert, beispielsweise zum Asylrecht Stellung zu beziehen, sprich das Methodenrepertoire Sozialer Arbeit zu erweitern, auch politisch zu wenden und nicht Klient*innen, sondern – wie von der Definition und Berufsethik postuliert – Politiken verändern zu wollen. Bei Policy Practice geht es also darum, aus der Profession heraus Einfluss auf interne (wie z. B. Vorgesetzte) und/oder externe politische Entscheidungstragende zu nehmen und Regelungen sowie Verfahrensweisen, die sich positiv auf die Lebensbedingungen und das Wohlergehen von Zielgruppen Sozialer Arbeit auswirken, einzustellen, einzuführen oder zu implementieren. Legitimiert wird eine entsprechende Intervention beispielsweise durch das Prinzip Sozialer Arbeit „Ungerechte politische Entscheidungen und Praktiken zurück[zu]weisen“ (DBSH 2014: 31). Aktuelle Beispiele für Policy Practice stellen die überwiegend von in Lehre und Forschung Sozialer Arbeit Tätigen verfassten Positionspapiere oder Stellungnahmen dar (z. B. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016 oder DGSA Vorstand 2017). Nun könnte davon ausgegangen werden, dass auch Stellungnahmen verschiedener Arbeitskreise Kritischer Sozialer Arbeit (AKS) wie z. B. das Papier „Wir sind Sozialarbeiter*innen und keine Abschiebehelfer*innen!“ vom AKS München (2017), die „Stellungnahme des AKS Berlin zum Umgang mit Flucht, Migration und Rassismus“ (2015) oder das „Denkpapier: Solidarische Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen“ vom AKS Dresden (2016) unter Policy Practice fallen. Dies ist allerdings nicht eindeutig zu bejahen, da ein Großteil stice ist als Begriff aus den USA kommend nicht einfach ins Deutsche zu übersetzen. Denn die Übersetzung mit ‚Sozialer Gerechtigkeitʻ lässt aus, dass damit im deutschsprachigen Raum vorrangig Konzepte, Interventionen und Aktionen auf den Feldern der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, manchmal auch Generationenpolitik gemeint sind, die im Kontext der Bildungspolitik, mit Chancengerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit assoziiert werden. Damit sind nur Teilaspekte des Begriffs Social Justice beschrieben. Deshalb wird der Terminus Social Justice als partizipative Anerkennungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit mit seinen spezifischen politischen Inhalten und Intentionen beibehalten“ (Czollek, Perko, Weinbach 2012: 10). Bezug nehmen Czollek, Perko und Weinbach damit auf das Social-Justice-Konzept von Iris Marion Young (1990, 1996).
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Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
„[T]he term ‚policy practiceʻ refers specifically to professional activities that seek to change or promote social policies which are directly related to the specific problems of the service users and social groups with whom the social workers work. As such, these interventions are undertaken as part and parcel of the social workers’ daily practice in order to meet their service users’ needs or address their problems in a better way. […] [U]nlike civic voluntary political participation, policy practice refers to the inherently political activities that social workers do as part of their professional responsibility in order to affect policies that have an impact on service users, and it does not refer to social workers’ voluntary political activities as active citizens of the society of which they are part“ (Weiss-Gal/Gal 2013: 184). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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des Engagements in Arbeitskreisen Kritischer Sozialer Arbeit ehrenamtlich stattfindet12 und nicht per se in direkter Verbindung zu der jeweiligen Zielgruppe steht bzw. sich aus dem jeweiligen professionellen Auftrag ergibt:
Die tabellarische Darstellung der Kriterien, die – nach Weiss-Gal und Gal (2013) allesamt – zu erfüllen sind, fasst noch einmal zusammen, wann das professionelle Handeln von Sozialarbeiter*innen unter Policy Practice fällt: Tabelle: Kriterien Policy Practice (eigene Darstellung) Sozialarbeiter*innen sind in die Intervention involviert. Interventionen zielen auf eine Gestaltung von Politiken auf unterschiedlichen Ebenen ab (international, national, lokal, institutionell, organisational). Interventionen stehen im Einklang mit den Werten und der Berufsethik Sozialer Arbeit. Interventionen ergeben sich aus dem jeweiligen professionellen Auftrag. Interventionen nehmen direkten Bezug auf die Problemlage(n) der Klient*innen und tragen zu einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bei. Interventionen fallen nicht unter ehrenamtliches politisches Engagement, sondern sind dem Verantwortungsbereich Sozialer Arbeit zugehörig.
12 Dass Interventionen von Fachkräften Sozialer Arbeit, die auf gesellschaftliche Veränderungen abzielen, oftmals außerhalb der Lohnarbeit stattfinden, kann an dieser Stelle als symptomatisch für eine Kritik Sozialer Arbeit gelesen werden, die oftmals in Extra-Räume wie beispielsweise einen AKS ausgegliedert werden muss und nicht als integraler Teil des professionellen Selbstverständnisses verstanden wird. So bietet allein diese Diagnose Anlass, gegenwärtige Aufgaben Sozialer Arbeit kritisch zu reflektieren und sich intensiv mit der Frage zu beschäftigen, was ihre tatsächlichen (und nicht aufgrund der Definition und Berufsethik imaginierten) Rollen und Funktionen sind. Eine entsprechende Ortsbestimmung Sozialer Arbeit ist z. B. nachzulesen in Kessl (2013).
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Vier Punkte für eine kritische Praxis Sozialer Arbeit
Problemdefinition
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Nach den bislang erfolgten theoretischen Ausführungen wird nun der Frage nachgegangen, wie ein Theorie-Praxis-Transfer aussehen könnte. Diesbezüglich vorschlagen möchten wir das von uns im Rahmen von Workshops entwickelte vierstufige Verfahren Problemdefinition – Utopie – Berufsethik – Policy Practice (PUBPP).
Zunächst ist in Hinblick auf eine Praxis des Fragens folgende Fragestellung zu beantworten: Was läuft an meinem Arbeitsplatz schief? In welcher Situation fühle ich mich unwohl oder ärgere ich mich darüber, etwas tun zu müssen, das mir aufgetragen wurde? Stelle ich einen Interessenskonflikt fest? Was ist nicht mit der Definition und Berufsethik Sozialer Arbeit vereinbar, da es zu Ungerechtigkeiten, Unterdrückungen, Diskriminierungen und Demütigungen führt? Was sind Konflikt- und Dilemmasituationen und welche Mechanismen stehen dahinter? Ziel dieser Fragestellung ist zunächst die Entwicklung eines Problembewusstseins.
Utopie Daran anschließend steht ein Denken in Utopien im Mittelpunkt. Grundlage hierfür ist die Beantwortung folgender Frage: Was wären – ohne Schranken im Denken – die optimalen Bedingungen, unter denen die Problemsituation gar nicht erst entstanden wäre? Welche strukturellen Rahmenbedingungen gäbe es im Optimalfall nicht? Was hätte das für Auswirkungen auf interne Ausführungsregelungen? Ziel dieser Fragestellung ist eine Sensibilisierung für die Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Strukturen, die die Problemsituation überhaupt herbeiführen. Dieser Punkt ist auf die Grundhaltung von Policy Practice zurückzuführen und lässt nach den Politiken suchen, die hinter einem vermeintlichen Einzelfall stehen und zu Ungerechtigkeiten, Unterdrückungen und Diskriminierungen führen.
Berufsethik Dieser Punkt nimmt auf die Berufsethik Sozialer Arbeit Bezug und fokussiert eine Auseinandersetzung mit der Frage: Wie kann die Berufsethik dafür genutzt werden, um sozialarbeiterische Handlungsspielräume zu erweitern? Da358
raus folgt die Frage: Wie kann ich aus der Berufsethik heraus für oder gegen bestimmte Politiken und Praxen argumentieren? Welche geforderten Handlungspraxen kann ich zurückweisen? Wie kann ich auf strukturelle Rahmenbedingungen Einfluss nehmen? Diese Fragen zielen einerseits darauf ab, den Handlungsspielraum unmittelbar zu erweitern. Andererseits lässt ein Rückgriff auf die berufsethischen Werte und Prinzipien Sozialer Arbeit Kritik nicht zu einer ‚Frage des persönlichen Geschmacks‘ werden, sondern legitimiert sich aus der als Bezugs- und Referenzrahmen gesetzten Definition und Berufsethik Sozialer Arbeit.
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Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
Der abschließende Punkt des PUBPP-Verfahrens zielt darauf ab, die Situation mittels Policy Practice auf lange Sicht zu verbessern. Diesbezügliche Überlegungen sind: Wie können durch Policy Practice Handlungsspielräume langfristig erweitert werden, d. h. an welcher Stelle gilt es anzusetzen? Welche Strategien erweisen sich hierfür als sinnvoll (Lobbying und Politikberatung, Politikanalyse, Reform mittels Gerichtsverfahren etc.), und welche politischen Ausdrucksformen können von wem genutzt werden (Demonstrationen, Positionspapiere, Stellungnahmen, Gesetzesentwürfe etc.)? Ferner ist zu klären, an welche Institutionen sich gewendet werden und mit welchen Gruppen (Selbstorganisationen, Gremien, Arbeitskreise/-gruppen, Vertreter*innen anderer Professionen etc.) sich zusammengeschlossen werden könnte, um die Wirkmächtigkeit zu erweitern. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang außerdem den Medien zu, die dafür genutzt werden können, um Missstände zu skandalisieren und den Druck auf politisch Verantwortliche zu erhöhen. Bei diesem Punkt gilt es also, Antworten auf die Fragen zu finden, welche Politiken und Praxen (interne Regulierungen) abgeschafft, verändert und/oder eingeführt werden müssten, damit die Lebensbedingungen der Zielgruppe langfristig verbessert werden, sowie zu überlegen, über welche Wege dies am besten möglich ist. Die Vorgehensweise des PUBPP-Verfahrens wird im Folgenden beispielhaft illustriert:
Problemdefinition Ein aktuelles Beispiel aus der Asylsozialberatung: Im März 2017 droht das Bayerische Sozialministerium in der Asylsozialberatung tätigen Akteur*innen mit einer Streichung der finanziellen Mittel, sofern geflüchtete Menschen über legale (!) Anwendung von Rechtsmitteln be-
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raten würden (vgl. AKS München 2017). Es wird also „dezidiert [gefordert], positive rechtliche Möglichkeiten in Beratungen zu verschweigen“ (ebd.). Eine auf diese Situation bezugnehmende Problemdefinition kann lauten: Aufgrund der Drohung des Ministeriums gerate ich unter Druck, eine Entscheidung für die Art meiner Beratung zu treffen: Berate ich im Sinne des Ministeriums, unterlaufe ich professionelle Standards; vielleicht auch eigene ethische Standards, indem ich die ratsuchende Person nicht umfassend über alle Möglichkeiten aufkläre, um eine informierte Entscheidung im Kontext einer drohenden Abschiebung zu treffen. Gleichzeitig gehe ich das Risiko einer Einstellung der Finanzierung ein, sofern ich mich an die ethischen Standards meiner Profession halte. Dies hätte nicht nur Folgen für mich persönlich, sondern für den Träger der Einrichtung und für die Ratsuchenden. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Utopie In der Utopie bliebe es allen Menschen gleichermaßen überlassen, darüber zu entscheiden, wo sie – wie und mit wem – (nicht) leben möchten. Dies impliziert zugleich nicht nur Bewegungsfreiheit für alle, sondern auch, dass es keine Fluchtursachen mehr gäbe, d. h. sich die Welt durch globale Gerechtigkeit auszeichnen würde. Außerdem würden alle Menschen über gleiche Rechte verfügen und sie wären – abseits jeglicher Kriterien – als vollwertige, zu respektierende Mitglieder einer Gesellschaft anerkannt. Auch hätte ich als Sozialarbeiter*in in der Utopie die Möglichkeit, allein fachlich zu entscheiden, ohne finanzielle Zwänge. In der Utopie gäbe es dementsprechend keine sogenannten Rückführungen oder Abschiebungen, und diesbezügliche ‚Beratungsangebote‘ wären unnötig.
Berufsethik In den berufsethischen Prinzipien heißt es, dass „Sozialarbeiter_innen [...] die körperliche, psychische, emotionale und spirituelle Integrität und das Wohlergehen einer jeden Person wahren und verteidigen“ (DBSH 2014: 30) sollen. Außerdem sind Sozialarbeiter*innen dazu angehalten, „[s]olidarisch [zu] arbeiten“ und dafür zu sorgen, dass „ihre Fertigkeiten nicht für inhumane Zwecke wie Folter und Terrorismus missbraucht werden“ (ebd.: 31). Dies bedeutet, dass „Sozialarbeiter_innen [...] die Pflicht haben, sozialen Bedingungen entgegenzutreten, die zu sozialem Ausschluss, Stigmatisierung oder Unterdrückung führen. Sie sollen auf eine einbeziehende Gesellschaft hinarbeiten“ (ebd.). In Hinblick auf diese Prinzipien Sozialer Arbeit wird also schnell deutlich, warum die Aufforderung des Bayerischen Sozialministeriums unhaltbar ist: Sozialarbeiter*innen sind nach Auslegung der Berufsethik nicht nur dazu aufgefordert, 360
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Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
umfassend über alle rechtlichen Möglichkeiten aufzuklären, sondern auch durch ein Aufdecken von Lücken und Widersprüchen Handlungsspielräume zu erweitern und für eine inklusive Gesellschaft einzutreten. Demzufolge können sie sich nicht für Ausschließungsprozesse einspannen lassen und/oder diese durch eine Vorenthaltung von Möglichkeiten unterstützen. Vielmehr ist hinsichtlich einer solidarischen Sozialen Arbeit Kreativität gefordert – nicht aber Gesetzeshörigkeit. Auch bezugnehmend auf das Prinzip „Ungerechte politische Entscheidungen und Praktiken zurückweisen“ (ebd.: 31) ist diese Forderung des Ministeriums unbedingt zu skandalisieren und abzulehnen – wie beispielsweise durch den AKS München und den DGSA-Vorstand erfolgt. Unterstützung suchende Menschen haben einen Anspruch auf umfangreiche Beratung und Aufzeigen von Alternativen (vgl. auch Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016).
Policy Practice Da die Finanzierung und damit die Gewährleistung der Beratungen in diesem Beispiel akut gefährdet ist, sind im Folgenden Überlegungen notwendig, wie strategisch vorgegangen werden kann. Es empfiehlt sich daher, sich mit anderen Trägern und Berufsgruppen zusammenzuschließen und gemeinsam das Schreiben des Bayerischen Sozialministeriums zu skandalisieren. Ein Anfangsbeispiel hierfür sind die Stellungnahmen des AKS München (2017) und des DGSA-Vorstands (2017). Derartige Stellungnahmen ermöglichen es, auch anonymisiert und unmittelbar Position beziehen zu können, ohne das Risiko einer Kündigung eingehen zu müssen. Darüber hinaus könnten innerhalb von Lohnarbeitszeit- und -raum Zusammenschlüsse stattfinden, die ähnliche öffentliche Stellungnahmen verfassen und deren Vertreter*innen an Gesprächen mit politischen Abgeordneten teilnehmen, um sie über ihr berufsspezifisches Wissen zu informieren. Denkbar ist zudem die mediale Skandalisierung des Schreibens des Bayerischen Sozialministeriums aus sozialarbeiterischer Sicht. Ziel der Bemühungen muss nach den Kriterien von Policy Practice sein, dass ungerechte Praktiken wie das Unterschlagen von Bleibemöglichkeiten langfristig abgeschafft werden und sich Sozialarbeiter*innen Aufforderungen wie diesen geschlossen widersetzen – damit es eben kein Einzelfall bleibt, wenn dem Schreiben des Bayerischen Sozialministeriums nicht nachgekommen wird, sondern stattdessen allgemeinverbindliche Standards eingeführt werden.
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Zusammenfassung und Ausblick Soziale Arbeit stand schon immer vor der Herausforderung, nicht mittels Normalisierung, Disziplinierung und/oder Kontrolle und Zwang Erfüllungsgehilfin sozialpolitischer Programmatiken zu sein und ungerechte, unterdrückende Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren. Soziale Arbeit im Kontext von Flucht und Migration führt besonders drastisch vor Augen, welche Praktiken auf unterschiedlichsten Ebenen untragbar sind – was nicht bedeutet, dass es ansonsten ‚besser‘ ist, sondern lediglich weniger sicht- und spürbar. Diese ‚neuen‘ Sichtbarkeiten sozialer Probleme und globaler Ungerechtigkeiten bieten zugleich die Möglichkeit dazu, Perspektiven (kritischer) Sozialer Arbeit noch einmal neu zu verhandeln sowie Strategien für kritische Interventionen (weiter) zu entwickeln. Und das Interesse daran scheint groß; dies zeigt sich nicht zuletzt an der Vielzahl von Angeboten und Veranstaltungen zum Themenkomplex Flucht und Migration auf verschiedenen Ebenen. Die hohe Resonanz sowie das Bedürfnis, etwas tun zu müssen, werden allerdings oftmals begleitet von Ratlosigkeit, Überforderung und dem Gefühl, Einzelkämpfer*in zu sein. Zudem wird nahezu fortwährend von Teilnehmer*innen thematisiert, dass das Studium der Sozialen Arbeit zu unkritisch sei und nahezu keine Methoden zur politischen Einflussnahme vermittelt würden – einzelne Lehrende hingegen berichten, es gäbe nur sporadisch Interesse von Studierenden an einer entsprechenden Ausrichtung des Studiums. Hier scheint es auch regionale Unterschiede zu geben. Deutlich erkennbar ist allerdings ein hoher Bedarf an einer Lehre, die diese Lücken schließt, sowie an (weiteren) Zusammenschlüssen und gegenseitigem Austausch, der beispielsweise dafür genutzt werden kann, um sich über Best-Practice-Beispiele zu informieren und gemeinsame Strategien zu entwickeln; aber auch dafür, Dilemmata sowie eigene Verstrickungen in gesellschaftliche und politische Diskurse zu erkennen, zu reflektieren und, sofern möglich, zu bearbeiten. Die Notwendigkeit einer Etablierung solcher Räume möchten wir an dieser Stelle bekräftigen: Für eine widerständige, kritische Soziale Arbeit, die sich an ihrer Eigendefinition und Berufsethik orientiert, sind Sozialarbeiter*innen gefordert, die über die ethischen Standards der Profession informiert sind und diese diskutieren, die sich (mit anderen Berufsgruppen) zusammenschließen sowie Strategien zur politisch-rechtlichen Einflussnahme entwickeln und erproben – mit dem Ziel, die eigene Wirkmächtigkeit zu erhöhen und auf ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit hinzuwirken. Denn nur dann, wenn wir uns gemeinsam auf unsere professionellen Standards berufen und diese konsequent als Grundlage unseres Handelns etablieren, lassen sich Handlungsspielräume nachhaltig erweitern.
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Über Selbstverständnisse, Kritik und Politik Sozialer Arbeit
Eine Perspektive ist es, das Potenzial der Berufsethik vermehrt zu nutzen und dabei gleichzeitig zu bedenken, was durch die Definition und Prinzipien Sozialer Arbeit unauflösbar bleibt: Sozialarbeiter*innen bewegen sich stets in einem Spannungsfeld zwischen Bestätigung des Status quo und Kritik, weshalb sie einerseits auf Social Justice hinwirken können, gleichzeitig aber auch immer Handlanger*innen des bestehenden Systems sind. Aus dieser Verstrickung gibt es (zumindest bei der derzeitig gängigen Finanzierung Sozialer Arbeit) kein Entkommen. Eine kritische Soziale Arbeit jedoch setzt sich zur Aufgabe, sich daraus ergebende Widersprüche und Grenzen aufzudecken und diese langfristig zu bearbeiten. Sie gibt sich die Aufgabe, Spielräume zu erweitern und diese voll auszuschöpfen und gleichzeitig Praxen konsequent zu verweigern, die (nicht nur) aus berufsethischer Perspektive untragbar sind. So schließen wir diesen Beitrag mit einem Statement vom AKS München, das zwar keine Antwort auf die Frage liefert, was der ‚weiße Kittel‘ Sozialer Arbeit ist, jedoch klar Position bezieht: „Wir sind Sozialarbeiter*innen und keine Abschiebehelfer*innen!“ (ebd. 2017).
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Maxi Obexer
Reflexion über die Entstehung der beiden Theaterstücke „Das Geisterschiff“1 und „Illegale Helfer“2
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Ziviler Ungehorsam: Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist?
Als die Fischer von Portopalo auf Sizilien Leichen und Leichenteile in ihren Netzen fanden, warfen sie diese wieder ins Meer zurück. Im Dorf wussten alle davon. Sie wussten auch von dem Unglück, bei dem 283 Menschen ums Leben gekommen waren. Es war am Weihnachtsabend 1996, im Fernsehen lief ein kurzer Bericht dazu. Danach hüllte man sich in Schweigen. Die in den Netzen gefundenen und über Bord geworfenen Toten wurden einfach verschwiegen. Fünf Jahre vergingen. Dann aber sollte es doch noch öffentlich werden. Ein Fischer fuhr nach Rom und überreichte die eingeschweißte Identitätskarte eines 16-jährigen Jungen der linken Tageszeitung „La Repubblika“; er hatte sie Jahre zuvor im Fischernetz gefunden und fand seither keine Ruhe mehr. Die Zeitung ließ sich die Koordinaten geben und schickte eine Unterwasserkamera auf den Meeresboden. Dort, in 107 Metern Tiefe, entdeckten sie schließlich das Wrack des Fischkutters mit der amtlichen Kennzahl F147. Die Bilder gingen um die Welt. Petitionen von Künstler_innen, Schriftsteller_innen, Gelehrten und einer breiten Zivilgesellschaft wurden verfasst und an die Regierung geschickt. Sie alle wollten das Boot heben lassen, die Toten identifizieren und eine Gedenkstätte errichten. Vergeblich. Die Berlusconi-Regierung konnte sich nicht dazu durchringen bzw. erklärte sich nicht zuständig, schließlich läge der Fischkutter knapp außerhalb der italienischen Hoheitsgewässer. Entsprechend wurden auch keine Totenscheine ausgestellt und keine Benachrichtigung an die Angehörigen der Toten erstellt. Unter ihnen waren viele Jugendliche, die aus Pakistan und Sri Lanka von ihren Eltern voller Hoffnung nach Europa geschickt worden waren. Die Angeklagten in diesem medialen Prozess waren die Fischer. Sie wurden die ,pescatori cannibali‘ genannt, die ,Kannibalenfischer‘, Fischer also, 1 http://www.m-obexer.de/theaterstuecke/theaterstuecke_14_das_geisterschiff.htm [Zugriff 29.03.2017] 2 http://www.hansottotheater.de/spielplan/spielplan/illegale-helfer/867/ [Zugriff: 29.03.2017]
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Ziviler Ungehorsam: Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist?
die Fische fischten, die zuvor menschliche Überreste verdaut hatten. Doch die Legende stimmte nicht. Oder nur zur Hälfte. Die Fischer, mit denen ich sprach und die zu sprechen bereit waren, erzählten etwas anderes: Sie hatten die menschlichen Überreste der Küstenwache überbracht. Diese hatten sie fortgeschickt mit der Weisung: „Was sollen wir damit? Verschwindet. Werft sie ins Meer zurück, aber lasst Euch nicht noch einmal damit blicken!“ Wenn hier jemand richtig gehandelt hatte, dann waren es die Fischer, die die Leichenteile der Behörde überreicht hatten. Sie wussten offenbar, was sich unter Menschen gehörte und dass auch Leichen noch menschliche Würde besaßen. Die Handlanger des Gesetzes wussten es offenbar nicht. Während meiner Recherche machte ich einen weiteren ,Fund‘ bzw. es waren die Fischer, die mich auf die Fährte brachten. Ein Fischer hatte 150 Geflüchtete, die in Seenot geraten waren, auf sein Schiff aufgenommen und an die Küste gebracht. Er tat es, nachdem er stundenlang auf die Behörden gewartet hatte, diese nicht kamen. Während der langen Stunden der Warterei kreiste lediglich einmal ein Polizei-Hubschrauber über ihnen. Die Lage war bekannt, es wurde aber entschieden, nichts zu unternehmen. Erst als der Fischer mit den 150 erschöpften Menschen an Land kam, wurde gehandelt: Sie brachten den Fischer ins Gefängnis, beschlagnahmten sein Boot und drohten mit dem Entzug seiner Fischereilizenz. Er wurde wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung angeklagt. Nach der Logik der Verschärfung der Gesetze zur illegalen Einwanderung scheint die Lebensrettung von Menschen zweitrangig. Genau an dieser Stelle zeigt sich, welche Verachtung die national geprägte Sicht den Menschen zukommen lässt, die nicht den Status nationaler Zugehörigkeit besitzen. Doch nicht nur das: Auch international formuliertes Recht wie das Gebot zur Seenotrettung wird, wo es um nationale Interessen geht, missachtet. Der Fischer handelte gemäß dem internationalen Gebot zur Seenotrettung; hätte er nach nationaler Rechtsprechung gehandelt, wäre ihm wegen unterlassener Hilfeleistung seine Lizenz als Fischer entzogen worden – abgesehen davon, dass das Berufsethos eines Fischers gebietet, Menschen in Not zu retten. Und abgesehen davon, dass es am Ende auch eine Gewissensfrage ist: Kann ein Mensch tatenlos an anderen vorbeifahren, die um ihr Leben bangen? Nun sollte ihm seine Lizenz entzogen werden, weil er half! Die Inhaftierung des Fischers sollte abschrecken, und genau dies wurde erreicht. Fischer machten seither große Bögen um Boote, auf denen sie Geflüchtete vermuteten. Jene jedoch, die die Unterstützung nicht verwehrten, die in direkte Berührung mit den Menschen kamen, ihnen direkt ihre Hilfe angeboten haben, versicherten unisono, dass sie es jederzeit wieder tun würden. Auf wessen Seite steht der Staat? Wohin führen uns Gesetze, die menschliches Handeln kriminalisieren? Wohin führen sie uns als Menschen, wohin 367
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Maxi Obexer
als Gesellschaft? Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist? Und wenn wir aufhören, menschlich zu denken und zu handeln und wir es nicht bemerken, dass wir aufgehört haben? Im Theaterstück „Geisterschiff “ zeigen sich Menschen, die sich um Kopf und Kragen reden, Figuren, denen der Durchblick zum Genuinen, Menschlichen längst abhandengekommen ist, auch – oder gerade – aufgrund der Tatsache, dass sie eine Schuld auf sich geladen haben, die sie nicht bereit sind, zu konfrontieren. Eine Schuld, die menschlich, persönlich lastet und innerhalb einer Dorfgemeinschaft wirksam wird. Um es nicht zu vergessen: Es war der Staat, der sie ihnen aufgeladen hatte. Der Zwiespalt zwischen Staat, nationaler Gesetzgebung, internationaler Gesetzgebung und dem persönlichen, menschlichen Gewissen und damit der Widerspruch zwischen legitimen oder legalem Handeln beschäftigten mich weiter. In den verschiedenen Inszenierungen von „Das Geisterschiff “ lernte ich Leute aus dem Publikum kennen, die mich auf eine weitere Spur brachten, nämlich auf sie selbst und auf ihr Tun und Handeln. Und ich bemerkte, dass es viele von ihnen gibt. Menschen, die genau wissen, dass der Staat, dass unsere europäischen Staaten im vermeintlich nationalen Interesse operieren und im Zweifel nicht davor zurückschrecken, all denen, die genau von dieser nationalen Gesetzgebung ausgeschlossen sind, jedes Recht zu verwehren. Und die ihnen auch die Rechte verwehren, die dafür geschaffen wurden, dass sie allen gehören, darunter Menschenrechte. Ich lernte eine ganze neue Welt kennen, die im Verborgenen operiert, operieren muss, denn ihre Hilfe und Unterstützung für diejenigen, die keine Rechte haben, schreckt vor den Grenzen der Gesetze nicht zurück, findet in der Grauzone statt oder ist gänzlich illegal. Menschenrechtler_innen, Menschenrechtsaktivist_innen, die europaweit, weltweit vernetzt sind und die das nötige Korrektiv darstellen gegenüber unseren Staaten, deren Politik im Asylrecht versagt. Ich fand, dass diese verborgene Welt sichtbar gemacht werden musste, dass es wichtig ist, nicht nur das Entsetzen zu zeigen, sondern unsere tiefen Konflikte und diejenigen Menschen, die bereit sind, sich zu konfrontieren, die eine Haltung zeigen, die handeln. Und die beweisen, dass Handeln jederzeit möglich ist. Daraus entstand das Theaterstück und Hörspiel „Illegale Helfer“, in denen Menschen aus allen Altersgruppen, Berufen und sozialen Schichten portraitiert sind. Sie alle gehen Risiken ein in ihrer täglichen Hilfe und Unterstützung. Für sie alle ist es außerdem ein täglicher Protest gegen die Unmenschlichkeit des Staates – ein Protest, der sich nicht nur auf der Straße und auf der Demo äußert, sondern im konkreten Handeln. Sie organisierten Orte, wo Menschen für 18 Monate untertauchen können, um einer Dublin-Rückführung zu entkommen, sie bieten medizinische Hilfe an, die Menschen ohne 368
legalen Status vor der Abschiebung schützt; sie studieren die Bescheide, legen Berufungen ein, suchen nach den Lücken und versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Sie kämpfen und sie erleben dieselbe Paranoia, dasselbe Bangen und wissen doch auch, dass diejenigen, die betroffen sind, immer noch viel schlimmer dran sind. Auf die Frage, ob er Angst hatte, als er zum ersten Mal einen Mann über die deutsche Grenze brachte, um ihn vor der Abschiebung zu bewahren, antwortet der junge Mann: „Angst hatte ich eigentlich nicht. Ich musste ja nur den Kopf nach rechts drehen, um zu sehen, wer da Angst hatte.“
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Ziviler Ungehorsam: Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist?
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Aktivist*innen-Kollektiv Erszebeth Szabo
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Refugee Konvoi – Schienenersatzverkehr als ziviler Ungehorsam Mehr als 100.000 Menschen waren im Sommer 2015 über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn, nach Österreich, Deutschland, Skandinavien und andere Länder unterwegs. Die Bilder des Flüchtlingslagers im ungarischen Rözke und die Situation am Bahnhof Keleti in Budapest traf das emotionale Gewissen vieler Österreicher*innen. Die Aussagen der Politik, nun stärker gegen Schlepper*innen vorgehen zu müssen, konnte nicht mehr von der Tatsache ablenken, dass auch innerhalb der europäischen Grenzen Tränengas und Schlagstöcke gegen Menschen eingesetzt wurden, die auf der Flucht waren. Am 31. August 2015 demonstrierten 20.000 Menschen auf den Straßen Wiens für eine humanere Asylpolitik – viele von ihnen riefen auch nach einer Öffnung der Grenzen. Zur gleichen Zeit wusste sich die ungarische Regierung nicht mehr anders zu helfen, als Geflüchtete in Zügen nach Wien weiterzuschicken. Mehr als 3000 waren es in dieser Nacht. Vor dem Wiener Westbahnhof demonstrierten Tausende Menschen, Hunderte Freiwillige, viele von ihnen selbst ehemals Geflüchtete, arbeiteten gemeinsam mit ÖBB-Angestellten und sogar der Polizei zusammen, um den Ankommenden ein Gefühl des „Willkommen-Seins“ zu vermitteln und den Menschen ihre gewünschten Weiterfahrten zu ermöglichen. Diese emotional-aufrüttelnden Erfahrungen und die Tatsache, dass die ungarische Regierung am 1. September den Bahnhof in Budapest für Flüchtende wieder sperren ließ, waren die Ausgangslage dafür, dass viele Menschen gleichzeitig ein und dieselbe Idee hatten: selbst zu Fluchthelfer*innen zu werden. Am Rande einer Pressekonferenz für ein Kunstfestival am Vormittag des 2. Septembers beschlossen drei Menschen, einen Auto-Konvoi von Budapest nach Wien zu organisieren, im Laufe des Tages stießen weitere drei dazu. Um 22.30 Uhr desselben Tages trafen sie zusammen und um 3.00 Uhr nachts ging die Facebook-Seite „Refugee Konvoi. Wien–Budapest. Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ online. Aufgerufen wurde dazu, am Sonntag, den 6. September 2015, gemeinsam nach Budapest zu fahren, um Menschen gratis und sicher nach Wien zu bringen. Als Kollektivname wurde „Erszebeth Szabo“ gewählt, benannt nach einer weithin unbekannten ungarischen Antifaschistin.
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Refugee Konvoi
Eine wahnwitzige Idee, so schien es, ohne Logistik, ohne Organisation und alles vor dem Hintergrund, dass in allen Staaten der EU auf Schlepperei hohe Haftstrafen stehen. Die Tatsache, dass sich binnen 48 Stunden mehr als 3000 Menschen in den sozialen Medien zur aktiven Fluchthilfe bekannt haben, hat sicherlich auch bei den politisch Verantwortlichen Eindruck hinterlassen. Die Ankündigung bewirkte dreierlei: Erstens fühlten sich jene bestätigt, die bereits private Fluchthilfe leisteten, zweitens wurde Dublin III über diese öffentliche Selbstermächtigung zusätzlich infrage gestellt und drittens wurde die partielle Ohnmacht der staatlichen Ordnung nicht nur gegenüber den neu Ankommenden, sondern auch gegenüber den eigenen Staatsbürger*innen spürbar und sichtbar. Wieder gaben die Menschen auf der Flucht den Takt vor, indem sie sich am Samstag, den 5. September, knapp nach Mittag zu Hunderten zu Fuß vom Bahnhof Keleti in Budapest in Richtung Österreich zu Fuß auf den Weg machten. Ihre große Zahl, ihre Entschlossenheit und ihre Friedfertigkeit erinnerten an große historische Bürger*innenrechtsbewegungen. Der „Refugee Konvoi“, der kurz zuvor noch vor einer möglichen Absage stand, griff das Signal auf. Am 6. September 2015 um 11.00 Uhr vormittags versammelten sich Menschen in 170 Fahrzeugen (darunter ca. 40 Pressevertreter*innen) am Parkplatz des Wiener Praterstadions, darunter viele Menschen, die noch nie politisch aktiv gewesen waren. Die Polizei zeigte sich kooperativ und geleitete den Konvoi mit österreichischen, deutschen, ungarischen und italienischen Kennzeichen bis zur Stadtgrenze. Das weltweite Medieninteresse war selbst für die Aktivist*innen erstaunlich. Neben ungarischen und österreichischen Journalist*innen berichteten u. a. auch CNN, BBC, Al Jazeera und deutsche, italienische und spanische Radio- und Fernsehstationen in mehreren Liveübertragungen über das Ereignis und schützten damit alle Beteiligten. Für die Einzelnen war es ein mutiges Zeichen von Zivilcourage oder, wie es eine Teilnehmerin ausdrückte: „die letzten 15 Jahre habe ich Kleider gespendet, der Konvoi gab mir die Gelegenheit mal mehr zu tun“. Die 170 Autos, die an diesem Tag 380 Menschen aus Hegyeshalom, Vámosszabadi und Budapest sicher und unbehelligt nach Wien brachten, waren keine Gruppe, sondern ein unbescholtener Querschnitt der österreichischen Bevölkerung, der an diesem Tag bewusst und öffentlich in zwei Staaten ein strafrechtliches Delikt beging, um Menschen auf der Flucht zu helfen. Das war die Sensation, bei der die Medien live dabei sein wollten. Das Bestechende daran war, dass die Aktion nicht im Gestus der Rebellion inszeniert war, sondern als Selbstverständlichkeit. „Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ hatte an diesem Tag ordnungspolitische Regeln suspendiert, die ungarische Polizei war auf Tauchstation, kümmerte sich nicht einmal darum, dass der Konvoi die Verkehrsregeln einhielt. Es schien uns, als hätte der Konvoi eine Tarnkappe auf. Die deutsche Wochenzeitung „Die Welt“ meinte sogar 371
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Aktivist*innen-Kollektiv Erszebeth Szabo
zu wissen, dass der Konvoi und dadurch ausgelöste diplomatische Verwirrungen die Grenzöffnungen erst ausgelöst hätten (vgl. Kálnoky 2015: o. S.). Solche Analysen verkennen aber die aktive Rolle der Geflüchteten selbst. Sie sind Opfer von grausamen Kriegen, hier jedoch in Europa wollen sich viele nicht auf diese Rolle beschränken lassen, oder, wie es einer der Helfer am Westbahnhof mal ausdrückte: „Ich will nicht mehr ständig Flüchtling oder Refugee genannt werden. Wir sind Newcomer, wir sind die Neuen bei euch.“ Der Konvoi war nur das Spiegelbild dieser Haltung. Solidarische Menschen in 170 Autos, die den Neuen ein Stück ihrer Flucht angenehmer, menschlicher gestalten wollten. Die Entschlossenheit der Newcomer führte zu einer je individuell entschiedenen aber kollektiv zur Schau gestellten Selbstermächtigung, Gesetze zu ignorieren, um sie zu verändern. Der Konvoi fand in den Tagen darauf viele Nachfolger. Aus Amsterdam, Leipzig, Berlin, Graz und zumindest vier weiteren Städten sind organisierte Fahrten bekannt, die allesamt unbehelligt blieben. Die staatlichen Ordnungsprinzipien haben sich aus ihrem Taumel aber schnell wieder erholt. Grenzregistrierungen, Grenzkontrollen, Transportlogistik und Abschiebungspolitik wurden nicht nur in Österreich schnell wieder auf noch härteren Kurs gebracht. Eine strafrechtliche Verfolgung gegenüber den Initiator*innen wurde initiiert (vgl. Monroy 2015: o. S.), aber keine_r der Beteiligten wurde schlussendlich tatsächlich angeklagt. Mobilität, offene Grenzen und sichere Fluchtrouten werden aber auch die nächsten Jahre als bestimmendes Thema die Diskussion prägen. Stärkere Militarisierung der Grenzkontrollen und Registrierungszentren, die fast zynisch „Hotspots“ genannt werden, und der fremdbestimmte Versuch der Verteilung der Schutzsuchenden auf die EU-Länder, sind die hilflos anmutenden Versuche der EU, ein Regulierungsregime zu errichten. Der „Refugee Konvoi“ brachte jedoch einander fremden Menschen eine gemeinsame Erfahrung, die uns auch staatliche Ordnungssysteme nicht mehr wegnehmen können. Innerhalb eines kurzen historischen Zeitfensters haben wir erlebt, wie es wäre in einer Welt zu leben, in der sich Menschen selbst bestimmt frei bewegen können und wir einfach selbstverständlich menschlich handeln.
Literatur Kálnoky, Boris (2015): Wer die historische Grenzöffnung wirklich auslöste. In: „Die Welt“ vom 17.09.2015. Monroy, Matthias (2015): Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Refugee-Konvoi und Fluchthilfe-Webseite. https://www.cilip.de/2015/11/06/staatsanwaltschaft-ermitteltgegen-refugee-konvoi-und-fluchthilfe-webseite/ [Zugriff 29.03.2017]. 372
Urte Böhm, Elène Misbach, Silvia Oitner & Bettina Völter
Einleitung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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alice solidarisch an der Alice Salomon Hochschule Berlin: Von einer innovativen Praxis zu sozialen Innovationen?
alice solidarisch wurde anlassbezogen und in Anlehnung an andere ASHLabel – wie alice gesund, alice macht schule, alice in the field – gewählt, um sichtbar zu machen, dass und wie sich die Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH Berlin) deutlich zu den gesellschaftlichen Herausforderungen des Sommers 20151 verhalten wollte und verhält: Sie nimmt ihre gesellschaftliche Verantwortung als Hochschule wahr und stärkt damit solidarische Haltungen und Entwicklungsperspektiven. Das Stichwort alice solidarisch bewährte sich im Folgenden als Label für das im Prozess entstehende und immer wieder reflektierte Gesamtkonzept, in dessen Rahmen neue Formen und personelle Konstellationen der Zusammenarbeit entstehen und Neues gewagt werden konnte. Dies gelang u. a. deshalb, weil es auch den Willen zum Ausdruck bringt, den derzeit gesellschaftlich hegemonialen ,Krisen‘-Diskurs nicht zu bedienen und im eigenen Handeln zu verdoppeln, sondern sich der gesellschaftlichen Herausforderungen in ihrer Komplexität und in ihren Spannungsfeldern engagiert anzunehmen. Vor dem Hintergrund von restriktiver Migrationspolitik, Rassismus und Rechtsextremismus bewegen die ASH Berlin in diesem Verständnis von engagierter Hochschule und kritischer Wissenschaft Analysen, Kritik und Solidarität. Eine konsequente Weiterentwicklung ist, neue Durchlässigkeiten 1 In den ersten zehn Monaten des Jahres 2015 migrierten laut EU-Kommission fast 700.000 Menschen auf der Balkanroute von Griechenland nach Zentraleuropa. Viele von ihnen mussten aufgrund von Krieg, Gewalt, ihrer sexuellen Orientierung, politischer oder religiöser Verfolgung ihre Herkunftsländer verlassen. Aufgrund einer Ausnahmeregelung und temporären Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Deutschland Anfang September 2015 sind viele Menschen auf der Flucht von Ungarn über Österreich (zunächst) weiter nach Deutschland und in andere Länder (Nord-)Europas migriert. Diese historische Entwicklung ist in die politik- und sozialwissenschaftlichen Diskurse auch als „langer Sommer der Migration“ (vgl. Kasparek/Speer 2015) eingegangen. Zu diesem Zeitpunkt der Hochphase der Ankunft von Geflüchteten stellte die Aufnahme und Versorgung der geflüchteten Menschen auch den Bezirk Marzahn-Hellersdorf und die hier angesiedelte Hochschule vor neue Herausforderungen hinsichtlich der Frage, wie eine solidarische Inklusion grundsätzlich und im lokalen Gemeinwesen gelingen könne.
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Urte Böhm, Elène Misbach, Silvia Oitner & Bettina Völter
z. B. im Studium (Böhm 2015: 30) zu schaffen und auf eigene Weise und im positivsten Sinne Gewohntes zu irritieren.2 Ziel von alice solidarisch war und ist zum einen die Sichtbarmachung und Bündelung von Expertise und Aktivitäten von Hochschul- und Praxisakteur*innen in Bezug auf die Themen rund um Flucht, Migration, Asyl, Inklusion, Rassismus, Rechtsextremismus sowie antirassistische und emanzipatorische Initiativen. Durch die einmalige Struktur und durch vielseitige Formate ermöglichte diese Initiative zum anderen neue gemeinsame Denkrichtungen, neue Vernetzungen, Projekte und Ergebnisse. Ein für die konkrete Umsetzung und den Erfolg von alice solidarisch besonders wirksames Format war die „Fokuswoche“: Vom 18. bis 22. Januar 2016 wagte die ASH Berlin etwas Ungewöhnliches und bislang wohl auch Einmaliges in der Hochschullandschaft: Sie lud zu einer Fokuswoche mit dem Titel alice solidarisch – Die ASH Berlin engagiert sich ein. Die Devise dieser intensiven Bildungswoche war: „Kontakt aufnehmen, Potenziale einbringen, Perspektiven entwickeln!“3. Hintergrund und Thema waren die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit Flucht, Migration und Rassismus. In diesem Beitrag erläutern wir das Konzept dieser Fokuswoche. Wir stellen dar, wie es dazu kam und welche strategischen Ziele damit verfolgt werden konnten. Unsere These ist, dass zum einen die Fokuswoche selbst in sich eine „soziale Innovation“ darstellt, zum anderen rund um dieses Veranstaltungsformat eine Reihe von anhaltenden Prozessen sozialer Innovationen hervorgingen. Insofern kann die Fokuswoche im Rückblick als zentrales und wesentliches Element unter vielen Aktivitäten gesehen werden, die heute an der ASH Berlin unter das Label alice solidarisch gefasst werden. Wir beschäftigen uns schließlich mit den strategischen Zielen eines solchen Unterfangens und enden mit Schlussfolgerungen und einem Aufruf bzw. einer Einladung an Akteur*innen aus Praxis und Hochschulen.
2 Dies kann zum einen beinhalten, fachliche Spezialisierungen stärker mit studiengangsübergreifenden und inter- bzw. transdisziplinären Perspektiven zu verknüpfen und Kooperationen zwischen den Studiengängen zu stärken. Ferner bieten sich solche Lehr- und Studienformate an, die Durchlässigkeiten und Kooperationen zwischen Hochschule und (Zivil-)Gesellschaft im Sinne von Campus-Community-Partnerschaften und Engagement von Student*innen fördern sowie kollaborative Formen der Wissensproduktion im Sinne von grenzüberschreitenden Lerngemeinschaften stärken. Nicht zuletzt ist hier die Frage nach dem „Wie“ eines chancengerechten, inklusiven wie diskriminierungs- und barrierefreien Zugangs zu Hochschule sowie den Strukturen und Abläufen wie z. B. Lehr- und Lernformate zu fokussieren. 3 Mehr zur Fokuswoche: Böhm et al. 2016a: 47ff.und 2016b: 100f.; online unter: https://www. ash-berlin.eu/fileadmin/Daten/alice-Magazin/2016/alice_32_WEB.pdf [Zugriff: 30.08.2017].
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alice solidarisch an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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1. alice solidarisch – Format und Struktur eines lebendigen Umschlagplatzes für innovative Praxen Die Fokuswoche kann als Kern und gleichsam ‚Inkubator‘4 von alice solidarisch gelten. Eine Woche lang hielt die ASH Berlin inne. Auf Beschluss des Akademischen Senats konnte in dieser Woche der gesamte Unterricht aller Studiengänge durch Angebote der Fokuswoche ersetzt und geöffnet werden. Die Kräfte und Expertisen von Lehrenden, Student*innen und Mitarbeiter*innen der Hochschule konnten auf neue Weise ein- und zusammengebracht werden. Die Hochschule öffnete sich explizit für die Stimmen und Perspektiven von Geflüchteten, Expert*innen aus Initiativen, Migrant*innen-Selbstorganisationen sowie der beruflichen Praxis. Ziel war, sich zu hören und miteinander in einen Dialog zu treten, um neue Lösungen für die nachhaltige Inklusion von Menschen mit Fluchterfahrung zu entwickeln. Die Akteur*innen der Fokuswoche traten gegen Exklusion, Rassismus und Gewalt in unserer Gesellschaft ein und machten Vorschläge dazu, wie die Professionen Soziale Arbeit, Pflege-, Gesundheits- und Therapieberufe sowie Kindheitspädagogik entsprechend weiterentwickelt werden können. Als Hochschule mit emanzipatorischem Anspruch fragte die ASH Berlin darüber hinaus danach, welche inhaltlichen und strukturellen Entwicklungen die Studiengänge und Professionen der Sozialen Arbeit, Gesundheit und Bildung brauchen, um sich aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen zu stellen. Der Großteil der 70 Veranstaltungen, die aus Workshops, Vorträgen, Filmen, Ausstellungen, Theater, Tanz und Bewegungseinheiten sowie (Rechts-) Beratungs- und Supervisionsangeboten bestand, wurde in Kooperation von Lehrenden, Student*innen, Menschen mit Fluchterfahrung, Vertreter*innen bezirklicher und berlinweiter Einrichtungen, NGOs und Fachverbänden konzipiert sowie eigenverantwortlich organisiert und durchgeführt. Dabei wurde die Lehre durch die benannten Formate ersetzt bzw. geöffnet, um allen Hochschulangehörigen die Teilnahme zu ermöglichen. Student*innen konnten Veranstaltungen zum Teil bereits im Rahmen ihrer regulären Lehrveranstaltungen vorbereiten. Manche durften die Durchführung einer Veranstaltung schließlich zusätzlich als Prüfungsleistung während der Fokuswoche erbringen. Für viele Akteur*innen aus der Praxis war es durch die offizielle Einladung der Hochschule zu dieser Großveranstaltung möglich, eine Freistellung durch die 4 Der aus der Medizin kommende Begriff ,Inkubatorʻ wird nicht selten im Bereich Unternehmensgründungen, Start-ups, Social Entrepreneurship verwendet, in dem es häufig auch um Innovationen verschiedenster Art geht. Gemeint ist damit die Bereitstellung eines Rahmens sowie einer Struktur, die die Entwicklung begleitet und unterstützt. Wir übertragen diesen Begriff hier auf den Bereich soziale Innovationen und setzen ihn in Bezug zu möglichen Unterstützungsstrukturen und Begleitung für die Entwicklung sozialer Innovationen.
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Urte Böhm, Elène Misbach, Silvia Oitner & Bettina Völter
Arbeitgeber*innen zu erhalten oder sich die Teilnahme als Fortbildung anerkennen zu lassen. Auch zahlreiche bezirkliche Akteur*innen nahmen aufgrund der Dringlichkeit der Thematik und der Einmaligkeit des Formates aktiv teil, das ihnen ermöglichte, alle wesentlichen Kooperationspartner*innen zu einem bestimmten Themenfeld an einem Tisch zu haben. Allen Anwesenden war es möglich, auf verschiedene Weisen ihre jeweiligen Perspektiven, Forderungen und Lösungsideen einzubringen, und so entstand im Rahmen der Fokuswoche die Chance, sich gegenseitig (neu) kennenzulernen, sich zuzuhören und an gemeinsamen Lösungen zu arbeiten. Die Lebendigkeit, aber auch die hohe Konzentration und Aufmerksamkeit, mit der in den verschiedenen Veranstaltungen gearbeitet wurde, sowie die Verve und Freude, mit der die Angebote genutzt wurden, waren beeindruckend. Besonders erfreulich war die hohe Beteiligung – auch von Menschen mit Fluchterfahrung. So haben zahlreiche Akteur*innen aus Initiativen sowie politische Aktivist*innen von Refugee- und Migrant*innen-Selbstorganisationen den Weg an die ASH Berlin gefunden und ihre Stimmen hör- und sichtbar eingebracht, um die Professionen Soziale Arbeit, Kindheitspädagogik, Pflege- und Therapieberufe in der Einwanderungsgesellschaft weiterzuentwickeln und dadurch für die Zukunft zu stärken. Im Laufe der Fokuswoche wurde die Hochschule zu einem lebendigen und interaktiven Umschlagplatz für fundierte Einschätzungen, Ideen, Projekte und Forderungen rund um die Themenschwerpunkte, die im Rahmen des vorbereitenden Hochschultages entwickelt wurden, die die jeweiligen Beiträge strukturierten und die im Programmheft der Fokuswoche in elf Themenfeldern für die Zuordnung der einzelnen Angebote transparent gemacht wurden: „1. Inklusionsstrukturen aufbauen – auf Augenhöhe 2. Rechtsgrundlagen, Ausschlüsse, Zugangsbarrieren und Grenzregime 3. Wohnen und selbstbestimmtes Leben – Wem gehört die Stadt? 4. Professionsentwicklung und Fachexpertise 5. Spannungsfelder solidarischer Unterstützung vs. Paternalismus 6. Recht auf und Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeit 7. Recht auf und Zugang zu Gesundheit 8. Unbegleitete Minderjährige Geflüchtete – UMF 9. Formen von und Umgang mit Rassismen, Ideologien der Ungleichwertigkeit und Bedrohungen sowie Gewalt 10. Globale und ökologische Fluchtursachen 11. Sozialkulturelle Angebote“ (alice solidarisch 2016, S. 5)
Damit verbunden, ging es um die Weiterentwicklung von Konzepten und das Sich-Positionieren und -Einbringen in entsprechende gesellschaftliche Diskurse.
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alice solidarisch an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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2. alice solidarisch – wie es dazu kam Im Rahmen einer Sitzung des Beirates des Projektes P.F.o.r.t.E. (Partnerschaftliche Förderung organisationaler, regionaler und transparenter Entwicklungszusammenarbeit)5 im Spätsommer 2015, in welchem Akteur*innen der Hochschule und des lokalen Gemeinwesens gemeinsam an Strategien zur Weiterentwicklung der Kooperationsbeziehungen arbeiten, stellte der Bezirksbürgermeister des Bezirks Marzahn-Hellersdorf6 eindrücklich die aktuelle Lage in Fragen der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten dar. Während er berichten konnte, dass durch das beeindruckende Engagement vieler Helfer*innen aus der Verwaltung und der Bürger*innenschaft die Unterbringung gewährleistet werden könne, schien ihm damals völlig offen, wie und ob die Inklusion von Geflüchteten im Bezirk gelingen würde. Angesichts dieser Situation für Gesellschaft, Bildung, Politik und die sozialen sowie Gesundheitsberufe konnte aus Sicht der anwesenden Hochschulangehörigen die ASH Berlin als größte Bildungseinrichtung im Bezirk nicht einfach weiter „business as usual“ machen. Aus der langjährigen Erfahrung heraus, dass Initiativen der Hochschule im Bezirk auch verhallen können, wenn sie nicht nachhaltig gewünscht und strukturell von der Verwaltung unterstützt werden, wurde der Bürgermeister gebeten, prüfen zu lassen, wo seitens der Bezirksverwaltung Unterstützung der Hochschule konkret gebraucht werden könnte, und die Ergebnisse als Ausgangspunkt einer entsprechenden Anfrage an die Hochschulleitung zu nehmen. Die darauffolgende offizielle Anfrage des Bürgermeisters an die ASH Berlin mit der Bitte um Unterstützung führte ihrerseits zu einem Aufruf der Hochschulleitung an alle Hochschulangehörigen, sich als Hochschule einzumischen, die Herausforderungen anzunehmen und die Potenziale der Hochschule nachhaltig einzubringen (Bettig et al. 2016: 18f.). Auch die darin enthaltene Wortwahl und die Vorschläge wurden aus negativer Erfahrung mit Top-down-Initiativen und ihren Wirkungen an der ASH Berlin nicht alleine von der Hochschulleitung formuliert, sondern waren zuvor sorgfältig abgestimmt mit unterschiedlichen Akteur*innen aus P.F.o.r.t.E., dem Koordinationskreis rund um die Präsenz und Aktivitäten der ASH Berlin in der Unterkunft Maxie-Wander-Straße7 sowie last but not least auch mit den Studiengangsleitungen. Auf diesen Aufruf wurde innerhalb der Hochschule mit großer Offenheit und großem Engagement reagiert, schließlich wurde die 5 Das Projekt P.F.o.r.t.E. wurde von 2015 bis 2017 durch das Programm „Campus & Gemeinwesen“ des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft gefördert: https://www.stifterverband.org/campus_und_gemeinwesen [Zugriff: 15.01.2017]. 6 Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist die ASH Berlin seit 1998 situiert. 7 Aufgrund der rechten Mobilisierung und Gewalt gegen die Einrichtung der ersten Unterkunft für Geflüchtete in Marzahn-Hellersdorf und deren Bewohner*innen im Jahr 2013 ist die ASH Berlin mit Lehrveranstaltungen und verschiedenen studentischen Aktivitäten vor Ort präsent.
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Urte Böhm, Elène Misbach, Silvia Oitner & Bettina Völter
Durchführung der Fokuswoche alice solidarisch und eines vorbereitenden – sowie im späteren Prozessverlauf: eines nachbereitenden – Hochschultags vom Akademischen Senat beschlossen. Organisiert, konzeptionell begleitet und unterstützt wurde alice solidarisch von einem Team, bestehend aus einer eigens eingestellten Koordinatorin für alice solidarisch, die gleichzeitig Koordinatorin des Campus-Gemeinwesen-Projekts P.F.o.r.t.E. war, sowie aus zwei Mitarbeiter*innen aus dem hochschuleigenen Zentrum für Innovation und Qualität in Studium und Lehre (ASH-IQ), welche an innovativen, inter-/transdisziplinären und studiengangsübergreifenden Lehr- und Lernformaten sowie Bildungsübergängen und Unterstützungsangeboten für Studieninteressierte und Student*innen aus einer diversityorientierten Perspektive arbeiten. Die leitende Verantwortung wurde von der Prorektorin für Forschung und Kooperationen übernommen. Diese besondere Konstellation ermöglichte eine produktive Zusammenarbeit und bündelte Kompetenzen und Ressourcen an der Hochschule und im Bereich Campus–Gemeinwesen–Partnerschaften. Das Vorhaben wurde durch die Hochschulleitungsebene voll unterstützt. Unsere These, dass die Fokuswoche sowie die Aktivitäten rund um das Format alice solidarisch an der ASH Berlin als soziale Innovationen verstanden werden können, wollen wir im Folgenden näher ausführen.
3. alice solidarisch als ‚Inkubatorʻ für soziale Innovationen „Soziale Innovationen sind neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere neue Organisationsformen, neue Regulierungen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und deshalb wert sind nachgeahmt und institutionalisiert zu werden“ (Zapf 1989: 177).
Wir möchten ergänzen, dass soziale Innovationen solche Aktivitäten oder Strukturen sind, die einen deutlich erkennbaren Mehrwert gegenüber dem hervorbringen, was zuvor möglich war, sie also einen konkreten „social impact“ (Salen 1984: vi) haben. Es gibt nun unserer Wahrnehmung nach auch ,Inkubatoren‘ von sozialen Innovationen, die zunächst soziale Innovationen in sich selbst sind, dann aber gleichzeitig auch neue soziale Innovationen in Gestalt von konkreten Maßnahmen und Projekten hervorbringen. Als solche verstehen wir heute rückblickend sowohl die Fokuswoche als auch das Gesamtkonzept von alice solidarisch.
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3.1 Gewohnte Handlungsschemata verlassen: transformatives Wissen schaffen und marginalisiertes Wissen einbeziehen Ein Kriterium dafür, die verschiedenen Aktivitäten im Kontext von alice solidarisch als soziale Innovationen zu betrachten, ist zunächst, ob es eine Suche nach Lösungen für komplexe gesellschaftliche Herausforderungen mit innovativen Arten der Interaktion und Kommunikation gab und gibt – also ein bewusstes Abweichen von gewohnten Handlungsschemata, Regelungen von Tätigkeiten und Prozederen der Hochschule (vgl. Gillwald 2000: 1). Ein weiteres Kriterium ist, ob sich daraus neue Organisationsformen entwickelten und entwickeln, bestenfalls mithilfe der Kooperation von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und Hochschulangehörigen. Diese sollten auf Augenhöhe und unter der Prämisse der Prozess- und Teilhabeorientierung gestaltet sein. Transdisziplinarität8 und das explizite Einbeziehen von im akademischen Diskurs marginalisiertem Wissen ist ein drittes Kriterium für soziale Innovationen. In diesem Kontext kann das produktive Ineinander-Auflösen verschiedener Perspektiven (Maihofer 2005: 185–202) als „critical device“ (Osborne 2011: 15) hin zu einer transformativen Praxisentwicklung fungieren, und zwar im Sinne einer Berücksichtigung und Stärkung von wissenschaftskritischen Perspektiven durch kooperative und kollektive Formen der Wissensproduktion, die marginalisiertes Wissen einbeziehen und transformatives Wissen hervorbringen sowie bestehende Normalitätsvorstellungen infrage stellen können.
3.2 Bottom-up- und Top-down-Strategien produktiv verschränken Begreifen wir soziale Innovationen über das Gesagte hinaus auch als „network-effort“ (van de Ven nach Gillwald 2000: 27) und „collective achievement“ (ebd.), ist es wichtig, darauf zu verweisen, dass das Format alice solidarisch vermutlich nicht so gut funktioniert hätte ohne die engagierte Beteiligung und produktive Kooperation der verschiedenen Akteur*innen in Hochschule und 8 Inter- und Transdisziplinarität können nach Kahlert in Zeiten gesellschaftlicher Umbruchsituationen als Motoren für die Produktion neuen Wissens fungieren (vgl. Kahlert 2005: 25ff.), welches transformatives Potenzial hat (transformatives Wissen). Transdisziplinarität kann als weitergeführte Form von Interdisziplinarität gefasst werden, die zum einen auf andauernde Kooperation angelegt ist und wirksam wird, wenn disziplinäre Lösungen von Problemlagen nicht möglich sind und darüber hinaus geführt werden (müssen). Disziplinäre Engführungen werden hinterfragt und gegebenenfalls aufgehoben und damit auch wissenschaftssystematische Ordnungen verändert. Transdisziplinarität lässt sich ferner durch den direkten Einbezug nicht-universitärer Akteursgruppen, „die von den Entscheidungsprozessen gesellschaftlicher Gestaltung ausgeschlossen sind“ (Hayn/Rummel 2002:2), also den expliziten Einbezug marginalisierten Wissens, bestimmen, wodurch emanzipatorisches Potenzial freigelegt werden kann.
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Zivilgesellschaft. Ein zentraler Anker für das Gelingen war ferner das starke partizipative Moment, mit dem Bottom-up-Initiativen unterstützt und gestärkt wurden sowie das Commitment der Hochschulleitung – also die produktive Verschränkung von Top-down- und Bottom-up-Strategien. Wesentlich zum Verständnis der in Abschnitt 4. „Konkrete Praxen – weiterführende soziale Innovationen“ ausgewählten Beispiele ist zudem, dass diese nicht nur als Ergebnis von alice solidarisch zu verstehen sind. Vielmehr hat es alice solidarisch durch das innovative trans- und interdisziplinäre Konzept ermöglicht, Themen und Herausforderungen, die bereits von Hochschulangehörigen und Praxispartner*innen unabhängig voneinander bearbeitet wurden, zu bündeln. Durch die Nutzung der verschiedenen Formate während der Fokuswoche wurde eine Neu- bzw. Weiterbearbeitung durch neue Kooperationen, Austauschforen oder auch den Anstoß von gemeinsamen Modellprojekten gefördert. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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3.3 social impact: Dauerhafte soziale Praxen versus kurzfristige ,Feuerwehr‘-Aktionen Begreifen wir den Aspekt des social impacts als einen zentralen Aspekt von sozialer Innovation, lässt sich die Frage stellen, inwieweit die Aktivitäten rund um alice solidarisch eben diesen gesellschaftlichen impact erzeugen konnten. Es geht hier um die Frage der Dauerhaftigkeit von sozialen Praxen im Gegensatz zu kurzfristigen ,Feuerwehr‘-Aktionen. Breiter gedacht lässt sich die Frage stellen, wie im Kontext von Hochschule und Campus-Gemeinwesen-Partnerschaften im Bereich der SAGE-Professionen Soziale Arbeit, Erziehung und Gesundheit (siehe auf S. 12) soziale Innovationen hervorgebracht werden können und welcher Strukturen es bedarf, um nachhaltigen gesellschaftlichen impact zu erzielen und sozialen Wandel herbeizuführen.
3.4 Gemäß Leitbild und Erfahrungswissen handeln Die ASH Berlin versteht sich als „Hochschule mit emanzipatorischem Anspruch“ und sieht sich „dem gesellschaftlichen Auftrag sozialer Gerechtigkeit und kritischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen verpflichtet“9. alice solidarisch kann als eine besonders lebendige, vielfältige und prozessorientierte Umsetzung dieses Leitbildes und Anspruchs verstanden werden. Damit wurde und wird ein wesentlicher Beitrag zur Wahrnehmung der ,Third Mission‘ der Hochschule geleistet. Hierbei handelt es sich um die
9 Leitbild der ASH Berlin; online verfügbar unter: https://www.ash-berlin.eu/hochschule/profil/ leitbild/ [Zugriff: 14.06.2017].
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Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung, über die Kernaufgaben Lehre und Forschung von Hochschulen hinaus (Henke et al. 2016). Ausgangspunkt vor der Initiierung von alice solidarisch war, dass es bereits zahlreiche – wenn auch teilweise noch vergleichsweise unverbundene bzw. strukturell unzureichend verankerte – Aktivitäten, ein hohes Engagement sowie seit vielen Jahren kontinuierliche Expertisen von ASH-Angehörigen im Themenfeld gab. Hierzu zählen entsprechende Schwerpunktsetzungen in der Lehre allgemein sowie Lehre in einer Unterkunft für Geflüchtete in sozialräumlicher Nähe zur ASH Berlin, Projekte mit Bewohner*innen der Unterkunft, öffentliche Ringvorlesungen unter dem Titel „global – lokal: Rassismen, Migration und Flucht, Rechtsextremismus“, antirassistische Arbeit, u. a. über die Antirassistische Registerstelle der ASH Berlin als Teil der Berliner Register10, und vieles mehr. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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4. Konkrete Praxen – weiterführende soziale Innovationen 4.1 Professionalisierung und Einhaltung von Standards in Gemeinschaftsunterkünften voranbringen Professor*innen (der ASH) haben im Vorfeld und im Rahmen der Fokuswoche ein bundesweit abgestimmtes Positionspapier „Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften – Professionelle Standards und sozialpolitische Basis“ (Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit 2016) verfasst, das im Anschluss an die Fokuswoche veröffentlicht wurde. Das Papier stellt Standards für die professionelle Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften auf, um Praktiker*innen in ihrer täglichen Arbeit eine Orientierung sowie Möglichkeiten des Widerstandes gegen Arbeitgeber*innen bei mandatswidrigen Forderungen zu geben. Diese Standards bieten eine wichtige Grundlage für Lehre, Praxis und Politik. Um die Professionalisierung Sozialer Arbeit mit Geflüchteten in ihrer Qualität voranzubringen, hat die ASH Berlin außerdem einen zertifizierten Weiterbildungskurs „Soziale Arbeit mit Geflüchteten – Möglichkeiten und Grenzen professionellen Handelns“ entwickelt, im Zuge dessen sich die aus der Praxis kommenden Teilnehmer*innen mit den Möglichkeiten und Grenzen professionellen Handelns in diesem Feld der Sozialen Arbeit auseinandersetzen, Fachkenntnisse vertiefen, Reflexionsfähigkeit erhö10 Die im Register Berlin zusammengeschlossenen bezirklichen Registerstellen dokumentieren rassistisch, antisemitisch, LGBTIQ-feindlich, antiziganistisch, rechtsextrem, rechtspopulistisch und andere diskriminierend motivierte Vorfälle, die sich in den Berliner Stadtbezirken ereignen. Die Abkürzung LGBTIQ steht für Lesbian-Gay-Bi-Trans-Inter-Queer: http://www.berliner-register.de/ [Zugriff: 15.01.2017].
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hen und Handlungsoptionen erarbeiten können. Neue Erkenntnisse, basierend auf den Praxiserfahrungen der Teilnehmer*innen, können wiederum in der Lehre berücksichtigt werden.
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4.2 Beschwerdesysteme und Gewaltschutzkonzepte in Gemeinschaftsunterkünften entwickeln Grobe Verstöße gegen Standards der Unterbringung sowie der Verdacht auf Unterlassung von Hilfeleistungen bei Gewaltvorkommen kommen in der Praxis – berlin- und bundesweit – immer wieder vor und machen deutlich, dass unabhängige Beschwerdesysteme sowie Gewaltschutzkonzepte in Unterkünften dringend notwendig sind. Beides soll modellhaft in einer Unterkunft in Marzahn-Hellersdorf entwickelt und auf weitere Unterkünfte übertragen werden können. Hintergrund hiervon ist, dass einige Mitarbeiter*innen der ASH im Winter 2015 und im Frühjahr 2016 zahlreiche Beschwerden von Bewohner*innen einer Gemeinschaftsunterkunft in unmittelbarer Nähe erhielten, die sich aufgrund massiver Standardbrüche in der Unterkunft an sie wandten. Das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf und die ASH Berlin haben sich darauf verständigt, gemeinsam an einem dezentralen Beschwerdesystem für Geflüchtete in Unterkünften zu arbeiten. Ein Entwurf eines möglichen Konzeptes wurde im Rahmen einer Bachelorarbeit erarbeitet (vgl. siehe den Beitrag von Janssen/ Ohletz in dieser Publikation). Erste Interviews mit Mitarbeiter*innen von Unterkünften haben bereits stattgefunden. Zudem soll gemeinsam ein Gewaltschutzkonzept für Frauen und LGBTIQPersonen erarbeitet werden. Um Gewaltvorkommen besser einordnen und darauf professionell reagieren und unterstützen zu können, ist zudem eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Gewalt gegen Frauen“ entstanden, die sich in Kooperation mit der ASH Berlin, der Gleichstellungsbeauftragten und des Arbeitskreises gegen häusliche Gewalt des Bezirks Marzahn-Hellersdorf vor allem an Praktiker*innen richtet.
4.3 Modellprojekt zur Zulassung von Geflüchteten ins Studium umsetzen Im Zuge der Fokuswoche haben sich verschiedene Gruppen mit der Frage des Hochschulzugangs für Menschen mit Fluchterfahrung auseinandergesetzt, wobei Vertreter*innen aller Studiengänge der ASH Berlin ein großes Interesse signalisierten, die Aufnahme gezielt zu fördern. Die ASH erarbeitete deshalb im Zuge eines Arbeitskreises sowohl von hochschulinternen als auch externen Akteur*innen und Refugee-Selbstinitiativen im Bildungsbereich ein Modell382
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projekt zur Zulassung von Menschen mit Fluchterfahrung ins Studium (Oitner/Völter 2016: 30–31; Oitner 2016: 4). Durch dieses Modellprojekt mit dem Namen ASH Pre-Study-Programm und Refugee Office wird es Studieninteressierten mit Fluchterfahrungen ermöglicht, sich über mögliche Bildungswege zu informieren und im Zuge der Teilnahme im Programm durch intensive Sprachkurse die Absolvierung erster Seminare sowie des obligatorischen Vorpraktikums auf den regulären Studieneintritt vorzubereiten. Der erste Kurs startete mit 18 Teilnehmer*innen im Oktober 2016. Viele Pre-Study-Teilnehmer*innen haben bereits eine höhere Bildung in ihren Ländern begonnen oder abgeschlossen. Sie sind in Deutschland in sozialen und Bildungsprofessionen beruflich und als Aktivist*innen verschiedener Refugee-Initiativen politisch tätig. Unterstützt werden die Teilnehmer*innen durch studentische Mentor*innen, die sie während des Programms bei Bedarf begleiten. Ziel ist es, gemeinsam auf einen Abbau der Hürden zur Aufnahme eines Studiums sowie einen Aufbau von Unterstützungsangeboten während des Studiums hinzuarbeiten. Gemeinsam mit den Teilnehmer*innen wird deshalb auch erhoben, wo sich Probleme und Hürden beim Eintritt ins Studium sowie im Verlauf ergeben, die hochschulintern bearbeitet oder aber an die zuständigen Stellen im Berliner Senat, der Ausländerbehörde, Arbeitsagenturen oder andere Institutionen herangetragen werden. So wurden bereits hochschulinterne Strukturen zur Zulassung von sogenannten Bildungsausländer*innen verändert sowie Forderungen zur Veränderung des Berliner Hochschulgesetzes sowohl an den Berliner Senat als auch an die Hochschulrektorenkonferenz herangetragen. Die Weiterentwicklung von inklusiven und diversityorientierten, antidiskriminatorischen Bildungskonzepten wie auch Lehr- und Lernformaten für Personen mit und ohne Fluchterfahrung wird in den kommenden Jahren dringend nötig sein. Auch ist angezeigt, als Bildungsinstitution Solidarität mit verfolgten Wissenschaftler*innen zu üben. Deshalb ist die ASH Berlin Mitglied von Scholars at Risk und verpflichtet sich, Akademiker*innen, die in ihren Herkunftsstaaten Verfolgung ausgesetzt sind, zu unterstützen. Derzeit ist es der ASH Berlin möglich, jeweils eine*n gefährdete*n Wissenschaftler*in in einer Post-doc-Position pro Semester an der Hochschule über eine eigens dafür reservierte Gastdozentur anzustellen. An einer Ausweitung der Unterstützungsstruktur wird gearbeitet, um auch die Inklusion von Personen im wissenschaftlichen Mittelbau vorhalten zu können.
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4.4 Antirassismus-Arbeit und Rassismus an Hochschulen als lokale und gesamtgesellschaftliche Herausforderungen angehen Die ASH Berlin zeichnet sich sowohl durch eine hohe fachliche Expertise als auch ein großes – u. a. auch ehrenamtliches – Engagement im Themenfeld (Anti-)Rassismus und Rechtsextremismus aus. So hat die ASH Berlin neben einer Professur zu Rechtsextremismus, eine Professur zu Migration/Rassismus und eine zu Rassismus und Diversity. Dies ist nicht erst seit den Debatten im Zusammenhang mit dem sogenannten Sommer der Migration 2015 so, sondern bereits seit vielen Jahren etabliert. Im Rahmen von alice solidarisch konnten die Kräfte und Aktivitäten, beispielsweise der Antirassistischen Registerstelle und des Arbeitskreises gegen Rechte Gewalt, an der ASH Berlin gebündelt und die gesamtgesellschaftliche sowie die lokale Auseinandersetzung mit Rassismus und Rechtsextremismus intensiviert werden (AK Rechte Gewalt et al. 2016). Darüber hinaus konnte beim Hochschultag alice solidarisch zur Nachbereitung der Fokuswoche im Rahmen eines hochschulübergreifend zusammengesetzten Podiums zum Thema „Rassismus an Hochschulen“ auch die Auseinandersetzung mit strukturellen Rassismen in Hochschulstrukturen und im Wissenschaftssystem angestoßen und aufgegriffen werden. Dies war zuvor noch zu wenig systematisch im Fokus von alice solidarisch: Hochschulen und das Wissenschaftssystem müssen sich fragen (lassen), inwieweit sie in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft entsprechende gesellschaftliche Diskurse und Praktiken selbst (re-)produzieren (vgl. Kuria 2015), ebenso wie entsprechendes Macht-Wissen sowie Privilegien und Ausschlüsse des Zugangs. Dies gilt es, immer wieder im Rahmen von Selbstreflexion und -befragung der eigenen Strukturen, Diskurse und Praktiken zu beleuchten und infrage zu stellen – gerade auch als in diesem Themenfeld engagierte Hochschule und Hochschul-Akteur*innen. Im Rahmen von alice solidarisch wurde ein konkreter Anstoß für diese zwingend nötige Auseinandersetzung gegeben und deutlich gemacht, dass entsprechende Antirassismus-Aktivitäten der strategischen und strukturellen Verankerung sowie zusätzlicher Ressourcen bedürfen. Angeregt wurde etwa die Einrichtung einer Antirassismus-Beauftragtenstelle mit dem Ziel, die antirassistische und Antidiskriminierungsarbeit an der Hochschule strukturell besser aufzustellen. Die (Re-)Produktion kanonisierten „weißen, männlichen, hegemonialen“ Wissens wurde ebenso kritisiert wie eine noch nicht hinlänglich implementierte Praxis inklusiver und diversityorientierter Lehr- und Lernformate. Von Student*innen-Seite wurde sehr deutlich eingefordert, dass die Curricula und Lehr-/Lernformate der Studiengänge diesbezüglich kritisch hinterfragt und weiterentwickelt werden müssen. Eine weitere Arbeit an dem Thema in den angestoßenen Projekten und Entwicklungen ist 384
dringend nötig und erfordert als gesellschaftliches Thema und strukturell relevante Querschnittsaufgabe einer diversityorientierten und „rassismuskritischen Hochschulentwicklung“ (Mecheril 2016) die Perspektive auf Diversity, Antidiskriminierung und Inklusion verschiedener Akteur*innen.11 Abschließend beschäftigen wir uns in diesem Beitrag mit den strategischen Zielen von Fokuswoche und alice solidarisch – und damit auch mit der hochschulpolitischen und strategischen Frage, ob ein solches Experiment im Sinne einer innovativen Hochschulentwicklung wiederholt oder gar verstetigt werden sollte und welcher Herangehensweisen sowie Ressourcen dies bedürfte.
5. Strategische Ziele Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Mit der Fokuswoche alice solidarisch hat die ASH Berlin strategische Ziele auf mehreren miteinander verknüpften Ebenen verfolgt und (größtenteils) umgesetzt. Es war erklärtes Ziel, neue Lösungen für die nachhaltige Inklusion von Menschen mit Fluchterfahrung zu entwickeln, also einen konkreten gesellschaftlichen impact zu erzielen. Schon bestehende sowie neu entwickelte innovative Praxen wurden im Rahmen der Fokuswoche alice solidarisch weiterentwickelt und sichtbar gemacht. Bereits existierende Kooperationen konnten hierfür intensiviert, neue erprobt und diese auf Augenhöhe gestaltet werden. Studentisches Engagement und Initiativen auf qualitativ hohem Niveau wurden gefördert und sichtbar gemacht sowie neue Formen curricularer Einbindung von Engagement in die Bildungsprozesse der verschiedenen Studiengänge sowie studiengangsübergreifend und inter-/transdisziplinär in ersten Ansätzen erprobt. Damit hat die Fokuswoche alice solidarisch neben der Entwicklung konkreter innovativer Praxen auch einen Beitrag zur Hochschulentwicklung und zur Professionsentwicklung in den sogenannten SAGE-Berufen – Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung – geleistet. Verbunden war dies mit der Auseinandersetzung um Rassismus an Hochschulen und in der (Aus-)Bildung. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die ASH Berlin als lernende Organisation mit dem Format Fokuswoche alice solidarisch studiengangs-, professions- und akteursgruppenübergreifend in inter- und transdisziplinären Prozessen Theorie, Praxis und gesellschaftliches Engagement zusammengebracht hat. Insgesamt wurde also ein Beitrag zur Strukturbildung und zur Wahrnehmung der ,Third Mission‘ geleistet. Hinsichtlich der Strukturbildung 11 Bearbeitung des Themas bald in Ha/Ha/Mesghena (im Erscheinen): Geschlossene Gesellschaft. Exklusion und rassistische Diskriminierung an deutschen Universitäten. Online verfügbar unter: https://heimatkunde.boell.de/geschlossene-gesellschaft-universitaet [Zugriff: 30.08.2017].
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ist damit ein Anfang markiert, den es in der zukünftigen Hochschulentwicklung weiter zu verfolgen gilt. Folgende strategische Ziele konnten, ausgehend von konkreten exemplarischen Projekten und Veranstaltungen, besonders gestärkt werden:
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gesellschaftliche Diskurse und Praxen mitgestalten, Leitbild der Hochschule weiterentwickeln, innere Kohäsion und Teilhabe aller Mitgliedergruppen sowie Außenwahrnehmung der Hochschule stärken, Hochschule als lernende Organisation weiterentwickeln, Beitrag zum Bildungsauftrag inklusive Hochschule und Auseinandersetzung mit Rassismus an der Hochschule sowie zu studiengangsübergreifender, inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit leisten, zur Studiengangs- und Professionsentwicklung beitragen.
Welche Konsequenzen und Schlussfolgerungen können wir aus den bisherigen Erfahrungen von alice solidarisch ziehen? Diese Fragen möchten wir im Fazit zusammenfassen und mit einem Aufruf bzw. einer Einladung an Akteur*innen aus Praxis und Hochschulen verbinden.
6. Fazit und Aufruf Es ist deutlich geworden, dass das Format alice solidarisch mit den zwei Hochschultagen zur Vor- und Nachbereitung sowie das Herzstück Fokuswoche als soziale Innovation betrachtet werden kann. Zudem lassen sich die aus der Fokuswoche heraus entwickelten Praxen als soziale Innovationen fassen. Unter welchen Bedingungen konnte dieses Experiment erfolgreich sein? Um uns möglichen Antworten zu nähern, möchten wir gelungene Aspekte des Prozesses als Voraussetzungen und auch zukünftige Orientierungshilfen hervorheben: Rezept des Erfolgs und der studiengangs- und personengruppenübergreifenden aktiven Aneignung und Mitwirkung waren: der Anlass deutlicher gesellschaftlicher Herausforderungen, zu denen die Hochschule – zumal mit ihrem Profil – mindestens auf fachlicher Ebene Stellung beziehen musste; die klare Befürwortung und Unterstützung durch die Hochschulleitung; die Bereitstellung eigener Ressourcen; die partizipativ und mehrperspektivisch organisierte Entwicklung von Beginn an – bereits auf der aufrufenden und auf der konzeptionellen Ebene; mehrere Stufen demokratischer Abstimmung in der Hochschule als selbstverwalteter Organisation; die solidarische Teilnahme und Teilhabe vieler Lehrender und der Verwaltung; ein großes Maß an eigenständi386
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ger Beteiligung durch Student*innen; die aktive Einbeziehung und Beteiligung von Menschen mit Fluchterfahrung und Refugee-Selbstorganisationen als Expert*innen und Partner*innen sowie die Einbeziehung vertrauter und neuer Kooperationspartner*innen der Stadtgesellschaft. Ein weiterer Grund für den Erfolg ist, dass hinter alice solidarisch ein interund transdisziplinäres Gesamtkonzept steht, das anlassbezogen und zunächst durch die Setzung der Hochschulleitung initiiert, dann aber im weiteren Prozessverlauf aus dem Potenzial und dem Problembewusstsein aller hochschulinternen- und -externen Beteiligten weiter entfaltet wurde. Zentral war auf beiden genannten Ebenen – Format und entwickelte Praxen – die geschaffenen Freiräume und neuartigen Dialog- und Kommunikationsorte und -formen aus den gängigen Prozederen ausgebrochen werden konnte. Weiterhin wurde von Anfang an partizipativ gearbeitet, und die verschiedensten Expertisen und Erfahrungen verschiedenster Akteur*innen wurden transdisziplinär miteinander verbunden, um auf der Suche nach gangbaren Lösungen neues, transformatives Wissen generieren zu können. Drittens waren dabei Dialog und Kommunikation sowie die Bereitschaft, einander zuzuhören, in gemeinsame Verstehensprozesse einzutreten, zudem produktiv zu streiten und die eigenen Praktiken und Strukturen kritisch zu reflektieren, zentrale Grundvoraussetzungen für das Gelingen und gleichzeitig Spezifika des Vorgehens. So ist alice solidarisch als kollektive Anstrengung und auch als kollektive Leistung zu begreifen – eine vierte wesentliche Voraussetzung, um Neues zu schaffen. Darüber hinaus ist die Beobachtung zentral, dass ein gesellschaftlicher impact angestrebt und zügig realisiert wurde. Aus alice solidarisch sind bereits sehr schnell Ergebnisse und Aktivitäten sowie Angebote entstanden, die konkrete Lösungen darstellen. Dieser Erfolg ließ aber auch offene Fragen zu. So kann und muss z. B. für die Campus-Gemeinwesen-Partnerschaften vor Ort noch über die weitere nachhaltige strukturelle Verankerung nachgedacht werden. Neben dem Ausloten von Möglichkeiten zur weitergehenden Verankerung des Modells Fokuswoche könnte an die Idee eines regelmäßig stattfindenden Campus-Gemeinwesen-Tages angeknüpft werden, der Angebote nicht nur entwickelt, sondern die Ergebnisse auch sichert und strukturell verankert sowie Ideen weiter vorantreibt – an der Hochschule ebenso wie im Gemeinwesen. Ein wesentliches Ziel müsste immer sein, das vielfältige Engagement der Student*innen und Lehrenden noch stärker als bisher mit Lehr- und Lernformaten zu verbinden. Was hat trotz des beschriebenen Erfolgs nicht gut funktioniert? Wo gab und gibt es Verbesserungs- und Handlungsbedarf? Sowohl im Prozessverlauf als auch in der Auswertung kam immer wieder die selbstkritische Frage auf, inwiefern die Bedarfsorientierung und Kommunikation des Vorhabens von 387
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alice solidarisch gegenüber Geflüchteten sowie interessierten Akteur*innen im Bezirk hinlänglich – oder von der Ausrichtung und Vorgehensweise möglicherweise doch zu hochschullastig – gewesen ist. So konnte der ursprüngliche konzeptionelle Ansatz, gezielt mit Veranstaltungen aus der Hochschule hinauszugehen in den Bezirk und in die Stadtgesellschaft, aufgrund von Mangel an Vorbereitungszeit nicht umgesetzt werden. Somit waren die Aktivitäten der Fokuswoche weitestgehend auf die Hochschule als Ort begrenzt – mit Ausnahme z. B. einer Filmreihe, die in Räumlichkeiten einer Jugendfreizeiteinrichtung in unmittelbarer Nachbarschaft der Hochschule stattfand. Auch die Festlegung des Zeitfensters zur Vorbereitung und Durchführung der Fokuswoche erfolgte – dem Zeitdruck geschuldet – alleine unter Berücksichtigung des akademischen Kalenders und Ablaufs sowie in Rücksprache mit den Gremien und Mitgliedergruppen der Hochschule. Mit einem längerfristigen Planungsvorlauf könnten frühzeitig alle beteiligten Akteur*innen auch in die zeitliche Planung einbezogen werden. Somit könnte eine höhere Beteiligung, z. B. von Akteur*innen aus dem Gemeinwesen sowie einschlägiger Fachverbände und Refugee-Selbstorganisationen und nicht zuletzt von Student*innen, im Rahmen von Lehrveranstaltungen erreicht werden. Inhaltlich hat sich deutlich gezeigt, dass die kritische Selbstreflexion und der Anschub von Prozessen zum Themenkomplex Rassismus an Hochschulen auf großes Interesse gestoßen ist – und es hier gleichzeitig weiteren Diskussions- und Handlungsbedarf gibt. Folgende Punkte möchten wir abschließend als Aufruf und zugleich als Einladung an Akteur*innen aus Praxis und Hochschulen formulieren: • • • • • •
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Praxis und Refugee-Selbstorganisationen sollten mutig und selbstbewusst Forderungen an Hochschulen stellen und sie auch in die Pflicht der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nehmen. Hochschulen sollten sich mutig und selbstbewusst in gesellschaftliche Diskurse und Praxen einmischen und sich politisch positionieren. Hochschulen sollten sich stärker öffnen für die Anerkennung von Wissen aus Praxis und Refugee-(Selbst-)Organisationen, sie sollte Aktivist*innen und deren Stimmen explizit in Konzeptionen einbeziehen. Hochschulen sollten Prozesse und Momente der kritischen Selbstbefragung hinsichtlich ihrer eigenen und dem Wissenschaftssystem immanenten Ausschlussmechanismen aktiv voranbringen. Produktiver Dissens ist möglich und kann genutzt werden, sofern es ein gegenseitiges Zuhören und Aufeinander-Zugehen gibt. Es bedarf Ressourcen und Verantwortungsübernahme sowohl auf Leitungsebene als auch auf den operativen Ebenen (top down und bottom up),
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um erfolgreich entwickelte und erprobte Ansätze nachhaltig in Strukturen implementieren zu können. Um die Ansätze und konkreten innovativen Praxen, die durch alice solidarisch angestoßen worden sind, nachhaltig als soziale Innovation verankern zu können, bedarf es einer stärkeren strukturellen Einbindung. Es bedarf auch mehr Ressourcen, als z. B. für alice solidarisch bereitgestellt wurden, um nicht das Engagement Einzelner zu sehr zu strapazieren. Dies würde beinhalten, zum einen Formate wie die Fokuswoche an der Hochschule strukturell zu verankern, um sie studiengangsübergreifend und in Kooperation mit hochschulexternen Akteur*innen regelmäßig durchzuführen, zum anderen bereits angestoßene Praxen und Projekte kontinuierlich abzusichern und durch die Hochschule zu begleiten. Hierfür braucht es sowohl personelle als auch finanzielle Ressourcen und Infrastrukturen sowie das politische Commitment. Schließlich unterstützt Weitsicht dabei, wenn Hochschulen sich gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen stellen wollen.
Literatur alice solidarisch (2016): Programmheft zur Fokuswoche alice solidarisch. ASH Berlin. Bettig, Uwe/Flegl, Andreas/Lehmann-Franßen, Nils/Völter, Bettina (2016): Aufruf. Alice solidarisch – Die ASH Berlin engagiert sich. Aufruf an alle Hochschulangehörigen der Alice Salomon Hochschule Berlin. In: alice Magazin Nr. 31, S. 18–19. Böhm, Urte (2015): Durchlässigkeiten stärken. Gedanken zu Lehr- und Lernformaten im Zeichen von Nachhaltigkeit. In: alice Magazin Nr. 29–30. Böhm, Urte/Misbach, Elène/Oitner, Silvia (2016 a): Nach der Fokuswoche ist vor dem Hochschultag. Rückschau und Ausblick auf „alice solidarisch“ und Fokuswoche. In: alice Magazin Nr. 31, S. 47–49. Böhm, Urte/Misbach, Elène/Oitner, Silvia (2016 b): Eine runde Sache: Hochschultag – Fokuswoche – Hochschultag. Schlaglichter auf den zweiten Hochschultag „alice solidarisch“. In: alice Magazin Nr. 32, S. 100–101. Gillwald, Katrin (2000): Konzepte sozialer Innovation. Berlin: WZB Papers Nr. P00519. https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2000/p00-519.pdf [Zugriff: 09.01.2017]. Ha, Kien Nghi/Ha, Noa/Mesghena, Mekonnen (im Erscheinen): Geschlossene Gesellschaft. Exklusion und rassistische Diskriminierung an deutschen Universitäten. https://heimatkunde.boell.de/geschlossene-gesellschaft-universitaet [Zugriff: 09.01.2017]. Hayn, Doris/Hummel, Diana (2002): Trandisziplinäre Forschung im Feld Gender & Environment. Beitrag anlässlich des 28. Kongresses von Frauen in Naturwissenschaft und Technik vom 09. bis 12. Mai 2002 in Kassel. http://www.isoe.de/ftp/finut2002. pdf [Zugriff: 05.03.2017]. 389
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Urte Böhm, Elène Misbach, Silvia Oitner & Bettina Völter
Henke, Justus/Pasternack, Peer/Schmid, Sarah (2016): Third Mission bilanzieren. Die dritte Aufgabe der Hochschulen und ihre Kommunikation. HoF Handreichungen Nr. 8, Beiheft zu „die hochschule“. Kasparek, Bernd/Speer, Marc (2015): Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration. 07.09.2016. http://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/ [Zugriff: 20.03.2017]. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften (2016): Positionspapier: Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften. Professionelle Standards und sozialpolitische Basis. Berlin. www.fluechtlingssozialarbeit.de [Zugriff: 11.01.2017]. Kahlert, Heike (2005): „Wissenschaftsentwicklung durch Inter- und Transdisziplinarität: Positionen der Frauen- und Geschlechterforschung“. In: Kahlert, Heike/Thiessen, Barbara/Weller, Ines (Hrsg..): Quer denken – Strukturen verändern. Gender Studies zwischen Disziplinen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 23–60. Kuria, Emily Ngubia (2015): Eingeschrieben: Zeichen setzen gegen Rassismus an deutschen Hochschulen. Berlin: w_orte und meer Verlag. Leitbild der ASH Berlin (o. J.): https://www.ash-berlin.eu/hochschule/profil/leitbild/ http://www.ash-berlin.eu/fileadmin/user_upload/pdfs/Leitbild_Alice_Salomon_ Hochschule.pdf [Zugriff: 14.06.2017]. Maihofer, Andrea (2005): Inter-, Trans- und Postdisziplinarität. Ein Plädoyer wider die Ernüchterung. In: Kahlert, Heike/Thiessen, Barbara/Weller, Ines (Hrsg.): Quer denken – Strukturen verändern. Gender Studies zwischen Disziplinen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 185–202. Mecheril, Paul (2016): Universität als Lebensform. Rassismuskritische Hochschulentwicklung. Abstract der Keynote bei der Tagung „Gender und Diversity in die Lehre! Strategien, Praxen und Widerstände, FU Berlin, 24.–26.11.2016. http://www. genderdiversitylehre.fu-berlin.de/konferenz/programm/keynote/index.html [Zugriff: 11.01.2017]. Oitner, Silvia/Völter, Bettina (2016): Recht auf Bildung und Teilhabe. Die ASH Berlin startet ein Pilotprojekt zur Zulassung von Geflüchteten ins Studium. In: alice Magazin Nr. 31, S. 30–31. Oitner, Silvia (2016): Recht auf Bildung und Teilhabe für Menschen mit Fluchterfahrung. ASH Pre-Study Programm und Refugee Office gestartet. In: alice Magazin Nr. 32, S. 4. Osborne, Peter (2011): From structure to rhizome: transdisciplinarity in French thought (1). In: Radical Philosophy 165, S. 15. Salen, S. H. (1984): Preface. In: Hedén, Carl-Göran/King, Alexander (Hrsg.): Social Innovations for Development. Oxford u. a.: Pergamon, S. v–vii. Zapf, Wolfgang (1989): Über soziale Innovationen. In: Soziale Welt 40 (1/2), S. 170–183.
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Bendix, Daniel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Entwicklungspolitik, Kolonialismus, Bevölkerungs- und reproduktive Gesundheitspolitik, entwicklungspolitische Bildung und Postkoloniale Kritik. Er hat in Berlin und Lausanne studiert (Dipl. Politikwissenschaft) und in Manchester in Development Policy and Management promoviert. Ferner ist er Mitglied von glokal e. V., einem Berliner Verein für machtkritische, postkoloniale Bildungsarbeit. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Autor*innen
Böhm, Urte, Dipl.-Sozialwirtin (Universität Göttingen), M.A. in Languages and Cultures (Rijksuniversiteit Groningen, NL), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Innovation und Qualität in Studium und Lehre (ASH-IQ) an der ASH Berlin; Arbeitsbereich: Innovation und Qualitätsentwicklung in Studium und Lehre mit den Schwerpunkten innovative, studiengangsübergreifende und interdisziplinäre Lehr- und Lernformate, Lehren und Lernen in Campus-Gemeinwesen-Partnerschaften, diversitätsorientierte Lehrgestaltung; Begleitung und Gestaltung von Veränderungsprozessen und Innovationsprojekten in Studium und Lehre; partizipative Hochschulentwicklung; Forschungsinteressen: intersektionale Gender- und Diversity-Forschung, Wissenssoziologie und Diskursanalyse, qualitative Sozialforschung, Bildungsgerechtigkeit, Campus-Gemeinwesen-Partnerschaften und Third Mission von Hochschulen, Inter- und Transdisziplinarität. E-Mail: [email protected] Burzlaff, Miriam studierte Soziale Arbeit (MA) und ist im Bereich der politischen Bildung tätig. Zudem promoviert sie an der Universität Duisburg-Essen an der Fakultät für Bildungswissenschaften. Zu ihren Schwerpunkten zählen Antisemitismus- und Rassismuskritik, Kritische Soziale Arbeit, Curricula und Berufsethik Sozialer Arbeit sowie Policy Practice. Kontakt: [email protected] Çetin, Zülfukar ist zurzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Disentangling European HIV/AIDS Policies“ an der Universität Basel im Department Geschichte. Außerdem lehrt er an der Alice Salomon Hochschule Berlin im Bereich der Sozialen Arbeit. Mit Savaş Taş publizierte er 2015 das Buch „Gespräche über Rassismus. Perspektiven und Widerstände“. Mit Heinz-Jür-
Autor*innen
Eichinger, Ulrike, Prof. Dr., Hochschullehrerin für Theorie und Praxis der Sozialpädagogik an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Arbeitsgebiete: Theorien & Geschichte Sozialer Arbeit, Organisations- & Professionsforschung, Kritische Psychologie. Veröffentlichungen: u. a. Eichinger, U. & Weber, K. (Hrsg.) (2012). Soziale Arbeit. Reihe Texte Kritische Psychologie 3. Hamburg; Eichinger, U. (2009). Zwischen Anpassung und Ausstieg: Perspektiven von Beschäftigten im Kontext der Neuordnung Sozialer Arbeit. Wiesbaden.
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gen Voß veröffentlichte er 2016 das Buch „Schwule Sichtbarkeit, schwule Identität. Kritische Perspektiven“ beim Psychosozial-Verlag.
Eifler, Naemi ist Rechtsfachwirt*in und Sozialarbeiter*in, derzeit tätig im politischen Bildungsbereich. Ihr Fokus liegt auf einem (Be-)Denken und Bearbeiten struktureller Ungleichwertigkeitsideologien; Schwerpunkte sind LGBT*QI*Themen, eine Historisierung und Problematisierung (post-)nationalsozialistischer Ideologien sowie eine Auseinandersetzung mit Entstehungsprozessen und Effekten diskriminierender Politiken. Kontakt: [email protected] Das Kollektiv Erzebeth Szabo formierte sich in Wien im Sommer 2015 rund um die politischen Vorkommnisse dieser Zeit in Österreich und Europa. Das Kollektiv besteht aus Menschenrechtsexpert*innen, Wissenschaftler*innen, Philosoph*innen, Künstler*innen und Medienarbeiter*innen. 2015 erhielt Erzebeth Szabo den Ute Bock Preis für Zivilcourage in Wien und den Lisa Fittko Preis auf der ersten Internationalen Schlepper- und Schleuser-Konferenz an den Münchner Kammerspielen. Heilmann, Josefine studierte an der Alice Salomon Hochschule Berlin Soziale Arbeit. Ihre Bachelorarbeit schrieb sie 2016 unter der Betreuung von Prof. Dr. Swantje Köbsell „Zur strukturellen Unterversorgung behinderter Geflüchteter in Berlin – Handlungsanforderungen an Politik und Verwaltung“. E-Mail: [email protected] Izabiliza, Diane studiert Soziokulturelle Studien an der Europa-Universität Viadrina, in Frankfurt/Oder. Sie ist Absolventin des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule, Berlin und gelernte Erzieherin. Zu ihren Studienschwerpunkten gehören: (Anti-)Rassismus, Gender, postkoloniale Theorien, Intersektionalität und kritische Migrationsforschung. Sie arbeitet als studentische Mitarbeiterin im Praxis-Forschungsprojekt „Passkontrolle! Leben ohne Papiere in Geschichte und Gegenwart“ (https://www.ash-berlin.eu/forschung/forschungsprojekte-a-z/passkontrolle/). Zuvor war sie im Praxis-Forschungsprojekt „Erinnerungsorte. Vergessene 392
Autor*innen
Janssen, Henrike, *1985 in Berlin geboren. 2004 Erststudium an der HMT in Rostock mit dem Fachabschluss Darstellendes Spiel. Ausbildung zur Ergotherapeutin in Berlin bis 2009. Von 2009 bis 2017 tätig als Ergotherapeutin. Von 2013–2017 Studium der Sozialen Arbeit. Bachelorarbeit über Entwicklung eines Beschwerdekonzeptes für Geflüchtete in Asylunterkünften. Seit April 2017 Sozialarbeiterin im Betreuten Mädchenwohnen des Paul Gerhardt Werkes. E-Mail: [email protected] Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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und verwobene Geschichten“ (http://www.verwobenegeschichten.de/) tätig. Von 2011 bis 2016 war sie Gründungsmitglied im Jugendnetzwerk „Ruanda Connection“ (http://ruandaconnection.com/?lang=de). E-Mail: diane. [email protected]
Kampf, Juliane absolvierte 2017 ihren Abschluss als Sozialarbeiterin an der Alice Salomon Hochschule. In ihrem Studium legte sie ihre Schwerpunkte auf die Bereiche Rassismus, Flucht/Migration und Gender. Ihr ist es ein wichtiges Anliegen, im Kontext einer intersektional-feministischen Herangehensweise sowie durch die Beachtung und Umsetzung der Menschenrechte in ihrer sozialarbeiterischen Tätigkeit für mehr Gleichberechtigung und einen gesellschaftlichen Wandel einzustehen. In ihrer Tätigkeit setzt sie sich für die Stärkung der Rechte besonders schutzbedürftiger und vulnerabler Gruppen ein. Zudem befindet sie sich am Ende ihrer Masterstudiums Soziokulturelle Studien an der Europa-Universität Viadrina. E-Mail: [email protected] Köbsell, Swantje, Professorin für Disability Studies an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Seit 1980 aktiv in der emanzipatorischen Behindertenbewegung, Koordinatorin der „Arbeitsgemeinschaft Disability Studies Deutschland“. Forschung und Lehre: intersektionale Aspekten von Behinderung in Hinblick auf Geschlecht, Alter, Migration/Flucht, Disability Studies; Eugenik/Bioethik und ihre Bedeutung für behinderte Menschen. E-Mail: [email protected] Melter, Claus, Prof. Dr., FH Bielefeld, diskriminierungs- und rassismuskritisch sowie menschenrechtsorientiert ambitionierte Soziale Arbeit. Misbach, Elène, Diplom-Psychologin (Freie Universität Berlin), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ASH Berlin im Campus-GemeinwesenProjekt P.F.o.r.t.E. und Referentin für Ideen- und Wissenstransfer mit Schwerpunkt auf sozialen Innovationen. Arbeits- und Forschungsinteressen: Campus-Gemeinwesen-Partnerschaften und Third Mission von Hochschulen, Subjektwissenschaftliche Praxisforschung, Soziale Arbeit im Kontext von 393
Autor*innen
Muy, Sebastian hat an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein Soziale Arbeit studiert. 2016 hat er den Master Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession (MRMA) in Berlin abgeschlossen. Er arbeitet als Sozialarbeiter im Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen (BBZ) in Berlin. Daneben ist er Lehrbeauftragter an der Alice Salomon Hochschule. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Konflikte um Soziale Arbeit im Migrationsregime im Kontext asylrechtlicher Entwicklungen. E-Mail: sebastian [email protected] Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Flucht und Migration, kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, Soziale Ungleichheit und Demokratisierungsprozesse in der Gemeinwesenarbeit. E-Mail: [email protected]
Ohletz, Katharina, geboren 1992 in Berlin, 2013–2017 Studium der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule mit dem Schwerpunkt Intersektionalität und kritische Soziale Arbeit, Stipendiatin des Cusanuswerks. Im Rahmen der Bachelorarbeit wurde ein Konzept für eine Beschwerdestelle für Geflüchtete in Berlin Marzahn-Hellersdorf entwickelt. Seit 2017 in der Sozialen Arbeit mit jungen geflüchteten Menschen als Einrichtungsleitung einer Jugendwohngemeinschaft in Bremen tätig. E-Mail: [email protected] Oitner, Silvia, Dipl. Sozialarbeiterin (MCI Innsbruck), M.A. in Intercultural Conflict Management (ASH Berlin), B.A. in Politikwissenschaft (Universität Innsbruck), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Innovation und Qualität in Studium und Lehre (ASH-IQ) an der ASH Berlin; Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: Kritische Soziale Arbeit und Flucht, Menschenhandel und Arbeitsausbeutung, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, Institutionelle Öffnung in der Einwanderungsgesellschaft, Campus-Gemeinwesen-Partnerschaften und Third Mission von Hochschulen. E-Mail: silvia. [email protected] Pelzer, Marei, ist seit mehr als 15 Jahren auf Asyl-und Migrationsrecht spezialisiert. Sie hat zahlreiche Aufsätze und Artikel zu den rechtlichen Entwicklungen in diesem Feld veröffentlicht. Im Jahr 2017 hat sie ihre Dissertation zum Thema subjektive Rechte im europäischen Asylzuständigkeitssystem – dem Dublin-System – eingereicht. Als rechtspolitische Referentin arbeitet sie seit 2002 für die bundesweite Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Sie ist zugleich Vorstandsmitglied der Stiftung Pro Asyl. Sie engagiert sich zudem seit vielen Jahren im Netzwerk Migrationsrecht, dem Forum Menschenrechte sowie in redaktioneller Verantwortung für den Grundrechte-Report.
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Prasad, Nivedita, Prof. Dr., ist Professorin an der Alice Salomon Hochschule in Berlin, wo sie u. a. den Masterstudiengang Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession (http://www.mrma-berlin.de//MRMA/) und den Zertifikatskurs „Soziale Arbeit mit Geflüchteten Möglichkeiten und Grenzen professionellen Handelns“ (https://www.ash-berlin.eu/weiterbildung/zentrum-fuerweiterbildung/kurssuche/einzelansicht-kurs/?atyp=zk&uid=210) leitet. Sie ist Initiatorin und Mitautorin des Positionspapiers zu Sozialer Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften (www.fluechtlingssozialarbeit.de). E-Mail: [email protected]
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Autor*innen
Rabe, Heike ist Volljuristin. Sie arbeitet am Deutschen Institut für Menschenrechte, stellvertretende Leiterin der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland und Europa. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind geschlechtsspezifische Gewalt, Menschenhandel, Prostitution, Zugang zum Recht und internationale Menschenrechtsschutzsysteme und -verfahren. Vor Beginn ihrer Tätigkeit am Institut 2009 war sie knapp 10 Jahre in nationalen und internationalen Forschungsprojekten zu den oben genannten Themenschwerpunkten beschäftigt. Schäuble, Barbara, Dr. phil., Professorin für diversitätsbewusste Ansätze in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Organisations-, Professionsforschung in der Sozialen Arbeit, Ungleichheits- und Diskriminierungsforschung, Migrations-, Rassismus- und Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung. Homepage: http://www.ash-berlin.eu/hsl/schaeuble/, E-Mail: [email protected] Thiele, Heiner ist Diplom-Sozialpädagoge und Master of Social Work (Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession). Er arbeitet in der Kinder- und Jugendhilfe und lehrt an der Alice Salomon Hochschule Berlin im Bereich Soziale Arbeit, Flucht und Migration. E-Mail: [email protected] Velho, Astride, Dr., ist als Sozialwissenschaftlerin und Fortbilderin tätig. Sie lehrte als Vertretungsprofessorin an der Frankfurt University of Applied Sciences zu Sozialer Arbeit mit Geflüchteten. Als Erzieherin und Psychologin hat sie viele Jahre im Flüchtlings- und Migrationssozialbereich gearbeitet. Ihre Studie „Alltagsrassismus erfahren: Prozesse der Subjektbildung – Potenziale der Transformation“ ist 2016 erschienen. Völter, Bettina, Prof. Dr. phil., Diplom-Politologin, Soziologin, Systemische Therapeutin/ Familientherapeutin (SG), ist Hochschullehrerin für Theorie und 395
Autor*innen
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Methoden Sozialer Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin und derzeit Prorektorin für Forschung und Kooperationen. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Rekonstruktive Soziale Arbeit, Biografieforschung und Biografiearbeit, Transkulturelle Gemeinwesenarbeit sowie Wahrnehmung und Achtsamkeit in der Sozialen Arbeit. E-Mail: [email protected] Wahl, Christiane, geb. 1964, Dip.-Päd., MSW (Master of Social Work), Sucht-Sozialtherapeutin, Soziotherapeutin für Psychodrama und Gestalttherapie, Fort- und Weiterbildung in Psychotraumatologie. Seit 1990 tätig in der Sozialen Arbeit in Berlin und Potsdam; Schwerpunkte: Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen und Kindern sowie Migrant*innen und Geflüchteten. 2009– 2014 Aufbau und Leitung einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Potsdam, seit 2014 zunächst Leitung einer Notunterkunft mit anschließendem Umbau zur Gemeinschaftsunterkunft für 265 Geflüchtete (Erwachsene und Kinder) in Berlin. E-Mail: [email protected] Wille, Marco studierte Soziale Arbeit an der FH Hannover und ist Absolvent des Masterstudiengangs Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession. Seine Abschlussarbeit schrieb er zur Zusammenarbeit von Sozialarbeiter*innen und Sprachmittler*innen. Er arbeitet seit mehreren Jahre im Betreuten Einzelwohnen mit „unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten“ in Berlin. E-Mail: [email protected] Würdinger, Andrea, studierte Jura an der FU Berlin. 1986 wurde sie als Rechtsanwältin in Berlin zugelassen und ist seitdem schwerpunktmäßig im Aufenthalts- und Asylrecht sowie Strafrecht tätig. Sie ist seit den 70er Jahren Mitglied bei Amnesty International und von 1986 bis 2015 Mitglied beim RAV (Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte für Demokratie und Menschenrechte), dort auch ca. 10 Jahre im Vorstand. Weiter ist sie Gründungsmitglied des ECCHR. Als Strafverteidigerin hat sie im sog. „La Belle“-, „Mykonos“- und „RZ“-Verfahren verteidigt. Seit 2017 ist sie ausschließlich als Referentin für Migrationund Asylrecht für verschiedene Organisationen und Einrichtungen tätig.
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