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German Pages 433 Year 2010
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung
Band 98
Sonde 1957 Ein Jahr als symbolische Zäsur für Wandlungsprozesse im geteilten Deutschland
Herausgegeben von
Alexander Gallus und Werner Müller
Duncker & Humblot · Berlin
ALEXANDER GALLUS / WERNER MÜLLER (Hrsg.)
Sonde 1957
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 98
Sonde 1957 Ein Jahr als symbolische Zäsur für Wandlungsprozesse im geteilten Deutschland
Herausgegeben von
Alexander Gallus und Werner Müller
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-13449-6 (Print) ISBN 978-3-428-53449-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83449-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Zugegeben: Wir sind recht spät dran. Mittlerweile hat der Publizist Fred M. Kaplan 2009 im Hobokener Verlag Wiley & Sons pünktlich zum Fünfzig-JahresJubiläum ein Buch mit dem knappen Titel „1959“ vorgelegt. Wichtiger noch ist der im Untertitel mit einer Prise Humor formulierte Anspruch: „The year everything changed“. Eher zufällig bemerkte der Autor, nachdem er zuerst nur Wandlungen der Populärkultur beobachtet hatte, dass 1959 auch in anderen Bereichen – etwa der Politik, Gesellschaft und Wissenschaft – ein überaus markantes Jahr war. Uns erging es ähnlich, als wir im Sommer 2007 in Rostock mit großzügiger Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Jahr 1957 eine Tagung organisierten. Im Zentrum standen zunächst die Berichte zweier Zeitzeugen: Gustav Just und Erich Loest. Die beiden hatten vor mittlerweile mehr als einem halben Jahrhundert vergleichsweise milde Kritik an der DDR geübt und wurden dafür hart bestraft. Wir begannen daraufhin, das Jahr breiter auszuleuchten und entdeckten immer mehr Ereignisse und Aspekte, die uns einer genaueren Erörterung wert erschienen. Dabei liegt 1957 häufig im Schatten der beiden Vorgängerjahre 1955 und 1956. Damals nahm die Blockeinbindung der beiden deutschen Staaten zunehmend feste Züge an, läutete Chruschtschow mit seinem Auftritt beim XX. Parteitag der KPdSU die Entstalinisierung ein und zog die Doppelkrise von Ungarn und Suez die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich. Aber auch 1957 war ein ereignis- und folgenreiches Jahr, das mit der Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik begann, die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ebenso wie den Start des sowjetischen „Sputnik“-Satelliten erlebte. Adenauers Union gewann im Herbst des Jahres die absolute Mehrheit bei den Bundestagswahlen, und Willy Brandt wurde zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gekürt. Ludwig Erhard präsentierte sein „Wohlstand für alle“, die Reform für eine „dynamische Rente“ trat in Kraft, und Helmut Schelsky prägte den Begriff der „skeptischen Generation“. Während sich die Gruppe 47 im Laufe der ersten zehn Jahre ihrer Existenz, glaubt man Heinrich Böll, zur „literarischen Ersatzhauptstadt“ entwickelt hatte, sahen sich Intellektuelle in der DDR engen Restriktionen ausgesetzt. Abweichler vom Kurs der SED, die einen „dritten Weg“ (immerhin zum Sozialismus) verfolgten, erhielten hohe Haftstrafen: so neben Just und Loest beispielsweise auch der Philosoph Wolfgang Harich. Ernst Bloch schließlich wurde wegen der laut geübten Kritik an doktrinären Tendenzen des Marxismus in der DDR und an der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes von 1956 zwangsemeritiert. Mit dem Wechsel an
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Vorwort
der Spitze des Ministeriums für Staatssicherheit von Ernst Wollweber zu Erich Mielke forcierte die SED seit 1957 zudem den Ausbau ihres Repressionsapparates. Dies war zugleich Ausdruck eines erheblichen Problem- und Reformdrucks, der im letzten Drittel der fünfziger Jahre weiterhin auf der DDR lastete. Die Bundesrepublik stand hingegen zunehmend konsolidiert da und hatte ein Fundament ausgebildet, das folgende, äußerst dynamische Prozesse weiterer gesellschaftlichpolitischer Modernisierung und Demokratisierung gut tragen sollte. Der Band will keine Chronik des Jahres 1957 vorlegen, sondern vielmehr Vorgänge dieses Jahres zum Ausgangspunkt für eine weitere Betrachtung nehmen. Es stellt sich die leitende Frage, inwiefern 1957 in beiden deutschen Staaten ein Wendejahr oder wenigstens eine „weiche“, eine symbolische Zäsur für Wandlungsprozesse ab dem Ausgang der 1950er Jahre bildete. Die Themen sind weit gefächert und vielfältigen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Untersuchungsfeldern gewidmet. Die Autoren verharren nicht bei der Schilderung von Einzelereignissen, leuchten stattdessen zeitlich vor und zurück, um erst den Zäsurcharakter herausarbeiten – oder auch: in Frage stellen – zu können. Während die einen am Ende ihrer Analyse den Einschnitt 1957 noch stärker als am Beginn hervorheben, widerlegen andere die Eingangshypothese und schlagen eine alternative Periodisierung vor. Neben wissenschaftlichen Erörterungen dokumentiert der Band auch die persönlichen Rückblicke Justs und Loests. Manfred Riedels Aufsatz über Ernst Bloch in Leipzig ist ebenfalls von Erinnerungen an seinen damaligen akademischen Lehrer und individuellen Interpretationen geprägt. Genauer besehen konkurrieren Projekte wie „1957“ und „1959“ weniger, als nach einem ersten Blick angenommen, und verfließen die zeitlichen Grenzen teilweise, ohne aber beliebig dehnbar zu sein. Anders als in Kaplans Fall, der vorrangig auf Amerika schaut, rückt unser Projekt das geteilte Deutschland in den Mittelpunkt. Vor allem aber verfolgten wir nicht die Absicht, das Jahr zu finden, das alles geändert hat. Wir hätten es freilich gerne gefunden, sind aber zufrieden, mit Hilfe der zeitlichen Punktbohrung auf Areale gestoßen zu sein, die mehr als eine bloß kurzfristige Bedeutung haben. Nicht nur der „Sputnik“, das gesamte Jahr 1957 diente uns als Sonde, um ausgehend von einzelnen Beobachtungen, Ereignissen und Vorgängen die späten fünfziger Jahre zu erkunden. Alexander Gallus und Werner Müller
Inhaltsverzeichnis I. Überblick Alexander Gallus Scharnierzeit zwischen Konsolidierung und Demokratisierung. Die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hermann Weber Eine Zeit der Probleme und des Übergangs. Die DDR im Jahr 1957 . . . . . . . . .
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II. Zwischen Sputnik-Start, „deutscher Frage“ und europäischer Einigung – der Blick nach außen Rainer Gries Vorwärts in die Neue Zeit. Die Metaphorik des Aufbruchs aus generationengeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wilfried Loth Adenauer und die DDR am Vorabend der Berlin-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Georg Golz Hammer und Zirkel an der Themse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Beate Neuss Die Bundesrepublik und Europa im Jahr der „Römischen Verträge“ . . . . . . . . . . 103
III. Zwischen „Wahlwunder“, „dritten Wegen“ und Repression – der Blick nach innen Eckhard Jesse Das „Wahlwunder“ 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Christoph Meyer Niederlage und Neubeginn. Herbert Wehner und die SPD 1957 . . . . . . . . . . . . . 139 Wolfgang Schmidt „Der Sozialdemokrat von morgen“. Die Wahl Willy Brandts zum Regierenden Bürgermeister von Berlin und sein politischer Aufstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Guntolf Herzberg Die stärkere Alternative – Fragen an das Jahr der Abrechnung . . . . . . . . . . . . . . 177
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Inhaltsverzeichnis
Gerd Dietrich Johannes R. Becher: Politische Demontage und poetische Selbstbehauptung . . 191 Roger Engelmann Wechsel an der Spitze der Staatssicherheit. Die Neuausrichtung der DDR-Geheimpolizei im Jahr 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
IV. Zwischen Rentenreform, Reformdruck und Geschlechteremanzipation – der Blick auf Wirtschaft und Gesellschaft Werner Bührer Ludwig Erhards „Wohlstand für Alle“ und die westdeutsche Wirtschaft 1957 . . 221 Winfried Schmähl Von der statischen zur „dynamischen“ Rente. Die Rentenreform des Jahres 1957 in der Bundesrepublik als Zäsur der deutschen Alterssicherungspolitik . . 233 Marcel Boldorf Reformdruck und Reformpläne der DDR-Wirtschaft 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Kyra T. Inachin Der zweite Weg zum Sozialismus. Das Agrarprogramm Kurt Viewegs und Marga Langendorfs und die Krisenanalyse im Jahr 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Till van Rahden Das Lächeln der Verfassungsrichterin. Das Ende des väterlichen „Stichentscheids“ und die Suche nach der Demokratie in der frühen Bundesrepublik . . . 301
V. Zwischen „skeptischer Generation“, empfundener „Restauration“ und intellektuellen Aufbrüchen – der Blick auf Literatur und Wissenschaft Jens Hacke Helmut Schelskys skeptische Jugend. Die mythische Geburtsstunde einer bundesrepublikanischen Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Dominik Geppert „Kreuzwegqual zwischen Politik und Literatur“. Der Umbruch Ende der 1950er Jahre als Zäsur in der Geschichte der Gruppe 47 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Manfred Riedel Philosoph des „anderen Deutschland“? Ernst Bloch in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . 363 Olaf Bartz Die Gründung des Wissenschaftsrates als Zäsur für die Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Inhaltsverzeichnis
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VI. Statt eines Resümees Werner Müller Probleme von Bundesregierung und SED-Politbüro im Jahr 1957 . . . . . . . . . . . . 397
VII. Dokumentation Gustav Just und Erich Loest Erinnerungen an die DDR um das Jahr 1957 – zwei Zeitzeugenberichte . . . . . . 415 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
I. Überblick
Scharnierzeit zwischen Konsolidierung und Demokratisierung Die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1957 Von Alexander Gallus I. Einleitung Am Anfang muss die Frage stehen: Warum ausgerechnet 1957? War es nicht ein überaus mediokres Jahr, gerade im Vergleich mit den beiden Vorgängerjahren – und mit den folgenden Siebenerjahren: 1967, als der Westen Deutschlands sein eigentliches „1968“ erlebte, und 1977, als die Rote Armee Fraktion dem Land einen „deutschen Herbst“ des Terrors bescherte? Als Zäsur charakterisiert, ist das Jahr 1957 erklärungsbedürftig. Es liegt in dieser Hinsicht nicht wie selbstverständlich auf der Hand, anders als die vielen zunächst vor allem politikgeschichtlich relevanten Umbrüche der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts – markiert durch die Jahreszahlen 1918/19, 1933, 1945/49 und schließlich 1989/90. Hinzu kommen durch einzelne Jahresdaten festgelegte Binnenzäsuren – eben wie 1968 oder 1977, aber auch 1961 (Mauerbau), 1973/74 (Ölpreisschock) oder 1982/83 („Wende“). Im Falle der frühen bundesdeutschen Geschichte gerät meistens das Jahr 1955 in das Gesichtsfeld – und speziell der 5. Mai dieses Jahres, als die Bundesrepublik, abgesehen von den alliierten Vorbehaltsrechten Deutschland als Ganzes betreffend, die Souveränität erlangte. „Aber die tiefere, gesellschaftsgeschichtliche Zäsur der Bundesrepublik“, das betont der Hamburger Historiker Axel Schildt, „ist wohl zwei Jahre später anzusetzen“.1 Der Blick in verschiedene Darstellungen zur westdeutschen Nachkriegsgeschichte legt ebenfalls nahe, die Wegscheide 1957 näher zu betrachten: So erkennt Hans-Peter Schwarz in seiner zweibändigen Darstellung der Ära Adenauer in jenem Jahr einen Einschnitt, und Eckart Conze beschließt in seiner Gesamtdarstellung der bundesdeutschen Geschichte mit 1957 die „Gründerjahre der Republik“, um sodann das „Ende der Nachkriegszeit“ einzuläuten.2 1 Axel Schildt: Entwicklungsphasen der Bundesrepublik nach 1949, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 24; auch ders.: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995; ders./Arnold Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998.
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Auffällig ist dabei die Setzung von Zäsuren oder die Übernahme gleichsam gegebener Periodisierungen, ohne diese ausdrücklich zu thematisieren. Es ist merkwürdig, wie wenig Aufmerksamkeit die Geschichtsschreibung insgesamt dem Einsatz dieses analytischen Werkzeugs und den damit verbundenen Problemen entgegenbringt. Es ist ein Prestigeverlust der Periodisierungsproblematik zu beobachten, der in einer Zeit, die angesichts der Umbrüche von 1989 und 2001 ein gesteigertes Epochenbewusstsein entwickelt, besonders erstaunen mag. Für die „Periodisierungsabstinenz der meisten Historiker“3 sind verschiedene Gründe auszumachen. So fehlt oftmals ein Sensorium dafür, die Periodisierung als explizites Problem wahrzunehmen und werden tradierte Jahresdaten einigermaßen unreflektiert als Zäsuren gesetzt. Auch scheinen in einer Geschichtsschreibung, die eher „Strukturen“, „Prozesse“, „Aspekte“ oder „Grundzüge“ untersucht, zeitliche Untergliederungen von nachrangigem Interesse zu sein. Zudem ist es in kaum einem weiteren Fall wie beim Periodisierungsproblem so schwierig, sich auf argumentativ überzeugende Kriterien zu einigen, ohne das eine gegen das andere auszuspielen und einen Teil der Wirklichkeit auszublenden. Es gilt allgemein: Wer den Fluss der Geschichte zerschneidet und in zeitliche Abschnitte, in Phasen, Perioden und Epochen gliedert, der wird bei jedem seriösen Versuch auf alternative Möglichkeiten der Periodisierung verweisen müssen. So entspringen die großen politischen Zäsuren einem Ansatz, der Wandlungen von Staatlichkeit und Staatsformen erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Aus einer stärker gesellschafts-, wirtschafts-, alltags- oder kulturgeschichtlichen Perspektive werden sich andere, nicht weniger sinnvolle Epocheneinheiten ergeben.4 Je nach Vorlieben, Fähigkeiten und Schulzugehörigkeit setzen die einzelnen Historiker die Akzente unterschiedlich. So mögen aus dem Blickwinkel der Inflation und Umstellung von Friedens- auf Kriegswirtschaft (und umgekehrt) die Jahre 1914 bis 1923 als Einheit gelten oder kann aus einer stärker „transnationalen“ Perspektive an die Stelle der von 1918 bis 1933 währenden Weimarer Republik 2 Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949–1957, Stuttgart 1981 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 2); ders.: Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957–1963, Stuttgart 1983 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 3); Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, Berlin 2009. 3 Jürgen Osterhammel: Über die Periodisierung der neueren Geschichte, in: Berichte und Abhandlungen, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften), Band 10, Berlin 2006, S. 45. 4 Vgl. Michael Prinz/Matthias Frese: Sozialer Wandel und politische Zäsuren seit der Zwischenkriegszeit. Methodische Probleme und Ergebnisse, in: dies. (Hrsg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 1–31; Wolfgang Hardtwig: Einleitung: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, in: ders. (Hrsg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 8 f.; auch Klaus Tenfelde: 1914 bis 1990 – Einheit der Epoche, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/1991, S. 3–11.
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die gesamte Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 treten.5 Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Wer das Kriegsende 1945 vorrangig unter überstaatlichen respektive sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht, mag die Vorstellung einer punktuellen „Stunde Null“ für wenig zweckmäßig halten und stattdessen lieber den Zeitraum „vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944–1948“ 6 oder von „Stalingrad zur Währungsreform“7 genauer unter die Lupe nehmen. Aus einer modernisierungsgeschichtlichen Perspektive gerät seit einigen Jahren sogar die gesamte Zeit ab 1900 oder wenigstens 1920 bis etwa 1960 als plausible Einheit in den Blick. Wer die wirtschaftliche Entwicklung erörtert, wird andere Periodisierungen oder wenigstens Akzentsetzungen vorschlagen als jemand, der Fragen der Außenpolitik, der Verwaltung, des Konsums oder der Geschlechterbeziehungen nachgeht.8 So viele Themenfelder, so viele Angebote der Epochenstrukturierung. Es existiert eine kaum von der Hand zu weisende „Periodenverschiedenheit der Kulturgebiete“9 ebenso wie manche „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Es gilt, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Ebenen und Felder zu entwickeln, ohne die eine gegen die andere mögliche Periodisierung aufzustellen. „Soziale und kulturelle Kontinuitätsdeterminanten“ in der Nachkriegszeit hervorzuheben, sollte keineswegs zwangsläufig dazu führen, diese „gegen politische Zäsuren – schon gar nicht gegen die welthistorische Zäsur von 1945 – auszuspielen“.10 Die eine richtige Periodisierung existiert ebenso wenig wie eine Meistererzählung der modernen deutschen Geschichte.11
5 Vgl. Gunther Mai: Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001; Horst Möller: Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998. 6 Ulrich Herbert/Axel Schildt (Hrsg.): Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944–1948, Essen 1998. 7 Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.): Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, 3. Aufl., München 1990. 8 Siehe zu diesen und weiteren Bereichen für die Zeit nach 1945: Martin Broszat (Hrsg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990; vgl. auch Alexander Gallus: Zäsuren in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln/Weimar 2008, S. 35–56. Daraus sind die meisten der folgenden Überlegungen zu „1957“ als Zäsur übernommen. 9 Johan Pot: Sinndeutung und Periodisierung der Geschichte. Eine systematische Übersicht der Theorien und Auffassungen, Leiden 1999 (zuerst 1951), S. 60. 10 So Axel Schildt: Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 44 (1993), S. 577. 11 Vgl. Konrad H. Jarausch/Michael Geyer: Zerbrochener Spiegel. Deutsche Geschichten im 20. Jahrhundert, München 2005.
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Weiterhin steht die Frage unbeantwortet im Raum: Warum eigentlich 1957? Im Folgenden gilt es zu erörtern, welche Wandlungsprozesse mit dem Jahr 1957 verbunden und welche Schnittstellen erkennbar sind. Am Beispiel ausgewählter Politikfelder sollen einige mehr oder weniger selektive und sporadische Antworten auf die Frage gefunden werden, warum und inwiefern 1957 für die bundesdeutsche Geschichte ein Scharnierjahr oder wenigstens eine „weiche“ oder symbolische Zäsur für Wandlungsprozesse ab dem Ausgang der 1950er Jahre bildete. Indem 1957 gleichsam als Sonde zur Erkundung einer Zeitspanne dient, soll der Gefahr ein wenig entgegengewirkt werden, einen Zeitpunkt zu sehr zu strapazieren. II. Außen- und Deutschlandpolitik Der westdeutsche Staat, so wenig souverän er zunächst war, stand unter einem Primat der Außenpolitik und wurde von Beginn an durch Adenauers Politik der bedingungslosen Westbindung geprägt. Die Westintegration hatte nicht zuletzt in institutioneller und sogar sicherheitspolitisch-militärischer Hinsicht bis 1957 große Fortschritte gemacht. Gleich zu Beginn des Jahres wurden erstmals drei Divisionen der Bundeswehr unter das Kommando der NATO gestellt, und General Hans Speidel avancierte am 1. April zum Oberbefehlshaber von deren Verbündeten Landstreitkräften in Mitteleuropa. An demselben Tag erfolgte die Einberufung der ersten Wehrpflichtigen in der Bundesrepublik. Außerdem setzte in diesem Zeitraum eine Debatte über die Ausrüstung der Bundeswehr mit Trägersystemen für Kernwaffen ein. Bundeskanzler Adenauer sprach sich öffentlich für die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen aus. In der Folge plädierten am 12. April 18 deutsche Atomwissenschaftler (darunter vier Nobelpreisträger) in der „Göttinger Erklärung“ öffentlichkeitswirksam für den Verzicht der Bundeswehr auf eine atomare Bewaffnung und legten damit gleichsam den Grundstein für die rund ein Jahr später große Aufmerksamkeit erregende Aktion „Kampf dem Atomtod“, die dann ab Anfang der sechziger Jahre in die Ostermarsch-Bewegung mündete. Manch einem der Beteiligten mochte der intellektuell-politische Protest sogar wie eine „nachgeholte Stunde Null“ erscheinen.12 Doch auch diese Widerstände können ebenso wenig wie die zwischen 1957 und 1959 entstandene konservative Fundamentalkritik des austroamerikanischen Publizisten William Schlamm an den „Grenzen des Wunders“13, die in über12 Holger Nehring: Die nachgeholte Stunde Null. Intellektuelle Debatten um die Atombewaffnung der Bundeswehr 1958–1960, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hrsg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, S. 229–250; maßgeblich nun auch die Deutschland und Großbritannien vergleichende Studie von dems.: The Politics of Security. The British and West German Protest against Nuclear Weapons and the Social History of the Cold War, Oxford 2008. Siehe auch zum Münchner Komitee gegen Atomrüstung den Beitrag von Dominik Geppert in diesem Band.
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schäumender Weise nochmals den während der fünfziger Jahre virulenten Antikommunismus zum Ausdruck brachte, über den Erfolg der „Westbindung als Totalität“14 hinwegtäuschen. Der Gewinn der absoluten Mehrheit durch die Union bei den Bundestagswahlen vom 15. September mag wie eine Bestätigung dieser Politik durch die Bevölkerung erscheinen. Bei den dritten Wahlen zum Deutschen Bundestag erhielt die Union 50,2 Prozent der gültigen Stimmen. Die SPD errang 31,8 Prozent, die FDP 7,7 Prozent der Stimmen. Am 22. Oktober erneut zum Bundeskanzler gewählt, stand Konrad Adenauer an der Spitze einer Regierung aus CDU/CSU und Deutscher Partei (DP), die bald ebenfalls der bis 1957 weit vorangeschrittenen Konzentration des Parteiensystems zum Opfer fallen sollte.15 Abweichende Stimmen fanden immer weniger Gehör. Widerstreitende Politiker in den eigenen Reihen wie den alten Ost-CDU-Vorsitzenden Jakob Kaiser hatte Adenauer regelrecht domestiziert. Im Jahr 1957 schließlich schied Kaiser als Minister für Gesamtdeutsche Fragen aus dem Kabinett aus. Seine deutschlandpolitischen Vorstellungen liefen im Kern auf eine Politik des Dritten Weges und der militärischen Neutralität Deutschlands hinaus. Insofern übte er Kritik an der vollständigen Verwestlichung der Bundesrepublik. Von Adenauer wurde Kaiser nicht zuletzt aufgrund solcher Ideen von Anfang an mit Argwohn bedacht. Wie sehr sich bis zum letzten Drittel der fünfziger Jahre bereits die Westoption – zumal in außen- und deutschlandpolitischen Angelegenheiten – durchgesetzt hatte, unterstrich im Mai die sang- und klanglose Auflösung der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), die unter Führung Gustav W. Heinemanns ab Anfang der fünfziger Jahre für ein neutrales, befriedetes und friedensstiftendes Gesamtdeutschland gestritten hatte.16 Der spätere Bundespräsident und weitere führende Vertreter der GVP wie Erhard Eppler, Diether Posser oder Johannes Rau schlossen sich bald der SPD an. Im parteipolitischen Spektrum konnte sich das Neutralitätsdenken aber nicht erfolgreich verankern. Am ehesten musste da noch die 13 William S. Schlamm: Die Grenzen des Wunders. Ein Bericht über Deutschland, Zürich 1959; vgl. dazu Marcus M. Payk: Antikommunistische Mobilisierung und konservative Revolte. William S. Schlamm, Winfried Martini und der „Kalte Bürgerkrieg“ in der westdeutschen Publizistik der späten 1950er Jahre, in: Thomas Lindenberger (Hrsg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder Resonanzen, Köln/Weimar 2006, S. 111–137; Susanne Peters: Zwischen Ideologie und Demagogie. William S. Schlamm und die Qual des Friedens, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945, Berlin 2005, S. 299–322. 14 So Hans-Peter Schwarz: Die Fünfziger Jahre als Epochenzäsur, in: Jürgen Heideking/Gerhard Hufnagel/Franz Knipping (Hrsg.): Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz, Berlin/New York 1989, S. 491. 15 Siehe auch den Beitrag von Eckhard Jesse in diesem Band. 16 Zum gesamten Problemfeld siehe Alexander Gallus: Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990, 2. Aufl., Düsseldorf 2006; ders.: Neutralistische Bestrebungen in Westdeutschland im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Relevanz – Varianten – Vertreter, in: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hrsg.): Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945–1955, Essen 2008, S. 37–51.
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SPD als einigermaßen einflussreiche Repräsentantin einer alternativen Konzeption gelten. Aber auch in ihr zeichnete sich bereits Ende 1957 ein Wandel ab, der innen- und gesellschaftspolitisch 1959 im Godesberger Programm sowie außenund deutschlandpolitisch in Herbert Wehners berühmtem Bekenntnis zu Westbindung und NATO-Mitgliedschaft am 30. Juni 1960 vor dem Bundestag Ausdruck fand. Nach dem Wahldebakel im Bund 1957 war es vor allem Wehner, der seine Partei aus der Opposition herausführen wollte und dazu – ungeachtet zwischenzeitlicher Konföderationsbestrebungen („Deutschlandplan“ von 1959) und Sympathien für Adam Rapackis sowie George F. Kennans Vorschläge vom Herbst 1957 zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa – ein außenpolitisches Umdenken als notwendig erachtete.17 Für eine „westliche“ SPD stand daneben oder sogar vorrangig der Name Willy Brandts. Mit der Wahl des einstigen Schützlings Ernst Reuters zum Regierenden Bürgermeister von Berlin Anfang Oktober erhielt die politische Karriere des „deutschen Kennedys“ einen kräftigen Schub.18 So unangefochten die Politik der Westbindung 1957 war, so wenig war indes folgendes Grundproblem behoben: Wiedervereinigung und Westintegration waren unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts nicht möglich.19 Mit dem Erfolg der westdeutschen Demokratie war, wie man bald erkennen konnte, die Hinnahme der Teilung verbunden. In dieser Unvollständigkeit des (west-)deutschen Staates bestand die wohl wesentliche Schwäche des westlich-deutschen Bündnisses. Das wusste auch Adenauer, der nach Überschreiten seines durch den Wahltriumph markierten Zenits über alternative Möglichkeiten zur Beantwortung der Deutschlandfrage nachdachte. Dies endete in „deutschlandpolitischen Wursteleien“.20 Sie resultierten aus der Besorgnis, „als der Kanzler der Teilung Deutschlands“21 in die Geschichtsbücher Einzug zu halten.22 Rhetorisch-deklaratorische Initiativen wie die „Berliner Erklärung“ der drei Westmächte und der Bundesrepublik zur Wiedervereinigung vom 29. Juli wirkten unzureichend.23 Im Frühjahr 17 Siehe die quellengestützte Darstellung von Christoph Meyer: Herbert Wehner. Biographie, München 2006, sowie seinen Beitrag in diesem Band. 18 Siehe dazu den Beitrag von Wolfgang Schmidt in diesem Band; aufschlussreich auch Daniela Münkel: Willy Brandt und die „Vierte Gewalt“. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a. M. 2005; Peter Merseburger: Willy Brandt, 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002. 19 Siehe als zeitgenössisches publizistisches Zeugnis Erich Kuby: Das ist des Deutschen Vaterland. 70 Millionen in zwei Wartesälen, Stuttgart 1957. 20 Schwarz: Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957–1963 (Anm. 2), S. 57. 21 Ebd., S. 66. 22 Diese Besorgnis wuchs noch, als mit Thomas Dehler und Gustav W. Heinemann zwei einstige Weggefährten Adenauers in Aufsehen erregenden Reden vor dem Deutschen Bundestag in der Nacht vom 23. auf den 24. Januar 1958 mit der Deutschlandpolitik des Bundeskanzlers abrechneten. Vgl. dazu Alexander Gallus: Von Heinemann bis Havemann. Dritte Wege in Zeiten des Kalten Krieges, in: Deutschland Archiv, 40 (2007), S. 422–430.
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1958 ließ Adenauer eine „Österreich-Lösung“ für die DDR vorbringen, bevor er im Juli 1958 vor dem Bundesvorstand betonte, dass es künftig vorrangig darum gehe, „das menschliche Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Deutschen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs lebendig und wach zu halten“.24 Es mag paradox anmuten: Doch in dem Jahr, als im Falle Jugoslawiens die „Hallstein-Doktrin“ erstmals Anwendung fand, erschien dieses Instrument einer „Politik der Stärke“ bereits überholt. Selbst bei Adenauer war ab dem letzten Drittel der fünfziger Jahre ansatzweise ein „Aufbruch zur Entspannungspolitik“25 erkennbar. Ideen für eine „aktive“ oder „neue Ostpolitik“ reiften in dieser Zeit indes vor allem in den Reihen der Berliner SPD, zuvorderst bei Willy Brandt und Egon Bahr heran. Wie inzwischen nachgewiesen, war Brandt selbst entscheidend an der Entwicklung der neuen entspannungspolitischen Ideen beteiligt. Für das volksdemokratische „Pieckestan“, so seine Ausdrucksweise im Jahr 1950, hegte Brandt keinerlei Sympathien, doch schon zu dieser Zeit richtete er sich auf eine längere Dauer der Teilung ein. Bereits damals reifte in ihm die Überzeugung, dass die deutsche Einheit eine Überwindung des Ost-West-Konflikts voraussetzte. Eine Politik des „nationalen Widerstands“, wie sie weiten Teilen der damaligen SPD vorschwebte, hielt er für wenig erfolgversprechend. Sozialdemokratische Pläne für eine Wiedervereinigung im Rahmen eines neutralisierten und atomwaffenfreien Europas erschienen ihm illusionär. Den Westmächten warf er nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 vor, sie hätten wiederholt falsche Hoffnungen auf die militärische Freisetzung Osteuropas geweckt – gleichsam als höchste Steigerung einer „Politik der Stärke“. Brandt wollte wohl die Möglichkeit der Wiedervereinigung offengehalten wissen, doch hieß der Weg dorthin zunächst Koexistenz und Entspannung. In durchaus offensiver Absicht sollte der „Strom von Ideen, Menschen und Gütern vom Westen aus“ eine friedliche Transformation im Sowjetkommunismus bewirken. Schließlich war er davon überzeugt, dass die westlichen Werte und Ideen den östlichen „turmhoch überlegen“ seien. Ob solcher Überlegungen galt die bundesdeutsche Ostpolitik manchem SED-Oberen als „Aggression auf Filzlatschen“. Brandt hoffte, eine durch die Détente-Politik forcierte Liberalisierung im Innern der Sowjetunion würde zu einer außenpolitischen Entideologisierung führen und neue Chancen für die Lösung der deutschen Frage eröffnen.26 Der Weg einer 23 Darin einigten sie sich zur Erlangung der deutschen Einheit auf Viermächte-Verhandlungen und den Abschluss eines Friedensvertrags mit einer frei gewählten gesamtdeutschen Regierung. 24 Zit. nach Schwarz: Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957–1963 (Anm. 2), S. 67; siehe auch den Beitrag von Wilfried Loth in diesem Band. 25 Vgl. Peter Siebenmorgen: Gezeitenwechsel. Aufbruch zur Entspannungspolitik, Bonn 1990. 26 Zum Gesamten mit Zitatnachweisen vgl. Wolfgang Schmidt: Die Wurzeln der Entspannung. Der konzeptionelle Ursprung der Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts
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Politik der „Westbindung plus Ostverbindungen“ (Werner Link) zeichnete sich ab den späten 1950er Jahren ab. Darüber hinaus machte die „Europäisierung Europas“ im letzten Drittel der fünfziger Jahre Fortschritte und sorgte für die nachhaltige Belebung der deutschfranzösischen Beziehungen. Spätestens nach dem Suez-Debakel von 1956 war Frankreich bestrebt, gegen die „Hegemonialmacht USA ein kontinentaleuropäisches Widerlager aufzubauen – vorerst durchaus im Rahmen der Nato und ohne Konfrontation mit Amerika. Dafür aber wurde die wirtschaftlich potente, politisch überraschend konsolidierte und nunmehr auch gut europäische Bundesrepublik dringend gebraucht.“27 War Adenauer bis dahin fast bedingungslos den Amerikanern gefolgt, so wandte er sich ab 1957 verstärkt einem Europa unter französischer Führung zu. Hier war bereits der bald einsetzende Streit zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ innerhalb der Union angelegt.28 Schon vor dem ersten Besuch Adenauers bei General de Gaulle in Colombey-les-deux-Églises im September 1958 signalisierten bereits 1957 die Lösung der Saarfrage – am 1. Januar erfolgte mit der Eingliederung des Saarlandes als zehntes Land in die Bundesrepublik die so genannte „kleine Wiedervereinigung“ – und die „Römischen Verträge“ zur Schaffung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und einer Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) im März die Wende in den deutsch-französischen Beziehungen.29 III. Sozial- und Wirtschaftspolitik Sozialpolitisch war 1957 ein auffälliges und folgenreiches Jahr, denn am 21. Januar verabschiedete der Deutsche Bundestag zwei Gesetze, die eine einschneidende Strukturreform beinhalteten: einmal das „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter“, zweitens das „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten“. Es fand sich damals nach hartnäckigem Ringen und mehreren hundert Änderungsanträgen eine sporadische „große Koalition“ aus CDU/CSU und SPD (daneben beteiligt noch in den fünfziger Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 51 (2003), S. 521–563; ebenfalls nationale Impulse bei Brandts (geistigem) Weggefährten Bahr betont Andreas Vogtmeier: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996. 27 Hans-Peter Schwarz: Die deutsche Demokratie und ihre internationalen Rahmenbedingungen nach jeweils zwölf Jahren: 1931, 1957 und 2002, in: Hans-Joachim Veen (Hrsg.): Nach der Diktatur. Demokratische Umbrüche in Europa – zwölf Jahre später, Köln/Weimar 2003, S. 181. 28 Vgl. Reiner Marcowitz: Option für Paris? Unionsparteien, SPD und Charles de Gaulle 1958–1969, München 1996; Hans-Jürgen Grabbe: Unionsparteien, Sozialdemokratie und Vereinigte Staaten von Amerika 1945–1966, Düsseldorf 1983; Tim Geiger: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958–1969, München 2008. 29 Siehe auch den Beitrag von Beate Neuss in diesem Band.
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die Freie Volkspartei Deutschlands – die FVP – und der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) zusammen, um die Existenzsicherung im Alter grundlegend neu zu gestalten. Fortan sollte die Altersversorgung nicht länger aus einem angesparten Fonds, sondern aus dem laufenden Sozialprodukt finanziert werden, die „dynamische Rente“ also an die Lohnentwicklung angepasst sein. Letztlich war die Rentenreform Adenauers Leistung, setzte er sie doch gegen zum Teil heftige Widerstände innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen durch. Im Oktober 1956 hatte der Alte aus Rhöndorf in der Ministerrunde die wesentlich von Bundesarbeitsminister Anton Valentin Storch entwickelte Gesetzesinitiative mit den Worten verteidigt: Man habe die Wirtschaft „in den letzten Jahren auf jede Weise gefördert . . . Ferner gebe man für die Aufrüstung jährlich viele Milliarden aus. Den Millionen von Rentnern habe man dagegen nur Brocken zugeworfen. Die kommende Bundestagswahl sei schon jetzt verloren, wenn man das Problem der Rentenreform nicht rechtzeitig und großzügig löse . . . Es sei gerecht, wenn man die alten Leute an der Hebung des allgemeinen Lebensstandards teilnehmen lasse.“ Minister Storch erklärte mit der Verkündung des neuen Gesetzes im Bundesgesetzblatt am 26. Februar: „Ich möchte gerade unseren Alten und Gebrechlichen sagen, dass ich mich sehr darüber freue, dass sie nunmehr ihren Lebensabend in Ruhe und Frieden und ohne Sorgen vor der Not der nächsten Tage gestalten können . . ., ohne dass sie irgendwie zum Wohlfahrtsamt zu gehen brauchen für das, was man ihnen für den Lebensunterhalt gibt.“ In der Tat war der Anstieg der Renten erheblich, im Falle der Arbeiterversicherung stiegen sie um 65 Prozent, im Falle der Angestelltenversicherung sogar um fast 72 Prozent. Waren Renten bis dahin meist nur – im besten Falle: existenzsichernde – Zuschüsse zum Lebensunterhalt, so verwandelten sie sich fortan, wirtschaftlichen Aufschwung vorausgesetzt, in eine stetig steigende Lohnersatzzahlung.30 Die Einführung der dynamisierten Rente als „herausragendes sozialpolitisches Ergebnis der zweiten Legislaturperiode“ (Hans Günter Hockerts) beruhte auf einer florierenden Wirtschaft und breit gestreutem Wohlstand. Kritiker warnten schon damals vor der besonders großen Anfälligkeit des neuen Generationenvertrags gegenüber konjunkturellen und vor allem demographischen Schwankungen. Doch vor dem Hintergrund einer boomenden Wirtschaft kamen die mahnenden Stimmen nicht zum Tragen. Das Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 1950 und 1957 in jeweiligen Preisen von knapp 97 Milliarden auf rund 216 Milliarden DM. Real wuchs es in diesem Zeitraum insgesamt um gut 80 Prozent. Die Ar30 Siehe den Rückblick (mit den Zitaten) bei Rainer Blasius: Große Koalition für dynamischen Kompromiss, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.1.2007. Weiterhin unübertroffen ist das Standardwerk von Hans Günter Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945–1957, Stuttgart 1980; vgl. auch knapp ders.: Metamorphosen des Wohlfahrtsstaats, in: Broszat: Zäsuren nach 1945 (Anm. 8), S. 35–45; siehe auch den Beitrag von Winfried Schmähl in diesem Band.
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beitskräftenachfrage stieg im Verlauf der fünfziger Jahre ebenfalls stark an, was zu einem raschen Sinken der Arbeitslosenquote von 11 Prozent im Jahr 1950 auf 3,7 Prozent im Jahr 1957 führte. Damit verbunden waren die Deagrarisierung, ein starkes Wachstum des „sekundären“ industriellen Sektors sowie die allmähliche Ausweitung des „tertiären“ Dienstleistungssektors. Auch die Lohnsteigerungen waren in diesen Jahren beachtlich, bei Arbeitern fast 60 Prozent, bei Angestellten sogar rund 68 Prozent. Das verfügbare Einkommen der Haushalte wuchs deutlich und damit der Konsum. Außerdem erhöhte sich die Sparquote bis 1957 auf acht Prozent. Die Frauenerwerbsquote erfuhr bis zu diesem Jahr, als am 18. Mai das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Kraft trat und damit die gröbsten Verfassungsverstöße des BGB in familienrechtlichen Fragen31 aufgehoben wurden, immerhin eine behutsame Steigerung. Damit verbunden war ein nochmaliger Anstieg der durchschnittlichen Haushaltseinkommen. Der neue Wohlstand zeigte sich auch in der gewachsenen Reiselust der Westdeutschen, die damals Mallorca regelrecht zu erobern begannen.32 Ludwig Erhards Bestseller „Wohlstand für alle“ aus dem Jahr 1957 – ein Buchtitel, den die CDU neben „Keine Experimente“ zum Wahlkampf-Slogan erkor – symbolisierte in vortrefflicher Weise eine Gesellschaft, die zwölf Jahre nach dem Krieg auf dem Weg war, materielle Nöte hinter sich zu lassen. Die Erwartung der wirtschaftlichen Rekreation wurde zunehmend von der Erfahrung einer Konsum- und Wohlstandsgesellschaft abgelöst. Das durch den „Handelsblatt“-Redakteur Wolfram Langer als Ghostwriter verfasste Erhard-Buch war gleichsam ein abschließendes Manifest für die soziale Marktwirtschaft, die bis 1957 längst erfolgreich auf den Weg gebracht worden war. Erhard lag in erster Linie daran, den Wettbewerb zu erhalten. „,Wohlstand für alle‘ und ,Wohlstand durch Wettbewerb‘“, hieß es in der Schrift, „gehören untrennbar zusammen.“33 Wirtschaftskartelle seien verbraucherfeindlich. Es gehöre daher zu den wesentlichen Aufgaben des Staates, den Wettbewerb zu gewährleisten. Das war künftig die Aufgabe des durch das im Sommer 1957 verabschiedete „Kartellgesetz“ gegen Wettbewerbsbeschränkungen geschaffenen Bundeskartellamtes. Der Unter31 Dazu zählte beispielsweise das väterliche Alleinerziehungsrecht. Auch sollte der Ehemann fortan nicht länger die berufliche Stellung der Frau kündigen dürfen und wurde ihm die alleinige Verfügung über Vermögen der Ehefrau genommen. Siehe auch den Beitrag von Till van Rahden in diesem Band. 32 Zum Gesamten vgl. Günther Schulz (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 3: 1949–1957. Bundesrepublik Deutschland. Bewältigung der Kriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität, Baden-Baden 2006; auch Michael Ruck/Marcel Boldorf (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 4: 1957–1966. Bundesrepublik Deutschland. Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstandes, Baden-Baden 2007. 33 Textauszug in: Merith Niehuss/Ulrike Lindner (Hrsg.): Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Band 10: Besatzungszeit, Bundesrepublik und DDR 1945– 1969, Stuttgart 1998, S. 279.
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nehmer sei eben nur für seinen Betrieb verantwortlich, der Staat aber für die gesamte Wirtschaftspolitik, die laut Erhard in modernen Industriestaaten durch eine vernünftige Sozialpolitik ergänzt werden musste.34 Im Angesicht des „Wirtschaftswunders“ und der allgemeinen Wohlstandseuphorie verwies der bedeutende Bonner Philosoph und Pädagoge Theodor Litt in seiner Gedenkrede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich des 17. Juni 1953 vier Jahre nach dem ostdeutschen Aufstand, das sei zumindest am Rande erwähnt, auf eine Kehrseite dieser Entwicklungen. Der 17. Juni sei deshalb so bedeutsam, weil er eine echte Willensbekundung war. An ihm wurde die Entscheidung zum Wagnis getroffen. „Dass das Wagnis auch fehlschlagen kann, das ist kein zu hoher Preis für das Privileg, nicht der Notwendigkeit unterworfen, sondern sich selbst anheimgegeben zu sein.“ Litt verband dies mit der mahnenden Frage, ob die Westdeutschen überhaupt noch opferbereit und zu solchen Willensentscheidungen fähig seien. In einer Art antimaterialistischen Reflex hieß es wörtlich: „Sind wir nicht vielleicht durch die überraschend schnelle Wiederkehr von Wohlstand und Daseinsgenuss in ein Lebensgefühl hineingeschmeichelt worden, das uns anrät, in der risikofreien, der hundertprozentigen Erfolgsgewissheit der Güter Höchstes zu erblicken und das Wagnis, auch wenn es sich von jeder Waghalsigkeit meilenfern hält, als untragbare Zumutung abzulehnen? [. . .] Sind wir bereit, der Bewahrung dieser Freiheit zuliebe Opfer an unserem Lebensbehagen, Opfer an unserem Besitz zu bringen?“35 Die „Suche nach Sicherheit“ (Eckart Conze) fand hier einen frühen Kritiker. IV. Politische Kultur und intellektuelle Debatte Litt hatte die kollektive Mentalität der Westdeutschen angesprochen und damit ein Gebiet, das Intellektuelle wie Politikwissenschaftler gleichermaßen bewegt, nämlich die politische Kultur eines Landes. Im Wahljahr 1957 veröffentlichte Wilhelm Hennis, der beide Rollen seit jeher geradezu idealtypisch verkörpert, eine fulminante Streitschrift über „Meinungsforschung und repräsentative Demokratie“. Letztere wollte er vor neuen Störfaktoren wie der Demoskopie beschützt sehen. Er kritisierte schon damals, dass Umfragen in der Bundesrepublik Deutschland zu einem „anerkannten Instrument des politischen Kampfes avan34 Vgl. Klaudia Prevezanos: Propaganda für den Markt. Ludwig Erhard: Wohlstand für alle, in: Die Zeit, 47/1999; Bernhard Löffler: Öffentliches Wirken und öffentliche Wirkung Ludwig Erhards, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, S. 121–161; allgemein und sehr kritisch gegenüber Erhard vgl. Volker Hentschel: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München/Landsberg am Lech 1996; milder im Urteil Alfred C. Mierzejewski: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, München 2005; siehe auch den Beitrag von Werner Bührer in diesem Band. 35 Theodor Litt: Eine ernste Mahnung an die Menschen in der Bundesrepublik, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 110 vom 19. Juni 1957, S. 1007 f.
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ciert“ und aus der „Technik moderner Herrschaftsformen“36 kaum noch wegzudenken seien.37 Dies war für ihn umso bedenklicher, als die politische Meinungsforschung seines Erachtens eine ernstzunehmende Herausforderung des noch recht jungen bundesdeutschen Verfassungssystems und der repräsentativen Demokratie überhaupt darstellte. Er sprach sogar von einer „Gefahr des Umschlagens der Demoskopie in ein demokratiefeindliches Instrument“38. Der Gegenstand der Meinungsforschung war für Hennis nicht die öffentliche, sondern nur die gemeine Meinung. Es gebreche „den ,Antworten‘ an jeder inhaltlichen Qualität, die es rechtfertigen könnte, in ihnen den Inbegriff der öffentlichen Meinung zu sehen“. Pointiert formuliert hieß es: „Aus 40 % Ja’s, 35 % Nein’s und einem Rest ,Ich weiß nicht‘ besteht keine öffentliche Meinung“.39 Hennis setzte stattdessen auf Vernunftbegabung, Sachverstand und Verantwortungsbewusstsein, denn „auch in der freiheitlichen Demokratie und gerade in ihr entscheidet darüber, ob eine Meinungsäußerung ein Beitrag zur öffentlichen Meinung ist, nicht der Kopf, sondern das, was in ihm ist“.40 Hennis betrachtete die „Antworten des ,überfragten Bürgers‘“ für alles andere als der Demokratie förderlich, schließlich sei diese nicht mit Selbstregierung des Volkes oder Volksherrschaft gleichzusetzen. Vielmehr verstand er darunter eine „Regierung und Herrschaft mit verfassungsmäßig geregelter und periodisch revozierbarer Zustimmung des Volkes“41. Meinungsumfragen würden nicht nur ein unzulässiges (schein-)plebiszitäres Element in die Repräsentativdemokratie hineintragen, sondern auch das Schwinden staatsmännischer Führungskraft und Verantwortungsbereitschaft befördern. „Zeichen für die Fähigkeit zu staatsmännischem Handeln“, polemisierte Hennis, „rangieren in den Augen der Public-Relations-Berater auf einer Stufe mit Wohlklang der Stimme, Tier- oder Blumenliebe, geordnetem Familienleben und Sinn für alle Trivialitäten einer genormten Massenkultur“.42 Die Aufgabe eines verant36 Wilhelm Hennis: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Zur Kritik politischer Umfragen, Tübingen 1957, S. 9. 37 Siehe zur historischen Entwicklung der Wechselbeziehung zwischen Politik und Demoskopie die Studie von Volker Hetterich: Von Adenauer zu Schröder – Der Kampf um Stimmen. Eine Längsschnittanalyse der Wahlkampagnen von CDU und SPD bei den Bundestagswahlen 1949 bis 1998, Opladen 2000; Frank Decker: Politische Meinungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach fünfzig Jahren, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 11 (2001), S. 31–69; Alexander Gallus: Demoskopie und Politik. Historische Perspektiven und aktuelle Diagnosen, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP), 57 (2008), S. 545–554; sowie vor allem die auf eine breite Quellenbasis gestützte Studie von Anja Kruke: Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990, Düsseldorf 2007. 38 Hennis: Meinungsforschung (Anm. 36), S. 37. 39 Ebd., S. 33 (Hervorhebung im Original). 40 Ebd., S. 33 (Hervorhebung im Original), S. 34. 41 Ebd., S. 38 f. 42 Ebd., S. 42.
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wortungsbewussten Politikers sei es jedoch nicht, dem Mehrheitswillen wie blind zu folgen, sondern als der klügere, besser informierte und an Einsicht überlegene Beurteiler politischer Fragen zu wirken und so auch dem Gemeinwohl besser zu dienen. Schon Ende der fünfziger Jahre warnte Hennis mithin – wie viele nach ihm bis in unsere Tage hinein und zumal in Wahljahren – vor einem Umkippen der repräsentativen Demokratie in eine Stimmungs- oder „Demoskopiedemokratie“ – so eine Wortschöpfung des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.43 Vor allem aber markiert Hennis’ Schrift mit der darin vorgetragenen Sorge einer Bedrohung der institutionellen Demokratie durch die Demoskopie exemplarisch den Beginn einer Art von Selbstreflexion bundesdeutscher Intellektueller und der Öffentlichkeit über das eigene Demokratieverständnis. Damals kam eine Frage auf, die der Soziologie Ralf Dahrendorf einige Jahre später in provozierender Weise als eigentliche „deutsche Frage“ bezeichnen sollte44 und die darauf gerichtet war, welches Maß an Demokratie oder Demokratisierung die Gesellschaft benötige. Ab dem Ende der fünfziger Jahre wurden die Stimmen derer lauter, die „nach einer demokratischen Verfassung der Gesellschaft jenseits der politischen Institutionen fragten“.45 Dies waren im einzelnen Fragen nach staatsbürgerlichen Beteiligungsrechten, der Art des Austrags von gesellschaftlich-politischen Konflikten, nach Werten und Mentalitäten, die über die formale Ordnung und regelhaften Verfahren der Demokratie hinausreichten, diese aber auch stützten. Die politische Kultur befand sich damals im Übergang von älteren autoritären Prägungen aus Kaiserreich und Diktatur („subject culture“) hin zu einer westlichpluralistischen Demokratie mit zivilgesellschaftlichen Zügen („civic culture“).46 Zwischen Gesellschaft und Staatsform bestand noch eine Diskrepanz. Schließlich die „skeptische Generation“ – so der bekannte Buchtitel des einflussreichen konservativen Soziologen Helmut Schelsky aus dem Jahr 1957: Diese Generation der damals Fünfzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen wahrte Distanz gegenüber Ideologien, neigte zu Pragmatismus – eben zu einem „skeptischen und nüchternen Wirklichkeitssinn“ –, zu Plan- und Machbarkeit jenseits ideologisch-ganzheit43 Vgl. Alexander Gallus/Marion Lühe: Öffentliche Meinung und Demoskopie, Opladen 1998. 44 Vgl. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. 45 Dazu differenziert Moritz Scheibe: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Ulrich Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, 2. Aufl., Göttingen 2003, S. 245–277 (Zitat: S. 247); vgl. auch mit einem Schwerpunkt auf der Planungs- und Steuerungsdiskussion Gabriele Metzler: Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift, 275 (2002), S. 57– 103. 46 Vgl. dazu immer noch richtungsweisend Gabriel A. Almond/Sidney Verba: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963.
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licher Vorgaben. Schelsky nannte diese Jugend „demokratisch unpolitisch“; sie sei auf das private Glück und individuelle Bedürfnisse des Alltags ausgerichtet gewesen.47 Junge Soziologen wie Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas übten in vorderster Front Kritik an dem von Schelsky und anderen Vertretern eines „technokratischen Konservatismus“ gezeichneten Szenario einer „wissenschaftlichen Zivilisation“, die funktionalen Sachgesetzlichkeiten folge und einen Bedeutungsverlust der Politik erlebe.48 Dies kam in ihren Augen einer Legitimation undemokratischer Züge der westdeutschen Gesellschaft gleich49 und war das falsche Signal in einer Zeit, als die Rahmenbedingungen für die erfolgreiche „innere“ Demokratisierung geschaffen waren, insofern das Ende der Nachkriegszeit erreicht schien und es zu neuen Ufern einer demokratischen Gesellschaft aufzubrechen galt.50 V. Fazit: Teilstaat zwischen erster und zweiter Gründung Im Jahr 1957 war die Bundesrepublik wirtschaftlich gesundet, ja aufgeblüht. Die Konzeption des Sozialstaates war in wesentlichen Zügen abgeschlossen, führte zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensbedingungen und bewirkte einen „Abschied von der ,Proletarität‘ “51 einer zunehmend „nivellierten Massen47 Textauszug in: Eberhard Rathgeb: Deutschland kontrovers. Debatten 1945 bis 2005, München/Wien 2005, S. 101; siehe auch Franz-Werner Kersting: Helmut Schelskys „Skeptische Generation“ von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 50 (2002), S. 465–495, sowie den Beitrag von Jens Hacke in diesem Band. 48 In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass Bund und Länder am 5. September 1957 gemeinsam den Wissenschaftsrat – das älteste wissenschaftspolitische Beratungsgremium in Europa – gründeten. Die Schaffung dieser Einrichtung verhalf der Tatsache zum Ausdruck, dass sich die Bundesrepublik schon im letzten Drittel der 1950er Jahre offensiv den Herausforderungen der Wissensgesellschaft stellen wollte. Auch unter Bedacht der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg sollte dieser Bereich bald an Bedeutung gewinnen. Schließlich schoss die Sowjetunion am 4. Oktober 1957 den ersten künstlichen Erdsatelliten – die „Sputnik“-Sonde – in den Weltraum und löste in den Vereinigten Staaten und der gesamten westlichen Welt ob dieses Erfolgs den so genannten „Sputnik-Schock“ aus. Dadurch wurde im Westen eine Diskussion über die Wettbewerbsfähigkeit in den Bereichen Wissenschaft, Bildung und Forschung ausgelöst. Deutlicher als bis dahin erhielt der Kalte Krieg eine technologisch-wissenschaftliche Dimension. Siehe dazu die Beiträge von Olaf Bartz und Rainer Gries in diesem Band. 49 Vgl. Scheibe: Auf der Suche (Anm. 45), S. 251; grundlegend Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 273–318. 50 Zur Einordnung siehe nun umfassend von der Alltags- bis zur politischen Kultur einen weiten Bogen spannend: Axel Schildt/Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009. Die beiden Autoren setzen 1957 als Zäsur einer „Kultur im Wiederaufbau“ hin zu einer „Kultur in dynamischen Zeiten“. 51 Josef Mooser: Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze/M. Rainer
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gesellschaft“52, die es in Reinform freilich nie geben sollte und deren Postulierung neue Verteilungen der Ungleichheit allzu leicht überspielt. Außenpolitisch war die Bundesrepublik zwölf Jahre nach Kriegsende ein angesehener und in großen Teilen souveräner Akteur. Die wesentlich von Adenauer verfochtene Politik der konsequenten Westbindung verhalf der Bundesrepublik Schritt für Schritt zu militärischer Sicherheit, internationaler Gleichberechtigung und sogar politischer Mitsprache. Ungelöst blieb indes das Problem der deutschen Spaltung, die unter den Bedingungen der Westbindung kaum überwindbar schien. Diese Unvollständigkeit des deutschen Staates blieb bis 1990 ein Schwachpunkt des westlich-deutschen Bündnisses. Innenpolitisch war das Gefüge der parlamentarischen Demokratie zur Halbzeit der Ära Adenauer erfolgreich etabliert und konsolidiert. Die gesellschaftlichen und politischen Orientierungsmuster hinkten der Entwicklung freilich ein wenig hinterher, schwankten zwischen „deutscher Tradition“ und „westlicher Moderne“, ohne indes den lange Zeit erhobenen Vorwurf der „Restauration“ zu rechtfertigen.53 Erst jetzt begann die nachhaltige ideelle Loslösung von Leitbildern, die bis in Weimarer Tage und zum Teil sogar bis zur Jahrhundertwende zurückreichten. Dies glich freilich nicht einer Art von gedanklicher Übergabe eines Staffelstabs, sondern war von vielfältigen Überlagerungs- und Transformationsprozessen gekennzeichnet. So besaßen kulturpessimistische wie konsumkritische Reflexionsmuster eine beachtliche Erneuerungskraft. Ebenso blieben am Wertehorizont der Bundesbürger auch in den späten fünfziger Jahren politisches Desinteresse und autoritäre Einstellungen noch klar erkennbar. In gewisser Weise fand dieser in einem konservativen Patriarchen wie Adenauer seine Symbolfigur. Der erste Bundeskanzler repräsentierte Vorgänge der Verwestlichung in staatlichinstitutioneller und außenpolitischer Hinsicht, aber auch Blockaden oder wenigstens Beharrungskräfte im Bereich der politischen Kultur und des Wertewandels. Darin kam unter anderem der ambivalente Charakter der fünfziger Jahre zum Ausdruck. Erst in den an die „kurzen fünfziger Jahre“ anschließenden ebenso „langen“ wie dynamischen sechziger Jahren54, als deren Symbolfigur Willy Brandt gelten Lepsius (Hrsg.): Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143–186. 52 Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit, Köln/Düsseldorf 1965, S. 332, 340. 53 Als Wahrnehmungskategorie für eine „intellectual history“ der frühen Bundesrepublik sollte der Begriff allerdings berücksichtigt werden, schließlich empfand nicht zuletzt eine Reihe linker Publizisten die fünfziger Jahre als muffig und restaurativ. Mancher unter ihnen misstraute der bloß institutionalisierten Demokratie und hoffte auf einen tiefgreifenden, wenn nicht revolutionären Politik-, Gesellschafts- und Mentalitätswandel hin zu einer wahrhaften Demokratie. 54 Grundlegend Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg
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mag, nahm das politische Interesse der Bundesbürger zu, entfaltete sich ein neues staatsbürgerliches Verständnis und bildete sich allmählich eine breite kritische Öffentlichkeit55 heraus; ohne dass man in den Fehler verfallen sollte, dies als ganz geradlinigen, manchmal sogar geschichtsteleologisch anmutenden Prozess ungebrochener Erfolgsgeschichte einer „geglückten Demokratie“56 überzuinterpretieren. Nach gelungener wirtschaftlich-technischer und politisch-institutioneller Modernisierung setzte nun die ein wenig pathetisch als „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) gekennzeichnete „Modernisierung der Lebensweisen und -normen und der politischen Einstellungen im Sinne von Partizipation, Pluralität und Abbau hierarchischer und autoritärer Strukturen“ ein.57 In mancherlei Hinsicht kam dies einer zweiten Gründung der Bundesrepublik58 gleich, die aber nicht voraussetzungslos begann und ohne das Fundament der ersten Gründung undenkbar gewesen wäre. – 1957 war das Jahr dazwischen. Es markiert eher eine Phase des Übergangs als der scharfen Zäsur und umschließt so manche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die vielleicht den eigentlichen Reiz des Periodisierungsspiels ausmacht.
2000; siehe auch Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Treppe (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2003; kompakt und konzise zum Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren Axel Schildt: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, insbes. S. 77–82; sehr lesenswert und präzise zur Zeitspanne 1957–1966 auch: Bernhard Löffler: Rahmenbedingungen, in: Ruck/Boldorf: Geschichte der Sozialpolitik (Anm. 32), S. 3–83. 55 Vgl. Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006; exemplarisch zum entscheidenden redaktionellen Wendejahr 1957 bei der „Zeit“, als das zunächst höchst konservative Blatt eine liberale Umgründung erfuhr, siehe Christian Haase/Axel Schildt (Hrsg.): DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008. 56 Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. Wolfrum problematisiert im übrigen mit großer Klarheit das Erfolgsparadigma und räsoniert über alternative Erzählmodi für die bundesdeutsche Geschichte. 57 So Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders.: Wandlungsprozesse (Anm. 45), S. 12; vgl. auch Charles S. Maier: Die Weimarer Republik und die Bundesrepublik nach jeweils zwölf Jahren: 1931 und 1957, in: Veen: Nach der Diktatur (Anm. 27), S. 111–124. 58 Zumal in geistesgeschichtlicher Perspektive – vgl. Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010; siehe auch Geppert/Hacke: Streit um den Staat (Anm. 12).
Eine Zeit der Probleme und des Übergangs Die DDR im Jahr 1957 Von Hermann Weber Die DDR war in den fünfziger Jahren ein krisenhafter Staat, dessen systembedingte Dauerschwierigkeiten allein schon durch die riesigen Flüchtlingszahlen belegt werden. 1953 und 1956 wurde sie von zwei besonders markanten Krisen geschüttelt. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 bewies die Unzufriedenheit insbesondere der Arbeiter und die Schwäche der SED-Diktatur, die nur mit Hilfe sowjetischer Truppen gerettet werden konnte. 1956 ging die Unruhe eher von den Intellektuellen aus und zeigte Risse in der Partei und ihrer Führung. Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 hatte einen tiefen Einschnitt und Unsicherheit im Weltkommunismus verursacht, denn erstmals wurde dort von einem sowjetischen Führer auf Verbrechen Stalins hingewiesen. Und die Ulbricht-Leitung befürchtete, dass die Veränderungen in der Parteispitze Polens oder die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Ungarn auch auf ihr Land übergreifen könnten. Deshalb versuchte die SED im Jahr 1957, ihre durch die Ereignisse 1956 entstandenen Probleme in der DDR einzudämmen. Die Aktivitäten der DDR-Führung wurden 1957 von unterschiedlichen Rahmenbedingungen bestimmt, sowohl und insbesondere von der sowjetischen Politik als auch durch die internationale Lage und die Haltung der Bundesrepublik. Ihr Spielraum blieb – trotz des Abkommens mit der UdSSR vom September 1955 mit der Behauptung einer „völligen Gleichberechtigung“ und Souveränität der DDR1 – daher sehr eingeschränkt. Die DDR-Spitze musste zudem reagieren, sie konnte weder außen- noch innenpolitisch autonome Entscheidungen treffen. Die Einschnitte der Weltpolitik im November 1956, die Suezkrise mit dem militärischen Überfall Großbritanniens, Frankreichs und Israels auf Ägypten sowie die gleichzeitige Niederschlagung der ungarischen Revolution durch die Sowjetarmee konnte Ost-Berlin nur mit Agitationstiraden begleiten. Im Innern begann der gezielte Kampf gegen den „Revisionismus“ erst nach diesen Ereignissen. Zuvor erschien die Beachtung der Ergebnisse des XX. Parteitags der KPdSU und das formale Eingehen auf Forderungen von Arbeitern und Intellektuellen als die einzige Perspektive. Insofern wurde 1957 ein Jahr der Vergeltung. 1
Vgl. Neues Deutschland vom 21.9.1955.
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Der Kalte Krieg mit all seinen Auswirkungen förderte eine weitere Anpassung an die sowjetische Politik auch nach Stalins Tod. Ziel blieb die Festigung des eigenen Staates und damit die Aufrechterhaltung der deutschen Spaltung. Daher hat 1957 der polnische Rapacki-Plan die SED-Spitze durchaus auch irritiert. Die Abgrenzung von der Bundesrepublik, an der sich eine Mehrheit der DDR-Bevölkerung orientierte, blieb die Hauptstrategie des Regimes nach außen; im Innern galt es, die „Hebel der Macht“ mit allen Mitteln abzusichern. Die bis 1957 im Wesentlichen auf- und ausgebauten Institutionen und Mechanismen der Diktatur in der DDR sollten gerettet, gefestigt und weiter „verfeinert“ werden. Eine Skizzierung der Lage ergibt folgendes Bild: Bereits in den fünfziger Jahren zeigte sich als Hauptproblem der DDR zweierlei: Erstens war sie nur eine Teilstaat, dessen Bevölkerung zudem auf den größeren Teilstaat, die Bundesrepublik, fixiert blieb. Zweitens wurde der DDR, einem sozioökonomisch hochentwickelten Gebiet, ein Herrschafts- und Gesellschaftssystem oktroyiert, das aus der Rückständigkeit Russlands erwachsen war, nämlich der Stalinismus. Hierin lag die Ursache vielfältiger Widersprüche und Konflikte.2 Alle unterschiedlichen taktischen Schritte der SED-Führung dienten damals einer einheitlichen Strategie, nämlich das Modell der stalinistischen Sowjetunion auf den 1949 geschaffenen Teilstaat DDR zu übertragen (abgesehen von einigen Varianten, z. B. das formal weiterbestehende Mehrparteiensystem). Die Herrschaft übte – zunächst im Auftrag und unter Kontrolle der sowjetischen Besatzungsmacht – die SED-Spitze mit diktatorisch-bürokratischen Methoden aus. Ihre Politik war von sowjetischen Interessen bestimmt, sie hatte dabei allerdings die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten der DDR zu berücksichtigen. Die Ausgangslage der DDR-Wirtschaft war schlecht, weil sie durch die Spaltung Deutschlands über keine Schwerindustrie verfügte. Vor allem aber mußte die SBZ/DDR mit umfangreichen Reparationen an die UdSSR für die Verbrechen des Hitler-Krieges bezahlen. Während die westdeutsche Bundesrepublik durch den Marshall-Plan rasch Hilfe erfuhr, haben die hohen Wiedergutmachungsleistungen die DDR ausgeblutet. Zudem gab es radikale Veränderungen. Industrie und Handel wurden zum großen Teil verstaatlicht. Mit der Planwirtschaft kopierte die DDR das administrative Leitungssystem der Sowjetunion, auch in der Wirtschaft galt die SED-Parole: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.“ Seit September 1950 gehörte die DDR dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) an und ihr Außenhandel war nun vorrangig auf den Ostblock ausgerichtet.3 Die Fünfjahrespläne von 1951 bis 1956 und von 1956 bis 2 Vgl. Hermann Weber: Die DDR 1945–1990, 4. Aufl., München 2006, S. 3 ff.; ders.: Geschichte der DDR, München 1999, S. 11 ff.
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1960 sollten die ökonomische Anbindung an die Sowjetunion festigen, zugleich eine Verbesserung der Lebenslage bringen. Obwohl es gelang, den industriellen Aufbau zu forcieren, existierte in der DDR in den fünfziger Jahren eine Mangelwirtschaft. Gerade diese missliche ökonomische Situation der DDR-Bevölkerung, die auf das florierende „Wirtschaftswunder“ der Bundesrepublik fixiert war, blieb der Grund für eine andauernde Unzufriedenheit und anhaltende Instabilität. Daher wollte die SED-Führung ihre Macht mit einer harten politischen Diktatur aufrechterhalten, entsprechend baute sie mit Hilfe der Sowjetunion die Institutionen und Mechanismen des Regimes aus. Schon im Februar 1950 war mit dem Ministerium für Staatssicherheit4 ein Überwachungs- und Verfolgungsorgan als „Schild und Schwert“ der SED geschaffen worden. Schrittweise entstand ein Polizeistaat, wurde nach dem Vorbild der UdSSR eine totalitäre Diktatur errichtet und die DDR-Gesellschaft zunehmend militarisiert. Im Parteiensystem bestimmte die SED, die übrigen Parteien sowie die „Massenorganisationen“ (Gewerkschaften, Jugend- und Frauenverband usw.) wurden in den vierziger und frühen fünfziger Jahren umgeformt.5 Die Blockparteien (CDU, LDP, Bauernpartei und Nationaldemokraten) waren von der SED abhängig, unterstützten ohne Einschränkung deren Kurs. Die „Einheitspartei“ betonte mit der These „die Partei hat immer Recht“ ihren absoluten Führungsanspruch. Gegner der SED-Diktatur wurden verfolgt, verhaftet oder mussten flüchten. Die Scheinwahlen mit „offener“ statt geheimer Abstimmung und angeblicher Bestätigung durch die Wähler (bei den Volkskammerwahlen 1950, 1954 und 1958 mit jeweils 99 Prozent Ja-Stimmen zu den „Einheitslisten“ oder im Juni 1957 bei den Gemeindewahlen 99,5 Prozent)6 brachten keineswegs eine Legitimierung des Systems. Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung lehnte die SED-Herrschaft ab.
3 Vgl. Christoph Buchheim: Wirtschaftliche Folgen der Integration der DDR in den RGW, in: ders. (Hrsg.): Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, Baden-Baden 1995, S. 341–361. Zur Wirtschaftsentwicklung vgl. André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Stuttgart 2003 (Neuaufl. 2007). Einen Überblick zum neuesten Forschungsstand bietet: André Steiner: Wirtschaftsgeschichte der DDR, in: Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung (Festschrift für Hermann Weber), Paderborn 2003, S. 229–238. 4 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Roger Engelmann: „Konzertierte Schläge“. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998. Vgl. die Bibliographie zur Literatur über das MfS in: Eppelmann u. a.: Bilanz und Perspektiven (Anm. 3), S. 454–456. 5 Vgl. die Forschungsberichte von Siegfried Suckut: Geschichte und Funktion der Blockparteien in der SBZ/DDR bzw. Ulrich Mählert: Die Massenorganisationen, in: Eppelmann u. a.: Bilanz und Perspektiven (Anm. 3), S. 93–99 bzw. S. 100–106. 6 Vgl. Neues Deutschland vom 26.6.1957.
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Doch auch die SED selbst wurde nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zu einer völlig stalinistischen Organisation umgeformt. Alle „Abweichler“, z. B. frühere Sozialdemokraten und oppositionelle Kommunisten, wurden aus der SED ausgeschlossen, die zentralisierte Partei von Generalsekretär Walter Ulbricht befehligt.7 Nach den Irritationen in der SED 1956 sollte 1957 eine Phase der Konsolidierung beginnen, um dem diktatorischen Regime genügend Stabilität zu verschaffen. Die Vorstellungen einer Reform der DDR, eines „dritten Weges“ jenseits von Kapitalismus und Stalinismus, wie sie 1956 verbreitet waren, galt es durch Repressalien gegen Kritiker einerseits und ideologische Kampagnen unter Parteimitgliedern andererseits zu zerschlagen. Walter Ulbricht, der 1957 versuchte, seine nach 1953 und 1956 ins Wanken geratene persönliche Macht aufrechtzuerhalten, hatte daher noch vor Beginn des Jahres behauptet: „Die wichtigste Lehre aus den ungarischen Ereignissen ist: Es gibt keinen dritten Weg.“8 Eine Alternative zum Stalinismus (auch ohne Stalin) war zu verhindern, jeder Ansatz solcher Ideen in der SED wie der Bevölkerung auszuschalten. Dabei war der Ulbricht-Führung klar, dass ihre Macht und die Existenz der DDR nur von der UdSSR und der KPdSU gesichert wurden und diese weiterhin über die Politik der SED bestimmten. Doch schon 1956 waren selbst die Angriffe der KPdSU auf Stalin zwielichtig, widerspiegelten deren schwankende Generallinie. Im Juli wurde zwar einerseits Lenins Kritik an Stalin erstmals dargestellt, doch zugleich finden sich Verteidigungen des Diktators in den Aussagen der Partei. Und im März 1957 gab es in der „Prawda“ eine „versteckte Totenehrung“, westliche Analysen registrierten die Tendenz, „den toten Diktator langsam wieder zu Ehren zu bringen und ihm einen entsprechenden Standort in der sowjetischen Hierarchie zu weisen.“9 Solche Anzeichen in Moskau nutzte die UlbrichtFührung, sich von ihrer kurzzeitigen „Selbstkritik“ wieder abzusetzen. Die Vorgaben der UdSSR entsprachen hier den eigenen Wünschen der SED-Führung.
7 Vgl. Andreas Malycha: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000; Ilse Spittmann (Hrsg.): Die SED in Geschichte und Gegenwart, Köln 1987. 8 Neues Deutschland vom 30.12.1956. 9 Vgl. dazu die Analysen der SPD in einem von ihrem Ostbüro veröffentlichten internen (abgezogenen) monatlichen Material: „Bericht über die Entwicklung der UdSSR“, insbesondere die für „im Monat Juli 1956“ und „März 1957“. Die zwischen Oktober 1954 und 1965 herausgegebenen „Berichte“ waren eine Mischung von Übersetzungen und Einschätzungen, versehen mit einem Anhang „Chronik der Ereignisse“. Parallel gab es gleiche Berichte über Polen und die DDR (Sowjetzone). Neben den „Ost-Problemen“ der USA-Behörden sowie „Hinter dem Eisernen Vorhang“ waren das wichtige Informationsmaterialien im Westen. Diese seltenen „Berichte“ sind zum großen Teil im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung erhalten.
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Schon am 3. Januar 1957 machte eine Delegation der DDR-Regierung und der SED-Spitze in Moskau ihre Aufwartung. Das Ergebnis der Zusammenkunft war für die DDR maßgeblich: „Fragen der wirtschaftlichen Beziehungen“ nahmen zwischen beiden Ländern einen „bedeutenden Platz“ ein, die Sowjetunion versprach mehr Rohstoffe zu liefern. Einigkeit über den „Feind“ gab es in einer gemeinsamen Erklärung: Dem „Imperialismus“ wurde nicht nur die Suez-Krise als „Aggression“ vorgeworfen, sondern auch die „Inszenierung eines konterrevolutionären Putsches in Ungarn“.10 Vor allem hatte sich die SED ihre harte Linie gegen „Abweichungen“ sanktionieren lassen. Bei einer Besprechung zwischen den Parteiführungen wurde mit den üblichen Phrasen wie „brüderlichen Beziehungen“ oder „proletarischer Internationalismus“ festgehalten, dass jeder Versuch einer „Revision des Marxismus-Leninismus“ zurückzuweisen sei.11 Mit anderen Worten: Am Stalinismus war auch nach Stalins Tod nicht zu rütteln. Chruschtschow hatte zwar in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU Stalins „Säuberungen“ verurteilt, öffentlich gerügt wurden der „Personenkult“ um Stalin sowie die „Verletzung der Gesetzlichkeit“ (eine Verharmlosung der barbarischen Verbrechen). Doch dem Stalinismus wurde keineswegs abgeschworen, nicht einmal der Begriff „Stalinismus“ durfte benutzt werden. Viele Kommunisten, vor allem Intellektuelle (auch in der SED), hatten die Kritik an Stalin jedoch als Abrechnung mit stalinistischen Zeiten angesehen und wollten die „Fehler“ der Vergangenheit aufarbeiten. Nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution stellte die Führung der KPdSU klar, wo die Grenzen lagen. Also konnte die SED unter Ulbricht ihre vorherige Zurückhaltung gegenüber den nun „Revisionisten“ genannten antistalinistischen Kräften aufgeben und gegen sie vorgehen. Bereits das 29. Plenum der ZK der SED im November 1956 hatte dazu das Signal gegeben mit der These, keine „Fehlerdiskussion“ zuzulassen – zwei Wochen später wurden Harich u. a. verhaftet. Daher brachte 1957 eine erneute Verhärtung der Diktatur. Ihre Allmacht wollte die SED weiterhin mit den drei gleichen Methoden sichern, die von Stalin in der UdSSR entwickelt worden waren:12 1. Die Neutralisierung: „Unpolitische“ Menschen, die weder zu den Gegnern noch zu den Anhängern des Systems gehörten, sollten mit der Hoffnung auf wachsenden Wohlstand, auf gute Entwicklungschancen für ihre Kinder und 10 Gemeinsame Erklärung der Regierungsdelegationen der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, unterzeichnet am 7. Januar 1957 in Moskau, in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. V, Berlin (Ost) 1958, S. 663–673. 11 Mitteilung über Besprechungen zwischen Vertretern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in Moskau, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. VI, Berlin (Ost) 1958, S. 186–188. 12 Vgl. Weber: Geschichte der DDR (Anm. 2), S. 14–15.
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einem Mindestmaß an persönlichem Freiraum „passiv“ gehalten werden. Der „gewöhnliche“ Alltag – geprägt von den Freuden und Leiden des Individuums, von der Arbeit, von der Familie oder den Freundes- und Kollegenkreisen – sollte Teile der Bevölkerung von der Diktatur ablenken. Voraussetzung einer „Neutralisierung“ war allerdings eine spürbare wirtschaftliche Besserung. 2. Die ideologische Indoktrination: Die Ideologie des „Marxismus-Leninismus“ diente – über die politische Anleitung hinaus – als Verschleierungs- und Rechtfertigungsinstrument, sie sollte aber auch als Bindeglied der herrschenden Eliten fungieren und durch Erziehung und Bewusstseinsbildung zugleich neue Anhänger, vor allem aus den Reihen der Jugend, gewinnen. Die Schulung der Funktionäre zielte auf ideologisch-politische Konformität, um die SED festigen und ihre Diktatur absichern zu können. 3. Der Terror: Die Verfolgungen, zunächst durch die Besatzungsmacht, dann durch den Staatssicherheitsdienst und die Justiz, richteten sich vor allem gegen jene, die aktiv eine Änderung des Systems anstrebten oder gegen die Diktatur opponierten. Willkür und Bespitzelung schufen außer Resignation bzw. Flucht in den Westen eine Atmosphäre der Angst. Die befohlene „Wachsamkeit“ sollte zudem jede Nonkonformität aufspüren und Mißtrauen säen. Darüber hinaus sollten Terror und Repressalien Unsicherheit und Furcht wecken, um jede Opposition von Anfang an zu verhindern. Mit diesen Mechanismen wollte die SED-Führung 1957 die eigene Partei wie die gesamte Bevölkerung lenken, um mit Hilfe der UdSSR das DDR-System zu festigen. Die Reihen der Partei sollten einerseits durch ideologische Kampagnen und andererseits durch Säuberungen von „Abweichlern“ stabilisiert sowie die Unzufriedenheit der Bevölkerung, erst recht jeder Widerstand gegen das Regime, mit Neutralisierung und Repressalien beseitigt werden. Ein Blick auf die Ereignisse 1957 zeigt die Auswirkungen. I. Die Neutralisierung der Bevölkerung Die Masse der Bevölkerung lehnte 1957 die SED-Diktatur ab. Vorbild blieb die Bundesrepublik, die Wiedervereinigung das Wunschbild. Diese Einstellung wurde nicht zuletzt durch die schlechte wirtschaftliche Lage und den Widerspruch zwischen Propagandaversprechen und Wirklichkeit gefördert. Solche Missstimmungen versuchte die alles beherrschende SED 1957 durch materielle Verbesserungen zu neutralisieren. Positive Ansätze dazu wurden von der Wirtschaft erwartet: Die Industrieproduktion konnte 1957 um acht Prozent gesteigert werden, die vernachlässigte Konsumgüterindustrie wuchs beträchtlich, z. B. bei Bekleidung um ein Drittel. Ein Währungsumtausch im Oktober 1957 schöpfte den Geldüberhang ab. Doch die erhoffte gleichzeitige Abschaffung der
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(auch zwölf Jahre nach Kriegsende immer noch bestehenden) Lebensmittelkarten, also die Aufhebung der Rationierung für Fleisch, Fett und Zucker, erfolgte nicht (sondern erst im Mai 1958). Der große materielle Vorsprung der Bundesrepublik von rund 25 Prozent im Konsum und 30 Prozent in der Produktion bestand 1957 weiter. In der Industrie wurde 1957 der Facharbeitermangel spürbar und deshalb die Einbeziehung der Frauen in die Produktion forciert, was keine Stabilisierung brachte. Auch Ende 1957 waren viele Menschen verbittert über die wirtschaftliche Misere und die Versorgungsengpässe. Gerade die ökonomischen Belastungen bildeten das Hauptproblem der DDR. Nach wie vor war es der SED nicht gelungen, die Anerkennung der Bevölkerung zu finden und sich damit eine Legitimität und eine solide Basis für ihre Macht zu schaffen. Auch die „Deutschlandfrage“ stand dem im Wege.13 Die Bevölkerung und selbst die Führung der DDR starrten 1957 auf die Bundesrepublik als den größeren, reicheren und demokratischen Staat. Prinzipielle Gegensätze zwischen beiden deutschen Staaten waren deutlich: In der DDR hatte sich die stalinistische Diktatur herausgebildet, zugleich ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das an die solidarischen Ideen der Arbeiterbewegung anknüpfen wollte. Dies wurde nicht nur durch die Diktatur verzerrt, sondern zusätzlich durch bürokratische Ineffizienz, schwere Lasten der Vergangenheit (Reparationen usw.) sowie die ungünstigere Ausgangslage gebremst. Die Hinwendung von Teilen der Bevölkerung zur Bundesrepublik und die Abwanderung der Flüchtlinge in den Westen waren die Folge. Die Bundesrepublik mit ihrer freiheitlichen parlamentarischen Demokratie, aber vor allem das Wirtschaftswunder zogen die Menschen an. Daran änderte auch nichts, dass sich 1957 durch den Kalten Krieg in der Bundesrepublik eine Ordnung etabliert hatte, in der soziale und solidarische Züge oft verpönt waren: eine „Ellbogengesellschaft“, die im geistig-kulturellen Bereich auch spießige Züge trug. Vor allem gab es keine Auseinandersetzung mit der Hitler-Barbarei und noch keine Aufarbeitung der NS-Diktatur. Im Rahmen der Wiederaufrüstung kamen bedenkliche Zeichen der „braunen Vergangenheit“ zutage, auch ein nahtloses Anknüpfen z. B. an den „alten“ Antikommunismus. Und viele „gewandelte“ Nazis erhielten wichtige, oft einflussreiche Posten in Politik, Wirtschaft und Justiz, erwähnt sei nur das Auswärtige Amt. Der Ost-West-Gegensatz mit diesen dunklen Flecken des Westens diente 1957 als Mittel der DDR-Propaganda, insbesondere um „ihren“ Antifaschismus herauszustellen. Wie damals im eigenen Land die NS-Vergangenheit selbst weiterwirkte, wurde vertuscht. Die Versuche der DDR-Führung, den Ost-West-Gegensatz als Mittel der „Neutralisierung“ zu nutzen, zeigten indes kaum Ergebnisse. 13 Vgl. den Literaturbericht von Michael Herms: Die deutsch-deutschen (Nicht-)Beziehungen bis zum Mauerbau, in: Eppelmann u. a.: Bilanz und Perspektiven (Anm. 3), S. 333–337 sowie dort die Bibliographie Deutschlandpolitik und deutsche Beziehungen, S. 519–525.
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Das in der Tat abschreckende Beispiel der DDR diente den herrschenden Kreisen der Bundesrepublik als ein Mittel, um die Gesellschaft in ausgefahrenen Bahnen zu halten. Die restaurativen Tendenzen in der Bundesrepublik wiederum waren für die Machthaber der DDR ideologische Propagandawaffen, um wenigstens ihre Elite zusammenzuhalten. Die Eskalation war genauso unübersehbar wie die Tabus auf beiden Seiten. Die SED bezog 1957 in ihre Neutralisierungsbemühungen den „Sputnik“-Erfolg der Sowjetunion ebenso mit ein, wie sie umgekehrt positive Vorkommnisse in der Bundesrepublik herunterspielte. Die staatliche Eingliederung des Saargebietes in die Bundesrepublik 1957 wurde bagatellisiert. Der große Metallarbeiterstreik in Schleswig-Holstein (Oktober 1956 bis Februar 1957), mit dem die Gewerkschaften u. a. den Lohnausgleich im Krankheitsfall erreichten, war für die DDR-Propaganda und später auch für ihre Geschichtsschreibung nur eine Marginalie, da es angeblich um „Forderungen“ ging, „die unter den sozialistischen Verhältnissen der DDR längst Realität waren.“14 Damit sollte die Rolle freier Gewerkschaften, die ja in der DDR fehlten, herabgemindert werden. Bei den DDRArbeitern, die freilich andere Vergleiche zogen, wurde die DGB-Aktion jedoch mit Sympathie gesehen. Das große Echo auf das „Göttinger Manifest“ berühmter Naturwissenschaftler gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr vom April 1957 versuchte die DDR-Spitze zu instrumentalisieren, um ihrer eigenen „Friedenspolitik“ Einfluss zu verschaffen. Beispielweise unterschrieben alle führenden Ost-Historiker (Engelberg, Kuczynski, Markow, Obermann, Stern) und -Archivare im Frühjahr 1957 eine solidarische „Erklärung“ und „begrüßten“ den „mutigen Appell der Göttinger Achtzehn“, jedoch mit den Argumenten der SED-Führung.15 Die folgende Aktion der westdeutschen Opposition „Kampf dem Atomtod“ war für die DDR heikel, versuchte sie doch gerade 1957 die brutale Unterdrückung jeder Opposition gegen die SED-Diktatur zu rechtfertigen. Ihre „generellen“ Aussagen zur Rolle von Opposition im eigenen Land waren dabei fadenscheinige, unlogische Propagandaphrasen, geradezu eine Farce: „Eine Opposition in der DDR könnte doch nur gegen die Politik unserer Regierung gerichtet sein. Sie müsste sich also gegen die Einführung der 45-Stunden-Woche, gegen den Bau von zusätzlich hunderttausend Wohnungen, gegen die niedrigen Mieten, gegen die Stabilität unserer Preise, gegen die niedrigen MTS-Tarife, gegen die hohen Ausgaben für Wissenschaft und Kultur und gegen unsere Friedenspolitik richten. Sie müßte sich gegen die Einheit der Arbeiterklasse, gegen unseren Arbeiter-und-Bauernstaat richten. Sie müßte für den Einsatz von Militaristen und Faschisten in hohe 14 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1966, Bd. 8, S. 113. 15 Erklärung von Historikern und Archivaren der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 5 (1957), Heft 4, Beilage (nicht im Inhaltsverzeichnis – auch nicht im Jahresinhaltsverzeichnis genannt).
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Machtpositionen, für den NATO-Kriegspakt und für die Vorbereitung eines Atomkrieges sein. Solch eine Opposition zu dulden wäre verbrecherisch.“16
Mit ihren Neutralisierungsbemühungen konnte die SED-Propaganda durch Verdrehungen, Verschweigen oder plumpe Lügen beim Vergleich mit Ereignissen in der Bundesrepublik nur wenig oder gar nichts erreichen. Bei der Neutralisierung sollte auch der Sport helfen. Im April 1957 wurde in Ost-Berlin der „Deutsche Turn- und Sportbund“ (DTSB) gegründet, eine Dachorganisation aller DDR-Sportverbände mit (1958) einer Million Mitglieder.17 Die Förderung des Sports schien eine Möglichkeit zu sein, dem Interesse der Jugend nach westlicher Musik, Mode und Freizeitgestaltung entgegenzuwirken und sie an die DDR zu binden. Die schon lange aktiven Betriebssportgemeinschaften und der Massensport wurden vom Staat unterstützt (bereits 1956 zählten diese Sportgemeinschaften über eine Million Mitglieder), um eine Basis für den Spitzensport zu schaffen. Allerdings wurde offen zugegeben, dass der Sport zugleich der vormilitärischen Ertüchtigung dienen solle. Dazu war schon 1952 eine Massenorganisation, die Gesellschaft für Sport und Technik (GST), ins Leben gerufen worden. Auf ihrem ersten Kongress im September 1956 beriet sie über die Aufgabe, „durch körperliche Ertüchtigung, sportliche und technische Ausbildung der Werktätigen die Verteidigungsfähigkeit der DDR zu erhöhen“.18 In der Alltagspropaganda wurde 1957 die „Volksnähe“ der Führung als „Beweis“ ihrer Verbundenheit und dem Einsatz für die Menschen betont. Die dazu verbreiteten „Fakten“ reizten indes eher zum Spott. Etwa wenn berichtet wurde, dass bei einem Sportfest am 7. Juli der SED-Chef mit einem FDJ-Sekretär „um die Wette“ schwamm und Ulbricht diesen „außer Atem“ brachte.19 Oder als am 11. August Ulbricht und Chruschtschow gemeinsam ein staatliches Saatzuchtgut besuchten und der Sowjetführer wie bei ihm üblich den Mais rühmte: „Hier wächst die Wurst am Stengel! Das ist Butter! Das ist Beefsteak!“20 Einfluss auf die ersehnte bessere Stimmung der Bevölkerung hatte das wohl kaum, doch die Dynamik war angelaufen. Ministerpräsident Grotewohl ging z. B. mit hundert Mitarbeitern seines Regierungsapparats in eine LPG, um bei der „Maispflege“ mitzumachen. 16 Neues Deutschland vom 17. Mai 1957, wiederabgedruckt in Hermann Weber (Hrsg.): DDR. Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1985, 3. Aufl., München 1987, S. 229–230. 17 Vgl. zum DTSB Andreas Herbst: Deutscher Turn- und Sportbund der DDR (DTSB), in: Gerd-Rüdiger Stephan/Andreas Herbst/Christine Krauss u. a. (Hrsg.): Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch., Berlin 2002, S. 637–657. 18 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Chronik, Bd. 3, Berlin (Ost) 1967, S. 517. 19 SBZ-Archiv. Dokumente, Berichte, Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen. 8 (1957), Nr. 15, S. 233. 20 Ebd., Nr. 17, S. 267.
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Ebensowenig half die Kampagne einer „großen Aussprache mit der Bevölkerung“. In die Aktivität unter der Parole „Weg von den Schreibtischen, näher an die Massen“ reihte sich Ulbricht ein. Im linken Arm eine Thälmann-Pionierin, im rechten Arm einen riesigen Stoffteddybären, trat er „mit jovialen Chruschtschow-Lächeln“ im Oktober 1957 vor tausend Schülern in der Spielzeugstadt Sonneberg auf.21 Natürlich konnten solche Kömodien die Misere in der DDR nicht überdecken, die erstrebte Neutralisierung griff nicht. Politische und juristische Repressalien verschärften die Unzufriedenheit, selbst wenn nach den Erfahrungen des 17. Juni 1953 kaum jemand wagte aufzubegehren. 1957 machte die Ulbricht-Führung die „Entstalinisierung“ nur formal und halbherzig mit, faktisch konservierte sie ihre stalinistischen Grundstrukturen. Die Unterdrückungspolitik und das Wirtschaftsdesaster führten zur „Abstimmung mit den Füßen“: 1957 flohen 261.000 Personen nach Westen, fast so viele wie 1956 (279.000); erst 1958 und 1959 (204.000 bzw. 143.000) zeigte der Rückgang eine relative Stabilisierung an.22 II. Die SED-Ideologie: Die Partei hat immer Recht Ulbricht verlangte 1957 die Geschlossenheit im hierarchischen Aufbau der SED als unabdingbare Voraussetzung der Macht in Staat und Gesellschaft, als Garantie beim „Aufbau des Sozialismus“, wie sich das Herrschaftssystem der DDR nannte. Die Forderung eines „dritten Weges“ und damit der Überwindung des Stalinismus war aus dieser Sicht die größte Gefahr. Um die Verbreitung solcher Ideen zu verhindern, wurde 1957 eine strategische Offensive der politischen Parteiarbeit initiiert. Vorrang erhielt die Ideologie mit ihrem Dogma: Die Partei (d. h. deren Führung) hat immer Recht. Bereits um die Jahreswende 1956/57 rückte dieser Aspekt in den Vordergrund – und zwar nicht allein in der DDR, sondern in allen mit der Sowjetunion verbündeten Staaten des „sozialistischen Lagers“: die Umformung des Bewusstseins der Menschen, die Beeinflussung ihrer Gedanken und Gefühle im Sinne der „sozialistischen“ Doktrin. Die Verbreitung der „Ideologie der Arbeiterklasse“, der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ des Marxismus-Leninismus, speziell auch des dialektischen Materialismus, insbesondere durch Schulung der „Funktionärskader“ und der „breiten Massen“, wurde von der gemeinsamen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau im November 1957 zu einer entscheidenden „aktuellen Aufgabe“ erklärt.23 Noch im gleichen Monat hatte 21 St. (Carola Stern): Ulbrichts Kampf gegen „Hirngespinste“, in: SBZ-Archiv, 19 (1957), S. 289. 22 Vgl. Weber: Geschichte der DDR (Anm. 2), S. 220. 23 Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder, die vom 14. bis 16.11.1957 in Moskau stattfand, in: Unter dem Banner des Proletarischen Internationalismus. Dokumente und Materialien zur Ge-
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das ZK der SED auf seiner 34. Plenarsitzung diese Aufgabe gezielt übernommen: „Die Erziehung der Parteikader und der breiten Massen im Geiste des Marxismus-Leninismus ist eine vordringliche, aktuelle Aufgabe.“24 Die pompösen Feiern zum 40. Jahrestag der bolschewistischen „Oktoberrevolution“ wurden im November 1957 gerade in der DDR genutzt, um das „Vorbild“ Sowjetunion überschwänglich zu loben. Begonnen hatte die ideologische Kampagne Anfang 1957 mit der These: Die Vollendung des sozialistischen Aufbaus der DDR ist in hohem Maße von der weiteren Erhöhung des sozialistischen Bewusstseins der Menschen abhängig. Fortan hieß es, die „sozialistische Erziehung“ sei der „Schlüssel“, um die „ökonomischen und politischen Aufgaben zu lösen“.25 Die SED behauptete weiterhin, sie allein sei im Besitz der Wahrheit, aber das Denken und Fühlen großer Teile der Bevölkerung bleibe hinter den realen Veränderungen, dem erreichten „Fortschritt“ zurück, das wirke bis in die Partei und daher habe die ideologische Schulung nun Vorrang. Zugleich wurde der Zentralismus in DDR forciert. Das Sekretariat des ZK unter Ulbricht entschied selbst über Kleinigkeiten bis hin zur Bewilligung von Delegationszusammensetzungen, Urlaubslisten, der Übersiedlung einer Genossin aus Bulgarien oder dem Kuraufenthalt eines Funktionärs (Wilhelm Koenen) und seiner Frau in der UdSSR.26 Und im Dezember 1957 hatte sich das Sekretariat des ZK sogar mit der „Republikflucht von Angehörigen politischer Mitarbeiter des ZK“ von 1955 bis 1957 befasst.27 Die SED-Spitze wollte über sämtliche Probleme bestimmen und sie mit einer Offensive ideologischer Propaganda lösen, was nicht glücken konnte. Eine zentrale Rolle bei der ideologischen Indoktrination spielte auch 1957 der „Antifaschismus“. Das Versprechen der Ideologie des Marxismus-Leninismus von einer besseren, „klassenlosen“ Zukunft wurde in der DDR ergänzt mit dem Verweis auf die (heroisierte) Vergangenheit der Kommunisten als Antifaschisten (sie hatten ja unter Hitler die größten Opfer gebracht), was der SED innenpolitisch eine moralische Reputation verschaffen sollte. Es galt, die Diktatur der Partei, die „immer Recht“ hatte, zu verklären und zu rechtfertigen. Entsprechend
schichte der internationalen Arbeiterbewegung Februar 1956–Dezember 1959, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin (Ost) 1960, S. 325. 24 Zu den Ergebnissen der Beratungen . . . in: Dokumente der SED (Anm. 11), S. 354. 25 „Neuer Weg“, hrsg. v. ZK der SED für Fragen des Parteiaufbaus und des Parteilebens, 12 (1958), Nr. 16, S. 1218. 26 Vgl. Protokoll des Sekretariats des ZK der SED vom 19.3.1958, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO), DY 30, J IV 2/3/595. 27 Protokoll 45/57 des Sekretariats vom 11.11.1957, in: SAPMO, DY 30, J IV 2/3/ 586.
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dieser Perspektive war allein sie der Garant, der Faschismus und Krieg verhinderte.28 Schließlich engte der Alleinvertretungsanspruch der Kommunisten den Antifaschismus auf die jeweilige politische Linie ein. Gegner der Diktatur oder Opposition gegen den offiziellen Kurs wurden mit dem Bannfluch „Faschismus“ belegt (schon früh der „Trotzkismus“, 1949 der „Tito-Faschismus“ oder 1953 der „faschistische“ Aufstand vom 17. Juni). Zur Funktion des Antifaschismus gehörte es, ein Feindbild zu verbreiten, um jeden „Feind“ als faschistisch verunglimpfen zu können. In der SED wie außerhalb ihrer Reihen förderte der Antifaschismus die Integration sowie die Loyalität gegenüber dem neuen Staat DDR und seiner Führung. Nach den schrecklichen Erfahrungen mit Krieg und NS-Diktatur akzeptierten selbstverständlich die meisten Menschen den Antifaschismus. Solch teilweise „verordneter Antifaschismus“ erzielte über die Volksbildung Wirkung. Doch die instrumentelle Einengung des Antifaschismus spiegelte sich nicht nur in den Einrichtungen der Gedenkstätten, sondern ebenso in der ideologischen Schulung. Auch 1957 sollte der Antifaschismus zur „Liebe gegenüber Partei und Staat“ und zum „unversöhnlichem Haß“ gegen den „Klassenfeind“ erziehen. Schon das 30. Plenum des SED-ZK Ende Januar 1957 hatte die „historische Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus“ in der DDR beschworen und den Kampf der Partei „für den Sieg des Sozialismus in ganz Deutschland“ verkündet.29 Durch Indoktrination und ideologische Aktivitäten wollte die SED diesen (Irr-)Glauben in der Partei und in der Bevölkerung verbreiten und alle kritischen Ideen abwürgen. Verdammt wurden etwa „vereinzelte Auffassungen“ von Historikern, die für eine Revision der Darstellung der „historischen Rolle Ernst Thälmanns“ eintraten und die angeblich „sogar eine ,positive Rolle‘ parteifeindlicher Gruppen“ forderten.30 Die Massenorganisationen und auch die übrigen Parteien wurden in die ideologische Kampagne einbezogen. Im April 1957 erklärte die FDJ-Spitze ihren Verband zur „sozialistischen Jugendorganisation“. In den „Mittelpunkt“ der Arbeit rückte sie – entsprechend der SED-Schulung – die Erziehung, um der DDRJugend die „sozialistische Weltanschauung“ zu vermitteln. Die vormilitärische Ausbildung sollte weitergehen. Allerdings hatte die FDJ Schwierigkeiten, da Stu28 Vgl. aus der umfangreichen Literatur zum Antifaschismus z. B. Annette Leo/Peter Reif-Spirck (Hrsg.): Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999. 29 Der Kampf gegen die bürgerliche Ideologie und den Revisionismus. Zur 30. Tagung des Zentralkomitees, in: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, 12 (1957), Heft 2, S. 129–139. 30 Einheit, 9 (1957), S. 1161. Ein Artikel von Jürgen Kuczynski in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1 (1957), wurde dort auch in den folgenden Nummern heftig kritisiert.
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denten einen unabhängigen Verband verlangten, was scharf zurückgewiesen wurde.31 Im Dezember 1957 rief der Hauptvorstand der Ost-CDU seine Mitglieder auf, „Kämpfer für den Sozialismus, tätige Mitarbeiter beim Aufbau der neuen Ordnung“ zu sein.32 Ähnliches propagierte die LDPD. Die Anpassung der Blockparteien ging also weiter, das DDR-Parteiensystem wurde 1957 für den Kampf gegen den „dritten Weg“ eingespannt. Jeder Zweifel an der Führung, wie er nach dem XX. Parteitag mit der Kritik an Stalin auch in der SED schwelte, war zu bekämpfen. Disziplin und Unterwerfung sollten allerdings nicht nur durch dogmatische Indoktrination, sondern ebenso „hart“ durch abschreckende Verfolgung von „Abweichlern“ erreicht werden. III. Terror gegen „Abweichler“ Da sich die Arbeiterschaft in der DDR 1956 relativ ruhig verhalten hatte und die Veränderungen in Polen und Ungarn insbesondere von der Intelligenz oder auch der Parteijugend ausgegangen waren, sah die Ulbricht-Führung vor allem in diesen Kreisen ein bedrohliches Potential. Deshalb galt es, die Idee eines „dritten Weges“ jenseits von Kapitalismus und Stalinismus in ihren eigenen Reihen mit allen Mitteln zu unterdrücken, Oppositionelle auszuschließen und zu verfolgen. Bereits Anfang 1957 verschärfte sich der Kampf der SED gegen führende Intellektuelle, darunter Ernst Bloch in der Philosophie, die Ökonomen Fritz Behrens und Arne Benary, aber auch gegen Jürgen Kuczynski. Das theoretische SED-Organ „Einheit“ hat in jeder Nummer 1957 Wissenschaftler angegriffen, da die „Wurzel“ des Revisionismus in deren „Losgelöstheit“ von der „Praxis des sozialistischen Aufbaus“ liege.33 Außerdem beschloss das 30. Plenum Ende Januar 1957 „Aufgaben der Parteikontrollkommissionen“, also der innerparteilichen Polizei. Die „Hauptaufmerksamkeit“ galt der „Festigung der Einheit und Reinheit der Partei“, daher waren „Parteiverfahren gegen solche Parteimitglieder durchzuführen“, die „feindliche Auffassungen in die Partei hineintragen, führende Genossen der Partei verleumden“ oder Parteibeschlüsse „sabotieren“.34 Nicht nur Anhänger des „dritten Weges“ sollten entfernt und verfolgt werden, auch Kritik am Stalinisten Ulbricht war tabu. 31 Vgl. Protokoll 45/57 des Sekretariats des Zentralrats der FDJ vom 11. November 1957, in: SAPMO, DY 30, J IV 2/3/586. 32 Dokumente der CDU. Bd. II, Berlin (Ost) 1958, S. 53. 33 Einheit, 2 (1957), S. 138. Vgl. auch entsprechende Angriffe in den folgenden Heften. 34 Aufgaben der Parteikontrollkommissionen, in: Dokumente der SED (Anm. 11), S. 199.
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Der Terror als Herrschaftsinstrument der SED wütete 1957 inner- und außerhalb der Partei. Bereits am 20. Januar 1957 wurde eine Gruppe Dresdener Oberschüler wegen „Boykotthetze und Anstiftung zum Aufruhr“ verurteilt. Dieser Auftakt politischer Prozesse bedeutet zwar noch keine Verschärfung der Verfolgungen insgesamt, bestätigte aber, dass die Führung es ernst meinte mit ihrer Einschätzung (z. B. auf dem 30. Plenum), keine Fehler einzugestehen, die stalinistische Strategie beizubehalten. Diese SED-Haltung wurde von den Sowjetführern auf der Zusammenkunft im Januar unterstützt. Über die Ergebnisse der Moskauer Beratungen schrieb Karl Schirdewan – damals noch zweiter Mann nach Ulbricht – im Januar in der Zeitschrift „Einheit“ ganz im Sinne der Parteilinie, die SED müsse „gegen jegliche Koexistenz in ideologischen Fragen“ auftreten und die „Einheit der Partei auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus hüten“.35 Damit stand er nach außen – entsprechend der „Parteidisziplin“ – in einer Reihe mit Hermann Matern, dem Vorsitzenden der ZPKK und „Obersäuberer“ der SED. Dieser wandte sich nicht nur gegen den Begriff „Stalinismus“, sondern lehnte jede „Fehlerdiskussion“ ab und behauptete, „die Phrase des Antistalinismus“ werde „für die Maskierung der bürgerlichen Revision des Marxismus-Leninismus benutzt“.36 Seine Aussage entsprach der Bewertung des 30. ZK-Plenums Ende Januar, das die Partei strikt orientierte auf den Kampf „gegenüber allen Schwankungen und revisionistischen Verfälschungen des Marxismus-Leninismus“.37 Dass hinter den Kulissen zwischen Ulbricht und Schirdewan bereits Spannungen existierten, war nicht zu erkennen, viel mehr wurde den Parteimitgliedern Konsens der Führer gegen den Feind, besonders die „konterrevolutionäre Gruppe Harich“ und dem „Agenten Harich“ vorgegaukelt. Und gegen diese „Gruppe“ sind die Behörden mit staatlichen Repressionen eingeschritten. Die Justiz, die von der SED bestimmt wurde – es gab ja keine Gewaltenteilung – griff nun erneut zu harten Repressalien. Zuvor waren 1956 im Rahmen der Kampagnen nach dem XX. Parteitag der KPdSU und der Kritik an der Stalinschen „Verletzung der Gesetzlichkeit“ 25 000 Häftlinge vorfristig freigelassen worden. Außerdem hatte die SED-Führung durch eine „Kommission zur Überprüfung von Angelegenheiten von Parteimitgliedern“ – ausgerechnet unter Vorsitz von Walter Ulbricht – angeordnet, hunderte von Häftlingen sowohl des Ost-Büros der SPD als auch SED-Funktionäre und solche der Blockparteien sowie weitere 3.000 noch von sowjetischen Gerichten verur35 Karl Schirdewan: Die Moskauer Beratungen – ein wichtiger Schritt zur Festigung der Herrschaft der Arbeiterklasse in der DDR, in: Einheit, 1 (1957), S. 11. 36 Hermann Matern: Die Bedeutung der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels für den gegenwärtigen Kampf der deutschen Arbeiterklasse, in: Einheit, 3 (1957), S. 274–293. 37 Der Kampf gegen die bürgerliche Ideologie (Anm. 29), S. 129.
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teilte Personen aus den DDR-Gefängnissen zu entlassen. Wie die ZPKK der SED beschäftigte sich diese Kommission zudem erstmals mit den deutschen kommunistischen Opfern der blutigen Stalinschen Säuberungen, freilich begrenzt auf ganz wenige Fälle.38 Solche Beschönigungen hat die SPD in ihren in die DDR eingeschleusten Materialien entlarvt.39 1957 schien dieser „liberale“ Trend zunächst weiter zu gehen. Geführt wurde beispielsweise eine Diskussion über „das Parteiprinzip im Strafprozeß der DDR“.40 Ende des Jahres gab es in der DDR 650 politische Häftlinge weniger als am Anfang 1957 – aber es waren immer noch 5.000. Schließlich wurden 1957 erneut fast hundert Wissenschaftler und Studenten festgenommen.41 Politische Prozesse bedrohten vor allem Anhänger des „Dritten Weges“, oppositionelle Sozialisten. Die „Revisionistenverfahren“ begannen im März 1957 mit dem spektakulären Prozess gegen Wolfgang Harich, Bernhard Steinberger und Manfred Hertwig bzw. im Juli gegen Walter Janka, Heinz Zöger, Gustav Just und Richard Wolf. Die verhängten hohen Strafen sollten abschrecken. Diese Form von Tribunalen gegen oppositionelle Sozialisten endete zunächst im Dezember 1958 mit dem Verfahren gegen Erich Loest u. a. in Halle.42 Bekannt sind darüber hinaus Prozesse gegen Studenten und Schüler. Genauer beleuchtet sind inzwischen die jugendlichen Widerstandskämpfer des „Eisenberger Kreises“, die längere Zeit aktiv waren und im Herbst 1958 abgeurteilt wurden.43 Es gab auch den „Nationalkommunistischen Studentenbund“, eine Widerstandsgruppe an der TH Dresden, die seit 1957 bestand und deren Mitglieder das Bezirksgericht Dresden im Frühjahr 1959 verurteilte. Vor allem in der Studentenschaft gab es oppositionelle Strömungen. Diese diffamierte Ernst Wollweber, als er im Februar 1957 noch Chef des MfS war. Er bezeichnete sie als „ideologische Verworrenheit“, die von den „imperialistischen 38 Zur Entlassung werden vorgeschlagen . . . Wirken und Arbeitsergebnisse der Kommission des ZK zur Überprüfung von Angelegenheiten von Parteimitgliedern. Dokumente, Berlin 1991. Vgl. auch Hermann Weber: Weiße Flecken in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, 3. Aufl., Berlin 1990. 39 Vgl. z. B. die Dokumentation „Sozialdemokraten in SED-Kerkern“ in der Tarnschrift des Ostbüros mit dem Umschlag der SED-Zeitschrift Einheit, 6 (1956), S. 47– 50. 40 Vgl. Neue Justiz, Nr. 16 vom 20.8.1957, S. 512–13. 41 Vgl. zur Problematik und den Zahlen: Falco Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, insbesondere S. 372–378. 42 Vgl. Gustav Just: Deutsch, Jahrgang 1921. Berlin 2007; Erich Loest: Prozeßkosten. Bericht. Göttingen 2007. 43 Vgl. Thomas Ammer: „Angeregt durch die Methode der Geschwister Scholl“. Ein Rückblick auf den Eisenberger Kreis aus dem Jahre 1965, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2007), S. 377–395; Patrick von zur Mühlen: Der „Eisenberger Kreis“. Jugendwiderstand und Verfolgung in der DDR 1953–1958, Bonn 1995.
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Geheimdiensten“ angestiftet worden sei.44 Im Westen zog diese primitive Sicht natürlich nicht. Beobachter unterschieden „vier studentische Hauptströmungen“: (1) Verfechter der Parteilinie, (2) Spontane Opposition, (3) Ideelle Gegner des Marxismus, (4) Marxistische Opposition.45 IV. MfS-Analysen Was seinerzeit bekannt gemacht wurde, war nur die Spitze eines Eisbergs. Das MfS hatte weit umfassendere konkrete „Untersuchungsergebnisse“ für die Staatspartei ausgearbeitet. Inzwischen wurde (im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1997) die 1957 intern erstellte „Analyse der Feindtätigkeit innerhalb der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz“, ein neunzigseitiges Papier, abgedruckt.46 Das Dokument ist ein Zeugnis der Aktivitäten innerkommunistischer Opposition in der DDR 1956/57. Bei dessen Veröffentlichung 1997 hielt Ilka-Sascha Kowalczuk mit Recht fest: „Anders noch als im Sommer 1953 gingen die Unruhen 1956/57 nicht nur vorrangig von Intellektuellen und Studenten aus, sondern zudem vor allem von solchen, die entweder Mitglieder der SED waren oder aber kommunistischen Ideen nahestanden. Der XX. Partei der KPdSU im Februar 1956 hatte eine tiefe Krise in der kommunistischen Welt ausgelöst, die ihre manifesten Höhepunkte in der ungarischen Revolution im Oktober/November 1956, in den Unruhen in Polen sowie in den Auseinandersetzungen in anderen kommunistischen Staaten, darunter der DDR, fanden. [. . .] Im Kern ging es dabei um Versuche, die sozialistische/kommunistische DDR zu demokratisieren, allgemeinen Menschenrechten zur Anerkennung zu verhelfen, letztlich die DDR so zu reformieren, daß sie zur einer Wiedervereinigung Deutschlands auf gleichberechtigter, demokratischer Grundlage fähig sein würde, ohne daß dies einem bloßen Anschluß an Westdeutschland gleichkäme.“47
Von der Stasi wurden zunächst die „Gruppierung um Harich“ und als „das politisch-organisatorische Zentrum der konterrevolutionären Bestrebungen“, der Aufbau-Verlag, sowie alle Personen im Umfeld z. B. des „Sonntag“ registriert und mit den üblichen Verunglimpfungen belegt. Dann sind weitere hunderte von Oppositionellen in den verschiedensten Institutionen der Wissenschaft und Kunst der DDR und deren „gefährliche“ Bestrebungen erwähnt. Zum „Umfeld“ wurden dabei die unterschiedlichsten Leute gerechnet, etwa jene, die „Harich in seinen Anschauungen bestärkten“. Dazu zählte das MfS sowohl Alfred Kosing und Ru44 Wollweber am 13. Februar auf einer Studentenversammlung an der Humboldt Universität. Vgl. SBZ-Archiv, 5./6.3.1957, S. 87. 45 Gerd Böttger: Die politische Situation an den Hochschulen, in: SBZ-Archiv, 12 (1957), S. 181. 46 Ilko-Sascha Kowalczuk: Frost nach dem Tauwetter: Opposition und Verfolgungen 1956/57 in der DDR. Eine Dokumentation des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, (1997), S. 167–215. 47 Ebd., S. 168.
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dolf Engel als auch Ernst Busch, Wieland Herzfelde, Georg Klaus und Fritz Klein. Nach einem Überblick zur „Haltung von Funktionären zum Prozess“ folgt im Teil B ein Stasi-Report: „Ideologische Bastionen feindlicher Art in den wissenschaftlichen und kulturpolitischen Einrichtungen der DDR“, beginnend mit Ernst Bloch „und seinen Studenten“, ebenso zu Auswirkungen des „Verrats des Prof. Kantorowicz“. Die Flucht dieses Altkommunisten und international renommierten Wissenschaftlers am 22. August 1957 hatte der SED schwer zu schaffen gemacht. Über die „Folgen“ berichtete die Stasi detailliert, laut ihrem Geheimpapier war seine Flucht „ein Teil des großen Planes des Gegners“, auch um „Adenauer bei den Wahlen Hilfe zu leisten“. Solche interne „Einschätzung“ zeigt den begrenzten Horizont der Stasileute, denn sie wussten oder hätten wissen können, dass Kantorowicz in der Bundesrepublik keineswegs mit „offenen Armen“ aufgenommen wurde. Er hatte im Gegenteil als Kommunist, obwohl ausgewiesener UlbrichtGegner, lange Zeit große Schwierigkeiten. Konkreter waren Auskünfte des MfS von Schnüffeleien über Gruppen des „dritten Weges“ an den Hochschulen, es war offensichtlich, daß hier auf SpitzelBerichte zurückgegriffen werden konnte. Insgesamt lässt das umfangreiche Dossier erkennen, daß die Überwachung nicht nur eine Stufe zur Vorbereitung von Verfahren gegen Kritiker war, sondern der Information der Parteiführung diente, Material über „Feinde“ lieferte. Auf dem 33. Plenum des ZK der SED im Oktober 1957 spielte das Dokument „eine zentrale Rolle“.48 Im Dezember 1957 schließlich verschärfte die Volkskammer das Strafgesetzbuch und schuf damit weitere neue Straftatbestände zur Verfolgung politischer Gegner. Konnten bisher politische Vergehen nur nach Artikel 6 der DDR-Verfassung geahndet werden, so definierte das neue Gesetz Staatsverrat, Spionage und Sammlung von Nachrichten als Verbrechen. Die Verbindung zu „anderen Staaten und deren Vertretern oder Gruppen, die einen Kampf gegen die Arbeiter-undBauern-Macht führen“, d.h. faktisch jegliche Verbindung zu nichtkommunistischen Organisationen, wurde nun mit Gefängnis bis zu drei Jahren bedroht. Aufgrund von Paragraphen über „staatsgefährdende Propaganda und Hetze“ sowie „Staatsverleumdung“ konnte das Erzählen von politischen Witzen ebenso geahndet werden wie die „Verleitung zum Verlassen der DDR“. Für schwere Fälle von Staatsverrat, Spionage und Diversion wurde sogar die Todesstrafe eingeführt.49
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Ebd., S. 168. Text in Ernst Deuerlein (Hrsg.): DDR. Geschichte und Bestandsaufnahme, München 1966, S. 191 ff. 49
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V. Führungskämpfe Dabei zeichnete sich schon Ende 1957 ab, dass die Auseinandersetzungen in der obersten Spitze der SED, die intern und nicht öffentlich stattfanden, zugunsten Ulbrichts verlaufen würden. Im November 1957 musste der Chef des MfS Ernst Wollweber zurücktreten, wurde durch Erich Mielke ersetzt, und im Dezember verübte Gerhart Ziller, Mitglied des ZK-Sekretariats, Selbstmord. Beide waren beim vergeblichen Versuch, Ulbricht abzulösen, mit Schirdewan liiert. Die Opposition gegen Ulbrichts starren Kurs wollte den Weg der „Entstalinisierung“ weiterführen, durch Zugeständnisse die Entspannung in Deutschland voranbringen. Wie bereits 1949 (Paul Merker u. a.) und 1953 (Zaisser, Herrnstadt usw.) konstruierte Ulbricht aus seinen Gegenspielern eine „Fraktion“, geleitet von seinem Hauptkontrahenten Karl Schirdewan, Mitglied des Politbüros und Sekretär für Kaderfragen. Neben Ernst Wollweber, dem MfS-Chef, und Gerhart Ziller, Sekretär des ZK für Wirtschaft, wurden auch Fred Oelßner, Mitglied des Politbüros und „Chefideologe“, sowie Fritz Selbmann, Wirtschaftsfachmann und Stellvertretender Ministerpräsident, dieser „Oppositionsgruppe“ zugerechnet. Zunächst schien Schirdewan der Unterstützung durch Chruschtschow sicher, doch dieser setzte nach dem Aufstand in Ungarn wieder auf Ulbricht. Bereits auf der 30. ZK-Tagung im Januar 1957 waren politische Reformen abgelehnt und Schirdewans Position erschüttert worden. Von der 33. Tagung des ZK im Oktober wurden zunächst Selbmann entmachtet, der Sekretär für Kultur Paul Wandel abgesetzt, Kurt Hager konnte sich nur durch ergebene „Selbstkritik“ und Bekenntnisse zu Ulbricht retten. Die Abrechnung Ulbrichts mit seinen innerparteilichen Gegnern hatte begonnen. Die 35. Tagung des ZK im Februar 1958 zog dann den Schlußstrich, sie maßregelte Schirdewan, Wollweber und Oelßner, die alle aus den Spitzengremien entfernt wurden (Ziller war ja bereits tot). Die SEDMitgliedschaft, die eineinhalb Jahre lang keinerlei Information über die Auseinandersetzungen hinter den Kulissen erhalten hatte, mußte nun die „SchirdewanGruppe“ verdammen.50 Von 1956 bis 1958 war die innere Struktur der SED nach wie vor stalinistisch. Allerdings war die „Schirdewan-Gruppe“ keine Oppostion des „dritten Weges“ wie die Harich-Gruppe, sie wollte das System der DDR aufrechterhalten, aber modernisieren und den realen Weg zur deutschen Einheit ebnen. Diese Altkommunisten waren Widerstandskämpfer gegen Hitler (Schirdewan und Selbmann saßen lange im Nazi-Zuchthaus), als Antifaschisten vorher geehrt, galten sie nun als „Parteifeinde“.
50 Das ZK der SED richtet an alle Grundorganisationen folgenden Brief: Über Fragen des 35. Plenums des ZK. Parteiinternes Material. O. J. (1958) [Archiv Hermann Weber]. Vgl. auch Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben, Berlin 1998.
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VI. Unterstützung im Westen? Am 26. Juli 1957 hatte der Ministerrat in Ost-Berlin entsprechend einer Vorgabe der Ulbricht-Führung vom Januar und mit sowjetischer Zustimmung einen Plan zu einer „Konföderation“ Deutschlands auf dem Wege zur Einheit vorgeschlagen. Tatsächlich lag die deutsche Einheit in weiter Ferne, die SED trieb ja die Veränderungen in der DDR, die die Spaltung vertieften, gerade ab 1957 voran. Die enge Bindung an die Sowjetunion wurde hingegen weiter gefestigt. In der Bundesrepublik wurde vor allem die Haltung der SED zur deutschen Einheit registriert. Dass die Propaganda der DDR-Führung ständig den „Wunsch“ nach Wiedervereinigung hervorhob, ist jedoch als ein Instrument kommunistischer Politik erkannt worden. Wenige Wochen vor den Wahlen zum 3. Deutschen Bundestag hatte DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl Ende Juli 1957 eine Erklärung zur deutschen Frage abgegeben.51 Sie unterschied sich nicht nur im Ton von den Forderungen Ulbrichts ein halbes Jahr zuvor. Dieser hatte noch auf dem 30. SED ZK-Plenum Ende Januar ultimativ verlangt, zuerst müssten sich die Strukturen der Bundesrepublik ändern, dann sei über die von ihm geforderte Konföderation und einen „gesamtdeutschen Rat“ zu verhandeln. Grotewohl war im Juli konzilianter. Um „die Vereinigung nicht zu erschweren“, bestehe die DDR nicht auf „der Erörterung solcher Fragen“, die mit der „weiteren Entwicklung Westdeutschlands“ oder der DDR verbunden seien. Die DDR-Regierung schlug nun einen „Staatenbund“, eine „Konföderation“ beider Staaten vor. Da der Westen auf freien gesamtdeutschen Wahlen als ersten Schritt zur Wiedervereinigung beharrte, war auch 1957 klar, dass es vorläufig keine deutsche Einheit geben werde. Die Verfolgungen von Regimegegnern in der DDR wurden in der Bundesrepublik stets aufmerksam beobachtet. Das Ostbüro der SPD wies in seinen Publikationen darauf hin, der SPD-Vorstand (SOPADE) verbreitete 1955 eine Denkschrift „Über die Straflager und Zuchthäuser in der Sowjetzone“ (bis Mitte der sechziger Jahre war die Bezeichnung DDR tabu). Schließlich brachten die Medien ständig Nachrichten über die DDR. Insbesondere ist das „SBZ-Archiv“ zu nennen. Dort wurden 1957 aus sämtlichen relevanten Bereichen Dokumentationen, Analysen und Berichte abgedruckt, monatlich stets eine „Chronik der Sowjetzone“. Hier kann ich als mitwirkender Zeitzeuge auf Einzelheiten verweisen. Im Band Hermann und Gerda Weber „Das Prinzip links. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten“, der 2006 im Ch. Links Verlag Berlin erschien, ist darüber genaueres zu nachzulesen. 1957 schrieb ich für das „SBZ-Archiv“ fünf Artikel zu Themen der SED und KPdSU. Während ich 1956 – als ehemaliger Kommunist von einem 51
Vgl. Neues Deutschland vom 28.7.1957.
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Prozess vor dem Bundesgericht bedroht – noch unter dem (leicht durchschaubaren) Pseudonym „W. Hermann“ veröffentlichte, erschienen seit 1957 alle meine Artikel unter meinem Namen. Möglich waren die Analysen im „SBZ-Archiv“ durch genaue Auswertung der DDR-Publikationen über die SED, insbesondere ihres Zentralorgans „Neues Deutschland“, der Ideologie-Zeitschriften „Einheit“ und „Neuer Weg“ sowie von Provinzblättern. Allerdings war das nicht immer einfach. Welche Schwierigkeiten Gerdas West-Berliner Tante bekam, als sie Bücher aus Ost-Berlin mitbrachte, um sie uns nach Mannheim zu schicken, ist im „Prinzip links“ nachzulesen.52 Natürlich war es kompliziert, aus den von der SED-Führung publizierten „parteilichen“ Verlautbarungen mit ihren Verklausulierungen die Fakten herauszufinden, doch zwischen den Zeilen war es möglich. Hin und wieder gelangten auf Umwegen (etwa über das Ostbüro der SPD) auch ungefilterte Originaldokumente in den Westen. Diese konnten u. a. in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Wochenschrift „Das Parlament“, die solide, wissenschaftlich tragfähige Beiträge lieferte, gedruckt werden. Dort erschienen 1957 z. B. Arbeiten über die Revolution in Ungarn oder über Wandlungen der kommunistischen Kulturpolitik. In unserem Zusammenhang ist besonders erwähnenswert „Die Krise des Stalinismus in der Sowjetzone“ (März), „Die Opposition in der Sowjetzone“ (Juni) und „Das 33. Plenum des ZK der SED. Enthüllung eines Geheimprotokolls“ (Dezember). Die Verfasser waren (mit drei Sternchen anonymisiert) Josef Scholmer und Heinz Lippmann, denen ich behilflich sein konnte. Im Artikel vom Juni53 wurde z. B. die Haltung der Opposition von 1953 mit der von 1956/57 verglichen. Interessant war darin die Darlegung und Auswertung einer Befragung geflüchteter Arbeiter, die das Bonner Ministerium für gesamtdeutsche Fragen mit durchgeführt hatte und die damals faktisch geheim gehalten wurde. Auffallend war, wie die Indoktrination selbst unter Flüchtlingen gewirkt hatte: Zwar sahen sich nur fünf Prozent als „Mitbesitzer“ des angeblichen „Volkseigentums“, 51 Prozent als „bezahlte Arbeiter“ und 43 Prozent sogar als „Ausgebeutete“, aber fast die Hälfte befürwortete echtes Volkseigentum, nur fünf Prozent waren für Liberalisierung der Wirtschaft und 14 Prozent für eine Marktwirtschaft mit „staatlichem Sektor“. Ein Drittel erklärte sich als antikommunistisch, aber ebenso viele als „marxistisch eingestellt“. Und es wurden auch „Errungenschaften“ bejaht, ein Viertel der Befragten nannte dortige Erholungsheime und Kulturhäuser sowie den FDGB-Feriendienst, ein Drittel Kinderheime
52 Hermann und Gerda Weber: Leben nach dem Prinzip links. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 2006, S. 122. 53 Die Opposition in der Sowjetzone am 17. Juni 1953 und heute, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B XXIII vom 12.6.1957, S. 361–370.
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und Krippen. Das waren wichtige Erkenntnisse über die Einstellung breiter Bevölkerungsschichten. Andererseits gab es Einblicke in brisante Debatten der SED-Führung, die in der „Beilage“ des „Parlaments“ vom Dezember 195754 zu lesen waren. In einem in den Westen gelangten, nur für ausgewählte Funktionäre zusammengestellten offiziellen Protokoll (die Reden fehlten in den veröffentlichten Verlautbarungen der DDR) belegten etliche Beiträge geheime geplante Normenerhöhungen oder Preissteigerungen. Vor allem gab das interne Papier Kenntnis von der Zersetzung innerhalb der Parteikader, Hinweise auf Abweichungen und Diskussionen um den „dritten Weg“. Dieser ist in unserem Zusammenhang zu verstehen als Idee einer Gesellschaftsordnung, die sich grundsätzlich vom Kapitalismus und vom stalinistischen Kommunismus unterschied und die vor allem als Alternative zum Stalinismus gesehen wurde.55 Die Opposition des „dritten Weges“ fand damals in der Öffentlichkeit im Westen verständlicherweise weniger Echo als der antikommunistische Widerstand. In der Bundesrepublik gab es 1957 jedoch lose kleine linke Gruppen, die ähnlich dachten und sich solidarisierten. Im „Prinzip Links“ ist beschrieben, wie schon 1956 Wolfgang Leonhard, Heinz Lippmann und ich hektographierte Exemplare des „Neuen Kurs“ mit der Geheimrede Chruschtschows gezielt an SED- und KPD-Funktionäre verschickten. Ebenso wurde das 1957 verfasste und 1958 erschienene Buch von Weber/Pertinax „Schein und Wirklichkeit in der DDR“ mit „65 Fragen an die SED“ in einer Sonderausgabe vom Ostbüro der SPD in die DDR geschmuggelt. Schließlich ist darauf zu verweisen, daß wir von Mai 1959 bis Mai 1964 den „Dritten Weg“ herausgaben, eine monatliche „Zeitschrift für modernen Sozialismus“ (seit 1961: „Diskussionsforum für modernen Sozialismus“). Hier arbeiteten auch die 1957 verhafteten Heinz Zöger und Manfred Hertwig von der „HarichGruppe“ mit, die nach der Freilassung geflüchtet waren. Das Blatt war auf dünnem Papier gedruckt, und der Großteil der Auflage wurde an Personen in der DDR versendet, wo es vor allem beim MfS Aufmerksamkeit erregte und hektische Geschäftigkeit hervorrief. Dies und andere Fakten sind im Buch „Leben nach dem Prinzip links“ belegt. Auch im Westen bestanden damals vielfältige Möglichkeiten, sich über die Opposition in der DDR zu informieren. Und es gab Bemühungen, die „Dritte Weg“-Opposition 1956 und 1957, so kompliziert es oft war, von hier aus zu unterstützen. Es handelte sich 1957 durchaus um eine gesamtdeutsche Bewegung.
54 Das 33. Plenum des Zentralkomitees der SED. Aus Politik und Zeitgeschichte, B IL/57 vom 18.12.1957, S. 837–851. 55 Vgl. Martin Jänicke: Der Dritte Weg. Die antistalinistische Opposition gegen Ulbricht seit 1953, Köln 1964.
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VII. Problemjahr 1957 Für die DDR sind neben ökonomischen und ideologischen Schwierigkeiten 1957 weitere bemerkenswerte Sachverhalte zu erkennen, auf einige wenige sei hier noch hingewiesen. Im August 1957 besuchte N. S. Chruschtschow die DDR.56 Seine Widersacher Molotow, Malenkow und Kaganowitsch waren im Juni 1957 aus dem ZK der KPdSU und damit aus der Politik ausgeschlossen worden. In der Sowjetunion war nunmehr Chruschtschows Macht (bis zur Absetzung 1964) etabliert. Der Sturz von Molotow und Genossen galt z. B. Trotzkisten als ein Ereignis, das sich einreihte in die „Folge von Erschütterungen, die das diktatorische Regime der stalinistischen Bürokratie seit dem Tode Stalins erlitten hat“.57 Damals wurde von SPD-Seite festgehalten: „In Deutschland repräsentieren Ulbricht und Konsorten beinahe abbildmäßig das, was die Gruppe um Molotow und Kaganowitsch darstellte.“58 Doch die Vorstellung, dass sich dies gegen Ulbricht richten werde, war irrig. Im Gegenteil, eine enge Verbindung von Chruschtschow und Ulbricht bahnte sich an, die Stellung des SED-Führers wurde weiter gefestigt. Chruschtschow unterstützte die Deutschlandpolitik Ost-Berlins, für ihn war die Wiedervereinigung Deutschlands nun nicht mehr Sache der Alliierten, sondern „der Deutschen“. Vor allem gab er bei diesem Besuch 1957 der DDR eine Sicherheitsgarantie. Die Spaltung Deutschlands war zementiert. Am 15. Oktober 1957 konnte die DDR ihren ersten außenpolitischen Erfolg registrieren. Bisher war sie als Satellit der Sowjetunion lediglich von den „Volksdemokratien“, die ja ebenfalls von der UdSSR dirigiert wurden, diplomatisch anerkannt. Nun nahm auch das blockunabhängige Jugoslawien diplomatische Beziehungen zur DDR auf. Der Durchbruch auf dem Feld der Außenpolitik war dem SED-Staat damit jedoch nicht gelungen, dieser zog sich über Jahrzehnte hin. Da die Bundesrepublik ihrerseits die Beziehungen zu Jugoslawien sofort beendete und mit der „Hallstein-Doktrin“ eine Drohung gegen andere Länder aussprach, jede Anerkennung der „SBZ“ werde mit dem Abbruch der eigenen Beziehungen beantwortet, blieb die DDR weiterhin isoliert.59 Der Kampf gegen die Kirchen verschärfte sich wieder.60 Im November 1957 stand der Leipziger Studentenpfarrer Schmutzler vor Gericht. Angeblich hatte er 56 Vgl. Gemeinsame Erklärung der Delegation der SED, der Regierung der DDR, der KPdSU und der Regierung der UdSSR, in: Dokumente der SED (Anm. 11), S. 323– 339. 57 So die trotzkistische „Internationale Informationen“, Jg. V, II vom Juli/August 1957. 58 Bericht über die Entwicklung in der UdSSR Juni 1957, S. IV. Zu den Berichten des SPD-Ostbüros vgl. Anm. 9. 59 Vgl. William Glenn Gray: Die Hallstein-Doktrin: ein souveräner Fehlgriff?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 17 (2005) vom 25.4.2005. Vgl. auch Marija Anic´ de Osona: Die erste Anerkennung der DDR. Der Bruch der deutsch-jugoslawischen Beziehungen 1957, Baden-Baden 1990.
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„illegale Zirkel“ gebildet. Vom Staatsanwalt als „Hetzer“ bezeichnet, wurde er zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Nachdem sich die Synode der Evangelischen Kirche mit Pfarrer Schmutzler solidarisierte, behauptete die SED, dieser sei „auf Grund seiner staatsfeindlichen Tätigkeit, aber nicht wegen seiner Weltanschauung verurteilt“ worden. Eine Reihe weiterer Prozesse gegen evangelische Geistliche zeigte, dass diese Behauptung nicht stichhaltig war. Im Dezember 1957 verurteilte das Bezirksgericht von Schwerin den Probst Otto Märcker zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus, wobei fast die gleiche Urteilsbegründung wie bei Pfarrer Schmutzler vorgebracht wurde.61 Erst im Ansatz zu erkennen waren die Veränderungen in der Landwirtschaft, die dann zur vollständigen Zwangskollektivierung führten und 1960/61 eine neue große Krise auslösten. 1957 befanden sich 25 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Besitz der LPGs, 1958 waren es bereits 37 Prozent (1960: 84 Prozent). Auf der 33. Tagung des ZK im Oktober 1957 hatte Ulbricht von der unbedingten Ausweitung des „sozialistischen Sektors“ in der Landwirtschaft gesprochen, was im Westen aufmerksam registriert wurde.62 1957 hatte die Partei eine Diskussion über Ethik und Moral eingeleitet. Dabei ging es in erster Linie um die Frage der Arbeitsmoral, die sie „als eine Sache der Ehre und des Ruhmes“ feierte. Die „sozialistische Arbeitsmoral“ sollte „im Kampf gegen unsittliches egoistisches Denken und Streben“ wachsen. Zur „moralischen Pflicht des Staatsbürgers“ deklarierte es die SED auch, die „sozialistische Gesellschaft durch Anzeige des Verbrechens“ zu schützen. Jede Nichtanzeige von „Spionen, Agenten und Saboteuren“ war danach „moralisch-politisch verwerflich“.63 Die SED-Genossen wurden ermahnt, Vorbild zu sein. Ebenso wurde zur gesunden Lebensführung aufgerufen, da die Jugend „dem Genußgift Nikotin arg verfallen“ sei. Bewegten sich die Moraldiskussionen noch weitgehend im theoretischen Raum, so löste die „sozialistische Revolution“ in der Kultur ernstere Konflikte aus. In Kultur und Kunst wie in der Wissenschaft zog die SED-Spitze 1957 ebenfalls die Zügel straffer an, sie führte einen Feldzug gegen die Moderne. Die Partei rief die Werktätigen auf, die „Höhen der Kultur zu erstürmen“. Auf einer „Kulturkonferenz“ der SED im Oktober 1957 richtete Alexander Abusch den Hauptstoß gegen die „Dekadenz“. Der „sozialistische Realismus“ sowjetischer 60 Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR. 1949–1989, Berlin 1997, vor allem S. 117–125; Ulrike Poppe/Rainer Eckert/Ilka-Sascha Kowalczuk (Hrsg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995. 61 Vgl. Neubert: Geschichte der Opposition (Anm. 60), S. 124–25; Neues Deutschland vom 20. 12.1957. 62 Vgl. Hermann Westphal: Der Schicksalsweg der Bauern, in: SBZ-Archiv, 25 (1957), S. 373–375. 63 Neues Deutschland vom 20.1.1958.
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Prägung sollte nicht Fernziel, sondern Gegenwartsaufgabe sein. Alfred Kurella forderte eine „sozialistische deutsche Kultur“.64 Besonders erbittert war der für Kultur zuständige ZK-Sekretär Kurt Hager darüber, dass die Künstler der DDR (und große Teile der Bevölkerung) alles, was aus dem Westen kam, für besser hielten und übernahmen. Hager nannte das auf der 33. ZK-Sitzung im Oktober 1957 eine „unkritische Haltung gegenüber der westlichen Afterkultur und ihren verschiedenen dekadenten Modeströmungen“ und erklärte: Für „uns sind Kunst und Literatur unentbehrliche Waffen“.65 Solche Bevormundungen stießen freilich auf den Widerstand vieler Künstler. VIII. Fazit Das Jahr 1957 war in der DDR ein Übergangsjahr. Die Hoffnungen von 1956, die Lage in Ostdeutschland würde sich nach den Ereignissen in der Sowjetunion mit der Enstalinisierungspropaganda Chruschtschows verbessern, wurden 1957 enttäuscht. In allen Bereichen der Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur verschärften sich wieder die stalinistischen Methoden. Nun wurde mit den „Abweichlern“ rigoros abgerechnet, die diktatorischen Strukturen des SED-Regimes wirkten sich aus. Die Übertragung des stalinistischen Systems der UdSSR war 1957 im Herrschaftssystem der Diktatur abgeschlossen, in der Gesellschaft wurde sie forciert. Und die völlige Abhängigkeit der DDR-Führung von Moskau war unabänderlich. Die Jubelfeiern der SED zum 40. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution im November 1957 bewiesen die volle Unterstützung von Partei und Staat für die KPdSU auch im Übergangsjahr 1957. Erst die beiden folgenden Jahre zeigten teilweise eine Konsolidierung des Systems, etliche Kreise der Bevölkerung arrangierten sich. Die politische Neutralisierung schien voranzukommen. Eine konsumfreundlichere Wirtschaftspolitik und mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse und persönlichen Wünsche der Menschen durch den Staat führten 1958/59 zu einem entspannteren Klima. Die Flüchtlingszahlen sanken und es sah so aus, als ob sich viele mit den bestehenden Verhältnissen in der DDR abfänden, um sich einzurichten. Eine relative Stabilisierung schien möglich. Doch in Wirklichkeit kam es schon 1960/61 zu einer neuen Krise. Sie wurde verursacht durch aktuelle wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Kollektivierung der Landwirtschaft, eine bedrückende Versorgungskrise, einen härteren politischen Kurs der SED und nicht zuletzt die Berlin-Drohungen Chruschtschows. Das alles verschärfte die Situation, rief eine Flüchtlingslawine hervor, die mit dem Mauerbau endete. Diese Ereignisse waren 1957 kaum vorhersehbar. 64
Neues Deutschland vom 23. und 24.10.1957. Wortprotokoll der 33. des ZK der SED, 16.10.1957, in: Staatsarchiv Bremen, Senatsregistratur R.1. 0. 194 bzw. 210, S. 97 f. 65
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Ein systematischer Rückblick auf das Jahr 1957 in der DDR (der keine Chronologie sein kann) zeigt bei den drei genannten entscheidenden stalinistischen Methoden der Machtsicherung der SED ein Ergebnis, das skizziert so zusammengefasst werden kann: Die Neutralisierung: Im Wesentlichen war die Bevölkerung nicht bereit, sich mit dem Regime abzufinden. Die wirtschaftliche Misere und die politische Unterdrückung sowie die Fixierung auf die Bundesrepublik standen auch 1957 einer Neutralisierung der DDR-Bürger im Wege. Die Ideologie: Obwohl die ideologische Indoktrination in den Mittelpunkt der „Parteiarbeit“ rückte, brachte sie nur Teilerfolge. Die Ideen des „dritten Weges“ wurden zwar weitgehend „ausgemerzt“, doch die positive Identifizierung mit dem System gelang nur in Ansätzen. Und die Zahl der gläubigen Anhänger, vor allem unter der Jugend, erreichte bei weitem nicht das gewünschte Ausmaß. Der Terror: Der Terror gegen kritische Teile der Intelligenz, die juristische Abrechnung mit der Opposition zeigte Wirkung, in breiten Kreisen wuchs die Angst. Doch mit zunehmenden Repressalien wurde selbst unter Funktionären die Heuchelei, die Doppelzüngigkeit üblich. Lippenbekenntnisse zur Politik und Ideologie der SED waren kein Ausdruck der Stärke der Diktatur, sondern ihrer Schwäche.
II. Zwischen Sputnik-Start, „deutscher Frage“ und europäischer Einigung – der Blick nach außen
Vorwärts in die Neue Zeit Die Metaphorik des Aufbruchs aus generationengeschichtlicher Perspektive Von Rainer Gries I. Der Anbruch einer neuen Epoche: „Das Zeitalter des siegenden Sozialismus“ „Das ist fürwahr der Anfang einer neuen menschlichen Epoche, eines Zeitalters der Wissenschaften und der Naturbeherrschung, das sich eine frühere Generation des Menschengeschlechtes nur erträumen konnte. Schätzen wir uns glücklich, Zeuge dieses Beginns zu sein“.1 „Sputnik“, der erste künstliche Satellit im Weltraum, war ein Produkt des Sozialismus. Die Sowjetunion hatte das anzustrebende Tempo auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft vorgeführt: Zum Entsetzen des Westens vermochte sie es, als erste Supermacht einen künstlichen Trabanten in den Orbit zu schicken. Der „Bruder des Mondes“, „das Werk der freiesten Gesellschaftsform der Menschheit“, sollte im Jahr 1957 eine neue Zeitrechnung begründen, den weltweiten Durchbruch des Sozialismus und dessen „Überlegenheit gegenüber der alten sozialen Welt“ beglaubigen: Es sei eine „zwangsläufige Gesetzmäßigkeit, dass die fortschrittlichste Gesellschaft auch den fortgeschrittensten Stand der Wissenschaft und Technik erreicht! Zugleich ist es symbolisch, daß die sozialistische Gesellschaft den ersten Himmelskörper von Menschenhand schuf: denn die neue Epoche der menschlichen Kultur setzt die neue bessere Gesellschaft, setzt den Sozialismus voraus!“2 Die Aufbruchstimmung und der Zukunftsoptimismus, die der Erdtrabant ausgelöst hatte, hielten bis zum Ende des Jahrzehnts an und erfassten das gesamte sozialistischen Lager: Von Ostberlin bis nach Peking glaubten die kommunistischen Führer, die lichte Zukunft des Sozialismus stehe nunmehr auf der Tagesordnung der Gegenwart. In der DDR kam es in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu einer fulminanten agitatorisch-propagandistischen Offensive: Der künstliche Erdtrabant im Jahr 1957, der V. Parteitag der SED 1958 und der zehnte Jahrestag der Gründung
1 So der Direktor der Sternwarte Berlin-Treptow, Professor Diedrich Wattenberg: Kundschafter im Weltall. Künstlicher Satellit der Erde gestartet, in: Wochenpost 4 (1957), Heft 41, S. 3. 2 Hans Kleffe: Der Mensch im All, in: Wochenpost 4 (1957), Heft 42, S. 10 f.
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der DDR im Jahr 1959 boten hervorragende Anlässe, den Aufbruch in eine neue Zeit ausgiebig und ausführlich zu proklamieren. Während dieser drei Jahre wurden der Bevölkerung nicht weniger als vier Zeithorizonte eröffnet.3 Deren publizistische Ausgestaltung und deren politische Hintergründe seien im ersten Teil dieses Beitrages ausgelotet. Wenn wir die beiden deutschen Gesellschaften als einen verflochtenen Kommunikationsraum, als einen gemeinsamen Erfahrungsund Erwartungsraum, verstehen, gilt es überdies, auch die bundesdeutschen Reaktionen auf die provokanten Zeitkampagnen des Ostens in den Blick zu bekommen. Im zweiten Teil sollen diese Zeit- und Zukunftsdiskurse mit den Ergebnissen generationengeschichtlicher Forschung kontrastiert werden.4 Nur wenige Jahre vor dem Bau der Mauer und vor der Trennung der beiden deutschen Staaten unternahm die Partei den groß angelegten Versuch, möglichst viele Gruppen und Generationen für die Sache des Sozialismus zu gewinnen und zu begeistern. Doch: Wie mögen die enthusiastischen Erzählungen vom „lichten Morgen“ bei der Bevölkerung angekommen sein? II. Bemächtigung der Vergangenheit – Ermächtigung zur Zukunft Die Jahre 1957 bis 1959 brachten sowohl in den Augen der politischen Führung wie im Empfinden weiter Teile der Bevölkerung eine Wende, den Durchbruch zu einer wahrhaft neuen Zeit. Die entbehrungsreiche Kriegs- und Nachkriegszeit war nun auch in der DDR zu Ende gegangen, denn nach fast neunzehn Jahren war es gelungen, die Lebensmittelrationierung vollständig abzuschaffen. Die ökonomischen Eckdaten schienen günstig wie nie, während man für die Bundesrepublik einen unmittelbar bevorstehenden konjunkturellen Einbruch prophezeite. Darüber hinaus kamen auch aus Moskau seit Mitte der fünfziger Jahre zufrieden stellende Plandaten und eine grandiose politische Perspektive. Anfang 1959 hatte Nikita Chruschtschow auf dem XXI. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion das große Ziel vorgegeben, bis zum Jahr 1965 den kapitalistischen Westen ökonomisch wie politisch zu übertrumpfen.
3 Zum Geflecht dieser Zeithorizonte siehe Monika Gibas/Dirk Schindelbeck (Hrsg.): „Die Heimat hat sich schön gemacht . . .“ 1959: Fallstudien zur deutsch-deutschen Propagandageschichte, Leipzig 1994 (= Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 4 (1994), Heft 3); Monika Gibas/ Rainer Gries/Barbara Jakoby u. a. (Hrsg.): Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR, Leipzig 1999. 4 Zum generationengeschichtlichen Forschungsstand siehe Thomas Ahbe/Rainer Gries: Generationengeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR, in: Thomas Ahbe/Rainer Gries/Annegret Schüle (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 475–571.
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1. Zehn Jahre DDR: 1949 bis 1959
Am 7. Oktober 1959 wurde vor diesem zeitpolitischen Hintergrund der zehnte Jahrestag der Gründung der DDR gefeiert. „Ich bin zehn Jahre“ war eine gängige Floskel der Agitation und Propaganda. Eine vielfach benutzte Allegorie personifizierte die junge sozialistische Republik als zehnjährigen Knaben oder zehnjähriges Mädchen. Die satirische Zeitschrift „Eulenspiegel“ hielt damals diese „Ansprache an das Geburtstagskind“: „Liebe Republik! Nun bist Du also 10 Jahre alt, und die Geburtstagstorte hat 10 Kerzen, und jetzt rauscht es im Blätterwald . . . Ich wünsche also Dir und uns allerlei: Gut zu essen, gut anzuziehen und zu wohnen und viele vollautomatische Maschinen . . . Und daß Du weiter so gut lernst, denn du bist, DDR, kein junger Herr, sondern ein 10jähriger Thälmann-Pionier! . . . Deshalb nochmal im Chor: Wir gratulieren uns zu dir und denken, du hast Format, und der Sozialismus, den wir uns selbst schenken, ist eine von den ganz guten Sachen. Und außerdem machen wir mit dir gerne ein bißchen Staat, lieber Staat, und der Staat, den wir machen, sind wir!“5
„Was sind zehn Jahre? 3.650 Tage! Sie reichen aus, große Teile der Welt in Unglück und Tod zu stürzen. Wir haben es erlebt. Sie reichen auch aus, ein Volk im Frieden zu Wohlstand und Glück zu führen. Auch das haben wir erlebt, in der Deutschen Demokratischen Republik. Die zehn Jahre sind um, wir ziehen Bilanz. Und das Ergebnis?“6 Der Zehn-Jahres-Horizont eröffnete die Möglichkeit, positive Entwicklungen im ersten Dezennium durch Vergleiche mit dem Jahr 1949 zu veranschaulichen. Über das 1959 gültige amtliche Geschichts- und Selbstbild der DDR informierten eine zentrale Exposition des Museums für Deutsche Ge5 Heinz Kahlow: Ansprache an das Geburtstagskind, in: Eulenspiegel 6/14 (1959), 1. Oktoberheft, S. 2. 6 3650 Tage und ihr Ergebnis, in: Neue Zeit vom 22.10.1959.
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schichte sowie Ausstellungen in den Bezirksstädten und in ausgewählten Hauptstädten Europas. Unter dem Motto „250 DM einst und jetzt“ luden dort Schaufenster zum Verweilen und zum Vergleichen ein. „Was konnten wir uns 1949 und was 1959 für 250 DM kaufen? Zehn Jahre liegen dazwischen, gekennzeichnet durch Lohn- und Rentenerhöhungen sowie Preissenkungen. Das Angebot an Dingen des täglichen Bedarfs ist besser und reichhaltiger geworden. Wir sehen farbenfreudige Bekleidung, blinkende Motorräder, Fernsehapparate, moderne Haushaltsgeräte, Kühlschränke, bequeme Campingausrüstungen, praktische Wohnungseinrichtungen und anderes – alles das sind Erzeugnisse unserer eigenen Produktion.“7 Der deutsche Arbeiter-und-Bauern-Staat konnte 1959 nicht nur im wahren Sinne des Wortes die eigene „Flagge zeigen“, sondern auf eine ganze Etappe, auf eine „Strecke“ Vergangenheit und auf eine eigene „Geschichte“ verweisen. Die Republik hatte Bestand und Beständigkeit bewiesen und sich als geschichtsmächtig gezeigt. Mit Erreichen des 7. Oktober 1959 glaubten die politischen Eliten Ostdeutschlands, sich endgültig Zugriff auf „die Zeit“ verschafft zu haben. Die erste große Botschaft der Zeitenwende verkündete daher stolz, dass die DDR zum Subjekt der Zeit und zum Subjekt der Geschichte geworden war. Mit einer erfolgreichen Bilanz der zurückliegenden zehn Jahre ließen es die Partei- und Staatsoberen, die Propagandisten und Publizisten jedoch nicht bewenden. Die zweite Botschaft dieser Zeitenwende prophezeite nicht weniger als drei goldene Zeithorizonte in der nahen und fernen Zukunft. 2. Einholen und Überholen: 1958 bis 1961
Mit der Formel „Einholen und Überholen“ wurde für ein wirtschaftlich aufgefasstes Nahziel geworben. Bis zum Jahr 1961 war die Volkswirtschaft der DDR so zu entwickeln, dass die Überlegenheit des Sozialismus der DDR gegenüber dem Kapitalismus der Bundesrepublik „eindeutig und für jeden sichtbar nachzuweisen“ war. Jedermann sollte binnen kürzester Frist in den Genuss solcher „Nachweise“ gelangen, denn dieser Wettbewerb sollte auf konsumtiver Ebene ausgetragen werden. Der Pro-Kopf-Verbrauch der werktätigen Bevölkerung der DDR bei allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern war der Ankündigung von Walter Ulbricht zufolge „binnen 1.200 Tagen“ so zu steigern, dass er den Verbrauch der westdeutschen Bevölkerung nicht nur erreichen, sondern sogar übertreffen sollte. „Unsere Losung, unser Grundsatz von heute ist der: Wir brauchen so viel wie möglich Waren“, agitierte die Zeitschrift „Wochenpost“: „Dort, wo heute ein Masthähnchen herumläuft, müssen es 1961 unbedingt acht sein.“8 Die Sortimente waren unverzüglich zu erweitern, die Qualität zu verbessern und das Angebot zu verbreitern. Binnen eines Jahres sollte das Angebot an 7 8
Wir alle sind die Geburtstagskinder, in: Der Morgen vom 30.9.1959. Wer abseits steht, betrügt sich selbst, in: Wochenpost 5 (1958), Heft 29, S. 2.
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so sensiblen Produkten wie Röstkaffee um 55 Prozent und an Kakaoerzeugnissen um 17 Prozent gesteigert werden, zwanzig Prozent mehr Frischobst und ein Drittel mehr Trinkvollmilch waren versprochen, mit rund zwanzig Prozent Zuwachs durften die Frauen bei Oberbekleidung und bei Perlonstrümpfen rechnen. 33 Prozent mehr Fernsehgeräte und gar 61 Prozent mehr Automobile sollten bereits 1959 auf den Markt gebracht werden.9 „So beginnen wir in der Deutschen Demokratischen Republik den dramatischsten Wettlauf, den die deutsche Geschichte je erlebt hat: den Wettlauf um den höheren Pro-Kopf-Verbrauch, den Wettlauf zweier Wirtschaftssysteme, der im Grunde der Lauf um unser aller Leben ist. Aber werden wir ihn gewinnen?“10 Der Zeithorizont „1961“ stellte sich als pures Konsumversprechen unter den Auspizien des Kalten Krieges dar: Seine programmatisch-propagandistische Ausgestaltung lebte nicht von der Erzählung großer gesellschaftlicher Visionen. Vielmehr wurden mit diesem Imperativ ökonomische Planziffern verknüpft, welche die Aussicht auf konsumtive Partizipation in kürzester Frist glaubhaft machen sollten. Die Binnenkommunikation dieser Zukunftsvorstellung zielte insofern auf eine rasche Stabilisierung der DDR-Gesellschaft. Der Drei-Jahres-Horizont wurde als Bestandteil eines „großen Programmes“ verstanden, „des Kampfes um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus und die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat“.11 Dieser Zeittopos entpuppte sich daher auch als ein Instrument der Deutschlandpolitik der SED. Der ideologische Hintergrund dieses Zukunftsversprechens imaginierte das Jahr 1961 janusköpfig. Nach Lesart der DDR-Propagandisten führten nur zwei Wege in jenes entscheidende Jahr – der westliche und der östliche. Der Wettbewerb der Systeme sollte demzufolge bereits bis zum Beginn der sechziger Jahre im Prinzip entschieden sein. Dieser Aufruf und der Aufschwung des Ostens war eine Kampfansage an das prosperierende Westdeutschland. Dort wurde dieser Fehdehandschuh tatsächlich aufgegriffen. Ludwig Erhard, der westdeutsche Wirtschaftsminister, der „Vater der sozialen Marktwirtschaft“, fühlte sich von Chruschtschow und von Ulbricht provoziert. In der Folge entspann sich ein deutsch-deutscher publizistischer Schlagabtausch zum Themenkomplex Zukunft, Konsum und Moral. Ludwig Erhard antwortete mit Reflexionen zum Begriff des „Lebensstandards“ und bezog sich ausdrücklich auf die „Herausforderungen des Herrn Ulbricht“. Der „Wert“ der beiden Systeme sei „weder materiell noch quantitativ 9 Vgl. G. Krüger: Schon beim Planen den Sieg des Sozialismus vorbereiten, in: Der Handel 8 (1958), Heft 8, S. 452. 10 PVC und die Zauberer von Bitterfeld, in: Wochenpost 6 (1959), Heft 4, S. 10 f. 11 10 Jahre Politik für Frieden und Wiedervereinigung. Thesen des Politbüros des Zentralkomitees zum 10. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, o. O. (Berlin (Ost)) 1959, S. 25 f.
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meßbar“, belehrte der Professor seinen ostdeutschen Widerpart. Denn das Wesentliche, „eben das, was unser individuelles, freies Lebensgefühl ausmacht und das Bild einer Gesellschaft freier Menschen prägt – ist die Buntheit, die Mannigfaltigkeit und Differenziertheit unseres Verbrauches. Und auf diesem Feld hat sich zwischen West und Ost das Gefälle der Wirkung und Leistung ins Groteske gesteigert.“12 Die Welten seien inzwischen so sehr voneinander getrennt, „daß die östlichen Machthaber das innere Wesen einer Gesellschaft freier Menschen und das, was ihren ,Lebensstandard‘ (als Lebensart und Lebensgefühl verstanden) ausmacht, gar nicht zu erfassen vermögen.“ Der materielle Umsatz eines Volkes, ausgedrückt in Verbrauchsziffern und Produktionsmengen, sage nichts aus „im Hinblick auf die Bereicherung menschlichen Seins.“ Nicht ohne Emotionen proklamierte Erhard schließlich: „Die westliche Welt und insbesondere die Bundesrepublik nehmen die Herausforderung des Herrn Ulbricht mit Gleichmut an.“ Allerdings glaubte die Symbolfigur westdeutscher Prosperität vorsorglich einräumen zu müssen, dass der Sieger dieses Wettstreites noch nicht feststehe: „Ja, wir sind sogar zu unterliegen bereit.“13 Die „Herausforderung des Herrn Ulbricht“ war in der Tat existentiell gemeint und wurde nicht nur von seinen Kontrahenten auf westlicher Seite ernst genommen. Die Auseinandersetzungen in den Medien wurden denn auch fortgesetzt. 3. Der Sieg des Sozialismus: 1958 bis 1965
Der zweite Zeithorizont bezog sich auf den erfolgreichen Abschluss des ebenfalls 1958 verkündeten Siebenjahrplanes. Der „Sieg des Sozialismus“ in der DDR sollte im magisch-mystischen Zeitraum von sieben Jahren 1965 endgültig erreicht sein. Diese Zeitvision entsprang der ökonomischen Fünfjahrplanung. Der zweite Fünfjahrplan, der ursprünglich von 1956 bis 1960 laufen sollte, war abgebrochen worden. Die DDR leistete dem wachsenden Synchronisationsdruck innerhalb des sozialistischen Lagers Folge und verkündete daher die Zusammenlegung der beiden letzten Jahre des zweiten mit den fünf Jahren des dritten Langzeitplanes. Die Aufgaben des Siebenjahrplanes zu erfüllen, „ist gleichbedeutend mit der Herbeiführung des Sieges der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Deutschen Demokratischen Republik“, erklärte Walter Ulbricht programmatisch.14
12 Ludwig Erhard: Über den ,Lebensstandard‘. Die Freiheit und der Totalitarismus – Die Herausforderung des Herrn Ulbricht, in: Die Zeit 13 (1958), Nr. 33 vom 15.8.1958, S. 11 f. 13 Ebd. 14 Walter Ulbricht: Der Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstandes und des Glücks des Volkes. Rede vor der Volkskammer am 30.9.1959, in: Neues Deutschland vom 1.10.1959 (Sonderbeilage).
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„Denkt die SED in sechs Jahren noch so“, wurde im Westen das große Ziel kommentiert, „müßte sie am Neujahrstag 1966 verkünden, daß nun der volle Sozialismus angebrochen sei. Walter Ulbricht jubelte schon jetzt vor der Volkskammer: ,Das Reich des Menschen ist gekommen‘, und die Sowjetzonenzeitungen schwelgen in Phrasen wie ,der Zukunft zugewandt‘, ,der befreite Mensch der DDR‘, ,alle Kraft dem herrlichen Ziel‘.“15 Dieser grandiose Zeithorizont wurde von den Medien der DDR in den schillerndsten Farben ausgemalt. Mit den Jahren 1965/1966 sollte ein sozialistisches Idyll und Schlaraffenland anbrechen. Die Vorstellung von der vollendeten sozialistischen Gesellschaft, die nun erreichbar schien, beflügelte die Phantasie der Journalisten und Publizisten. So malte sich „Das Magazin“ die Erfahrungen eines DDR-Kosmonauten aus, der zu Beginn des Jahres 1966 „vom Himmel“ fällt, nachdem er sieben Jahre im All unterwegs war. „Nun macht er große Augen.“ In Berlin, Hauptstadt der DDR, ist der Sozialismus alltägliche Realität geworden. „Und es geht schnell. Zwar ist die Kette glänzender Geschäfte, an der er entlang läuft, schier unabsehbar, und die Fülle der Waren, die hier dargeboten wird, ist auf den ersten Blick verwirrend; der vielfältige Reichtum der ganzen Welt scheint sich hier ein Stelldichein zu geben. Aber bei näherem Zusehen erkennt man doch die gut durchdachte Ordnung, das übersichtliche System. . . . Schnell findet man, was man sucht – und es ist auch da! In diesem Warenangebot gibt es kein überflüssiges Nebeneinander und ungeregeltes Durcheinander mehr – aber auch keine Lücken im vollen Sortiment!“16 Der vollendete Sozialismus präsentiert sich in diesen Narrativen als ostdeutsches Arkadien, als ein Land also, in welchem der „Wohlstand für alle“ wahr geworden ist: Freundliche Menschen sind dem Eroberer der Zukunft gerne behilflich. Schnelle, bequeme Bahnen und Flugzeuge sind die Vehikel des neuen Lebens. Die Epoche der sieben Jahre, so die Botschaft, werde in der DDR erstaunlichere Fortschritte bringen als sonst ein ganzes Menschenalter. „Das Schönste aber ist, daß diese Welt der Zukunft, die verlockender und wunderbarer ist als jede Utopie, alles andere als eine Utopie ist! Sie ist die Wirklichkeit von morgen, die aus dem Heute wächst. Wir brauchen nicht einmal zu warten und auf ferne Zeiten zu hoffen. Diese wundervolle Zukunft wächst um uns heran, wird jeden Tag um ein Stückchen mehr Gegenwart für uns.“ Gegen den Einwand, manches an diesen Zukunftsszenarien könnte womöglich „übertrieben, zu optimistisch oder gar zu phantastisch anmuten“, argumentierten die Prognostiker mit dem Paradigma der Wissenschaftlichkeit. „Optimistisch sind wir allerdings, und dies auch aus guten Gründen. Aber phantastisch? Wir haben unsere Phantasie nicht strapaziert. Wir haben lediglich auf Grund der bekannten Gesetz15 Rationalisieren, aber möglichst billig. Das 6. Plenum des Zentralkomitees der SED, in: SBZ-Archiv 10 (1959), Heft 20 vom 25.10.1959, S. 306 f. 16 Sprung über sieben Jahre, in: Das Magazin 7 (1960), Heft 2, S. 46–48.
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mäßigkeiten und Hauptlinien der Entwicklung sowie der Meßwerte, die sich aus dem bisherigen Aufbau und den neuen Wirtschaftsplänen im Sozialismus errechnen lassen, um ein paar Planperioden weiter gedacht als üblich . . . Was dabei als Prognose herauskam, ist sicherlich bescheidener, als die zukünftige Wirklichkeit sein wird.“17 Die attraktiven Zuschreibungen zum Siebenjahrplan und zum „Sieg des Sozialismus“ sollten jedoch nicht nur mobilisierend und mitreißend wirken, sondern auch desillusionierend. Den Skeptikern und Zweiflern nämlich und denjenigen, die immer noch von einem „dritten Weg“ träumten, so Ulbricht vor der Propaganda-Kommission der Partei im Juli 1959, sollte mit Hilfe des Zeitdogmas ,DDR 1965‘ signalisiert werden, dass es in der DDR nur einen Weg und ein Ziel gebe.18 4. „Utopie? Nein Sozialismus“: 1960 – 1980 – 2000
„Wir in zwanzig Jahren“: Wie reich werden wir in zwanzig Jahren sein? Die Frage nach dem Niveau des Wohlstandes in der weiteren Zukunft beschäftigte die Deutschen diesseits und jenseits der Systemgrenze ebenfalls Ende der fünfziger Jahre. Geradezu enthusiastisch gestalteten die Medien der DDR einen dritten Zukunftstopos. Demnach würde zwischen 1980 und dem Jahr 2000 der Kommunismus in der DDR, wahrscheinlich auch im wiedervereinten Deutschland, errichtet sein. Das erste Jahrzehnt der DDR sei noch gekennzeichnet gewesen „durch die schwierige, opfervolle Aufgabe, aus den Trümmern des Krieges und den Improvisationen der ersten Nachkriegsjahre eine gut funktionierende moderne Wirtschaft aufzubauen.“ Die Zeit der Entbehrungen und der Mangelwirtschaft aber zähle ab sofort zur Vergangenheit. Von nun an erhöhe sich die volkswirtschaftliche Gesamtproduktion Jahr für Jahr um zehn bis zwölf Prozent. „Man könnte durchaus zufrieden sein, so alle sechs bis acht Jahre seinen Wohlstand verdoppelt zu sehen – und das auf unabsehbare Zeit hinaus!“19 Ein Vergleich der „zukünftigen Wirklichkeit“ mit der Realität von 1960 zeige: „Unser Zeitgenosse von 1980 lebt [. . .] in einer ganz anderen, schöneren Umwelt und Atmosphäre! [. . .] Die ganze Gesellschaft ist reicher geworden – auch der Staat und die allgemei17
Karl Böhm/Rolf Dörge: Unsere Welt von Morgen, Berlin (Ost) 1959, S. 12. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, IV 2/9.02/107, Propaganda-Kommission beim Politbüro des Zentralkomitees der SED (i.G.), Stenographische Niederschrift der Besprechung des Genossen Walter Ulbricht mit einigen Genossen Propagandisten am 10.7.1959. Einlassung Ulbrichts, S. 6 (9): „Es muß jedem Arbeiter, jedem Bauer, jedem Mittelständler klar sein, daß es keinen dritten Weg gibt.“ Vgl. dazu auch den Beitrag: Spekulation mit der Hoffnungslosigkeit, in: SBZ-Archiv 10 (1959), Heft 12, S. 177. 19 Wie reich sind wir morgen? In: Das Magazin 6 (1959), Heft 11, S. 40–42. 18
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nen Einrichtungen [. . .] Das Milieu, in dem sich die Menschen morgen bewegen, in dem sie lernen und arbeiten, sich vergnügen und erholen, ist in einem solchen Grad schön und reich, außerdem technisch vollkommen, daß ihnen kein (vernünftiger) Wunsch offenbleibt.“20 Die Propagandisten der sozialistischen Zukunft gerieten ins Schwärmen: „So stehen wir heute an der Schwelle eines Lebens, das den siebenten Himmel der Mohammedaner ebenso wie das Paradies der Bibel verblassen läßt.“21 Auf die Befindlichkeit der Menschen im vollendeten Sozialismus ging eine fiktive Reportage rund um den hauptstädtischen Alexanderplatz ein. „Auch heute, im Jahre 1980, trägt man noch Anzüge oder Kleider, nur bunter, farbenfreudiger ist alles geworden. Das entspricht ganz den Gefühlen unserer Menschen, ihrer Stimmung und ihrer Lebensweise, die so schön ist wie nie zuvor. [. . .] Wir Menschen von 1980 sind, möchte ich sagen, bessere Menschen geworden; sind freundlicher, höflicher, hilfsbereiter zueinander. Wir leben glücklich. Daß wir so leben können, verdanken wir denen, die damals, vor zwanzig Jahren, alles nach ihren Kräften taten, um die ökonomische Hauptaufgabe zu lösen.“22 Im Zeitraum von 1980 bis 2000 sollte sich dann die vollendete sozialistische Gesellschaft zur kommunistischen Gesellschaft gesetzmäßig weiterentwickeln.23 Ende der fünfziger Jahre präsentierten sich die sozialutopischen Gehalte marxistisch-leninistischen Fortschrittsdenkens also vorwiegend im Gewande materialistisch geprägter Wohlstandsverheißungen. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der vierzigjährigen Geschichte der DDR war die kommunistische Utopie propagandistisch so aktuell und präsent. Die ungehemmten, vielfach naiven, immer plastischen und farbenfrohen, stets über die Maßen euphorischen Erzählungen von der sozialistischen und kommunistischen Zukunft bedienten sich überwiegend technizistischer und literarischer Topoi, wohingegen sozialutopische Elemente kaum vertreten waren. Auch auf diese Infragestellung des westlichen Wohlstandspfades antwortete der bundesdeutsche Wirtschaftsminister. Anfang des Jahres 1959 machte die Illustrierte „Quick“ mit einem „Sonderinterview“ auf, in welchem Erhard seine Visionen aufzeigen wollte: „Wir im Jahre 1980“.24 „Vor meinen Augen steht ein klares Bild“, so der Professor als Prophet. Die Welt habe aufgehorcht, als Nikita Chruschtschow „seinen gigantischen Siebenjahresplan“ proklamiert habe. „Jetzt 20
Ebd. Ebd. 22 Zwanzig Jahre später, in: Jugend und Technik 7 (1959), Heft 9, S. 544 f. 23 Vgl. dazu Rainer Gries: „. . . Und der Zukunft zugewandt“. Oder: Wie der DDR das Jahr 2000 abhanden kam, in: Enno Bünz/Rainer Gries/Frank Möller (Hrsg.): Der „Tag X“ in der Geschichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren, Stuttgart 1997, S. 309–333, 375–378. 24 Wir im Jahre 1980, in: Quick 12 (1959), Heft 8 vom 21.2.1959, Titelseite und S. 6–12. 21
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fragen die Menschen im Westen: Wie wird die Zukunft bei uns aussehen?“ Viele Vorstellungen teilten die Visionäre hüben wie drüben. Jedoch, nicht ein Schlaraffenland unüberschaubarer Warenwelten, nicht überdimensionale Einkaufsparadiese wie im Osten bildeten den Kern des Zeithorizontes ,1980‘ aus westlicher Perspektive. Der Minister diskutierte vielmehr „die geistige und seelische Entfaltung der Menschen“. Dabei dachte der Ökonom vor allem an die kommende Generation. „Die Neunzehn- und Zwanzigjährigen des Jahres 1980 werden sich einer schlimmen Gefahr gegenübersehen: Der Gefahr, sich von der Technik, der Automation, der Standardisierung dieser künftigen Welt ihre Eigentümlichkeit, ihre Seele abkaufen zu lassen. Wollen wir hoffen, daß . . . sie . . . instinktiv der Verödung, der Vermassung entrinnt, die immer droht, wenn das Technisch-Materielle zu wichtig genommen wird.“ Die Ausgestaltung von Horizonten der Vergangenheit und der Zukunft reflektiert die politischen, sozialen und mentalen Befindlichkeiten der jeweiligen Gegenwart. Ende der fünfziger Jahre sind sie von der Empfindung der politischen Eliten geprägt, dass der Wettbewerb der Systeme und die deutsch-deutsche Konkurrenz nun erst recht beginne. Auf beiden Seiten glaubte man, dass der Ausgang dieses Rennens durchaus offen und unentschieden sei. In der DDR wie in der Bundesrepublik gebaren sich die Zukunftsofferten gleichermaßen aus einem Gefühl von Schwäche und aus der Suggestion von Stärke. Dass der Westen und die Bundesrepublik dreißig Jahre später sowohl moralisch wie materiell als Sieger aus diesem Wettstreit der Lager hervorgehen würden, war in den Jahren von 1957 bis 1959 keineswegs ausgemacht oder gar absehbar. Im Gegenteil, die Verhältnisse standen sogar auf dem Kopf. Der Westen befand sich seit dem SputnikSchock in der Defensive, verlor sogar kurzfristig das Vertrauen in seine ökonomischen Fundamente und war im Begriff, sich notgedrungen auf eine „bloß“ moralische Argumentation zurückzuziehen. Das galt nicht nur für Ludwig Erhard, die Galionsfigur westdeutscher Wohlstandsverheißung. Befragt nach „Deutschland im Jahre 1969“ gaben namhafte westdeutsche Politiker in ähnlicher Manier zu Bedenken, dass in zehn Jahren „auch in der Zone der Lebensstandard erträglich sein wird. Dann wird die Freiheit Deutschlands ebenso wie seine Einheit vor allem von der besseren Moral abhängen!“25 Dass in zehn Jahren die Sowjetunion auf dem Gebiet der Wissenschaft und Forschung weltweit die führende Position einnehmen würde, meinten damals 36 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik.26 In diesen Jahren zeichneten sich kurzzeitig die Umrisse eines Paradigmenwechsels im deutschdeutschen Legitimierungsdiskurs ab: Der Osten, bis dato im festen Glauben mo25 So beispielsweise Rainer Barzel in: Deutschland im Jahre 1969. Eine Umfrage – Zehn Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik, in: General-Anzeiger für Bonn und Umgegend vom 15.1.1960. 26 Westdeutsche Allgemeine Zeitung Essen vom 16.4.1960.
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ralischer Überlegenheit und materieller Unterlegenheit, fühlte sich ökonomisch im Aufwind und verstieg sich zu phantastischen Voraussagen für die Jahre 1961, 1965 und 1980. Im Westen mehrten sich gleichzeitig Stimmen, die eine moralische Überlegenheit postulierten, da man sich der materiellen Überlegenheit nicht mehr sicher war. III. Zeitenwende und Zukunftshorizonte aus der Perspektive generationeller Zusammenhänge Nicht nur im Westen wurde das Fanal zum Aufbruch in eine neue Zeit wahrund ernst genommen. Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass diese Visionen auch in der DDR Wirkungen entfalteten. Ende der fünfziger Jahre sank die Zahl derjenigen deutlich, welche als so genannte Republikflüchtige das Land verließen.27 Und dies, obschon der repressive innenpolitische Kurs fortgesetzt wurde; zeitgleich mit den Zukunftskampagnen forcierte die Partei zum Beispiel die Kollektivierung der Landwirtschaft. Nachfolgend sollen daher Überlegungen dazu angestellt werden, wie welche Generationszusammenhänge 28 diese Zukunftsofferten aufnahmen und annahmen. Wie also lässt sich die generationelle Stratifikation dieser Zeitversprechen denken? 1. Die misstrauischen Patriarchen
Unter diesem Label fassen wir die kleine und prägnante Gruppe der politischen Elite zusammen, welche die DDR gründete und sie bis zu ihrem eigenen Tode oder bis zum Ende der DDR beherrschte. Die Ältesten von ihnen waren noch in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die Jüngsten während des Ersten Weltkrieges geboren. Der Erfahrungshintergrund dieser Generation war ebenso existenziell wie extrem: Kriege, Todesgefahr, Not und Unsicherheit wurden durch die Erlebnisse des politischen Kampfes und der politischen Verfolgung modifiziert und prägten zeitlebens die Weltsicht und die Handlungen dieser Generation. Die Jüngeren, die nach 1945 zu dieser Patriarchen-Gruppe hinzu stie27 Während 1957 rund 261.000 Menschen der DDR den Rücken kehrten, sank diese Zahl 1958 auf rund 204.000, erreichte zum Höhepunkt der Wendestimmung im Jahr 1959 rund 144.000 und stieg 1960 wieder auf rund 199.000 an. Monatsmeldungen des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, zusammengestellt in: Jürgen Rühle/Gunter Holzweißig: Der 13. August. Die Mauer von Berlin, 2. Aufl., Köln 1981, S. 151. 28 Unter „Generation“ sind in diesem Zusammenhang Generationszusammenhänge im weitesten Sinne zu verstehen: Konjunktive Erwartungs- und Erfahrungsräume, mithin generationelle Milieus, deren Angehörige sich durch vergleichbare politische, soziale und kulturelle Herausforderungen verbunden fühlen, die sich durch einen ähnlichen, darauf antwortenden Stil auszeichnen und die sich insofern gegenseitig zu erkennen vermögen. Die Zuschreibungen dieser Generationszusammenhänge der DDR folgt den bilanzierenden Erwägungen von Ahbe/Gries: Generationengeschichte (Anm. 4).
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ßen, hatten zwar nicht Illegalität, Widerstand, Konzentrationslager, Flucht, Exil und stalinistische Repression durchgemacht, waren jedoch durch die traumatischen Erlebnisse der ersten Jahrhunderthälfte an den Wahrnehmungs- und Reaktionsstil des proletarischen Kämpfers psychisch anschlussfähig: Nämlich mit Härte, Rücksichtslosigkeit und Bewusstsein für allerlei Gefahren persönliche und politische Herausforderungen zu bewältigen und neue gesellschaftliche Zustände zu erzwingen. Den symbolischen, ja mythischen Kern dieser Gruppe bildeten die verehrten Helden und Märtyrer des Sozialismus und die überlebenden antifaschistischen Kämpfer. Die Patriarchen fungierten in der DDR als Träger, Interpreten und Vermittler der „historischen Wahrheit“, also der gültigen Ideologie. Die politische und kulturelle Dominanz und Hegemonie der Patriarchen in der DDR wies damit geradezu zivilreligiöse Züge auf. Freilich stellte die Generation der misstrauischen Patriarchen unter ihren Altersgenossen nur eine isolierte Minderheit dar. Der ureigene Diskurs dieser Generationseinheit im Sinne Karl Mannheims29 war nahezu deckungsgleich mit dem Offizialdiskurs der DDR: Als die Patriarchen zwischen vierzig und sechzig Jahre alt waren, konnten sie 1949 endlich „ihr Kind“, die Deutsche Demokratische Republik, aus der Taufe heben. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat sollte ihr Modell für ganz Deutschland darstellen. Die DDR wurde daher in den frühen fünfziger Jahren gerne als Neugeborenes apostrophiert, unschuldig am „Faschismus“, unschuldig am „Militarismus und Imperialismus“, unschuldig an der Teilung Deutschlands. Auch die Zeitpropaganda Ende des Jahrzehnts spiegelte die Sozialpsychologie dieser Generation wider: Die „faschistische“ Katastrophe der Vergangenheit legitimierte und garantierte den Weg in eine große Zukunft. Gerade auch den älteren Jahrgängen dieser Generation, also den aktiven Parteisoldaten, wurde mit den kurzfristigen Zeithorizonten das Versprechen gegeben, dass auch sie noch Zeit ihres Lebens an den Segnungen und Gratifikationen der neuen Gesellschaft teilhaben würden. Daher dürften die kurzfristigen Zukunftshorizonte für die ältere Parteiklientel von größtem Interesse gewesen sein. Die nahen Zukunftshorizonte signalisierten denjenigen, die für das sozialistische respektive für das kommunistische Projekt gelebt und gelitten hatten, die für einen deutschen Arbeiterstaat persönliche Opfer gebracht hatten, dass auch sie in absehbarer Zeit eine Belohnung erfahren würden. Die Patriarchengeneration sah sich nach dem Krieg stets zwischen zwei politischen Polen: Einerseits wurde sie immer wieder von Moskau gemaßregelt und geschulmeistert, andererseits war sie durch den anderen deutschen Staat, seine Repräsentanten und seine Prosperität herausgefordert und in Frage gestellt. Mit den Zeithorizonten Ende der fünfziger Jahre gab sie Antworten, die auf den charakteristischen Erfahrungen ihrer Generation gründeten: Zuerst galt es, den 29 Vgl. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), Heft 2 und 3, S. 157–185, S. 309–330.
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Westen zu überbieten und zu überflügeln – und zwar in quantitativer Hinsicht. Die Quantitäten des Alltags rangierten bei ihnen vor den Qualitäten des Lebens. Darüber hinaus konnte und wollte diese politische Generation die traumatischen und entbehrungsreichen Erfahrungen der dreißiger und vierziger Jahre mit der Hoffnung auf eine „kleine“ Zukunft für sich und mit der Vision einer großen Zukunft für die nachfolgenden Generationen kompensieren. Dem Sozialismus, der DDR und den nachfolgenden Generationen malten diese Akteure in der zweiten Hälfte jenes Jahrzehnts eine geradezu traumhaft-paradiesische sozialistische und kommunistische Zukunft aus. Jedoch: Aus ihrer Perspektive sollten die vier Zeitmuster zugleich Zeitdogmen sein. Sie waren „wissenschaftlich“ in der Formationslehre begründet. Sie stellten aber auch den Versuch dar, die nachfolgenden Generationen an ihr sozialistisches Projekt zu binden. Sie sollten zu verpflichtenden Mythen avancieren. Mit den langfristigen Erwartungsnarrativen gaben die Patriarchen vor allem ein Zeitkorsett für die erste DDR-eigene, für die erste in der DDR erzogene Generation vor: Die in den frühen fünfziger Jahren Geborenen sollten dereinst die wahren Erben ihres politischen Willens und ihres politischen Werkes sein. Die Patriarchen wollten sicherstellen, dass die „Kinder der DDR“ ihr rotes Banner in das 21. Jahrhundert hinein tragen würden, in die Zeit also, in welcher der Kommunismus bereits Wirklichkeit geworden wäre. Diese Generation der Hineingeborenen spielt denn auch bei der Propaganda zum zehnten Jahrestag 1959 bereits eine Hauptrolle: Die Republik wird als zehnjähriges Kind besungen und so mit dieser nachfolgenden Generation in eins gesetzt.30 Diese in den frühen fünfziger Jahren Geborenen lassen sich mit dem Rubrum integrierte Generation charakterisieren. Die Integrierten bildeten den ersten Generationszusammenhang, der ausschließlich vom DDR-Sozialismus geprägt war. Die Patriarchen wollten es ihnen an nichts fehlen lassen. Das brachte den Integrierten viele Annehmlichkeiten, aber auch viel Kontrolle ein, denn sie waren ja dazu bestimmt, die Neuen Menschen und damit die Hausherren von Morgen zu werden. Stellvertretend für die Ahnherren sollten sie dereinst die große kommunistische Zukunft des 21. Jahrhunderts erleben. 2. Die Aufbaugeneration
Zum Generationszusammenhang der Aufbaugeneration zählen die in den späten zwanziger bis in die Mitte der dreißiger Jahre Geborenen. Sie bauten unter dem Diktat der misstrauischen Patriarchen sozusagen mit ihren eigenen Händen 30 Weitere zehn Jahre später, zum zwanzigsten Jahrestag der Gründung der Republik 1969, wurde dieser Bezug noch deutlicher hergestellt. Die Kampagne „Wir sind zwanzig“ fokussierte weitgehend auf die Zwanzigjährigen; vgl. dazu Gibas u. a.: Wiedergeburten (Anm. 3), S. 292 und passim.
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die DDR auf. In keinem anderen DDR-Generationszusammenhang war der soziale Aufstieg so verbreitet. Folglich stellten diese Jahrgänge überproportional oft und nachhaltig die Leistungsträger der DDR. Die Angehörigen dieses Generationszusammenhanges erlebten einen kontinuierlichen materiellen Progress. In ihren Wertmaßstäben, ihrem Gefühlshaushalt und Sozialverhalten blieben sie ihr Leben lang von ihren „arbeiterlichen“ Herkunftsmilieus geprägt. Aber auch die existenziellen Nöte der Nachkriegszeit und die unkalkulierbaren und harten politischen Auseinandersetzungen der fünfziger Jahre hinterließen deutliche Spuren. Ihre Kindheit erlebten sie in den Friedensjahren des Nationalsozialismus unter den Vorzeichen Ordnung, Betreuung und Stabilität. In dieser Diktatur lernten sie, sich einzuordnen und sich für ein „großes Ganzes“ einzusetzen – bis sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf bittere und verstörende Weise mit der Niederlage und der Schuld ihrer Elterngeneration auseinandersetzen mussten. Die Angehörigen dieser in ihrer Grundstimmung idealistischen Generation konvertierten aufgrund der vielfältigen und tief greifenden Enttäuschungen des Jahres 1945 zu einer vorwiegend alltagspragmatischen Haltung. Zur Zeit der Gründung der beiden deutschen Staaten waren sie gerade um die zwanzig Jahre alt und damit in einem Lebensabschnitt, in dem ohnehin (Neu-) Orientierungen anstehen. Die misstrauischen Patriarchen, die sich ihnen gewissermaßen als antifaschistische Ersatzväter anboten, offerierten ihnen zur rechten Zeit den sozialen Aufstieg über Bildung. Unter der Bedingung freilich, dass sie sich zur neu gegründeten DDR und zum Sozialismus bekannten. Manche taten das, und viele taten so – sie passten sich an, integrierten sich, sprachen am Arbeitsplatz und in anderen Öffentlichkeiten die Sprache der Partei – und behielten gleichzeitig auch eine gewisse innere Distanz zu den einschlägigen Glaubenssätzen. Tatsächlich verlief der soziale Aufstieg für die Angehörigen der Aufbau-Generation relativ konfliktfrei. Die drei Zukunftsversprechen erreichten sie just in der Phase ihres Lebens, in welcher sie zum großen Sprung ihrer Generation ansetzten: Ende der fünfziger Jahre waren sie knapp dreißig Jahre alt, ihre Weiter- und Fortbildung war abgeschlossen, die ersten Sprossen ihrer Karriereleiter waren erklommen. Der politische Sieben-Jahres-Horizont entsprach jetzt exakt ihren generationellen Erwartungshorizonten: Mitte der sechziger Jahre würden die Mittdreißiger die mittleren „Kommandohöhen“ in der vollendeten sozialistischen Gesellschaft erreicht haben. Das Angebot dieser Zukunft schien geradezu auf sie zugeschnitten. Es war diese Generation, die tatsächlich seit den sechziger Jahren die Funktionseliten unter dem autoritären Patronat der Patriarchen stellte. Die Alltagskultur der DDR war ihr schöpferisches Werk. Planbarkeit und Machbarkeit, Leistung und Erfolg statt bloßen ideologischen Geredes – das waren die Maximen der sechziger Jahre und das waren die Maximen dieser Generation. Die überschäu-
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menden Propagandaerzählungen dürften bei diesem Generationszusammenhang daher auf einen ambivalenten Boden gefallen sein. Einerseits mögen diese Bildprogramme die großen Gefühle ihrer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus in eine ferne Erinnerung gebracht haben. Überdies konnten sie seither die positive Erfahrung machen, dass ihr Übereinkommen mit der Parteielite funktionierte und Früchte trug – unter den Auspizien der großen Zukunft und unter den Augen der Patriarchen hatten sie bislang tatsächlich beständig persönliche und familiäre Fortschritte machen können. Andererseits dürfte es ihnen der pragmatische und rationalistische Denkhabitus schwer gemacht haben, den vollmundigen Erzählungen zu folgen. Mit Fug und Recht dürfen wir annehmen, dass dieser Generationszusammenhang die maßgebliche Zielgruppe der aufwändigen Zeit- und Zukunftspropaganda war. Die Partei- und Staatsführung konnte sich der um 1930 Geborenen nämlich trotz aller Vorsicht nie sicher sein. Ihre Angehörigen waren mittlerweile gut ausgebildet und zudem immer noch jung genug, um womöglich in der Bundesrepublik einen neuen Anfang zu wagen. Für viele aus dieser Generation war ein Weggang in den Westen bis zum Bau der Mauer stets eine Lebensoption geblieben. Insbesondere mit Hilfe der beiden langfristigen Zukunftsoptionen ,DDR 1965‘ und ,Sozialismus-Kommunismus 1980–2000‘ sollte ihre Bindung an den ostdeutschen Staat gefestigt und gesichert werden. 3. Die funktionierende Generation
„Tempo – Technik – Tausend Tage“: Mit dieser alliterativen Losung wandte sich die Freie Deutsche Jugend (FDJ) zum zehnten Jahrestag an ihre Klientel. Die hochgesteckten Ziele sollten nicht zuletzt durch die Indienststellung moderner Technik, durch Mechanisierung und Automatisierung, durch die Anwendung von Kybernetik und von Kernenergie ermöglicht werden. Partei, Staat und die sozialistische Gesellschaftsordnung legitimierten sich demnach durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt.31 Mit märchenhaften Erzählungen, mit einer ungebremsten Technikeuphorie und einer atemberaubenden „Tempo“-Kampagne wandte man sich insbesondere an die Jugendlichen und an die jungen Heranwachsenden – und damit an die funktionierende Generation. Den Generationszusammenhang der etwa zwischen Mitte der dreißiger bis etwa Mitte der vierziger Jahre Geborenen können wir als funktionierende Generation charakterisieren. Ihre Angehörigen waren durch die in ihrer Kindheit erlittenen Schrecken und durch die Not des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegsjahre nachhaltig geprägt. Um als Kinder in der Zusammenbruchsgesellschaft zu überleben, mussten sie lernen, unauffällig und unbedingt zu 31 Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Frankfurt 1992, S. 171 f.
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„funktionieren“. Ein solches weder durch Sentimentalitäten noch durch persönliche Niederlagen gebrochenes Funktionieren akzentuierte zeitlebens ihr Herangehen an die Welt. Diese älteren Brüder und Schwestern der integrierten Generation blieben eher unauffällig und unpolitisch. Sie hatten jedoch die Maximen des Arbeiter-und-Bauern-Staates internalisiert. Die Kindheit der Angehörigen der funktionierenden Generation war durch die Katastrophe der letzten Kriegsjahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit in entscheidendem Maße geprägt. Der unbarmherzige Überlebenskampf in den letzten Kriegsjahren und in der atomisierten Rationen-Gesellschaft des Nachkrieges bildete für sie „eine pathologische Normalität“, die „nur um den Preis eines hohen Maßes an Verdrängungsleistung“ aufrechterhalten werden konnte.32 Die früh in die Verantwortung für die Familie und für sich selbst gestoßenen Kinder orientierten sich an den Bewältigungsstrategien ihrer Mütter. „In der Regel war das Verbot, Gefühle zuzulassen oder sogar über sie zu sprechen, unausgesprochen, wurde jedoch nicht selten auch laut und eindeutig verhängt. [. . .] Diese Kinder blieben auch als Erwachsene stumm.“33 Die Kindheit der Angehörigen dieses Generationszusammenhanges war also von den Imperativen des Handelns, der Selbstüberwindung, in gewisser Weise auch der Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, gegen „Leib und Seele“, geprägt. Dann, nach den existenziellen Gefahren der Nachkriegszeit, beobachteten sie als Schüler die politischen Repressionen des Hochstalinismus, deren Willkür, Unberechenbarkeit und destruktive Gewalt sie zuweilen an die letzten Kriegsjahre gemahnen konnten. Auch diese Erfahrungen verstärkten die längst grundgelegten, unbewussten Handlungsmaximen der Funktionierenden: Nur nicht negativ auffallen, sich nicht entmutigen lassen, durchkämpfen, nach Niederlagen wieder aufstehen, nicht fragen oder anklagen. „Wir in zwanzig Jahren“: Von den drei Zukunftsperspektiven wurde der zeitgenössischen Jugend vor allem die letzte verstärkt nahe gebracht. Die Jugendzeitschriften fokussierten in ihrer Berichterstattung weniger auf politische als vielmehr auf technische Details der neuen Gesellschaft: Hier wurde weniger eine neue soziale Welt als vielmehr eine Welt neuer Apparate vorgeführt. Solcherart Visionen dürften ihre Wirkung auf diese Generation nicht verfehlt haben. Schließlich hatten deren Angehörige das Paradigma des Funktionierens geradezu verinnerlicht. Die politischen und propagandistischen Mehrwerte dieser Zukunftsbilder dürften jedoch nur gebrochen angekommen und sehr differenziert
32 Elmar Brähler/Oliver Decker/Hartmut Radebold: Ausgebombt, vertrieben, vaterlos – Langzeitfolgen bei den Geburtsjahrgängen 1930–1945 in Deutschland, in: Hartmut Radebold (Hrsg.): Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen, Gießen 2004, S. 113. 33 Hartmut Radebold: Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen, Göttingen 2001, S. 172 f.
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angenommen worden sein, denn diese Generation eignete sich zur selben Zeit mit Vorliebe auch westdeutsche und westliche Medienangebote an. Ein Großteil dieser Generation übernahm in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren westliche popkulturelle Stile. Die Funktionierenden hörten also im Radio die Musik der Beatles – und träumten womöglich von der Perfektion der Flugzeuge im entwickelten Sozialismus der achtziger Jahre. In jenem Jahrzehnt der Zukunft würden sie etwa vierzig Jahre alt sein. IV. Die Indienstnahme der Zukunft Auf den ersten Blick kamen die Narrative der Zeitenwende in Ostdeutschland Ende der fünfziger Jahre wie naive, aber freundliche Wechsel auf die Zukunft daher: In scheinbar kindlicher Manier wurden die tollsten Szenarien eines kommenden Sozialismus ausgestaltet und ausgemalt. Beim näheren Hinsehen zeigt sich, dass es sich bei diesen Erzählungen vom besseren und schöneren Morgen und Übermorgen aber um regelrechte Zeitfesseln handelte. Sie stellen Gegenstände eines Generationenvertrages dar, formiert und formuliert nach den Erfahrungs- und Erwartungshorizonten der maßgeblichen Parteigeneration.34 Ende der fünfziger Jahre hat die Deutsche Demokratische Republik zehn Jahre Bestand – die hehren Zukunftstopoi dienen der älteren Generation der misstrauischen Patriarchen in dieser Situation dazu, den Fortbestand ihres sozialistischen Arbeiterund-Bauern-Staates zu sichern – mindestens bis ins 21. Jahrhundert hinein. Das Paradigma der Wissenschaftlichkeit und der Planbarkeit der Geschichte stand diesen Entwürfen Pate und sorgte für das beglaubigende, mythische Pathos. Mit diesen Erzählungen beschwor die Parteielite geradezu den Fortgang und die Fortsetzung ihres Projektes in alle Zukunft. Im Verständnis der Parteipatriarchen waren diese Botschaften Erbschaften: Sie stellten ihr Vermächtnis dar. Ein Vermächtnis freilich, das die nachfolgenden Generationen nicht ausschlagen durften. Und diese Generationen wurden von den herrschenden Parteioberen patriarchalisch und quasi-genealogisch gedacht. Aus ihrer Sicht stellte die Gesellschaft der DDR eine große Familie dar, deren Oberhäupter sie selbst waren, die Großväter und Urgroßväter der kommunistischen Bewegung. Ende der fünfziger Jahre war diese imaginierte Großfamilie erstmals vollends ausgeprägt und auf drei Generationen angewachsen: Die „Großväter“ hatten die von den Nationalsozialisten verführte Aufbaugeneration als „antifaschistische Ersatzväter“ adoptiert, und deren Kinder, die integrierte Generation der fünfziger Jahre, konnten als erste Enkelgeneration gelten. Ihre Angehörigen stellten denn auch die Augensterne der Alten dar. 34 Zur ritualisierten Beglaubigung des Gesellschafts- und Generationenvertrages in der DDR siehe Rainer Gries/Monika Gibas: „Vorschlag für den Ersten Mai: die Führung zieht am Volk vorbei!“ Überlegungen zu einer Geschichte der Tribüne in der DDR, in: Deutschland Archiv 28 (1995), S. 481–494.
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Dieser genealogische Habitus lag auch der Aufbruchstimmung und den Zukunftsnarrativen Ende der fünfziger Jahre zu Grunde. Die Patriarchen wollten sicherstellen, dass ihre Visionen und Utopien über ihren Tod hinaus möglichst starke Bindekräfte freisetzen würden. Dazu mussten überzeugende Angebote für alle Gruppen und Generationen präsentiert werden. Und es musste unmissverständlich kommuniziert werden, dass diese Zukunftsofferten ohne Wenn und Aber verbindlich waren – für die Gegenwart und für alle Zukunft. Diese Zeithorizonte waren aus der Sicht der Parteipatriarchen also ein Zeitkorsett für alle nachfolgenden Generationen, das ihren Vorstellungen das Überleben gewährleisten und ihren Visionen eine Prägekraft über Jahrzehnte hinaus sicherstellen sollte. Doch die herrlichen Bildprogramme dieses Generationenvertrages allein vermochten auf Dauer nicht hinreichend zu überzeugen. Die werbenden Bilder aller Art aus Westdeutschland blieben attraktiv – und die repressive Politik in Ostdeutschland blieb kontraproduktiv. 1961 war alle Euphorie verflogen. Schon der erste viel versprechende Zeithorizont scheiterte – und statt einer Gewinnung der Vielen durch Ideen und Inhalte musste man zur Abschottung durch Mauer und Stacheldraht greifen. Im Laufe der sechziger Jahre wurde eine neue Devise entwickelt: „Überholen ohne einzuholen!“
Adenauer und die DDR am Vorabend der Berlin-Krise Von Wilfried Loth Eine Betrachtung der Deutschlandpolitik Konrad Adenauers am Vorabend der zweiten Berlin-Krise muss notwendigerweise etwas über das Jahr 1957 hinausgehen. Zu berichten ist von einem hartnäckigen Abwehrkampf des ersten deutschen Bundeskanzlers gegen die Anerkennung der DDR, der 1956 einsetzte und im Frühsommer 1958 gewonnen wurde. Adenauer konnte sich in dieser Auseinandersetzung freilich nur vorläufig behaupten – und nur um den Preis der Etablierung des atomaren Abschreckungssystems, das wiederum zur Stabilisierung beider deutscher Staaten in ihren jeweiligen Bündnissystemen führte. Dabei wich der Architekt der Westintegration der Bundesrepublik gleich zweimal in geradezu spektakulärer Weise von seinem generellen Konzept ab, erstmals an der Jahreswende 1956/57 und zum zweiten Mal im Frühjahr 1958. Das signalisiert nicht nur, wie schwierig es für ihn wurde, sich zu behaupten; es macht auch deutlich, dass die deutschlandpolitische Situation in dieser Zeit tatsächlich offener war, als es im Nachhinein erscheinen mag. Tatsächlich haben wir es nicht gerade mit einem „Wendejahr 1957“ zu tun, wohl aber mit einer Periode wichtiger deutschland- und weltpolitischer Weichenstellungen.1 I. Konrad Adenauer und die DDR am Vorabend der Berlin-Krise – das ist insofern ein Nicht-Thema, als der erste deutsche Bundeskanzler die DDR bekanntlich in keiner Weise als Verhandlungspartner betrachtete, sie vielmehr international zu isolieren versuchte – in der Hoffnung, die sowjetische Führung eines Tages dazu bewegen zu können, ihren ostdeutschen Separatstaat zum Anschluss an die westdeutsche Bundesrepublik und an das westliche Bündnis frei zu geben. Um einen solchen Sinneswandel in Moskau herbeizuführen, musste der Westen nach Adenauers Überzeugung Geschlossenheit und Stärke demonstrieren; das sollte die östlichen Machthaber so sehr beeindrucken, dass sie von ihrem missionarischen Expansionismus abließen.2 1 Vgl. dazu auch schon Wilfried Loth: Adenauer’s Final Western Choice, 1955–58, in: Wilfried Loth (Hrsg.): Europe, Cold War and Coexistence, 1953–1956, London 2004, S. 22–33. 2 Grundlegend zu Adenauers Deutschlandpolitik Hans-Peter Schwarz: Adenauer, 2 Bde., Stuttgart 1986, 1991; sowie die Analysen in Josef Foschepoth (Hrsg.): Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988.
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„Wenn der Westen stärker ist als Sowjetrussland,“ führte Adenauer etwa auf einer CDU-Kundgebung in Heidelberg im März 1952 aus, „dann ist der Tag der Verhandlung mit Sowjetrussland gekommen. Dann wird man auch Sowjetrussland klar machen müssen, dass es unmöglich halb Europa in Sklaverei halten kann, und dass im Wege einer Auseinandersetzung die Verhältnisse in Osteuropa neu geklärt werden müssen.“3 Sechs Jahre später, in einer Sitzung der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, insistierte er: „Wir [können] nur den Frieden retten, wenn wir mit dazu beitragen, dass der friedliebende Teil der Welt stärker ist als die Sowjetunion; nicht, um sie niederzuschlagen, sondern um auf diese Weise wirklich zu aussichtsvollen Verhandlungen zu kommen.“4 Um dahin zu gelangen, tat er Alles, was in seiner Macht stand, um den Zusammenhalt des Westens und seine militärische Kampfkraft zu stärken; und er wies auch alle sowjetischen Avancen auf einen Ausbau der Handelsbeziehungen zurück, die der Sowjetunion bei der Bewältigung ihrer ökonomischen Schwierigkeiten helfen konnten. Adenauer verwendete dabei keinen Gedanken auf die Frage, ob eine solche Politik der Stärke nicht auch kontraproduktiv wirken konnte, d.h. die sowjetische Position noch weiter zu verhärten drohte. Ebenso wenig hatte er präzise Vorstellungen, woran die Überlegenheit des Westens denn gemessen werden sollte; dass sie im wirtschaftlichen Bereich längst gegeben war und die USA über einen deutlichen Vorsprung in der atomaren Rüstung verfügten, spielte in seinen Überlegungen keine Rolle. Und auch auf die Frage, ob Stärke allein ausreichen würde, um die sowjetische Führung zum Einlenken zu bewegen, verwandte er wenig Mühe. Gelegentliche Ahnungen, dass für die Preisgabe der DDR ein Preis zu zahlen sein würde, wurden regelmäßig von der Furcht übertönt, ein Rückzug der amerikanischen Truppen aus der Bundesrepublik würde zur Ausbreitung der sowjetischen Hegemonie über den ganzen europäischen Kontinent führen. Operativ begnügte sich seine Ostpolitik damit, einen Draht nach Moskau zu halten, um einer Verständigung der USA und der Sowjetunion auf der Basis des Status quo zuvorzukommen. Bei der Verfechtung seiner Wiedervereinigungspolitik befand sich Adenauer allerdings von vornherein in der Defensive. Es gelang ihm zwar im Vorfeld der Genfer Gipfelkonferenz vom 18. bis 23. Juli 1955, die Westmächte darauf festzulegen, Schritte zur Abrüstung und allgemeinen Entspannung von sowjetischen Zugeständnissen in der Deutschlandfrage abhängig zu machen. Chruschtschows Forderung nach einer Anerkennung der DDR wurde zurückgewiesen; der Plan einer Zone begrenzter Rüstung und wechselseitiger Rüstungsinspektion beiderseits der Ost-West-Demarkationslinie, den der britische Premierminister Anthony 3 Rede auf einer CDU-Kundgebung 1.3.1952 in Heidelberg, in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 26, 4.3.1952, S. 254. 4 Fraktionssitzung 18.3.1958, zit. nach Hans-Peter Schwarz: Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 424.
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Eden in Genf vortrug, wurde unter Adenauers Einfluss dahingehend modifiziert, dass die mitteleuropäische Truppenverdünnung erst nach einer deutschen Wiedervereinigung und mit der Oder-Neiße-Grenze statt der Elbe-Werra-Linie als Mittelpunkt erfolgen sollte. In dieser Form, die auf einen Verzicht des sowjetischen Einflusses in Deutschland und im östlichen Mitteleuropa hinauslief, fand er bei der sowjetischen Seite natürlich keinerlei Gegenliebe; folglich endete die Genfer Außenministerkonferenz, die den modifizierten Eden-Plan Ende Oktober/Anfang November 1955 diskutierte, mit einem Eklat.5 Die Sorge, gegenüber dem sich anbahnenden amerikanisch-sowjetischen Dialog ins Hintertreffen zu geraten, und mehr noch die Furcht, vor der eigenen Öffentlichkeit nicht genügend Engagement in der deutschen Frage zu demonstrieren, führten Adenauer aber schon im September 1955 dazu, den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik selbst zu desavouieren. Als die sowjetische Führung ihn zu Gesprächen über die Aufnahme regulärer diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik nach Moskau einlud, ahnte er wohl bald, dass das auf eine indirekte Anerkennung der DDR hinauslief. Mit Rücksicht auf die Erwartung der westdeutschen Öffentlichkeit nahm er die Einladung dennoch an; und als ihm der sowjetische Ministerpräsident Bulganin bei seinem Moskau-Besuch vom 9. bis 13. September 1955 in letzter Minute die Rückkehr der letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zusicherte, gab er der sowjetischen Forderung nach sofortiger Aufnahme der diplomatischen Beziehungen nach. Ein Abbruch der Reise ohne ein Eingehen auf das sowjetische „Angebot“, soviel wurde ihm in Moskau klar, drohte die Beziehungen zur Sowjetunion nur zu verschlechtern. Außerdem bestand die Gefahr, dass die Sowjetführung das Verdienst für die Rückholung der Kriegsgefangenen der SPD-Opposition oder gar der DDR zuschrieb und damit Adenauers Ansehen in der Bundesrepublik schwer beschädigte.6 Um den Schaden gering zu halten, den Adenauers Einknicken in der Beziehungsfrage angerichtet hatte (der amerikanische Botschafter in Moskau Charles E. Bohlen war deswegen äußerst erbost, und Adenauers Außenminister Heinrich von Brentano und Staatssekretär Walter Hallstein hatten dringend vor diesem Schritt gewarnt), entwarf Wilhelm Grewe, der Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, schon auf dem Rückflug von Moskau jenes Konzept, das dann ab 1958 in der Presse als „Hallstein-Doktrin“ diskutiert wurde: Die Be5 Vgl. Günter Bischof/Saki Dockrill (Hrsg.): Cold War Respite. The Geneva Summit of 1955, Baton Rouge 2000. 6 Vgl. Schwarz: Staatsmann (Anm. 4), S. 207–222; Henning Köhler: Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. 1994, S. 873–889; Daniel Korsthorst: Brentano und die deutsche Einheit. Die Deutschland- und Ostpolitik des Außenministers im Kabinett Adenauer 1955–1961, Düsseldorf 1993, S. 63–77; William Glenn Gray: Germany’s Cold War. The Global Campaign to Isolate East Germany, 1949–1969, Chapel Hill 2003, S. 31–37.
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ziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR wurden darin durch den besonderen Status der Sowjetunion als Sieger- und Besatzungsmacht gerechtfertigt. Dagegen sollten mit anderen Staaten, die Beziehungen zur DDR unterhielten (also den weiteren Staaten des Ostblocks), keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen werden; Staaten, die die DDR diplomatisch anerkennen wollten, wurden „ernste Konsequenzen“ bis hin zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die Bundesrepublik angedroht.7 Diese Grundsätze, auf einer Botschafterkonferenz Ende 1955 bekräftigt und von Außenminister Heinrich von Brentano Mitte 1956 im Deutschen Bundestag vorgetragen, halfen der Bundesregierung in der Tat, die DDR für lange Zeit international zu isolieren. Sie machten sie aber auch in gewissem Maße erpressbar und hinderten sie vor allem, selbst in den osteuropäischen Ländern aktiv zu werden und so zur Auflockerung des Ostblocks beizutragen. Als das blockunabhängige Jugoslawien im Oktober 1957 im Zuge des Ausgleichs Titos mit der Moskauer Führung die DDR anerkannte, setzte Adenauer im Bundeskabinett die Entscheidung durch, seinerseits die diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Damit wurde zugleich die vorsichtige Annäherung der Bundesrepublik an Polen wieder gestoppt, die nach dem Übergang zu dem reformkommunistischen Regime Wladyslaw Gomulkas im Oktober 1956 in Gang gekommen war.8 II. Die Hallstein-Doktrin konnte aber nicht verhindern, dass die Bereitschaft der Westmächte, die Entspannung zugunsten der westdeutschen Wiedervereinigungswünsche hintan zu stellen, zusehends dahinschwand. Im Frühjahr 1956 forderte die neue französische Regierung unter dem Sozialisten Guy Mollet, der Abrüstung Priorität einzuräumen und dabei eine drastische Begrenzung des deutschen Rüstungsniveaus anzusteuern. George Kennan, der Vater der Eindämmungsstrategie, verlangte in einer Denkschrift, die Einbeziehung eines wiedervereinigten Deutschlands in einen Gürtel neutraler Staaten in Mitteleuropa anzustreben. Harold Stassen, Eisenhowers Abrüstungsbeauftragter und Unterhändler im UN-Abrüstungsausschuss, sondierte in Moskau wegen der Abrüstungsfrage, ohne auf das Junktim mit der Wiedervereinigung Rücksicht zu nehmen, wie Dulles und Adenauer es formuliert hatten. Die britische Regierung setzte sich dafür ein, den Plan einer Begrenzung der konventionellen Rüstung wieder aufzugreifen, dem die Sowjets im Mai 1955 zugestimmt hatten. Soweit diese Aktivitäten immer noch auf eine Wiedervereinigung durch Neutralisierung zielten, konnte Adenauer dagegen mit Erfolg das westliche Eindämmungssyndrom mobilisieren. Mollet sah sich nach heftigen Vorhaltungen der 7 8
Vgl. Gray: Germany’s Cold War (Anm. 6), S. 37–39, 44–49. Vgl. ebd., S. 58–86.
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Verbündeten gezwungen, jede Neutralisierungsabsicht zu bestreiten. Das gemeinsame Dokument, das die drei Westmächte und Kanada dem Abrüstungsausschuss Anfang Mai 1956 vorlegten, sah für eine erste Phase nur die Etablierung eines Kontrollsystems vor und verlegte substantielle Abrüstungsschritte auf die Zeit nach einer Verständigung über die Wiedervereinigung.9 Das Abrüstungsthema blieb aber weiter auf der Tagesordnung, und es gewann noch dadurch an Dringlichkeit, dass die Sowjetregierung am 14. Mai 1956 eine einseitige Reduzierung ihrer konventionellen Streitkräfte um 1,2 Millionen Mann ankündigte. Am 13. Juli 1956 berichtete die „New York Times“, der amerikanische Generalstabschef Arthur W. Radford wolle die US-Truppen in Europa im Zuge der Implementierung des „New Look“ bis 1960 um 800.000 Mann reduzieren und statt dessen in Europa Atomwaffen stationieren. Das war für die westlichen Europäer und insbesondere für die Adenauer-Regierung um so beunruhigender, als sich auch sonst die Zeichen für eine Verständigung der beiden Supermächte auf Kosten der europäischen NATO-Verbündeten mehrten. Als am 23. Oktober in Ungarn ein Aufstand gegen das stalinistische Regime losbrach, beeilte sich Dulles zu versichern, die USA betrachteten Moskaus Satellitenländer „nicht als potentielle militärische Verbündete“;10 und als die Sowjettruppen dann am 1. November begannen, den Aufstand in einem blutigen Gemetzel niederzuschlagen, beließ es die Eisenhower-Administration bei Protestresolutionen der UN-Vollversammlung. Großbritannien und Frankreich wurden von Eisenhower bedrängt, im Konflikt um den Suezkanal, den Ägyptens Präsident Nasser im Juli zum nationalen Eigentum erklärt hatte, nicht militärisch zu intervenieren. Als sie es nach einem israelischen Angriff auf ägyptische Stellungen auf der Sinai-Halbinsel am 29. Oktober dennoch taten, setzte die amerikanische Regierung mit UNO-Voten, währungs- und handelspolitischen Sanktionen am 6. November einen Waffenstillstand durch. Sie befand sich darin – der ungarischen Tragödie zum Trotz – in Übereinstimmung mit der Sowjetführung, die den beiden europäischen Kolonialmächten am Tag zuvor zumindest indirekt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht hatte, wenn sie ihren Angriff auf Ägypten nicht einstellten.11 Angesichts fortdauernder Gerüchte über amerikanische Disengagement-Pläne und der sichtlichen Schwierigkeiten der Sowjetmacht, die Kontrolle über Osteuropa zu wahren, überlegte Adenauer um die Jahreswende 1956/57, ob er nicht die Flucht nach vorn antreten sollte: zur Präsentation eines Friedensplans, der die 9 Vgl. Pierre Guillen: Le problème allemand dans les rapports Est-Ouest de 1955 à 1957, in: Relations Internationales, 71 (1992), S. 303. 10 In einer Rede in Dallas am 27.10.1956, FRUS 1955–57, Bd. 25, S. 317 f. 11 Vgl. William. R. Louis/R. Owen (Hrsg.): Suez 1956: The Crisis and Its Consequences, Oxford 1992; W. Scott Lucas: Divided We Stand: Britain, the US and the Suez Crisis, London 1991; Jost Dülffer: Die Suez- und die Ungarn-Krise, in: Michael Salewski (Hrsg.): Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995, S. 95–119.
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Wiedervereinigung mit dem Rückzug aller fremden Truppen aus europäischen Ländern verband. Gemäß den Vorstellungen, die sein Pressesprecher Felix von Eckardt im Herbst 1956 entwickelt hatte, sollten die amerikanischen Landstreitkräfte die Bundesrepublik bis 1959 verlassen, während sich die Sowjettruppen aus den osteuropäischen Satellitenstaaten zurückzogen; für die Bundeswehr und die osteuropäischen Truppen wurden jeweils gleiche Obergrenzen vorgesehen, die von einer UN-Kommission kontrolliert werden sollten. Danach sollten in einer zweiten Phase Wahlen zu einem deutschen Nationalrat stattfinden, während sich auch die Luftstreitkräfte auf sowjetischen Boden beziehungsweise an die westeuropäische Peripherie zurückzogen. Eine Auflösung der beiden Paktsysteme war vorerst noch nicht vorgesehen, doch sollten die von den verbündeten Truppen geräumten Länder des Kontinents auf nukleare Waffen verzichten.12 Anfang Januar 1957 wurden diese Überlegungen im Entwurf eines Briefes an Präsident Eisenhower festgehalten. Pikanterweise befand sich der deutsche Bundeskanzler mit diesem Plan insgeheim auf einer Linie mit dem britischen Oppositionsführer Hugh Gaitskell, der zum gleichen Zeitpunkt mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit trat, alle ausländischen Truppen aus den beiden Teilen Deutschlands, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei abzuziehen und diese Zone einer internationalen Kontrolle zu unterstellen. In die gleiche Richtung gingen Überlegungen des polnischen Außenministers Adam Rapacki, die Zone kontrollierter Rüstungsbegrenzung in der Mitte Europas, die Großbritanniens Premierminister Anthony Eden auf der Gipfelkonferenz der vier Siegermächte im Sommer 1955 in Genf ins Gespräch gebracht hatte, auf die ostmitteleuropäischen Staaten auszudehnen. Selbst mit Ulbricht gab es eine Übereinstimmung – insofern, als dessen Vorschlag, eine „Konföderation“ der beiden deutschen Staaten zu bilden, Ende Januar 1957 auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED parteioffiziell verkündet, den Abzug aller Besatzungstruppen aus Deutschland implizierte. Mit der Beschränkung auf die beiden deutschen Staaten und der Forderung nach deren Austritt aus den beiden Paktsystemen als erstem Schritt stand der SED-Vorschlag allerdings deutlicher in der Tradition der Neutralisierungspläne, die Adenauer immer abgelehnt hatte.13 III. Indessen zögerte Adenauer, den Brief an Eisenhower tatsächlich abzuschicken: Er war sich nicht sicher, ob nicht doch eine einseitige Destabilisierung des Westens die Folge sein würde, wenn er nun selbst für einen Rückzug amerikanischer 12
Ermittelt von Schwarz: Staatsmann (Anm. 4), S. 321–327. Vgl. Charles R. Planck: Sicherheit in Europa. Die Vorschläge für Rüstungsbegrenzung und Abrüstung 1955–1965, München 1968; Michael Lemke: Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949–1961, Köln 2001, S. 397–407. 13
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Truppen eintrat. Während er noch zögerte, entschied sich die amerikanische Administration mit Rücksicht auf die Gefahr eines Vertrauensverlustes bei den europäischen Verbündeten dafür, sich vorerst damit zu begnügen, die in Europa stationierten Divisionen auszudünnen. Damit entfiel für Adenauer die Notwendigkeit, die bisherige NATO-Struktur zu opfern. Statt dessen begann er nun für die Bundeswehr das anzusteuern, was Eisenhower als Ersatz für die Reduzierung der Mannschaftsstärke für die amerikanischen Bodentruppen in Europa in Aussicht hatte: die systematische Ausrüstung mit miniaturisierten, für den Gefechtseinsatz tauglichen Atomwaffen.14 Ursprünglich hatte Adenauer die Umstellung der amerikanischen Strategie auf atomare Abschreckung geradezu verzweifelt bekämpft, sah er darin doch – nicht ganz zu Unrecht – eine Aufweichung der amerikanischen Sicherheitsgarantie. Nachdem aber die Entscheidung für die Ausdünnung der amerikanischen Divisionen in Europa gefallen war, entschloss er sich, hierin von Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß tatkräftig unterstützt, nun auch für die Bundeswehr eine Ausrüstung mit Atomwaffen anzustreben. Die Ausstattung der Bundeswehr mit solchen „taktischen“ Atomwaffen schien ihm allein schon deswegen nötig, weil andere wichtige NATO-Verbündeten – Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und die Türkei – sie ebenfalls verlangten. Eine Diskriminierung, die den östlichen Angriff im Verteidigungsfall vornehmlich auf diejenigen Teile der NATO-Streitmacht lenkte, die nicht über Atomwaffen verfügten, sollte es nicht geben. Langfristig strebte er ebenso wie die britische und die französische Regierung an, über eigene Kernwaffen zu verfügen. Nur sie konnten die Gleichrangigkeit der Bundesrepublik im westlichen Bündnis gewährleisten und die Erschütterung der amerikanischen Garantie kompensieren. Die dazu notwendige Aufhebung des ABC-Waffenverzichts im Deutschlandvertrag hoffte er eine Zeit lang durch EURATOM erreichen zu können – die Europäische Atomgemeinschaft, die zusammen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am 25. März 1957 vertraglich vereinbart wurde. Überhaupt schien ein europäischer Verbund von Atommächten erstrebenswert, um die Verteidigungslasten zu senken und der einseitigen Abhängigkeit vom amerikanischen Atomschirm zu entkommen. Bis es soweit war, sollte die Ausstattung der Bundeswehr mit amerikanischen Atomwaffen „bis zur Division hinunter“15 wenigstens für eine Gleichbehandlung 14 Vgl. Hans-Peter Schwarz: Adenauer und die Kernwaffen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 579–581; Peter Fischer. Die Reaktion der Bundesregierung auf die Nuklearisierung der westlichen Vereidigung (1952–1958), in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 52 (1993), S. 116–188, 120–122; Klaus Schwabe: Adenauer and Nuclear Deterrence, in: Loth: Europe (Anm. 1), S. 38–40; Ralph Dietl: Emanzipation und Kontrolle. Europa in der westlichen Sicherheitspolitik. Eine Innenansicht des westlichen Bündnisses, Bd. II: Europa 1958–1963. Ordnungsfaktor oder Akteur?, Stuttgart 2007, S. 248 f. 15 So Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß auf der NATO-Ratstagung vom 11.– 14.12.1956, zit. nach Schwarz: Staatsmann (Anm. 4), S. 331.
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mit den Bündnispartnern sorgen. Ebenso hielt Adenauer nun die Ausstattung der amerikanischen Truppen in der Bundesrepublik mit Atomwaffen für unabdingbar: Nachdem dies offensichtlich die Bedingung für den Verbleib amerikanischer Landstreitkräfte war, musste er dafür Sorge tragen, dass diese Bedingung in der Bundesrepublik auch durchgesetzt werden konnte. Die Eisenhower-Administration stimmte dem Begehren ihrer europäischen Verbündeten nach Ausstattung mit „taktischen“ Atomwaffen grundsätzlich zu. Das widersprach zwar der ursprünglichen Philosophie des „New Look“, die eine Arbeitsteilung zwischen konventionellen „Schildstreitkräften“ der Europäer und dem „Schwert“ atomarer Abschreckungsdrohung der USA vorsah, war aber, so sah man es in Washington, unterdessen unvermeidlich, wenn man das Vertrauen in die westliche Allianz retten und die Entwicklung autonomer Nuklearkapazitäten der Europäer unterbinden wollte. Allerdings sollten, wie der amerikanische Vertreter im NATO-Rat am 12. April 1957 erläuterte, die nuklearen Sprengköpfe in amerikanischer Verwahrung bleiben; die Ausrüstung der europäischen Verbündeten sollte sich auf die Ausstattung mit amerikanischen Trägerwaffensystemen beschränken. Gegen die Verwirklichung dieses Beschlusses erhob sich nun allerdings in der Bundesrepublik ein Sturm der Entrüstung. Seit eine parlamentarische Anfrage der Opposition Anfang April 1957 die Diskussion über die Einführung taktischer Atomwaffen in die Öffentlichkeit getragen hatte, breitete sich in der Bundesrepublik Entsetzen über die selbstzerstörerischen Effekte ihres Einsatzes aus. Am 12. April veröffentlichten 18 führende deutsche Physiker, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker sowie die Nobelpreisträger Max von der Laue, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Max Born eine „Göttinger Erklärung“, in der sie vor der verheerenden Wirkung der Atomwaffen geringer Reichweite warnten und erklärten, dass ein „kleines Land wie die Bundesrepublik [. . .] sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.“16 Albert Schweitzer sekundierte mit einem Appell zur Abschaffung jeglicher Atomversuche. Die sozialdemokratische Opposition, zuvor schon auf dem Weg zur Mitarbeit an der Westintegration, konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine breite „Kampf dem Atomtod“-Kampagne zu entfachen, die die Wiedervereinigung dem Ziel rascher und umfassender Abrüstung unterordnete. Sie erhielt zusätzlichen Auftrieb, als Rapacki seine Überlegungen zur Rüstungsbegrenzung in Mitteleuropa am 2. Oktober 1957 in einer Rede vor der UNVollversammlung dahingehend konkretisierte, dass er die Bildung einer atomwaffenfreien Zone aus den beiden deutschen Staaten und Polen vorschlug. Wenig später, in den „Reith-Lectures“ in Oxford im November 1957, die einen Monat 16
Archiv der Gegenwart 27 (1957), S. 6385.
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später auch im britischen Rundfunk gesendet wurden, verband Kennan die Idee der atomwaffenfreien Zone wieder mit der Wiedervereinigung. In seiner Sicht sollte sie nur ein erster Schritt sein zu einem Rückzug aller ausländischen Truppen aus Deutschland und Osteuropa, der die Wiedervereinigung Deutschlands ebenso ermöglichte wie die Liberalisierung der osteuropäischen Regime. Beträchtlichen Anklang fanden diese Vorstellungen auch in Großbritannien, und selbst manche amerikanischen Politiker konnten sich dafür erwärmen. Eisenhower ließ seinen Außenminister am 3. Januar 1958 wissen, er denke, „dass die Politik des Disengagement zu ziemlich großen Schwierigkeiten führen“ würde – „obwohl ich anerkennen muss, dass mich die Idee, abstrakt betrachtet, anspricht.“17 Adenauer freilich konnte den Rapacki-Plan, nachdem er sich gerade für eine Befestigung des westlichen Bündnisses durch Atomrüstung entschieden hatte, nur als „eine Falle der Russen“ sehen. Nicht nur, dass er eine mehr oder minder offene Anerkennung der DDR implizierte und die Bundesrepublik auf einen nachgeordneten Rang in der westlichen Verteidigung verwies, er gefährdete auch die mühsam aufrechterhaltene Präsenz amerikanischer Truppen im westlichen Deutschland. Nachdem die Eisenhower-Administration beschlossen hatte, die Verringerung der Mannschaftsstärken ihrer europäischen Divisionen durch die Ausstattung mit Atomwaffen zu kompensieren, konnte ein Verzicht auf eine solche Ausrüstung, wie ihn der Rapacki-Plan vorsah, einen weiteren Abzug amerikanischer Truppen provozieren. Adenauer warnte, seine Durchführung werde „die Auflösung von NATO zur Folge haben.“18 Da Dulles und die französische Regierung den NATO-Kompromiss ebenso wenig gefährden wollten, blieb das Bündnis vorerst bei seinem Kurs. Auf dem NATO-Gipfeltreffen vom 16. bis 19. Dezember 1957 wurde beschlossen, vorbehaltlich der Zustimmung der direkt betroffenen Länder Lager von Atomsprengköpfen auf dem europäischen Bündnisgebiet anzulegen und dem Oberbefehlshaber der europäischen NATO-Streitmacht Mittelstreckenraketen zur Verfügung zu stellen. Die Bundesrepublik, die Niederlande, Griechenland und die Türkei stimmten der Lagerung von Atomsprengköpfen auf ihrem Territorium zu. Mittelstreckenraketen wurden allerdings nur von Italien und der Türkei akzeptiert, die Bundesregierung lehnte sie ab – wegen der Sorge, bevorzugtes Ziel sowjetischer Raketenangriffe zu werden oder die Abkoppelung vom strategischen Schutz durch die USA zu fördern.
17
FRUS 1958–1960, Bd. VII/2, S. 802. Adenauer an von Brentano 17.2.1958, zit. nach Schwarz: Staatsmann (Anm. 4), S. 383. 18
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IV. Die Sowjetregierung versuchte dagegen einmal mehr, die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Chruschtschow hatte sich den Rapacki-Plan zu eigen gemacht: Anders als der sowjetische Verteidigungsminister Rodion Malinowski, der in der einseitigen Ausdehnung der atomwaffenfreien Zone auf Staaten des Ostblocks einen inakzeptablen Vorteil für die westliche Seite sah, war er bereit, das Risiko einer gewissen Emanzipation der Osteuropäer einzugehen, wenn dafür der Rüstungswettlauf gestoppt und die DDR stabilisiert werden konnte.19 Anfang Januar 1958 schlug er die Einberufung einer allgemeinen Gipfelkonferenz von Mitgliedern beider Blöcke und neutralen Staaten vor, die über Rapackis Plan beraten sollte. Der Bundesregierung gegenüber wurde die Möglichkeit angedeutet, in Etappen zu einem völligen Rückzug auswärtiger Truppen aus Europa zu gelangen. Mitte Februar ergänzte die polnische Regierung ihren Vorschlag dahingehend, dass jetzt auch die Tschechoslowakei in die atomwaffenfreie Zone einbezogen werden sollte. Um Bonner Bedenken hinsichtlich der Anerkennung der DDR zu entkräften, schlug sie einseitige Unterzeichnungen des Beitritts zur atomwaffenfreien Zone vor, die nicht den Charakter eines multilateralen Vertrages annehmen würden. Das verstärkte Werben für den Rapacki-Plan blieb nicht ganz ohne Erfolg. Am 31. März 1958 stimmten die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs prinzipiell einem Gipfeltreffen zu. Eisenhower sah, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wenn er vor dem Ablauf seiner zweiten Amtsperiode noch ein Abrüstungsabkommen zustande bringen wollte; und nachdem Chruschtschow im Juni 1957 einen Putschversuch der „Anti-Partei-Gruppe“ um Molotow und Malenkow erfolgreich abgewehrt hatte,20 war dem amerikanischen Präsidenten auch nicht mehr zweifelhaft, mit wem ein solches Abkommen vereinbart werden musste, wenn es Bestand haben sollte. Selbst Adenauer setzte einem Abrüstungs-Gipfel nun keinen Widerstand mehr entgegen. Im Gegenteil: Er trat sogar, wie Dulles irritiert feststellen musste, nachdrücklich für einen solchen Gipfel ein. Um von der deutschen Frage offen zu halten, soviel angesichts des verbreiteten Entspannungsdrucks noch offen zu halten war, brachte er am 19. März gegenüber dem sowjetischen Botschafter Andrej Smirnow die Idee einer „Österreich-Lösung“ für die DDR ins Gespräch: Wie wäre es, fragte er den Botschafter, wenn die Sowjetführung bereit wäre, freie Wahlen in der DDR zuzulassen und ihr einen neutralen Status nach dem Muster Österreichs zu geben? Unter diesen Umständen könnte die Bundesrepublik auf die Forderung nach staatlicher Wiedervereinigung verzichten, und man könne 19 Vgl. Oleg Grinevskij: Tauwetter. Entspannung, Krisen und neue Eiszeit, Berlin 1996, S. 221 f. 20 Vgl. ebd., S. 58–73.
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dann auch in den Fragen der Abrüstung zu einem Ausgleich gelangen. Auch zur Unterzeichnung eines Handelsvertrags mit der Sowjetunion, gegen den sich Adenauer mit Blick auf die erhoffte Schwächung des östlichen Gegners lange Zeit gesperrt hatte, war er jetzt bereit.21 Adenauers Kurswechsel in der Abrüstungsfrage bedeutete freilich nicht, dass er nun doch noch bereit gewesen wäre, sich auf den Versuch eines allgemeinen Disengagements in Europa einzulassen. Vielmehr schien ihm die Demonstration von Verhandlungsbereitschaft notwendig zu sein, um die Atombewaffnung der Bundesrepublik gegen die Verlockungen des Rapacki-Plans innenpolitisch durchzusetzen. Wenn er selbst globale Abrüstungsverhandlungen verlangte, so kalkulierte er, würden die Sowjets sich soweit dekuvrieren, dass es für den Stationierungsbeschluss doch eine Mehrheit geben würde. Unter Aufbietung aller rhetorischen Mittel gelang es ihm, die Bundestagsmehrheit Ende März auf eine Entschließung einzuschwören, die für den Fall, dass Verhandlungen über eine kontrollierte Abrüstung scheitern sollten, die Ausrüstung der Bundeswehr mit „den modernsten Waffen“ vorsah.22 Wenige Tage später, am 8. April, unterzeichneten die Verteidigungsminister der Bundesrepublik, Frankreichs und Italiens in aller Heimlichkeit ein Abkommen über die gemeinsame Produktion von Atomwaffen. Tatsächlich konnte die Sowjetregierung die Westmächte nicht dazu bringen, Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Deutschland in die Tagesordnung des Gipfeltreffens aufzunehmen. Chruschtschow versuchte nun, den öffentlichen Druck auf die Regierungen dadurch zu verstärken, dass er Ende Mai die diplomatischen Vorgespräche abbrach und Material daraus veröffentlichte, das den mangelnden Verhandlungswillen der Westmächte demonstrieren sollte. Dieser Schachzug erwies sich aber als kontraproduktiv: Jetzt erschien die sowjetische Seite wieder als diejenige, die nicht zu wirklicher Abrüstung bereit war, und die Anwälte der atomaren Aufrüstung im Westen konnten ihre Position bekräftigen. Das Projekt der Gipfelkonferenz verflüchtigte sich, während die Vorbereitungen zur Aufstellung der neuen Waffen weitergingen. Adenauer hatte, bildlich gesprochen, einen Kampf gewonnen, auch wenn abzusehen war, dass es nicht sein letzter gewesen sein sollte. Mit der Drohung eines separaten Friedensvertrags mit der DDR, die Chruschtschow im November 1958 in die Welt setzte, ging die Auseinandersetzung in die nächste Runde.23
21 Vgl. Klaus Gotto: Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1954–1963, in: Adenauer-Studien III, Mainz 1974, S. 3–91; Schwarz: Staatsmann (Anm. 4), S. 425–428. 22 Verhandlungen des Deutschen Bundestages 1958, Bd. 40, S. 1160. 23 Vgl. Gerhard Wettig: Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963. Drohpolitik und Mauerbau, München 2006.
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V. Wie soll man nun diese Auseinandersetzung um Disengagement und atomare Bewaffnung im Nachhinein beurteilen? Zweifellos war die „Politik der Stärke“ jene Variante von deutscher Wiedervereinigungspolitik, die das geringste Risiko für die westliche Sicherheit barg. Ihre Erfolgsaussichten waren aber denkbar ungewiss – erstens, weil nicht klar war, wie die Sowjetunion tatsächlich zum „Einlenken“ bewegt werden konnte, und zweitens, weil das Engagement der Westmächte für die Wiedervereinigung umso mehr nachlassen musste, je entschlossener sich die Westdeutschen im Westen einrichteten. Entsprechend groß war das Risiko, dass sie entgegen ihren Absichten nur zu einer Verfestigung der Blockbildung führte. Tatsächlich trat diese Entwicklung nach der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO und der Integration der DDR in den Warschauer Pakt 1955 prompt ein: Im mühevollen Abwehrkampf gegen eine Anerkennung des deutschlandpolitischen Status quo machte Adenauer alle Chancen zunichte, den Übergang zur wechselseitigen atomaren Abschreckung zu vermeiden. Die Alternative eines Eingehens auf die Disengagement-Pläne, wie sie die Opposition forderte, war mit größeren Risiken für die unmittelbare militärische Sicherheit der Bundesrepublik verbunden; sie eröffnete freilich auch in ungleich stärkerem Maße die Perspektive auf eine wirkliche Entspannung, die den Menschen im sowjetischen Machtbereich zu größerer Freiheit verhalf und den Frieden in Europa insgesamt sicherer machte. Dass diese Alternative 1957 nicht zum Zuge kam, ist letztlich auf die Dominanz einer pessimistischen Weltsicht zurückzuführen, bei Adenauer, aber auch bei einer Mehrheit der verängstigten Westdeutschen. Die Mehrheit der politischen Kräfte in der Bundesrepublik wollte nicht wahrhaben (oder genauer gesagt: wollte noch nicht wahrhaben), dass die Ausbreitung des westlichen Systems eine gewisse Risikobereitschaft voraussetzte.
Hammer und Zirkel an der Themse Von Hans-Georg Golz Die Außenpolitik der DDR stand lange Zeit ganz im Zeichen des Strebens nach völkerrechtlicher Anerkennung und nach Gleichberechtigung mit der Bundesrepublik auf der internationalen diplomatischen Bühne. Die NATO-Staaten orientierten sich während der Nichtanerkennungsphase an der Ostpolitik Bonns und an ihrem schärfsten Instrument, der Hallstein-Doktrin.1 Am 19. Oktober 1957 gelangte sie erstmals zur Anwendung: Die Bundesregierung teilte in einer Note an den jugoslawischen Botschafter mit, dass die Anerkennung der DDR durch Belgrad den Abbruch der Beziehungen mit Bonn bedeute: „Die Existenz der sogenannten ,DDR‘ ist, wie allgemein bekannt, das Ergebnis einer fortgesetzten Einmischung einer fremden Macht in innerdeutsche Angelegenheiten. [. . .] Wer die sogenannte ,DDR‘ als Staat anerkennt und mit ihr diplomatische Beziehungen unterhält, beteiligt sich an dieser Politik der Einmischung [. . .].“2 Einen Einschnitt in der außenpolitischen Konkurrenz zwischen beiden deutschen Staaten markierte das Jahr 1957 indes nicht. Die DDR musste aufgrund der Anerkennungsblockade noch bis in die 1970er Jahre hinein, bis zur Zäsur des Grundlagenvertrags, eine Westpolitik betreiben, die sich auf symbolische Aktionen und ritualisierte Belege der eigenen Existenz zu beschränken hatte. Die klassischen Instrumente der Diplomatie standen nicht zur Verfügung. Gesellschaftliche Organisationen, die Auswärtige Kulturpolitik, der staatlich gelenkte Außenhandel und Sportbegegnungen erfüllten semi-offizielle außenpolitische Aufgaben. Alle diese Aktivitäten sollten auf die politische Entwicklung zurückwirken. Zum Zeitpunkt ihres Unterganges war die DDR ironischerweise weltweit diplomatisch anerkannt – und für viele Staaten des Westens viel weniger interessant als noch in den 1950er Jahren. Das zeitweilige Mitglied im Weltsicherheitsrat (1980/81) unterhielt mit 137 Staaten offizielle Beziehungen; weltweit gab es 84 DDR-Botschaften. Diese internationale Reputation war fast 25 Jahre lang Ziel 1 Vgl. z. B. Rüdiger Marco Booz: „Hallsteinzeit“. Deutsche Außenpolitik 1955– 1972, Bonn 1995. 2 Note des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Heinrich von Brentano, an den jugoslawischen Botschafter Kveder vom 19.10.1957 über die Beendigung der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien, zit. nach: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, Köln 1995, S. 243 f.
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aller Politik der SED gewesen. Außenpolitische Anerkennung, geradezu zwanghaft verfolgt, erschien der SED-Führung als notwendige Vorbedingung innenpolitischer Stabilisierung, ja Legitimierung ihrer Herrschaft. I. „Immer bessere Kontakte mit England“ Das galt auch für das ostdeutsch-britische Verhältnis.3 Großbritannien war als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges, als Unterzeichner des Viermächteabkommens über Berlin sowie als hoch entwickelter Industriestaat stets attraktiv für außenpolitische Initiativen der DDR. Lange Zeit glaubte man in der SED-Führung sogar, von der pragmatisch und „realistisch“ ausgerichteten britischen Außenpolitik am ehesten eine politische Aufwertung erhalten zu können. Doch erst nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags kam es zur weltweiten Anerkennung des ostdeutschen Staates, mithin am 9. Februar 1973 auch durch Großbritannien. Das offizielle Westminster zeigte sich von den Avancen aus Pankow während der Nichtanerkennungsphase wenig beeindruckt. Bis 1973 gab es keine offiziellen Kontakte zwischen London und Ost-Berlin: Die DDR war schlicht nicht existent. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung hatte die britische Regierung sie als „künstliche Kreation“ ohne rechtliche Grundlage bezeichnet.4 Allein die Bundesregierung war aus britischer Sicht berechtigt, in internationalen Angelegenheiten für Deutschland zu sprechen – ein Standpunkt, der bei der Londoner Neunmächtekonferenz 1954 vertraglich fixiert und durch öffentliche Erklärungen der Westmächte in der Folgezeit immer wieder bekräftigt wurde. In der britischen Öffentlichkeit fand das Handelsargument zwar durchaus Widerhall, aber die Kommentatoren der großen Tageszeitungen waren sich darüber im Klaren, dass man es mit einer üblen Diktatur zu tun habe, deren Institutionen nur demokratische Fassade seien. So kommentierte der liberale „Manchester Guardian“ das „Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR“ vom 23. Juli 1952, das zur Auflösung der Länder und zur Verwaltungsneugliederung in Kreise und Bezirke führte, mit deutlichen Worten: „The title ,Democratic Republic‘ gets a little more fantastic with every political change in Eastern Germany.“5
3 Vgl. für das Folgende bes. Hans-Georg Golz: Verordnete Völkerfreundschaft, Leipzig 2004; Henning Hoff: Großbritannien und die DDR 1955–1973. Diplomatie auf Umwegen, München 2003; Marianne Bell (Howarth): Britain and East Germany. The Politics of Non-Recognition, unveröff. M.Phil. thesis (Ms.), Nottingham 1977. 4 Department of State Press Release No. 790 vom 12.10.1949, Public Record Office (PRO), Foreign Office (FO) 371/76617, 13.10.1949, hier zit. bei Marianne Howarth: Freundschaft mit dem Klassenfeind, in: Deutschland Archiv 36 (2003), Heft 1, S. 25. 5 Guidance and Supervision, in: The Manchester Guardian vom 2.9.1952.
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Wie nutzte die SED die begrenzten Handlungsspielräume in Großbritannien? Man stützte sich auf symbolische Politik – ganz im Sinne des 1970 erschienenen offiziösen „Kulturpolitischen Wörterbuchs“. Dort wurde „Symbol“ als „Sinnbild, Wahrzeichen, besonders auch im gesellschaftlichen und politischen Leben“ definiert, „das einen bestimmten Sinngehalt ausdrückt (z. B. Hammer, Zirkel und Ährenkranz im Staatswappen der DDR als S. der politischen Macht der Arbeiter, Bauern und der werktätigen Intelligenz)“.6 Eine erste Offensive, das Staatssymbol, den Beleg für die Existenz eines „besseren Deutschlands“ und für die Macht der Arbeiterklasse, auch an der Themse zu etablieren, begann Mitte der 1950er Jahre.7 Bis zum Ende jenes Jahrzehnts ergoss sich eine wahre Papierflut über Großbritannien. Die Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (GkV), Vorläuferin der 1961 gegründeten Liga für Völkerfreundschaft, verschickte Kalender, Bücher und Zeitschriften (vor allem den im westlichen Magazinformat attraktiv aufgemachten „GDR Review“) an Bibliotheken, aber auch an Hotels, Ärzte und selbst an Frisöre. Der Absender lautete: „Berlin W 8“, eine unverfängliche Adresse, mit der die meisten Briten wenig anfangen konnten. Zum 10. Jahrestag der DDR traten das Symphonieorchester des Deutschlandsenders und der Große Chor des Berliner Rundfunks mit Beethovens „Missa Solemnis“ in der Royal Festival Hall in London auf. Dabei wurde neben der britischen auch die DDR-Hymne gespielt, und der zweite Teil des Konzerts wurde live in die DDR übertragen. Ein zweites Konzert am selben Ort präsentierte Händels „Belsazar“, ein drittes fand im Rahmen der Musikfestspiele in Coventry, Dresdens Partnerstadt, statt.8 Anfang der 1960er Jahre sah es so aus, als ob die miserable Wirtschaftslage nach dem Krieg und der Zerfall des Empires Großbritannien dazu veranlassen könnten, auf den Köder vertiefter Handelsbeziehungen mit der DDR zum Preis einer De-facto-Anerkennung einzugehen. Kernstück der Propagandaoffensive war eine von der GkV zusammengestellte und von britischen Privatleuten angemeldete Ausstellung, die anlässlich des 10. Jahrestages der DDR in London und 18 weiteren britischen Städten gezeigt wurde. Der Saal im Londoner Royal Hotel war symbolisch schwarz-rot-gold drapiert.9 In Tageszeitungen erschienen Anzeigen, die über die Schau informierten: Sie trugen politische Symbole des SED6
Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 1970, S. 500. Vgl. Werner Krug: Ostzonale Propagandaflut nach England, in: Kieler Nachrichten vom 6.8.1959. 8 Vgl. In London gefeiert, in: Neues Deutschland vom 6.10.1959. 9 Vgl. Curt Geyer: London ignoriert Ostberliner Schau, in: Weser-Kurier vom 2.10.1959; Johannes Gross: Pankows außenpolitische Offensive, in: Deutsche Zeitung vom 15.10.1959; John P. Reynolds: Pankow kommt leise durch die Hintertür, in: Die Rheinpfalz vom 17.10.1959; dagegen Eberhard Rebling: England sieht und hört die DDR, in: Neues Deutschland vom 6.10.1959. 7
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Staates und die Staatsflagge. Der Versuch, während des Besuchs von Bundeskanzler Konrad Adenauer in London im Dezember 1959 erneut große Anzeigen mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz in britischen Zeitungen unterzubringen, scheiterte am Einspruch des Foreign Office und an dessen sanftem Druck auf die Redaktionen. Ferner wurden in einer Londoner Buchhandlung Druckerzeugnisse aus der DDR sowie im Park Lane House am Hyde Park eine „Deutsche Textilausstellung“ gezeigt. Ermöglicht wurden diese Ausstellungen durch die Vereinbarung des Industrieverbandes Federation of British Industry (FBI) mit der Kammer für Außenhandel (KfA) der DDR. Der anhaltende Druck von Wirtschaftskreisen auf die britische Regierung, genährt durch den Umstand, dass der Interzonenhandel in Deutschland offenbar florierte, drohte die offizielle britische Haltung aufzuweichen. Im Januar 1959 hatte der FBI nach zweijährigen Verhandlungen eine Handelsvereinbarung mit der KfA abgeschlossen, die fortan jährlich verlängert wurde – das einzige greifbare Ergebnis der Anerkennungsbemühungen der DDR in Großbritannien vor 1973. Die erste Vereinbarung sah einen Warenaustausch in Höhe von über sieben Millionen Pfund vor. Großbritannien wurde nun zur wichtigsten Bezugsquelle für den Aufbau des ehrgeizigen Ulbricht’schen Halbleiterund Chemieprogramms („Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit“) an der Wende zu den 1960er Jahren.10 Die KfA war das wichtigste Instrument des DDR-Außenhandels. Sie war im November 1952 als „gesellschaftliche Organisation“, die sich laut Satzung „als Hilfsorgan des Außenhandels betätigt“, gegründet worden, um Kontakte zu Wirtschaftspartnern vor allem in westlichen Ländern herzustellen, mit ihnen Kammerabkommen abzuschließen und die Nichtanerkennungspolitik der Bundesrepublik zu unterlaufen. Die KfA entsandte und empfing Delegationen, organisierte Messebeteiligungen im Inland, bereitete die Beteiligung von DDR-Betrieben an Messen im Ausland vor und richtete „Technische Tage der DDR“ im Zielland aus. Am 19. Mai 1959 wurde KfA Ltd, London, als letzte von 15 ähnlichen Vertretungen der KfA in Westeuropa eröffnet, eine GmbH, die das alleinige Ziel verfolgte, den bilateralen Handel mit britischen Privatfirmen zu fördern. Die Firma war nicht etwa bei der britischen Regierung „akkreditiert“, fungierte jedoch de facto als Vorläuferin der Handelsabteilung der späteren DDR-Botschaft. Ihre Hauptaufgabe waren Verhandlungen mit dem FBI über das Volumen des gemeinsamen Handels sowie die Erstellung von Warenlisten. KfA Ltd spielte eine zentrale Rolle in der Anerkennungsstrategie der DDR. Ihre Tätigkeit ging weit über die Förderung von Geschäftsbeziehungen hinaus.11 Sie war – selbst im Vergleich 10 Vgl. Raymond Stokes: A Singular Attraction: Economic and Technological Relations between Great Britain and the GDR in the 1950s and 1960s, in: Arnd Bauerkämper (Hrsg.): Britain and the GDR, Berlin 2002, S. 325.
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zur Botschaft der Bundesrepublik – mit erheblichen Mitteln ausgestattet, organisierte Reisen von Politikern, Industriellen, Journalisten und Studenten, trat als Veranstalterin auf und wurde zur inoffiziellen Vertreterin der DDR in Großbritannien während der Nichtanerkennungsperiode. In DDR-Publikationen wurde die Firma als „Vertreter der Kammer für Außenhandel in der britischen Hauptstadt“ bezeichnet, und im Briefkopf und auf Einladungskarten nannte sie sich symbolisch „GDR Trade Office“, die „offizielle Vertretung der DDR in der britischen Hauptstadt“. KfA Ltd gründete mehrere „Privatfirmen“, die DDR-Interessen in Großbritannien wahrnehmen und selbstbewusste Präsenz demonstrieren sollten. Unter dem Schild „K.F.A. Limited/Office of the Chamber of Foreign Trade of the German Democratic Republic“ in Birkett House, 27 Albemarle Street, London W 1, waren im Laufe der 1960er Jahre weitere von DDR-Bürgern gegründete Tochterfirmen von DDR-Unternehmen vertreten, darunter CZ Scientific Instruments Ltd, Heavy Engineering Equipment Ltd, Wemex Ltd, Data Processing Equipment Ltd, Deutrans Ltd, C.A. Chemical Engineers Ltd und Unitechna Service Ltd.12 Hammer und Zirkel im Ährenkranz waren nun an der Themse etabliert, wenn auch nur inoffiziell. Im Sommer 1959 und im Februar 1960 besuchte der SED-Funktionär Horst Brasch mit einer Delegation der Nationalen Front mehrere Städte seines ehemaligen Exillandes. Brasch war 1938 nach England emigriert, wurde bei Kriegsbeginn in Kanada interniert und nach seiner Rückkehr 1942 in London zum Präsidenten der FDJ-Zentralleitung ernannt. Er gehörte zur kleinen, aber aktiven Gruppe von Antifaschisten, die während der NS-Zeit in Großbritannien Zuflucht gefunden hatten. Nun stellte er einen „großen Wandlungsprozeß“ in Großbritannien fest: „In die laut Adenauer nicht existente DDR reisen immer mehr und immer einflußreichere Abgeordnete der beiden großen Parteien. Sie überzeugen sich selbst davon, daß bei uns Faschismus und Militarismus ausgerottet sind und es auch keine Voraussetzungen mehr gibt, auf deren Grundlage solche Geißeln der Menschheit wieder entstehen könnten. [. . .] Die Gefährlichkeit der Bonner Politik, besonders die große Gefahr der Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen für den Briten – das war der Hauptgrund, warum wir in England so großartig aufgenommen wurden.“13 Der Londoner Korrespondent der SED-Tageszeitung „Neues Deutschland“ (ND) Franz Krahl – auch er war während des Krieges 11 Vgl. Marianne Howarth: KfA Ltd und Berolina Travel Ltd, in: Deutschland Archiv 32 (1999), Heft 4, S. 591–600. 12 Vgl. Bell: Britain (Anm. 3), S. 151, sowie Friedrich Eymelt: Großbritannien (Die Tätigkeit der DDR in den nichtkommunistischen Ländern, Bd. V, hrsg. vom Forschungsinstitut der DGAP), Bonn 1970, S. 15. 13 Horst Brasch: Wie England über die DDR denkt, in: Neues Deutschland vom 10.3.1960; ders.: Rings um Big Ben, Berlin (Ost) 1960. Brasch war von 1975 bis 1987 Generalsekretär der Liga für Völkerfreundschaft.
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im britischen Exil gewesen – rühmte nach der zweiten Brasch-Reise in einem von der „Times“ aufgegriffenen ND-Beitrag „immer bessere Kontakte mit England“.14 Der Eindruck, den solche Anbiederungs- und Einschmeichlungsversuche in Westminster hinterließen, war weit weniger stark, als es besorgte Stimmen in Bonn befürchteten und sich die SED erhoffte. Die Regierungen Macmillan (1957–1963), Douglas-Home (1963–1964) und Wilson (1964–1970) hielten sich loyal an die Hallstein-Doktrin. Die SED dagegen ließ nichts unversucht, die diplomatische Isolation zumindest symbolisch zu durchbrechen. Auch die unbedeutendsten Visiten westlicher Parlamentarier, die auf Einladung der Liga für Völkerfreundschaft und während der Leipziger Messen die DDR bereisten, sowie von DDR-Delegationen in den „Zielländern“ erhielten den Anstrich von Staatsbesuchen, wurden hochrangig betreut und in den Massenmedien, insbesondere im ND und in den Bezirkszeitungen, groß herausgestellt.15 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam es in den meisten westlichen Staaten zur Gründung von Komitees, die Lobbyarbeit im Sinne der SED betrieben und für die Anerkennung der DDR eintraten. Die SED suchte in Großbritannien nach Anknüpfungspunkten insbesondere bei der starken Gewerkschaftsbewegung und bei Parlamentsabgeordneten, fiel doch der „natürliche“ Verbündete, die britische kommunistische Partei (CPGB), mangels Schlagkraft und gesellschaftlicher Relevanz weitgehend als Bündnispartner aus. Jede auch nur am Rande relevante Aussage eines britischen Unterhausabgeordneten, der sich für „Normalität“ im Umgang mit der DDR aussprach, wurde von den gelenkten Medien breit zitiert. Zugleich wurde des Öfteren über den elenden Alltag der Werktätigen im Ursprungsland des Kapitalismus berichtet. Die Propaganda vom antifaschistischen Deutschland, das aus der Vergangenheit gelernt habe, fiel insbesondere bei Abgeordneten des linken Flügels von Labour durchaus auf fruchtbaren Boden, ebenso bei Kirchenvertretern. Die SED-Führung bemühte sich hartnäckig darum, eine „Popularisierung“ des Renommees der DDR zu erreichen. So verantwortete KfA Ltd – ohne explizit genannt zu werden – Ende 1968 eine doppelseitige Werbung für die DDR in der „Times“. Sieben zum Teil namentlich gekennzeichnete Texte, u. a. vom stellvertretenden Außenhandelsminister „Gerhar“ [sic!] Beil und von Heinz Wenzel, „General Manager of the GDR Travel Bureau“, warben für „Normal Relations with the GDR – a Contribution to International Cooperation“ (einschließlich der 14 Franz Krahl: Immer bessere Kontakte mit England, in: Neues Deutschland vom 24.6.1960. 15 Vgl. z. B. Lord Hinchingbrooke in der DDR, in: Neues Deutschland vom 31.3. 1960; Botschafter eines anderen Deutschlands. Die Englandtournee des Leipziger Gewandhausorchesters, in: Neues Deutschland vom 2.4.1960; DDR-Abgeordnete im Unterhaus. Aussprache mit Mitgliedern beider Häuser des britischen Parlaments, in: Neues Deutschland vom 2.6.1960.
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Anerkennung) sowie den Ausbau der Handelsbeziehungen und sollten die Briten für einen Urlaub in der DDR interessieren („Excellent Conditions for Tourism and Leisure Travel“). Beil beschrieb das Potenzial der Wirtschaftsbeziehungen. Voraussetzung für eine Verbesserung sei die Normalisierung der Handelsbeziehungen. In hölzernem Englisch hieß es: „A comprehensive and rapid development of division-of-labour relations calls for government guarantees to be given in the form of long-term inter-governmental agreements, for the establishment of official trade representations in Berlin and London to support the activities of interested economic circles and for the freedom of the economic relations from any discriminations. Nor are restrictions preventing leading representatives of the economy, trades people and technicians of the German Democratic Republic from freely travelling likely to contribute to the development of peaceful trade.“16 Die Aktion war ein Reinfall, denn Wirtschaftsvertreter wie Politiker dürften sich über den stümperhaften Versuch, in einer Fremdsprache die DDR attraktiv zu zeichnen, eher amüsiert haben. John Peet, Redakteur des in Ost-Berlin erscheinenden „Democratic German Report“ (DGR), beschwerte sich bei Brasch über das „German English“, welches provinziell und abschreckend wirke.17 Offenbar hatte es keine Abstimmung mit den britischen DDR-Freunden, etwa in der Freundschaftsgesellschaft Britain-Democratic Germany Information Exchange (BRIDGE) oder in der CPGB, gegeben. Trotz der regen Arbeit einer kleinen DDR-Lobby, darunter BRIDGE-Präsident Gordon Schaffer, Mitbegründer des British Peace Committee, der 1947 nach einem zehnwöchigen Besuch in der SBZ das erste britische Buch über Ostdeutschland geschrieben hatte18, und der Wirtschaftskontakte blieb das allgemeine Interesse in Großbritannien an der DDR äußerst gering. Auch John Peet und sein DGR gehörten zur britischen DDR-Lobby. Peet, sowjetischer Spion während des Spanischen Bürgerkriegs, war im Juni 1950 als Chefkorrespondent von Reuters in Berlin in die DDR gewechselt, wo er ab 1952 bis zur abrupten Einstellung Ende 1975 nahezu im Alleingang den englischsprachigen DGR redigierte. Das newsletterartige Blatt wurde vom Presseamt der DDR herausgegeben – eine professionelle und gut gemachte Publikation, die die Parteilinie der SED lesbar aufbereitete. Das Blatt wurde an Multiplikatoren in alle Welt, vor allem aber an britische Parlamentarier verschickt. Die Auflage betrug etwa 30.000 Exemplare, rund 5000 blieben in der DDR.19
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The Times vom 18.12.1968, S. 8. Brief von John Peet an Horst Brasch, Berlin, Dezember 1968, SAPMO-BArch, DY 13/2103, Bl. 2. 18 Gordon Schaffer: Russian Zone, London 1947. 19 Vgl. Stefan Berger/Norman LaPorte: John Peet (1915–1988). An Englishman in the GDR, in: History 89 (2004), Nr. 293, S. 49–69. 17
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Im Juli 1960 wurde zur Steigerung des Interesses am anderen deutschen Staat eine Filiale des Deutschen Reisebüros (DER) der DDR in London gegründet. Berolina Travel Ltd nahm aufgrund diverser Personalprobleme und angesichts der nach dem Mauerbau verschärften alliierten Reisebeschränkungen erst 1965 – im Zuge der „Erweiterung der auslandsinformatorischen Tätigkeit nach Großbritannien“, zu der auch die Gründung der Deutsch-Britischen Gesellschaft in der DDR (DEBRIG) gehörte20, ihre Arbeit auf. Das private Reisebüro residierte im feinen Londoner Westend und sollte die „werktätigen Massen“ Großbritanniens mit den Slogans „Holidays in the GDR“ und „Come to the GDR – see for yourself!“21 über Reisemöglichkeiten informieren.22 Berolina Travel Ltd, die nach der Anerkennung u. a. mit dem Slogan „Holiday in the GDR? Contact the Specialists“ in britischen Tageszeitungen warb, arbeitete als Vorläuferin der Konsularabteilung der Botschaft und wurde erst 1990 geschlossen. Neben Berolina Travel warben auch die gewerkschaftsnahen Progressive Tours sowie Yorkshire Tours, Huddersfield, für Urlaubs- bzw. Studienreisen in die DDR.23 Während britische Bürger formal nie daran gehindert waren, die DDR zu bereisen, hatte der Westen der Reisetätigkeit von DDR-Bürgern insbesondere nach dem Mauerbau enge Grenzen gesetzt: Bis 1970 mussten sich Reisende aus der DDR einem aus der Besatzungszeit stammenden Visaverfahren unterwerfen und sich beim Allied Travel Office (ATO)/Bureau Allie de Circulation in West-Berlin (Schöneberg) de facto als staatenlos erklären. Die Präsenz des Reisebüros in London war allein symbolischer Natur; das Interesse an Urlaubs- und Studienreisen in die DDR blieb kaum nennenswert. II. Anerkennungsquerelen 1957 Am 25. März 1957 wurden die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) zur Koordinierung der Kernforschung unterzeichnet. Die Bundesrepublik schritt mit Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg bei der westeuropäischen Einigung voran. Der fulminante Bundestagswahlsieg der Unionsparteien im September 1957 markierte die Hochzeit des „Wirtschaftswunders“ in der Bundesrepublik und bestätigte auf eindrucksvolle Weise Adenauers Kurs der Westintegration.
20 Vgl. Anlage III A zur Beschlussvorlage für das ZK der SED vom 21.5.1963, Eröffnung der Berolina Travel Ltd. in London, SAPMO-BArch, DY 30/JIV2/3A/962. 21 Z. B. in GDR Review (1965), Heft 11, S. 40, und (1966), Heft 9, S. 39. 22 Vgl. zu Berolina Travel: Howarth: KfA (Anm. 11). 23 Vgl. Britain-GDR Society, Members’ Bulletin, Juni 1981, SAPMO-BArch, DY 13/ 3130.
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Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs löste der Start des Satelliten „Sputnik“ am 4. Oktober 1957 Euphorie über die Überlegenheit des kommunistischen Systems aus. Der „Sputnik-Schock“ sorgte im Westen für erhebliche Irritationen über die Leistungsfähigkeit des östlichen Blocks. Das Prestige der USA war erst wiederhergestellt, als im Januar 1958 „Explorer I“ in den Weltraum entsandt wurde. Die Wirtschaft der DDR litt unter dem fortdauernden Aderlass von Zehntausenden, die es über die noch offenen Grenzen in den Westen zog. Als am 7. November 1957 der erste „Trabant“ aus dem Zwickauer Automobilwerk rollte, schien es, als ob die Ingenieure der DDR aus der Rohstoffknappheit und der wirtschaftlichen Malaise eine Tugend gemacht hätten, stammte das Rohmaterial für den „Trabi“, Duroplast, doch aus Baumwolle. Doch die Attraktivität des ostdeutschen Buhlens um wirtschaftliche Kooperation mit westlichen Ländern blieb gering. Beide deutsche Staaten belauerten sich und präsentierten sich der Welt als das „bessere Deutschland“. Auch in der Sozialpolitik: So wurde beispielweise im Jahr 1957 in der Bundesrepublik und in der DDR die Arbeitszeit auf 45 Stunden pro Woche verkürzt. Der Alleinvertretungsanspruch der DDR war höchst lebendig. Die Bundesrepublik galt als „Separatstaat“, der eine militaristische und imperialistische Politik betreibe. „Keine Kraft der Welt kann die Errungenschaften der DDR, die Errungenschaften des ganzen deutschen Volks sind, rückgängig machen“, hieß es in den „Thesen des Politbüros des ZK der SED zum 10. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik“.24 Partiell war das SED-Anerkennungswerben im Westen durchaus von Erfolg gekrönt: Am 23. Mai 1957 unterzeichnet ZK-Sekretär Paul Wandel ein Außenhandelsabkommen mit italienischen Partnern. Auch im (Nicht-)Verhältnis Großbritanniens zur DDR schien die Hallstein-Doktrin zu bröckeln. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) formulierte für das Jahr 1957 das Ziel, Delegationsbesuche insbesondere von Labour-Politikern zu fördern und auf wirtschaftlicher Ebene ein formales Handelsabkommen zu schließen; dazu gehörte auch die Eröffnung eines Handelsbüros der KfA in London.25 Beides blieb in diesem Jahr unerreicht. Die Hallstein-Doktrin sorgte dafür, dass sich die westlichen Staaten an der Ostpolitik der Bundesrepublik orientierten. Auch das britisch-ostdeutsche Verhältnis im Jahr 1957 war von den fortgesetzten deutsch-deutschen Anerkennungsquerelen geprägt. Am 10. und 11. April besuchte Alfred Robens, bis 1956 Schattenaußenminister von Labour-Führer Hugh Gaitskell, Ost-Berlin und hielt einen 24
In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1959), S. 1469. Auszug aus dem Perspektivplan der Abteilung Westeuropa für 1957/Grossbritannien, PA AA, Bestand MfAA, A 13056, Bl. 17–20, zit. nach Hoff: Großbritannien (Anm. 3), S. 142 f. 25
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Vortrag an der Humboldt-Universität; beim Gespräch mit dem stellvertretenden DDR-Außenminister Sepp Schwab deutete Robens an, Labour könnte sich für die Anerkennung beider deutscher Staaten einsetzen. Das Foreign Office war über den Besuch nicht informiert worden.26 Vom 29. April bis zum 6. Mai 1957 hielt sich – wie die meisten Besuchergruppen jener Jahre auf Einladung des 1951 gegründeten Berliner Büros der „Internationalen Konferenz zur friedlichen Lösung der deutschen Frage“, einer SEDTarnorganisation – eine Delegation aus Wales in der DDR auf. Geleitet vom Unterhausabgeordneten Llywelyn Williams besuchten die fünf Parlamentarier und drei Geistlichen Berlin und Dresden. Auch ein Treffen mit Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann stand auf dem Programm. Das ND veröffentlichte eine Erklärung der britischen Gäste, in der es hieß: „Die Gefühle der Bevölkerung gegenüber britischen Menschen waren Gefühle echter Herzlichkeit. Die Menschen der Deutschen Demokratischen Republik bedauern zutiefst die Beschränkungen, auf die sie stoßen, wenn sie Großbritannien besuchen wollen, und sie bedauern natürlich auch die Handelsbeschränkungen, die der Republik die Möglichkeiten für einen größeren Handel mit Großbritannien nehmen.“ Besonders angetan war die Delegation vom Wiederaufbau. Man werde „alles tun, [. . .] um die Menschen unserer beiden Länder im Interesse des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts einander immer näher zu bringen“.27 Auch eine erste britische „Frauendelegation“ zeigte sich nach Auskunft des ND im Juli 1957 „beeindruckt“ über eine siebentägige Reise durch die DDR, die sie nach Rostock, Stalinstadt und Berlin geführt hatte.28 Im September schließlich besuchte erstmals eine Abordnung von Politikern der Tories die DDR; unter der Leitung von Gresham Cooke kam es zu einem Empfang im Gästehaus der DDR-Regierung, an dem auch Mitarbeiter der Ministerien für Außenhandel und für Innerdeutschen Handel sowie Abgeordnete der Volkskammer teilnahmen, darunter Paul Wandel.29 Doch als im August 1957 sieben Labour-Abgeordnete nach ihrer Rückkehr nach London über ihre Erlebnisse in der DDR berichteten, kam es zum Skandal. Der Abgeordnete Robert Mellish bezeichnete das Regime als „a puppet Government“, das nicht einmal „tuppence“ wert sei. Gleichwohl plädierte er für Realpolitik, denn die Russen würden das Regime stützen, und zwar „with everything they have got“. Mellish spielte auf die Rede von Nikita Chruschtschow am 8. August vor der Volkskammer an und meinte: „This is the threat the East Ger26 27 28
Vgl. ebd., S. 144–145. Vorurteile überwinden, in: Neues Deutschland vom 11.5.1957, S. 2. Englische Frauendelegation beeindruckt, in: Neues Deutschland vom 27.7.1957,
S. 2. 29 Unterhausabgeordneter Cooke: Bessere Handelsbeziehungen England–DDR möglich, in: Neues Deutschland vom 26.9.1957, S. 1.
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man people live under. They cannot get rid of the present regime, and they have got to tolerate it. And we had better make up our mind to that in the West.“30 Das ND dagegen hatte noch wenige Tage nach Mellishs Pressekonferenz auf dem Londoner Flughafen berichtet, die Delegation habe sich „stark beeindruckt“ über Stalinstadt, die Hochschule für Körperkultur in Leipzig, die „Geschwulstklinik“ in Berlin-Buch sowie über das Hygienemuseum in Dresden gezeigt. Man sei „mit vollem Wissen unserer Kollegen im britischen Parlament“ gereist und wolle „freundschaftliche Beziehungen“ zu den „Sozialisten“ in der DDR knüpfen.31 Die Antwort der SED auf die Pressekonferenz nach der Rückkehr in London ließ über zehn Tage auf sich warten. Die Verärgerung war groß. Mellish beschimpfe und verleumde die Bevölkerung der DDR: „Wir wollen uns mit diesem Mann nicht länger beschäftigen, zumal uns gute Bekannte dieses Mellish ihn als ,engstirnigen, als solchen in England weithin bekannten Bonzen‘ charakterisierten.“32 Die Gefahren solcher „Delegationsbesuche“ waren groß, aber die SEDFührung nutzte auch weiterhin die propagandistischen Möglichkeiten, um die Existenz ihres Staates zu legitimieren. Man war sich darüber im Klaren, dass bei allen Unwägbarkeiten der Imagegewinn für das Regime im Vordergrund stehe. In der Gegenrichtung konnte die SED kleine Erfolge verbuchen. Vom 22. Juni bis zum 8. Juli 1957 reiste eine dreiköpfige DDR-Handelsdelegation – Erich Renneisen (Deutsche Handelsbank), Jost Prescher (Ministerium für Außenhandel) und Rudolf Blankenburger (KfA) nach London und Coventry. Vom 11. bis zum 15. Juli 1957 hielt sich Jost Prescher, später Chef von KfA Ltd., als Mitarbeiter des DDR-Handelsministeriums mit einer Delegation in London auf, wo man mit 23 Unterhausabgeordneten (von Labour und den Konservativen) zusammentraf, um mit dem FBI Möglichkeiten eines Handelsabkommens auszuloten. Und vom 2. bis zum 10. November 1957 besuchte der Hauptreferent der für Großbritannien zuständigen 5. Europäischen Abteilung des MfAA, Gerhard Waschewski, London, wo er u. a. eine Ausstellung von Spielwaren aus der DDR besuchte, die erste Warenausstellung der DDR in Großbritannien. In den Ausstellungsräumen am Hyde Park wurden Hammer und Zirkel, das Staatswappen der DDR, präsentiert.33 Offenbar tat die britische Regierung wenig, um derartige Aktivitäten zu unterbinden. Auf dieser inoffiziellen Ebene nahm man Rücksicht auf die Handelsinteressen der Unternehmerschaft, gleichzeitig aber betonte man öffentlich, auch fortan loyal zur Deutschlandpolitik der Westalliierten zu stehen. 30 Power behind the puppet. M.P. in East Germany, in: The Manchester Guardian vom 12.8.1957. Vgl. auch Hoff: Großbritannien (Anm. 3), S. 154 f. 31 Britische Labourabgeordnete: Die Deutschlandfrage können nur die Deutschen selbst lösen, in: Neues Deutschland vom 13.8.1957, S. 2; Presseerklärung britischer Parlamentarier, in: Neues Deutschland vom 16.8.1957, S. 5. 32 Antwort an einen Verleumder. Zum Besuch britischer Parlamentarier in der DDR, in: Neues Deutschland vom 27.8.1957, S. 2. 33 Vgl. dazu Hoff: Großbritannien (Anm. 3), S. 165 f.
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Wie sehr die deutsch-deutschen Anerkennungsquerelen und die fehlenden Reisemöglichkeiten den Alltag der ostdeutsch-britischen Beziehungen beherrschten, belegen auch die wenigen hochrangigen Sportbegegnungen. Insbesondere der Fußball schien der symbolischen Anerkennungspolitik aus Ost-Berlin beste Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, waren internationale Treffen von Ländermannschaften doch stets vom Zeigen der Staatssymbole, Flagge und Hymne, begleitet. Doch am 29. September 1957 waren dem DDR-Rundfunk Übertragungsmöglichkeiten anlässlich des WM-Qualifikationsspiels Wales-DDR (4:1) in Cardiff mit dem Hinweis auf die Nichtanerkennung und der Begründung verweigert worden, dass der BBC-Empfang in der DDR nach wie vor gestört werde.34 Dabei hatte sich die DDR beim Hinspiel am 19. Mai in Leipzig als guter Gastgeber erwiesen und „dem englischen Soldatensender ,British Forces Network‘ und der ,British Broadcasting Corporation‘ auf deren Ersuchen anstandslos Mikrophon und Leitungsweg zur Verfügung gestellt“.35 Die Querelen sollten sich bis in die 1970er Jahre fortsetzen. Das erste Länderspiel gegen England hatte am 2. Juni 1963 im Leipziger Zentralstadion stattgefunden (1:2). Doch zur Fußballweltmeisterschaft 1966 in England war DDRJournalisten aufgrund der Nichtanerkennung die Akkreditierung versagt worden. Sieben Jahre nach der ersten Begegnung, am 15. November 1970, sollte die Fußballnationalmannschaft der DDR endlich im Londoner Wembley-Stadion antreten. Auf Anordnung des britischen Außenministeriums sollte wegen der Nichtanerkennungspolitik auf staatliche Symbole und Rituale, Hymnen und Flaggen verzichtet werden. Das Spiel schien zu platzen, denn solche Bedingungen wollte die DDR nicht akzeptieren. Nach zähen Verhandlungen mit dem englischen Fußballverband FA gab das Foreign Office schließlich nach, und die Bundesrepublik machte gute Miene zum bösen Spiel. Die Hymnen wurden gespielt, die Flaggen hochgezogen. Die Begegnung endete 3:1 für England. Der Sonderkorrespondent des ND berichtete von einem „fairen und schönen“ Spiel und hob besonders hervor, dass die „Nationalhymnen (das Spiel) eröffneten und beendeten. [. . .] Im Wembley-Stadion weht das Banner unseres Staates und die königliche Marineinfanteriekapelle intonierte vor dem Anpfiff die Hymne unserer Republik.“36 Ausschlaggebend dürften jedoch eher die britischen Boulevardzeitungen gewesen sein, deren Kommentatoren es unerträglich fanden, das Team ohne „God Save the Queen“ aufs Feld schicken zu müssen.37
34 Vgl. Reply to Complaint against B.B.C. East German Radio banned, in: The Times vom 27.8.1957. 35 Torpedo gegen die Verständigung, in: Neues Deutschland vom 26.8.1957. 36 England–DDR 3:1, in: Neues Deutschland vom 26.11.1970. 37 Vgl. Wolfgang Hartmut Nitsche: London ist für die DDR ein schwieriges Pflaster, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.11.1971.
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III. Ernüchterung Am 14. Februar 1973 kam es infolge der Neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition in Bonn zur offiziellen diplomatischen Anerkennung der DDR durch das Vereinigte Königreich. Bereits am 15. März 1973 eröffnete die DDR ihre Botschaft in London, bezeichnenderweise in 34 Belgrave Square, bis dahin Sitz von KfA Ltd, in unmittelbarer Nähe der Botschaft der Bundesrepublik; die Briten eröffneten im April ihre Botschaft Unter den Linden 32–34. Ein Wiederaufbau des im Krieg völlig zerstörten Gebäudes am Pariser Platz kam nicht in Frage, lag das Gelände doch nur einen Steinwurf von der Mauer entfernt. Nach der Anerkennung kam der DDR zunehmend auch der Name bzw. das Kürzel zu, das sie in der englischsprachigen Welt für sich in Anspruch nahm: „GDR“, „German Democratic Republic“. Lange Zeit war der SED-Staat in Großbritannien abwertend als „Soviet Zone“ bzw. bestenfalls als „East Germany“ bezeichnet worden. Im November 1986 stellte die DDR-Botschaft in London mit Genugtuung fest, dass bei britischen Führungskräften „der Gebrauch der korrekten Staatsbezeichnung ,German Democratic Republic‘ beziehungsweise die Abkürzung ,GDR‘ als Regelfall zu beobachten“ sei. „Auf ,East Germany‘ wird nur des – hier tatsächlich – besseren Verständnisses wegen zurückgegriffen, nicht mehr, um zu differenzieren oder zu diskriminieren.“38 Westminster war sehr rasch über die Entwicklung der Beziehungen ernüchtert, deren Potential die DDR zuvor in rosigsten Farben geschildert hatte. Die Beziehungen blieben kühl, und auf britischer Seite herrschte wenig Enthusiasmus, über das Mindestmaß an diplomatischer „correctness“ hinauszugehen. Ein Cooperation und ein Health Agreement wurden abgeschlossen, doch der bilaterale Handel erfüllte nie die Erwartungen. Auch die Kulturbeziehungen, bei denen die DDR den Schwerpunkt auf staatlich geförderte und kontrollierte Hochkultur legte, stagnierten. Londons Ansinnen auf Eröffnung eines Kulturzentrums wies Ost-Berlin 1979 brüsk zurück. Das kontinuierlich miserable Image der DDR in Großbritannien blieb unveränderbar. Daran konnten auch die Ergebnisse der in den 1980er Jahren erblühenden britischen DDR-Forschung wenig ändern, die neben der respektablen Fachzeitschrift „GDR Monitor“ auch bemerkenswerte Verharmlosungen des SED-Regimes produziert hatte.39 Doch das allgemeine Interesse der britischen Bevölkerung an der DDR blieb auch nach der Anerkennung kaum messbar. Mit Recht spottete der „Spiegel“ im Oktober 1973: „Honecker und Stoph sind (in London)
38 Botschaft der DDR in Großbritannien, Presse/Kultur, Manfred Rudolph, Bericht über die auslandsinformatorische Arbeit der Botschaft im Jahre 1986, SAPMO-BArch, DY 13/3125, Bl. 2. 39 Vgl. Hans-Georg Golz: Von East Germany zur GDR. DDR-Forschung in Großbritannien vor 1990, in: Deutschland Archiv 36 (2003), Heft 1, S. 12–25.
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so unbekannt wie afrikanische Stammesfürsten“, und zitierte einen BBC-Fernsehreporter: „Der Mond ist kaum weiter entfernt als dieses kleine, weniger als 800 Kilometer von hier entfernte Land.“40 Die Reisebeschränkungen für DDRBürger entwickelten sich zum immer größeren Ärgernis: „Only the trusted elite could visit Britain. In the SED’s ideological state, contact with westerners who dealt in ideas had to be tightly controlled.“41 Mauer und Stacheldraht bestimmten bis zuletzt das Image der DDR in Großbritannien, sie waren stärkere Symbole als jeder Pomp um Hammer und Zirkel. Auf der anderen Seite bemühte sich die „Imperialismusforschung“ in der DDR, ein düsteres Bild allgemeinen Niedergangs von Großbritannien zu zeichnen, war aber kaum geeignet, die Wahrnehmung Großbritanniens in der DDR nachhaltig zu prägen und diente vor allem der ideologischen Selbstvergewisserung der SED, die solche „Forschungsergebnisse“ in Jahresplänen vorab festlegte. Das Interesse an der britischen und amerikanischen Popkultur war unter den DDR-Jugendlichen indes sehr hoch und von Seiten des Staates nicht zu „korrigieren“. Nach der KSZE-Schlussakte 1975 war aus Sicht der Hardliner im SED-Politbüro der Konterrevolution Tür und Tor geöffnet. Die SED konnte sich nicht sicher sein, ob der Spagat aus Annäherung und Abgrenzung gelang; das war eine Gratwanderung. In der DDR-Botschaft ging man Anfang 1990 davon aus, die bilateralen Beziehungen nun endlich verbessern zu können. Botschafter Joachim Mitdank forderte, man müsse angesichts der „Wende“ in der Heimat das zumeist von der Liga für Völkerfreundschaft bzw. vom Verlag Zeit im Bild („Panorama DDR“) stammende Informationsmaterial, das die Botschaft für interessierte Briten bereithalte, völlig neu gestalten. In einem Brief an das DDR-Außenministerium vom 7. März 1990 mahnte er an, „die Materialien zu entpolitisieren, auf Aktualitätsambitionen zu verzichten, sie so anlegen, dass sie für einen längeren Zeitraum gültig sind, die DDR allseitig und nicht schöngefärbt vorstellen (einschließlich Tourismuswerbung)“.42 Solche Einsichten kamen viel zu spät. Die weltpolitischen Ereignisse hatten die bilateralen Beziehungen überrollt und beendeten sie schließlich für immer. Am 2. Oktober 1990 holte Geschäftsträger Siegfried Reichel die Flagge des Arbeiter-und-Bauern-Staates auf der DDR-Botschaft am Belgrave Square in Lon40
Which Germany, in: Der Spiegel vom 22.10.1973. Colin Munro: The Acceptance of a Second German State, in: Adolf M. Birke/ Günther Heydemann (Hrsg.): Großbritannien und Ostdeutschland seit 1918, München 1992, S. 125. 42 Zit. bei Ian Wallace: The GDR’s Cultural Activities in Britain, in: German Life and Letters, 3 (2000), S. 408. Kate Vanovitch, 1981 für ein knappes Jahr Geschäftsführerin der Britain-GDR Society in London, erklärt: „In meiner Amtszeit ließen wir die ,Panorama‘-Bücher lieber im Keller Staub ansammeln als dass wir sie verteilten.“ (Gespräch mit dem Verf. am 17.3.2003) 41
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don ein; das Symbol der so lange ersehnten und zeitweise geradezu neurotisch verfolgten internationalen Anerkennung hatte nicht einmal 18 Jahre lang dort geweht. IV. Fazit Die internationale Anerkennung hatte den Keim des Untergangs für den abgeschotteten Staat in sich getragen: Öffnung, Informationsaustausch, Reisemöglichkeiten. Die Strategie der „Auslandsinformation“ in Großbritannien war auf breite Bevölkerungskreise angelegt; man setzte gemäß ZK-Beschluss auf Institutionen wie Berolina Travel und die massenhafte Verteilung und Versendung von Publikationen; selbst eine Werbefirma (Lex Hornsby) in London war in den 1960er Jahren engagiert worden, um die Anerkennung der DDR zu propagieren. Natürlich blieb die „auslandsinformatorische“ Arbeit der DDR im „Zielland“ Großbritannien nicht völlig ohne Wirkung, doch man bewegte sich fast ausschließlich in den engen Kreisen eines Netzwerks der wenigen, die ohnehin mit der DDR sympathisierten – gegen Ende der DDR mehr als je zuvor. Die Bespiegelungen der beiden deutschen Staaten Ende der 1950er Jahre wirkten sich für die DDR schmerzhaft aus, schien die Bundesrepublik doch überall dort, wo man sich zu etablieren versuchte, längst präsent. Auch beim bilateralen ostdeutsch-britischen Verhältnis ging es der DDR im Kern vor allem darum, der Bundesrepublik die eigene Existenz zu beweisen. Die Adressaten des verzweifelten Kampfes um Anerkennung an der Themse saßen in Wirklichkeit am Rhein.
Die Bundesrepublik und Europa im Jahr der „Römischen Verträge“ Von Beate Neuss I. Einleitung: 1957 – eine Zäsur für die deutsche und europäische Politik Als das Jahr 1957 anbrach, konnte die Regierung der Bundesrepublik bereits mit einiger Zuversicht auf einen Erfolg der europäischen Verhandlungen hoffen. Zwei Vertragswerke befanden sich im Entstehungsprozess; sie sollten die Grundlage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft legen. Die vorhergehenden Jahre waren von Krisen in den Verhandlungen geprägt gewesen. Dass nun im Jahr 1957 die Krisen des Jahres 1956 bewältigt waren, besagte aus der Erfahrung des letzten halben Jahrzehnts keineswegs, dass das rettende Ufer einer sicheren Vertragsunterzeichnung und Ratifizierung bereits erreicht war. Vielmehr hatte sich mit der Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 gezeigt, dass ein vollständiges Scheitern supranationaler Verträge auch nach der Unterzeichnung nicht ausgeschlossen war. Diese dunkle Stunde für die europäische Integration lag noch nicht lange zurück. Nun musste sich erweisen, ob die Vertragsverhandlungen zu einem Erfolg geführt werden konnten. Vor allem aber sahen die sechs verhandelnden Regierungen – Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg – mit Sorge dem Ratifikationsprozess entgegen. Sein Ergebnis würde für das Schicksal Europas entscheidende Weichen stellen, denn mit einem zweiten Scheitern nach dem unrühmlichen „Aus“ für die EVG würde wohl kaum ein Politiker den Mut aufbringen, erneut ein supranationales Integrationskonzept vorzuschlagen. Die geschwächten europäischen Nationalstaaten mit ihren immer noch stark abgegrenzten Volkswirtschaften konnten unter diesen Umständen kaum über eine multilaterale Kooperation, also über die Situation vor 1914 hinauswachsen – mit gravierenden Folgen für das wirtschaftliche und politische Gewicht Deutschlands und Europas in der Weltpolitik. Es ging im Grunde um die Frage, ob die Bundesrepublik ein politisches „Biotop“ vorfinden würde, das ihrer weiteren wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung förderlich sein würde, und ob der „alte Kontinent“, der noch wenige Jahrzehnte zuvor die Welt weitgehend beherrscht hatte, sich selbst aufgeben oder als Rekonvaleszent nach neuen Wegen einer prosperierenden und selbstbestimmten Zukunft suchen würde.
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Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, aus welchen Interessen sich der Neustart des Integrationsprozesses speiste. Sind es primär wirtschaftliche Interessen oder dominieren hinter den wirtschaftlichen (sicherheits-)politische Interessen? Geht es um die Neuerfindung und Sicherung des Nationalstaatskonzepts unter den Bedingungen Nachkriegseuropas im 20. Jahrhundert? Um ein Sicherungskonzept für das europäische Gleichgewicht und die Unterbindung von Hegemonialbestrebungen? Sind sich die Akteure bewusst, dass vom Erfolg die politische Struktur Westeuropas und damit das zukünftige Gewicht sowie die Widerstandskraft gegen den wirtschaftlichen und politischen Druck der Flügelmächte Sowjetunion und USA abhängen? Der Blick richtet sich hier auf die Bundesrepublik Deutschland. Da jedoch der Prozess der europäischen Integration nur in der Interaktion mit den Partnern gelingen kann, muss das Augenmerk auch Frankreich als dem wichtigsten Akteur gelten. Gerade in der Frühphase konnten auch kleine Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Einfluss gewinnen, besonders Belgiens Außenminister Spaak spielte eine große Rolle. Nicht zuletzt ist die Haltung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion von Bedeutung. Sie tragen zum Prozess bei – erstere durch Unterstützung, letztere durch Bedrohung. Eine dem chronologischen Ablauf folgende Behandlung versucht Antworten auf die Fragen zu geben und herauszuarbeiten, welche Triebkräfte zur Realisierung der Römischen Verträge führten. Die Quellenlage zur deutschen Europapolitik kann als außerordentlich gut bezeichnet werden, da das Archiv-Material nicht nur seit langem zugänglich ist, sondern auch bereits in etlichen Studien aufbereitet wurde. Hinzu kommt eine umfangreiche Memoiren-Literatur, die ergänzt wird durch wissenschaftliche Biographien. An dieser Stelle können nur einzelne Werke hervorgehoben werden. Aus europäischen Forschungsprojekten sind Werke hervorgegangen, die die Perspektive der sechs Gründerstaaten, der USA und Großbritanniens beleuchten.1 Auch die Politik der USA zum Einigungsprozess in den 1950er Jahren ist erforscht.2 Hanns Jürgen Küsters3 und Peter Weilemann4 haben die Entstehungsgeschichte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bzw. der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) akribisch nachgezeichnet. Die Erinnerun-
1 Enrico Serra (Hrsg.): European Community Liaison Committee of Historians: The Relaunching of Europe and the Treaties of Rome, Bd. 3, Brüssel 1989; Ludolf Herbst/ Werner Bührer/Hanno Sowade (Hrsg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990. 2 Beate Neuss: Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945–1958, Baden-Baden 2000. 3 Hanns Jürgen Küsters: Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Baden-Baden 1982. 4 Peter Weilemann: Die Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. Zur Gründungsgeschichte von Euratom 1955–1957, Baden-Baden 1983.
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gen Konrad Adenauers5, Jean Monnets6 und Paul-Henri Spaaks7 sind ergiebige Quellen. Die Forschung über Konrad Adenauer hat internationale Quellen ausgewertet. Hier sind insbesondere die Werke von Hans-Peter Schwarz zu erwähnen, die Fundgruben für die präzise Darstellung des Integrationsprozesses sind8 und die Motivation und wechselnden Einstellungen des Kanzlers sowie den Einfluss seiner Mitarbeiter und Minister auf den politischen Prozess untersuchen.9 II. Einbindung und Selbsteinbindung – die Bundesrepublik und die europäische Integration Am 30. August 1954 schien die europäische Zukunft zunächst einmal besiegelt: Die Assemblée Nationale, das französische Parlament, setzte die Ratifikation des Vertrags für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft von der Tagesordnung ab, den die sechs Mitglieder der Montan-Union bereits zwei Jahre zuvor unterzeichnet hatten. Damit war nicht nur die Integration eines Kernbereichs staatlicher Souveränität gescheitert; die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG), deren Realisierung an den EVG-Vertrag gekoppelt war, ging ebenfalls unter. Sowohl die westeuropäischen Politiker wie die Amerikaner waren tief pessimistisch, welche Chancen nun das europäische Integrationsprojekt noch habe. Die Institutionen der EGKS hatten 1952 ihre Arbeit aufnehmen können – eine „Weltneuheit“ in der internationalen Politik, da in ihnen die Schwerindustrie der sechs Mitgliedsstaaten – Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg – in supranationalen Institutionen koordiniert wurde. Nun, zwei Jahre später, schien das Konzept einer dauerhaften europäischen Friedensordnung gescheitert und der Halbkontinent in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückzufallen, so die düsteren Prognosen.10 Für die Bundesrepublik kam hinzu, dass die westlichen Alliierten die Rückgabe der Souveränität an das Inkrafttreten des EVG-Vertrags gekoppelt hatten. Nun konnte auch der Deutschland-Vertrag verwirklicht werden. Westdeutschland verblieb unter Besatzungsrecht. Der Pressesprecher des Bundeskanzlers, Felix von Eckhardt, beschrieb Konrad Adenauers Reaktion am 31. August 1954: „Niemals vorher und nachher habe ich Adenauer so verbittert, so deprimiert gesehen“.11 5
Konrad Adenauer: Erinnerungen 1955–1959, Stuttgart 1967. Jean Monnet: Erinnerungen eines Europäers, München 1980. 7 Paul-Henri Spaak: Memoiren eines Europäers, Hamburg 1969. 8 Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949–1957, Stuttgart 1981. 9 Ders: Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991. 10 Vgl. Neuss: Geburtshelfer (Anm. 2), S. 276. 11 Felix von Eckardt: Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen, Düsseldorf 1962, S. 301. 6
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Bereits im Jahr darauf, 1955, hatte sich die Lage der Bundesrepublik vollständig verändert. Noch in der Sommerpause 1954 hatte das der europäischen Integration fern stehende Großbritannien die politische Führung übernommen und den westdeutschen Beitritt zur NATO ausgehandelt. Im Oktober 1954 konnte diese „Ersatzlösung“ für die EVG bereits unterzeichnet werden. Auf atomare, biologische und chemische Waffen verzichtete Bonn – aber der Kanzler hatte durchaus klar gemacht, dass er auch bei diesen Waffensystemen, insbesondere bei dem prestigeträchtigen Machtpotential Atomwaffe, nicht auf alle Zukunft ein Gleichziehen mit den Partnern ausschließen würde.12 Am 5. Mai 1955 wurde die Bundesrepublik souverän und trat vier Tage später der NATO bei. Die Regelung für den Status des Saarlandes 1954 und die Entscheidung über die Rückkehr des Gebietes zu Deutschland 1955 räumten belastende Hindernisse für ein gutes Verhältnis mit Frankreich aus dem Weg. Die Bundesrepublik war mit dem Inkrafttreten des Deutschland-Vertrages und mit dem NATO-Beitritt auf die internationale Bühne zurückgekehrt und wuchs, auch aufgrund ihres „Wirtschaftswunders“, langsam zu einem politischen Akteur von Gewicht heran. 1957 wurde die Vollbeschäftigung erreicht, der Export florierte. Obwohl der Sieg in der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in Bern den berühmten Slogan „Wir sind wieder wer“ produzierte, dürfte das Bewusstsein des wachsenden außenpolitischen Gewichts die westdeutsche Bevölkerung kaum erreicht haben. Der Aufbau der Bundeswehr war umstritten und wurde mehrheitlich abgelehnt. Der Verlust der Ostgebiete und die deutsche Teilung – mit beidem hatte man sich längst noch nicht abgefunden – ließen kein Gefühl aufkommen, mit den Siegermächten Großbritannien und Frankreich gleichzuziehen. Auch die Erblast des Nationalsozialismus blieb spürbar. Von außen jedoch, bei den Partnern im Westen, schien der Aufstieg der Bundesrepublik unvermeidlich, was zu einem wichtigen Katalysator für die Wiederaufnahme des europäischen Einigungsprozesses werden sollte. Schon bald nach Kriegsende hatten zumindest die amerikanischen Politiker erkannt, dass das wirtschaftliche Gesunden des europäischen Kontinents von der Möglichkeit der Deutschen abhing, ihre Wirtschaftskraft zu entfalten. Damit, so die Einschätzung, würde selbst ein geteiltes Deutschland zu einem bedeutenden politischen Faktor heranwachsen. Bereits 1952 – das Land war noch immer von den immensen Zerstörungen gezeichnet – konstatierte der Policy Planning Staff des amerikanischen State Department: „the Federal Republic is now the strongest power in Europe outside the USSR, and [is] likely to grow stronger year by year“.13 Dass dies die westeuropäischen Partner ähnlich sahen, trug zusammen mit der weltpolitischen 12
Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 299. Memorandum by Leon Fuller of the Policy Planning Staff to the Director of the Policy Planning Staff (Nitze), 4. Sept. 1952, Foreign Relations of the United States 1955–1957, Bd. IV, Washington DC 1986, S. 357. 13
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Großwetterlage erheblich zum neuen Integrationsschub bei – wie auch die Tatsache, dass die westeuropäischen Mächte die USA über die NATO an Europa banden. Aus ihrer Sicht konnten in Anbetracht der Schwäche der früheren europäischen Weltmächte allein die Vereinigten Staaten als „balancer“ die Sicherheitsgarantie gegen einen befürchteten deutschen Irredentismus bieten. Die Existenz der NATO und der deutsche Beitritt waren somit die Voraussetzung für den deutschen Wiederaufstieg in Europa und damit für die europäische Integration, in der dieser Aufstieg „gemanaged“ werden konnte. Für den Neustart des Integrationsprozesses beim Treffen der EGKS-Außenminister in Messina vom 1.–3. Juni 1955 gab es mehrere Gründe. Die gerade wiedergewonnene Souveränität der Bundesrepublik spielte eine herausragende Rolle: Zwar hatte Bonn auf ABC-Waffen verzichtet, aber nukleare Forschung war nun wieder möglich – und Deutschland hatte vor dem Krieg eine führende Rolle in der Atomphysik gespielt. Der Beitritt zur NATO war mit der Verpflichtung verbunden, eine Armee aufzubauen. Aufgrund des deutschen Bevölkerungspotentials einerseits und der Bindung der britischen und französischen Truppen in den Kolonien andererseits würde die Bundeswehr in absehbarer Zeit das größte konventionelle Heer der NATO in Europa stellen. Zwar genoss der fast achtzigjährige Bundeskanzler Adenauer das Vertrauen seiner Partner, aber Politik muss Sicherheit für die Zukunft herstellen. So übersahen die Westmächte nicht, dass im Bundesgebiet 1955 mehr als zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene lebten – beinahe jeder sechste Bürger zählte dazu. Sie konnten ein gewaltiges Potential für revisionistische Politik bilden. Alle Parteien im Bundestag forderten die Wiedervereinigung mit der DDR und den deutschen Ostgebieten. Welchen Weg Bonn zwischen West und Ost auf Dauer nehmen würde, war nicht mit Sicherheit abzusehen. Immerhin hatte sogar der an einer Westintegration orientierte Adenauer unmittelbar nach der Erreichung der Souveränität die Einladung zu einem Staatsbesuch nach Moskau angenommen. Auch Bundeskanzler Adenauer selbst misstraute seinen Deutschen. Legendär ist das von dem Spiegelkorrespondenten Lothar Rühl aufgeschnappte Zitat „[w]enn ich einmal nicht mehr da bin, weiß ich nicht, was aus Deutschland und Europa werden soll, wenn es uns nicht doch noch gelingen soll, Europa rechtzeitig zu schaffen“14. Der Kanzler sah die Vorteile der Integration, die zugleich die Jahrhunderte alte Politik des Hegemonialstrebens europäischer Staaten wenn nicht aufhob, so doch eindämmte. Paul-Henri Spaak stellte in einem Memorandum an den britischen Premierminister Eden fest: „Die europäische Integration gibt Deutschland einen Rahmen, in dem seine Expansion begrenzt bleibt, und es schafft eine Interessengemeinschaft, die es absichert und die uns gegen gewisse Versuche und gewisse Abenteuer absichert. [. . .] Ich glaube, die – übrigens recht 14 Der Spiegel vom 6.10.1954, S. 5, zit. nach Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 152 f.
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schwachen – Bindungen des Atlantikpakts allein genügen nicht, um die deutsche Politik in der Zukunft eindeutig festzulegen. Mir scheint es unzweifelhaft, dass wir mehr tun müssen.“15 Der Aspekt, einen angemessenen Platz für die Bundesrepublik in der europäischen Politik zu finden, der ihrer Bedeutung gerecht würde, ohne erneut Hegemonialbestrebungen auszulösen, lag im Interesse aller westlichen Staaten einschließlich der Bundesrepublik. Ein weiteres gemeinsames Interesse resultierte aus der schwindenden ökonomischen Rolle des europäischen Kontinents. Hatte Westeuropa noch wenige Jahrzehnte zuvor die Weltwirtschaft dominiert, konnte es nun dem Wettbewerb mit den zwei großen Wirtschaftsblöcken, den USA und der Sowjetunion, nicht standhalten. Der in nationale Wirtschaftsräume zersplitterte europäische Markt war nach dem Krieg nur begrenzt liberalisiert worden und stand nun mit seinen Zollbarrieren und Handelshemmnissen einer weiteren Wohlstandssteigerung entgegen.16 Der niedrige technologische Entwicklungsstand und rückständige Produktionsmethoden mit der Folge geringer Produktivität bewirkten ein Zurückbleiben hinter der amerikanischen Wachstums- und Wohlstandsentwicklung. Da alle EGKS-Partner die Fortsetzung des 1950 begonnenen europäischen Einigungsprozesses als notwendig ansahen, stellte sich vor allem die Frage, wie dabei vorzugehen sei. Als Anknüpfungspunkt bot sich das Modell der EGKS an – darüber hinaus gehende, bundesstaatlich gefärbte Ambitionen verboten sich nach dem Scheitern der EVG. Wirtschaftlich zeigte sich die EGKS nicht gerade als besonders erfolgreich, der erwartete „spill-over“ in andere Politikbereiche war auch nicht eingetreten, allerdings überzeugte der Ansatz sektoraler supranationaler Integration als einzig gangbarer Weg. Aber wo ansetzen? Welche Interessen konnten erfolgreich gebündelt werden? III. Die Verknüpfung diametral entgegengesetzter Interessen Der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak konnte nach einem Besuch bei Bundeskanzler Adenauer berichten, dieser sei nach wie vor „leidenschaftlich proeuropäisch“17, aber eine Strategie für die Wiederaufnahme des Integrationsprozesses hatte der Kanzler nicht. Eine weitere sektorale Verflechtung schien ihm nicht weitgehend genug, um das politische Ziel der Integration zu erreichen. Hier sprang wiederum Frankreich ein. Jean Monnet, französischer Vordenker sektoraler supranationaler Integration,18 schlug den Verkehrs- und den Energiesektor als 15
Spaak: Memoiren (Anm. 7), S. 311 ff. Vgl. Wilhelm Cornides/Walter Lipgens: Die Entstehung der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft. Die Internationale Politik 1956/57, München 1961, S. 353 ff. 17 Spaak: Memoiren (Anm. 7), S. 311. 16
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aussichtsreiche Gebiete vor.19 Vor allem versuchte er, die neue und fortschrittliche Technologie der Kernenergie als Vehikel zu nutzen: Es erschien plausibel, dass es auf diesem neuen Gebiet noch keine unüberwindlichen Lobbyinteressen gab, wie sie ansonsten in der Wirtschaft zu befürchten waren.20 Die Integration der Kernenergieforschung und -nutzung bot den Vorteil, die Bundesrepublik in einen Atompool einzubinden, ja sogar die kontinentaleuropäischen Staaten von der Kernwaffenentwicklung abzuhalten. Der beträchtliche Finanzbedarf für die Kernenergie ließ sich nur gemeinschaftlich tragen.21 Den Belgiern und Niederländern lag indessen mehr an einer umfassenden Wirtschaftsgemeinschaft, die die Agrarwirtschaft einschließen sollte. Bonn war ebenfalls skeptisch gegenüber dem französischen Vorschlag einer weiteren sektoralen Integration, insbesondere in Hinblick auf die Kernenergie, für die es die wissenschaftlich und technologisch fortgeschritteneren Amerikaner und Briten als Partner bevorzugte. Adenauer hätte eine politisch geprägte Integration gewünscht. Er fürchtete, die eigentliche Aufgabe der Schaffung einer politischen Union könnte in Vergessenheit geraten.22 Der Kanzler artikulierte andere, eher vage Vorstellungen von einem Staatenbund. Adenauer hielt deshalb supranationale Einrichtungen nicht für notwendig, „sie schrecken nur vom Beitritt ab, sie tragen zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele nichts bei, weil hinter solchen supranationalen Einrichtungen keine Gewalt steht [. . .] “.23 Vor allem aber konnte er sich im Verlauf des Verhandlungsprozesses schwer damit abfinden, dass Großbritannien in der französischen Version des Integrationskonzepts keinen Platz fand. Hier teilte er die Auffassung seiner Minister Ludwig Erhard und Franz Josef Strauß. Aber er wusste um den begrenzten Spielraum, in dem die Integrationskonzepte überhaupt zu verwirklichen waren.24 Mit den französischen Vorstellungen lag immerhin ein realisierbares Konzept vor. Dem Außenministertreffen der EGKS-Staaten in Messina lagen drei Vorschläge vor – ein französischer, einer der Benelux-Staaten und ein deutsches Memorandum.25 Dass sie schließlich in Vertragsverhandlungen münden konnten, war das Verdienst Spaaks. In Anbetracht der Interessendivergenzen über den Rahmen und den Weg der Integration einigten sich die sechs Außenminister auf ein probates Mittel der Politik in solchen Fällen: Sie setzten eine Kommission ein. Eine Expertengruppe unter Paul-Henri Spaak sollte den Regierungen unver18 Vgl. François Duchêne: Jean Monnet. First Statesman of Interdependence, New York 1994. 19 Vgl. Küsters: Gründung (Anm. 3), S. 72 ff. 20 Vgl. Monet: Erinnerungen (Anm. 6), S. 508. 21 Vgl. Weilemann: Atomgemeinschaft (Anm. 4), S. 73 f. 22 Vgl. Adenauer: Erinnerungen (Anm. 5), S. 30. 23 Zit. nach Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 298. 24 Vgl. Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 287. 25 Vgl. Küsters: Gründung (Anm. 3), S. 64–119.
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bindlich Vorschläge über die Einbeziehung der genannten Integrationsbereiche, der Institutionen und die Vorgehensweise machen, um das Ziel der „Schaffung eines vereinigten Europas“ zu erreichen. Wenn auch die Bereiche der Integration ausschließlich die Wirtschaft, die Energie und den Verkehr betrafen, also „unpolitischer“ Natur waren, so zeigte die Formulierung „vereinigtes Europa“ in dem Abschlussdokument den Willen zu politischer Integration mit Hilfe des Instruments der Wirtschaftsintegration.26 Die in die Integration einzubeziehenden Bereiche waren nicht nur zwischen den Regierungen umstritten. In der Bundesrepublik entwickelten das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard und das Ministerium für Atomfragen unter Franz Josef Strauß eine rege Tätigkeit, um das Integrationskonzept zu unterminieren. Erhard befürchtete, die wettbewerbsfähige Bundesrepublik würde in einer Sechser-Gemeinschaft vom Weltmarkt zu stark abgeschnitten und ihr Wachstumspotential könnte sich nicht frei entfalten. Er befürwortete eine Freihandelszone im Rahmen der Organization for European Economic Cooperation, der Vorform der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Allerdings waren hohe Beamte im Ministerium nicht seiner Meinung. Der Kanzler konnte sich mit seiner grundsätzlichen Befürwortung einer weiteren Integration auf die Unterabteilung Montanunion und ihren Leiter Hans von der Groeben verlassen, der über die Materie der Wirtschaftsgemeinschaft verhandelte.27 Franz Josef Strauß sah in EURATOM die Beschränkung auf die Kooperation mit den sechs Mitgliedern, zu Lasten der Kooperation mit den technisch fortgeschrittenen USA, die soeben anlief. Nicht zuletzt erkannte er eine weitere Barriere gegen die Erringung des gleichen nuklearen Status, wie ihn Großbritannien besaß und Frankreich erkennbar anstrebte. Die beiden Kabinettsmitglieder störten durch ihr Werben um Unterstützung in Großbritannien – konkret: um britische Bestrebungen, die sektoralen Integrationsvorschläge zu unterminieren – und mit ihrem hinhaltenden Widerstand die Verhandlungen, so dass der Kanzler sie bereits im Januar 1956 unter Bezug auf seine Richtlinien-Kompetenz auf die sich herauskristallisierenden Grundelemente der Verhandlungen verpflichten musste. Er erklärte den OEEC-Rahmen für die politische Zielsetzung als nicht ausreichend und verlangte ihnen ab, eine „klare, positive deutsche Haltung zur europäischen Integration“ einzunehmen und die sektorale Integration (Wirtschaft, Atomenergie, Verkehr) zu sechst sowie gemeinsame Institutionen zu unterstützen.28 Ihr hinhaltender Widerstand aber blieb. 26 Vgl. Schlusskommuniqué der Konferenz von Messina v. 3. Juni 1955, in: EuropaArchiv (3. Juli 1955), S. 7974 f. 27 Vgl. Küsters: Gründung (Anm. 3), S. 141–145. 28 An die Herren Bundesminister, 19.1.1956, zit. nach Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 288.
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Der Grad an sachlichen Differenzen innerhalb der deutschen und europäischen Regierungen sowie zwischen ihnen über die drei vorliegenden Papiere wäre groß genug gewesen, um das Integrationsprojekt frühzeitig scheitern zu lassen, hätte nicht Spaak die politische Verantwortung übernommen und den Auftrag an ihn, unverbindliche Vorschläge zu machen, rigoros überdehnt. Er beschränkte sich nicht auf die Ausarbeitung der technischen Fragen, sondern verantwortete mit der Vorlage des Spaak-Berichts im Mai 1956 ein supranationales Integrationskonzept: „Aus dem beabsichtigten technischen Bericht wurde ein politisches Konzept, das für die Regierungen nicht mehr völlig unverbindlich war [. . .]“.29 Noch Ende Mai 1955 begannen auf einer Regierungskonferenz Verhandlungen über zwei Verträge – EWG und EURATOM. Zwei getrennte Verträge schienen notwendig, weil die französische Zustimmung zu einer Wirtschaftsintegration ernsthaft gefährdet erschien. Wenigstens EURATOM konnte dann wohl ins Leben gehoben werden, so die französische Überlegung. Die Verhandlungen erwiesen sich als zäh und bewegten sich zeitweise am Rande des Scheiterns. Dass sie dennoch erfolgreich beendet werden konnten, lag auch an der fördernden Rolle der USA. Washington unterband die bilateralen Verhandlungen mit der Bundesrepublik und anderen Staaten über nukleare Kooperationsverträge und erklärte, dass für die Zusammenarbeit mit der Atomgemeinschaft präferentielle Bedingungen angeboten würden. Damit wurde insbesondere deutschen Bestrebungen ein Riegel vorgeschoben, die Verhandlungen zugunsten einer Kooperation mit den USA zu blockieren.30 Aber auch der Schatten der ersten großen „Weltkrise“31, die sich drückend auf die Europäer legte, erwies sich als hilfreich. Sie verdeutlichte den Regierungen, welches ihre übergeordneten Ziele der Integration waren – jenseits von eher juristisch und technisch geprägten Verhandlungsdetails. Die grundlegende Divergenz zwischen Frankreich einerseits und Deutschland sowie den Benelux-Staaten andererseits bestand in dem unterschiedlichen Interesse an den beiden geplanten Organisationen. Der Ausgleich gelang schließlich, weil die kontroversen Ziele durch drei Junktims miteinander verkoppelt wurden. Mit dem ersten Junktim versuchte Bonn sicher zu stellen, dass nicht nur die ungeliebte EURATOM entstand: Während Paris ein großes Interesse an EURATOM hatte, von dem es sich die nukleare Einbindung Bonns und die Mitfinanzierung der Forschung erhoffte, war die Bundesrepublik an dieser Organisation nicht interessiert und bevorzugte bei aller Skepsis den Gemeinsamen Markt. So war sie nur bereit, die Atomgemeinschaft zu akzeptieren, wenn gleichzeitig die Wirt-
29
Küsters: Gründung (Anm. 3), S. 507. Vgl. Neuss: Geburtshelfer (Anm. 2), S. 307 f. 31 Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 296. Gemeint waren die Suez-Krise und der Ungarn-Aufstand. 30
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schaftsgemeinschaft entstand. Frankreich sah dies genau umgekehrt – somit konnten nur beide Organisationen entstehen oder scheitern.32 Innerhalb des Verhandlungskomplexes Gemeinsamer Markt strebte Paris die Einbeziehung des Agrarsektors an, der aufgrund besserer Böden und klimatischer Voraussetzungen in Frankreich zu günstigeren Bedingungen als die Bundesrepublik produzierte. Nur unter diesen Bedingungen war es bereit, den Gemeinsamen Markt zu erwägen. Der große deutsche Markt schien für den Agrarabsatz reizvoll. Bonn wiederum strebte den gemeinsamen europäischen Industriegütermarkt an. Das protektionistische Frankreich befürchtete, dem deutschen Wettbewerbsdruck auf dem Industriegütermarkt nicht standhalten zu können. Daraus ergab sich das zweite Junktim zwischen Agrar- und Industriegütermarkt. Eine weitere Bedingung der Pariser Regierung war die Einbeziehung der Kolonialgebiete in den Wirtschaftsraum, wogegen sich die Bundesrepublik vehement wehrte, da sie fürchtete, zur Finanzierung der kolonialen Lasten Frankreichs und Belgiens beitragen zu müssen. Die französische Regierung hingegen brachte nur schwer die Bereitschaft auf, den zollfreien innerdeutschen Handel auch im Rahmen der EWG zu akzeptieren: das dritte Junktim. Als besonders problematisch erwies sich aber das französische Verlangen einer Harmonisierung der sozialen Kosten. Davon erhoffte sich Frankreich die Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit.33 IV. Internationale Herausforderungen und Krisen als Triebkräfte Während die EURATOM-Verhandlungen gut gediehen und Frankreich auf ihren vorzeitigen Abschluss drängte, standen die EWG-Verhandlungen im Oktober 1956 vor dem Scheitern. Es waren äußere Impulse und Bedrohungen, die den sechs verhandelnden Regierungen die grundlegende Bedeutung einer Einigung für die Zukunft Europas vor Augen führten. Die deutsche Regierung sah sich mit der Planung der amerikanischen Administration konfrontiert, ihre Truppen in Europa dramatisch zu verringern (Radford-Plan), womit sich die ohnehin gegebene konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion verstärken würde. Konrad Adenauer durchlebte einen Sommer des Missvergnügens mit der amerikanischen Regierung, die ihm erneut vor Augen führte, wie abhängig in erster Linie Deutschland, aber auch ganz Westeuropa von der amerikanischen Sicherheitspolitik war. Ferner stellten die USA ihr Waffenarsenal in Europa auf taktische Nuklearwaffen um, um bei gleichzeitigem Abzug teurerer Truppen die Abschreckung erhalten zu können. Adenauers Misstrauen, dass Washington zugunsten eigener Großmachtinteressen deutsche Interessen opfern könnte, trieb ihn heftig 32 33
Vgl. Weilemann: Atomgemeinschaft (Anm. 4), S. 115 ff. Vgl. Küsters: Gründung (Anm. 3), S. 271–415.
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um, zumal der Umgang Moskaus mit Reformbewegungen in Polen und Ungarn zeigte, dass sich der Charakter des Regimes nicht verändert hatte und von der Sowjetunion für die Bundesrepublik und Europa weiterhin Gefahr ausging.34 In den ersten Novembertagen 1956 begann die Sowjetunion, mit Panzern den ungarischen Volksaufstand blutig niederzuschlagen. Die westliche Reaktion musste sich auf Protest beschränken. Die Ohnmacht der westeuropäischen Staaten zeigte sich besonders deutlich während der zeitgleichen Krise am Suez-Kanal. Frankreich und Großbritannien versuchten gemeinsam mit Israel, die durch Nasser erfolgte Verstaatlichung des Kanals, der damaligen Hauptroute des europäischen Öls, rückgängig zu machen. Moskau drohte, die Hauptstädte Paris und London mit Raketen zu beschießen und löste damit eine globale Krise aus. Als die Unterstützung des NATO-Partners Washington ausblieb, dieser vielmehr im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf die Seite Moskaus trat und ebenfalls den Rückzug vom Kanal forderte, war der Schock in Paris groß. Ein schwerer Vertrauensverlust in den Partner USA, der das französisch-amerikanische Verhältnis dauerhaft beschädigte! Auch Adenauer fühlte sich in seinem Misstrauen bestärkt. Diese dramatische Zuspitzung ermöglichte das Durchschlagen des gordischen Knotens in den europäischen Verhandlungen. Der Bundeskanzler hatte sich bereit erklärt, auch in dieser Situation nach Paris zu fahren, um die Verhandlungen voran zu treiben. Seine Reise fiel nun mit dem Höhepunkt der „Weltkrise“35 am 5./6. November zusammen, die Frankreich politisch isolierte. Sein Besuch war daher hochwillkommen. Zweifelnd, ob französische Politiker sich in dieser Lage überhaupt der europäischen Thematik widmen könnten, traf der Kanzler in Paris ein und durchlebte mit der französischen Regierung die gefährlichsten Stunden der Krise: War die Suez-Krise ein Wendepunkt in den französisch-amerikanischen Beziehungen zum Negativen, so bewirkte der Besuch Adenauers in Zeiten der Not eine positive Wende im deutschfranzösischen Verhältnis. Die Grundlage für die weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit war gelegt.36 Der Durchbruch in den Verhandlungen erfolgte in jenen Tagen. Um der Isolierung im Falle des Scheiterns des Gemeinsamen Marktes entgegen zu wirken, verhandelte Paris nun ernsthaft, um das Konzept in einen Vertrag zu gießen. Zudem förderte die Erkenntnis, nur in einem europäischen Verbund unabhängiger von den USA werden zu können, die französische Kompromissbereitschaft. Eine erste Erdölkrise durch das Ausbleiben der Lieferungen aus dem Nahen Osten schuf weitere Gründe für eine gemeinsame Atomenergie-Politik. Von November 1956 an stand nicht mehr in Frage, dass zwei Verträge entstehen würden. Fraglich war höchstens noch, ob sie beide die Ratifikation durch die Parlamente erreichten. 34 35 36
Vgl. Adenauer: Erinnerungen (Anm. 5), S. 197–214; S. 284–292. Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 285. Vgl. Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 30 ff.
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V. Das Jahr 1957: Der Beginn der Transformation der europäischen Politik Nun verhandelte Frankreich ernsthaft über die EWG. Der EURATOM-Vertrag lag bereits weitgehend vor. Die Bundesrepublik musste sich damit abfinden, dass er den französischen Ambitionen, sich nuklear zu bewaffnen, keinen Riegel vorschieben würde. Die Machtungleichheit auf diesem Gebiet würde also fortbestehen. An den verschiedenen Bestandteilen des EWG-Vertrags, z. B. Wettbewerbsregeln, Zollunion, Handels-, Wirtschafts- und Agrarpolitik sowie den Sozialvorschriften musste noch gearbeitet werden. Da die grundsätzliche Entscheidung für die Wirtschaftsgemeinschaft nun auf allen Seiten feststand, ließen sich die technischen und juristischen Probleme lösen, auch wenn sich die zähen Verhandlungen noch bis in die Stunden der Unterzeichnung am 25. März 1957 hinzogen. Die größten Probleme bereitete Frankreichs Begehren, die französischen Übersee-Gebiete in den Gemeinsamen Markt einzubeziehen. Dies wurde erst zum Verhandlungsthema, als sich Paris im November 1956 damit abgefunden hatte, dass die wirtschaftliche Integration Realität würde.37 Bonn war nicht bereit, finanzielle Lasten für fremde Kolonialgebiete zu tragen, zudem Gefahr zu laufen, auch als Kolonialmacht gesehen zu werden. Überzeugungsversuche des State Departments, das sich vermittelnd einschaltete und argumentierte, die Zukunft Europas liege in Afrika, überzeugten nicht.38 Da Belgien und die Niederlande die französische Haltung unterstützten und zudem klar war, dass Frankreich eine Regelung für die Kolonien brauchte, um in der französischen Nationalversammlung die Zustimmung für den Vertrag zu erringen, konnte Ende Januar, Anfang Februar 1957 ein grundsätzliches Einvernehmen auf Ebene der Regierungschefs über die Assoziierung der Gebiete hergestellt werden. Alle Mitgliedsländer zeigten sich bereit, in einen Investitionsfonds für Afrika einzuzahlen, nicht-französischen Unternehmern wurden im Gegenzug Investitionen in den Kolonien ermöglicht. Die Bundesregierung drängte als Gegenleistung auf die Beibehaltung der Regeln für den innerdeutschen Handel, um zu verhindern, dass die Reste der innerdeutschen Wirtschaftseinheit durch eine europäische Zollgrenze mitten in Deutschland beseitigt würden. Deshalb drang sie auch auf die Einbeziehung West-Berlins, das unter alliierten Sonderrechten stand. Es gelang, eine „Gemeinsame Erklärung betreffend Berlin“ in den Anhang des Vertrages aufzunehmen, die die Unterstützung und Solidarität der sechs Vertragspartner mit der geteilten Stadt dokumentierte. Ferner galt es, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch rechtlich die Wiedervereinigung offen zu halten. Die Bundesregierung erklärte, 37
Vgl. Küsters: Gründung (Anm. 3), S. 379 ff. Vgl. Memo of Conversation Dulles-Krekeler, Feb. 11. 1957, Foreign Relations (Anm. 13), S. 524; Memo of Conversation, Feb. 18. 1957, Foreign Relations (Anm. 13), S. 525–535. 38
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dass im Falle der Wiedervereinigung eine Überprüfung der EWG- und EURATOM-Verträge stattfinden werde.39 Nach dem Einlenken Bonns in der Frage der Übersee-Gebiete konnten diese Zugeständnisse leicht erreicht werden, zumal offenkundig war, dass der Bundestag ansonsten der Regierung im Ratifizierungsverfahren wohl nicht folgen würde. Die DDR hatte nach Inkrafttreten des Vertrages eine offene Handelsgrenze mit der EWG; bis 1989 schöpfte sie die Möglichkeiten geschickt aus, indem sie über die Bundesrepublik zollfrei Industrie- und Agrargüter auf den EWG-Markt brachte bzw. sie dort einkaufte. Als mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 der europäische Binnenmarkt endlich vollendet werden sollte, wurde der innerdeutsche Handel in den Europäischen Gemeinschaften (EG) erneut zum Thema. Aber nun war auch klar, dass Bonn hier keinen Handlungsspielraum bei einem Teil seiner elementaren Interessen sah. Nationale Interessen und europäische Integration waren von Anfang an „zwei Seiten ein und derselben Medaille“40 gewesen. Bonn hatte stets gehofft, die Wohlfahrtssteigerung durch den Gemeinsamen Markt werde die Attraktivität Westdeutschlands erhöhen und der Sowjetunion das Halten der DDR erschweren. Tief in der Nacht des 9. März 1957 schlossen die Delegationsleiter die Regierungskonferenz. Die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft waren nach harter, fast zweijähriger Arbeit entstanden. Fertig waren sie noch nicht. Als am 25. März 1957 ihre feierliche Unterzeichnung durch die sechs Regierungschefs und ihre Außenminister auf dem Kapitol in Rom zelebriert wurde, lag für den EWG-Vertrag nur das Unterschriftenblatt in der endgültigen Form vor. Der Vertrag hatte aufgrund der Verhandlungen bis unmittelbar zuvor nicht mehr in Reinschrift hergestellt werden können. Die Ratifizierung in den sechs Ländern gelang dieses Mal; ein weiterer tiefer Einbruch in den Einigungsprozess Westeuropas konnte verhindert werden. Der Kanzler hatte unbedingt eine Hängepartie über die Bundestagswahlen im Herbst hinaus vermeiden wollen – zumal Frankreich erst nach einem deutschen Votum abstimmen wollte. So verabschiedete der Deutsche Bundestag am 5. Juli 1957 als erstes Parlament die Verträge. Zuvor war fünf Stunden lang über die Verträge debattiert worden. Ein bedeutender Aspekt war die Frage gewesen, ob die Wiedervereinigung durch die Vereinbarungen verhindert werden würde. Die Fraktionen von FDP und GB/BHE41 sprachen sich aufgrund ihrer Skepsis gegen die Verträge aus. Die SPD hatte sich schwer getan; schließlich hatte sie die bisheri39 Vgl. Protokoll über den innerdeutschen Handel und damit zusammenhängenden Fragen; Gemeinsame Erklärung betreffend Berlin; Erklärung der Bundesrepublik Deutschland über die Bestimmung des Begriffs „Deutscher Staatsangehöriger“; Erklärung der Bundesrepublik Deutschland über die Geltung der Verträge für Berlin, Protokoll und Erklärungen zum EWG-Vertrag vom 25.3.1957. 40 Helmut Kohl: Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 986. 41 Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten.
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gen Integrationsverträge (EGKS, EVG) sowie den NATO-Beitritt abgelehnt. Aber nach intensiver Überzeugungsarbeit von Jean Monnet und seinem „Aktionskomitee für Europa“ sowie anderer sozialistischer Parteien in den EWG-Staaten konnte sich die SPD vom Vorteil der Verträge überzeugen und stimmte mehrheitlich mit „Ja“. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützte die EWG- und EURATOMVerträge – für die „Europa-Partei“ waren sie die logische Fortschreibung der Westintegration. Sie boten den Ersatz für den verlorenen Markt der deutschen Ostgebiete und der DDR sowie mehr Sicherheit durch Verbundenheit. Die Verträge passierten den Bundestag mit großer Mehrheit.42 Frankreich verabschiedete trotz einer Regierungskrise und einer Verschärfung der Lage in Algerien die Verträge vier Wochen später ebenfalls. Damit war die wesentliche Hürde genommen. Die Sorge, der EWG werde in der französischen Nationalversammlung das gleiche Schicksal zuteil wie der EVG, hatte sich nicht bestätigt. Frankreich befürchtete die außenpolitische Isolation und wusste nach der Suez-Krise und aufgrund der Kämpfe in Algerien und Unruhen in anderen Kolonien um seine Schwäche und sein Bedürfnis nach europäischer Solidarität. Die Präambel lädt auch „die anderen Völker Europas [ein], die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen“43. Die sechs Regierungen hatten besonders Großbritannien im Auge, das den Verhandlungen alsbald fern geblieben war und eine Freihandelszone der OEEC-Staaten ohne Souveränitätsverzicht angeboten hatte. Britische Impulse, die EWG durch Alternativvorschläge zu verhindern, waren während der Verhandlungen nicht weit gediehen. Neben außen- und innenpolitischen Gründen stellten auch die Drohungen der USA, eine Behinderung der supranationalen Integration werde eine ernste Belastung ihrer „special relationship“ bedeuten, ein Hemmnis für ein Störmanöver dar.44 Aber die sechs Regierungsdelegationen – viele ihrer Mitglieder hatten noch an den gesamteuropäischen Europa-Konferenzen in den vierziger Jahren teilgenommen – dachten auch in einem weiten historischen Rahmen, so fern ein Zusammenführen des geteilten Kontinents 1957 auch erscheinen mochte. Die Unterzeichnungszeremonie verlief ohne große öffentliche Reaktion, die Medien berichteten nüchtern über die Schaffung einer Zollunion und einer Atomgemeinschaft. Über die Verhandlungen zuvor war nicht viel nach außen gedrungen. Ihr eher technischer Charakter rückte sie in den Schatten der großen weltpolitischen Ereignisse. Entsprechend wenig drang in das öffentliche Bewusstsein, dass die Struktur Europas sich radikal verändert hatte: Die Nationalstaaten waren in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges nicht untergegangen, aber ihr Charakter und das Wesen ihrer Kooperation würde sich mit der nun beginnenden 42
Vgl. Cornides/Lipgens: Die Entstehung (Anm. 16), S. 375 f. Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957. 44 Vgl. Neuss: Geburtshelfer (Anm. 2), S. 336–344. 43
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Verflechtung stark verändern. Konrad Adenauer hatte bereits im Vorfeld versucht, Journalisten auf die Größe des Augenblicks einzustimmen: „Man kann, meine Herren, sehr schwer geschichtliche Urteile aussprechen, wenn alles noch in Bewegung ist, aber vielleicht ist dieser Zusammenschluß das wichtigste Ereignis der Nachkriegszeit.“45 Adenauer gelang es, Walter Hallstein als ersten Präsidenten der EWG-Kommission durchzusetzen, ein großer Prestigeerfolg. Dies war möglich, weil Frankreich den Präsidenten von EURATOM stellen wollte, zeigte aber auch, dass das deutsch-französische Verhältnis bereits vertrauensvoll war. Mit Walter Hallstein, der die Verhandlungen als Staatssekretär im Auswärtigen Amt stark geprägt hatte, konnte ein Hüter supranationaler Kompetenzen ins Amt gebracht werden, der bis zur Krise unter dem französischen Präsidenten de Gaulle 1965 erheblich zur erfolgreichen Umsetzung der Vorstellung von einer supranationalen Rechtsgemeinschaft beitrug und diese entscheidend prägte. Mit dem EURATOM-Vertrag war die Hoffnung verbunden gewesen, er könne Katalysator für die weitere Entwicklung werden. Diese Rolle fiel ihm nicht zu, denn sehr rasch stellte sich heraus, dass die Kernenergie teuer und der Umgang mit ihr schwierig werden würde. Die Kernenergie-Euphorie der fünfziger Jahre starb schnell. Aber der von Frankreich und Teilen der deutschen Führung ungeliebte Gemeinsame Markt entwickelte eine enorme Dynamik und Anziehungskraft, die zur Wohlstandssteigerung der Bürger beitrugen. Mehr noch: Der Erfolg bzw. die politische Bedeutung führte dazu, dass Großbritannien und weitere EFTA-Staaten bereits 1961, nur gut zwei Jahre nach dem Arbeitsbeginn der Institutionen am 1. Januar 1958, den Beitritt begehrten. Seither ist die Attraktivität der zur Europäischen Union weiter entwickelten ursprünglichen Organisationen für Nichtmitglieder ungebrochen. VI. Fazit: Weichenstellung für einen eingehegten Aufstieg der Bundesrepublik Waren sich die Politiker der sechs Mitgliedsländer der Bedeutung ihrer Unterschrift bewusst? Davon darf man ausgehen; ihre Äußerungen belegen es. Diese Politikergeneration war sich auch zutiefst bewusst, welch geringer weltpolitischer Einfluss ihren Staaten geblieben war, vor allem aber, welche Folgen die bisherige Struktur der europäischen Staatenwelt für die europäische Politik gezeigt hatte. Von EWG und EURATOM wurde der Ausgleich zwischen großen und kleinen Staaten erwartet sowie das Ende des aggressiven Hegemonialstrebens in Europa. Immerhin veränderte sich nun die politische Struktur des Kontinents grundlegend. Einerseits schien klar, dass für die europäische Zukunft neue Seiten auf45 Konrad Adenauer: Teegespräche 1955–1958, Berlin 1986, Kanzler-Teegespräch, 22.2.1957, S. 183 f.
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geschlagen worden waren, mit neuen wirtschaftlichen und politischen Chancen für den zersplitterten, kleinstaatlichen europäischen Kontinent. Andererseits stand jedoch die schwierige Umsetzung des weit in die Zukunft reichenden Vertragswerkes noch bevor. Sie sollte in zeitlich festgelegten Etappen geschehen. Der Vertrag wies weit über den geplanten Implementierungsprozess von zwölf Jahren für die Zollunion und den Binnen- und Agrarmarkt hinaus. Er drückte das Ziel aus, über wirtschaftliche Zusammenarbeit zu tieferer Integration zu gelangen, wie es die Präambel bekundet: „In dem festen Willen, die Grundlage für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“.46 Dieses Ziel war ein eminent politisches, es sollte mit den Mitteln der Wirtschaft und der technologischen Kooperation durchgesetzt werden. Adenauer fand sich mangels Alternativen mit diesem Weg ab. Ein konkret benannter Endzustand der Integration wurde nicht definiert. In allen Bestrebungen seit 1945, Europa zu einen – im Europarat, in der EGKS wie in der EVG/EPG – hatte darüber kein Konsens hergestellt werden können. Das offizielle Leitbild der Bundesrepublik Deutschland blieb bis in die achtziger Jahre hinein ein europäischer Bundesstaat,47 auch wenn die Zweifel über die Erreichbarkeit und Zweckmäßigkeit bereits im Jahrzehnt zuvor wuchsen. Somit beschrieb der Vertrag den Weg und den Prozess, nicht aber das Endziel. Wie das Scheitern des Verfassungsentwurfs des Europäischen Parlaments 1984 und des Europäischen Verfassungsvertrags des Verfassungskonvents 2005 zeigen, hat sich daran nichts geändert: Es bleibt bei einem offenen Integrationsprozess. Für die Bundesrepublik Deutschland erwies sich die tief greifende Entscheidung der sechs Staaten, im Jahr 1957 tatsächlich die mit der EGKS supranational begonnene Integration fortzusetzen, als großer politischer und wirtschaftlicher Gewinn. Zunächst ermöglichte ihr die damals gültige Vorstellung, auf einen europäischen Bundesstaat zuzustreben, besser mit dem Los der Teilung fertig zu werden. Zwar verstummte die Frage nie ganz, ob die „zwei Seiten einer Medaille“ – Integration und Streben nach Einheit – wirklich zusammenpassten. Aber „Europa“ erwies sich als positives Ziel, die Arbeit an seiner Verwirklichung bot nicht nur in den Augen der Nachbarn Bewährungsmöglichkeiten nach der verbrecherischen Politik zwischen 1933 und 1945. Viele Deutsche sahen das ebenso. Die Europäische Integration erfuhr eine wohlwollende Tolerierung und war in Deutschland bis in die achtziger Jahre hinein unumstritten. Das Jahr 1957, das Jahr der Verträge, ist die Zäsur in dieser Entwicklung: Tatsächlich erwies sich die EWG als idealer Rahmen für den Aufstieg zur Zentralmacht Europas, sie diente auch den wirtschaftlichen Interessen und produzierte Wohlstand. Der europäische Einigungsprozess diente als der geeignete Rahmen,
46 47
Präambel des EWG-Vertrags vom 25.3.1957. Vgl. Walter Hallstein: Der unvollendete Bundesstaat, Düsseldorf 1969.
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Vertrauen und Einfluss zu gewinnen. Anders als von Wirtschaftsminister Erhard befürchtet, wurde die EWG nicht zur Fessel für die Exportmacht Bundesrepublik, sondern fügte ihrem weltweiten Handel den sicheren und zunehmend aufnahmebereiten europäischen Wirtschaftsraum hinzu. In dem Maße, wie die Integration den Wohlstand in immer neue Mitgliedsstaaten brachte – das ehemalige Armenhaus Irland ist das beste Beispiel –, profitierte die deutsche Wirtschaft. Seine nicht nur von Frankreich gefürchtete „économie dominante“ blieb aber im Rahmen der Integration verträglich, die Übermacht der DM wurde schließlich im Euro eingefangen, durchaus zum Vorteil der Deutschen.48 Die deutsche Europapolitik hat es von Beginn an vermocht, ein institutionelles Umfeld mitzugestalten, in dem sie einflussreich wirken konnte. In diesem Rahmen konnte sie zusammen mit anderen Mitgliedern – zumeist war dies Frankreich – Führung ausüben. Diese Fähigkeit mag in der EU 27 nur noch eingeschränkt zur Geltung kommen können. Für tiefere Integration bedarf es aber noch stets der aktiven deutschen Gestaltung, die allerdings nur mit Partnern erfolgreich sein kann. Diese zentrale Position konnte sich die Bundesrepublik erarbeiten, weil sie nur selten dem Reflex folgte, explizit auf ihr wirtschaftliches, demografisches und zunehmend auch politisches Gewicht zu verweisen. Ihre vermittelnde Position zwischen großen und kleinen Mitgliedern legte den Grund für ihr politisches Gewicht, denn sie dämpfte Hegemoniebefürchtungen der Partner. Betrachtet man die unvermutet wieder aufbrechenden Ängste vor dem Gewicht Deutschlands bei den lang und eng vertrauten EG-Partnern 1989/90,49 so ist leicht zu vermuten, welche Widerstände einer deutschen Einigung in einem nicht-integrierten Europa entgegen gestanden hätten. Die große Überraschung für die Partner war 1989/90 wohl, dass Deutschland nicht versuchte, aus der Integration auszubrechen, dass es die europäische Einigung nicht nur als Instrument für die Reintegration in die Weltpolitik betrachtete, sondern als genuin nationalen Interessen entsprechend.50 Aus Aufzeichnungen und Gesprächen lässt sich eindeutig belegen, dass sich insbesondere Konrad Adenauer als Kanzler eines Staates an der Schnittstelle eines globalen Systemskonflikts klar darüber war, dass weder Deutschland noch 48 Der Euro verteilt den Spekulationsdruck, der durch die Schwankungen des Dollarkurses und Finanzkrisen ausgelöst wurde, vorteilhaft auf den gesamten Euro-Raum. Er wäre sonst ganz überwiegend von der deutschen Währung zu tragen gewesen. Das Primat der Währungsstabilität kommt, ebenso wie die gesamte Konstruktion der Europäischen Zentralbank, deutschen Interessen entgegen. 49 Vgl. Kohl: Erinnerungen (Anm. 40), S. 1013 ff. 50 Vgl. Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas, vorgelegt von Bundeskanzler Helmut Kohl in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages am 28. November 1989, in: Europa-Archiv 24 (1989), S. D 728– 734; Joschka Fischer: Vom Staatenbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin, 19.5.2000 FCE Spezial N 2.
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(West-)Europa einen angemessenen Einfluss ausüben konnte, wenn sie sich nicht zusammenschlossen. War es damals das Gewicht der beiden Weltmächte USA und Sowjetunion, so gilt dies heute gleichermaßen in Anbetracht des Aufstiegs neuer Mächte und eines schrumpfenden europäischen Weltanteils an Bevölkerung und Wirtschaftskraft. Auch diese Entwicklung hatte Adenauer vor Augen.51 Das Beharrungsvermögen des Nationalstaats hat sich als erstaunlich stark erwiesen. Die Gründerväter wollten ihn auch nicht aufheben, nicht einmal Adenauer, sondern ihn durch Transformation in einen post-nationalen Zustand zukunftsfähig machen.52 Für die Bundesrepublik galt, dass Deutschland seinen Platz wieder einnehmen und seine Geltung wiedererlangen sollte. Ein halbes Jahrhundert funktioniert das immer wieder modifizierte Vertragssystem nun. Dieser Erfolg war keineswegs garantiert. Bereits der Amtsantritt von de Gaulle, eines dezidierten Gegners supranationaler Integration, ein halbes Jahr nach In-Kraft-treten der Verträge hatte große Sorge ausgelöst. Bisher konnten alle Krisen bewältigt werden, oft genug durch Schritte in die Vertiefung der Integration. Nun erscheint jedoch ein Zustand erreicht, in dem die „Erfolgsfalle“ (Weidenfeld) zuschnappt: Das zeitliche Zusammentreffen der großen EU-Erweiterung mit dem Versuch, der inzwischen sehr heterogenen EU eine Verfassung zu geben, machte das Kardinalproblem seit 1957 bzw. seit Beginn der Integration erneut deutlich: Über das Endziel der Integration gab es nie einen Konsens. Der Bundesrepublik Deutschland als Gründungsstaat und als dem größten Mitglied kommt bei dem Zusammenhalt und der Weiterentwicklung der EU daher besonderes Gewicht zu.
51 Vgl. Adenauer: Rede vor den Grandes Conférences Catholiques, 25.9.1956, in: Konrad Adenauer: Reden 1917–1967. Eine Auswahl, hrsg. v. Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 329. 52 Vgl. Schwarz: Staatsmann (Anm. 9), S. 374.
III. Zwischen „Wahlwunder“, „dritten Wegen“ und Repression – der Blick nach innen
Das „Wahlwunder“ 1957 Von Eckhard Jesse I. Einleitung „Das Jahr 1957 markiert in vielerlei Hinsicht eine kleine Zeitenwende in der Geschichte der Bundesrepublik. Während in der Politik ,einerseits Adenauers CDU die absolute Mehrheit errang und die Kanzlerdemokratie den Zenit durchlief, [. . .] andererseits sich die SPD für Godesberg zu rüsten begann‘, bezeichnen etwa die Einführung des arbeitsfreien Samstags oder auch die Tatsache, dass es erstmals mehr Fernsehapparate gab als Kinositze, einen sozial- und kulturgeschichtlichen Wandel.“1 Die Frage, ob das Jahr 1957 tatsächlich eine „kleine Zeitenwende“ (für ein Jahr ein großes Wort) bedeutete, soll ausschließlich, wie im Eingangszitat angedeutet, mit Blick auf das Wahlverhalten und das Parteiensystem beantwortet werden. Dafür bedarf es ebenso eines Rückblicks wie eines Ausblicks. Und es muss die Frage geklärt werden, was mit „Zeitenwende“ gemeint ist. Soll der Begriff im Sinne einer Zäsur gemeint sein, dass sich mit jenem Jahr die Entwicklung dauerhaft gewandelt hat? Oder ist der Terminus in dem Sinne zu verstehen, als habe es in jenem Jahr einen Ausschlag gegeben, der später so nicht wieder erreicht wurde? Diese Interpretation würde eher auf den Charakter einer Ausnahmewahl hinauslaufen. Die Antwort fällt unterschiedlich aus, je nachdem, wie der Begriff der „kleinen Zeitenwende“ einzuordnen ist. Die Frage nach Zäsuren ist u. a. deshalb wichtig2, weil sich auf diese Weise das Wesentliche einer Entwicklung vom Unwesentlichen unterscheiden lässt. Oft ist der Zeitgenosse dazu nicht in der Lage. Aber ein Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert erlaubt ein tragfähiges Urteil. Selbstverständlich ist das Jahr 1957 nicht das einzige, das bei der Frage der Zäsuren, bezogen auf die deutsche Nachkriegsgeschichte, als Schlüsseljahr gilt.3 Beispielsweise sehen manche „1968“ als Einschnitt an, gleichsam
1 So Jan Eike Dunkhase: Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 78. Das Zitat im Zitat stammt von Werner Conze. 2 Vgl. Alexander Gallus (Hrsg.): Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806, Köln u. a. 2006. 3 Vgl. ders.: Zäsuren in der Geschichte der Bundesrepublik in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln/Weimar 2008, S. 35–56; siehe auch seinen Beitrag in diesem Band.
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als Nach-, Um- und Neugründung der Bundesrepublik. Und jeder weiß: 1989/90 war ein „annus mirabilis“. Der Beitrag ist wie folgt angelegt. Nach einer kurzen Analyse zum Ausgang der Bundestagswahl 1957 folgt ein Rückblick auf das Kaiserreich wie auf die Weimarer Republik und ein Ausblick – zum einen auf die Wahlen und das Parteiensystem bis zur deutschen Einheit, zum andern auf die Entwicklung danach. Die Schlussbetrachtung schließlich gibt eine Antwort auf die Ausgangsfrage nach der „kleinen Zeitenwende“. II. Bundestagswahl 1957 Bei der Bundestagswahl 1957 steigerte die Union ihren Stimmenanteil um fünf Punkte auf 50,2 Prozent. Das entsprach einem Mandatsanteil von 54,4 Prozent. Zum ersten Mal hatte eine Partei in Deutschland bei demokratischen Wahlen die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht. Dies kam einer Sensation gleich, einem „Wahlwunder“. Diesen Terminus hatte der Heidelberger Publizist und Politikwissenschaftler Dolf Sternberger bereits nach der Bundestagswahl 1953 benutzt.4 Die Union hatte mit 45,2 Prozent der Stimmen 244 der 487 Mandate erreicht, also eine hauchdünne absolute Mandatsmehrheit – und zwar deshalb, weil einer der drei über die Liste des Zentrums gewählten Abgeordneten der CDU angehörte.5 Damit hatte sie ihren Stimmenanteil um 14,2 Prozentpunkte erhöht und somit beinahe um die Hälfte gesteigert. „Kein Mensch hat es vorausgesagt, und kein Mensch hat es voraussagen können, auch die Meinungsforscher nicht.“6 Trotzdem wurde die bisherige Koalition (CDU/CSU, FDP, DP) unter Einschluss des neu in den Bundestag gelangten GB/BHE fortgesetzt, womit sogar eine verfassungsändernde Mehrheit vorhanden war. 1957 äußerte sich Sternberger ähnlich begeistert über den „Sieg der Wählerschaft“, der ein „Sieg über das Koalitionssystem“7 sei. Er griff das Wort vom „Wahlwunder“ auf. Für ihn war es deshalb ein solches, weil er als leidenschaftlicher Anhänger der relativen Mehrheitswahl an ein solches Ergebnis unter den Bedingungen eine Verhältniswahlsystems nicht geglaubt hatte.8 Eigens hieß es, 4 Vgl. Dolf Sternberger: Das deutsche Wahlwunder, in: ders.: Die große Wahlreform. Zeugnisse einer Bemühung, Köln/Opladen 1964, S. 117–130. 5 Das Zentrum gelangte mit 0,8 Prozent der Stimmen in den Deutschen Bundestag. Die CDU hatte zugunsten dieser Partei in einem „sicheren“ Wahlkreis auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten verzichtet. 6 Dolf Sternberger (Anm. 4), S. 117. 7 Ders.: Der Wähler hat gesiegt, in: ders. (Anm. 4), S. 168. 8 Dass Sternberger als vehementer Befürworter eines Mehrheitswahlsystems zugleich die Sperrklausel so heftig abgelehnt hat, ist Ausdruck eines Wahlrechtsdogmatismus, ließ er doch nur die Alternative zwischen einer reinen Mehrheitswahl und einer reinen Verhältniswahl gelten. „Die Sperrklauseln fungieren in der Gesetzgebung ungefähr nach
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die Wählerschaft habe „über das Wahlgesetz triumphiert, nämlich über die Versuchung, die in der proportionalen Stimmenzurechnung an die Parteien lag, in mehreren, ja in vielen Richtungen auseinanderzulaufen.“9 Gleichwohl goss Sternberger Wasser in den Wein. Das von ihm gewünschte Zweiparteiensystem hinke noch. Sein Appell richtete sich an die SPD: „Der Anfang der Reform ist die Einsicht in die Niederlage. Nicht nur die Freunde der Sozialdemokratie, nein, die gesamte Wählerschaft und Bürgerschaft wartet mit Begierde auf diese Reformen. Das Zweiparteien-System muss auf zwei Beinen gehen und nicht hinken.“10 In der Tat lag die Differenz zwischen der Union und der SPD bei beachtlichen 18,4 Prozentpunkten. Obwohl die Union mit ihren Hauptslogans „Keine Experimente!“ und „Wohlstand für alle“ alleine klar eine regierungsfähige Mehrheit erzielt hatte, bildete sie erneut eine Koalition mit ihrem Bündnispartner von 1949 an, der Deutschen Partei. Diese Partei war mit 3,4 Prozent nur dank der Union aufgrund von Wahlkreisabsprachen überhaupt ins Parlament zurückgekehrt.11 GB/BHE und FDP hatten die Koalition bereits 1955 bzw. 1956 verlassen. Der 81-jährige Konrad Adenauer würdigte in seiner Regierungserklärung vom 29. Oktober 1957, anders als 1953, den beeindruckenden Wahlerfolg knapp und nüchtern: „Die CDU/CSU hat, eindrucksvoller noch als im vergangenen Bundestag, wieder die absolute Mehrheit erhalten. Wir freuen uns aber, dass unsere Freunde und Partner aus der Deutschen Partei, mit denen wir schon seit acht Jahren zusammengearbeitet und mit denen wir uns über das Regierungsprogramm der kommenden vier Jahre voll verständigt haben, mit uns die Verantwortung teilen.“12 Die Zeitgenossen sahen im Ergebnis von 1957 einen markanten Einschnitt.13 Das Charakteristische des Wahlausgangs von 1957 kann in zwei Punkten gesehen werden: Zum einen hatte die Union mit 50,2 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erreicht, zum anderen lag der Abstand zur zweitstärksten Kraft bei fast 20 Punkten. Die Asymmetrie des Parteiensystems war damit augenfällig, zumal die Regierungspartei DP klar den Kurs der Union unterstützte und die vierte Parlamentspartei, die in der Opposition wirkende FDP, der Union, ihrem einstidem Motto: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“ So ders.: Fiat res publica, in: ders. (Anm. 4), S. 143. 9 Ders. (Anm. 7), S. 171. 10 Ebd., S. 181. 11 Vgl. Eckhard Jesse: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1983, Düsseldorf 1985, S. 284 f. 12 Regierungserklärung von Konrad Adenauer vom 29. Oktober 1957, zitiert nach: Klaus von Beyme (Hrsg.): Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt, München u. a. 1979, S. 104. 13 Vgl. etwa Erwin Faul (Hrsg.): Wahlen und Wähler in Westdeutschland, Villingen 1960; Uwe W. Kitzinger: Wahlkampf in Westdeutschland. Eine Analyse der Bundestagswahl 1957, Göttingen 1960.
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gen Koalitionspartner, deutlich näher stand als der SPD. Was erstaunlich anmutet: CDU und CSU erzielten ihren Erfolg ohne schlagkräftige Organisationsstruktur. 1957 basaß die CDU nur 500 hauptamtliche Mitarbeiter, 1959 hatten CDU und CSU zusammen nur deren 320.14 III. Wahlen und Parteiensystem im Kaiserreich und der Weimarer Republik Der Systemwechsel vom autoritären Kaiserreich zur ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, war in mancher Hinsicht nicht von zentraler Bedeutung. Dazu zählten auch die Wahlergebnisse und das Parteiensystem. Gewiss, die Monarchie wurde gleichsam „hinweggefegt“ – nicht zuletzt durch die Niederlage im Krieg –, und es entstand eine parlamentarische Republik, die dem Gebot der Volkssouveränität in vollem Maße Rechnung trug. Obwohl die (fast reine) Verhältniswahl die absolute Mehrheitswahl abgelöst hatte, zeigte sich eine beachtliche Kontinuität.15 Wie die Parteien keine Erwähnung in der Verfassung des Kaiserreiches fanden, so tauchten sie nicht in jener der Weimarer Republik auf, sieht man einmal von der negativen Wendung in Art. 130 ab, wonach Beamte Diener der Gesamtheit seien, nicht einer Partei. Dabei musste ihre Funktion in einem wesentlich von ihnen getragenen System eine weitaus bedeutendere sein. Aber die Parteien, vielfach in konstitutionellem Denken befangen, perzipierten diese Wandlung ebenso nur unzureichend wie weite Teile der Bevölkerung, die obrigkeitlichen Vorstellungen huldigten. Die Rolle, die dem Kaiser in der Monarchie zugefallen war, kam nun gewissermaßen dem vom Volk gewählten und mit zahlreichen Kompetenzen ausgestatteten Reichspräsidenten zu, einer Art „Ersatzmonarch“. Er ernannte den Kanzler, besaß ein Auflösungs- und Notverordnungsrecht. Auf diese Weise wurde die Parteiendemokratie durchbrochen, die Verantwortlichkeit der Parteien bei Konflikten geschwächt, erst recht bei schwierigen Mehrheitsverhältnissen. Das Verständnis für eine durch das Gegenüber von parlamentarischer Mehrheitsfraktion(en) und parlamentarischer Opposition gekennzeichnete Parteiendemokratie fehlte, bedingt nicht zuletzt durch die historischen Vorbelastungen. Die Parteien des Kaiserreiches spielten auch in der Weimarer Republik eine entscheidende Rolle, teilweise unter anderem Namen, wobei charakteristischerweise insbesondere eher konservative Parteien sich mit dem Epitheton „Volk“ schmückten (Deutschnationale Volkspartei, Deutsche Volkspartei, Bayerische 14 Vgl. Wulf Schönbohm: Die CDU wird moderne Volkspartei. Selbstverständnis, Mitglieder, Organisation und Apparat 1950–1980, Stuttgart 1985, S. 51. 15 Vgl. Hans Fenske: Wahlrecht und Parteiensystem. Ein Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte, Frankfurt a. M. 1972.
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Volkspartei). Die Deutschnationale Volkspartei stellte zwar dem Namen nach eine Neugründung dar, doch sammelten sich in ihr überwiegend die Anhänger der konservativen Kräfte des Kaiserreiches, deren Politik zunächst diskreditiert schien. Nur selten gab sie ihre Frontstellung gegen das neue demokratische System auf. Unter ihrem Parteivorsitzenden Alfred Hugenberg kam es in der Endphase der Weimarer Republik zu einer weiteren Verlagerung der DNVP nach rechts. Die rechtsliberale Deutsche Volkspartei stand in der Tradition der Nationalliberalen aus dem Kaiserreich. Nach dem Tode Gustav Stresemanns, ihres überragenden Staatsmannes, gewannen die rechtsstehenden Kräfte wieder die Oberhand. Die Deutsche Demokratische Partei repräsentierte den Linksliberalismus. Klangvolle Namen wie der bereits im August 1919 verstorbene erste Vorsitzende Friedrich Naumann und Hugo Preuß, der „Vater“ der Weimarer Verfassung, zählten zu ihren Gründungsvätern. Um den zunehmenden Verlust der Wählerschaft zu stoppen, verband sich die DDP im Jahre 1930 mit dem „Jungdeutschen Orden“, einem nationalen Kampfbund. Doch auch die „Deutsche Staatspartei“, so lautete der neue Name, vermochte den Ver- und Zerfall des Liberalismus in den wirtschaftlichen Krisenzeiten nicht aufzuhalten. Das Zentrum gehörte fast allen Regierungen der Weimarer Republik an, weil es noch am ehesten in der Lage war, unterschiedliche Interessen zu vereinen und damit auszugleichen. Wie im Kaiserreich konnte die Zentrumspartei beträchtliche Teile des katholischen Lagers aus allen Schichten an sich binden. In Bayern vertrat die Bayerische Volkspartei, die sich 1920 vom Zentrum getrennt hatte, den politischen Katholizismus, mit einer deutlichen Rechts-Orientierung und in einer beinahe schon partikularistischen Variante. Die SPD gehörte eher zu einer Stütze der Republik, wenngleich sie ihr Verhältnis zum Staat nicht eindeutig zu bestimmen vermochte. Die aus dem Kaiserreich herrührende Kluft zwischen radikaler Ideologie und reformerischer Praxis wirkte fort, freilich in gemilderter Form.16 Allerdings oblag der Sozialdemokratie in Weimar Verantwortung, während sie im Kaiserreich von der politischen Willensbildung weitgehend ausgeschlossen blieb. Viele bürgerliche Parteien wetterten gegen den Marxismus der SPD, während umgekehrt die Kommunisten ihr Verrat an dessen Prinzipien vorwarfen. Die bis zum Jahre 1932 stärkste Partei, die so in einer Art „Zweifrontenkampf“ stand, blieb die meiste Zeit in der Opposition. Links von der SPD und rechts von der DNVP formierten sich zwei Parteien, die das „etablierte“ Parteiengefüge verbreiterten und damit wegen der Erschwerung der Koalitionsbildung die ohnehin ungefestigte Demokratie weiter belasteten. Beide bekämpften das „System“ unnachsichtig und rücksichtslos. Der politische Extremismus fristete in der ersten deutschen Demokratie damit kein Mauerblümchendasein, ganz abgesehen davon, dass bei den erwähnten Parteien 16 Vgl. u. a. Peter Brandt/Dieter Groh: „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992.
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auch antidemokratische Tendenzen bemerkbar waren, am stärksten bei der DNVP. Die KPD wurde durch die Spaltung der USPD – der radikale Flügel wandte sich den Kommunisten zu, der gemäßigte ging zur Sozialdemokratie zurück – eine Massenpartei, die ihr Heil in Moskau sah, zumal unter ihrem Führer Ernst Thälmann. Von der Sowjetunion in personeller, finanzieller, ideologischer und organisatorischer Hinsicht abhängig, proklamierte die KPD in den letzten Jahren der Weimarer Republik ihre „Sozialfaschismus“-These. Für sie galt die SPD als der Hauptfeind, dessen Stimmenanteil sie niemals erreichte, wenngleich die Differenz in der Größenordnung zwischen den beiden Arbeiterparteien am Ende der demokratischen Republik abnahm. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, aus einer völkischen Gruppe entstanden, verkündete einen fanatischen Antisemitismus und aggressiven Nationalismus, der sich mit sozialdarwinistischen Ideen verband. Sie proklamierte einen unerbittlichen Kampf gegen Liberalismus und Kommunismus. Ursprünglich nur eine der vielen Splitterparteien, profitierte die Partei Adolf Hitlers von der Weltwirtschaftskrise. Sie wuchs im Jahre 1932 zur weitaus stärksten Kraft. Die Unterschätzung der nationalsozialistischen Dynamik reichte von den Deutschnationalen bis zu den Kommunisten. Hitler galt vielfach als bloßer „Trommler“, den die verschiedensten Gegner nicht ernst nahmen. Die Zusammenarbeit zwischen den systemloyalen Parteien funktionierte nicht sonderlich gut. Wer in erster Linie auf die radikalen Flügelparteien von rechts und links abstellt sowie die Parteienzersplitterung erwähnt, macht es sich einfach. Die Koalitionsregierungen brachen mehr wegen der Umorientierung von Parteien auseinander als durch ein destruktives Misstrauensvotum. Was schon bei der Gründung der Parteien angelegt war, sich im Kaiserreich fortsetzte, schwächte sich in der Weimarer Republik nicht ab – „die selbstzerstörerische Eigenart der deutschen Parteien, die ihren eigentlichen Daseinszweck nicht in der parlamentarischen Mehrheits- und Regierungsbildung, sondern in Sinnstiftung und Wahrheitsverkündung sehen, so dass jede Politik, die sich mit der eigenen nicht deckt, ohne weiteres feindlich ist.“17 In Weimar aber bedurfte es, anders als im Kaiserreich, zur Mehrheitsbildung der Parteien. Insofern war der mangelnde Pragmatismus ein besonderer Strukturdefekt. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament verliefen die Regierungsbildungen häufig kompliziert, und es ist charakteristisch, dass kein Reichstag die volle Legislaturperiode überstand. Fünf der 20 Weimarer Reichsregierungen leiteten Kanzler, die weder Parlaments- noch Parteimitglieder waren. Ungefähr 40 Prozent der Minister gehörten nicht dem Reichstag an und etwa 20 Prozent nicht einmal einer Partei. Eine Minderheitsregierung, von der Mehrheit des Parlaments toleriert, stellte ebenso keine Seltenheit des Weimarer Parlamentarismus dar wie ein – für ein parlamentarisches System an sich nicht vorgesehenes – „Kabinett 17
So Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982, S. 70.
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der Fachleute“ oder ein „Kabinett der Persönlichkeiten“. Der „Parteienstaat“ hatte sich in Weimar nicht durchgesetzt. Parteien galten vielfach als Fremdkörper, die das Gemeinwohl gefährdeten. Vorwiegend an der überkommenen Gewaltenteilungsdoktrin orientiert, fühlten sie sich vor allem zur Kontrolle der Regierung berufen. Zu den Grotesken des Weimarer Semi-Parteienstaates gehört, dass die Fraktionen manchmal auch dann gegen eine Regierungsvorlage stimmten, wenn Minister der eigenen Partei in der Regierung saßen. Die Parteien scheuten Verantwortung auch deshalb, weil die Lösung der drückenden Probleme unpopuläre Maßnahmen erforderte. Wer jetzt die beiden erwähnten Charakteristika des Wahlausgangs von 1957 mit denen der Wahlen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik vergleicht, sieht massive Unterschiede. Im Kaiserreich erzielte eine Partei selten 30 Prozent. Das gelang den Nationalliberalen 1871 (30,0 Prozent), der SPD 1903 (31,7 Prozent) und 1912 (34,8). Die größte Differenz zwischen den beiden stärksten Parteien betrug bei der Wahl 1912 (das Zentrum war auf 16,4 Prozent gekommen) kurioserweise ebenso 18,4 Prozent wie 1957. In der Weimarer Republik sah das Ergebnis ähnlich aus. Bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 erreichte die SPD 37,9 Prozent, bei der ersten Reichstagswahl 1932 gewann die NSDP 37,3 Prozent, bei der zweiten 33,1 Prozent. Die stärkste Differenz zwischen der größten und der zweigrößten Partei belief sich bei der Wahl zur Nationalversammlung auf 18,2 Punkte. Das Zentrum, als „Christliche Volkspartei“ angetreten, kam auf 19,7 Prozent. Bei allen Unterschieden zwischen dem Obrigkeitsstaat und der Demokratie: Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik hatten wir es mit Parteien zu tun, die es aufgrund einer zerklüfteten Gesellschaft verstanden, ein festes Wählermilieu an sich zu binden. Die Parteien waren weit von Volksparteien entfernt. Das gilt auch für die NSDAP, die 1932 zwar beachtlich hohe Stimmenteile auf sich vereinigte und ihre Wählerschaft aus allen sozialen Schichten rekrutierte.18 Aber sie erfüllte nicht das dritte Kriterium einer Volkspartei: die Bejahung der demokratischen Ordnung. Damit unterschied sich die Situation im Kaiserreich und in der Weimarer Republik völlig von der des Jahres 1957, als mit der Union bereits eine Volkspartei entstanden war. IV. Wahlen und Parteiensystem bis zur deutschen Einheit Durch das faktische Verbot19 aller Parteien im Dritten Reich (bis auf die NSDAP) und den anfänglichen Lizenzzwang nach 1945 trat ein massiver Wandel ein. Es wurden vier Parteien zugelassen: auf dem linken Spektrum zwei alte (die 18
Vgl. Jürgen W. Falter: Hitlers Wähler, München 1991. Die KPD wurde 1933, formal betrachtet, nicht verboten. Vgl. Konrad Repgen: Ein KPD-Verbot im Jahre 1933?, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 67–99. 19
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KPD und die SPD), auf dem „bürgerlichen“ zwei neue (anfangs unter unterschiedlichem Namen): die überkonfessionelle Union, die so das Defizit des Zentrums überwand, und die FDP, die damit zum ersten Mal in der deutschen Parteiengeschichte alle liberale Strömungen zu vereinen vermochte. Das von den Alliierten 1945 mittels Lizenzierung ins Leben gerufene Vierparteiensystem hielt angesichts der Politik der KPD, des Erfüllungsgehilfen eines anderen Erfüllungsgehilfen (SED), der wiederum als Erfüllungshilfe der KPdSU fungierte, nicht lange, war bei Beginn der Bundesrepublik schon faktisch am Ende. Was oft übersehen wird: „Die Entwicklung der westdeutschen Parteien und die Entstehung und Ausformung des westdeutschen Parteiensystems waren somit nicht nur eine Antwort auf die parteipolitischen Entwicklungen der Weimarer Republik, sondern auch eine unmittelbare Antwort auf die neuesten Entwicklungen in der sowjetischen Besatzungszone.“20 Prinzipieller Konsens zwischen den großen Parteien bestand in den Jahrzehnten bis zur deutschen Einheit ununterbrochen, wiewohl zuweilen Interessengegensätze schroff aufeinanderprallten, etwa bei der Durchsetzung der neuen „Westpolitik“ in der ersten Hälfte der fünfziger Jahren oder der Durchsetzung der neuen „Ostpolitik“ in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, wobei diese nicht die frühere „Westpolitik“ korrigieren, sondern ergänzen wollte. Es war jeweils die FDP als eine Art Scharnierpartei, die zum Gelingen beitrug, im ersten Fall zugunsten der Union, im zweiten zugunsten der FDP. Dieser Wandel war angesichts der historischen Last nicht von vornherein abzusehen gewesen. „Die Tatsache, dass viele mögliche und tatsächliche Gefährdungen für die Entwicklung einer neuen, erfolgreichen Parteiendemokratie gebannt, abgeschwächt und überwunden werden konnten, grenzt an ein ,Wunder‘. Es gab nicht nur das sogenannte Wirtschaftswunder, sondern auch das ,Wunder‘ des neuen, sich durch Absorption und Konzentration stabilisierenden westdeutschen Parteienstaates und einer effizienten Parteienregierung.“21 Dieses „Wunder“ hat freilich handfeste Gründe: etwa die bitteren historischen Erfahrungen (aus der Weimarer Republik, aus dem Dritten Reich und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit), wirtschaftliche, soziale, kulturelle und institutionelle Faktoren. Die Bundestagswahlen des Jahres 1949 können „ebenso sehr als letzte Weimarer wie als erste bundesrepublikanische Wahl“22 apostrophiert werden: in organisatorischer, in ideologischer, in strategischer und vor allem in elektoraler Hinsicht. Die Union hatte bei der ersten Bundestagswahl 1949 nicht einmal ein Drittel der Stimmen erreicht. Da eine Koalition mit einer kleinen Partei für eine 20 Alf Mintzel: Der akzeptierte Parteienstaat, in: Martin Broszat (Hrsg.): Zäsuren nach 1945. Essay zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 76. 21 Ebd., S. 78. 22 So Jürgen W. Falter: Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn, in: Politische Vierteljahresschrift 22 (1981), S. 260.
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Regierungsmehrheit nicht ausgereicht hätte, entschied sich die Union für ein Dreierbündnis (mit der FDP und der DP), nicht für eine Große Koalition. Damit wurde ein konkurrenzdemokratisch angelegtes Regierungssystem begünstigt. Nach Aufhebung des Lizenzzwangs zeichnete sich in den Bundesländern zunächst keineswegs eine Tendenz zur Parteienkonzentration ab. Vielmehr war die Periode von 1950 bis 1952 durch eine „kurze Blütezeit der Splitterparteien“23 geprägt. Ungeachtet der Zäsur des Jahres 1945 gerade auch für die Parteien: Bereits bei der Bundestagswahl 1953 setzte, wie erwähnt, die Parteienkonzentration ein. Nach den beiden Wahlen 1953 und 1957 gab es übergroße Koalitionen. Die Parteien, die sich daran beteiligten (GB/BHE, DP), wurden schnell aufgerieben, vielleicht auch deshalb. Vor der Wahl stand im allgemeinen fest, wer mit wem eine Koalition einzugehen beabsichtigte. Es bestand eine Asymmetrie des Parteiensystems zugunsten der Union. Verlor diese an Stimmen, so kam der Verlust – jedenfalls teilweise – der FDP zugute, einer Art Auffangbecken für die Union. Die nahezu kontinuierlichen Stimmengewinne für die SPD („Genosse Trend“) von 28,8 Prozent (1953) auf 31,8 (1957), 36,2 (1961) und 39,3 Prozent (1965) nützten ihr mangels eines Koalitionspartners wenig. Im Jahre 1966 wurde sie Juniorpartner der CDU/CSU. Die Absicht der Großen Koalition, ein mehrheitsbildendes Wahlsystem einzuführen, scheiterte an einer Vielzahl von Faktoren – insgesamt mehr an der strategisch besser operierenden SPD als an der ungeschickt taktierenden Union. Im Laufe der vier Jahrzehnte betrachteten sich die Parteien untereinander als koalitionsfähig, wenngleich nicht unbedingt zur selben Zeit. Was die Anhänger der Mehrheitswahl wollten, war im Laufe der Jahre trotz eines Verhältniswahlsystems eingetreten: regierungsfähige Mehrheiten, faktische Regierungsbildung durch das Volk, programmatische Mäßigung. Die FDP sorgte für beide „Machtwechsel“ – 1969 und 1982. In der Tat hat sie in den ersten vier Jahrzehnten eine „ausschlaggebende, mehrheitsbildende Rolle“24 gespielt. Allerdings bedarf dieses Urteil insofern der Relativierung, als die Liberalen Entwicklungen gleichsam „vorwegnahmen“, die ohnehin auf der politischen Agenda standen. Zwischen 1961 und 1983 gehörten nur drei Parteien dem Bundesparlament an. 1983 und 1987 gelang den Grünen als vierter Kraft der Einzug ins Parlament. Flügelparteien spielten bis zur deutschen Einheit kaum eine Rolle. Der Rechtsextremismus hatte sich durch das Schreckbild des Nationalsozialismus diskreditiert, der Linksextremismus durch das der DDR. Eine antiextremistische Grundhaltung der tragenden gesellschaftlichen Gruppierungen war verbreitet, die „Po-
23 So Heino Kaack: Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971, S. 207. 24 Vgl. Arnulf Baring: Machtwechsel. Die Ära Brandt–Scheel, Stuttgart 1982, S. 15.
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litics of Centrality“25, wie dies der britische Parteienforscher Gordon Smith genannt hat – nicht zuletzt wegen des abschreckenden Anschauungsunterrichts der Vergangenheit (Drittes Reich) und der Gegenwart (DDR). Auch dies stellte einen gewichtigen Unterschied gegenüber dem Kaiserreich und der Weimarer Republik dar. Das Parteiensystem zeichnete sich bis zur deutschen Einheit durch ein hohes Maß an Asymmetrie aus. Die ersten zwei Jahrzehnte kam diese Asymmetrie der Union zugute, von 1969 bis 1982 der SPD und von 1982 bis zur deutschen Einheit wieder der Union. Denn anfangs hatte die SPD keine Bündnispartner, um eine Regierung zu bilden. Als 1969 die sozialliberale Regierung entstand, geriet die Union in eine strukturelle Minderheitenposition. Nach dem Wechsel der FDP zur Union 1982 kehrte sich das Verhältnis um. Im Grunde fehlte bis Ende der achtziger Jahre eine Symmetrie des Parteienwettbewerbs. Der Wähler wusste allerdings im Allgemeinen vor der Wahl, wer mit wem nach der Wahl zusammen gehen würde. Er votierte insofern zugleich für die Regierung oder für die Opposition. Damit war eine Entwicklung eingetreten, mit der zu Beginn der zweiten deutschen Demokratie kaum jemand gerechnet hatte: Die Wahlen von 1983 wiesen einen paradoxen Charakter auf: Einerseits bestätigen sie die neue konservativ-liberale Regierung, andererseits zog mit den Grünen eine Partei ins Parlament, die links von der SPD und in mancher Hinsicht als eine verzögerte Reaktion der 68er-Bewegung zu begreifen ist. Obwohl diese Partei zunächst weder regierungsfähig noch -willig war, bahnte sich Ende der achtziger Jahre auf Bundesebene allmählich ein Zweiblöcke-System an. Die Farben der deutschen Flagge waren somit für das Parteiensystem in der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90 kennzeichnend: schwarz – rot – gold (gelb). „Schwarz“ dominierte, „rot“ konnte zwischen 1969 und 1982 prägend wirken. Und die „Gelben“ waren, wie erwähnt, „die“ Regierungspartei schlechthin, wiewohl nur als Juniorpartner. „Grün“ spielte in den achtziger Jahren auf Bundesebene keine größere Rolle. In Deutschland keimten Ende der achtziger Jahre die Voraussetzungen für ein alternierendes, den Regierungswechsel ermöglichendes Parteiensystem. Durch einen stärker pragmatischen Kurs der Grünen als „vierter Partei“ wurde das „Zwei-plus-zwei-Parteiensystem“26 besser austariert. Aber in dem Moment, in dem diese Partei als koalitionswillig und -fähig erschien, trat durch die Wiedervereinigung ein Wandel ein, der das Vierparteiensystem in Frage zu stellen schien.
25 Vgl. Gordon Smith: West Germany and the Politics of Centrality, in: Government and Opposition 11 (1986), S. 376–407; siehe auch ders.: The German Volkspartei and the Career of the Catch-All Concept, in: Herbert Döring/ders. (Hrsg.): Party Governance and Political Culture in Western Germany, London 1982, S. 59–76. 26 So Tobias Dürr: Bewegung und Beharrung. Deutschlands künftiges Parteiensystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 32–33/2005, S. 31.
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Es wird häufig ein wesentlicher Vorteil des föderalistischen Prinzips für die Parteiendemokratie übersehen. Durch die Regierungsübernahme in den Bundesländern ist die jeweilige parlamentarische Opposition im Bund nicht zur Resignation verurteilt. Das galt anfangs für die SPD, später für die Union. In den Ländern konnte sich die Opposition im Bund erneuern und eventuell dort andere Koalitionen vorbereiten. Die jeweilige Opposition im Bund schnitt bei den Landtagswahlen oft gut ab („Abstrafungseffekt“ für die Hauptregierungspartei). Wer die Ergebnisse nach den Wahlen von 1957 mit Blick auf die beiden damaligen Charakteristika betrachtet, sieht Parallelen und Unterschiede. Die Union erzielte bei allen folgenden Bundestagswahlen klar mehr als 40 Prozent der Stimmen (am besten schnitt sie 1983 mit 48,8 Prozent ab, am schwächsten mit 44,3 Prozent 1987), die SPD kam bei den vier Wahlen zwischen 1969 und 1980 auf über 40 Prozent (mit dem besten Resultat 1972, als sie das einzige Mal – bis zur deutschen Einheit – stärker als die Union wurde: 45,8 versus 44,9 Prozent, wobei zusätzlich die FDP hinter der SPD stand). Das Ergebnis der Union im Jahre 1983 mit 48,8 Prozent ist deutlicher höher einzustufen als das der Union 1976 mit 48,6 Prozent (jeweils unter Helmut Kohl), weil die Partei 1983 die FDP (7,0 Prozent) auf ihrer Seite wusste, während 1976 die Union ohne Koalitionspartner den Wahlkampf bestreiten musste. Die Stimmendifferenz zwischen den beiden größten Parteien lag in jener Zeit 1983 höchstens bei 10,6 Punkten, war also fast doppelt so niedrig wie 1957. V. Wahlen und Parteiensystem seit der deutschen Einheit In einigen Bereichen hat die deutsche Einheit zu fundamentalen Veränderungen auch im Westen des Landes geführt, in anderen eher ein hohes Maß an Kontinuität gezeigt. Was die Wahlen und das Parteiensystem betrifft, so gibt es beides: Kontinuität und Wandel.27 Mittlerweile scheint Wandel Kontinuität zu überlagern. Zunächst schien eine „fast bruchlose Übertragung des westdeutschen Parteiensystems auf die neuen Bundesländer“28 unausweichlich. Die Annahme, noch bestehende Unterschiede würden schnell verschwinden, war weit verbreitet. „Nach einer kurzen Phase der eigenständigen Entwicklung erfolgte in der ehemaligen DDR eine Angleichung an die organisatorische Grundstruktur des westdeutschen Parteiensystems, so dass das gesamtdeutsche Parteiensystem sich in seiner orga27 Vgl. Eckhard Jesse: 60 Jahre Demokratie in Deutschland. Das Parteiensystem zwischen Kontinuität und Wandel, in: ders./Uwe Backes (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 20, Baden-Baden 2009, S. 45–63. 28 Thomas Poguntke: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland: Von Krise zu Krise?, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven (= PVS Sonderheft 39), Wiesbaden 1999, S. 429–439, hier S. 436.
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nisationsstrukturellen Dimension nicht wesentlich von seinem bundesrepublikanischen Vorgänger unterscheidet.“29 Diese – gängige – Diagnose aus der ersten Hälfte der 90er Jahre ist mittlerweile wenig stimmig. Die PDS, die Linkspartei oder die Linke, wie die Partei nach der Vereinigung 2007 mit der WASG heißt, hat sich in einer Weise etabliert, wie das nicht einmal ihre innigsten Anhänger zu hoffen gewagt hätten. Mit Ausnahme der Wahl 2002 hat sie auf Bundesebene beständig an Stimmen zugelegt. Die Motive, diese Partei zu wählen, sind höchst unterschiedlicher Natur. Vor allem kultiviert(e) sie den Ost-West-Gegensatz. Bei den Bundestagswahlen 1994, 1998 und 200230 hätte die PDS beinahe eine regierungsfähige schwarz-gelbe oder rot-grüne Mehrheit verhindert. Mit Hilfe von Überhangmandaten ließ sich jeweils der hauchdünne Vorsprung der Regierungsparteien ausbauen. Im Jahre 1998 hatten SPD und Grüne im Westen wie im Osten zusammen mehr Stimmen als Union und Liberale erreicht. Die Konsequenz: der erste ungefilterte Regierungswechsel auf Bundesebene. Die beiden Regierungsparteien gerieten in die Opposition, die beiden Oppositionsparteien in die Regierung. Erst im Jahr 2005 trat die Blockierung von schwarz-gelb und rot-grün ein. Anders als 1949 kam es nicht zu einem Bündnis einer großen Partei mit zwei kleinen (dieses war nicht möglich, da Grüne und Liberale unterschiedlichen politischen Lagern angehörten), sondern zu einer Großen Koalition. Wäre nur im Westen des Landes gewählt worden, hätte es 2002 und 2005 jeweils zu einer schwarz-gelben Koalition gereicht. Bei allen Bundestagswahlen hatten die SPD und die PDS/Die Linkspartei/Die Linke eine Mehrheit der Mandate in den neuen Bundesländern – abgesehen von der Ausnahmewahl 1990. Hingegen besaßen in den alten Ländern die Union und die FDP eine Mandatsmehrheit – abgesehen von der Wahl 1998. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Sozialisationsbedingte Faktoren (höhere Staatsgläubigkeit im Osten) kommen ebenso in Frage wie situative (höhere Arbeitslosigkeit im Osten).31 Besonders die unterschiedlich starken Präferenzen für die Linke fallen aus dem Rahmen. In den neuen Bundesländern gilt sie vielfach als „normale“, demokratische Kraft. Extremismustheoretische Untersuchungen ergeben ein anderes
29 So Oskar Niedermayer/Richard Stöss: DDR-Regimewandel, Bürgerorientierungen und die Entwicklung des gesamtdeutschen Parteiensystems, in: dies. (Hrsg.): Parteien und Wahlen im Umbruch. Parteiensystem und Wählerverhalten in der ehemaligen DDR und den neuen Bundesländern, Opladen 1994, S. 11. 30 Hätte die PDS bei dieser Wahl ein drittes Direktmandat gewonnen, wäre eine Große Koalition auf Bundesebene unumgänglich gewesen. Beide Volksparteien erreichten 38,5 Prozent. 31 Zusammenfassend Jürgen W. Falter/Oscar W. Gabriel/Hans Rattinger/Harald Schoen (Hrsg.): Sind wir ein Volk? Ost- und Westdeutschland im Vergleich, München 2006.
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Ergebnis.32 Die gewendete Nachfolgepartei der SED konnte nahezu beständige Erfolge auf höherem Niveau in den neuen Bundesländern aufweisen. Schon das war eine Überraschung. Mittlerweile setzt sich der Siegeszug (freilich auf einem deutlich geringeren Niveau) im Westen fort. Als im Jahre 2005 Gerhard Schröder nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen die Flucht nach vorn antrat und den Weg zu Neuwahlen ebnete, förderte er indirekt den Wechsel von Oskar Lafontaine zur WASG, die nach der Hartz IV-Gesetzgebung entstanden war, und deren Bündnis mit der PDS. Bei der Bundestagswahl erreichte die Linkspartei, auf deren Liste auch Repräsentanten der WASG kandidierten, 4,9 Prozent der Stimmen in den alten Ländern. Damit veränderte sich die Zusammensetzung der Wählerschaft, die nun stark aus „Modernisierungsverlierern“ bestand.33 Sollte das Erstarken der Linken im Westen anhalten, könnte dies auf eine Angleichung des Parteiensystems hinauslaufen, und zwar in einer so nicht absehbaren Weise: Der Osten würde dann den Westen verändern. Jedenfalls erscheint für das Parteiensystem die an sich weithin plausible These nicht in jeder Hinsicht stimmig, Berlin sei Bonn, das vereinigte Deutschland eine erweiterte Bundesrepublik. Obwohl sich bei der Bundestagswahl 2009 die Linke, die im Bund für die SPD nicht als regierungsfähig gilt, abermals steigern konnte (auf 11,9 Prozent; Ost: 28,5 Prozent; West: 8,3 Prozent), reichte es für eine regierungsfähige Mehrheit des „bürgerlichen“ Lagers – vor allem deshalb, weil die SPD so massiv abgestürzt ist (von 34,2 auf 23,0 Prozent) und damit fast jeden dritten Wähler verloren hat. Das kommt in gewisser Weise auch einem „Wahlwunder“ gleich. Hatte die erste Große Koalition dem Juniorpartner SPD genützt, so war es diesmal gänzlich anders. Weder gewann sie Stimmen hinzu, noch konnte sie den Wandel der Oppositionspartei FDP in ihrem Sinne begünstigen. Wer die Resultate seit der deutschen Einheit mit 1957 konfrontiert, sieht gravierende Unterschiede. Die Wahlergebnisse nach der deutschen Einheit zeigen für die großen Parteien ein deutlich schlechteres Ergebnis als in den siebziger und achtziger Jahren. Die Union kam nur zweimal über 40 Prozent (1990: 43,8 Prozent; 1994: 41,3 Prozent), die SPD lediglich ein einziges Mal (1998: 40,9 Prozent). Bei der letzten Bundestagswahl erreichten diese beiden Kräfte mit zusammen 56,8 Prozent nicht einmal das Ergebnis der ersten Bundestagswahl (60,2 Prozent), bedingt auch als Folge der Großen Koalition, aber eben nicht 32 Vgl. Jürgen P. Lang: Ist die PDS eine demokratische Partei? Eine extremismustheoretische Untersuchung, Baden-Baden 2004; Viola Neu: Das Janusgesicht der PDS. Wähler und Partei zwischen Demokratie und Extremismus, Baden-Baden 2004; Eckhard Jesse/Jürgen P. Lang: DIE LINKE. Der smarte Extremismus einer deutschen Partei, München 2008. 33 Vgl. Oskar Niedermayer: Die Wählerschaft der Linkspartei.PDS: sozialstruktureller Wandel bei gleich bleibender politischer Positionierung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 37 (2006), S. 523–538.
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nur.34 Die SPD erreichte mit 23 Prozent lediglich die Hälfte ihres besten Ergebnisses aus dem Jahre 1972. Die Union konnte wenigstens ihr schlechtestes Resultat (1949) mit 33,8 Prozent übertreffen. Die Differenz bei dieser Wahl zwischen den beiden Parteien war mit 10,8 Prozent die größte, blieb also klar unter der von 1957. VI. Schlussbetrachtung Das Ergebnis ist eindeutig. Die Bundestagswahl 1957 war eine Ausnahmewahl, keine „kleine Zeitenwende“. Das „Wahlwunder“ wiederholte sich trotz der fortan zunächst steigenden und länger anhaltenden Parteienkonzentration nicht, jedenfalls nicht auf Bundesebene. Wuchs der Stimmenanteil der beiden großen Parteien von 82,0 Prozent 1957 in den nächsten 26 Jahren auf 87,0 Prozent und damit um 5,0 Prozentpunkte, so sank er in den 26 Jahren danach (1983 bis 2009) von 87,0 auf 56,8 Prozent und damit um 30,2 Punkte. Hatte die Union 1983 nur 1,4 Punkte weniger erreicht als 1957, verlor sie in den folgenden 26 Jahren 15 Prozentpunkte. Und hatte die SPD in den 26 Jahren von 1957 zu 1983 ein Plus von 6,4 Punkten zu verzeichnen, so gingen ihre Stimmenanteile ähnlich wie die der Union zurück – um 15,2 Punkte, freilich auf einem deutlich niedrigeren Niveau. Nicht nur diese Größenordnungen zeigen den Unterschied zu heute. Hatte die Union seinerzeit mit der DP und im Prinzip auch mit der FDP Bündnispartner, stand die SPD alleine da. Jetzt verfügt die Union lediglich mit der FDP über einen Koalitionspartner, während die Grünen der SPD näherstehen und die Linke im Bund (noch) nicht in das Koalitionsgefüge einbezogen ist. Aber Wandlungen sind schnell möglich. Insgesamt hat sich das Parteiensystem in den letzten 50 Jahren nach links verschoben. Das „Wahlwunder“ von 1957 war damit ebenso eine Ausnahme wie die riesige Differenz von 18,4 Prozentpunkten zwischen der stärksten und der zweitstärksten Partei. Insofern ist die These von der Zäsur mit Blick auf diese beiden Aspekte nicht haltbar. Die seinerzeitigen Extremwerte erklären sich durch eine besondere Konstellation. Die Union stand 1957 mit ihrem außen- und wirtschaftspolitischen Kurs unter dem populären Konrad Adenauer – der unbedingten Westbindung und der Ausrichtung an der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards – gegenüber der Konkurrenz unter ihrem eher farblosen Vorsitzenden Erich Ollenhauer ungefährdet da. Die SPD wollte bescheiden bloß die absolute Mehrheit der Union brechen wie die uneinige FDP, die aufgrund ihrer fehlenden Koalitionsaussage (zu34 Wer die niedrige Wahlbeteiligungsrate berücksichtigt (die „Partei der Nichtwähler“ war die stärkste Kraft), kommt zu einem noch schlechteren Ergebnis. Erreichten die beiden Parteien 1972 und 1976 jeweils mehr als 80 Prozent der Wahlberechtigten, so kamen sie diesmal nicht einmal auf 40 Prozent.
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gunsten der Union) die eigenen Chancen stark geschmälert hatte. Und schließlich: Adenauer „klotzte“ im Wahlkampf, wie das folgende Zitat belegt: „Wir sind fest entschlossen, dass die SPD niemals an die Macht kommt. Warum sind wir dazu fest entschlossen? Nicht etwa – glauben Sie mir das – aus parteipolitischem Hass. Das ist nicht der Grund, sondern wir sind dazu so fest und zutiefst entschlossen, weil wir glauben, dass mit einem Sieg der Sozialdemokratischen Partei der Untergang Deutschlands verknüpft ist.“35 Entstand als Folge des Wahlausgangs 1957 eine „übergroße“ Koalition (aus Union und DP), so unterbliebe heute eine derartige Konstellation. Konsens ist: Eine Partei, die alleine die Mehrheit der Mandate besitzt, muss alleine regieren. Diese Konsequenz der gestiegenen Konfliktbereitschaft verdient eine positive Würdigung, nicht die Polarisierung ohne Substanz, wie sie aus dem Adenauer-Zitat spricht. Allerdings: Das „Wahldebakel“ der SPD von 1957 löste (trotz gewisser Gewinne gegenüber 1953) eine Zäsur aus. In der Folge setzte durch die von Dolf Sternberger erwähnte „Einsicht in die Niederlage“ ein fundamentaler Wandel ein, der 1959 zum Godesberger Programm geführt hat (die SPD schüttelte ideologischen Ballast ab)36, bald – 1960 – zur Akzeptanz der außenpolitischen Realitäten und über die „Wendejahre“37 in der ersten Großen Koalition schließlich zur Kanzlerschaft Willy Brandts. Seit über 50 Jahren hat Deutschland zwei Volksparteien. Auch wenn beide Kräfte bei den letzten beiden Bundestagswahlen nicht nur Stimmen38, sondern auch seit zwei Jahrzehnten Mitglieder39 verlieren (die Sozialdemokraten mehr als die Unionsdemokraten), ist das Ende des Modells der Volkspartei keineswegs ausgemacht. Gleichwohl: Krisensymptome grassieren. So hat die Große Koalition den großen Parteien nicht gut getan. Neben aktuellen gibt es prinzipielle Ursachen, etwa die Erosion der herkömmlichen Milieus, die mit einem Auflösen alter Konfliktlinien verbunden ist.40 35 Zitiert nach Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik. 1949–1957, Stuttgart/Wiesbaden 1981, S. 368. 36 Vgl. Kurt Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945–1965, Bonn 1996. 37 Vgl. Klaus Schönhoven: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966–1969, Bonn 2004. 38 Vgl. Eckhard Jesse: Die Schwäche der Volksparteien bei den Bundestagswahlen 2009, in: Zeitschrift für Politik 56 (2009), S. 397–408. 39 Vgl. Oskar Niedermayer: Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften von 1990 bis 2009, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 41 (2010), S. 421–437. 40 Vgl. aus unterschiedlicher Sicht: Hans Herbert von Arnim: Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009; Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.): Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft? Konzepte, Konkurrenzen und Konstellationen, Freiburg/Brsg. 2009; Antonius Liedhegener/Torsten Oppelland (Hrsg.): Parteiendemokratie in der Bewährung. Festschrift für Karl Schmitt, Baden-Baden 2009; Franz Walter: Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld 2009; Jürgen Rüttgers (Hrsg.): Berlin ist nicht Weimar. Zur Zukunft der Volksparteien, Essen 2009.
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Eckhard Jesse
Was Dolf Sternberger 1957 angemahnt hat, das Zweiparteiensystem dürfe nicht hinken, hat in modifizierter Form heute ebenso zu gelten. Die eine wie die andere große Partei muss eine realistische Chance haben, den Kanzler zu stellen – sei es in einer lagerinternen, sei es in einer lagerübergreifenden Koalition. Die absolute Mehrheit einer Partei wie 1957 steht nicht zur Debatte.41 Die strukturellen Bedingungen tragen zur Auffächerung, nicht zu einer Konzentration des Parteiensystems bei, begünstigen erst recht keine Einparteienregierung.
41 Selbst in den Bundesländern gibt es keine Mehrheiten für eine Partei. Nur in Rheinland-Pfalz besteht eine Einparteienregierung (2006 erzielte die SPD 45,6 Prozent der Stimmen). Vgl. Kerstin Völkl/Kai-Uwe Schnapp/Everhard Holtmann/Oscar W. Gabriel (Hrsg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, BadenBaden 2008; Uwe Jan/Melanie Haas/Oskar Niedermayer (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008.
Niederlage und Neubeginn Herbert Wehner und die SPD 1957 Von Christoph Meyer I. Einleitung Was bedeutet das Jahr 1957 in der Geschichte der bundesdeutschen Sozialdemokratie? Vordergründig markiert es keine Zäsur. Das Jahr brachte, nach 1949 und 1953, die dritte Wahlniederlage in Folge gegen Konrad Adenauer. Nach solchen Debakeln heißt es in der davon betroffenen Partei häufig: „So kann es nicht weitergehen.“ Doch der Ruf nach Reform bedeutet nicht unbedingt, dass es tatsächlich zu einer tiefgreifenden und nachhaltigen Erneuerung kommt. Bezogen auf die damalige SPD war dies jedoch der Fall, und das lag nicht zuletzt an Herbert Wehner (1906–1990), der infolge und nach der Bundestagswahl von 1957 zum führenden Reformer der SPD avancierte. Insofern liegt es nahe, die sozialdemokratische Geschichte des Jahres 1957 in der Person Herbert Wehner zu spiegeln, auch wenn dieses Jahr nicht die bedeutendste Zäsur in seinem bewegten Leben brachte. Denn es gibt tiefere Einschnitte in dieser Biographie: 1923 etwa, das Jahr in dem er politisch zunächst in der Sozialdemokratie aktiv wurde und ihr noch im Herbst den Rücken kehrte. 1927, als er vom Anarchismus zum Parteikommunismus wechselte, oder auch 1931, als er seine sächsische Heimat verließ und in den Berliner Apparat der stalinistischen KPD ging. Natürlich das Jahr 1942, als Wehner in schwedischer Haft innerlich, 1946, als er mit dem Beitritt zur SPD auch nach außen sichtbar organisatorisch mit dem Kommunismus brach, und 1949 sein Einzug in den Bonner Bundestag als direkt gewählter SPD-Parlamentarier und Vorsitzender des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen. Zu nennen sind ferner 1958, das Jahr, in dem er auf dem Stuttgarter Parteitag zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt wurde, 1960, als er mit seiner außenpolitischen Rede am 30. Juni die Beziehungen zwischen den Parteien der Bundesrepublik auf eine gemeinsame Grundlage stellte, folgerichtig 1966 der Eintritt in die Große Koalition als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, am Anfang der sozialliberalen Ära 1969 das Amt des Fraktionsvorsitzenden und schließlich nach deren Ende 1983 sein Ausscheiden aus dem Bundestag und der krankheitsbedingte Rückzug aus der Politik.1 1 Vgl. Christoph Meyer: Herbert Wehner. Biographie, München 2006. Zur wissenschaftlichen Literatur zu Wehner siehe auch Wayne C. Thompson: The Political Odys-
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Nach 1957 fallen die Zäsuren in Herbert Wehners Leben zunehmend mit denjenigen in der Geschichte der SPD und der Bundesrepublik Deutschland zusammen. So ist 1957 eben doch ein Jahr der Weichenstellungen auch für seinen weiteren politischen Weg. Mit der Niederlage bei den Bundestagswahlen von 1957 wurde für die SPD nämlich klar, dass Personal, Struktur und inhaltliche Vorstellungen der Arbeiterpartei, welche – so Wehner – „noch vielfach den Überlieferungen aus der Zeit von 1933“ entsprachen, „auf neue Arbeitsgrundlagen“ gestellt werden mussten.2 Den Durchbruch schafften die Reformer mit Wehner in der Spitze dann auf dem Stuttgarter Parteitag im Mai 1958. Wenn die Entwicklung der Sozialdemokratie im Jahr 1957 hier im Zusammenhang der Biographie Wehners gespiegelt wird, ergeben sich für das entstehende Bild aus seiner Stellung im politischen Gefüge von Partei und Parlament sowohl Einschränkungen als auch Schwerpunkte. Entscheidend waren Wehners Positionen auf dem Gebiet der Außen-, Europa- und Deutschlandpolitik, denn dort war der „gesamtdeutsche“ Ausschussvorsitzende und Vorsitzende des Fraktionsarbeitskreises Außenpolitik führend. Mit diesen Themen befasste Wehner sich intensiv, zu ihnen schrieb er zahlreiche Aufsätze, Redeentwürfe, Zeitungsartikel – und zu diesen Themen hielt er seine Bundestagsreden. Die Gesellschaftspolitik, Wirtschaft und Soziales waren nicht Wehners Spezialthemen. Er setzte sich gleichwohl mit ihnen auseinander – beispielsweise als Wahlkampfredner. Aber es war nicht Herbert Wehner, der die Positionen der SPD auf diesem Gebiet entwickelte. Dazu und zu eingehenderen Überlegungen zum Aufbau und zur Programmatik seiner Partei kam er intensiv erst nach der Wahlniederlage des September 1957.
sey of Herbert Wehner, Boulder 1993; August H. Leugers-Scherzberg: Die Wandlungen des Herbert Wehner. Von der Volksfront zur Großen Koalition, Berlin 2002; zur SPD jener Zeit nach wie vor das Standardwerk von Kurt Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1982, Bonn 1996. Eine knappe aktuelle Darstellung bietet Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007. Von den Biografien sozialdemokratischer Politiker sind die umfassenden Arbeiten von Hartmut Soell instruktiv: Fritz Erler – Eine politische Biographie, 2 Bde., Berlin 1976; ders.: Helmut Schmidt. 1918–1969. Vernunft und Leidenschaft, München 2003; weiterhin lesenswert aber mit Schwächen behaftet sind Peter Merseburger: Willy Brandt. 1913– 1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002 sowie Petra Weber: Carlo Schmid 1876– 1979. Eine Biographie, München 1996. Eine zufriedenstellende Ollenhauer-Biografie fehlt. 2 Herbert-Wehner-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (fortan: HWA), Mappe „Ältestenrat Abg. Jahn“. SPD-Bundestagsfraktion/Pressestelle: Pressemitteilung vom 27.11.1957.
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II. Ausgangsposition: Außenpolitische Auseinandersetzung mit Adenauer Für den Bonner Politiker Herbert Wehner gilt: Am Anfang stand die Auseinandersetzung mit Adenauer. Denn zu seiner Zeit bestimmte in der Bundesrepublik der Kanzler die Richtlinien der Politik. Und dieser legte sein Schwergewicht auf die Außenpolitik, die für ihn in erster Linie Westpolitik war. Dagegen opponierten die SPD und Wehner, denn für sie galten zwar nicht andere Grundorientierungen, aber andere Prioritäten. Dabei blieben sie stets konstruktiv. Es war Kurt Schumacher, der gleich zu Beginn des Parlamentarismus in der Bundesrepublik das sozialdemokratische Grundverständnis von Oppositionspolitik festgelegt hatte: „Das Wesen der Opposition ist der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen.“3 Herbert Wehner, von Anfang an Mitglied im SPD-Fraktionsvorstand und auf dem Gebiet der Außen- und Deutschlandpolitik nach Schumacher der wichtigste Gegenspieler Adenauers, bemühte sich konsequent, diesen Satz umzusetzen. Vereinfacht lässt sich der Gegensatz zwischen Adenauer und Wehner folgendermaßen zuspitzen: Beide wollten Wiedervereinigung und Westbindung. Der rheinländische Kanzler stellte die Wiedervereinigung unter den Vorbehalt der Westbindung. Der Oppositionspolitiker aus Sachsen stellte die Westbindung unter den Vorbehalt der Wiedervereinigung. Im Januar 1957 betonte Herbert Wehner diese Position in einer scharf geführten Bundestagsdebatte. Er sagte, die Sozialdemokratie habe sich „nie für Schutzlosigkeit oder gegen Sicherheit ausgesprochen“. Allerdings sei die SPD stets für „den Vorrang von Wiedervereinigungsverhandlungen vor militärischen Bindungen“.4 Der konservativen Regierung warf er vor, sie lasse ernst gemeinte Initiativen vermissen. Wehner war stets fieberhaft auf der Suche nach neuen Ansätzen, um mit den Westalliierten und der Sowjetunion ins Gespräch zu kommen, sei es über ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem, über die Einschaltung der Vereinten Nationen, über wirtschaftliche Zusammenarbeit oder humanitäre Erleichterungen. Hoffnung auf Wiedervereinigung, meinte er, gebe es nur, wenn an die Stelle der Blöcke ein Sicherheitssystem trete und die innere Entwicklung beider Teile Deutschlands zum Abbau des Kalten Krieges und zu einer Annäherung führe.5
3 Deutscher Bundestag (BT), Stenographische Berichte (Sten. Ber.), 1. Wahlperiode (WP), 6. Sitzung, 21.9.1949, S. 32. 4 BT, Sten. Ber., 2. WP, 188. Sitzung, Bonn, 31.1.1957, S. 10702. 5 Vgl. Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, Dresden (HGWS), EA 11-041. Hs. Notizen zur Falken-Tagung am 27.1.1957 in Frankfurt am Main.
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Wehner nutzte jede Gelegenheit, um die Bundesregierung öffentlich zur Aktivität aufzufordern. Als der Sender Freies Berlin ihn im Februar 1957 bat, Stellung zum Antritt Andrej Gromykos als neuer Außenminister der Sowjetunion zu nehmen, verband er seinen Kommentar im Rundfunk mit der Aufforderung, sich um normale Beziehungen zu bemühen. Er fragte: „Wer in aller Welt soll denn eigentlich herausfinden, ob und inwieweit die Sowjetregierung bereit ist, in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands mit sich reden zu lassen, wenn wir Deutschen, das heißt wenn die Bundesregierung sich nicht der Mühe unterziehen will, solche Sondierungen vorzunehmen?“6 Der Regierung Adenauer warf Wehner immer wieder vor, sie habe mit ihrer verfehlten „Politik der Stärke“ darauf gesetzt, dass die Eingliederung der Bundesrepublik in die NATO die Sowjetunion zum Nachgeben zwingen werde. Das Gegenteil sei der Fall. Die NATO-Zugehörigkeit führe zur „Fortdauer der Einschmelzung“ der DDR in den Warschauer Pakt. Die Wiedervereinigungspolitik der Bundesrepublik beruhe auf zwei Dogmen, nämlich dass es vor der Wiedervereinigung keine Abrüstung oder Entspannung geben dürfe und dass die „Nichtzurkenntnisnahme“ der DDR eine „Hauptaufgabe“ sei, „sogar um den Preis der Vernachlässigung innerdeutscher menschlicher Beziehungen“. Diese Politik vertiefe die deutsche Spaltung und verschärfe die mit dem atomaren Wettrüsten verbundenen Gefahren.7 Im Herbst 1956 waren die osteuropäischen Verhältnisse in Bewegung geraten. In Polen erzwangen streikende Arbeiter einen Wechsel in der kommunistischen Führung, und in Ungarn jagte ein Volksaufstand die Regierung aus dem Amt. Wehner war im Oktober überzeugt, Polen und Ungarn seien nun keine Satelliten mehr.8 Die Ereignisse in Ungarn zeigten, wie lähmend sich der Stalinismus ausgewirkt habe und wie viel Explosionskraft sich dabei aufgestaut hatte.9 Als der ungarische Aufstand im November durch die Rote Armee blutig unterdrückt wurde und gleichzeitig England und Frankreich einen Kolonialkrieg mit Ägypten um den Suezkanal riskierten, reagierte Wehner betroffen. Auf einer SPD-Delegiertenversammlung in Hamburg sagte er, der Gedanke des Sozialismus sei im Osten mit Blut befleckt und die moralische Sauberkeit im Westen durch Gewalt beschmutzt worden. Jetzt gehe es darum, klarzustellen, dass keine Regierung ein Faustrecht ausüben dürfe. Machtblöcke und „jede Politik durch Machtblöcke“ seien als überholt anzusehen. Wehner folgerte: „Unsere Aufgabe ist, Platz zu schaffen für ein neues Partnerschaftsverhältnis. Dabei dürfen wir uns nicht den 6 HGWS-EA 08-067. Pressestelle SPD-Bundestagsfraktion vom 16.2.1957: Wehner im Sender Freies Berlin. 7 HGWS-EA 12-028. Hs. Redenotizen für Wahlversammlungen zur Bundestagswahl 1957 (undatiert). 8 Vgl. HGWS-EA 05. ppp-Meldung vom 29.10.1956: Moskau muss die Konsequenzen ziehen. 9 Vgl. Herbert Wehner: Der Vulkanausbruch in Ungarn, in: Vorwärts vom 2.11.1956.
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Blick durch den Vorhang von Blut vernebeln lassen.“ Deutschlands Aufgabe in der Mitte Europas sei es, Brücken zu schlagen anstatt sich als Kreuzzügler aufzuspielen.10 Herbert Wehner gehörte zu den entschiedenen Kritikern der sowjetischen Intervention in Ungarn. Er begrüßte den Beschluss der UN-Vollversammlung von Dezember 1956, wonach die Sowjetregierung „durch ihre Handlungen Ungarn seiner Freiheit und Unabhängigkeit beraubt und das ungarische Volk an der Ausübung seiner Grundrechte hindert“. Er unterstützte die Forderung nach einem Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Land und forderte, die Vereinten Nationen gegenüber der Sowjetunion zu stärken.11 Dass Wehner aber den Einmarsch der Sowjets nicht zum Anlass nahm, die Bemühungen um eine Entspannung des Ost-West-Konflikts abzubrechen, brachte ihm die scharfe Kritik des AdenauerLagers in der deutschen Publizistik ein. Der „Rheinische Merkur“ schrieb im Februar 1957: „Auch zehntausend Wehner werden uns nicht einreden können, dass der Kreml für sein Massaker in Ungarn mit der Auflösung der NATO belohnt werden müsse.“12 Der Autor dieser Zeilen, Paul Wilhelm Wenger, pflegte seit Jahren vor dem „Saulus“ bzw. „roten Odysseus“ Herbert Wehner zu warnen. Er spitzte die Auseinandersetzung des Jahres 1957 auf die einfache Alternative zu: Entweder ein „wohlbestelltes Haus für jede Familie im Schutze eines Staates, der seinen Beitrag zum Frieden im Verband der freien Welt zu leisten gewillt ist, oder Einstampfung im roten Block des Bolschewismus“13. Im Bundestagswahljahr ließ die Adenauer-Propaganda kaum differenzierte und differenzierende, einer Lösung des Ost-West-Konflikts verpflichtete Vorschläge zu. III. Wehners Politik der kleinen Schritte Dies galt auch für das deutsch-deutsche Verhältnis. Die Entstalinisierung in der Sowjetunion im Gefolge des XX. Parteitags im Februar 1956 hatte Wehner aufmerksam zur Kenntnis genommen. Da die Besetzung der Führungspositionen unverändert blieb, war er jedoch nicht enthusiastisch. Negativ fiel sein Urteil über die SED-Führung in Ost-Berlin aus. Walter Ulbricht war vom Moskauer Parteitag wie selbstverständlich als Kritiker Stalins zurückgekehrt, sah jedoch keinerlei Anlass zur Selbstkritik. Wehner stellte fest, die Abkehr der DDR vom Stalin-Mythos sei lediglich sprachlicher Natur. Ansonsten wolle die SED-Füh10
Das Faustrecht darf nicht siegen, in: Hamburger Echo vom 12.11.1956. Herbert Wehner: Die Sicherung des Friedens, in: Der Sozialdemokrat, Januar 1957, S. 3 f. 12 Paul-Wilhelm Wenger: Der brave Ollenhauer, in: Rheinischer Merkur vom 15.2. 1957. 13 Ders.: Wider den Defaitismus, in: Rheinischer Merkur vom 17.5.1957. 11
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rung an ihrer bisherigen Politik festhalten. Das Regime, so lautete Wehners Überzeugung, lebe im inneren Widerspruch; es sei ein „Naturschutzpark aus sowjetischen Gnaden“. Dennoch müsse man sich „mit dem Kommunismus aktiv auseinandersetzen“, und zwar im sozialen, im menschlichen und im politischen Bereich14. Wehner hatte im Frühjahr 1956 zwei blockfreie Länder bereist, ein westliches und ein östliches, Schweden und Jugoslawien. Zwischen beiden Ländern sah er Berührungspunkte, und er schrieb ihnen einen Modellcharakter für eine wünschenswerte Entwicklung in Deutschland zu. Dabei dachte er sich das schwedische Modell als Vorbild für die Bundesrepublik, das jugoslawische als Beispiel für die DDR. Am Ende sollten beide Teile Deutschlands eine gemeinsame neue Ebene finden. Dabei brauche die Bundesrepublik die Konfrontation mit dem Kommunismus nicht zu scheuen, denn sie sei allein schon durch ihre wirtschaftliche Stärke und ihre Menschenzahl deutlich im Vorteil. Die SPD-Wochenzeitung „Vorwärts“ machte 1956/57 nahezu wöchentlich mit einem Beitrag von Herbert Wehner auf der Titelseite auf. So schrieb er im August 1956, Verbesserungen in der Lebenshaltung für die DDR-Bevölkerung seien wünschenswert. Aber das SED-Regime sei in Dogmen erstarrt. Es versage den Menschen die staatsbürgerliche und persönliche Freiheit. Die Staatspartei sei Statthalterin einer auswärtigen Macht und daher „kein Partner in der deutschen Politik“.15 Ulbricht, so charakterisierte ihn Wehner im Juli 1957 in der „Zeit“, sei der für den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands „maßgebende Ausleger und Durchführer der jeweiligen Moskauer Linie“, dabei „bienenfleißig und äußerst systematisch, seine körperlichen Kräfte nie schonend, die Funktionäre ständig in Angst haltend vor der Allgegenwart seiner Berichterstatter und vor der Härte seiner sägenden Kritik“. Wehner warnte allerdings davor, ihn zu überschätzen: „Walter Ulbricht und sein System wären kein Problem für Deutschland, wenn wir den Mut hätten, ihn in einem geeinten Deutschland demokratisch zu ,verdauen‘“.16 Wehner setzte sich jedoch für Kontakte zur DDR unterhalb der Ebene eines offiziellen politischen Dialogs ein. Sein wichtigstes deutsch-deutsches Projekt um die Jahreswende 1956/57 war das Bemühen um eine beiderseitige Amnestie von politischen Gefangenen. Das Bundesverfassungsgericht hatte 1956 auf Antrag der Bundesregierung die KPD verboten. Eine Folge dieser und anderer repressiver Maßnahmen von Staat und Justiz gegen linksextreme Organisationen und Personen war, dass eine größere Anzahl als „Rädelsführer und Hintermänner“ verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Im Herbst 1956 ging die Zahl der Verfahren wegen Hochverrats und politischer Organisationsvergehen in 14 15 16
Vgl. Meyer: Herbert Wehner (Anm. 1), S. 190 f. Herbert Wehner: Die neue Perspektive der SED, in: Vorwärts vom 10.8.1956. Ders.: Der Techniker verliehener Macht, in: Die Zeit vom 18.7.1957.
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die Tausende. Wehner schlug vor, ein Straffreiheitsgesetz zu verabschieden, um damit „einen Beitrag zur Entspannung in dem Sinne zu leisten, dass die Freilassung politischer Gefangener“ in der DDR „dadurch erleichtert werden soll. Das ist der einzige Zweck.“ Der Bundestagsausschuss für gesamtdeutsche Fragen unter seinem Vorsitz empfahl einstimmig einen solchen Gesetzentwurf. Der bei der Sitzung anwesende zuständige Bundesminister Jakob Kaiser (CDU) bat die Abgeordneten nur darum, sich mit öffentlichen Äußerungen zurückzuhalten und den Erfolg seiner Bemühungen im Kabinett „mit Zuversicht abzuwarten“.17 Der gesamtdeutsche Ausschuss ging im Dezember 1956 von mehr als 13.000 politischen Gefangenen in der DDR aus18. Darunter waren auch Aufständische des 17. Juni 1953. Minister und Ausschussvorsitzender wollten das Straffreiheitsgesetz gemeinsam auf den Weg bringen und sich nicht auf Kosten der Häftlinge profilieren. Politische Entspannung gegen menschliche Erleichterungen, das war schon in den fünfziger Jahren Wehners deutschlandpolitisches Rezept. Es handelte sich um eine Politik der kleinen Schritte avant la lettre – aber nur knapp.19 Kaisers Zuversicht, dass die Bundesregierung dem Gesetzentwurf zustimmen werde, sollte sich als unberechtigt erweisen. Im Kabinett sprachen vor allem Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) und Konrad Adenauer dagegen. Der Innenminister befürchtete eine Entmutigung der Polizei bei der „Bekämpfung kommunistischer Umtriebe“. Adenauer meinte, eine solche Straffreiheit könne im Ausland „als Verrat an der Freiheit angesehen werden“.20 Am 4. April 1957 kam es im Bundestag zum Eklat. Innenminister Schröder betonte in der Debatte, ein Amnestiegesetz wäre ein falsches Signal. Ganz in der Sprache des Kalten Krieges behauptete er: „Ein falsches Verhalten an den obersten Führungsstellen hat leicht eine verheerende Wirkung auf die Pflichttreue des kleinen Mannes ,an der Front‘.“ Schröder unterstellte, die in der Bundesrepublik entstandenen Bemühungen, Initiativen und Amnestieausschüsse seien durch die SED gesteuert.21 Hierauf nahm Wehner Bezug, als er in seinem Beitrag zur sel-
17 Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags, Berlin (PA), Ausschuß für gesamtdeutsche und Berliner Fragen (AfguBF), 2. WP, Protokoll der 65. Sitzung am 11.10. 1956. 18 Vgl. HGWS-EA 05. PPP Nr. 246 vom 20.12.1956, Nr. 1: „Über 13.000 politische Häftlinge in Pankows Zuchthäusern“. 19 Die Begriffe „Neue Ostpolitik“ und „Politik der kleinen Schritte“ wurden 1958 von Wilhelm Wolfgang Schütz im Kuratorium Unteilbares Deutschland geprägt; an den hierfür entscheidenden Diskussionen im Februar des Jahres war Herbert Wehner beteiligt – vgl. Christoph Meyer: Die deutschlandpolitische Doppelstrategie. Wilhelm Wolfgang Schütz und das Kuratorium Unteilbares Deutschland (1954–1972), Landsberg am Lech 1997, S. 104 f. 20 158. Kabinettssitzung am 24. Oktober 1956 TOP 4 („Kabinettsprotokolle der Bundesregierung“ online). 21 BT, Sten. Ber., 2. WP, 201. Sitzung, 4.4.1957, S. 11432 f.
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ben Debatte sagte: „Man könnte beinahe an die Konstruktionen des Anklägers Wyschinski denken, vom Format abgesehen, wenn man das hier sieht.“22 Es folgten „Pfui“-Rufe und heftige Angriffe gegen Wehner seitens der Union. Die CDU-Abgeordneten verließen protestierend den Saal.23 Als Schröder später zur Gegenrede ansetzte und empfahl, dass Wehner nicht „in einer so geradezu gespenstischen Weise die Schatten seiner Vergangenheit beschwören sollte“, antwortete die CDU/CSU-Fraktion mit stürmischem Beifall. Dagegen gab es aus der SPD Zurufe wie „Sie haben heute noch die geistigen SA-Stiefel an!“.24 ,Die Presse berichtete, der Bundestag habe „minutenlang einem tobenden Hexenkessel“ geglichen. „Rasender Beifall von der CDU begegnete tobenden Pfuirufen der SPD. Abgeordnete der hinteren Bänke marschierten mit drohenden Fäusten aufeinander zu. Ergraute Abgeordnete brüllten einander an.“25 Die „Frankfurter Rundschau“ bezeichnete die Versuche der CDU, Stimmung gegen Wehner und die SPD zu machen, als „eine der übelsten Episoden der Geschichte unseres jungen Staates“.26 Der Vorstand der CDU/CSU-Fraktion beschloss, in der nächsten Sitzung des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen einen Misstrauensantrag gegen den Vorsitzenden Wehner zu stellen.27 Dieser jedoch berief, entgegen der ursprünglichen Planung des Ausschusses, vor den Wahlen keine Sitzung mehr ein.28 Erich Ollenhauer gab am Tag nach dem Zwischenfall mit Schröder eine Ehrenerklärung ab: „Wehner besitzt auch mein volles Vertrauen“.29 Damit bezog er sich auf die aktuellen Vorkommnisse, meinte aber in erster Linie den Versuch von Kreisen in der CDU/CSU, den Ruf Wehners und der SPD durch eine Kampagne zu seiner kommunistischen Vergangenheit zu schädigen. Die heftigen Tumulte im Bundestag sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen. IV. Wehner als Staatsfeind? – Die Dagens-Nyheter-Kampagne Die CDU hatte schon zur Wahl von 1953 und dann wieder Anfang 1955 versucht, Wehner wegen seiner kommunistischen Vergangenheit an den Pranger zu 22
Ebd., S. 11457. Vgl. Krach um Wehner, in: Abendpost (Frankfurt am Main) vom 5.4.1957. 24 BT, Sten. Ber., 2. WP, 201. Sitzung, 4.4.1957, S. 11461. 25 Krach um Wehner (Anm. 23). 26 Hans Henrich: Die Temperatur steigt, in: Frankfurter Rundschau vom 6.4.1957. 27 Vgl. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1953– 1957, bearb. von Helge Heidemeyer, Zweiter Halbband 1956–1957, Düsseldorf 2003 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 4. Reihe, Bd. 11/II), S. 1463. 28 Vgl. PA, AfguBF, 2. WP, Kurzprotokoll der 75. Sitzung am 3.4.1957 – dies ist das letzte Protokoll in dieser Wahlperiode. 29 Nur haltlose Verdächtigungen, in: Westfälische Rundschau vom 5.4.1957. 23
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stellen.30 Dazu bot sich im Frühjahr 1957 eine neue Gelegenheit. Der Anlass fand sich in Schweden. Anfang März protestierte die sowjetische Regierung beim schwedischen Botschafter, es seien mehr als zwei Dutzend schwedische Agenten auf sowjetischem Boden aktiv.31 Um von diesen Vorwürfen abzulenken, griff die schwedische Presse auf eine alte, aus Entstellungen und Halbwahrheiten zusammengebastelte Geschichte zurück: Am 9. März 1957 titelte die liberale Zeitung „Dagens Nyheter“: „Seekommandohaus war russisches Agentennest“. Dort, in der Stockholmer Blekingegatan 63, habe während des Zweiten Weltkriegs der „Sowjetspion“ Herbert Wehner den schwedischen Nachrichtendienst der Komintern geleitet.32 Ohne zu zögern startete der bundesdeutsche Regierungsapparat seine Kampagne gegen Wehner. Noch am gleichen Tag leitete die deutsche Botschaft eine Übersetzung des schwedischen Artikels weiter an das Auswärtige Amt in Bonn. Das Papier erhielt den Vermerk „Dem Herrn Bundeskanzler vorzulegen.“33 Wenige Tage später versorgte das Bundespresseamt die Journalisten in Bonn mit Auszügen, und Will Rasner, der Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, las daraus in einer Pressekonferenz vor. Die CDU, so sagte er, wolle augenblicklich nicht Stellung nehmen34. Am 13. März hieß es in einer Mitteilung des CDUPressedienstes: „Mit großer Bestürzung hat die deutsche Öffentlichkeit von einem Bericht der schwedischen Zeitung ,Dagens Nyheter‘ Kenntnis nehmen müssen (. . .)“. Man sei überzeugt, die SPD werde alles tun, „um diesen Fall restlos aufzuklären“.35 In einer detaillierten Darstellung widersprach Wehner den Vorwürfen: „Ich war nie ,Sowjetspion‘ und ich habe niemals einen ,schwedischen Nachrichtendienst der Komintern‘ oder irgendeinen anderen Nachrichtendienst der Komintern geleitet.“36 Der Parteivorstand der SPD wies die Behauptungen am 13. März „entschieden“ zurück.37 Rasner meinte scheinheilig dazu: „Niemand wäre befriedig30
Vgl. zu 1955 HWA-1/HWAA000978. Vermerk „Et/26.1.1955“. Vgl. HGWS-DU 01. Abschrift einer Pressemitteilung des schwedischen Außenministeriums vom 7.3.1957. 32 „Sjökomandohuset“ var rysk spionbas. Avslöjad under kriget, in: Dagens Nyheter vom 9.3.1957. 33 Bundesarchiv Koblenz (BA), B 136 Bundeskanzleramt (BKA), Nr. 4534. Fernschreiben von „Siegfried“ aus Stockholm an das Auswärtige Amt vom 9.3.1957. 34 Vgl. War prominentes SPD-Mitglied im Kriege Sowjet-Spion?, in: Abendpost (Frankfurt am Main) vom 13.3.1957. 35 HGWS-DU 07. Deutschland-Union-Dienst Bonn vom 13.3.1957. 36 Herbert Wehner: Erklärung zu einer Veröffentlichung der Zeitung „Dagens Nyheter“, Bonn, am 11. März 1957, in: ders.: Zeugnis. Persönliche Notizen 1929–1942, hrsg. von Gerhard Jahn, Lizenzausgabe für die DDR Halle-Leipzig 1990, S. 285–298, S. 286; Original in HGWS-DU 16. 37 HGWS-DU 14. SPD-Pressedienst vom 13.3.1957: Erklärung des Parteivorstandes der SPD zu den Verdächtigungen gegen Herbert Wehner, MdB. 31
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ter als die CDU/CSU-Fraktion, wenn sich die Meldung von ,Dagens Nyheter‘ als absolute Erfindung erwiese.“38 Die schwedische Zeitung räumte am 15. März in einem Leitartikel ein, der Begriff „Sowjetspion“ könne zu Missverständnissen führen, denn: „Wehners Absicht war es ausschließlich, gegen das nazistische Deutschland zu kämpfen.“39 Das halbe Dementi hinderte die einmal angestachelte CDU-nahe Presse jedoch nicht daran, sich weiter lang und breit mit dem „Fall“ zu beschäftigen.40 Es gab in der Union auch besonnene Stimmen. So sprach sich der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestages für eine Ehrenerklärung des Bundestagspräsidenten Gerstenmaier zugunsten von Wehner aus.41 Die CDU/CSU-Fraktion jedoch verhinderte diese Erklärung. Die Geschäftsordnung gebe das nicht her. Die Klärung der Angelegenheit sei ausschließlich Sache Wehners und seiner Fraktion.42 Regierung und Regierungsfraktion hatten den Ruf Wehners und der SPD geschädigt. Für die Folgen sollten die Geschädigten selbst aufkommen. Herbert Wehner hatte Mitte März 1957 zunächst beabsichtigt, die „Notizen“ aus dem schwedischen Exil von 1946, in denen er seine Erfahrungen mit dem Kommunismus geschildert hatte, als Buch zu veröffentlichen. Als er dabei jedoch auf Schwierigkeiten43 stieß, schritt er statt dessen zur Selbsthilfe. Zu Hunderten vervielfältigten Wehners Frau Lotte und ihre Tochter Greta die 200 Seiten „Notizen“ zusammen mit einer Reihe von Erklärungen zu den aktuellen Vorwürfen. Es entstand die sogenannte „Graue Mappe“, die Mitte März an zahlreiche Politiker, Journalisten und Redaktionen ging. Dass er das Buchprojekt im Früh38 39
Wehner weist schwedischen Angriff zurück, in: Der Tagesspiegel vom 14.3.1957. „Olovlig underrättelseverksamhet“, in: Dagens Nyheter vom 15.3.1957, Übers. d.
Verf. 40 Vgl. z. B. Die Aktenaussage zum „Fall Wehner“, in: Kölnische Rundschau vom 16.3.1957. 41 Vgl. Klaus Voigdt: Auswüchse des Wahlkampfes, in: Freie Presse (Herford) vom 26.3.1957; vgl. auch BA-B 136 BKA, Nr. 4534. Kurzprotokoll der 33. Sitzung des Ausschusses für Geschäftsordnung am 18.3.1957. 42 Vgl. HGWS-DU 07. Deutschland-Union-Dienst Nr. 133 vom 21.3.1957. 43 Vgl. Meyer: Herbert Wehner (Anm. 1), S. 201 sowie HGWS-SD 04. Wehner an David Binder vom 17.5.1975. Dort heißt es: „1957 hatte ich aus dringendem Anlaß bei nacheinander 5 Verlagen darum gebeten, die ,Graue Mappe‘ herauszubringen. Alle wollten dies nur unter der Bedingung, dass der Text ,aufbereitet‘, das heißt zu einer spannenden Geschichte umgearbeitet würde, was ich ablehnen musste, weil ich darauf Wert zu legen hatte, daß der Text so, wie ich ihn nach dem Kriege niedergeschrieben hatte, erscheine, abgesehen von Vor- und Nachworten, in denen die Zusammenhänge hätten erklärt werden können.“ – Die im Bestand der SPD-Bundestagsfraktion überlieferten Quellen (Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Bonn, SPD-Bundestagsfraktion, 2. WP, Nr. 9, z. B. Wehner an Willi Eichler vom 22.3.1957) lassen allerdings zumindest für das Projekt, das Buch bei der Europäischen Verlagsanstalt herauszubringen, vermuten, dass die Ursache für das Nichtzustandekommen der Buchveröffentlichung eher in den komplizierten Beziehungen der sozialdemokratischen Beteiligten untereinander zu suchen ist.
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jahr 1957 nicht energisch weiter verfolgte, war ein Fehler. Denn so gab Wehner seinen Gegnern Raum, das Werk für ihre Angriffe auszuschlachten und ihrerseits in der Öffentlichkeit mit abwegigen Kommentaren zu versehen, welche für das breite Publikum nicht nachvollziehbar waren. Den Anfang machte im Wahlkampf 1957 eine Broschüre „Wehner und die deutsche Zukunft. Eine Warnung in letzter Stunde“. Darin wurde Wehner als ein Mensch bezeichnet, der „noch immer wesentlich in jenem Denkschema befangen ist, das sich Marxismus-Leninismus nennt“. Damit sei er eine Gefahr für die Politik der Bundesrepublik Deutschland.44 Im Auftrag Adenauers ermittelte das Allensbacher Institut für Demoskopie im Mai 1957 den Bekanntheitsgrad und die Beurteilung Herbert Wehners in der Bevölkerung. Danach kannten ihn 64 Prozent der Männer und 31 Prozent der Frauen. Das Urteil über ihn fiel insgesamt leicht negativ aus. Dabei war es klar nach politischen Lagern geteilt: Bei den SPD-Anhängern positiv im Verhältnis 23 zu 3, bei den Unions-Anhängern negativ im Verhältnis 18 zu 2.45 Herbert Wehner polarisierte, und das gedachte die Kanzlerpartei im Wahlkampf zu nutzen. Die Wähler sollten den Eindruck bekommen, die SPD sei in verschiedene Flügel gespalten. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone, behauptete auf dem CDU-Parteitag im Mai, Wehner betrachte die SPD als „Partei des Klassenkampfes“. Mit dieser marxistischen SPD solle sich die Union im Wahlkampf auseinandersetzen.46 Die Umsetzung durch die CDU/CSU-Kandidaten an der Basis geriet stellenweise recht grobschlächtig. So unterstellte der CSU-Abgeordnete Hans August Lücker in Memmingen, Wehner wolle „einen sozialistischen Staat wie Gomulka, Kadar und Tito“.47 Der baden-württembergische CDU-Politiker Josef Wolf behauptete, Wehner habe nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion „Tausende von Rubeln“ erhalten.48 Im „Rheinischen Merkur“ hieß es, Wehner sei ein „Inauguralmarxist“; die Zeitung setzte eine Wiedervereinigung à la Wehner mit der „Tyrannei des Herrn Hitler“ in Beziehung und warnte davor, durch Wahl der SPD die christlichen Grundlagen des Staates zu gefährden. Der SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat 44 Jan van de Vijssers: Wehner und die deutsche Zukunft. Eine Warnung in letzter Stunde, Broschüre, Mönchengladbach o. J. (1957); Exemplare in HGWS-DU 22 sowie HGWS-EA 07-126 und in BA-B 136 BKA-4534. 45 Vgl. BA-B 136 BKA, Nr. 4534. Institut für Demoskopie Allensbach: Die Stimmung im Bundesgebiet/Herbert Wehner („Vertraulich!“, abgeschlossen am 9.5.1957). 46 Adenauer eröffnet den CDU-Parteitag, in: Stuttgarter Zeitung vom 13.5.1957. 47 HWA-1/HWAA001062. Wehner: Erklärung vom 25.4.1957 zu den in der Memminger Zeitung vom 20.4.1957 veröffentlichten Behauptungen; MdB Lücker eröffnete den Wahlkampf, in: Memminger Zeitung vom 20.4.1957. 48 Vgl. HGWS-DU 22. SPD-PV/Heine an den Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht in Ulm vom 30.8.1957.
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Erich Ollenhauer sei jedoch möglicherweise gezwungen, in der Gesellschaft Wehners zu verbleiben und bleibe daher die „klare Trennungslinie gegenüber den marxistischen Genossen schuldig“. Adenauers Leitartikler Wenger fragte, seinen politischen Gegner dämonisierend: „Wo bleibt der Kreidekreis gegen Herbert Wehner?“49 Die Dämonisierung wirkte auch auf seriöse Medien. Walter Henkels von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ porträtierte Herbert Wehner im Frühjahr 1957 nicht ohne Bewunderung für dessen politische Leidenschaft und intellektuelle Qualität als einen abgründig und unheimlich wirkenden Mann. Der „fanatische Zug um seine Mundwinkel“ mache die „Prägekraft des Kommunismus“ deutlich. Wehner sei „offensichtlich der Linksaußen seiner Partei, bei dessen Auftritt im Parlament seinen Gegnern ein Schauer über den Rücken jagt“.50 Die DDR-Presse fügte den konservativen Verzerrungen aus der Bundesrepublik eigene, kommunistische Verzerrungen hinzu. Die SED wiederholte im Frühjahr 1957 die schon seit den vierziger Jahren gegen ihren sozialdemokratischen Hauptfeind erhobenen Vorwürfe, Wehner habe in Schweden die KPD verraten und für den englischen Geheimdienst gearbeitet. Nach Kriegsschluss sei er, so hieß es, „im Gegensatz zu allen anderen Antifaschisten“ sofort von Stockholm nach Kopenhagen gereist, „um von dort in englischer Begleitung mit einer englischen Militärmaschine nach Hamburg zu fliegen“.51 Was den einen die sowjetische Auslandsspionage, das war für die anderen der britische „Intelligence Service“. Der Wahrheitsgehalt war in beiden Fällen gleich Null. Die SPD erhielt Hinweise darauf, dass die konservativen Verleumder Wehners sich bemühten, in Ost-Berlin an verwertbares Material zu kommen52, ebenso aber auf Versuche von ostdeutschen Stellen, solche Materialien in der Bundesregierung an den Mann zu bringen.53 Die Kommunisten, so hieß es in einer Pressekonferenz, die wenige Tage vor der Bundestagswahl in Hamburg zur Unterstützung Wehners abgehalten wurde, verstünden es ausgezeichnet, Blättern der politischen Rechten Material zuzuspielen, ohne dass diese den Missbrauch bemerkten.54
49 Paul Wilhelm Wenger: Ollenhauer und Wehner, in: Rheinischer Merkur vom 5.7. 1957. 50 Walter Henkels: Wehner, der Linksaußen, in: Düsseldorfer Nachrichten vom 13.4. 1957. 51 Zur Klärung der politischen Vergangenheit Wehners, in: Vorwärts (Berlin-Ost) vom 18.3.1957. 52 Vgl. HGWS-DU 11. Vermerk „Eckert/5-3-1957“ an Gen. Ollenhauer, Gen. Heine, Gen. Wehner, Gen. Markscheffel, PPP. 53 Vgl. HGWS-DU 11. Fritz Sänger an Wehner vom 11.4.1957. 54 Vgl. HGWS-EA 07-127. Wehner (dpa-Meldung vom 13.9.1957).
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Von den Empfängern, denen Wehner die „Notizen“ geschickt hatte, erhielt er zahlreiche zustimmende Briefe. Bundesminister Ernst Lemmer (CDU) schrieb ihm, er bedauere die Veröffentlichungen in der Presse; Kurt Wagner vom Roten Kreuz meinte, Wehner solle „sich’s nicht verdrießen lassen“, Verkehrsminister Seebohm sah in den „Notizen“ einen „Beitrag zur Zeitgeschichte“, und Carlo Schmid freute sich, dass der giftige Pfeil sich im Dreck verfangen habe.55 Helmut Schmidt, an Bord eines Flugzeugs nach Rio de Janeiro, schickte eine Postkarte: „Du hast sicherlich viel mehr Freunde in dieser hässlichen Sache wie überhaupt, als Du manchmal zu denken scheinst.“56 Erich Ollenhauer fragte auf einem Bezirksparteitag in Rheinland-Hessen-Nassau angesichts der Verleumdungen gegen Wehner: „Wo bleibt bei solchen Methoden das christliche Gewissen der CDU?“57 Der „Vorwärts“ titelte am 22. März 1957: „Die SPD steht zu Herbert Wehner“. Rückendeckung durch die eigene Partei und Fraktion, wie er sie im Frühjahr 1957 erhielt, taten Wehner gut. Aber die Angriffe trafen ihn. So dankte er seinem Freund Carlo Schmid für dessen Brief in der Angelegenheit: „Deine Worte sind für mich kostbar. Es tut schrecklich weh, immer wieder beteuern und beweisen zu müssen, dass man ein ehrlicher Mensch ist. Ich kann nicht leugnen, dass ich doch gehofft hatte, einiges aus meiner Arbeit und meinem Wirken würde für mich sprechen. Aber in solchem Sturm steht man dann ganz auf sich selbst angewiesen.“58 Am 1. April sagte er auf dem Unterbezirksparteitag der SPD in Hamm, Rufmord gehöre heute zu den Alltäglichkeiten der Regierungspolitik, aber, so rief Wehner aus, er werde erst Ruhe geben, wenn er „Adenauers Politik für richtig halten könnte“.59 Die Attacken von 1957 ließen nicht nur bei Wehner Narben zurück. Es blieb etwas hängen, bei Gegnern, Verbündeten und Freunden. Das Bild, das die deutsche Gesellschaft sich fortan von Herbert Wehner machte, war das Bild vom „Ex-Kommunisten“. Dieses wurde je nach – manchmal auch wechselndem – Standpunkt des Betrachters in der hellen Farbe des „Geläuterten“ gemalt oder düster als zwielichtiger „Renegat“. Der Verdacht, die Behauptung, die Nachrede, er sei immer Kommunist geblieben, prägte das Wehner-Feindbild der politischen Rechten.
55 Schreiben vom 26.3.1957, 8.4.1957, 22.3.1957, 2.4.1957 neben zahlreichen anderen in HGWS-DU 03. 56 HGWS-DU 17. Karte von Helmut Schmidt an Wehner vom 8.4.1957. 57 Ollenhauer in Koblenz: Wir warnen die CDU!, in: Freiheit vom 1.4.1957. 58 HGWS-PB 39-003. Wehner an Carlo Schmid vom 16.3.1957. 59 Schrecken der Vergangenheit dürfen sich nie wiederholen, in: Westfälische Rundschau vom 1.4.1957.
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V. Wehner im Wahlkampf: Für die Sammlung der Bedrohten Schon im Februar 1957 hatte Herbert Wehner bemerkt, dass der deutsche Wahlkampf im Ausland als eine Art Kampf zwischen amerikanischen und russischen Parteien dargestellt wurde.60 Auf solche einfache Polarisierungen setzte der Wahlkämpfer Konrad Adenauer. Die Kampagne gegen Wehner sollte zur Untermauerung dieses Bildes dienen. Der Kanzlerkandidat und SPD-Vorsitzende Ollenhauer wirkte dagegen zu bieder, um ein brauchbares Feindbild abzugeben. Daher suchte die Union den dynamischeren und auf schlichte Gemüter gefährlicher wirkenden Wehner ins Rampenlicht zu rücken. Dieser befürchtete im März, führende Kreise der SPD hätten die Situation „mit einem zu prononcierten Selbstgefühl“ beurteilt. Er machte einen Mangel an interessanten Ideen und eine „gewisse Schlaffheit“ aus. Dagegen solle die SPD im Wahlkampfjahr mehr Profil gewinnen, neue eigenwillige Gedanken entwickeln und ihre deutschland- und europapolitischen Standpunkte präziser und mit größerer Entschiedenheit verfechten.61 Im Wahlkampf setzte die Regierung unter der Parole des Antikommunismus auf die Verbindung von Wirtschaftswunder und Sicherheitsbedürfnis. Auch Wehner versuchte im Wahlkampf, Ängste der Bevölkerung und ihr Bedürfnis nach Sicherheit zu mobilisieren. Wo Adenauer aber die „Angst vor den Russen“ beschwor, warnte Wehner vor dem Atomkrieg. Nachdem achtzehn Göttinger Wissenschaftler im April 1957 in einer öffentlichen Erklärung vor einer von Adenauer geplanten atomaren Bewaffnung der Bundeswehr gewarnt hatten, griff er dieses Thema auf. Der Bundeskanzler verniedliche die Gefahr, wenn er in dem Zusammenhang von kleinen oder taktischen Waffen spreche, die eigentlich nichts anderes seien als eine normale Fortentwicklung der Artillerie. Je mehr Staaten in den Besitz von Atom- und Wasserstoffbomben gerieten, meinte Wehner, desto größer werde die Gefahr. Darum gehöre gerade diese Frage in die Auseinandersetzung um die Bundestagswahl.62 In Ergänzung zu seinen außenpolitisch und gesamtdeutsch motivierten Warnungen vor der Atomrüstung befasste Wehner sich mit sozialpolitischen Fragen – allerdings stellte er auch diese unter das Primat der Deutschlandpolitik. Auf Herbert Wehner ging die DGB-„Erklärung zur Wiedervereinigung Deutschlands“ zurück, die im April 1957 fertig gestellt wurde. Sie enthielt unter anderem Forderungen nach einer Beteiligung der Beschäftigten am Zuwachs des Sozialprodukts, Überführung der Schlüsselindustrien in eine gemeinwirtschaftliche 60 Vgl. HGWS-EA 05-130. ppp-Meldung vom 16.2.1957: Nicht über Beweggründe der sowjetischen Politik rätseln. 61 Mangel an interessanten Ideen, in: Neue Politik vom 23.3.1957. 62 Vgl. Herbert Wehner: Unsere Entscheidung über Leben und Tod, in: Der Sozialdemokrat, Mai 1957.
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Ordnung und nach einer Anerkennung der Ergebnisse der Bodenreform in der DDR. Der Deutsche Gewerkschaftsbund stellte seine Aktionen zum 1. Mai 1957 unter das zentrale Motto „Wiedervereinigung ohne Gewalt – doch bald!“.63 Auf einer Wahlveranstaltung am 26. August in Bremervörde sagte Wehner, die Bundesrepublik könne nur durch die Friedenspolitik der Sozialdemokratie auf einen Weg der Sicherheit und sozialen Stabilisierung gebracht werden. Man könne nicht zugleich ein Atomwettrüsten veranstalten und daneben gesicherte Lebensverhältnisse schaffen. Er rief die Wähler auf, sie sollten bei der Wahl am 15. September die „bindende Anweisung geben, dem Atomwettrüsten, das den friedlichen Aufbau zerschlägt, ein Ende zu bereiten“.64 Herbert Wehner führte den Bundestagswahlkampf mit vollem Einsatz. Die sechs Wochen bis zum Wahltag war er in Hamburg und der ganzen Bundesrepublik unterwegs.65 Seiner Frau Lotte teilte er seine Eindrücke brieflich mit. Anfang September war er pessimistisch. Die CDU als „Staatspartei“ imponiere offenbar den Deutschen. „Welche Aussichten sich daraus für das Folgende ergeben, das kann man nur mit Bangen bedenken. Mein einziger Trost ist, dass ich überall klar und wahr gesagt habe: Man kann nicht zugleich am Atomrüsten teilnehmen und dabei stabile Lebensverhältnisse für die breiten Schichten garantieren. Das Eine oder das Andere.“66 Um die Wahlkampforganisation in Hamburg kümmerte sich Wehner persönlich.67 Hier fuhr er einen eindrucksvollen Sieg ein. Die Sozialdemokraten gewannen fast acht Prozent hinzu. Wehner selbst holte in seinem Harburger Wahlkreis 15.000 Stimmen mehr als 1953 und erzielte damit 54 Prozent.68 Das war das beste SPD-Wahlkreisergebnis in der gesamten Bundesrepublik. Bundesweit legte die SPD um drei Prozent zu und kam nun auf 31,8 Prozent. Das reichte jedoch bei weitem nicht. CDU und CSU unter Konrad Adenauer erreichten – das erste und einzige Mal bei einer Bundestagswahl – die absolute Mehrheit. 63 DGB-Archiv im AdsD, Nr. 24.1-1856. Prot. über die 1. Sitzung der Kommission „Wiedervereinigung“ am 9.1.1957 in Düsseldorf; ebd. „Vorschläge des DGB zur Wiedervereinigung Deutschlands“, unterzeichnet von Wehner, 19.1.1957; Meyer: Doppelstrategie (Anm. 19), S. 97; AdsD, Nachlaß Arno Scholz, „Gewerkschaftsmappe II 1953 bis 30.6.58“. DGB-Broschüre „Wiedervereinigung ohne Gewalt – doch bald“ zum 1. Mai 1957. 64 Herbert Wehner gegen Atomwettrüsten, in: Hamburger Echo vom 26.8.1957. 65 Vgl. HGWS, Terminkalender 1957. 66 HGWS-PB 12. Herbert an Lotte Wehner vom 3.9.1957. 67 Vgl. z. B. AdsD, SPD-Landesorganisation Hamburg (LO HH), Nr. 126. Undatierte Notiz von Wehner (Kopie). 68 Vgl. Harburg blieb Herbert Wehner treu, in: Hamburger Echo vom 16.9.1957; Hamburger SPD erobert 7 von 8 Wahlkreisen, in: Hamburger Echo vom 16.9.1957; Absolute Mehrheit für SPD, in: Hamburger Echo vom 17.9.1957.
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Die SPD verlor nicht aufgrund der Kampagne gegen Herbert Wehner, auch wenn Adenauer den Angriff gegen seinen wichtigsten außenpolitischen Gegenspieler für die plakative Behauptung benutzte, ein Sieg der SPD bedeute den Untergang Deutschlands. Mit solchen Äußerungen wurde die SPD erfolgreich dazu getrieben, in der Schlussphase selbst einen aggressiven Wahlkampf zu führen. Aber aus der Defensive kam sie nicht heraus. SPD-Propagandachef Fritz Heine, ein von Grund auf pessimistischer Mann69, war offenkundig überfordert. Der Wahlkampf der SPD schwankte eigentümlich zwischen zurückhaltendem Wettstreit und provokativer Zuspitzung.70 Wahlkampfbroschüren wirkten vorne professionell und modern. Hinten zeigten sie Bildertafeln der führenden Parteifunktionäre, die an die sozialdemokratischen Ahnengalerien der Kaiserzeit erinnerten.71 Die Mehrheit wollte – mit dem CDU-Slogan – „keine Experimente“. Und das war angesichts von Wirtschaftswunder und Vollbeschäftigung auf den ersten Blick verständlich.72 Es gelang der SPD nicht, den Wahlkampf auf eine klare Alternative zuzuspitzen, weder personell noch politisch-programmatisch. Im Juni 1957 hatte Herbert Wehner mit einer zweistündigen Rede in einem Freiburger Saal das überwiegend sozialdemokratische Publikum nebst dem Berichterstatter der Parteipresse zu begeistern gewusst. Das flotte Konzert der Eisenbahnermusikkapelle hatte ebenso Anklang gefunden wie die Kunstradfahrerinnen vom Arbeiter-Rad- und Kraftfahrbund „Solidarität“.73 Aber was halfen solche Triumphe im eigenen Lager, wenn Frauen, Rentner, Landbevölkerung und katholische Arbeiterschaft davon nichts mitbekamen und ebenso wie die eher unpolitischen Teile der Bevölkerung in Massen die CDU wählten? VI. Nach der Niederlage: Neubeginn Nach der verlorenen Wahl stieg Herbert Wehner tief in die Debatte ein. Er reiste weiter durch das Land, um mit der Parteibasis über Ursachen und Konsequenzen der Niederlage zu diskutieren. Er besuchte zahlreiche Funktionärsversammlungen und Parteitage.74 Dabei vertrat er, anders als noch 1953, eine eigenständige Position und gab auf eigene Faust seine „Beiträge zur Parteidiskussion“
69 Vgl. Kaj Björk: Spel bland ruiner. Västtyskland efter kriget, Stockholm 1964, S. 129. 70 Vgl. Klotzbach: Staatspartei (Anm. 1), S. 393 ff. 71 Vgl. HWA-1/HWAA001016. Illus – Sonderausgabe D. 72 Vgl. Klotzbach: Staatspartei (Anm. 1), S. 398. 73 Gegen die Erstickung der inneren Freiheit, in: Süd-West-Rundschau vom 22.6. 1957. 74 Vgl. die Vortragsnotizen in: HWA-1/HWAA001078, zum Beispiel: „Viele Mitgl. unserer Partei . . .“, undatiert (November 1957).
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heraus, als gedrucktes Manuskript unter dem Titel „Sozialdemokratische Politik im geteilten Deutschland“.75 Wehner wollte seine Beiträge als Anregungen verstanden wissen, die „der Verbesserung der Arbeits-, Kampf- und Werbemethoden“ der SPD dienen sollten. Die CDU habe es geschafft, die konservativen und restaurativen Kräfte zu sammeln und „sehr breite Bevölkerungskreise“ aufgescheucht. Die SPD dagegen habe „nicht die Sammlung der Bedrohten in breitester Form erreicht“. Um dies künftig zu gewährleisten, müsse die Organisation der Partei von der Spitze bis zur Basis umgestaltet werden. Dabei lehnte er Vorschläge ab, auf die „breite Organisation“ zu verzichten und die Mitgliederpartei durch eine schmale professionelle Funktionärsspitze zu ersetzen. Das könne die CDU sich leisten, denn sie wirke durch ihre Stellung im Staatsapparat, durch eine Vielfalt klerikaler Institutionen und durch Kanäle, die einer „Obrigkeit“ zur Verfügung stünden. Die SPD aber sei darauf angewiesen, ihre eigenen Kraftzentren auszubauen. Wehner folgerte: „Die aus der Arbeiterklasse Deutschlands hervorgegangene Sozialdemokratische Partei soll eine in den breiten schaffenden Schichten des Volkes wurzelnde, von ihnen getragene und zum Wohle des ganzen Volkes wirkende Sozialdemokratische Partei sein.“ Die Diskussion darüber, ob die SPD eine „Arbeiterpartei“ oder eine „Volkspartei“ sein solle, fand Wehner nicht sinnvoll. Vor allem gehe es darum, die „SPD in Einklang mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung zu bringen“. Die Partei habe gerade im Bereich der arbeitenden Schichten der Bevölkerung vieles versäumt, während Unternehmerinstitute, Wirtschaftsminister und „christlichsoziale“ Gewerkschafter ihrerseits heftig daran arbeiteten, Arbeiter und Gewerkschaften im Sinne der Regierung zu beeinflussen. Die SPD müsse darum kämpfen, die arbeitende Bevölkerung „für ihre Forderungen zu sammeln“.76 Auch bei der Frage nach den inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der SPD warnte Wehner vor falschen Frontstellungen. Betrachtungen über „rechte und linke Flügel“, über angebliche Gegensätze zwischen so verschiedenen Menschen „wie Carlo Schmid und Herbert Wehner“, führten nicht weiter. In der „Spannweite der Partei“ solle man nicht die Schwierigkeiten, sondern lieber die daraus sich ergebenden Anregungen sehen. Entscheidend seien nicht Programmdebatten, sondern die Praxis: „Die SPD muss sich in die Probleme der breiten schaffenden Volksschichten hineinknien und alles daransetzen, sie in ihren eigenen Griff zu bekommen.“
75 Druck: Auerdruck GmbH, Hamburg o. J. (1958). – Die folgenden Zitate sind dieser Druckschrift entnommen. 76 Vgl. auch HWA-1/HWAA000866. Protokoll des Kursus „Mensch und Betrieb“ vom 25.–29. November 1957 an der Heimvolkshochschule der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bergneustadt.
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Nahezu die Hälfte der großformatigen und eng bedruckten sechzehnseitigen Broschüre machten Beiträge zur Deutschland- und Außenpolitik aus. Im Einzelnen blieb Wehner seiner bisherigen Linie treu, aber er stellte sie unter die Überschrift „Außenpolitik darf nicht zum Instrument ideologischer Kämpfe werden“. In seinem Papier hatte er nicht die Antworten parat, die die SPD im Laufe der nächsten drei Jahre auf all die Fragen geben würde. Aber er stellte die wichtigen Fragen, öffnete die Diskussion in die Breite der Partei hinein und regte so den Reformprozess an. Zu dieser Zeit, nach der Bundestagswahl, gab es kein Wort des Bedauerns über die unfaire Kampagne, mit der die Union Wehner attackiert hatte. Im Gegenteil trachteten die Scharfmacher in der CDU/CSU-Fraktion, allen voran Adenauer und Schröder, danach, die Drohung vom Frühjahr wahr zu machen und Herbert Wehner als Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen abzulösen. Heinrich Krone sprach darüber mit Erich Ollenhauer. Er teilte dem SPD-Vorsitzenden mit, ohne eine Entschuldigung bei Schröder werde die CDU/CSU-Fraktion sicher gegen Wehner stimmen.77 Dieser schrieb Schröder nun, dass er die „Bemerkungen über die ,Konstruktionen des Anklägers Wyschinski‘“ bedauere.78 Nach den Gesprächen mit Ollenhauer war Krone klar, dass die Opposition nicht klein beigeben würde: „Die SPD würde zur Obstruktion übergehen.“ So sprach sich Krone – und mit ihm unter anderem die Abgeordneten Kurt Georg Kiesinger und Hermann Höcherl – in der Fraktionssitzung am 28. November 1957 dafür aus, Wehner als Vorsitzenden des Ausschusses mit zu tragen. Nach heftiger Diskussion folgte die Unionsfraktion dem Vorschlag. Aber die Mehrheit war mit 117 zu 95 Stimmen knapp.79 Erich Ollenhauer hatte sich solidarisch hinter Herbert Wehner gestellt. Einen Keil in die SPD zu treiben, war misslungen. Das Bild vom „linken Flügelmann“ Wehner, der in der SPD am Rande stehe, entsprach eben nicht der Wirklichkeit. Wehner war derjenige, der seit Schumachers Zeiten die Außen- und Deutschlandpolitik, die Positionen und Beschlüsse der gesamten Fraktion und Partei entscheidend bestimmte. Ihn seiner parlamentarischen Spitzenposition berauben zu lassen, wäre einer politischen Kapitulation gleichgekommen. Ein personeller Neuanfang in der SPD jedoch war – das hatten der Verlauf des Wahlkampfs und sein niederschmetterndes Ergebnis gezeigt – unausweichlich. Die erste Gelegenheit dazu bot sich im Oktober 1957 mit den Neuwahlen zum Vorstand der Bundestagsfraktion. Hinter Erich Ollenhauer und gegen dessen Willen kam es zur Neubesetzung der Fraktionsspitze. Die Reformer drängten nach 77 Vgl. Heinrich Krone: Tagebücher. Bd. 1: 1945–1961, bearb. von Hans-Otto Kleinmann, hrsg. von Günter Buchstab u. a., Düsseldorf 1995, S. 271. 78 BA-B 136 BKA, Nr. 4534. Wehner an Gerhard Schröder vom 7.11.1957 („Persönlich“, Abschrift). 79 Vgl. Krone: Tagebücher (Anm. 77), S. 274 f., Zitat S. 275.
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vorn. Wehners Hamburger Weggefährte Hellmut Kalbitzer schlug in der Fraktion vor, Carlo Schmid, Fritz Erler und Herbert Wehner zu neuen stellvertretenden Vorsitzenden zu wählen. Ollenhauer wollte dagegen, dass seine bisherigen Stellvertreter Wilhelm Mellies und Erwin Schoettle im Amt blieben. Schoettle verzichtete auf seine Kandidatur, und Mellies verlor am 30. Oktober 1957 die Wahl in der Fraktion. Wehner wurde gemeinsam mit Carlo Schmid und Fritz Erler stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Fortan trafen die drei sich regelmäßig zum Arbeitsfrühstück. Sie bildeten das sogenannte „Frühstückskartell“, welches gemeinsam die Linien der Fraktionsarbeit besprach. Diese erste „Troika“ der SPD war ein Führungstrio im Parlament, das in seiner Spannweite rhetorische Brillianz, Energie und Modernität ausstrahlte.80 Carlo Schmid sprach später von einer „besonderen Kombination von Temperament, Erfahrung, Vision und Erkenntnis“.81 Herbert Wehners engagierter Beitrag zu den Debatten um die Parteireform legte den Gedanken nahe, ihn auch in die Parteispitze vorrücken zu lassen. Er selbst hätte sich 1958 in Stuttgart mit einem Sitz im neu geschaffenen Präsidium des Parteivorstands begnügt. Doch es kam anders. Der Parteitag im Mai wählte ihn zum stellvertretenden Vorsitzenden, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, Presse und Organisation. Damit lag die tatsächliche Führung der SPD in seiner Hand. Der lange Weg aus der Opposition heraus begann82. VII. Schlussbetrachtung Herbert Wehner stellte sein Handeln stets unter das Primat der Deutschlandpolitik. 1957 war für ihn ein hartes Jahr. Die Tauwetterperiode und die Entstalinisierung von 1956 waren mit der Niederschlagung des ungarischen Aufstands schnell an ihre Grenzen gestoßen. Wie schon 1953 nach dem 17. Juni führten auch diese Ereignisse zu einer Stabilisierung des Ulbricht-Regimes in der DDR. Die Möglichkeit, in direkte politische Verhandlungen mit gesprächsbereiten Teilen der DDR-Führung zu kommen, hatte Wehner bereits in den Vorjahren ausgelotet; sie hatten allerdings zu nichts geführt. Wehners Versuch, wenigstens in Sachen menschliche Erleichterungen zu innerdeutschen Regelungen zu kommen, scheiterten 1957 ebenfalls. Zum Ausloten der Verständigungsbereitschaft des DDR-Regimes kam es allerdings gar nicht; denn mit ihrem hartnäckigen antikommunistischen Kurs setzten sich der CDUKanzler Adenauer und sein Innenminister Schröder gegenüber dem Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser durch. Und dieser, mittlerweile auf freundschaftlichem Fuße mit Herbert Wehner stehend, schied nach seinem schweren Schlaganfall im April 1957 gleich ganz aus der Politik aus. Für die 80 81 82
Vgl. Klotzbach: Staatspartei (Anm. 1), S. 403 ff.; Soell: Erler (Anm. 1), S. 300 ff. Carlo Schmid: Erinnerungen, Bern 1979, S. 661. Vgl. Meyer: Herbert Wehner (Anm. 1), S. 209 ff.
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Zukunft musste Wehner nach neuen kooperationsbereiten Partnern in der Union suchen. Die Perspektiven zu einer überparteilichen Zusammenarbeit schienen für Herbert Wehner im Jahre 1957 sehr düster. Adenauer und seine Regierung suchten im Parlament und im Wahlkampf die direkte Konfrontation mit ihm. Die Dagens-Nyheter-Kampagne ist auf mehreren Ebenen von Bedeutung. Erstens war sie ein Ausfluss des innenpolitischen Kampfes auf der Linie der Adenauerschen Politik der Stärke im Kalten Krieg. Das Erinnern an die kommunistische Vergangenheit Wehners passte zum letztlich erfolgreichen Versuch, der SPD im Bundestagswahlkampf pro-russische Tendenzen anzudichten. Zum zweiten bedeutete die Affäre von 1957 eben doch einen Einschnitt in Wehners bundesrepublikanischer Biographie. Von da an haftete ihm das Etikett des Ex-Kommunisten an. Dieses konnte bequem als Feindbild zur Mobilisierung antikommunistischer Ängste genutzt werden. Die Entgleisungen von CDU/CSU-Zwischenrufern in den Bundestagsdebatten der siebziger Jahre waren damit vorprogrammiert. Die Dämonisierung Wehners wirkte bis über seinen Tod hinaus. Drittens schließlich stand am Ende der Kampagne, nach den Bundestagswahlen, das Scheitern von Adenauer und Schröder mit ihrem Versuch, Wehner seiner parlamentarischen Spitzenstellung als Ausschussvorsitzender zu berauben. Dieses Scheitern bedeutete gleichzeitig die erste schwere Niederlage Adenauers nach seinem historischen Wahlsieg – und das ausgerechnet „gegen Wehner“. Zwei SPD-Politiker, schrieb die „New York Times“, hatten in ihren Wahlkreisen trotz der Niederlage auf Bundesebene herausragende Ergebnisse erzielt: Professor Carlo Schmid, der Wählerschichten bis weit ins liberale Bürgertum hinein ansprach, und Herbert Wehner, der vor allem die klassische Stammwählerschaft der SPD, die Arbeiterschaft in den Industriezentren mobilisieren konnte.83 Diese beiden wurden im Herbst 1957 gemeinsam mit Fritz Erler zum neuen Führungszentrum der SPD-Bundestagsfraktion hinter Ollenhauer gekürt. Zusammen mit Willy Brandt, der 1957 das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin übernahm, aber in Bonn (noch) keine Rolle spielte, stand diese erste „Troika“ für die Zukunft der Sozialdemokratie. Insofern markierte 1957 – zeitlich recht genau in deren Mitte liegend – schon den Anfang vom Ende der Ära Ollenhauer. Die entscheidenden Schritte zur Regierungsfähigkeit folgten Jahr auf Jahr: 1958 die Organisationsreform des Stuttgarter Parteitags und Wehners Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden, 1959 die Programmreform von Godesberg mit dem Bekenntnis zur Volkspartei, 1960 die außenpolitische Gemeinsamkeit mit Wehners großer Bundestagsrede, 1961 die Kanzlerkandidatur von Willy Brandt, 1962 die ersten Koalitionsverhandlungen
83 Vgl. M. S. Handler: Socialists Victory in Hamburg Brings Call for Party Changes, in: New York Times vom 12.11.1957.
Herbert Wehner und die SPD 1957
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Wehners und Ollenhauers mit Adenauer und nach dem Tode Erich Ollenhauers Ende 1963 die Übernahme des Parteivorsitzes durch Brandt. Im Mai 1957 hatte Herbert Wehner vor sozialdemokratischen Parteifunktionären in Hamburg gefordert, die SPD müsse „zur sammelnden Kraft der konstruktiven Kräfte in der Bundesrepublik“ werden, was nur gelinge, wenn die Partei „den breiten Schichten der Bevölkerung in ihren vielfachen Gliederungen wesentliches zu sagen“ habe. Damit formulierte er die Aufgabe der Parteireform. Daran anschließend beschrieb Wehner die Hauptziele sozialdemokratischer Regierungspolitik. Diese Ziele von 1957 hatten 1966 oder 1969 nichts an Aktualität eingebüßt: erstens das Auseinanderleben der Teile Deutschlands beenden und die Wiedervereinigung in gesicherter Freiheit verwirklichen, zweitens einen Beitrag zur internationalen Entspannung und Sicherung des Friedens leisten und drittens die Demokratie und den inneren Frieden sichern, „die politische Demokratie fest in sozialer Gerechtigkeit“ verankern84. Dies spricht für inhaltliche Kontinuität über die Brüche sozialdemokratischer Nachkriegspolitik hinweg. Dass Wehner und die SPD ihre Vorbereitung auf die Regierungsverantwortung als große Kehrtwende in Szene setzen mussten, verdankten sie nicht zuletzt dem Erfolg der Adenauerschen Wahlkampagne von 1957. 1957 war das Jahr des höchsten Sieges, den die CDU/CSU je bei einer Bundestagswahl erzielte, aber die absolute Mehrheit für Adenauer bedeutete ironischerweise zugleich den Beginn des Prozesses, der im Verlauf der sechziger Jahre zum Verlust der Regierungsmacht für die Unionsparteien führen sollte. 1957 brachte für Herbert Wehner und seine Partei eine schwere Niederlage. Darin jedoch steckte – in diesem Fall – der Keim zum Neubeginn. Der Wahlschock half der SPD auf den Weg, als Volkspartei zukunfts- und regierungsfähig zu werden.
84 AdsD, SPD-LO HH, Nr. 51. Stenographische Niederschrift der Landesdelegiertenversammlung am 27.5.1957 im Gewerkschaftshaus.
„Der Sozialdemokrat von morgen“ Die Wahl Willy Brandts zum Regierenden Bürgermeister von Berlin und sein politischer Aufstieg Von Wolfgang Schmidt Am 3. Oktober 1957 wurde Willy Brandt von der Großen Koalition im Berliner Abgeordnetenhaus mit 86 gegen zehn Stimmen bei 22 Enthaltungen erstmals zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Mit der Übernahme dieses weit über die Stadtgrenzen hinaus bedeutenden und hoch angesehenen Amts setzte er sich endgültig gegen seine innerparteilichen Widersacher durch. Zwar war das Datum zufällig, aber dass der mit seinen 43 Jahren vergleichsweise junge Politiker damals an die Spitze trat, empfanden viele Zeitgenossen als die letzte Konsequenz eines mehrjährigen Prozesses in der Berliner SPD. Umso erstaunlicher erscheint in der Rückschau seine Kür zum Kanzlerkandidaten nur drei Jahre später, denn bis 1958 gehörte er nicht einmal dem Vorstand der Bundespartei an. Hier soll zunächst Willy Brandts Karriere in Berlin kurz nachgezeichnet und analysiert werden. Anschließend werden die Voraussetzungen für seinen bundespolitischen Aufstieg näher beleuchtet. Dabei liegt der thematische Schwerpunkt auf der Außen- und Deutschlandpolitik, weil sich das West-Berliner Stadtoberhaupt dazu häufig zu Wort meldete und seine Stimme besonderes Gewicht besaß. Die Frage, inwieweit seine Wahl zum Regierenden Bürgermeister eine Zäsur für die deutsche Nachkriegsgeschichte darstellte, soll auf zweierlei Weise angegangen werden. Zum einen wird Brandts Position ins Verhältnis gesetzt zum grundlegenden Wandel der SPD, der 1957 begann. Welche Überlegungen hatte er dazu und wie hat er nach seiner Amtsübernahme in Berlin auf die Veränderungen in der deutschen Sozialdemokratie eingewirkt? Zum anderen wird die Perspektive zu den späteren außen- und deutschlandpolitischen Umbrüchen eröffnet. So ist zu fragen, inwiefern Ansätze der „Politik der kleinen Schritte“ und der „Neuen Ostpolitik“ bereits 1957/58 zu erkennen waren. Wie also hat Brandt zu den am Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Wandlungsprozessen im geteilten Deutschland beigetragen bzw. wie hat er sie gedanklich vorbereitet?1 1 Das politische Leben Willy Brandts in den fünfziger Jahren ist sehr gut dokumentiert und erforscht. Hier seien nur die wichtigsten Titel und Quellen genannt: Willy Brandt: „Berlin bleibt frei“. Politik in und für Berlin 1947–1966, bearb. von Siegfried Heimann (Berliner Ausgabe, Bd. 3), Bonn 2004; Willy Brandt: Auf dem Weg nach vorn. Willy Brandt und die SPD 1947–1972, bearb. von Daniela Münkel (Berliner Aus-
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I. „Der Erbe Reuters“ im Kampf um die Führung der Berliner SPD Der Weg an die Spitze der Berliner Sozialdemokraten blieb Willy Brandt lange versperrt. 1952 und 1954 kandidierte er gegen den Landesvorsitzenden Franz Neumann und unterlag. Dieser Machtkampf war auch ein Richtungsstreit. Grundsätzlich einig in ihrer strikt antikommunistischen Haltung, hatten sich die Berliner Sozialdemokraten seit Beginn der fünfziger Jahre über den Kurs der Partei tief zerstritten.2 Auf der einen Seite standen die traditionalistisch gesinnten Freunde Neumanns. Sie wollten die SPD als Arbeiterpartei erhalten und unterstützten die Politik der Bonner Zentrale. Auf der anderen Seite befanden sich die Anhänger des Bürgermeisters Ernst Reuter. Nach dessen Tod wurde Willy Brandt die Führungsfigur dieser Gruppe, die für die Umwandlung der SPD in eine moderne Volkspartei eintrat und in der Außen- und Deutschlandpolitik ausgesprochen pro-westliche Positionen einnahm. Zwar gewann der Herausforderer im Laufe der Jahre immer mehr Unterstützer, weil sein engster Mitarbeiter Klaus Schütz für ihn einen beispiellosen innerparteilichen Werbefeldzug organisierte. Um ganz nach oben zu kommen, musste Brandt allerdings einen Umweg über ein repräsentatives Amt einschlagen. Im Januar 1955 wurde er zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt. Der jüngste Landtagspräsident Deutschlands erwarb sich durch eine betont überparteiliche Haltung viele Sympathien und wurde rasch populär. Mit spektakulären Aktionen sorgte er für Schlagzeilen, z. B. als der Ost-Berliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert im April 1956 die Führungsspitze im anderen Teil der Stadt zur Besichtigung eines kurz zuvor entdeckten amerikanischen Spionagetunnels an die Sektorengrenze einlud. Zum Termin erschien der West-Berliner Parlamentspräsident mit großem Presseaufgebot am Brandenburger Tor, doch eine Begegnung fand nicht statt. Ebert mochte Brandts Bedingung, vier politische Gefangene aus DDR-Gefängnissen mitzubringen, selbstverständlich nicht erfüllen.3 Es war eines der folgenlosen Propagandascharmützel des Kalten Krieges. Aber der aufstrebende Sozialdemokrat schärfte dadurch sein antikommunistisches Profil, das Voraussetzung für seinen politischen Erfolg war. Die West-Berliner empfanden die gegen ihre Freiheit gerichtete kommunistische Bedrohung als höchst real und allgegenwärtig. Sie schweißte die demokratischen Parteien zu Großen
gabe, Bd. 4), Bonn 2000; Peter Merseburger: Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, München 2004; Wolfgang Schmidt: Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte – Willy Brandt und die Deutschlandpolitik 1948–1963, Wiesbaden 2001; Daniela Münkel: Willy Brandt und die „Vierte Gewalt“. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a. M. 2005; Abraham Ashkenasi: Reformpartei und Außenpolitik. Die Außenpolitik der SPD Berlin 1968. 2 Vgl. ebd., bes. S. 82–103 und 131–152. 3 Vgl. Berlin. Chronik der Jahre 1955–1956, Berlin 1971, S. 476–478.
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Koalitionen zusammen und stärkte das Band zu den Westmächten, deren Truppen Schutz vor der totalitären Gefahr boten. Die Gemeinsamkeit der Demokraten gegen die Diktatur war Teil des Berlin-Mythos. Dazu gehörte auch die Erinnerung an den 1953 verstorbenen Ernst Reuter. So bedauerte ein kleiner Kreis von Korrespondenten bei einem vertraulichen Gespräch mit Brandt 1956 übereinstimmend, „dass Berlin gegenwärtig nicht über einen in der ganzen nichtkommunistischen Welt geachteten und beachteten Sprecher verfügt, wie es Ernst Reuter einst gewesen ist“.4 Der Parlamentspräsident versprach diese Sehnsucht nach einer herausragenden Führungsfigur zu erfüllen und galt schon nach einem Jahr im Amt als „geistiger Sohn Reuters“.5 In den Augen der Berliner trat er am 5. November 1956 endgültig in die Fußstapfen des legendären Vorgängers. Eine große Protestkundgebung gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands drohte in Gewalt umzuschlagen. Es war Willy Brandt, der wütende Demonstranten, die sich zur Sektorengrenze aufgemacht hatten, mit den richtigen Worten zu beruhigen wusste und eine unkontrollierbare Eskalation abwendete.6 Die Umstände, die ein knappes Jahr später die Wahl eines neuen Regierenden Bürgermeisters begleiteten, waren exemplarisch für die jahrelangen Auseinandersetzungen in der Berliner SPD. Nach dem Tode Otto Suhrs am 30. August 1957 versuchte Franz Neumann ein letztes Mal, seinem ärgsten Rivalen den Weg nach oben zu verlegen, indem er andere Kandidatennamen ins Spiel brachte und den parteiinternen Nominierungsprozess verzögerte. Der SPD-Landesvorsitzende schreckte nicht einmal davor zurück, die eigenen Genossen auf die angeblich ungeklärte Vergangenheit seines Kontrahenten hinzuweisen.7 Ohne Skrupel machte er sich damit eine Verleumdungskampagne zunutze, die schon einige Monate zuvor eingesetzt hatte. Die Vorwürfe lauteten u. a., Brandt sei in der Exilzeit Kommunist gewesen, habe im Spanischen Bürgerkrieg sowie in Norwegen mit der Waffe gekämpft und auf deutsche Soldaten geschossen.8 Das Muster, seine Emigration nach Skandinavien öffentlich zu diskreditieren, sollte Schule machen. Mit der Frage, was er eigentlich im Exil gemacht habe, begannen 1961 und 1965 die diffamierenden Attacken rechtsgerichteter Kreise gegen den SPD-Kanzlerkandi4 Vermerk vom 22.2.1956, in: AdsD, WBA, A 6, 79. An dem Treffen mit Brandt nahmen u. a. die Korrespondenten Fritz René Allemann, Franz Wördemann, Fred Luchsinger und Klaus Harpprecht teil. 5 Der Erbe Ernst Reuters, in: Welt am Sonntag vom 8.1.1956. Um dieses Image weiter zu befördern, veröffentlichte Brandt gemeinsam mit Richard Löwenthal 1957 eine Reuter-Biographie. 6 Vgl. Was denkt Berlin, Bericht Nr. 21, 8.11.1956, in: AdsD, WBA, A 6, 15. 7 Vgl. Sitzungsprotokoll des SPD-Parteivorstands, 18.9.1957, in: AdsD, PV-Protokolle 1957. 8 Vgl. Daniela Münkel: „Alias Frahm“ – Die Diffamierungskampagnen gegen Willy Brandt in der rechtsgerichteten Presse, in: dies.: Bemerkungen zu Willy Brandt, Berlin 2005, S. 211–235.
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daten. 1957 stießen die persönlichen Angriffe jedoch ins Leere. 25 der 38 Mitglieder des Landesausschusses der Berliner SPD unterstützten Willy Brandt und nominierten ihn für die Bürgermeisterwahl.9 II. Bundespolitische Ambitionen und die Unterstützung der Medien Eine Karriere in der Bundes-SPD schien für Willy Brandt dagegen noch in weiter Ferne zu liegen. Bei den Vorstandswahlen 1954 und 1956 war er durchgefallen. Vom SPD-Parteivorstand als „Reuters Mann“ abgestempelt, hatte es der Berliner Abgeordnete auf Bundesebene von Beginn an schwer gehabt. Im Bundestag, dem er von 1949 bis 1957 angehörte, war er nur ein Außenseiter. Brandt galt als „militärfreundlicher“ Sozialdemokrat10, weil er die rigorosen Bedingungen nicht teilte, die seine Partei an einen westdeutschen Wehrbeitrag stellte. Wenngleich er sich der Fraktionsdisziplin unterwarf und gegen die Westverträge stimmte, gehörte er seit 1954 zu den Befürwortern einer NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik und setzte sich sehr für eine gemeinsame Außenpolitik von Regierung und Opposition ein.11 Außerdem trat er sehr früh für eine Parteireform ein. Stark beeinflusst von seinen skandinavischen Erfahrungen mahnte Brandt schon 1953, die Sozialdemokratie solle ihr schlechtes Gewissen gegenüber dem Begriff Volksbewegung überwinden. Die Organisationsformen der SPD seien nicht mehr zeitgemäß. Die Partei müsse eingehen auf den Wandel der Strukturen und des Bewusstseins in der Nachkriegsgesellschaft, der aus einer relativen Besserung der Lebenslage breiter Schichten und einer individuell, national und international begründeten Existenzangst resultiere. Die SPD müsse daher den freiheitlichen Sozialismus programmatisch neu fundieren.12 Dass die Bonner „Baracke“ 1957 nicht begeistert war über seinen Erfolg in Berlin13, erklärt sich nicht zuletzt aus solchen Sätzen Willy Brandts: „Ich bin stolz darauf, was in Westdeutschland in den letzten Jahren geleistet worden ist. Ich gehe da viel weiter als die SPD.“14 Folglich zählte zu den wichtigsten Voraussetzungen für seinen Aufstieg in der Bundespolitik das Scheitern der SPD bei der Bundestagswahl am 15. September 1957, das den Kritikern des Parteikurses Recht gab. Die schwere Niederlage zog 9 Vgl. Protokoll der Sitzung von Fraktion und Landesausschuss, 20.9.1957, in: AdsD, SPD Berlin, Fraktion Abgeordnetenhaus, 554. 10 Vgl. Willy Brandt: Erinnerungen. Mit den Notizen zum Fall G., Frankfurt a. M. 1994, S. 161. 11 Vgl. Schmidt: Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte (Anm. 1), S. 164–183. 12 Vgl. Willy Brandt: Überprüfen – erneuern – versachlichen, 3.12.1953, in: AdsD, Sammlung Personalia Willy Brandt, 7477. 13 Vgl. Berliner Augabe, Bd. 3 (Anm. 1), S. 232. 14 Brandt: Eisenhower muss nach Berlin! Verliert die Stadt ihre Funktion als „deutsche Brücke“?, in: Neue Ruhr-Zeitung vom 8.11.1957.
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mit der Wahl von Carlo Schmid, Fritz Erler und Herbert Wehner zu stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden erste personelle Veränderungen nach sich und war der Ausgangspunkt für die Programmreform. Dass der Berliner Bürgermeister der kommende Mann der SPD für 1961 sein könnte, wie ein mit ihm befreundeter Journalist meinte15, dafür sprach gleichwohl fast nichts. Doch als Klaus Schütz Ende 1957 bei einem gemeinsamen Spaziergang Carlo Schmid als künftigen Kanzlerkandidaten der SPD favorisierte, sagte Willy Brandt „Wieso Carlo?“ und dachte dabei zweifellos an sich selbst.16 Sein Plan war offenbar, die in Berlin erfolgreich erprobte Methode im Bund zu wiederholen: „Es müsse auch dort, theoretisierte Willy Brandt auf eine Frage nach Parallelen zwischen Berlin und dem Bundesgebiet, ein Mann dazu bereit sein, die unteren Gliederungen der Partei systematisch zu bereisen und für sich zu überzeugen, damit die Wende von unten kommen könne.“17 Aber bevor er daran denken konnte, musste er erst einmal in Berlin „festen Boden unter den Füßen gewinnen“ und zeigen, mit den „lokalen Aufgaben“ fertigzuwerden, wofür er ein Jahr veranschlagte.18 Seine bundespolitischen Ambitionen wären indes chancenlos geblieben, hätten ihn die Medien nicht massiv unterstützt. Brandts Erfolg bei den Journalisten war phänomenal. Schon bei seiner Kandidatur für den Bürgermeisterposten ergriffen die lokalen wie die überregionalen Zeitungen ungewöhnlich deutlich für ihn Partei. „Die Zeit“ sprach sich ohne Umschweife für Willy Brandt aus: Unter den Berliner Politikern sei er der beste Bürgermeister-Kandidat.19 Die „Rheinische Post“ attestierte ihm „politischen Eros“ und begeisterte sich für seine attraktive Jugendlichkeit: „Brandt besitzt dieses schwer definierbare Fluidum. Er ist kein mitreißender Volksredner [. . .]. Aber er vermag in seinen – stets freien – Reden Freunde zu packen, Indifferente zu überzeugen und Gegner mit geschliffenem Florett aufzuspießen. Zudem sieht er gut aus und strahlt einen fast jungenhaften Charme aus, der allein schon einen vielversprechenden Einbruch der ,Jungen Garde‘ in die Reihen der grauhaarigen Politiker zu garantieren scheint.“20 „Der Spiegel“ widmete ihm am 9. Oktober 1957 die Titelseite und sympathisierte mit dem „weltgewandten“, „undoktrinären“, „elastischen“ „Partei-Außenseiter“, „der sich selbst einen Intellektuellen nennt“ und so weit gehe, „wie man nur gehen kann, um mit einer proletarischen Vergangenheit zu brechen“. In einer „Blitz-Karriere“ habe Brandt sich gegen den „Apparatschik“ Neumann und „im Dienst ergraute Parteifunktionäre“ durchgesetzt. Auch wenn das Nachrichten15 Siehe das Schreiben von Klaus-Peter Schulz an Brandt, 22.9.1957, in: AdsD, WBA, A 6, 17. 16 So Klaus Schütz in einem Interview mit dem Verfasser, 10.6.1999. 17 Der Spiegel, Nr. 41/1957 vom 9.10.1957, S. 26. 18 Siehe die Schreiben Brandts an Klaus-Peter Schulz, 22.11.1957, sowie an Erich Brost, 2.12.1957, in: AdsD, WBA, A 6, 17. 19 Kandidat für Reuters Stuhl, in: Die Zeit, Nr. 38 vom 19.9.1957, S. 2. 20 Der Mann ohne s-t, in: Rheinische Post vom 5.10.1957.
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magazin offen ließ, ob dieser Sieg ein Zeichen dafür sei, die „unattraktive Kopplung der Funktionärsspitze mit der Anwartschaft auf die Regierungsspitze“ auch in der Bundespartei zu überwinden21, so ließ sich diese Hoffnung unschwer zwischen den Zeilen lesen. „Christ und Welt“ wiederum hob Brandts „menschliche Ehrlichkeit“ und „Aufrichtigkeit“ sowie dessen „Tugend der Zähigkeit“ hervor. „Die Gegner der deutschen Sozialdemokratie haben allen Grund, diesen Typ des Sozialdemokraten von morgen genau zu studieren. Er wird ein schwieriger Widerpart sein, weil er welt- und wirklichkeitsoffen ist. Aber er ist auch offen genug, die Notwendigkeit eines fairen Zusammenarbeitens zu überdenken.“22 Die Zeitungen des Springer- und des Ullstein-Verlags legten sich 1957 besonders ins Zeug. „Wir brauchen einen großen Bürgermeister [. . .]. Der richtige Mann ist Willy Brandt“, titelte das Berliner Boulevardblatt B.Z.23 Nach einer persönlichen Begegnung mit dem frisch Gewählten wies Axel Springer seine Zeitungen im Oktober 1957 indirekt an, „den neuen Regierenden Bürgermeister aufzubauen“.24 In der Tat sah der Verleger in Brandt den großen deutschlandpolitischen Hoffnungsträger. Springer glaubte, dass der Sozialdemokrat – im Gegensatz zu Konrad Adenauer – wirklich die Einheit Deutschlands anstrebte. Die Springer-Presse betrieb fortan eine moderne Form der Hofberichterstattung.25 Ihre publizistische Unterstützung für Willy Brandt begann erst mit dem Passierscheinabkommen 1963 zu bröckeln, bis das Verhältnis Anfang der siebziger Jahre wegen der „neuen Ostpolitik“ schließlich in offene Feindschaft umschlug.26 III. Für die Sicherung und Verbesserung des Berlin-Status Nicht zuletzt das Engagement in der Hauptstadtdebatte 1956/57 dürfte Springer für Brandt eingenommen haben. Im Herbst 1956 initiierte der Berliner Abgeordnete, der sich für die volle Einbeziehung seiner Stadt in den Bund stark machte, in der SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag für die Verlegung von Ministerien und Bundesbehörden nach Berlin sowie für den Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes.27 Zwar erfüllte der fast einstimmige Beschluss des Bonner Parlaments am 6. Februar 1957 diese Forderungen nur zum Teil, dennoch war 21
Der Spiegel, Nr. 41/1957 vom 9.10.1957, S. 18–26. Willy Brandt/Sozialist von morgen, in: Christ und Welt vom 10.10.1957. 23 B.Z. vom 5.9.1957. 24 Zitiert bei Münkel: Brandt und die „Vierte Gewalt“ (Anm. 1), S. 55 f. 25 Vgl. z. B. Der neue „Regierende“ von Berlin – Ein Porträt des Sozialdemokraten Willy Brandt, in: Die Welt vom 23.11.1957; Willy Brandt: Tagebuch meiner AmerikaReise, in: Bild vom 4.–8.3.1958; Wer ist unser Mann?, in: Bild vom 30.11.1959; Willy Brandt: Mein Weg nach Berlin (Vorabdruck der Autobiographie), in: Berliner Morgenpost vom 26.2.–27.3.1960. 26 Vgl. Hans-Peter Schwarz: Axel Springer. Die Biografie, Berlin 2008, S. 333–336 und 508–533. 27 Vgl. Schmidt: Kalter Krieg (Anm. 1), S. 204 f. 22
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das Bekenntnis zur Hauptstadt Berlin in einem wiedervereinigten Deutschland und die Absichtserklärung, regelmäßig Bundestagssitzungen an der Spree abzuhalten, ein Erfolg für Willy Brandt.28 Gegen noch mehr Bundespräsenz wurde der Viermächtestatus ins Feld geführt. Aus Brandts Sicht reichte die Berufung darauf aber nicht mehr aus, um den Status quo in Berlin zu erhalten, wie er im Februar 1957 in einem Leserbrief an den „Spiegel“ ausführte: Die Vereinbarungen über eine gemeinsame Verwaltung seien obsolet geworden. Trotz formellen Vorbehalts werde West-Berlin praktisch vom Bund aus regiert. Die Sowjets hätten diese Entwicklung unwidersprochen hingenommen und sich mit Sitzungen des Bundestages sowie mit Einrichtungen des Bundes in West-Berlin abgefunden, wie umgekehrt die Westmächte die Etablierung der „DDR-Regierung“ in Ost-Berlin akzeptiert hätten. Eine weitere Verlegung von Bundesbehörden oder das Stimmrecht der Berliner Abgeordneten im Bundestag könne daher nicht als Verletzung des Viermächtestatus angesehen werden.29 Die Behauptung, „dass Westberlin zum Bund gehört und Ostberlin zur ,DDR‘“30, widersprach allerdings nicht nur den alliierten Vorbehalten, sondern auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.31 Im Dezember 1957 spitzte der neue Regierende Bürgermeister seine Überlegungen nochmals zu: „Ich glaube, wir haben es heute tatsächlich im freien Berlin mit einem Dreimächtestatus zu tun [. . .]. [E]s kann für uns keinen Viermächtestatus etwa der Art geben, dass die vierte Macht in West-Berlin mitregieren möchte und es im anderen Teil Berlins [. . .] beim Ein-Mächte-Status bleibt.“32 Dass er unmittelbar nach dem 13. August 1961 von US-Präsident Kennedy die Proklamierung eines DreiMächte-Status für West-Berlin verlangte33, war also keine Eingebung des Augenblicks. Doch dieser Vorschlag und der Ruf nach der völligen Eingliederung West-Berlins in die Bundesrepublik waren weder vor noch nach dem Mauerbau mit dem Viermächtestatus vereinbar. Der hätte seine wichtigste praktische Bedeutung möglicherweise sehr viel früher verloren, wären die Forderungen, die Willy 28
Vgl. Merseburger: Willy Brandt 1913–1992 (Anm. 1), S. 345 f. Vgl. Der Spiegel, Nr. 9/1957 vom 27.2.1957, S. 5 f. 30 Willy Brandt: Berlin im Brennpunkt – sein Ringen um Deutschlands Einheit und Europas Freiheit, Juli 1957, S. 4, in: AdsD, WBA, A 3, 82. 31 Demnach galt das Grundgesetz in und für das Bundesland Groß-Berlin, soweit nicht aus der Besatzungszeit stammende und noch aufrechterhaltene Maßnahmen der Drei Mächte seine Anwendung beschränkten. Vgl. Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG, 21.5.1957, 2 BvL 6/56. 32 Gespräch zwischen dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, und Prof. Dr. Walter Hofer über aktuelle Probleme der ehemaligen Reichshauptstadt, in: Pressedienst des Senats von Berlin, 12.12.1957, Anhang IA, S. 4. 33 Vgl. Berliner Ausgabe, Bd. 3 (Anm. 1), S. 337. 29
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Brandt schon 1957 erhob, realisiert worden. Die offene Sektorengrenze ermöglichte nicht nur Hunderttausenden von Landsleuten aus der „Zone“ die Flucht. Sie erlaubte auch Millionen Ost-Berlinern und Ostdeutschen, „den Westen“ mit eigenen Augen zu sehen. Von Jahr zu Jahr wuchs auch bei Brandt die Sorge, dass die einzig verbliebene gesamtdeutsche Begegnungsstätte beseitigt werden könnte. Nach nur wenigen Tagen im Amt glaubte der Regierende Bürgermeister, eine neue schwere Krise stünde unmittelbar bevor. Begleitet von massiven Behinderungen im Berlin-Verkehr und nach einer vorübergehenden Sperrung der Sektorenübergänge zwischen Ost- und West-Berlin, schien Anfang November 1957 eine weitere Zuspitzung zu drohen. Ein Geheimdienstbericht meldete, die DDR werde noch vor Weihnachten Absperrmaßnahmen durchführen, so dass Ost-Berlinern das Verlassen des Ostsektors nur mit besonderer Genehmigung möglich sein werde. Für eine effektive Kontrolle sollten der U- und S-Bahn-Verkehr an den Übergängen gestoppt werden.34 Brandt nahm diese Meldungen sehr ernst und ging damit an die Öffentlichkeit. In einem Interview erklärte er, die Pläne „Pankows“, über die in West-Berlin eine Fülle von konkreten Einzelheiten vorlägen, dienten dem Ziel „[. . .] die Sowjetzone und Ostberlin gegenüber der ,westlichen Insel‘ zu isolieren [. . .]. Dadurch würde zwar nicht der Lebensnerv Westberlins getroffen werden, [. . .] aber die Funktion Berlins als Brücke zwischen West und Ost.“35 Jene Gefahr, die mit dem Mauerbau vier Jahre später Wirklichkeit wurde, war ihm schon 1957 sehr wohl bewusst. Die totale Abriegelung durch eine „Chinesische Mauer“ hielt er jedoch für undurchführbar, „solange es noch zahllose Häuser gibt, deren Vorderausgang nach Osten und deren Hinterausgang nach Westen führt“.36 West-Berlins Bürgermeister bemühte sich nun wieder stärker um den Erhalt der Reste des Viermächtestatus. Von den Alliierten verlangte er, sie müssten auf ihre Verantwortung für ganz Berlin pochen und damit auch das Recht auf freien Verkehr innerhalb der Stadt bekräftigen. US-Präsident Dwight D. Eisenhower müsse nach Berlin kommen.37 Ein solcher Besuch war Brandt so wichtig, dass er diese Bitte in den darauf folgenden Jahren mehrmals über die verschiedensten Kanäle und persönlich im Weißen Haus vorbrachte.38 Aber erst im Juni 1963 folgte John F. Kennedy der Einladung – unter dramatisch veränderten Bedingungen. 34
Vgl. den Bericht der Quelle V547, 29.10.1957, in: AdsD, WBA, A 6, 17. Brandt: Eisenhower muss nach Berlin! (Anm. 14). 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd. 38 Siehe dazu die folgenden Schreiben: Brandt an Eleanor Dulles, 7.8.1959; Brandt an Adenauer, 6.4.1961; Walter P. Reuther an Brandt, 21.6.1961; Brandt an Walter P. Reuther, 20.3.1963. AdsD, WBA, A 6, 22, 28, 29 und 36. 35
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Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich 1957 nicht. Ein neues Interzonenhandelsabkommen beruhigte die Lage im Berlin-Verkehr. Aber Brandt blieb überzeugt davon, dass Ulbricht bei den Sowjets auf Absperrmaßnahmen in Berlin drängte39, die der Kreml aus mangelndem Interesse an einer Verschärfung der Lage (noch) nicht mitzutragen bereit sei.40 IV. Plädoyer für eine neue Deutschland- und Ostpolitik Nicht nur in der Frage des Berlin-Status wagte sich Willy Brandt 1957 weit vor. Bereits im März des Jahres hatte er in Sachen Wiedervereinigung und Ostgrenze eher unfreiwillig Schlagzeilen gemacht. Die dänische Zeitung Politiken zitierte aus einem Hintergrundgespräch mit dem Abgeordnetenhauspräsidenten: Je länger die Teilung aufrechterhalten werde, desto mehr werde in Deutschland der Boden bereitet für die Forderung nach den verlorenen Provinzen östlich der Oder/Neiße-Grenze. „Hier liegt eine Gefahr vor, [. . .] noch einmal einen großpolitischen Handel mit Moskau – auf Kosten der Polen – abzuschließen. Diese Gefahr kann eingedämmt werden, wenn die Sowjetzone und Westdeutschland wiedervereinigt würden. Ich glaube, dass man dadurch und durch eine globale Ordnung der Sicherheit die Deutschen dafür gewinnen könnte, die Grenze im Osten anzuerkennen.“41 Zwar dementierte Brandt die kolportierten Aussagen42, die der Forderung der SPD nach Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 widersprachen und von deutschen Zeitungen aufgegriffen worden waren. Doch spricht viel dafür, dass seine Äußerungen richtig wiedergegeben worden sind. Seit Jahren riet Brandt dazu, die Vereinigung der Bundesrepublik mit den „mitteldeutschen Gebieten“ anzustreben, falls sich überhaupt Realisierungsmöglichkeiten dafür bieten sollten.43 Im April 1957 betonte er: „Jene Vorstellung ist wirklichkeitsfremd, [. . .] dass wir erst die Wiedervereinigung bekommen würden und dann nach Belieben das nächste Ziel unserer nationalen Politik ansteuern könnten. Aller Wahrschein39 Siehe das Schreiben Brandts an Paul Hertz, 22.11.1957, in: AdsD, WBA, A 6, 17. Zur These, dass Ulbricht Chruschtschow zur Abriegelung der Sektorengrenze antrieb, vgl. Hope Harrison: Driving the Soviets up the Wall. Soviet-East German Relations, 1953–1961, Princeton 2005. 40 Vgl. Willy Brandt: Berlin ist nicht mehr gefahrlos zu übersehen, in: Münchner Merkur vom 23.11.1957. 41 „Die unglückselige Glasmauer“, ms. Manuskript der deutschen Übersetzung des Artikels von Adolf Rastén in der dänischen Zeitung Politiken vom 26.3.1957, in: AdsD, Sammlung Personalia Willy Brandt, 7479. 42 Vgl. Brandt lässt mit sich verhandeln, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, Nr. 79 vom 4.4.1957, S. 6 f. 43 „Die Vereinigung [. . .] bezieht sich zunächst nicht auf die deutschen Gebiete östlich der Oder und Neiße [. . .].“ Willy Brandt: Was geschieht am Tage X? Probleme der deutschen Wiedervereinigung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 2 (1951), Heft 11, S. 591–595.
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lichkeit nach werden wir uns keiner oder aber einer inhaltlich verbundenen Lösung des Problems der Wiedervereinigung und der Ostgrenze gegenübersehen.“44 Weit vor Ausbruch der zweiten Berlin-Krise ging Willy Brandt davon aus, dass der Status quo der deutschen Teilung länger andauern würde. Deshalb drängte er auch darauf, den Schwerpunkt auf die Förderung des Zusammenhalts der Nation zu legen. Seit Mitte der fünfziger Jahre forderte er, sich verstärkt um menschliche Erleichterungen und mehr Begegnungen im innerdeutschen Reise- und Besuchsverkehr zu bemühen.45 Als Regierender Bürgermeister versuchte er, diese deutschlandpolitische Maxime in die Tat umzusetzen. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung bekundete er am 17. Oktober 1957 die Bereitschaft des Senats, mit dem Magistrat im Osten technische Kontakte aufzunehmen, um über die Milderung von Auswüchsen der Spaltung zu verhandeln.46 Ganz neu war dieser Vorschlag nicht. Bereits Otto Suhr hatte 1955 – angeregt und unterstützt vom damaligen Parlamentspräsidenten Brandt – eine solche Offerte unterbreitet.47 Aber die innerstädtische Ebene blieb blockiert, denn die andere Seite bestand auf der politischen Anerkennung als Vorbedingung. Den Vorschlag Friedrich Eberts, ein Treffen der Stadtoberhäupter abzuhalten, wies Willy Brandt im März 1958 mit dem Hinweis zurück, auf West-Berliner Seite stünde ein Senatsrat für Kontakte zur Verfügung.48 Bemerkenswert bleibt, dass der Senat auch nach dem Mauerbau noch lange Zeit am Prinzip festhielt, Gespräche über menschliche Erleichterungen müssten zwischen den Stadtverwaltungen stattfinden.49 Die Passierscheinverhandlungen von 1963 bis 1966 führte tatsächlich stets ein Senatsrat. Ihm saß zwar kein Magistratsbeamter gegenüber, sondern ein Vertreter der DDR-Regierung. Deren formelle Anerkennung lehnte der Senat aber bis zuletzt strikt ab. Dass der Regierende Bürgermeister Willy Brandt gleichwohl von Anfang an ernsthaft an einer Entspannung mit dem Osten interessiert war, davon zeugt besonders eine Rede, die er drei Monate nach seinem Amtsantritt hielt.50 Ausge44 „Wege + Ziele einer neuen deutschen Außenpolitik“, ms. und hs. Manuskript Willy Brandts für einen Vortrag in München, 8.4.1957, S. 14 b, in: AdsD, WBA, A 3, 81. 45 Vgl. Wolfgang Schmidt: Die Wurzeln der Entspannung – Der konzeptionelle Ursprung der Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts in den fünfziger Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), Heft 4, S. 521–563. 46 Vgl. Berliner Ausgabe, Bd. 3 (Anm. 1), S. 210–215. 47 Vgl. Schmidt: Kalter Krieg (Anm. 1), S. 171. 48 Vgl. Keine isolierte Lösung für Berlin, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.3.1958. 49 Noch am 31. Oktober 1963 erklärte Brandt vor der Presse, ein Ost-Berliner Gesprächspartner könne zwar Mitglied der „Zonenregierung“ sein. Entscheidend wäre aber, ob er ausgewiesen sei als Vertreter der östlichen Stadtverwaltung. Zitiert bei Schmidt: Kalter Krieg (Anm. 1), S. 515. 50 Vgl. „Betrachtungen zur internationalen Politik“, Vortrag des Regierenden Bürgermeisters vor der Steuben-Schurz-Gesellschaft Berlin e.V., 17.1.1958, Broschüre, in:
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hend vom Postulat eines atomaren Gleichgewichts und dem gemeinsamen Interesse der USA und der Sowjetunion, „[. . .] dass die Welt nicht in die Luft fliegt“, sprach er von der Unausweichlichkeit einer Politik der Koexistenz, von der er seit Mitte der fünfziger Jahre überzeugt war.51 Er glaubte an den „objektiven Zwang“ für alle Beteiligten, „sich trotz aller Dinge, die sonst zwischen ihnen stehen, immer noch einmal wieder um bestimmte Ordnungselemente des Zusammenlebens der Staaten zu bemühen“.52 Wegen der unüberschaubaren Konsequenzen könne es eine militärische Option zur Befreiung Osteuropas nicht geben, so Brandt weiter. Die Hoffnung darauf geweckt zu haben, sei das große Missverständnis gewesen sowohl in der DDR 1953 als auch in Ungarn 1956.53 Um die Teilung der Welt und damit Europas und Deutschlands zu überwinden, plädierte der Berliner Bürgermeister für das langfristig angelegte Einwirken des Westens auf die Entwicklung im Osten, d. h. für eine Politik des „friedlichen Wettbewerbs“ der Systeme, für Handel und Austausch sowie möglichst viele menschliche Begegnungen. Brandt hoffte auf eine Veränderung der kommunistischen Regime, die auch dann zu begrüßen sei, wenn sie noch nicht die demokratische Selbstregierung der osteuropäischen Völker mit sich bringe. So sei die Sowjetunion inzwischen Industrienation Nr. 2 in der Welt und werde bald mehr Stahl produzieren als die Montanunion. Wenn auch mit „brutalsten, für uns unerträglichen Mitteln“ sei eine Industriegesellschaft geschaffen worden, in der es nun fast zwangsläufig zu „Differenzierungserscheinungen“ komme. Die gut qualifizierten Menschen stellten höhere Ansprüche an den Lebensstandard, welche die Regime nicht unerfüllt lassen könnten. In Polen und Ungarn habe sich 1956 auch gezeigt, dass die jungen Leute der ideologischen Indoktrinierung zum Trotz nach „mehr Unabhängigkeit, mehr Wahrhaftigkeit und mehr Schönheit im Leben“ strebten.54 Um solche Entwicklungen jenseits des Eisernen Vorhangs zu befördern, sollte die Bundesrepublik, deren Außenpolitik seit 1949 nur auf einem Bein stehe, „doch auch das andere Bein – und das heißt Ostpolitik – heruntersetzen“.55 Diese dürfe keine Schaukelpolitik sein, sondern müsse die Westintegration ergänzen. Brandt machte aber auch die Grenzen deutlich, die ihm in Berlin Richtung Osten gesetzt waren. Nur nach „vertrauensvoller Aussprache und Verständigung AdsD, WBA, A 3, 84. In Auszügen abgedruckt in: Berliner Ausgabe, Bd. 3 (Anm. 1), S. 233–237. 51 „Durch die Entwicklung der modernen Zerstörungsmittel hat der Krieg aufgehört, das Mittel irgendeiner Politik zu sein. In dieser Generation wird über nichts weniger als den Fortbestand der Menschheit entschieden.“ Willy Brandt: Koexistenz – Hoffnung und Gefahr, in: Telegraf vom 19.4.1955, in: AdsD, WBA, A 3, 73. 52 „Betrachtungen zur internationalen Politik“ (Anm. 50), S. 5. 53 Ebd., S. 9 f. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 12 f.
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mit den bundesrepublikanischen Faktoren wie mit unseren westlichen Freunden“ könnten eigene kleine Schritte und Sondierungen unternommen werden. Falls eine Erschütterung dieses Vertrauensverhältnisses befürchtet werden müsste, würde er auf für notwendig gehaltene Initiativen verzichten.56 V. Freund Amerikas und Gegenspieler Herbert Wehners Der Schulterschluss mit dem Westen war unverzichtbar, weil dessen Sicherheitsgarantien West-Berlin schützten. Deshalb vermochte Willy Brandt die Begeisterung der sozialdemokratischen Führung für ein militärisches „Disengagement“ und die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa nicht zu teilen, mit denen die deutschlandpolitische Debatte ab Ende 1957 in ein neues Stadium eintrat. So wies er beispielsweise die Forderung des stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler zurück, Berlin in eine atomwaffenfreie und von Besatzungstruppen geräumte Zone einzubeziehen.57 Augenfälligste Demonstration der unbedingten Loyalität zum westlichen Bündnis war die zwölftägige USA-Reise, die Berlins Regierender im Februar 1958 unternahm. Er traf mit Präsident Eisenhower, Vizepräsident Nixon, Außenminister Dulles sowie hochrangigen Ministern, Senatoren und vielen einflussreichen Persönlichkeiten zusammen. Das Besuchsprogramm, das große Resonanz in den amerikanischen wie in den deutschen Medien fand, passte eher zu einem Staatsgast als zu einem Bürgermeister.58 Im Gegensatz zu SPD-Chef Erich Ollenhauer 1957 wurde dieser junge Sozialdemokrat in den USA mit offenen Armen empfangen und verkörperte einen neuen Stil. Deutsche Zeitungen berichteten, in amerikanischen Regierungskreisen werde schon über Brandts Chancen spekuliert, Adenauers Nachfolger zu werden.59 Ohne Zweifel wollte der Regierende Bürgermeister sich in der Bundesrepublik auch dafür ins Gespräch bringen. Und nach den vorangegangenen Bundestagswahlkämpfen galt, dass nur der gewinnen konnte, der in Amerika wohlgelitten war. Mit seinen Auftritten und Botschaften profilierte sich Willy Brandt nicht zuletzt gegen die SPD-Führung in Bonn. Zurück in Deutschland wurde er nicht müde zu betonen, es gebe in den USA große Sorgen vor einer „Schaukelpolitik“ der Westeuropäer oder der Deutschen, und warnte vor der „illusionären Vorstellung, man könnte aus Europa oder der Welt austreten, wie aus einem Fußballclub“.60 Der amerikanische Außenminister hatte ihm dazu unmissverständlich 56
Ebd., S. 13 f. Siehe Erklärungen des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt vor seinem Abflug nach den USA, 6.2.1958, in: AdsD, WBA, A 3, 84. 58 Zu den Einzelheiten der USA-Reise 1958 siehe WBA, A 6, 86 und 87. 59 Bürgermeister Brandt beeindruckt Amerika, in: Stuttgarter Zeitung vom 1.3.1958. 60 Vortrag des Regierenden Bürgermeister im Amerika-Haus Berlin, hektogr. Redemanuskript, 24.2.1958, S. 13 f., in: AdsD, WBA, A 3, 84. 57
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mitgegeben, „dass eine neutrale Zwischenstellung Deutschlands weder für die eine noch für die andere Seite tragbar sei“.61 In der Bonner SPD-Zentrale mochte man solch unbequeme Wahrheiten (noch) nicht akzeptieren. Trotz des Debakels bei der Bundestagswahl hatte Erich Ollenhauer einen Kurswechsel in Sachen Westintegration und Wehrbeitrag kategorisch ausgeschlossen und es abgelehnt, sich mit der NATO-Mitgliedschaft und der Wehrpflicht abzufinden.62 Die außen- und deutschlandpolitische Erneuerung der SPD verlief deshalb zunächst ganz anders, als von Brandt erhofft: Je geringer die Erfolgsaussichten für eine rasche Wiederherstellung der deutschen Einheit wurden, desto kühner wurden die Träume führender Sozialdemokraten, die Wiedervereinigung doch noch zu erreichen. Die treibende Kraft dahinter war Herbert Wehner. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende plädierte für eine innerdeutsche Annäherung und eine gewisse Anerkennung der DDR durch Verhandlungen, deren Endziel ein geeintes Deutschland „als Mischform der beiden Systeme“ sein sollte.63 Am 24. Februar 1958 trat Wehner erstmals öffentlich dem Gedanken an eine deutsch-deutsche Konföderation nahe – neun Tage, nachdem SED-Chef Walter Ulbricht der Bundesrepublik eine Konföderation und die Bildung eines gesamtdeutschen Rates angeboten hatte.64 Mehr und mehr entwickelte sich Willy Brandt nun zum konzeptionellen Gegenspieler Herbert Wehners in der SPD. Zu den Konföderationsplänen erklärte der Regierende Bürgermeister anlässlich einer mehrtägigen Großbritannien-Reise am 13. März 1958 in London, dass die sowjetische These von den zwei deutschen Staaten natürlich eine der Realitäten sei. „Entscheidend scheint es mir jedoch auf Folgendes anzukommen. Die Regierung der so genannten DDR verfügt über kein politisches Eigengewicht. [. . .] Politische Verhandlungen zwischen Bonn und Ostberlin wären tatsächlich Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau.“ Er warnte davor, die Westmächte aus der Auseinandersetzung mit dem Deutschland-Problem auszuschalten. „Das können wir nicht wollen.“65
61 Willy Brandt: Tagebuch – USA-Reise, hs. Manuskript, S. 10, in: AdsD, WBA, A 3, 84. In den „Erinnerungen“ (Anm. 10, S. 154) datierte Brandt sein Gespräch mit Dulles fälschlicherweise auf das Jahr 1959. Richtig datiert ist es in: Willy Brandt: Begegnungen mit Kennedy, München 1964, S. 36. 62 Vgl. Protokoll der Sitzung des SPD-Parteivorstands, 25.9.1957, S. 8 f., in: AdsD, PV-Protokolle 1957. 63 Vgl. Herbert Wehner: Voraussetzungen der Wiedervereinigung Deutschlands, in: Die Neue Gesellschaft 3 (1956), Heft 2, S. 83–98. 64 Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik, III. Reihe, Bd. 4: 1. Januar–9. November 1958, bearb. von Ernst Deuerlein und Gisela Biewer, Frankfurt a. M. 1969, S. 533–541 und 583–589. 65 „Eine separate Lösung des Berliner Problems ist nicht möglich“, Rede Willy Brandts vor dem Royal Institute of Foreign Affairs im Chatham House, London, 13.3. 1958, in: AdsD, WBA, A 3, 84.
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Auf Antrag der Berliner SPD-Bundestagsabgeordneten, die in Wehners Überlegungen „eine Lebensfrage für Berlin“ berührt sahen66, kam es am 17. März 1958 in Bonn zu einer Sondersitzung des Partei- und Fraktionsvorstands der SPD, an der auch Willy Brandt teilnahm. In der Sitzung warb er für eine Alternative: „Die Konföderationsidee sollte uns eine Gegenvorstellung entwickeln lassen. Über die Verkehrsfragen hinausgehend, könnten unter dem Dach der 4 Mächte Verwaltungsvereinbarungen getroffen werden.“67 Zugleich forderte er ein neuerliches Bekenntnis der Sozialdemokraten, keine Lösung der deutschen Frage im Alleingang mit der Sowjetunion suchen zu wollen, und kritisierte indirekt den Wiedervereinigungsrigorismus der SPD. Die deutsche Position werde international geschwächt, „[. . .] wenn wir auf dem Tagesordnungspunkt Deutschland bestehen“. Auch Teillösungen, z. B. bei der Abrüstung, müssten begrüßt werden.68 Herbert Wehner, der von der Mehrheit der Sitzungsteilnehmer unterstützt wurde, lehnte das Modell Brandts ab: Selbst technische Abmachungen mit „Pankow“ würden nur möglich sein, wenn so etwas wie der Rapackiplan oder andere militärische Voraussetzungen gegeben seien. „Wenn man die Wiedervereinigung noch will, braucht man eine Kombination von Schritten, die die 4 Mächte und die beiden Teile Deutschlands gehen müssen. Die beiden Deutschland gehören in einen gemeinsamen Entspannungsrahmen“, so Wehner. Erich Ollenhauer erklärte eine konföderative Zusammenarbeit für denkbar, wenn zuvor der Rahmen durch die Vier Mächte gegeben wäre. Der Parteivorsitzende hielt auch eine vertraglich geregelte militärische Neutralität Gesamtdeutschlands für möglich, während Fritz Erler darüber nicht diskutieren mochte und eine Neutralität der Bundesrepublik klar ablehnte. Wehner meinte dazu, neutrale Staaten müssten kein Vakuum sein.69 Insbesondere wegen der im Dezember 1958 anstehenden Abgeordnetenhauswahl ging Brandt in den folgenden Monaten weiter auf Distanz zu den außenund deutschlandpolitischen Initiativen der SPD. Er sorgte dafür, dass sich die Berliner Sozialdemokraten nur sehr eingeschränkt an der Anti-Atomtod-Bewegung der Bundes-SPD beteiligten. Der Landesverband lehnte es ab, in West-Berlin eine Volksabstimmung gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr durchführen zu sollen.70 Zudem gab der Regierende Bürgermeister seiner Skepsis gegen die „Disengagement“-Pläne wiederholt Ausdruck. Es gebe keinen erkennbaren
66 Siehe das Schreiben Kurt Matticks an Brandt (in London), 11.3.1958, in: AdsD, WBA, A 6, 18. 67 Protokoll der Sitzung von SPD-Partei- und Fraktionsvorstand, 17.3.1958, in: AdsD, PV-Protokolle 1958. 68 „P.V. und Fr.V., 17.III.58“, hs. Notizen Kurt Matticks, in: AdsD, Nl. Mattick, 312. 69 Protokoll der Sitzung von SPD-Partei- und Fraktionsvorstand (Anm. 67). 70 Vgl. Schmidt: Kalter Krieg (Anm. 1), S. 226 f.
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Preis für die Wiedervereinigung, und es bestehe auch kein Verrechnungskonto Abrüstung gegen Wiedervereinigung.71 Der erste Mann Berlins war aber klug genug, die Differenzen mit der sozialdemokratischen Führung nicht noch auszuweiten, um seine Wahl in den Parteivorstand nicht zu gefährden. Beim Bundesparteitag in Stuttgart im Mai 1958 glückte Willy Brandt endlich der lang ersehnte Sprung. Dort fand zugleich eine radikale Erneuerung und Verjüngung der SPD-Spitze statt, mit der die Macht des bis dato herrschenden hauptamtlichen Parteiapparats gebrochen und der Weg zum Godesberger Reformprogramm freigemacht wurde. Die Reform der Außenund Deutschlandpolitik der SPD, für die Brandt stand, ließ dagegen noch auf sich warten. Den Warnungen aus Berlin zum Trotz folgte die Partei dem Kurs, der im März 1959 in den Deutschlandplan mündete. VI. Fazit Im Herbst 1957 begann die entscheidende Zäsur in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Sozialdemokratie. Die schwere Niederlage bei der Bundestagswahl war der Auslöser für die Reform der SPD. Simultan mit dem Scheitern des Arbeiterparteimodells setzte sich in Berlin mit Willy Brandt der Prototyp des „modernen“ Sozialdemokraten durch: entschieden westlich und marktwirtschaftlich orientiert, realistisch, antikommunistisch, weltoffen, undogmatisch, überparteilich, charismatisch, telegen, jung und gut aussehend. Er stellte das Gegenbild zum Klischee des biederen SPD-Funktionärs dar und wurde bald als ein ernsthafter Herausforderer des greisen Konrad Adenauer wahrgenommen. Damit verbanden sich Hoffnungen auf einen Politik- und Generationswechsel, ohne dass die Grundkoordinaten der Bundesrepublik verändert würden. Ganz gleich, ob die Zuschreibungen allesamt zutrafen oder nicht, sie entfalteten in jedem Fall eine große öffentliche Wirksamkeit, da die Medien – besonders die Springer-Presse – dieses Willy-Brandt-Image deutschlandweit verbreiteten. Allerdings hatte sein Sieg über die Traditionskompanien in der Berliner SPD 1957 für die Entwicklung der Gesamtpartei zunächst nur symbolische Bedeutung; es war ein Menetekel für die Funktionärsgarde in der Bonner „Baracke“, deren Ära zu Ende ging. Seine Wahl zum Regierenden Bürgermeister stärkte gewiss das Lager der Reformer. Doch noch war sein Einfluss in der Bundespolitik gering. Obwohl er schon bald Ambitionen auf eine Spitzenposition in Bonn hegte, spielte Willy Brandt keine entscheidende Rolle in der Debatte, die zum Godesberger Programm führte.72 Aber er profitierte am meisten von den organi-
71 Vortrag Willy Brandts vor dem Kuratorium Unteilbares Deutschland in Bonn, hs. Manuskript, 9.5.1958, in: AdsD, WBA, A 3, 85. 72 Vgl. Berliner Ausgabe, Bd. 4 (Anm. 1), S. 201–205.
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satorischen, personellen und programmatischen Veränderungen, welche die SPD bis Ende 1959 vollzog. Sein Hauptaugenmerk richtete der Berliner Bürgermeister auf den Wandel der sozialdemokratischen Außen- und Deutschlandpolitik. In der SPD war er der nachdrücklichste Befürworter einer uneingeschränkten Anerkennung der westdeutschen NATO-Mitgliedschaft und ein Verfechter der größtmöglichen Gemeinsamkeit mit der Bundesregierung und den Westmächten. Er widersprach dem illusionären deutschlandpolitischen Kurs der Parteiführung, wandte sich aber auch gegen die starre und sterile Konzeption Adenauers, dessen Versprechen, die Westintegration führe quasi automatisch zur Wiedervereinigung, sich nicht bewahrheitet hatte. Brandt befürwortete eine im Westen verankerte Ostpolitik, die vom Interesse der großen Mächte an einem stabilen Status quo ausging und langfristig auf die friedliche Veränderung der Lage abzielte. Die Neuorientierung der Außen- und Deutschlandpolitik der SPD wie der Bundesrepublik nahm ihren Beginn mit der Wahl Willy Brandts zum Regierenden Bürgermeister, wenngleich es ihm zunächst nicht gelang, den Zug aufzuhalten, den vor allem Herbert Wehner 1958 ins Rollen gebracht hatte und ein Jahr lang kräftig unter Dampf setzte. Dass die Fahrt auf dem Abstellgleis zum Stehen kam, dafür sorgte der sowjetische Ministerpräsident. Chruschtschows völliges Desinteresse am Deutschlandplan, mit dem die SPD auf das Berlin-Ultimatum antwortete, riss die Parteiführung im Frühjahr 1959 aus ihren letzten Wiedervereinigungsträumen. Die Berlin-Krise war der entscheidende Katalysator für den bundespolitischen Durchbruch des Regierenden Bürgermeisters. Im Dezember 1958 errang er mit der Berliner SPD die absolute Mehrheit bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus. Zu internationalem Ruhm verhalf ihm drei Monate später eine Weltreise, die er auf Kosten der Bundesregierung unternahm, um für das bedrängte West-Berlin zu werben. Die auf Bundesebene im Umbruch befindliche SPD konnte den erfolgreichsten und beliebtesten deutschen Politiker, der in Umfragen bessere Werte als Adenauer und Erhard erreichte, nicht länger übersehen. Willy Brandt war der Mann, der den Reformkurs von der Arbeiter- zur Volkspartei am glaubwürdigsten verkörperte und ihre noch offene außenpolitische Flanke zu schließen versprach. „Der Sozialdemokrat von morgen“ optimierte die Wahlchancen der SPD. Das erkannte kaum jemand besser als Herbert Wehner. Mit seinem uneingeschränkten Bekenntnis zur Westintegration verpflichtete er die Gesamtpartei am 30. Juni 1960 auf den Gemeinsamkeitskurs des Berliner Bürgermeisters, dessen Berufung zum Kanzlerkandidaten damit praktisch entschieden wurde.
Die stärkere Alternative – Fragen an das Jahr der Abrechnung1 Von Guntolf Herzberg „Stärker“ ist ein Komparativ – doch welches sind hier die Alternativen, wessen Alternative ist hier stärker in Bezug auf welche andere? Warum ist sie stärker? Warum die andere schwächer? Um diese Antworten soll es im Folgenden gehen. Nach den langen Jahren des Stalinismus in der Sowjetunion, in den osteuropäischen Ländern und in der DDR konnte seit März 1956, seit dem XX. Parteitag der KPdSU in Moskau, eine für das weitere Schicksal des Sozialismus entscheidende Chance realisiert oder vertan werden: die der Entstalinisierung (mit ihren verschiedenen abschwächenden Umschreibungen wie „Kampf gegen den Dogmatismus“, „Wiederherstellung der Leninschen Normen des Parteilebens“ o. ä.). Diese Chance, von der dieser Beitrag handelt, wurde von Chruschtschow eröffnet, in der Sowjetunion durch die vorübergehende Auflösung des GuLag-Systems, durch innenpolitische Reformen und eine kurzzeitige Liberalisierung der Kultur genutzt, in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und in der DDR aufgegriffen und im Jahre eins nach dem Parteitag in verschiedener Weise praktisch umzusetzen versucht – am weitesten in Polen und Ungarn, weniger im Nachbarland Tschechoslowakei, und bis zum Sommer gab es in der DDR reale Möglichkeiten, trotz des Widerstands von Ulbricht eine gegen ihn gerichtete Entstalinisierung voranzutreiben: Dazu gab es Kräfte im Zentralkomitee, in zahlreichen Parteileitungen und -organisationen, es gab die Zeitung SONNTAG, und an den Universitäten wie in manchen Theatern Ansätze von Kritik. Die Alternative hieß seit März 1956 „Entstalinisierung“ – doch es wird sich zeigen, dass es eine schwache Alternative wurde. Die stärkere wurde nach einer Rückzugsphase der SED-Führung und einem ausgesprochenem Krisenplenum – dem 28., das dann aus der Parteigeschichtsschreibung rasch eliminiert wurde – seit Oktober jenes Jahres die Verfolgung und Bestrafung aller Kritiker in einer umfassenden Offensive, genannt „Kampf gegen den Revisionismus“, offiziell begonnen mit dem 30. ZK-Plenum (30. Januar bis 1. Februar 1957), vorangekün1 Der Aufsatz, dessen Vortragsstil bewusst beibehalten wurde, basiert auf meinem Buch: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin 2006. Was hier oft nur angedeutet werden kann, wird dort ausführlich dargelegt.
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digt zwei Tage vor Jahresbeginn von Walter Ulbricht, natürlich im Neuen Deutschland. Warum aus den Chancen einer Erneuerung eine Niederlage und aus dem Rückzug der SED-Führung ein glatter Sieg wurde, bedarf einer Analyse – sowohl der objektiven wie der subjektiven Faktoren. I. 1956 war noch, im ersten Jahr nach dem Parteitag, vieles möglich – das sagt sich leicht. Warum war der politische Raum freier als vorher und nachher? – Erstens: In der Sowjetunion bemühte sich Chruschtschow um die Verarbeitung und Kanalisierung des Stalinismus – damit war auch sein persönliches Schicksal verbunden, die sowjetische Parteiführung war bis zum Oktober mit sich selbst beschäftigt. – Zweitens: Der innenpolitische Druck sank durch die Verunsicherung der SEDSpitze, was denn noch Stalinismus war und was nicht, auf ein Minimum, zählbar in der geringen Zahl von Verhaftungen, umgekehrt: Freilassung von fast 12.000 Häftlingen im Juni und die Rehabilitierung vieler in Parteiverfahren bestrafter SED-Mitglieder – hoch blieb aber die Zahl der „Republikflüchtlinge“.2 – Drittens: Ulbricht war in einer äußerst unangenehmen Lage (um nicht zu sagen: in der Klemme): Er war als Stalinist bekannt, musste erleben, wie im Juli der ungarische Stalinist Rakosi von Mikojan abgesetzt wurde, wie in Polen Gomulka aus dem Gefängnis entlassen und wenige Monate später – gegen den Willen des sowjetischen Parteichefs – an die Spitze der Partei gewählt wurde (und Ulbricht hatte gerade Paul Merker aus dem Gefängnis entlassen). Und wenn er sich umsah: Er war beim Volk unbeliebt (das war noch zu verkraften), von der Intelligenz verachtet (das kränkte ihn), im Politbüro wurde er im Juli von Fred Oelßner angegriffen,3 Schirdewan schien an seinem Stuhl zu sägen, er misstraute seinem Staatssicherheitschef (einen musste er schon 1953 in die Wüste schicken) – genau betrachtet hing er nur am Tropf oder Faden von Chruschtschows Gnade. – Viertens: Nach dem ersten Schlag, dass im Westen die sogen. „Geheimrede“ des sowjetischen Parteichefs im Juni veröffentlicht und damit jedem interessierten DDR-Bürger zugänglich wurde, kam bald darauf der zweite Schlag für 2 Fluchtzahlen: 1953 = 331.390, 1954 = 184.198, 1955 = 252.870, 1956 = 279.189, 1957 = 261.622, 1958 = 204.092, 1959 = 143.917. Quelle: Hartmut Wendt: Die deutschdeutschen Wanderungen – Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise, in: Deutschland Archiv 4/1991. 3 Vgl. Herzberg: Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1), S. 187.
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ihn – die eigene Parteizeitung Neues Deutschland druckte am 8. Juli geradezu unverantwortliche Dinge: Was dort unter einer nichtssagenden Überschrift4 zu lesen war, konnte nicht anders denn als Selbstkritik und Kurswechsel der SEDFührung, als Einladung zur Bekämpfung des Dogmatismus und Stalinismus in der DDR und damit zur schnellen Demokratisierung der Gesellschaft verstanden werden: Die Partei sei entschlossen, „alle Hemmnisse und Fehler“ aufzudecken und zu beseitigen, den Kampf gegen alle Erscheinungsformen des Dogmatismus zu führen, sie rief alle Gesellschaftswissenschaftler auf, „ohne Scheu [. . .] ihren Standpunkt zu den neuen Problemen unserer Entwicklung“ und sogar der Parteigeschichte darzulegen, „die lebendige Wirklichkeit voll und ganz zu berücksichtigen“, ausdrücklich wird das Angebot wiederholt: Das Politbüro erstrebe eine „schöpferische Atmosphäre der freien wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit“.5 Das war bestimmt nicht Ulbrichts originäre Meinung. – Fünftens: Im eigenen Zentralkomitee gab es auf der 28. Tagung (27. bis 29. Juli) nur Ärger: der Vizepräsident der AdW Wolfgang Steinitz übte eine geradezu vernichtende Kritik am Umgang der Parteiapparate mit den Wissenschaftlern, Kurt Hager knickte um und informierte über bedenklichste Stimmungen in der Intelligenz und verbreitete viel zu positive Informationen über Westdeutschland.6 Diese für Ulbricht kaum aushaltbare Situation war also ausnutzbar, man musste dazu Forderungen stellen und für deren Erfüllung Druck machen – nicht als Einzelner, sondern zu vielen. Warum dies nicht geschah, nicht einmal ansatzweise, soll nachher analysiert werden, jetzt zuerst die Frage: Was war bis zum Herbst, bis zum ungarischen Volksaufstand, der hier nicht Thema ist, an Veränderungen für möglich gehalten? Der größte Wunsch war wohl, Ulbricht loszuwerden – doch wie? Dann die Staatssicherheit abzuschaffen – doch wie? Es gab lebendigste Diskussionen in den Betrieben (darüber wissen wir am wenigsten), an den Universitäten, in den Redaktionen, den Theatern – und es gab private Diskussionskreise, kritische Papiere, die bald Karriere als „Plattformen“ machten, um sie besser abzustrafen, aber auch wirkliche Reformvorschläge – die wichtigsten von Behrens für die Wirtschaft, von Vieweg für die Landwirtschaft und von Harich für eine erneuerte Partei, eine erneuerte Gesellschaft, ein wiedervereinigtes Deutschland. Eine andere DDR war als möglich gedacht – nur wie, durch wen und wodurch?
4 Zur Diskussion über den XX. Parteitag der KPdSU und die 3. Parteikonferenz der SED, in: Neues Deutschland vom 8.7.1956. 5 Vgl. Herzberg: Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1), S. 188 f. 6 Vgl. ebd., S. 194–198.
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Hierzu gab es die wenigsten Vorstellungen. Gewiss: Briefe wurden ans ZK der SED geschickt mit höflichen Fragen, an Wandzeitungen wurden Forderungen geheftet – aber reicht so etwas aus? Harich hatte wenigstens eine Idee: Er suchte sein politisches Programm direkt an die entscheidende Stelle heranzubringen – an den sowjetischen Botschafter. Er traf sich mit Paul Merker, in dem er den geeigneten Nachfolger für Ulbricht vermutete, er fuhr nach Westberlin und nahm das hohe Risiko eines Kontaktes zur SPD auf sich, um auch die Gegenseite für seine Pläne zu interessieren, er wollte seine Plattform direkt an die Kreis- und Bezirksleitungen der SED, an das ZK und an deren theoretisches Organ, die EINHEIT schicken, es sollte auf einer Konferenz parteiintern beraten werden, wonach sich die „gesunden Kräfte der Partei“ an die Spitze von Veränderungen setzen könnten. Gab es einen anderen Weg? In Ungarn kamen Anfang Oktober 100.000 Menschen bei der feierlichen Beisetzung des unter Rakosi verscharrten Märtyrers Laszlo Rajk zusammen, am Grabe sagte der Schriftsteller Béla Szász, dass diese gewaltige Demonstration nicht nur den Toten die letzte Ehre erweise, sondern „ihre leidenschaftliche Hoffnung und ihr unabänderlicher Entschluss ist es, eine Epoche zu Grabe zu tragen“. Am 23. Oktober versammelten sich im Zentrum von Budapest 200.000 Menschen – kurz bevor die ersten Schüsse fielen, und noch etwas fiel in diesen Stunden: das überdimensionierte Stalin-Denkmal. Wie bekommt man so viele Menschen auf die Straße? Durch eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Interessen zwischen Intelligenz und Bevölkerung, die immer die Masse der Demonstranten ausmacht (siehe die mächtigen Montagsdemos in Leipzig und die Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz). Es gab 1956 keinen in der DDR, der eine mobilisierende Idee gehabt hat (wie etwa im Herbst 1989 der eher langweilige Slogan „Neues Forum zulassen!“ auf den Straßen skandiert wurde). Gewiss muss die Intelligenz erst die geistige Freiheit erstreiten, bevor sie für die Bevölkerung politisch attraktiv wird – man ihr Glauben schenken könnte. Alfred Kantorowicz notierte schon im Juni 1955 in sein Tagebuch: „Die polnischen und ungarischen Schriftsteller haben mehr Bewegungsfreiheit in ihrem Kampf gegen die Kulturfunktionäre ertrotzt als wir. Es gibt dort öffentliche Auseinandersetzungen, in denen die Schriftsteller wie ein Block gegen die plumpen Eingriffe der Parteibonzen in ihre schöpferischen Probleme Front machen.“7 Zwei Monate später – wie ein weiterer Beleg – wandte sich Adam Wazyk in dem auf der ersten Seite der Zeitschrift Nowa Kultura veröffentlichten Gedicht für Erwachsene gegen jahrelang totgeschwiegene Missstände im Alltag und im politischen Leben des Landes – dieser Aufschrei eines kommunistischen Dich7
Alfred Kantorowicz: Deutsches Tagebuch, München 1959, S. 553.
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ters wirkte wie eine Bombe.8 (Es wurde später in 15 Sprachen übersetzt, auch der kranke Brecht dachte an eine Nachdichtung.) Schriftsteller, Künstler und Journalisten protestierten gegen die ständige Einmischung der Behörden in das kulturelle Leben, Diktator Rákosi plante im Sommer 1956 einen Prozess gegen 200 Intellektuelle und suchte die Arbeiter in den Betrieben gegen die Intelligenz scharf zu machen – doch das genaue Gegenteil trat ein: Es entwickelte sich eine breite Solidarität gegen das verhasste Regime, die sowjetische Führung schickte Mikojan nach Budapest – am 18. Juli wurde Rákosi abgelöst und sofort nach Moskau verbracht.9 Eine wichtige Rolle innerhalb der Intelligenz spielte der Petöfi-Kreis, die stark besuchten Versammlungen beeinflussten schnell die öffentliche Meinung, und als dritte Kraft traten die Studenten mit politischen Forderungen auf den Plan – damit stand die Diktatur unversehens vor dem Zusammenbruch (den Anfang des Volksaufstandes hatte ich genannt). Welche Voraussetzungen geschaffen wurden, soll wegen ihrer denkbaren Übertragbarkeit noch einmal zusammengefasst werden: 1. Vorstöße von Schriftstellern und Philosophen für geistige Freiheit bereits vor dem XX. Parteitag; 2. Unterstützung durch die Presse; 3. Bildung von Intelligenz-Clubs; 4. parteiöffentliche oder ganz öffentliche Diskussionen über Chruschtschows Enthüllungen; 5. Verstärkung der Kritik durch immer mehr Angehörige der Intelligenz; 6. Sichtbarwerden von öffentlich anerkannten Sprechern; 7. Unterstützung durch die Studenten der Universitäten, dann auch durch die Professoren; 8. Verbindung dieser von der Intelligenz getragenen Forderungen mit den Interessen und Forderungen der übrigen Bevölkerung; 9. Wenn nötig, der Übergang von öffentlichen Diskussionen zu Kundgebungen. Alle diese Voraussetzungen fehlten in der DDR.10 Eine einzige Zeitung gab es, die in diese Richtung wirkte: der SONNTAG mit kulturpolitisch anspornenden Übersetzungen aus Polen oder Ungarn, einem schwach verhüllten Aufruf an die Schriftsteller oder dem Abdruck eines Zwerenz-Gedichts mit dem flammenden Titel Die Mutter der Freiheit heißt Revolution. Vom März bis zum August gab es in der Presse genau vier Artikel von Wis8
Vgl. Herzberg: Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1), S. 207. Vgl. ebd., S. 211. 10 Vgl. ebd., S. 217. 9
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senschaftlern, die sich mehr oder weniger kritisch mit dem Dogmatismus (statt mit dem Stalinismus!) auseinandersetzten: von Kuczynski, Harich, Besenbruch, Havemann11 – sie brachten Vorschläge für klimatische Verbesserungen auf kulturellem Gebiet, keine politischen Forderungen. Im März gab es als gesellschaftswissenschaftliches Großereignis eine Freiheitskonferenz der Sektion Philosophie an der Akademie der Wissenschaften: Sie hätte eine Chance bieten können, mit oder ohne Rückendeckung des sowjetischen Parteitags über Freiheit im Sozialismus nachzudenken, doch nur einmal fiel das Wort „Demokratisierung“ – das war unter 300 Teilnehmern, 26 Vorträgen und vielen Diskussionsbeiträgen ein einziger Satz, der kam von einem polnischen Philosophen, Leszek Kolakowski. Inspiriert oder verführt vom Budapester Petöfi-Kreis bildeten in Berlin Schriftsteller, Kritiker und Verlagsleute einen Donnerstagskreis, der sich ganze vier Mal traf. Was er wollte war die Abschaffung der Zensur und die Erfüllung ihres Diskussionsbedarfs, mit Harichs Verhaftung löste sich der Kreis sofort auf.12 Stephan Hermlin ließ sich dagegen von der Propaganda einspannen und verleumdete mit gefälschtem MfS-Material den Volksaufstand. Nur Harich und Janka hatten ein Gefühl dafür, dass jetzt gehandelt werden musste. Nach mehreren Entwürfen seit dem Frühsommer verfasste Harich zwischen dem 22. und 25. November seine Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus13 – das umfassendste Reformprogramm zur Erneuerung der Partei (das war sein Hauptanliegen), der Wirtschaft, der Gesellschaft – womit er die Konsequenzen aus dem XX. Parteitag ziehen wollte. Doch mit den für die sowjetische Führung gefährlichen politischen Veränderungen in Polen im Oktober und erst recht mit dem ungarischen Volksaufstand und der sowjetischen Intervention waren alle Chancen für eine freiheitliche Entwicklung in der DDR vorbei. Denn Chruschtschow brauchte Ruhe in der DDR, die konnte er nur durch Ulbricht bekommen.
11 Vgl. Jürgen Kuczynski: Lehren und Mahnungen des XX. Parteitags der KPdSU für die Wissenschaftler, in: Neues Deutschland vom 11.3.1956; Wolfgang Harich: Hemmnisse des schöpferischen Marxismus, in: Sonntag vom 15.4.1956; Walter Besenbruch: Dogmatismus – auch eine ethische Frage, in: Sonntag vom 17.6.1956; Robert Havemann: Meinungsstreit fördert die Wissenschaften, in: Neues Deutschland vom 7./ 8.7.1956. 12 Vgl. Herzberg: Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1), S. 239 ff. 13 Erstmalig vollständig veröffentlicht in Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Berlin 1993. Zu den einzelnen Fassungen und der Veröffentlichung vgl. Herzberg: Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1), S. 491–510.
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II. Ulbricht wusste, was zu tun war: zuerst im ND-Artikel vom 30. Dezember 1956 Was wir wollen und was wir nicht wollen. Groß stellte er in vielen Anläufen als Ziel die „Wiedervereinigung zu einem friedliebenden demokratischen Deutschland“ dar – das war die gute Nachricht. Was wir nicht wollen – das waren Veränderungen wie in Polen, die entweder in der DDR längst vollzogen oder wie die Pressefreiheit nicht erforderlich seien, weil die Presse die „Linie der Partei“ zu vertreten habe. Deshalb könne es auch keine Beschwerden über die Pressezensur geben, und wenn es eine Einschränkung der Meinungsfreiheit gebe – dann nur beim SONNTAG, der bestimmte fortschrittliche Meinungen nicht zu Wort kommen lasse. Das war der erste Schritt nach vorn. Mit der 30. Tagung des ZK (30. Januar bis 1. Februar 1957) begann er die große Offensive, mit der die SED-Führung trotz innerer Probleme nach außen Stärke demonstrierte und die gesamte Entwicklung der Intelligenz und ihrer eigenen Reihen kritisch und strafend unter die Lupe nahm.14 Ulbricht hatte dafür wie einen Vorschlaghammer das Wort „Revisionismus“ in Gebrauch, das für die nächsten Monate und späteren Jahre jede Abweichung von seiner, Ulbrichts, Linie bedeuten sollte – hier ging es vorerst um die schwersten Fälle des vergangenen Jahres: um Harich, Behrens, Vieweg und auch schon um Bloch. ZK-Sekretär Kurt Hager, der auf der 29. Tagung noch das ZK gefragt hat: „Ist in der Partei alles in Ordnung?“ und aufzählte, wie unzufrieden die Intelligenz sei, und feststellte „Alles ist jetzt in Gärung“15, ist in jenen Tagen auf die Position Ulbrichts übergegangen. Das war das endgültige Ende des Kampfes gegen den Dogmatismus (gemeint war immer der Stalinismus) – das Jahr 1957 mutierte zur Wiederherstellung des Stalinismus ohne Stalin, und jeder intellektuelle Widerstand wurde hartnäckig bis zum bitteren Ende verfolgt. Die Bilanz wurde den Mitgliedern des ZK auf seiner 33. Tagung (16. bis 18. Oktober) als Feindbildanalyse des MfS bekannt gemacht: Auf 89 Seiten werden insgesamt neun feindliche Herde mit einer nicht genau abzählbaren Menge von Personen (mindestens 160) aufgelistet: von der „parteifeindlichen Gruppierung Harich-Janka“ über Ernst Bloch und seine Schüler durch die Universitäten und Redaktionen bis zum Rundfunk – und in einer Tabelle werden die im Laufe des Jahres festgenommenen Wissenschaftler, Studenten, Lehrer, Schüler und Journalisten zusammengestellt – insgesamt 87 Personen. Dazu kommen die großen Prozesse wie gegen Harich und seine Mitstreiter, wie gegen Janka und dessen Mitangeklagte. Oder eine ausschließlich gegen den bedeutendsten Philosophen der DDR gerichtete Anti-Bloch-Konferenz im April in Leipzig. 14 15
Vgl. ebd., S. 274. Ebd., S. 259 f.
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Oder die großdimensionierte Kulturkonferenz der SED (auf den Tag genau ein Jahr nach Beginn des ungarischen Aufstandes) – sie sollte die Leitlinien einer sozialistischen deutschen Kultur durchsetzen, verlangte die geradezu förmliche Verpflichtung auf den sozialistischen Realismus und geriet zu einer Veranstaltung verordneter Selbstkritiken wegen „rückständigen Verhaltens“.16 Als Reaktion auf diesen Druck nahmen die Fluchtzahlen unter der Intelligenz zu – richtig erkennbar erst im folgenden Jahr –, während sie insgesamt abnahmen. Jeder – das war eine Methode im Kampf gegen den Revisionismus – kam in eine Zange: von der einen Seite die Abteilung Wissenschaften oder andere ZKAbteilungen, von der anderen die Kollegen des eigenen Faches, die an der jeweiligen Exekution stärker beteiligt waren als die hauptamtlichen Funktionäre (und Offiziere des MfS): – Wenn ein angesehener Ökonom wie Friedrich Behrens Vorschläge zur Steigerung der Effektivität macht: das Wertgesetz ernst zu nehmen, die Betriebe nach ökonomischen Gesichtspunkten zu lenken, ihnen größere Selbständigkeit zu geben mit dem Ziel der Selbstverwaltung – und die Abteilung Wissenschaft des ZK ihm deshalb Revisionismus vorwirft; – wenn das dazu verfasste Buch von Behrens und Benary nicht erscheinen darf und erst nach ihrer Intervention im Politbüro als getrennte Artikel inmitten einer Sammlung von Gegenartikeln verpackt veröffentlicht werden konnte; – wenn nach kurzem Widerspruch das Institut an der Akademie der Wissenschaften diese Angriffe akzeptiert und gegen ihren Leiter übernimmt; – wenn dieser später vor rund 900 Teilnehmern einer Hochschul-Konferenz „Selbstkritik“ üben muss, das ist: sich zu unterwerfen hat und seinen wissenschaftlichen Überlegungen als „revisionistisch“ abschwören muss – dann muss es für solches wissenschaftsfeindliche Vorgehen eine Erklärung geben. Wenn darüber hinaus ein ungebildeter und rundum unproduktiver Ökonom als Prorektor der Humboldt-Universität öffentlich sagen kann, dass das, was Behrens macht, keine Wissenschaft sei – dann steht auch eine Universität im Verdacht, weil dort solche unqualifizierten Äußerungen unwidersprochen bleiben. – Wenn ein Agrarökonom wie Kurt Vieweg einen Plan zur Effektivitätssteigerung der Landwirtschaft entwirft – das ist sein wissenschaftlicher Job, so etwas zu tun – und fachfremde Leute wie Ulbricht oder der ZK-Sekretär für Landwirtschaft Mückenberger dies als „Entwicklung und Stärkung des Kapitalismus auf dem Lande“ verurteilen; – wenn sie von den Mitarbeitern seines Akademieinstituts verlangen, sich gegen ihren Direktor zu stellen und dessen Vorschläge als „Katastrophe für unsere Landwirtschaft“ ebenfalls zu verurteilen; 16
Vgl. ebd., S. 303–305.
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– wenn sie ihn mit Winkelzügen gegen das Statut der Akademie aus dieser entfernen, ein Verfahren gegen ihn anstrengen und damit zur „Republikflucht“ treiben, ihn dann über Markus Wolf zur Rückkehr bei freiem Geleit bewegen und nach seiner Rückkehr zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilen – dann muss es auch dazu eine Erklärung geben. – Wenn Jürgen Kuczynski, der produktivste Gesellschaftswissenschaftler, den die DDR je hatte, 1956 mit Aufsätzen in fünf verschiedenen Fachorganen Anstöße zur Überprüfung erstarrter Auffassungen geben will und sein Aufsatz mit einem Plädoyer für den Meinungsstreit17 nur mit sofortigem Gegenartikel garniert erscheinen kann, um dann in einer Flut von 52 bestellten Gegenartikeln erschlagen zu werden; – wenn er für ein quellengesättigtes Buch,18 das Maßstäbe setzte, aber nicht den Dogmen der Parteigeschichte entsprach, öffentlich und intern von bestellten Fachkollegen angegriffen wurde, er wie Behrens auf derselben HochschulKonferenz im Auftrag der Abteilung Wissenschaft von einem Historiker politisch angegriffen wird und sich selbst als Revisionist bezeichnen soll – was er Gott sei Dank nicht tut –, um dafür von seinem eigenen Institut (bzw. dessen Parteiorganisation) über Monate drangsaliert zu werden, um einen direkten Widerruf zu erlangen; – wenn dann eine Kommission des Instituts mit Hilfe jener Abteilung Wissenschaft in wochenlanger Arbeit einen inquisitorischen Fragebogen von zehn Seiten entwirft, den er innerhalb weniger Tage zu beantworten hat, d.h. er hat zu widerrufen – dann könnte ich wieder sagen, muss es auch dafür eine Erklärung geben, aber ich sage stattdessen, dann zeigt dieses Beispiel genau, worum es 1957 ging: Um die Position Ulbrichts unter allen Umständen aufrecht zu erhalten, war es gegen jede wissenschaftliche Rationalität nötig geworden – vorwärtsgerichtete Überlegungen und Vorschläge ohne Diskussion zu verbieten, – Kommunisten wie Behrens, Vieweg, Kuczynski – die Reihe ließe sich fortsetzen – zu objektiven Gegnern zu stilisieren und gegen sie Verfahren einzuleiten sowie – unqualifizierte Hilfstruppen zu aktivieren, die ohne wissenschaftliche Prüfung die neuen Gedanken verurteilen und die verkrusteten Auffassungen aus der Zeit des Hoch-Stalinismus als die einzig wahre Lehre öffentlich ausbreiten dürfen. 17 Vgl. Jürgen Kuczynski: Meinungsstreit, Dogmatismus und „Liberale Kritik“, in: Einheit H. 5/1957. 18 Vgl. ders.: Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie, Berlin 1957.
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Wie ist das möglich – im Geist, besser: Ungeist einer Doktrin, die sich als „wissenschaftliche Weltanschauung“ und als „wissenschaftliche Politik“ bezeichnet? Was konnten die Kritiker dem entgegensetzen? Sie waren für die Öffentlichkeit einfach mundtot (gelegentlich las man in der Zeitung, dass wieder einer angegriffen oder verurteilt worden ist). Die Demontage lief wie am Schnürchen – bis Mai 1958, dann war erst Ruhe, der im Juli der Jubel über die Siegesfeier, genannt V. Parteitag der SED, folgte. III. Warum konnte das alles passieren? Erst durch Chruschtschow wurde es überhaupt möglich, Stalin und den Stalinismus zu kritisieren, ohne wie in der Vergangenheit sofort als Antikommunist verstoßen und verfolgt zu werden. Doch was Stalinismus sei, wurde im Neuen Deutschland von Kuczynski vorgegeben (im Artikel vom 11. März): er reduzierte ihn auf den Dogmatismus und verstand darunter sehr beschränkt: Zitatenkrankheit, Buchstabengelehrsamkeit und Talmudismus, aber auch die Unterordnung der Wissenschaft unter die politische Agitation. Ulbricht nahm das Wort „Stalinismus“ nie in den Mund; wenn er von Stalin sprach, dann nur von dessen „Mängeln und Irrtümern“, im äußersten Fall von „Verletzungen der Gesetze“. Er war unbedingt für Schadensbegrenzung – in der DDR durfte es keinen Personenkult gegeben haben, keine Verletzungen der Gesetze, höchstens schlechte Agitation und Propaganda – und dafür übernahm Hager schnell die Verantwortung, um sie bald auf die Gesellschaftswissenschaftler abzuwälzen. Es war die große Leistung der Parteispitze, niemanden aus dem engsten Kreis fallen zu lassen, stattdessen die Änderungswünsche und Forderungen der Intelligenz zu kriminalisieren und ohne ein Zugeständnis aus der Krise des Jahres eins herauszukommen. Wie war das möglich? – Erstens: Ulbricht schaffte es verbal, die gegen ihn gerichtete Stimmung und Kritik umzufälschen in Angriffe auf die Partei, den Staat, die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft – die sprachgeregelte Presse übernahm dies, und seine Kritiker waren damit als Gegner des Sozialismus verfolgbar. (Kein Gericht stellte die in einem Rechtsstaat unumgängliche Frage, ob diese Kritiker tatsächlich den Kapitalismus wiederherstellen, den Frieden untergraben wollten – wie die häufigsten Anschuldigungen aus den Vorgaben des MfS hießen.) – Zweitens: Die SED hatte die Intelligenz ziemlich fest im Griff – es gab Lücken und Löcher etwa bei den Ärzten, Naturwissenschaftlern und Technikern, doch sie traten 1956 ff. auch nicht mit Forderungen ins Licht der Öffentlichkeit. – Drittens: Wenn einmal innerhalb der Parteibasis Demokratie und Freiheit gefordert wurden (in der verzerrten Kommunikation: mehr Demokratie und mehr
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Freiheit), da genügten zumeist zwei, drei Versammlungen unter Teilnahme eines Vertreters der Abteilung Wissenschaft – und alles wurde zurückgenommen. – Viertens: Das Statut der SED verlangte zwar von den Mitgliedern, „furchtlos Mängel in der Arbeit aufzudecken“, gegen Schönfärberei und gegen jeden Versuch, Kritik zu unterdrücken und sie durch Beschönigung zu ersetzen, anzukämpfen. Es erlaubte in der Parteipresse Kritik an der Tätigkeit der Funktionäre und sich mit jeder Frage an jedes höhere Organ der Partei bis zum ZK zu wenden. Damit wäre das kritische Handeln der Intelligenz in fast allen Fällen durch das Statut abgedeckt gewesen. Doch das Politbüro hatte vorgesorgt19 und „vorsätzliches Abweichen von der Linie der Partei“ unter Strafe gestellt, feindliche Gruppierungen verboten – und hatte bekanntlich die Definitionsmacht, was Abweichen und was feindlich ist zu bestimmen.20 Für jeden potentiellen Kritiker aus den Reihen der SED standen am Anfang die Fragen: Verletze ich damit die Parteidisziplin?, das Statut?, vor allem aber reflexhaft: nutze ich damit dem Gegner? Letzteres wurde jedem Parteimitglied bei jeder Gelegenheit so oft eingehämmert, dass dies zu einer äußerst wirksamen Hemmschwelle anwuchs: Jede Kritik an Partei, Staat, Wirtschaft, Kultur diene immer dem Gegner. Dazu kam nach der Selbstzensur die Angst, dass jeder Gedankenaustausch über unzulässige Themen oder drängende Probleme entweder als „Fraktionsbildung“ bezeichnet wurde, wenn es Gespräche zwischen Parteimitgliedern waren, oder als Disziplinbruch und Verrat von Parteiangelegenheiten, wenn das SED-Mitglied mit einem „Parteilosen“ (so bezeichnete die SED ca. 16 Mio. Menschen im Lande) sich austauschte. Und seit der Verhaftung Harichs blieb als Drohung, dass Artikel oder zur Selbstverständigung verfasste Papiere als „Plattformen“ aufgewertet wurden und zu Bestrafungen führten. Die ständigen Androhungen und die damit verbundene vorbeugende Selbstzensur machen es begreiflich, dass die Kenntnis kritikwürdiger Zustände, das Entsetzen oder die Empörung über die inzwischen bekanntgewordenen stalinistischen Verbrechen oder die kühle Einsicht in die realsozialistische Verkehrung der marxschen Theorie nicht ausreichten, offen für Veränderungen einzutreten, sondern diese Erfahrungen mussten erst durch einige parteipräformierte Filter laufen – diese entschieden mit, ob das Betroffensein unterdrückt oder artikuliert werden soll. Das wäre die Erklärung der politischen Zurückhaltung mit Hilfe von Angst, Unsicherheit und Zweifeln. Gibt es auch eine mit Verstand und Hoffnung?
19 Richtlinien zur Durchführung von Parteiverfahren und zur Arbeit der Parteikontrollkommissionen vom 21.12.1954. 20 Vgl. Herzberg: Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1), S. 618 f.
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IV. Es gab auch tiefer liegende theoretische Gründe, bestimmte Dinge nicht zu wollen. Keiner der irgendwie im Laufe des Jahres 1956 mit Kritik am Stalinismus oder, vorsichtiger, am Dogmatismus Hervorgetretenen hatte Gründe, den Sozialismus in Frage zu stellen. Natürlich gab es gewisse Verführungen durch das „Wirtschaftswunder“ nebenan, doch was neben dem Mangel an Wohnungen, Urlaubsplätzen und hochwertigen Konsumgütern (es gab 1953 und 1955 zwei Enqueten mit den Beschwerden der Intelligenz, daher diese Fakten) schwerer wog für viele war die fehlende Rechtssicherheit, die primitive Propaganda in einer die Wirklichkeit verzerrenden und schönfärbenden Presse, die „Politik des Holzhammers“, die mangelnde Effektivität in den Betrieben, hervorgerufen durch bürokratische Behinderungen, Inkompetenzen der Leitungen, ein überspitztes System der Kontrolle, dazu der technologische Rückstand gegenüber westlichen Ländern. Genau hier konnte angesetzt, genauer analysiert und mit Gegenvorschlägen aufgewartet werden. Und so flossen auch die Ideen: die Rechtssicherheit zu verbessern, die Selbständigkeit der Betriebe zu erhöhen und wenigstens auf kleiner Flamme marktwirtschaftliche Kriterien einzuführen, die landwirtschaftliche Produktion durch größere Flächen und mehr Technik zu verbessern usw. usf. In keinem bekannt gewordenem Papier oder Diskussionsbeitrag wurde gefordert, die SED abzuschaffen oder ein wirkliches parlamentarisches System zu realisieren, bei dem nicht schon vor jeder Wahl die Sitzverteilung in der Volkskammer unverrückbar feststand. Warum nicht? Die schwächere Antwort wäre, dass es ab 1933 eine Ein-Parteien-Diktatur und vor 1933 ein ziemliches politisches Chaos gegeben hatte – also der Wunsch nach pluralistischer Demokratie mangels positiver Assoziationen verkümmert war. Gab es in der Masse der Bevölkerung wenig oder sehr wenig Zustimmung zur SED, sah es in der Medizin, den Naturwissenschaften und unter den Technikern vielleicht ähnlich aus, so war für die Masse der Gesellschaftswissenschaftler unabhängig von der mangelhaften Praxis voll störender Mängel ausschlaggebend eines: die marxistische Theorie mit ihrem Anspruch, eine Gesellschaft der Freiheit und Gerechtigkeit aufzubauen, wenn alle unter Führung der Partei an ihrem Ort mitmachen. Dieser Glaube „an die Sache“, die kommunistische Zukunft machte viele denkende Menschen resistent gegen die Mängel der Gegenwart. Der Sozialismus war, das würde heute noch richtig sein, ohne den Primat der Politik nicht möglich. Nachdem der größte Teil der Betriebe in „Volkseigentum“ überführt wurde und die privaten Initiativen wegfielen, schien eine Umkehr kaum noch möglich, und eine Planwirtschaft – wie sie den Theoretikern vorschwebte – schien vernünftig. Damit gab es für die Intelligenz die Grundentscheidung: entweder im Lande zu bleiben und eine starke politische Führung und eine Mangelwirtschaft zu ertragen oder an ihrer Demokratisierung und ökonomischen Verbesserung mitzuwirken – oder das Land zu verlassen. Wer politische
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Monopolisierung und Planbürokratie ablehnte, stand theoretisch vor der Aufgabe zu zeigen, dass der Sozialismus auch ohne beides funktionieren könnte. Dieser Arbeit stellten sich wenige, sehr wenige. Was blieb an weniger grundsätzlichen Forderungen und Veränderungswünschen? Die umfangreichsten sind in Harichs Plattform enthalten – sie aufzuzählen, müsste diesen Text sprengen –, sie zu realisieren dachte er allein durch die Partei selbst: Damit würden sie in einem legalen Rahmen bleiben (so dachte er wenigstens). Realisiert wurden im Jahre 1957 keine Forderungen der Intelligenz. Noch einmal: Warum zerstörte Ulbricht das kritische Potential der Intelligenz? Auf jeden Fall hatte er kein Sensorium, Vorschläge von Wissenschaftlern als bedenkenswerte Neuerung aufzugreifen, er war – von subjektiver Seite – selbstgefällig und visionslos. Er war abhängig von der Sowjetunion, sie war die Siegermacht und hatte Millionen Tote durch den von Hitler angezettelten Krieg zu beklagen, er hatte das Trauma vom 17. Juni 1953 und Erinnerungen, wie 1933 die KPD in die Illegalität gehen musste – nichts davon durfte sich wiederholen. Vom Frühjahr bis zum Herbst 1956 musste er wegen seiner stalinistischen Vergangenheit lavieren und war sich seiner eigenen Apparate nicht sicher. Der Aufstand in Ungarn schien ihm Recht zu geben: erst waren es die Schriftsteller, dann dieser Lukács und der Petöfi-Kreis, dann wieder die Schriftsteller, dann die Studenten – sie riefen zusammen zu jener Demonstration am 23. Oktober auf, mit der die Konterrevolution begann. Diese war entweder vom Westen gesteuert oder von den Intellektuellen so gewollt – höchstwahrscheinlich beides. Das durfte nicht übergreifen – also fing er an aufzuräumen: Was wir wollen und was wir nicht wollen. Das war Ulbrichts Anspruch. Wie kam es aber zu diesem ungebremsten Lauf der Offensive? Hier zeigt sich, und damit kommen wir von Ulbricht weg, der zutiefst autoritäre Charakter des Staates, der Partei und leider auch der Gesellschaft. Der Wunsch nach Kriegsende war eindeutig: „Nie wieder Diktatur!“ Alle Parteien hielten sich programmatisch daran, die SED buhlte regelrecht um die Wissenschaftler, Ärzte, Schriftsteller, Künstler, erfand die Nationalpreise und Titel und schaffte zahlreiche Privilegien. Doch wenige Jahre später hatte sie auch einen Apparat zur Steuerung von Wissenschaft und Kultur aufgebaut, hielt alle Fäden der Verlage, Redaktionen, Theater und aller anderen Institutionen (mit Ausnahme der Kirche) in der Hand, konnte von oben eingreifen, Leute entlassen und ihr genehme einsetzen – das funktionierte fast überall (nur in der Medizin, Veterinärmedizin und der Landwirtschaftswissenschaft nicht). Und darin zeigt sich der autoritäre bis totalitäre Charakter im Umgang mit den Wissenschaftlern. Statt Selbstorganisation existierte die Anleitung und Kontrolle durch die Abteilung Wissenschaften des ZK, in allen Institutionen musste es Parteiorganisationen mit Parteisekretären, an der Arbeitsbasis noch Parteigruppen
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mit Parteiorganisatoren geben, die die wissenschaftliche Arbeit und die Äußerungen der Wissenschaftler kontrollierten (teilweise bereits zusammen mit den zahlenmäßig noch begrenzten Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit) – und es gab eine eigene Gerichtsbarkeit über die Wissenschaftler in Form von Parteistrafen bis hoch zur Entlassung, zum Berufsverbot oder der Übergabe an die Strafverfolgung. V. Damit ist wohl in etwa der nichtlineare Verlauf beschrieben, der es den Kritikern äußerlich und innerlich verbot, eine wirklich demokratische und damit freiheitliche Gesellschaft auf einer sozialistischen Grundlage zu entwerfen und politisch zu fordern. Zu stark waren die eigenen Bedenken, den engen Rahmen der politischen Bedingungen zu überschreiten. Wer wenigstens auf seinem Fachgebiet Vorstöße versuchte, wurde in öffentlichen Angriffen niedergemacht. Das Repressionssystem funktionierte deswegen so effizient, weil es neben den hauptamtlichen Parteiarbeitern die im Parteiauftrag handelnden Wissenschaftler selbst waren, die gegen die auf Änderungen und Verbesserungen zielenden Beiträge ihrer Kollegen losschlugen, bis sie am Boden lagen. Die politischen Abläufe in der DDR nach dem XX. Parteitag der KPdSU waren nicht vollständig – wie es im Rückblick immer aussieht – festgelegt; das Scheitern der Entstalinisierungsversuche war nicht programmiert, es gab „Zeitfenster“, in denen größere politische Korrekturen möglich waren – das zeigten die Ereignisse in Polen und in Ungarn. Schließlich: Was 1956 von der Intelligenz nicht gesät wurde, konnte 1957 nicht geerntet werden. Umgekehrt: Die SED-Führung hatte 1956 vor leeren Feldern gestanden, aber 1957 schon im Winter gesät und sofort geerntet – das war die stärkere Alternative.
Johannes R. Becher: Politische Demontage und poetische Selbstbehauptung Von Gerd Dietrich „Er war fünfundsechzig.“ Damit beginnt Johannes R. Bechers Manuskript „Wiederanders“. „Er wollte sich zur Ruhe setzen. Er setzte sich hin und schrieb . . . Der Fünfundsechzigjährige, seine Vergangenheit überblickend, hatte es schwer, Ordnung in sein Leben zu bringen. Er geriet in solch Bedrängnis, dass er sich in sich selber nicht mehr auskannte. Er wurde sich fremd und fremder . . . ,1957 – mit diesem Jahr werde ich abschließen – dazu brauche ich noch zwei Jahre . . . Die Schwierigkeiten – ungeheuerlich‘.“1
Er sollte es nicht schaffen. Wiederanders blieb Fragment. Die Schwierigkeiten, die politischen wie die literarischen, waren unüberwindbar. Die Jahre und die Kraft reichten nicht aus. Der Körper versagte ihm den Dienst. Gleichwohl hat er in dieser Zeit Texte und Gedichte geschrieben, die von seinem Ringen zeugen, einmalig für einen Dichter und Funktionär seiner Generation und Position. Seinen 65. Geburtstag beging Johannes R. Becher am 22. Mai 1956, knapp zweieinhalb Jahre später, am 11. Oktober 1958 starb er. Um diese letzten Lebensjahre Bechers soll es im Folgenden gehen. Das kann freilich nur ein selektives Bild sein. Nicht nur, weil das ganze Leben vorausgesetzt werden muss, sondern auch weil diese Jahre an Ereignissen und Debatten, Krisen und Konflikten übervoll waren. Neues wird in diesem Beitrag zu Becher kaum zu finden sein. Aber gegen einseitige Bilder vom sozialistischen Panegyriker oder vom politischen Feigling soll ein Dichter und Bohemien in seinen Widersprüchen gezeigt werden, dem das selbst verschuldete Unglück widerfuhr, Funktionär und Minister zu werden. Wer dieser Johannes R. Becher war, ist inzwischen in Biographien2, Darstellungen und Beiträgen3 vielfach zu deuten versucht worden. So widersprüchlich 1 Johannes R. Becher: Abschied. Wiederanders. Ges. Werke, Bd. 11, Berlin 1975, S. 437, S. 458, S. 513. 2 Alexander Behrens: Johannes R. Becher. Eine politische Biographie, Köln 2003; Jens Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998; Horst Haase: Johannes R. Becher. Leben und Werk, Berlin (Ost) 1981; Mi-
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wie er selber, so unterschiedlich sind die Texte über ihn. Er polarisiert noch heute. „Die Widersprüche in diesem Leben und Werk sind nicht zu zählen. Wenn es um Becher ging, gab es nur Freunde oder erbitterte Feinde.“4 Die offizielle DDR ehrte ihn „als den größten deutschen Dichter unserer Zeit“5, so Walter Ulbricht, als ersten „Klassiker unserer neuen sozialistischen Dichtung“6, so Bechers langjähriger Adlatus Alexander Abusch. Der „Erzfeind“ Alfred Kantorowicz schrieb vom „bösartigen Parteigeheimrat“, vom „Republikmeister des Neubyzantinismus“ und „Quisling im Geiste“.7 Das war ein Leben im Jahrhundert der Extreme, exemplarisch und beispiellos zugleich. Der Weg des 1891 geborenen Münchener Bürgersohns, Anarchisten und Expressionisten, „Hurenmörders“ und „Morphinisten“, der sich als erster deutscher Dichter zur Russischen Oktoberrevolution bekannte, ging über die KPD, den Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller und das Exil in der Sowjetunion zum Präsidenten des Kulturbundes, der Akademie der Künste bis zum ersten Kulturminister der DDR. Ein Dilemma, das er selbst langfristig angestrebt hatte. Denn als ihm der Jugendfreund Ludwig Meidner am 18. Januar 1954 zur
chael Rohrwasser: Der Weg nach oben. Johannes R. Becher. Politiken des Schreibens, Frankfurt a. M. 1980. 3 Jens-Fietje Dwars: J. R. Becher: „Der Grundirrtum meines Lebens“. Drei Beiträge zur psycho-genetischen Ergründung des Stalinismus, Berlin 2000; Carsten Gansel: Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung unf Repression 1945–1961, Berlin 1996; Guntolf Herzberg: Anpassen und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin 2006; Nikola Knoth: Johannes R. Becher 1956/57 – eine DDR-Misere? In: Deutschland-Archiv 4 (1991); Matias Mieth: „Der Mensch der nicht geschunden wird, wird nicht erzogen“. Johannes R. Becher und die Gewalt des Stalinismus, in: Weimarer Beiträge 5 (1991); Tamara Motyljowa: Bechers geistige Tragödie, in: Kunst und Literatur 5 (1989); Siegfried Prokop: 1956 – DDR am Scheideweg. Opposition und neue Konzepte der Intelligenz, Berlin 2006; Dieter Schiller: Selbstbesinnung, Selbstzensur, Selbstzerstörung. Zum politischen Dilemma Johannes R. Bechers in seinen letzten Lebensjahren, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12 (1993); ders.: Der verweigerte Dialog. Zum Verhältnis von Parteiführung der SED und Schriftstellern in den Krisenjahren 1956/57, Berlin 2003; Walter Schmitz: Johannes R. Becher – der ,klassische Nationalautor‘ der DDR, in: Günther Rüther (Hrsg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Paderborn 1997; Beatrice Vierneisel: Johannes R. Becher als Minister für Kultur 1954–1958. Aspekte zur gesamtdeutschen Kulturpolitik, in: www.beaticevierneisel.de; Johannes R. Becher im letzten Lebensjahrzehnt. Leipziger Kolloquium aus Anlass seines 40. Todestages 5. November 1998, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2000. 4 Hans Mayer: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt a. M. 1991, S. 106. 5 Walter Ulbricht: Dem Dichter des neuen Deutschland, Berlin 1959, S. 5. 6 Alexander Abusch: Johannes R. Becher – der erste Klassiker unserer neuen sozialistischen Dichtung, in: Sinn und Form. Zweites Sonderheft Johannes R. Becher 1960, S. 29. 7 Alfred Kantorowicz: Deutsches Tagebuch, Berlin 1980, Erster Teil S. 257, Zweiter Teil, S. 435, 726.
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Ernennung zum Minister gratulierte, erinnerte er an ein Gespräch vor Jahrzehnten: „Nun ist eingetroffen, was Du Dir gewünscht hast.“8 Georg Lukács sprach von einem „Lord-Jim-Zug“ in Bechers Charakter und erinnerte an „den Vortrag über ,Lord Jim‘, wo er von dem Schiff, das in Bedrängnis ist, schrieb, wo dieser in Panik verfällt, nicht aus einer einfachen Feigheit oder so etwas heraus, sondern weil seine zu lebhafte Phantasie ihm die möglichen Konsequenzen in grellen Farbe gezeigt hatte. Nun kenne ich diese LordJim-Panik bei Becher, seit ich ihn kenne . . . Und ich hebe dieses Lord-Jim-Motiv darum hervor, weil es sich bei Becher nicht um einen Kompromiss, um Anpassung, Karrierismus usw. gehandelt hat, sondern um diese von der Phantasie hervorgerufene Panik, die ihn nicht sehen ließ, wie wichtig er schon in den dreißiger Jahren und erst recht in den vierziger Jahren gewesen ist“.9 Auch Hans Mayer hat ihn gut gekannt: „Becher war ein Mensch voller Widersprüche: es gab immer noch eine Tiefenschicht des bayerischen Katholizismus unter allem offiziellen Kommunismus; Parteidisziplin und Libertinage schlossen sich für ihn nicht aus; er konnte Aktionen und Reaktionen von erstaunlicher Bosheit betreiben und war gleichzeitig weich, bisweilen sentimental. Allem verbalen Internationalismus zuwider blieb er insgeheim ein deutscher Patriot.“10 I. „Glücksfall“ als Minister Seine „Deutschland-Dichtung“ brachte Becher die Anerkennung Thomas Manns und den Spott Bertolt Brechts ein. Als Initiator des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands stand er seit 1945 der Sammlungsbewegung der Intellektuellen vor. Seit 1946 gehörte er dem Parteivorstand bzw. dem ZK der SED an. Er schrieb 1949 die Nationalhymne der DDR und wurde 1950 Abgeordneter der Volkskammer. Der Formalismus- und Kosmopolitismus-Debatte ging er mehr oder weniger geschickt aus dem Weg. In die vom Kulturbund und der Akademie der Künste ausgehenden Versuche, das Schwächemoment der SED-Führung im Sommer 1953 zu nutzen und ihr eine neue Art des Umgangs mit der Intelligenz abzutrotzen, war Becher als Präsident beider Institutionen involviert. Attackiert wurden vor allem die staatlichen Zensur- und Kontrollinstanzen Kunstkommission und Amt für Literatur. Schnell blockte die SED-Führung Forderungen nach Meinungspluralismus und Freiheit der Kunst wieder ab. So blieb als einziges handfestes Ergebnis die Bildung des Ministeriums für Kultur übrig.
8 Briefe an Johannes R. Becher 1910–1958, hrsg. von Rolf Harder, Berlin 1993, S. 493. 9 Ilse Siebert: Gespräch mit Georg Lukács, in: Sinn und Form 2 (1990), S. 325–326. 10 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen Bd. II, Frankfurt a. M. 1984, S. 125.
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Am 7. Januar 1954 wurde Johannes R. Becher zum Minister für Kultur berufen. Er sollte mit seiner Person dafür einstehen, dass zwar die offiziellen Belange der Kulturpolitik durchgesetzt, größere Spannungen mit den Künstlern aber vermieden würden. Weil er über viele Aktivitäten seine schützende Hand gehalten hat, schrieb Hans Mayer, sei Becher als Kulturminister „ein Glücksfall gewesen“.11 Bertolt Brecht unterstützte ihn, und Hanns Eisler hielt ihn für den „beste(n) Kunst-Minister, der denkbar ist“.12 Selbst Walter Janka machte „keinen Abstrich an Bechers [. . .] Wirken als Minister“.13 Mit der ersten Programmerklärung des Ministeriums vom 24. März 1954 „Die Verteidigung der Einheit der deutschen Kultur“ suchte Becher noch einmal den gesamtdeutschen Aspekt der Kulturpolitik in den Vordergrund zu stellen. Mit seinen Ost-West-Gesprächen unter der Losung „Deutsche an einen Tisch“ machte er sich zum Vorkämpfer der letzten Versuche, die Endgültigkeit der Spaltung zu verhindern. Umso härter traf es ihn, als die SED-Führung gegen die gesamtdeutsche Orientierung des Ministeriums erste Bedenken geltend machte und Bundesrepublik und DDR 1955 den jeweiligen Paktsystemen beitraten. „Tief deprimiert, erneut von düsteren Vorahnungen befallen, musste Becher sich schließlich mit der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen abfinden. In Schreckensvisionen schlafloser Nächte malte er sich den dritten Weltkrieg aus, in dem die Deutschen einander gegenseitig abschlachten, in den sie alle anderen Völker hineinziehen würden“, berichtete Wolfgang Harich. Als Chrustschow am 26. Juli 1955 in Ost-Berlin erstmals offen die „Zweistaatentheorie“ verkündete, sprach Becher „von einem der schwärzesten Tage seines Lebens“.14 In diesem Sommer brach ein Magengeschwür bei ihm auf. Er musste ins Krankenhaus, das er erst im Oktober wieder verlassen konnte. Seiner Bitte, ihn von allen Ämtern zu entbinden, wurde nicht entsprochen. II. Grundirrtum des Lebens Der nächste Schock waren die Enthüllungen des XX. Parteitags der KPdSU vom Februar 1956. Nicht, dass Becher von Stalins Verbrechen nicht gewusst hätte. Aber auch er hatte geschwiegen und Stalin als eine der Genien der Menschheit besungen, auch wenn seine Stalin-Hymnen „Politkitsch in DisneyFormat“, eher phantasiereiche Parodien auf den Stalin-Kult waren.15 Beides, Verehrung und Entsetzen, stand sich in seiner Dichtung unvermittelt gegenüber. Mit dem XX. Parteitag war Becher ein Thema wiedergegeben, dessen Verzicht ihm „auch als Lebenslüge hätte vorgeworfen werden können“. Nun war „der Konflikt offen ausgebrochen“, der ihn „jahrelang verzehrte. Ich muss nicht mehr schwei11 12 13 14 15
Ders.: Turm von Babel (Anm. 4), S. 111. Hanns Eisler: Briefe, in: Sinn und Form 4 (1988), S. 692. Walter Janka: Spuren eines Lebens, Berlin 1991, S. 272. Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Berlin 1993, S. 33. Dwars: Grundirrtum (Anm. 3), S. 7.
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gen. Ich brauche nicht das Gefühl zu haben, weiterhin mitschuldig zu werden dadurch, dass ich schweige“.16 Dies schrieb er im Sommer 1956. Nach seinem 65. Geburtstag hatte er von Paul Wandel einen dreimonatigen Schaffensurlaub erbeten, den er in seinem Sommerhaus in Bad Saarow verbrachte. Am 25. Juni 1956 ging das Manuskript des dritten Bandes seiner Denkdichtung „Das poetische Prinzip“ an den Aufbau-Verlag. Becher wollte nicht zu denen gehören, die „zur gegebenen Zeit nichts gewagt haben, aber jetzt sich so gebärden, als ob sie schon immer ,dagegen‘ gewesen seien“. Er schrieb von einem „reinigenden Gewitter“, um „mit dem Veralteten fertig“ zu werden, und gegen die „gesellschaftliche Heuchelei“ an. Im Gestus einer eindringlichen Selbstbefragung entwickelte er eine „Art politischer Psychoanalyse“, um sich jener „Jahrhunderttragödie“ zu nähern, „an tragischem Gehalt der antiken überlegen“. Er konstatierte, dass auch das neue Gesellschaftssystem „tödlichen Widerspruch“, „dschungelhafte Atmosphäre“ und „Möglichkeiten der Entartung“ hervorgebracht habe. Nach Worten suchend kam Becher zu dem Schluss: „Der Grundirrtum meines Lebens bestand in der Annahme, dass der Sozialismus die menschlichen Tragödien beende und das Ende der menschlichen Tragödie selber bedeute. In diesem Grundirrtum zeigt sich einerseits eine gleichsam kleinbürgerliche, spießerhafte, idyllische Auffassung des Sozialismus und andererseits das nur allzu beflissene Bestreben, das sozialistische Experiment, wie es sich in seiner aktuellen Wirklichkeit darbietet, mit einer Apologetik zu umgeben. Das Gegenteil aber, wie sich gezeigt hat, ist der Fall und man muss diese ungeheuerliche Tatsache zur Kenntnis nehmen und bemüht sein, daraus Folgerungen zu ziehen. Es ist so, als habe mit dem Sozialismus die menschliche Tragödie in einer neuen Form ihren Anfang genommen, in einer neuen, ganz und gar bisher ungeahnten und von uns noch nicht übersehbaren. Der Sozialismus hat erst die menschliche Tragik in Freiheit gesetzt. In ihm hat sich die Tragödie gleichsam selbst überstiegen und übersteigert und kündet uns nicht eine ,frohe Zukunft‘, wie es im allgemeinen heißt, sondern ein Zeitalter an, dessen tragischer Gehalt mit keinem der vorhergehenden vergleichbar ist. Wer vom Sozialismus träumt und schwärmt als von einem Erdenparadies und einem Glück für alle, der wird furchtbar belehrt werden in dem Sinne, dass die sozialistische Ordnung ganze Menschen hervorbringt, die aufs Ganze gehen, wenn auch nicht unter Anwendung der barbarischen Mittel der Vorzeit, aber auch diese bleiben noch eine Zeitlang in Gebrauch, wie es gerade in letzter Zeit bewiesen wurde, und dadurch, dass sich ihrer Sozialisten bedienen, übertreffen sie in ihrer Barbarei noch die vordem gebräuchlichen.“17
Veröffentlicht wurden diese Texte erst 1988 unter dem Titel Selbstzensur. Becher hatte sie in mehreren Korrekturphasen im Dezember 1956 und Januar 1957 sukzessive gekürzt und gestrichen. Sein Lektor Uwe Berger rühmte sich später immer wieder, Becher auf „Überspitzungen“ und eine zu weit getriebene 16 17
Johannes R. Becher: Selbstzensur, in: Sinn und Form, 3 (1988), S. 543. Ebd., S. 543–551.
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„selbstzerfleischende Zurücknahme“ hingewiesen zu haben.18 Gleichwohl waren es politische Beweggründe. Die Zeit des „Tauwetters“ war vorüber. Der Minister selbst stand zur Disposition. III. Verlust der Macht Noch im Juli 1956 hatte Becher die Integration des berüchtigten Amtes für Literatur in das Ministerium für Kultur durchgesetzt. Vom 1. August stammte sein Vorschlag, die Zensur in der DDR abzuschaffen. Im Sommer verbrachte er zwei Wochen Urlaub im Harz gemeinsam mit Georg Lukàcs. Am 14. August starb Bertolt Brecht. Im September folgte Becher einer Einladung nach Dubrovnik. Auf der Rückreise trat er zum letzten Mal in seiner Heimatstadt München auf. Am 7. Oktober sprach er im Präsidialrat des Kulturbundes, beschrieben von Victor Klemperer: „furchtbar u. bedrohlich abgemagert, 80 Pf. verloren, moribundes Aussehen, sehr vernünftiges Auftreten“.19 Als sich die DDR-Intellektuellen im „Sonntag“ vom 4. November über die Ereignisse in Ungarn erschüttert zeigten, schwieg Becher. Erst die nächste Nummer am 11. November brachte neun Gedichte von ihm, die sein Moskauer Leid und die Ambivalenz des ungarischen Aufstandes zur Sprache brachten. Am Tag darauf begann die 29. Tagung des ZK der SED. Becher verwahrt sich dort gegen den Vorwurf Hermann Axens, dass die Schriftsteller zu empfindlich seien. Denn zu den „Lehren aus der Vergangenheit“ gehöre, „dass wir sehr vorsichtig geworden sind gegenüber Anschuldigungen und Verurteilung von Genossen, wenn nicht das genügende Beweismaterial vorliegt“. Mit Stolz könne er von sich sagen, nie bereit gewesen zu sein, befreundete Genossen, die „als Volksfeinde verhaftet wurden, selbst als Volksfeinde zu bezeichnen“. Und er wehrt sich gegen den wieder aufkommenden Antiintellektualismus der SED-Führung: nicht der PetöfiKlub sei „der Hauptschuldige“ an dem, was in Ungarn geschehen ist, sondern die Partei.20 Dann aber ging es Schlag auf Schlag. Jede dieser Aktionen war, das sei nicht vergessen, gegen den Kurs des Kulturbundes und des Kulturministeriums und damit gegen Becher gerichtet: Am 29. November wurde Wolfgang Harich verhaftet, am 6. Dezember Walter Janka, Lektor bzw. Leiter des Aufbau-Verlags. Becher 18 Uwe Berger: Weg in den Herbst, Berlin 1987, S. 153; ders.: Stimmen der Freunde, in: Sinn und Form. Zweites Sonderheft Johannes R. Becher 1960, S. 599; ders.: Bechers Schüler und Lektor zugleich, in: Erinnerungen an Johannes R. Becher, Leipzig 1974, S. 338. 19 Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1950– 1959, Bd. II, Berlin 1999, S. 583. 20 Diskussionsrede auf der 29. Tagung des ZK der SED, in: Norbert Gansel (Hrsg.): Der gespaltene Dichter Johannes R. Becher. Gedichte, Briefe, Dokumente 1945–1958, Berlin 1991, S. 166–167.
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will bei Ulbricht protestieren, doch er wird rausgeworfen. „So kam er verzweifelt zu mir“, berichtet Karl Schirdewan. „Er könne diese geistige Drangsalierung weder mitmachen noch ertragen. Er werde emigrieren.“21 Ausgerechnet in die Sowjetunion, was ihm Schirdewan natürlich ausredete. Am 19. Dezember erklärte Becher seinen Rücktritt aus dem Vorstand des Schriftstellerverbands. Zu Jahresbeginn begann der „Sonntag“ eine umfangreiche Kampagne gegen Hans Mayers Artikel „Zur Gegenwartslage unserer Literatur“ vom 2. Dezember. Zur gleichen Zeit streicht Becher jene Stalin-Passagen aus dem Poetischen Prinzip und muss sich am 15. Januar 1957 einer Prostata-Operation unterziehen. Die Geschäfte im Ministerium führte Alexander Abusch weiter, der am 30. Mai 1956 zum Ersten Stellvertreter des Ministers berufen worden war und auf der 30. Tagung, 30. Januar/1. Februar 1957, wieder in das ZK der SED aufgenommen wurde. Die Literaturdebatte im „Sonntag“ eröffnete Alfred Kurella: „Die Polemik gegen den schwerkranken Becher ist schneidend.“22 Mit jener 30. Tagung des ZK der SED begann im Februar 1957 der öffentliche Kurs gegen die reformerischen Intellektuellen. Kaum genesen und weiter abgemagert nach der Operation stellte sich Becher am 20. Februar 1957 einer Pressekonferenz, um dem Gerücht entgegen zu treten, er sei in die Krankheit geflüchtet. Georg Lukács nennt er dort seinen Freund und einen großen Wissenschaftler, nur dessen politisches Konzept könne er nicht beurteilen, da er zu wenig davon wisse.23 Damit verschwieg er die intensiven Gespräche im Harz. „Natürlich hatten der deutsche und der ungarische Minister in spe das gleiche Konzept. Der eine stand jetzt, ein halbes Jahr später, unter der Anschuldigung, der ideologische Führer der Konterrevolution zu sein – wofür ihm die Todesstrafe drohte, die an Mitgliedern der Nagy-Regierung auch ein weiters Jahr darauf vollzogen wurde. Und der andere sah von seinem Krankenbett aus, wie nun Ulbricht auf der 30. ZK-Tagung das Gespenst einer ,konterrevolutionären Gruppe Harich‘ nach dem Vorbild des Petöfi-Klub konstruierte und der Schriftstellerverband Hans Mayer als Revisionisten zu ,entlarven‘ begann. Bechers Bekenntnis zu Lukács verstand sich in dieser Situation nicht von selbst“.24 Am 12. Juni unterstreicht er noch einmal, in einem Brief an den Sowjetischen Schriftstellerverband, seine Wertschätzung von Georg Lukács.
21 Karl Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht. Im Kampf um politische Kurskorrektur, gegen stalinistische, dogmatische Politik, Berlin 1994, S. 119. 22 Mayer: Widerruf (Anm. 10), S. 139. 23 Vgl. Stenographisches Protokoll der Pressekonferenz des Ministers für Kultur Dr. J. R. Becher, in: Sinn und Form 1 (1991), S. 7 ff. 24 Dwars: Grundirrtum (Anm. 3), S. 25.
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IV. Ritual der Unterwerfung Spätestens nach dem Schauprozess gegen Wolfgang Harich im März 1957 muss Becher klar geworden sein, dass die Diffamierung des Kulturbundes als Hort der Konterrevolution ihn selbst treffen sollte. Noch einmal wehrte er sich auf der 31. Tagung des ZK der SED am 27. März und griff Paul Fröhlich wegen dessen Kampagne gegen die Intelligenz, vor allem gegen Hans Mayer und Ernst Bloch an. Ein letztes Mal erhob er sich damit im ZK „gegen eine erneute ,Antiintelligenzkampagne‘ im Stil überwunden geglaubter Zeiten, doch er stand allein“. Weder Willi Bredel noch Kurt Barthel (Kuba), die anderen Schriftsteller im ZK, unterstützen ihn, weil sie „über die kleine Rache an ihren Erzfeinden Lukács und Mayer nicht merkten, welch großes Verhängnis sie für die literarische Arbeit im ganzen Land heraufbeschworen.“25 Danach begannen Rituale der Demontage, des Rückzugs und der Unterwerfung. Zu früh vom Krankenbett aufgestanden, brauchte Becher Erholung und zog sich nach Bad Saarow zurück. Der 32. Tagung des ZK der SED vom 10.–12. Juli, auf der Alfred Neumann, Paul Fröhlich, Alexander Abusch und Kuba die Angriffe forcierten, blieb er ebenso demonstrativ fern, wie dem Prozess gegen Walter Janka vom 23.–27. Juli. In Briefen an Ulbricht versuchte er, noch defensiv seine Positionen zu verteidigen. Am 29. Juni zu dessen Geburtstag schon als Geste der Unterwerfung, am 25. Juli als Antwort auf die „Linie“ Fröhlich, am 29. Juli mit Artikeln zu Hermann Kesten und Georg Lukács. Am 30. Juli beauftragte das Politbüro Heinrich Rau, Karl Schirdewan und Erich Honecker, mit Becher eine Aussprache zu führen. Am 31. Juli antwortete ihm Ulbricht, dass seine Artikel nicht zweckmäßig seien und forderte eine parteiliche Stellungnahme. „Als Fröhlichs unverfrorene Attacke im Zentralorgan veröffentlicht und seine eigene Entgegnung von Ulbricht nicht zum Druck zugelassen wurde, begriff Becher, dass die Tage seiner Amtszeit gezählt waren.“26 Inzwischen hatte Abusch mit der Ankündigung eines offensiven Programms sozialistischer Kulturpolitik das Ministerium an sich gerissen und Kuba hatte vorgeschlagen, eine Kulturkonferenz der SED abzuhalten. Am 6. August beschloss das Politbüro des ZK eine Kommission zur Vorbereitung der Kulturkonferenz unter Leitung von Alexander Abusch. Becher, so bestätigte seine Frau später, „sprach den Namen des angeblichen Freundes nicht mehr aus. Er sprach nur noch vom ,Verräter‘.“27 Im Verlauf des Herbstes untersuchte die ZPKK „Aufweichungserscheinungen“ im Ministerium für Kultur. Und am 14. Oktober beschloss das Politbüro die Bildung einer Kommission des ZK für Kultur unter der
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Ebd., S. 25–26. Dieter Schiller: Disziplinierung der Intelligenz. Die Kulturkonferenz der SED vom Oktober 1957. hefte zur ddr-geschichte 44, Berlin 1997, S. 44–45. 27 Mayer: Turm von Babel (Anm. 4), S. 58. 26
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Leitung von Alfred Kurella, der damit zum obersten Kulturfunktionär aufstieg. Becher war ausgeschaltet. „Gestern bei Becher“, schrieb Hanns Eisler am 2. September nach Wien, er „hat einen Bluterguss im Auge, ein nicht ungefährliches Symptom. Er muss völlige Ruhe halten [. . .] Er ist deprimiert.“28 In einem langen Brief vom 10. September an das ZK der SED leistete Becher Abbitte, lieferte die geforderte Stellungnahme und bot an, aus Gesundheitsgründen von allen Ämtern zurückzutreten. Am Anfang des Briefes steht genau derselbe Satz, den ihm der „Freund“ und Übervater Ulbricht vorgegeben hatte: „Zweifellos haben wir dank der Wachsamkeit der Partei und der Arbeiter-und-Bauern-Macht in Berlin nur einen Teil der ersten Etappe der Politik des Petöfi-Kreises erlebt.“29 Er grenzte sich einerseits von Lukács und Mayer, von Harich und Janka ab, beharrte andererseits auf der Notwendigkeit des Meinungsstreits und warnte vor Spießertum und einem neuen Proletkult. Dieser Brief wurde als „Vertrauliche Verschlusssache“ am 26. September an alle Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED weiter gesandt. Becher hatte sich wieder ein- und untergeordnet. Als treuer Genosse sah er keine Alternative, und im Westen galt er als Handlanger Ulbrichts. Aber sie ließen den kranken Mann nicht einfach stillschweigend gehen. Nein, sie bestanden auf dem Ritual einer öffentlichen Unterwerfung. Und dieser öffentliche Akt fand eine mehrfache Wiederholung und Demütigung: auf der 33. Tagung des ZK der SED, 16.–19. Oktober 1957, auf der Kulturkonferenz der SED am 23./24. Oktober, und auf dem V. Bundeskongress des Kulturbundes, 7.–9. Februar 1958, wo er vom Amt des Präsidenten zurücktrat. „Becher fällt in die Sprache der Ankläger von 1936 zurück, als wolle er sich für seinen mangelnden Stalinismus entschuldigen. Ihm, der sich am weitesten nach vorn gewagt hatte, der am längsten im ZK standhielt, ihm verkehren sich die Worte im Mund. Zerrissen von den Verhältnissen, die er reformieren wollte, ordnet der gescheiterte Funktionär, dem sein Vater als Kind schon das Rückgrat brach, sich der siegreichen Macht unter.“30 Und es ward still und einsam um ihn. Die Freunde im Geiste, die Lukács und Mayer, die Janka und Harich hatte er „verraten“, die falschen Freunde aber hatten ihn verraten und kalt gestellt. Das Ruder in der Kultur übernahm die sogenannte „Viererbande“: Abusch, Kurella, Rodenberg und Gotsche.31 Seine Nachfolger im Ministerium hielten keinem Vergleich mehr mit ihm stand.
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Eisler: Briefe (Anm. 12), S. 692. Johannes R. Becher: Briefe (Anm. 8), S. 501. Dwars: Abgrund (Anm. 2), S. 761; ders.: Grundirrtum (Anm. 3), S. 26. Irmtraut Gutschke: Hermann Kant. Die Sache und die Sachen, Berlin 2007, S. 97.
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V. Weg der Dichtung Der Funktionär Becher war gestorben. Er konnte wieder sein, was er immer sein wollte: ein deutscher Dichter. „Ich bin zufrieden“, sagte er einmal, „wenn am Ende auf einen Kilometer Becher ein Vers bleibt, den die Menschen in hundert Jahren noch kennen.“32 Im Juli 1956 war sein „poetischer Gegenspieler“ Gottfried Benn verstorben, der noch in seinen letzten Lebensjahren anerkannte: „von ihnen allen sei der Becher wohl der Begabteste gewesen“.33 Zwar war Becher ein Vielschreiber und er brachte alles Geschriebene sogleich an die Öffentlichkeit. „Er wusste, was er machte; er musste sehr viel schreiben, damit vieles eine hohe Höhe erreichte“, meinte Eisler, „das wusste er und war gelangweilt, wenn ihm irgendein Plattkopf auf irgendwelche Verse aufmerksam machte, die ihm nicht gelungen schienen. Das wusste er selber, dazu brauchte er keinen Kritiker.“34 Aber seit 1952 hatte Becher keinen Band eigener Gedichte mehr herausgebracht. Die politischen Auseinandersetzungen schwächten Geist und Körper. Doch ohne zu dichten, konnte er nicht leben. Der Poet in ihm rebellierte gegen Müdigkeit, Einsamkeit und Traurigkeit. Parallel zur abschließenden Arbeit am Poetischen Prinzip und den scheiternden Bemühungen um den modernen Roman Wiederanders entstanden seit Mitte 1956 neue Gedichte. Im Herbst 1957 war das Manuskript des neuen Bandes Schritt der Jahrhundertmitte abgeschlossen. Mitte 1958 erschien er in einer kleinen Auflage im Aufbau-Verlag.35 Fast zur gleichen Zeit kam ein zweiter Gedichtband Der Glücksucher und die sieben Lasten. Verlorene Gedichte aus vier Jahrzehnten heraus. Ein Titel, der über dem ganzen Werk Bechers hätte stehen können. Schritt der Jahrhundertmitte sind Gedichte mit innerer Ambivalenz und polaren Spannungen, elegische und hymnische Dichtungen. Es ist der ganze Becher: „Des Menschen Elend und des Menschen Größe“36, Melancholie und Euphorie. Die Erschütterungen über Stalins Verbrechen finden ebenso Gestaltung wie die Konflikte im künstlerischen Leben der DDR. Neu wird über Erreichtes und Ersehntes, über das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit nachgedacht. Die Erinnerungen an wichtige Stationen seines Lebens werden zum Quell neuer poetischer Kraft. Der Dichter hat zu sich selbst zurückgefunden. „Um dein Werk nicht zu gefährden, / Musst du wandeln dich und werden.“37 Er verkündet die 32 Jurij Brezan: Ohne Pass und Zoll. Aus meinem Schreiberleben, Leipzig 1999, S. 154. 33 Hans Mayer: Wendezeiten. Über Deutsche und Deutschland, Frankfurt a. M. 1995, S. 140. 34 Hanns Eisler/Ernst Stein: Interview über Johannes R. Becher, in: Sinn und Form, Sonderheft Hanns Eisler 1964, S. 218. 35 Vgl. Siegfried Röhnisch: Wirklichkeit und Dichtung in Johannes R. Bechers „Schritt der Jahrhundertmitte“, in: Weimarer Beiträge, Sonderheft 1966, S. 102. 36 Johannes R. Becher: Schritt der Jahrhundertmitte. Neue Dichtungen, Berlin 1958, S. 39.
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„Macht der Poesie“ als „ein Element der Selbst-Konstituierung und der SelbstBehauptung“.38 „Hier steht eine Reihe kühner, von Schrecken, Verzicht, Trauer und Gewissheit geprägter, abgründiger Gedichte, wie niemand sie sonst hier geschrieben hat“, stellte Stephan Hermlin fest.39 „Die letzten Verse des kranken und traurigen, schwer sterbenden Mannes machten sich frei“, schrieb Hans Mayer, frei von „Imitationen des Klassischen wie des angeblich Volkstümlichen. Sie wirken gelöst, gegenstandsfroh, kaum mehr programmatisch. Es sind keine Klänge aus Utopia, und der Lyriker hat es gewusst.“40 Am 18. März 1958 beschloss das Politbüro des ZK der SED die Pensionierung Bechers. Seit April fesselte ihn dauerhaftes Fieber ans Bett. Nachdem ihn Konstantin Fedin besucht hatte, sagte der zu Bodo Uhse: „Ihr lebt alle so einsam. Jeder von euch.“41 Becher weiß offenbar, was kommen wird, während die Ärzte noch immer ratlos sind. Da bereiten ihm seine alten Genossen eine letzte Demütigung. Lotte Ulbricht war auf die Idee gekommen, die von Becher 1953 verfertigte Biographie Walter Ulbrichts wieder auszugraben. Jenes Auftrags- und Machwerk, das in der Hochzeit des Personenkults entstanden war und das Becher selbst für misslungen erklärt hatte. Otto Gotsche und Lotte Ulbricht überarbeiteten das Manuskript und Becher konnte sich nicht mehr wehren.42 Anlässlich des 65. Geburtstags Ulbrichts am 29. Juni 1958 erschien es in 50.000 Exemplaren. Als Hermlin Becher ein Exemplar von Walter Ulbricht. Ein deutscher Arbeitersohn auf dem Sterbebett übergab, weinte er vor Scham. Es war nicht sein letztes, aber sein schlechtestes Werk. Nach einer schweren Krebsoperation stirbt Johannes R. Becher am 11. Oktober 1958. Und die ihn nicht in Ruhe sterben ließen, bemächtigten sich nun seiner. Entgegen Bechers letztem Wunsch fand ein Staatsbegräbnis mit Aufbahrung und Totengeleit statt. Ludwig Renn: „Na ja, das ist Mittelalter, und nicht einmal deutsches.“43 Und „Spitzbart“ Ulbricht spiegelte sich in Bechers Dichtung, von der er nur wenig verstand. Und „Ratte“ Abusch ergriff „noch immer rührende naive Freude darüber“, dass er nun Minister sei.44
37
Ebd., S. 29. Rüdiger Ziemann: Poetische Gestalt. Studien zum lyrischen Spätwerk Johannes R. Bechers, Frankfurt a. M. 1992, S. 224. 39 Stephan Hermlin: Äußerungen 1944–1982, Berlin 1983, S. 281. 40 Johannes R. Becher: Gedichte. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Hans Mayer, Frankfurt a. M. 1975, S. 143; vgl. Mayer: Turm von Babel (Anm. 4), S. 100 ff. 41 Bodo Uhse: Reise- und Tagebücher Bd. II, Berlin 1981, S. 350. 42 Vgl. Simone Barck: Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre, Köln 2003, S. 203 ff. 43 Ulrich Dietzel: Männer und Masken. Ein Tagebuch. Kunst und Politik in Ostdeutschland, Leipzig 2003, S. 21. 44 Kantorowicz: Tagebuch (Anm. 7), 1. Teil, S. 338; 2. Teil, S. 649. Uhse: Reise- und Tagebücher (Anm. 41), S. 439. 38
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Bis zum Ende hatte Becher über seinen Werdegang nachgedacht, war er auf der Suche nach sich selbst: „Ein verfehltes Leben, dachte er oftmals. Noch immer konnte er nichts mit sich anfangen. Seinen ursprünglichen Namen hatte er wieder angenommen, alsbald ihn aber wieder abgelegt und sich ,Wiederanders‘ genannt, und dabei blieb es. Wer konnte ihm Auskunft geben über sich selbst. Die Auskunft, die er sich selbst gab, schien ihm mehr als fraglich. So beriet er sich mit den Leuten, die ihn kannten, um von ihnen zu erfahren, was sie wohl über ihn denken mochten. Dazwischen sagte er: ,Mit diesem Roman komme ich wieder – ich, der ich gewesen bin, ich, der ich sein werde.‘ [. . .] Ein alter Mann beugt sich über seine Vergangenheit. Solange das Menschenleben besteht, werden alte Männer, gebeugt vom Vergangenen, ihre Geschichte niederschreiben, um sich daran noch einmal vor ihrem Dahinsterben aufzurichten. Antworten, Grüße, ein Album von Ansichtskarten, Abschiedsgrüße, Rechenschaft, Rechtfertigung, Anklage und Selbstbeschuldigung – ein Hinweis für den und jenen, ein Stück Geschichtsschreibung, ein Beitrag zur Menschenlehre, Flugpost in die Nichtsunendlichkeit, Requiem, Gesang einer Niewiederkehr –“45 AUSWAHL46 Die wenig gelungenen Stellen Aus meinen kaum gelungenen Gedichten Wird man auswählen, Um zu beweisen, Ich wäre euresgleichen. Aber dem ist nicht so: Denn ich bin Meinesgleichen. So werde ich auch im Tode Mich zu wehren haben, Und über meinen Tod hinaus – wie lange wohl? – Erklären müssen, Dass ich meinesgleichen war Und dadurch euresgleichen, Aber nicht euresgleichen In eurem Sinne. Indem ich mir glich, Glich ich euch. Aber nur so. 45 46
Johannes R. Becher: Wiederanders, S. 444–445, S. 467–468. Johannes R. Becher: Gedichte (Anm. 40), S. 135.
Wechsel an der Spitze der Staatssicherheit Die Neuausrichtung der DDR-Geheimpolizei im Jahr 1957 Von Roger Engelmann Am 14. Januar 1957 befahl der Minister für Staatssicherheit der DDR, Ernst Wollweber, dass Meldungen an den Vorsitzenden des Ministerrates, den Ersten Sekretär und die Sicherheitskommission des ZK „durch mich persönlich weitergegeben werden“.1 Mit dieser harmlos klingenden und bürokratischen Gepflogenheiten des SED-Staates durchaus entsprechenden Festlegung versuchte er, seine Autorität als Staatssicherheitschef wiederherzustellen. Walter Ulbricht hatte in der jüngeren Vergangenheit wiederholt zentrale Staatssicherheitsprobleme unter Umgehung Wollwebers direkt mit seinem Stellvertreter Erich Mielke verhandelt, der seit jeher sein Vertrauensmann in der MfS-Führung gewesen war. Der SED-Chef, der gewillt war, nach einer vorübergehenden politischen Schwächephase im Tauwetterjahr 1956 die Zügel wieder straff in die eigene Hand zu nehmen, sah sich durch Wollwebers Reaktion herausgefordert. Er bewertete den Schritt des Ministers als Versuch, „sich über Partei und Regierung zu stellen“,2 im kommunistischen Herrschaftsverständnis nahezu ein Hochverratsvorwurf. Damit war der Machtkampf eröffnet, der schließlich im November zu Wollwebers Sturz führte.3 Seine Nachfolge trat Erich Mielke an, der das MfS in der Folgezeit im ungetrübten Einvernehmen mit Ulbricht leitete. Der Wechsel an der Spitze des MfS war nicht nur ein machtpolitischer Vorgang, er markiert gleichzeitig eine wichtige Zäsur in der Geschichte der DDRStaatssicherheit. Denn erst jetzt übernahm die SED in umfassender Weise die Anleitung des MfS – zu einem wesentlichen Teil war diese Rolle in der Vergangenheit von sowjetischen Beratern wahrgenommen worden. Zudem erfuhr die Staatssicherheit 1957 eine Neuausrichtung, die auf längere Sicht dazu führte, 1 Befehl 11/57 des Ministers für Staatssicherheit vom 14.1.1957, dokumentiert in: Roger Engelmann/Silke Schumann: Der Ausbau des Überwachungsstaates. Der Konflikt Ulbricht–Wollweber und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes der DDR 1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995) 2, S. 341–378, hier 355 f. 2 Protokoll der Sitzung des MfS-Kollegiums am 7.2.1957, in: ebd., S. 357. 3 Zur Dramaturgie des Konfliktes Ulbricht–Wollweber vgl. Engelmann/Schumann: Ausbau (Anm. 1). Außerdem ausführlicher: Dies.: Kurs auf die entwickelte Diktatur. Walter Ulbricht, die Entmachtung Ernst Wollwebers und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes 1956/57 (BF informiert 1/1995), Berlin (BStU) 1995.
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dass sie sich von einer herkömmlichen kommunistischen Geheimpolizei zu einem allgemeinen, zunehmend auch vorbeugend agierenden Überwachungsapparat entwickelte. Im Hinblick auf diese Veränderungen spielte Ulbricht eine zentrale Rolle. Er war es, der ab Sommer 1956 unermüdlich predigte, die kommunistische Herrschaft werde unter den gegebenen Bedingungen vor allem durch „ideologische Aufweichung“ gefährdet, und der später energisch auf entsprechende konzeptionelle und organisatorische Veränderungen im MfS drängte. Bereits im Mai 1956, mitten in der Tauwetterphase nach dem XX. Parteitag der KPdSU, betonte Ulbricht auf einer Tagung des Parteiaktivs im MfS, die Staatssicherheit sei „bei uns jetzt noch notwendiger als bisher“.4 Er sah eine neue Taktik des Gegners, Stimmungen in intellektuellen Kreisen und der Partei für seine Ziele auszunutzen. Im Kampf „zwischen den zwei Systemen in Deutschland“ versuche „der Gegner auf diese Weise bei uns einzudringen“. Partei und Staatssicherheit aber seien auf diese „neuen Methoden und Formen“ nicht vorbereitet. „Das heißt, mitten im Lande kann uns der Gegner überraschen und wir merken nichts davon.“5 Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine grundsätzlichen Differenzen zwischen Ulbricht und seinem Minister für Staatssicherheit. Symptomatisch ist jedoch, dass Wollweber westliche Aktivitäten noch ganz klassisch als geheimdienstliche Zersetzungsarbeit deutete,6 während die Ängste des SED-Chefs sich bereits auf die Gefahr einer unkontrollierbaren Dynamik ideologischer Auseinandersetzungen in der SED konzentrierten. Ende Mai 1956 erlitt Wollweber einen Herzinfarkt und war bis Oktober gesundheitlich außer Gefecht. An der Spitze der Staatssicherheit vertrat ihn Erich Mielke, der sich mit Ulbricht bedeutend besser verstand als sein Chef. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt unterzog sich Wollweber einer Kur im polnischen Bad Kudowa und erlebte dort den heraufziehenden „polnischen Oktober“. Unmittelbar vor dem dramatischen 8. ZK-Plenum der PVAP am 19./20. Oktober 1956, auf der Władisław Gomułka, der von 1951 bis 1954 als „rechtsnationalistischer“ Abweichler inhaftiert gewesen war, zum Ersten Sekretär gewählt wurde, eilte er nach Warschau. Er führte dort informelle Gespräche mit verschiedenen hohen Funktionären, unter anderem mit dem Vorsitzenden des Komitees für Nationale Sicherheit Edmund Pszczolkowski, seinem Stellvertreter Antoni Alster und dem Innenminister Władysław Wicha.7 Wollweber hielt 4 Rede Ulbrichts auf der Parteiaktivtagung im MfS am 11.5.1956; BStU, MfS, SdM 2366, Bl. 20–34, hier 34. 5 Ebd., Bl. 24–26. 6 Siehe Wollwebers Ausführungen auf der 3. Parteikonferenz (24.–30.3.1956); Protokoll der Verhandlungen der 3. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1956, Bd. 2, S. 947–958. 7 Vgl. Ernst Wollweber: Aus Erinnerungen. Ein Porträt Walter Ulbrichts, dokumentiert von Wilfriede Otto, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 32 (1990),
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schriftlich fest: Die Autorität der Staatssicherheit sei in Polen völlig am Boden, auch wenn Gomułka versprochen habe, sie wieder zu heben.8 Es sei „klar ersichtlich, dass man die antisowjetischen und nationalistischen Stimmungen nicht bekämpft“ habe, „sondern [. . .] sozusagen auf ihrer Flutwelle an die Macht geschwommen“ sei.9 Obwohl Wollweber also keinerlei Sympathie für die polnischen Entwicklungen empfand, kam es über dieses Thema wenig später mit Ulbricht zu einem Disput. Der SED-Chef machte der polnischen Staatssicherheit den Vorwurf, dass sie die Machtübernahme Gomulłkas nicht verhindert habe. Wollweber, der in die Rolle eines Verteidigers seiner polnischen Kollegen gedrängt wurde, hielt dem entgegen, das hätte sie gegen den Willen des Zentralkomitees der PVAP tun müssen.10 Das Argument scheint den Ersten Sekretär nicht beeindruckt zu haben, zeigte ihm aber, dass Wollweber in einer vergleichbaren Situation nicht unbedingt in seinem Sinne agiert hätte. Endgültig alarmiert war Ulbricht, als sich kurz nach dem polnischen Umbruch die politische Situation in Ungarn zuspitzte. Ungarn galt ihm als Musterfall aktueller „konterrevolutionärer“ Gefahren, und das bezog sich insbesondere auch auf die Rolle, die im vorausgegangenen Liberalisierungsprozess intellektuelle Wortführer gespielt hatten, vor allem der Petöfi-Kreis und Georg Lukács, Kultusminister in der Regierung Imre Nágy. Solche Gefahren der ideologischen „Aufweichung“ sah Ulbricht auch für die DDR, denn im Sommer 1956 war in der parteinahen Intelligenz auch hier eine Reformstimmung entstanden. Es bildeten sich Kerne dissidenter Intellektueller heraus, etwa um den Leipziger Lehrstuhl von Ernst Bloch oder um den Berliner „Aufbau-Verlag“ und die Redaktion der Wochenzeitschrift des Kulturbundes „Sonntag“, die eine durchaus rege Kommunikation mit polnischen, teilweise auch mit ungarischen Kollegen pflegten.11 Auch an den Hochschulen verbreitete sich Unruhe. Das MfS registrierte in der Studentenschaft Diskussionen über den XX. Parteitag der KPdSU und die „Auswirkungen des Personenkults“.12 Im Oktober radikalisierten sich diese Auseinandersetzungen. An der Berliner HumS. 350–378; außerdem Wollwebers Bericht o. D. (Ende Oktober 1956); BStU, MfS, SdM 1201, Bl. 424–433. 8 Ebd., Bl. 430. 9 Ebd., Bl. 427. 10 Vgl. Wollweber: Erinnerungen (Anm. 7), S. 363 f. 11 Vgl. Marion Brandt: Für eure und unsere Freiheit? Der Polnische Oktober und die Solidarinos´c´-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR, Berlin 2002, S. 101, S. 132–134; Heinrich Olschowsky: Das Jahr 1956 in der literarischen Szene der DDR. In: Hans Henning Hahn/Heinrich Olschowsky: Das Jahr 1956 in Ostmitteleuropa, Berlin 1996, S. 116–134; Guntolf Herzberg: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin 2006, S. 218–221. 12 MfS, Abteilung Information vom 29.5.1956: Lage in den Universitäten und unter den Studenten; BStU, MfS, AS 80/59, Bl. 98–112, hier 98.
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boldt-Universität bildeten Studenten nach dem Vorbild des „Petöfi-Klubs“ einen „Jakobiner-Klub“.13 Es gärte vor allem bei den Chemikern, Medizinern und Veterinärmedizinern. Studenten der Hochschule für Ökonomie und Planung forderten offen die Absetzung Ulbrichts.14 Prophylaktisch wurden am 31. Oktober in Berlin-Mitte zwei Kampfgruppen-Hundertschaften zusammengezogen.15 Als Anfang November die Lage in Ungarn außer Kontrolle geriet, verfasste Ulbricht ein Schreiben „an die Genossen und Mitarbeiter der Staatssicherheit“, dessen Kernsatz lautete: „Das Beispiel Ungarn lehrt uns, niemals in die Fehler der ungarischen Partei zu verfallen, sondern einheitlich, entschlossen und konsequent alle Versuche der Konterrevolution zur Restaurierung des Kapitalismus schon im Keime zu ersticken.“ Am 8. November beschloss das SED-Politbüro „Maßnahmen zur Unterdrückung konterrevolutionärer Aktionen“, einen Stufenplan für den Bürgerkriegseinsatz, der ein nach dem Juni-Aufstand konzipiertes System von politisch-militärischen Kommandostrukturen weiterentwickelte und implementierte.16 Weitere vier Tage später, am 12. November, beendete Ulbricht auf dem 29. ZK-Plenum faktisch das politische Tauwetter. Hierbei kritisierte er auch bereits das MfS: Nach dem XX. Parteitag seien „manche Genossen der Staatssicherheit“ so vorsichtig geworden, „dass sie nicht mehr die Kraft“ gehabt hätten, gegen bestimmte Feinde des Staates energisch vorzugehen.17 Spätestens ab jetzt begann Ulbricht, die Ausrichtung der Staatssicherheit auf eine offensivere Bekämpfung politisch-ideologischer Abweichungen systematisch zu betreiben. Als Schlüsselvorgang diente ihm dabei der Fall Harich. Wolfgang Harich, stellvertretender Cheflektor im Aufbau-Verlag, hatte sich intensiv an den nach dem XX. Parteitag der KPdSU einsetzenden Reformdiskussionen unter Parteiintellektuellen beteiligt. Er fungierte als intellektueller Kopf eines 13 Analyse der Feindtätigkeit der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz, o. D. (1957); BStU, MfS, BdL-Dok. 5154 sowie SAPMO-BA, DY 30, IV 2/1/182, Bl. 62–153, dokumentiert in: Ilko-Sascha Kowalczuk: Frost nach dem kurzen Tauwetter: Opposition, Repressalien und Verfolgungen 1956/57 in der DDR. Eine Dokumentation des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 1997, S. 202. 14 MfS, Abteilung Information: Information 279/56 vom 26.10.1956: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik, Anhang: Lage unter den Studenten; BStU, MfS, AS 83/59, Bl. 168–175, hier 168. 15 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Niederschlagung der Opposition an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin in der Krise 1956/57. Dokumentation einer Pressekonferenz des Ministeriums für Staatssicherheit im Mai 1957, Berlin 1997. Siehe auch: Herzberg: Anpassung (Anm. 11), S. 341–353. 16 Vgl. Joachim Krüger: Votum für bewaffnete Gewalt. Ein Beschluss des SED-Politbüros vom November 1956, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 34 (1992), Heft 4, S. 75–85. Siehe auch weiterführend Armin Wagner: Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED. Der Nationale Verteidigungsrat und seine Vorgeschichte (1953–1971), Berlin 2002, S. 130–142. 17 Stenographisches Protokoll des 29. ZK-Plenums (12.–14.11.1956); SAPMO-BA, DY 30, IV 2/1/166, Bl. 119–149, hier 147 f.
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losen Diskussionszusammenhangs im Umfeld des Aufbau-Verlags und der Kulturzeitschrift „Sonntag“, in dem über Wege zu einer konsequenten Entstalinisierung der DDR gesprochen wurde. In mehreren Memoranden formulierte er politische Vorstellungen zur Reform von SED und DDR eingebettet in eine offensive Wiedervereinigungsstrategie. Seine Überlegungen übermittelte er an den sowjetischen Botschafter Puschkin und diskutierte sie auch in Westberlin mit Ansprechpartnern in der SPD und in Hamburg mit westlichen Pressevertretern.18 Für Ulbricht waren die nationalkommunistischen Ideen Harichs das „Programm der Konterrevolution“ schlechthin; er befürchtete, dass sie insbesondere in der studentischen Jugend eine große Wirkung entfalten könnten, und drängte Wollweber, ihn möglichst schnell zu verhaften. Dieser war gelassener und zögerte die Verhaftung aus ermittlungstaktischen Gründen hinaus.19 Zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden kam es über den Text der Pressemitteilung zur Festnahme Harichs, der eine Vorwegnahme des Ermittlungsergebnisses enthielt, was der Minister für Staatssicherheit für politisch unklug hielt und die tatsächlich in intellektuellen Kreisen für erhebliche Missstimmung sorgte.20 Der Fall Harich war für Ulbricht so wichtig, dass er nichts dem Zufall überlassen wollte, und so verschaffte er sich über Erich Mielke den direkten Zugang zu den Ermittlungsakten, teilweise noch bevor Wollweber selbst sie zur Kenntnis bekommen hatte.21 Mielkes Stellung war aufgrund des prekären gesundheitlichen Zustandes seines Chefs in der zweiten Jahreshälfte 1956 ohnehin gestärkt worden. Die direkte Verbindung zwischen ihm und Ulbricht war eingespielt und für beide gleichermaßen vorteilhaft. Der Parteichef hatte in Mielke einen unkomplizierten, mit großen Vollmachten ausgestatteten und gleichzeitig von wenig politischen Skrupeln belasteten Ansprechpartner in der Leitung des MfS. Für diesen wiederum bedeutete der direkte Zugang zum Parteichef unmittelbaren Machtzuwachs und vielleicht auch schon berechtigte Hoffnungen auf die Realisierung weitergehender Ambitionen. 18 Vgl. Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Berlin 1993; sowie Siegfried Prokop: Ich bin zu früh geboren. Auf den Spuren Wolfgang Harichs. Berlin 1997, S. 91–113. Vgl. auch Roger Engelmann: Ost-West-Bezüge von Widerstand und Opposition in der DDR der fünfziger Jahre. In: Erhart Neubert/Bernd Eisenfeld (Hrsg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR, Bremen 2001, S. 176–179; Herzberg: Anpassung (Anm. 11), S. 489–510. 19 Vgl. Wollweber: Erinnerungen (Anm. 7), S. 366: „Ich bat um die Genehmigung, noch 14 Tage bis zur Festnahme zu warten, ihn ruhig noch nach Westberlin fahren zu lassen, die von ihm beabsichtigte Reise nach Hamburg vornehmen zu lassen.“ 20 Vgl. ebd., S. 367. Bericht über den Treff von Oberfeldwebel Gütling (HA V/1) mit dem Geheimen Informator „Kurt“ (Klaus Gysi) vom 4.12.1956; BStU, MfS, AIM 3803/ 65, Arbeitsvorgang, Bd. 2, Bl. 57. 21 Vgl. Wollweber: Erinnerungen (Anm. 7), S. 366. Mielke sandte z. B. am 14. und 17.12. Dokumente zum Fall Harich an Ulbricht. Mielke an Ulbricht vom 17.12.1956; BStU, MfS, SdM 1480, Bl. 12 f.
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Doch Wollweber dachte nicht daran, dem schleichenden Verlust seiner Autorität tatenlos zuzusehen und hatte hierbei wohl die Rückendeckung des Ostberliner KGB-Bevollmächtigten Jewgenij Pitowranow. Durch den Erlass einer Meldeordnung beabsichtigte der Minister für Staatssicherheit, die Zügel seines Apparates wieder in die Hand zu nehmen, und verkündete dieses Vorhaben am 29. Dezember 1956 im Kollegium seines Ministeriums.22 Freimütig bekannte er, dass die Umgehung seiner Person durch Mielke bei der Berichterstattung zum Fall Harich und in einem weiteren Fall den Anlass hierzu gegeben habe.23 Wie bereits erwähnt, erließ er am 14. Januar 1957 den Befehl 11/57 über Meldungen des MfS an die Staats- und Parteiführung, nach dem Informationen an den Vorsitzenden des Ministerrates, den 1. Sekretär des Zentralkomitees und an die Mitglieder der Sicherheitskommission des ZK über den Minister persönlich zu erfolgen hätten und er über Meldungen seiner Stellvertreter an Mitglieder des Politbüros oder Sekretäre des ZK detailliert zu informieren sei.24 Angesichts der Vorgeschichte war sich Wollweber darüber im Klaren, dass diese Regelung von Ulbricht als Kampfansage aufgefasst werden würde. Um sich rückzuversichern, legte er sie daher dem KGB-Bevollmächtigten Pitowranow zur Stellungnahme vor. Nach Auskunft von Wollweber lautete die Antwort der Sowjets, sachlich sei die Regelung berechtigt, aber sie könne falsch ausgelegt werden. Trotz dieser Bedenken legten die „Freunde“ allerdings kein Veto ein.25 Nachdem Ulbricht auf dem 30. ZK-Plenum (30.1.–1.2.1957) seine Position SED-intern konsolidiert hatte, rief er am 6. Februar den Minister für Staatssicherheit und die Mitglieder seines Kollegiums zu sich und geißelte – wie schon eingangs ausgeführt – den Befehl 11/57 als den Versuch Wollwebers, sich über Partei und Regierung zu stellen. Anschließend nutzte er die Gelegenheit, der Staatssicherheit eine ganze Liste grundlegender Mängel vorzuhalten. Besonders erbost war Ulbricht über die Lage- und Stimmungsberichterstattung der Stasi an die SED-Führung, die er als „Schädigung der Partei“ bezeichnete, weil mit ihr „die Hetze des Feindes legal verbreitet“ werde.26 Der SED-Chef selbst war während des Jahres 1956 in diesen Stimmungsberichten nicht gut weggekommen, was seinem Standing innerhalb der Parteiführung naturgemäß nicht zuträglich war. Wollweber war jedoch immer noch nicht bereit, zu Kreuze zu kriechen. Als seine Stellvertreter Erich Mielke und Otto Walter dem Kollegium eine Beschluss22 Vgl. Protokoll der Sitzung des MfS-Kollegiums am 29.12.1956, Auszug dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Kurs (Anm. 3), S. 31–33. 23 Vgl. Ergänzung zum Protokoll der Sitzung des MfS-Kollegiums am 29.12.1956, dokumentiert in: ebd., S. 34. 24 Vgl. Befehl 11/57 des Ministers für Staatssicherheit vom 14.1.1957, dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Ausbau (Anm. 1), S. 355 f. 25 Vgl. Wollweber: Erinnerungen (Anm. 7), S. 368 f. 26 Protokoll der Sitzung des MfS-Kollegiums am 7.2.1957, dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Ausbau (Anm. 1), S. 357.
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vorlage zur Aufhebung des Befehls unterbreiteten, die – in Anlehnung an die Position Ulbrichts – die Formulierung enthielt, der Befehl widerspreche „den Prinzipien über das Verhältnis der Organe der Staatssicherheit zur Partei“, verweigerte er seine Zustimmung. Er setzte eine Formulierung durch, die es ihm ermöglichte, den Befehl für ungültig zu erklären, ohne eine politisch so schwer wiegende Verfehlung einzugestehen. Stattdessen verabschiedete das MfS-Kollegium die Formulierung, der Befehl sei „in seiner Auswirkung nicht voll erkannt“ worden und hätte „vor Inkraftsetzung dem 1. Sekretär des ZK respektive der Sicherheitskommission vorgelegt werden müssen“.27 Etwa zeitgleich kam es bei einer Unterredung zwischen dem sowjetischen Botschafter Puschkin und Ulbricht, zu der auch Pitowranow hinzugezogen wurde, zu einer heftigen Auseinandersetzung, weil sich offenbar auch der KGB-Vertreter weigerte, das Verdikt des SED-Chefs zu akzeptieren.28 Für Pitrowanow bedeutete der Zusammenstoß mit dem SED-Chef das Ende seiner Deutschland-Mission, wenig später wurde er abberufen.29 Brisant ist in diesem Zusammenhang, dass Wollweber offenbar kurz zuvor versucht hatte, über Pitowranow bei der sowjetischen Führung eine „Klärung“ der politischen Differenzen in der SED-Führung anzuregen. Dies wurde ihm ein Jahr später auf dem 35. ZK-Plenum – als er bereits abgesetzt war – als Beleg für die „fraktionelle Tätigkeit“ zugunsten des Ulbricht-Widersachers Karl Schirdewan vorgehalten.30 Aus dem 30. ZK-Plenum war Ulbricht nicht nur machtpolitisch gestärkt hervorgegangen, die SED übernahm auch seine Lagebeurteilung und die daraus zu ziehenden Schlüsse. Die ungarischen und polnischen Ereignisse sowie die „abweichlerischen“ Diskussionen in der DDR wurden in den Kontext einer „Aufweichungstaktik des Imperialismus“ eingeordnet.31 Die Staatssicherheit sollte sich daher auf neue Methoden des „Klassenfeindes“ zur „ideologischen Zersetzung“ durch „revisionistische, opportunistische und liberalistische Anschauungen“ einstellen.32 Ulbricht warf dem MfS zudem vor, es habe 1956 „in Verbindung mit der Milderung der Spannungen und der Konzentrierung der Abwehr auf die auswärtigen feindlichen Agenturen die Wachsamkeit nachgelassen“ und 27 Protokoll der Sitzung des Kollegiums des MfS am 8.2.1956, dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Ausbau (Anm. 1), S. 365 f. 28 Wollweber: Erinnerungen (Anm. 7), S. 369 f. 29 Das geht hervor aus dem Schreiben Wollwebers an Ulbricht vom 28.3.1957; BStU, MfS, SdM 1200, Bl. 151; außerdem Wollweber: Erinnerungen (Anm. 7), S. 369 f. 30 Redebeitrag Wollwebers am 3.2.1958 auf dem 35. Plenum des Zentralkomitees der SED, dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Kurs (Anm. 3), S. 77–79. 31 Vgl. stenographisches Protokoll des 30. ZK-Plenums (30.1.–1.2.1957), Bericht des Politbüros vorgetragen von Erich Honecker; SAPMO-BA, DY 30, IV 2/1/170, Bl. 6–53, hier 30–40; Referat von Walter Ulbricht; ebd., Bl. 54–85, hier 77–85. 32 Richtlinie der SED-Kreisleitung im MfS zur Auswertung des 30. ZK-Plenums in den Grundorganisationen vom 14.2.1957; BStU, MfS, KL-SED 364 (alt), Bl. 1001– 1003.
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„lange Zeit überhaupt niemanden mehr verhaftet“. Das sei „nicht normal“ und der Gegner habe das auszunutzen versucht; er sei „frech geworden“.33 Das MfS wurde jetzt enger an die SED angebunden.34 Es kam nunmehr zu der formellen Festlegung, dass die Anleitung der Staatssicherheit durch die Sicherheitskommission des ZK zu erfolgen habe, die immerhin schon mehr als drei Jahre bestand. Zwar besagte bereits das Statut des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 15. Oktober 1953, dass die „Beschlüsse und Direktiven des ZK bzw. des Politbüros“ Grundlage seiner Arbeit seien.35 Auch hatte die Sicherheitskommission des ZK bereits früher Anleitungsfunktionen gegenüber dem Staatssicherheitsdienst wahrgenommen.36 Doch ist unübersehbar, dass die sowjetischen Berater hier bisher die dominante Rolle spielten.37 Es war kein Zufall, dass Ulbricht Ende 1956 im Gespräch mit Wollweber die Frage aufwarf, wer denn eigentlich die Staatssicherheit anleite. Diese Frage sei zwar im Moment nicht aktuell, müsse aber bald in einer Weise geklärt werden, dass der Eindruck vermieden werde – so der Wortlaut der Aufzeichnungen Wollwebers –, „als wären wir gegen die sehr wertvolle Beratung der sowjetischen Freunde im Apparat der Staatssicherheit“.38 Ein besonderer Dorn im Auge war dem SED-Chef die von den Sowjets 1955 veranlasste massive Ausrichtung des MfS auf die nachrichtendienstliche Arbeit im Westen, die er als eine unverantwortliche Schwächung der inneren Herrschaftssicherung betrachtete.39 Nach dem Frontalangriff von Ulbricht im Februar 1957 fühlte sich Wollweber in die Enge getrieben und ließ sich im Beisein seiner Stellvertreter Martin Weikert und Bruno Beater zu einem verbalen Ausbruch hinreißen, der in mehrfacher Hinsicht interessant ist. Nach dem Bericht Beaters soll er die rhetorische Frage gestellt haben, was denn das für eine Parteiführung sei, „wenn immer nur ein Mann bestimme“. „Wir haben doch die Erfahrungen, der XX. Parteitag usw. Wir 33 Stenographisches Protokoll des 30. ZK-Plenums (30.1.–1.2.1957), Schlusswort Walter Ulbrichts; SAPMO-BA, DY 30, IV 2/1/171, Bl. 85–107, hier 101. 34 Vgl. Beschluss der Politbüros vom 9.2.1957, dokumentiert in: Engelmann/Schumann, Ausbau (Anm. 1), S. 367 f. 35 Statut des SfS vom 6.10.1957, dokumentiert in: Roger Engelmann/Frank Joestel (Hrsg.): Grundsatzdokumente des MfS (MfS-Handbuch, Teil V/5), Berlin (BStU) 2004, S. 61–63. 36 Dies geht aus den Protokollen der Sicherheitskommission 1954–56; BA-MA, VA01/39543–39554 und aus entsprechenden Materialien aus der Ablage des Ministers für Staatssicherheit hervor; BStU, MfS, SdM 407. 37 Vgl. Roger Engelmann: Diener zweier Herren. Das Verhältnis der Staatssicherheit zur SED und den sowjetischen Beratern 1950–1959, in: Siegfried Suckut/Walter Süß (Hrsg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997, S. 51–72. 38 Wollweber: Erinnerungen (Anm. 7), S. 366. 39 Vgl. Roger Engelmann: Zur „Westarbeit“ der Staatssicherheit in den fünfziger Jahren, in: Georg Herbstritt/Helmut Müller-Enbergs: Das Gesicht dem Westen zu . . . DDRSpionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 2003, S. 148–150.
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müssen doch endlich davon abkommen, dass einer befiehlt, ohne dass die gesamte Leitung davon weiß. So war das doch auch mit den Festnahmen in der Vergangenheit, nachher will keiner verantwortlich sein.“ Er habe sich das Ziel gesetzt zu beweisen, „dass die Tragödie in allen sozialistischen Ländern mit ihrer Staatssicherheit keine Gesetzmäßigkeit“ sei, die „Übergriffe, die da waren“, seien „zu ersparen“. Dafür aber bedürfe es „einer Ordnung, die erst noch zu schaffen“ sei.40 Diese Bemerkungen, die Ulbricht sofort zugetragen wurden und mit denen sich Wollweber in den Augen des Parteichefs als Minister für Staatsicherheit endgültig disqualifizierte, verweisen auf zwei wesentliche Anliegen: die Ablehnung des autokratischen Regiments Ulbrichts und die Suche nach einer Herrschaftspraxis, die auf extreme Formen der Willkür und des Terrors verzichtet. Wahrscheinlich darf man letzteres nicht überbewerten, schließlich ist eine selbstkritische Sicht Wollwebers auf seine eigene Rolle in den ersten harten Jahren seiner Amtszeit nicht überliefert. Mit den „Übergriffen“ dürfte er im wesentlichen die Verfolgung fiktiver Parteifeinde in der Zeit bis 1953 gemeint haben. Trotzdem ist deutlich, dass Wollweber – anders als sein 1. Stellvertreter Mielke – zuweilen auch Skrupel hatte. Das mag unter anderem auf den Einfluss seiner Lebensgefährtin Clara Vater zurückgehen, die die Mühlen der Stalinschen Säuberungen in der Sowjetunion am eigenen Leibe schmerzhaft erfahren hatte.41 Zudem soll sich Wollweber bereits in den dreißiger Jahren, als er von seinem norwegischen Exil aus als Chef einer konspirativen Sabotageeinheit des NKWD arbeitete, nach Auskunft seiner damaligen Instrukteurin im Hinblick auf die Säuberungen in der Sowjetunion „sehr ablehnend“ geäußert und diese als „Massenterror gegen Leninisten“ bezeichnet haben.42 Auch ist bemerkenswert, dass er schon 1954 gegenüber dem ZK eine Haftüberprüfung bei früheren Parteimitgliedern und ehemaligen Angehörigen der Volkspolizei anregte, die in der Vergangenheit „außerordentlich harte Strafen [. . .] für verhältnismäßig geringfügige Vergehen oder Verbrechen“ erhalten hätten.43 Vom 18. Februar bis zum 2. März 1957 fand unter der Leitung des zweiten Stellvertreters Wollwebers, Otto Walter, eine vom Politbüro angeordnete exemplarische Überprüfung der Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit in Magde-
40 Gespräch Wollwebers mit Beater und Weichert am 10.2.1957, nach einem Bericht von Beater vom 15.2.1957, dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Ausbau (Anm. 1), S. 368–370. 41 Vgl. Jan von Flocken/Michael F. Scholz: Ernst Wollweber. Saboteur – Minister – Unperson, Berlin 1994, S. 129, 150 f., 178. 42 Zit. nach Lars Borgersrud: Die Wollweber-Organisation und Norwegen. Berlin 2001, S. 140. Borgersrud zitiert hier seinerseits die 1993 in Moskau erschienenen Memoiren von Soja Rybkina Woskressenskaja. 43 Wollweber an Anton Plenikowski, Abteilungsleiter Staatliche Verwaltung des ZK, vom 26.7.1954; BStU, MfS, SdM 1200, Bl. 303 f.
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burg und Potsdam statt.44 Auftragsgemäß bezog sich die Überprüfung hauptsächlich auf das Informationswesen, die „operativen Maßnahmen zur Zerschlagung der feindlichen Stützpunkte“, den Kampf gegen das Ostbüro der SPD und die „Sicherung der volkseigenen Großbetriebe vor dem Einfluss westdeutscher Konzerne“.45 Und selbstverständlich zeitigten die Kontrolleinsätze in ihrer Grundrichtung die Ergebnisse, die Ulbricht in seiner Kritik vorgegeben hatte.46 Die Sicherheitskommission des ZK konstatierte am 8. April 1957, dass die Überprüfung „ernsthafte Mängel und Fehler in der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit“ aufgedeckt und damit die Kritik des Politbüros und des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees bestätigt habe. Die Tätigkeit konterrevolutionärer Kreise in der DDR sei von den Organen des MfS nicht genügend beachtet und „die neuen Methoden der imperialistischen Kräfte zur Verstärkung ihrer feindlichen Tätigkeit“ nicht richtig erkannt worden. Als Abhilfemaßnahmen verpflichtete die Sicherheitskommission das MfS vor allem zur Verbesserung der Arbeit mit den „Informatoren“ und zur Verwirklichung eines Systems der „Anleitung und Kontrolle“, das die „volle [territoriale] Verantwortung der Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen“ gewährleiste. Der Parteiorganisation der SED im Ministerium für Staatssicherheit schärfte die Sicherheitskommission ein, künftig alle Mitarbeiter „im Geiste des grenzenlosen Vertrauens zur Partei zu erziehen“ sowie „einen energischen Kampf für die Durchführung der Beschlüsse der Partei und Regierung und gegen alle Tendenzen der Aufweichung“ in den eigenen Reihen zu führen.47 Um dem Apparat der Staatssicherheit diese politische Wegweisung nahe zu bringen, ließ die Sicherheitskommission für den 26. April im MfS eine Dienstkonferenz der leitenden Kader anberaumen. Wollweber hielt das Hauptreferat, das die Lehren aus der Kritik der Parteiführung darzulegen hatte und daher zwangsläufig über weite Strecken den Charakter einer Selbstkritik trug.48 Ul44 Es handelte sich um den stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung II (Spionageabwehr), Robert Mühlpforte, den stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung III (Sicherung der Volkswirtschaft), Herbert Weidauer, den Leiter der Hauptabteilung V (Überwachung des Staatsapparates und Bekämpfung der „Untergrundtätigkeit“), Fritz Schröder, und Fritz Renckwitz, einen Mitarbeiter der Abteilung Sicherheitsfragen des ZK der SED. Vgl. BStU, MfS, SdM 1552, Bl. 83. 45 Protokoll der Kollegiumssitzung am 15.3.1957; BStU, MfS, SdM 1552, Bl. 82– 102, hier 83. 46 Bericht vom 15.3.1957 über den Brigadeeinsatz des Ministeriums für Staatssicherheit Berlin zur Überprüfung einiger Hauptfragen der operativen Arbeit in den Bezirksverwaltungen Potsdam und Magdeburg in der Zeit vom 18.2–2.3.1957; SAPMO-BA, DY 30, 2/12/115, Bl. 139–157. 47 Beschluss der Sicherheitskommission vom 8.4.1957 zur Verbesserung und Änderung der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit, Anlage 1 zum Protokoll der Sitzung der Sicherheitskommission am 3.4.1957; BA-MA, VA-01/39557, Bl. 4–6. 48 Vgl. Manuskript der Rede Wollwebers auf der Dienstkonferenz am 26.4.1957; BStU, MfS, ZAIG 5604, Bl. 153–214.
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bricht, der gegen Ende der Dienstkonferenz sprach, kritisierte dezidiert die „einseitige“ Ausrichtung des MfS auf die „Arbeit nach dem Westen“. Seine Rede ließ deutlich erkennen, welche Veränderungen auf die Staatssicherheit zukommen würden: eine intensivere politisch-ideologische Schulung, die Veränderung der Lageberichterstattung an die Partei, eine stärkere Präsenz in den Großbetrieben, die Steigerung der Eigenverantwortung der territorialen Gliederungen des Apparats und die Stärkung der Parteiorganisation im MfS.49 Diese Dienstkonferenz markiert eine entscheidende Etappe in der Geschichte der DDR-Staatssicherheit. Sie läutete als kollektives Ritual der „Kritik und Selbstkritik“ eine Phase ein, in der das MfS nach der Tauwetterphase von 1956 wieder auf eine stärkere innere Repression ausgerichtet wurde, allerdings unter neuen Bedingungen und mit feineren Mitteln als vor 1956. Ulbricht unterstrich in seiner Rede, dass man die „Demokratisierung nicht von der Sicherung der Staatsmacht“ trennen dürfe, denn das hieße, „den Gegner eindringen zu lassen“. Es müssten vielmehr „Sicherungsmaßnahmen“ getroffen werden, damit der Gegner keine „Spalten“ finde, von denen aus er die „Arbeiter-und-Bauern-Macht“ „stören“ oder gar „zerstören“ könne.50 Diese Maxime, nach der politische Lockerungen durch verstärkte Anstrengungen im Bereich der konspirativen Herrschaftssicherung kompensiert werden müssten, sollte für die Staatssicherheitspolitik der DDR zukünftig maßgeblich werden. Wenig später kam es im MfS zu zwei Neuerungen, die Ulbricht als besonders dringlich hervorgehoben hatte. Die Dienstanweisung 16/57 „zur Verbesserung der operativen Arbeit in den Betrieben, Ministerien und Hauptverwaltungen, Universitäten, Hochschulen und wissenschaftlichen Instituten sowie in den Objekten der Landwirtschaft“51 zielte auf eine Ausweitung des Netzes inoffizieller Mitarbeiter in den genannten Bereichen sowie auf die Stärkung auch der offiziellen Verbindungen der Staatssicherheit zur Parteileitung und den staatlichen Leitern des jeweiligen „Objektes“. In den zwei Ulbricht besonders am Herzen liegenden Chemiegroßbetrieben Buna und Leuna52 sah die Dienstanweisung die Bildung von eigenen, der Bezirksverwaltung Halle direkt unterstellten Objektdienststellen 49 Vgl. Rede Ulbrichts auf der Dienstkonferenz am 26.4.1957; SAPMO-BA, DY 30, NL 182/523, Bl. 1–20; in Auszügen abgedruckt bei: Dierk Hoffmann/Karl-Heinz Schmidt/Peter Skyba (Hrsg.): Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949–1961, München 1993, S. 290–294. 50 Rede Ulbrichts auf der Dienstkonferenz am 26.4.1957; SAPMO-BA, DY 30, NL 182/523, Bl. 2 f. 51 Dienstanweisung 16/57 des Ministers vom 30.5.1957, dokumentiert in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente (Anm. 35), S. 106–118. 52 Ulbricht sah hier insbesondere die „Konzernverbindungen“ zu den anderen ehemaligen IG-Farben-Tochterunternehmen im Westen als Bedrohung an. Referat auf der Dienstkonferenz des MfS am 26.4.1957; SAPMO-BA, DY 30, NL 182/523, Bl. 1–20, hier 11 f. Vgl. Hoffmann/Schmidt/Skyba: Die DDR vor dem Mauerbau (Anm. 49), S. 292 f.
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und in 60 weiteren wichtigen Betrieben die Einrichtung von Operativgruppen des MfS vor. Besondere Bedeutung hatten die Regelungen der Dienstanweisung 16/57 auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen SED und Staatssicherheit. Danach hatten die von der Parteileitung des „Objekts“ gegebene Einschätzung seiner politischen und wirtschaftlichen Lage und ihre konkreten operativen Hinweise dem jeweils zuständigen Mitarbeiter des MfS „zur Organisierung seiner operativen Arbeit“ zu dienen. Dem 1. Sekretär der Parteileitung des jeweiligen „Objektes“ waren vonseiten des MfS-Mitarbeiters „alle Hinweise zu geben, die für die politische Arbeit im Objekt und für die Einschätzung der Lage des Objektes von Bedeutung“ sein konnten. Dort, wo Objektdienststellen oder Operativgruppen eingerichtet wurden, erhielt der 1. Sekretär der Betriebsparteileitung der SED sogar die politische Federführung bei der Arbeitsplanung der Staatssicherheit.53 Eine Stärkung der Rolle der Partei brachte auch die wenig später erlassene Dienstanweisung 17/57 „über die Erhöhung der Verantwortung und die Erweiterung der Vollmachten der Chefs der Bezirksverwaltungen und der Kreisdienststellenleiter“. 54 Die Übertragung der „vollen Verantwortung“ im Sinne des „Einzelleitungsprinzips“ an die Leiter der territorialen Gliederungen des MfS war nämlich gepaart mit der Bestimmung, dass sie ihre Arbeit nicht nur gemäß „den Beschlüssen der Partei, den Gesetzen und Verordnungen der Regierung, den Befehlen und Dienstanweisungen des Ministers oder seiner Stellvertreter“, sondern auch „entsprechend den Weisungen“ des 1. Sekretärs der örtlichen Bezirks- bzw. Kreisleitung durchzuführen hätten. Außerdem mussten die Arbeitspläne der Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen mit dem jeweiligen 1. Sekretär abgesprochen werden.55 Die territoriale Dezentralisierung der Leitungsverantwortung im MfS führte so zu einer intensiveren Verzahnung mit den Parteiinstanzen und damit zu einer stärkeren Durchsetzung der „führenden Rolle der Partei“. Sie bedeutete die Schwächung der Zentrale des MfS, zumal sie einherging mit dem Abfluss von fähigen Mitarbeitern in die Bezirke, den das Kollegium des MfS konsequenterweise parallel zur Ausarbeitung der Dienstanweisung 17/57 beschloss.56 Für 53 Wörtlich heißt es diesbezüglich: „Die Aufgaben der Mitarbeiter der Staatssicherheit werden festgelegt entsprechend der von dem 1. Sekretär der Parteileitung gegebenen Einschätzung der politischen und wirtschaftlichen Lage des Objektes und der von der Parteileitung gegebenen politischen Aufgabenstellung. Über die Erfüllung des Arbeitsplanes ist dem 1. Sekretär zu berichten.“ Zit. nach Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente (Anm. 35), S. 110. 54 Dienstanweisung 17/57 des Ministers vom 18.6.1957, dokumentiert in: ebd., S. 119–125. 55 Ebd., S. 120. 56 Vgl. Protokolle der Kollegiumssitzungen am 14.5.1957; BStU, MfS, SdM 1552, Bl. 144–153, hier 152, am 4.6.1957; ebenda, Bl. 166–174, hier 169 f. sowie am 27.6. 1957; ebd., Bl. 201–207, hier 206 f.
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Wollweber bedeutete dieser Umbau persönlich einen zusätzlichen Machtverlust, da die Anleitung der Bezirksverwaltungen – vorher wie auch in späterer Zeit eines der selbstverständlichen Rechte des Ministers – vom Politbüro ausdrücklich seinem 2. Stellvertreter Otto Walter übertragen wurde.57 Wie schwach die Machtstellung Wollwebers im Frühsommer 1957 war, zeigt die Tatsache, dass er sich jetzt sogar bereit erklärte, sein wichtigstes Leitungsinstrument, die Kontrollinspektion,58 ebenfalls in die Hand von Walter zu geben.59 Dass es noch Widerstände im KGB gegen die Stärkung des Parteieinflusses auf die operative Tätigkeit des MfS gab, zeigte das Verhalten von Oberst Patrakejew, dem nach dem KGB-Bevollmächtigten ranghöchsten sowjetischen Berater in Ostberlin, der der Dienstanweisung 17/57 die Zustimmung versagen wollte, obwohl er an den Entwurfsberatungen teilgenommen hatte. Er schlug vor, diesen Komplex nicht in einer dienstlichen Bestimmung zu regeln, sondern lediglich mit einem – dienstrechtlich unverbindlicherem – Rundschreiben. Erst eine Intervention bei Generalmajor Alexander Korotkow, dem Nachfolger Pitowranows als KGB-Bevollmächtigter in Ostberlin, machte den Weg für den Erlass der Dienstanweisung frei.60 Wollweber musste im Juli 1957 aus gesundheitlichen Gründen nochmals einen längeren Erholungsurlaub antreten. Da er von Ulbricht schon nach allen Regeln der Kunst demontiert worden war und ohnehin nicht an seinem Amt klebte, hatte er kurz zuvor ein Rücktrittsgesuch gestellt, das der SED-Chef jedoch ablehnte. Der Grund für diese Ablehnung ist unklar. Möglicherweise gab es bei einigen Mitgliedern des Politbüros und den sowjetischen „Freunden“ noch Widerstände gegen seine Entlassung. Überraschend stellte Ulbricht ihn aber wenig später, auf dem am 10. Juli stattfindenden 32. ZK-Plenum an den Pranger: Eine exemplarische Überprüfung von Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit habe „ernste Fehler und Mängel“ in der Arbeit des MfS aufgedeckt. Vor allem habe die „einseitige Orientierung“ Wollwebers „Das Gesicht dem Westen zu“ eine „grobe Vernachlässigung“ der inneren Sicherheit der DDR zur Folge gehabt.61
57 Vgl. Beschluss des Politbüros vom 9.2.1957, dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Ausbau (Anm. 1), S. 367 f. 58 Nach der Dienstanweisung 17/56 des Ministers vom 4.8.1956 (in Vertretung gezeichnet durch Mielke) hatte die Kontrollinspektion u. a. folgende Aufgaben: Kontrolle der Beachtung von Befehlen, Dienstanweisungen, Richtlinien und anderen Anweisungen, Kontrolle der Kontrollbrigaden der Bezirksverwaltungen, Untersuchung bestimmter Einzelfragen im Auftrag des Ministers oder seiner Stellvertreter; BStU, MfS, BdL/ Dok. 2224. 59 Protokoll der Sitzung des MfS-Kollegiums am 24.6.1957; BStU, MfS, SdM 1552, Bl. 185–199, hier 195. 60 Vgl. Otto Walter an Wollweber vom 8.6.1957; BStU, MfS, SdM 1909, Bl. 179. 61 Bericht des Politbüros auf dem 32. ZK-Plenum am 10.7.1957, Auszug dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Ausbau (Anm. 1), S. 376.
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Am 8. Oktober 1957 war es soweit: Das Politbüro pensionierte Wollweber „krankheitshalber“ und ernannte Erich Mielke zu seinem Nachfolger.62 Damit war die von Ulbricht initiierte Weichenstellung durch den Wechsel an der Spitze des MfS auch personell besiegelt. Im Hinblick auf das MfS hatte Ulbricht sich auf der ganzen Linie durchgesetzt; jetzt konnte er sich der Ausschaltung seiner politischen Gegner in der Parteiführung zuwenden, die er im Februar 1958 auf dem 35. ZK-Plenum besiegelte. Hier musste sich auch Wollweber gegen den Vorwurf der „fraktionellen Tätigkeit“ verteidigen und wurde wie die anderen Widersacher Ulbrichts später aus dem ZK ausgeschlossen.63 Die Vorgänge von 1956/57 hatten große Bedeutung für die weitere Entwicklung der Staatssicherheit. Die zentrale Rolle spielte dabei die von Ulbricht ins Zentrum seiner Argumentation gerückte Diagnose „neuer Feindmethoden“ der ideologischen „Aufweichung und Zersetzung“, die Ende der fünfziger Jahre zum geheimpolizeilichen Schlüsselbegriff der „politisch-ideologischen Diversion“ gerann und in dieser Form Perzeption und Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes bis zu seinem Ende bestimmte. Dem „Imperialismus“ wurde eine subtile Strategie der ideologischen Unterminierung unterstellt. Die sogenannten „Träger der politisch-ideologischen Diversion“, also Bürger, die abweichende politisch-ideologische Positionen vertraten, standen somit aus der Sicht des Herrschaftsapparates objektiv im Dienste des „Imperialismus“, ohne dass ihnen das subjektiv bewusst sein musste. Diese Sichtweise entsprach dem Umstand, dass politische Opposition nach 1956 oftmals von Personen ausging, die sich als Anhänger des Sozialismus und der DDR verstanden. Das MfS mutierte zur „Ideologiepolizei“64 und legte damit den Grundstein für den perfektionierten Überwachungsstaat der Spätzeit. Gemäß der von Ulbricht 1957 ausgegebenen Maxime, dass „Entspannung“ mit noch größeren Anstrengungen der konspirativen Herrschaftssicherung einhergehen müsse, betrieb Mielke gerade in Phasen der innen- und außenpolitischen Lockerung systematisch die Ausweitung und Qualifizierung seines Apparates und erreichte damit die zunehmende geheimdienstliche Durchdringung immer weiterer „Schwerpunktbereiche“. So bildeten sich in der DDR schon 1957–1961 erste Tendenzen zu einer flächendeckenden Überwachung der Gesellschaft heraus. Die Staatssicherheit begann, sich die Kompetenzen eines quasi allzuständigen Kontrollorgans anzueignen, was vorübergehend sogar in die Kritik der SED-
62 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros am 8.10.1957; SAPMO-BA, DY 30, J IV 2/2-562, Bl. 3. 63 Bericht des Politbüros und Redebeitrag Wollwebers auf dem 35. ZK-Plenum am 3.2.1958, dokumentiert in: Engelmann/Schumann: Kurs (Anm. 3), S. 65–79. 64 Begriffsprägung bei Siegfried Mampel: Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei. Zur Bedeutung einer Heilslehre als Mittel zum Griff auf das Bewusstsein für das Totalitarismusmodell, Berlin 1996.
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Führung geriet.65 Die „Gestaltung einer effektiven politisch-operativen Arbeit in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR zum vorbeugenden Verhindern, Zurückdrängen [und] Überwinden von Auswirkungen der politisch-ideologischen Diversion“66 – und damit in letzter Konsequenz eine Art geheimdienstliche Omnipräsenz – war für das MfS unter Mielke zentrale Zielvorgabe. Konsequenz dieser Ausrichtung war ein mit dem Beginn seiner Amtszeit einsetzendes massives Wachstum der Staatssicherheit, das bis in die achtziger Jahre anhalten und den – im Verhältnis zur Bevölkerung – größten bisher bekannten geheimpolizeilichen Apparat67 hervorbringen sollte.
65 Vgl. Siegfried Suckut: Generalbeauftragter der SED oder gewöhnliches Staatsorgan? Probleme der Funktionsbestimmung des MfS in den sechziger Jahren, in: Suckut/ Süß: Staatspartei (Anm. 37), S. 152–154. 66 Die politisch-ideologische Diversion gegen die DDR, Lehrbuch, hrsg. von der Juristischen Hochschule (des MfS), Potsdam 1988, S. 269. 67 Vgl. Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi, München 2006, S. 71–75.
IV. Zwischen Rentenreform, Reformdruck und Geschlechteremanzipation – der Blick auf Wirtschaft und Gesellschaft
Ludwig Erhards „Wohlstand für Alle“ und die westdeutsche Wirtschaft 1957 Von Werner Bührer I. In einer launigen Betrachtung über die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik in den ersten vierzig Jahren ihres Bestehens spielt Knut Borchardt verschiedene Möglichkeiten einer Periodisierung durch. Die aus dem Anstieg der industriellen Produktion abgeleitete Annahme, es habe gar keine Zäsur gegeben, weist er zurück und konstatiert stattdessen, je nach Fragestellung oder Untersuchungsinteresse, eine, zwei oder drei Zäsuren. Das Jahr 1957 ist freilich nicht darunter.1 Auch in den meisten Darstellungen zur Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik – etwa von Winkel, Giersch u. a., Schröter oder Abelshauser2 – spielt es keine prominente Rolle. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Arbeit von Michael von Prollius dar; er diagnostiziert für dieses Jahr eine „korporatistische Wende“ und begründet diese Diagnose mit dem Inkrafttreten des aus seiner Sicht halbherzigen Kartellgesetzes: „Das Jahr 1957 steht in dieser Hinsicht für die Rückkehr des Kollektiven, für das Scheitern der von Ludwig Erhard propagierten freiheitlichen Wirtschaftsordnung.“3 Auch Alfred C. Mierzejewski deutet in seiner Erhard-Biographie das Jahr 1957 als Zäsur, gar als das „Ende der sozialen Marktwirtschaft“. Er begründet dieses Urteil allerdings nicht mit dem Kartellgesetz, sondern mit der Rentenreform: Sie habe eine „entscheidende Abkehr der Politik weg vom Markt und hin zur Schaffung des Wohlfahrtsstaates“ markiert.4
1 Knut Borchardt: Zäsuren in der wirtschaftlichen Entwicklung. Zwei, drei oder vier Perioden?, in: Martin Broszat (Hrsg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, 21–33. 2 Harald Winkel: Die Wirtschaft im geteilten Deutschland 1945–1970, Wiesbaden 1974; Herbert Giersch/Karl-Heinz Paqué/Holger Schmieding (Hrsg.): The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge/New York 1992; Harm G. Schröter: Von der Teilung zur Wiedervereinigung (1945–2000), in: Michael North (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München 2000, S. 351–420; Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004. 3 Michael von Prollius: Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen 2006, S. 103 u. 105. 4 Alfred C. Mierzejewski: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Biografie, München 2005.
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Wie erlebten und deuteten demgegenüber damalige wirtschaftspolitische Akteure dieses Jahr oder diese beiden Gesetze? Zwar nicht, so der Befund, als entscheidenden Wendepunkt oder Einschnitt – aber doch auch nicht als gänzlich „alltäglich“. Der Bundeswirtschaftsminister beispielsweise sprach auf dem CDUParteitag im Mai 1957 davon, man trete „sozusagen in eine neue Phase der Sozialen Marktwirtschaft ein, in der Wohlstand dem Einzelnen mehr als nur Befreiung von materieller Not und soziale Sicherheit bringen, sondern ein neues Lebensgefühl wecken soll. Zu der materiellen Befreiung soll sich die geistige und seelische Befreiung des Menschen gesellen.“5 Die Rentenreform in der vom Bundeskanzler favorisierten und vom Bundestag schließlich verabschiedeten Fassung entsprach bekanntlich nicht seinen Vorstellungen; in der entscheidenden Sitzung des Bundeskabinetts im Mai 1956 äußerte er deshalb „schwerwiegende Bedenken“ gegen die Bindung der Renten an die jeweiligen Löhne und Gehälter und schlug stattdessen das „preisbereinigte Nettosozialprodukt als die geeignete Anpassungsgrundlage“ vor.6 Gegen das Gesetz zu stimmen wagte er gleichwohl nicht, und eine Abkehr von seinem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft vermochte er darin schon gar nicht zu erkennen. So verhielt es sich auch im Fall des „Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“: Obwohl es deutlich hinter den Wünschen Erhards zurückblieb, lobte er es ausdrücklich als Garanten einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.7 Aus der Sicht des Bundeswirtschaftsministers war 1957 somit doch ein Jahr wichtiger, wegweisender Entscheidungen. Etwas anders setzte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Akzente. „Trotz des aufwärts gerichteten Grundzugs im allgemeinen“ konstatierte der Verband einen „flacheren Anstiegswinkel“ der Industrieproduktion in der Bundesrepublik und in einigen Branchen sogar „Leistungsrückgänge“. Mehr als eine „Aufstiegspause“ wollte er darin aber nicht erkennen. Eher verhalten fielen auch die Warnungen vor den schädlichen Folgen der „sogenannten Wohltaten des sogenannten Wohlfahrtsstaates“ aus. „Ein folgenschwerer Irrtum wäre es, wollte man annehmen, dass in einer auf versorgungsstaatlichen Prinzipien aufgebauten Demokratie dem Bürger ein höherer Grad an Sicherheit gegeben und der Wirtschaft eine größere Krisenfestigkeit gewährleistet sei.“ Richtig sei vielmehr „das genaue Gegenteil: Je mehr der Drang nach sozialer Sicherheit, die der Staat geben soll, übersteigert wird, desto größer wird die Unsicherheit.“ Wesentlich schärfer ging der BDI demgegenüber mit dem Kartellgesetz ins Gericht: Die „zahlreichen Erleichterungen“ könnten nicht darüber hinwegtäuschen, 5 „Wohlstand für Alle!“ Rede vor dem 7. Bundesparteitag der CDU am 14.5.1957, in: Ludwig Erhard: Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf u. a. 1992 (Erstausgabe Düsseldorf/Wien 1962), S. 337–353, Zitat S. 341. 6 135. Kabinettssitzung, 23.5.1956, zitiert nach: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 9: 1956, München 1998, S. 368–376, Zitat S. 369. 7 „Die soziale Marktwirtschaft in der gedämpften Weltkonjunktur“, Rede vor dem 2. Wirtschaftstag der CDU am 10.4.1959, in: Erhard: Wirtschaftspolitik (Anm. 5), S. 419–431, hier S. 423.
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dass „das Gesetz tief einschneidende Staatseingriffe in die unternehmerische Freiheit“ auslöse und „umständliche und zeitraubende bürokratische Verfahren“ mit sich bringe; das Verbots- bzw. Genehmigungsprinzip müsse „zwangsläufig zu einem verstärkten staatlichen Interventionismus“ führen, „Neoliberalismus und Neosozialismus“ vereinten sich „in der praktischen Auswirkung letztlich dahin, die freie unternehmerische Betätigung zugunsten des Staates und neuer Bürokratien weiterhin einzuschränken“8. Vergleicht man die zitierten Bewertungen der Wirtschaftshistoriker und die zeitgenössischen Kommentare aus der wirtschaftspolitischen Praxis, ergibt sich zwar ein uneinheitliches Bild, aber doch eine klare Tendenz: Demnach stellte das Jahr 1957 eher keine Zäsur dar. Dies trifft auf jeden Fall auf die realwirtschaftliche Entwicklung zu: Die „Aufstiegspause“ mit einem Rückgang der Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts von 7,2 Prozent (1956) auf 5,7 Prozent (1957) hat mit dem Einbruch etwa der Jahre 1973/74 wenig gemein.9 Ein anderer Eindruck entsteht indes, legt man die ordnungspolitische Elle an. Dies soll im folgenden Beitrag geschehen, und zwar anhand einer Auseinandersetzung mit Erhards Bestseller „Wohlstand für Alle“, der 1957 erstmals publiziert wurde.10 Inwiefern thematisiert dieses Buch wirtschaftspolitische Prozesse, die in diesem Jahr zu einem gewissen Abschluss gelangt sind? Wie behandelt es insbesondere jene beiden politischen Entscheidungen, die noch am ehesten als Zäsur verstanden werden könnten – das Kartellgesetz und die Rentenreform? Markiert es gar einen Wendepunkt in der marktwirtschaftlichen Politik der Bundesrepublik? II. Als „Wohlstand für Alle“ im Frühjahr 1957, rechtzeitig zu Erhards 60. Geburtstag, publiziert wurde, nahm die Öffentlichkeit recht zurückhaltend Notiz. Die „Süddeutsche Zeitung“ beschränkte sich darauf, den Optimismus des Bundeswirtschaftsministers und seine Verdienste als „Psychologe der Konjunktur“ zu loben;11 die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ widmete der gleichzeitig erschienenen Festschrift für den Bundeswirtschaftsminister sogar wesentlich mehr Raum;12 nur das „Handelsblatt“ wagte die Prognose, das Buch werde „ohne
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BDI-Jahresbericht 1957/58, S. 10, 14–15, 151 u. 152. Vgl. v. Prollius: Wirtschaftsgeschichte (Anm. 3), S. 91 u. 190. 10 Vgl. Werner Bührer: Der Traum vom „Wohlstand für alle“. Wie aktuell ist Ludwig Erhards Programmschrift?, in: Zeithistorische Forschungen, 4 (2007), S. 256–262. Die folgenden Überlegungen stützen sich auf diesen Aufsatz. 11 „Erhards Parole: Wohlstand für alle“, in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3.2.1957. 12 Alexander Rüstow: „Erhards Dritter Weg“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.2.1957. Die Festschrift, hrsg. von Erwin von Beckerath, Fritz W. Meyer und Alfred Müller-Armack, erschien unter dem Titel: Wirtschaftsfragen der freien Welt, Frankfurt a. M. 1957. 9
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Zweifel in die Breite wirken“.13 Zum damaligen Zeitpunkt hätte vermutlich keiner der Rezensenten und Leser erwartet, dass das streckenweise recht trockene und betuliche, mit Zahlen und Statistiken gespickte und allein durch zahlreiche, mitunter recht witzige und selbstironische Karikaturen aufgelockerte Buch bis 1964 acht Auflagen erleben würde – oder gar, in Gestalt einer „aktualisierten Neuausgabe“, 1990 „unseren Landsleuten in der DDR“ gewissermaßen als Leitfaden „aus dem Morast des Sozialismus“ und der Planwirtschaft in die „offene, demokratische Gesellschaft“ dienen sollte.14 Mittlerweile ist eine Gesamtauflage von 250.000 Exemplaren erreicht.15 „Wohlstand für Alle“ hatte bekanntlich Wolfram Langer verfasst, damals Redakteur beim „Handelsblatt“ und wenig später von Erhard zum Leiter der Grundsatzabteilung seines Ministeriums ernannt. Langer habe Erhards „Duktus und Tenor“ so gut getroffen, „dass an Erhards Autorschaft zu glauben nicht schwer fiel“, hat der Wirtschaftshistoriker Volker Hentschel in seiner bissig-despektierlichen Erhard-Biographie dazu angemerkt. Sein Urteil über das Buch fällt vernichtend aus. Sofern es versuche, den „kruden ökonomischen Erscheinungen und Vorgängen“ Sinn zu verleihen, attestiert er ihm „erhabenes Geraune“ und sinnentleerte „sprachliche Überhöhungen“.16 Kaum weniger freundlich urteilt der Wirtschaftswissenschaftler und derzeitige Präsident des Hamburger Wirtschaftsforschungsinstituts HWWA, Thomas Straubhaar: „banal, ohne große intellektuelle Brillanz und ohne allzu analytischen Tiefgang“. Aber es sei „eben nicht der Inhalt an sich, der das Buch so wichtig“ mache, betont er gegen Hentschel gerichtet, sondern seine „Botschaft“. Ludwig Erhard sei es „in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten mit einem ebenso einfachen wie klaren Bekenntnis zu Markt und Wettbewerb“ gelungen, „das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen“.17 Freilich, so schwierig waren die Zeiten in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nicht mehr; Straubhaars Lob passt folglich eher auf den Erhard der frühen 1950er Jahre. Was also macht dieses Buch so interessant?
13 „Er weiß seine Sache gut zu führen. Bemerkungen zu Erhards neuem Buch ,Wohlstand für Alle‘“, in: Handelsblatt vom 1./2.2.1957. Den größten Teil der Seite beanspruchte ein Artikel zum 60. Geburtstag des „Vaters der sozialen Marktwirtschaft“ aus der Feder von Wolfram Langer. 14 Neuausgabe, Düsseldorf 1990; die Zitate aus der „Vorrede an den Leser“, S. I–II. 15 Vgl. Klaudia Prevezanos: „Propaganda für den Markt. Ludwig Erhard: Wohlstand für alle“, in: Die Zeit Nr. 47/1999. Zurzeit ist das Buch jedoch nur noch antiquarisch zu bekommen – oder als kostenloses download der 8. Auflage (1964) bei der LudwigErhard-Stiftung. 16 Volker Hentschel: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München/Landsberg am Lech 1996, S. 295. 17 Thomas Straubhaar: Sage was Du tust und tue, was Du sagst!, in: Michael Hüther (Hrsg.): Klassiker der Ökonomie. Von Adam Smith bis Amartya Sen, Bonn 2006, S. 224 (= Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 611).
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Von den insgesamt 17 Kapiteln der ersten Auflage widmen sich mehr als die Hälfte den Schlachten der Vergangenheit: vor allem mit den „Planwirtschaftlern“ der SPD, aber auch mit den „Kartellanhängern“ in der Industrie und den „Bürokraten“ und „Dirigisten“ auf europäischer Ebene. Und obwohl Erhard in diesen Auseinandersetzungen zumeist recht behalten hatte oder behalten sollte, wirken diese Passagen rechthaberisch und besserwisserisch. Selbst wenn „Godesberg“ damals noch bevorstand – überzeugte Anhänger sozialistisch-planwirtschaftlicher Modelle waren in der SPD schon 1957 nur noch in geringer Zahl zu finden. Und auch die Warnungen vor den dirigistischen Gefahren der europäischen Integration nach dem Konzept Jean Monnets speisten sich weniger aus tatsächlichen Erfahrungen als aus „neoliberalen“ Lehrsätzen und Vorurteilen. An diesen Stellen kam Erhards missionarisch-belehrende Attitüde voll zum Tragen, über die man sich insbesondere im europäischen Ausland des öfteren mokierte.18 Die erste Auflage des Buches enthielt außerdem ein Kapitel über „Rüstungswirtschaft und Marktwirtschaft“ – ein Thema, über das Politiker und Industrielle in den 1950er Jahren aus Sorge über eventuelle negative Auswirkungen auf Beschäftigung und Rohstoffversorgung heftig diskutiert hatten, das jedoch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts an Brisanz verlor und folgerichtig in der Neuauflage von 1964 fehlte. An diesen überwiegend rückwärtsgewandten Partien kann es also nicht gelegen haben, dass das Buch zehn Auflagen erlebte und in 14 Sprachen übersetzt wurde – und dass sein Titel nahezu sprichwörtlichen Charakter erlangte. Worin besteht die Bedeutung dieses vor mehr als 50 Jahren erschienenen Buches, welche „Botschaften“ enthält es? Der Autor des Vorworts der Neuausgabe von 1990 legt den Leserinnen und Lesern besonders jenes Kapitel ans Herz, das der Frage nachgeht, ob wachsender Wohlstand zum „Materialismus“ verführe. Hier postulierte Erhard den „Willen zum Verbrauch“ als Motor der Produktion und des Strebens nach Rationalisierung und Leistungsverbesserung: „Nur wenn vom Verbrauch her . . . ein fortdauernder Druck auf die Wirtschaft ausgeübt wird, bleibt auch in der Produktionssphäre die Kraft lebendig, sich der gesteigerten Nachfrage beweglich anpassen zu wollen und entsprechende Risiken zu tragen“. Die Sorge, damit einem „verderblichen Materialismus“ Vorschub zu leisten, teilte Erhard nicht. Es sei und bleibe der „letzte Zweck jeder Wirtschaft, die Menschen aus materieller Not und Enge zu befreien“. Je besser es gelinge, den „Wohlstand zu mehren, um so seltener werden die Menschen in einer nur materiellen Lebensführung und Gesinnung versinken“ (S. 233).19 Als besonderes Verdienst seiner Politik bezeichnete es Erhard, dass auch die „Lohnempfänger“ in den Genuss eines höheren Lebensstandards kämen. Kritik aus „wohlhabenderen oder gar rei18 Vgl. beispielsweise ein Kommentar im „Economist“ vom 7.11.1953 über den „selbstgerechten Herrn Doktor“, zitiert nach Werner Bührer: Westdeutschland in der OEEC. Eingliederung, Krise, Bewährung 1947–1961, München 1997, S. 296. 19 Die Seitenangaben im Text beziehen sich immer auf die erste Auflage: Ludwig Erhard: Wohlstand für Alle. Bearbeitet von Wolfram Langer, Düsseldorf 1957.
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cheren Schichten“ an der vermeintlichen „Genusssucht und Begehrlichkeit“ der ärmeren Schichten geißelte er als „Pharisäertum“, denn eigentlich hätten diese „keinen anderen Wunsch“, als es den „Begüterten“ gleich zu tun. (S. 237). Die Konzentration auf den Konsumenten war in der Tat modern und macht einen beträchtlichen Teil der Ausstrahlungskraft des Buches aus.20 Nun lässt sich der Übergang zur „Konsumgesellschaft“ in der Bundesrepublik gewiss nicht auf ein Jahr datieren, aber die einschlägige Forschung stimmt doch weitgehend überein, dass gegen Ende des Jahrzehnts eine Zäsur zu bemerken ist, welche „die Jahre der Bescheidenheit in den frühen 50er Jahren, in denen noch ,geknappst‘ . . . werden musste, von jener ,Konsumgesellschaft‘ trennt, mit der die westdeutschen Konsumenten Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre begannen, eine Warenwelt zu entdecken und sich anzueignen, die vordem kaum zu ahnen gewesen war“21. Nunmehr, dies war das Neue, konnten auch die „unterbürgerlichen Schichten“ von der Ausweitung der Konsummöglichkeiten profitierten22 – und Erhards Buch lieferte dafür zugleich die moralische Legitimation und die Ermunterung, postulierte der Bundeswirtschaftsminister doch sogar ein „demokratisches Grundrecht der Konsumfreiheit“ (S. 14). Eine zweite Kernaussage des Buches lautet: „Wohlstandsmehrung durch Expansion“. Erhard setzte voll und ganz auf Wachstum, da es ihm „ungleich sinnvoller“ erschien, „alle einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehenden Energien auf die Mehrung des Ertrages der Volkswirtschaft zu richten als sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrages zu zermürben“. Es sei nämlich „sehr viel leichter, jedem Einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen“ (S. 10). Das Vertrauen in ein stetiges Wirtschaftswachstum war unter den Bedingungen des Booms indes nicht sonderlich bemerkenswert, denn „Wachstum“ avancierte in den späten 1950er Jahren geradezu zum „Modebegriff“ und rangierte als explizites Ziel der Wirtschaftspolitik nicht nur der Bundesrepublik ganz weit oben. Dieser verbreitete „Konsens über die Steigerung des Wachstums“ hielt immerhin bis Ende der 1960er Jahre an.23 Als Indikator für eine eventuelle Zäsur taugt das Wirtschafts20 Vgl. Harm Schröter: Konsumpolitik und „Soziale Marktwirtschaft“. Die Koexistenz liberalisierter und regulierter Verbrauchgütermärkte in der Bundesrepublik der 1950er Jahre, in: Hartmut Berghoff (Hrsg.): Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 113–133. 21 Michael Wildt: Privater Konsum in Westdeutschland in den 50er Jahren, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 275–289, Zitat S. 282. 22 Vgl. Wolfgang König: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart 2008 (dort S. 37, auch das Zitat); Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M./New York 1997. 23 André Steiner: Wachstum als wirtschaftspolitisches Leitbild. Zu seiner Wirksamkeit in der westeuropäischen Integration, in: Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen Sikora (Hrsg.):
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wachstum, wie bereits erwähnt, schon gar nicht. Ein Rückgang um 1,2 Prozentpunkte wie in den Jahren 1956/57 stellt gewiss keine Zäsur dar. Seine Aktualität hat das Wachstumsparadigma erstaunlicherweise auch nach der Rückkehr zu „normalen“ Wachstumsraten seit der Mitte der 1970er Jahre dennoch nicht eingebüßt; selbst in den wirtschaftspolitischen Debatten der Gegenwart spielt es eine bedeutende Rolle als vermeintliches Allheilmittel zur Überwindung konjunktureller und struktureller Krisen.24 Das dritte große und nach wie vor aktuelle Thema des Buches ist die Stärkung des Wettbewerbs im nationalen und internationalen Rahmen. In der Entfaltung des Wettbewerbs sah Erhard die „beste Gewähr sowohl für eine fortdauernde Leistungsverbesserung als auch für eine gerechte Verteilung des Volkseinkommens“ (S. 167). „Wohlstand für alle“ und „Wohlstand durch Wettbewerb“ gehörten seiner Überzeugung nach „untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt“ (S. 9). Daraus leitete er für sich die Verpflichtung ab, „Kartellbestrebungen wie überhaupt allen auf Einschränkung des Wettbewerbs hinzielenden Bestrebungen in den verschiedensten Schattierungen . . . den Kampf anzusagen“ (S. 164). Diesem Prinzip mussten konsequenterweise auch die internationalen Wirtschaftsbeziehungen unterworfen sein. In einer Liberalisierung und Multilateralisierung des Handels- und Zahlungsverkehrs erblickte er deshalb die Gewähr für einen für alle Seiten vorteilhaften wirtschaftlichen Austausch, mehr noch: für die „Überwindung der Grenzen“ und die „Auflösung alles Trennenden“ zwischen den Völkern (S. 288). Wegen dieser weltoffenen Handelspolitik würdigt eine neuere Darstellung den Bundeswirtschaftsminister sogar als Pionier der Globalisierung.25 Wie bewertete er angesichts dieser wettbewerbsbejahenden Überzeugung das Ergebnis des jahrelangen Ringens um das Kartellgesetz? Es dürfte kaum überraschen, dass Erhard das Gesetz ungeachtet zahlreicher Kompromisse als Ausdruck seiner Grundanschauungen interpretierte, als „ausgesprochenes Konsumentenschutzgesetz“ (S. 172). Die „soziale Marktwirtschaft“ beinhaltete seiner Ansicht nach „eben nicht die Freiheit der Unternehmer, durch Kartellabmachungen die Konkurrenz auszuschalten“, sondern vielmehr die „Verpflichtung, sich durch eigene Leistung im Wettbewerb mit dem Konkurrenten die Gunst des Verbrauchers zu verdienen“ (S. 177). Eine derart geordnete Wirtschaftsverfassung sei „das wirtschaftspolitische Gegenstück zur politischen Leitbild Europa? Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit, Stuttgart 2009, S. 244–255. 24 Vgl. Reinhard Steurer: Der Wachstumsdiskurs in Wissenschaft und Politik. Von der Wachstumseuphorie über ,Grenzen des Wachstums‘ zur Nachhaltigkeit, Berlin 2002. 25 Vgl. Reinhard Neebe: Weichenstellung für die Globalisierung. Deutsche Weltmarktpolitik, Europa und Amerika in der Ära Ludwig Erhard, Köln/Weimar/Wien 2004.
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Demokratie“ (S. 179). Vorwürfe vor allem aus dem Unternehmerlager, das Gesetz werde einem neuen staatlichen Dirigismus und dem Aufbau neuer Bürokratien Vorschub leisten, wies er vehement zurück: „Die Geschichte wird es erweisen, dass ich im Kampf um dieses Kartellgesetz die Stellung und Funktion des freien Unternehmers besser verteidigt habe als jene unbelehrbaren Kreise, die im Kartell das Heil des Unternehmers erblicken“ (S. 197). Von einem Eingeständnis oder zumindest einer Ahnung, dass die 1957 verabschiedete Wettbewerbsregelung kollektivistischen, ja sogar sozialistischen Tendenzen den Weg ebnen könnte, wie etwa Michael von Prollius rückblickend behauptet26, also keine Spur. Nun könnte man argumentieren, dass es ziemlich viel verlangt sei, von einem, der wie Erhard viel Energie und Prestige in dieses Gesetzesvorhaben investiert hatte, sein Scheitern einzugestehen. Aber so, wie der Wirtschaftsminister das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft verstand, nämlich als Verpflichtung zum Leistungswettbewerb um die Gunst der Verbraucher, bedeutete das Gesetz durchaus keine Niederlage und keinesfalls ein Einfallstor für „Dirigismus“ und „Kollektivismus“. Sofern Erhard gegen „Dirigismus“ polemisierte, hatte er jedenfalls nicht das Kartellgesetz im Blick, sondern jenen Weg der europäischen Integration, der von den geistigen Vätern der Montanunion eingeschlagen worden war. Der Bundeswirtschaftsminister bejahte zwar die Integration Europas als „notwendiger denn je“, aber die „beste Integration“, die er sich vorstellen konnte, „beruht nicht auf der Schaffung neuer Ämter und Verwaltungsformen oder wachsender Bürokratien, sondern sie beruht in erster Linie auf der Wiederherstellung einer freizügigen internationalen Ordnung, wie sie am besten und vollkommensten in der freien Konvertierbarkeit der Währungen zum Ausdruck kommt“ (S. 304). Angesichts dieser Aversion gegen ein „bürokratisch manipuliertes Europa“ (S. 311) entsprach die Entscheidung zur Fortsetzung der Sechserintegration auf der Grundlage der Römischen Verträge von 1957 keinesfalls Erhards Wünschen. Eine Zäsur im Integrationsprozess markierte die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auch aus Sicht des Wirtschaftsministers gleichwohl nicht.27 Die zumindest unter heutigen tagespolitischen Gesichtspunkten höchste Brisanz enthielt jedoch Erhards Warnung vor dem „Versorgungsstaat“. Die „wachsende Sozialisierung der Einkommensverwendung, die um sich greifende Kollek-
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v. Prollius: Wirtschaftsgeschichte (Anm. 3), S. 104. Vgl. grundlegend Hanns Jürgen Küsters: Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Baden-Baden 1982; spezieller Ulrich Lappenküper: „Ich bin wirklich ein guter Europäer“. Ludwig Erhards Europapolitik 1949–1966, in: Francia, 18 (1991), Heft 3, S. 85–121; Ulrich Enders: Integration oder Kooperation? Ludwig Erhard und Franz Etzel im Streit über die Politik der europäischen Zusammenarbeit 1954– 1956, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 45 (1997), S. 143–171. 27
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tivierung der Lebensplanung, die weitgehende Entmündigung des Einzelnen und die zunehmende Abhängigkeit vom Kollektiv oder vom Staat“ lähme den wirtschaftlichen Fortschritt und erzeuge den „sozialen Untertan“ (S. 263). Soziale Sicherheit sei „gewiss gut und in hohem Maße wünschenswert“, müsse aber „zuerst aus eigener Kraft, aus eigener Leistung und aus eigenem Streben erwachsen“. Am Anfang müsse die „eigene Verantwortung stehen, und erst dort, wo diese nicht ausreicht oder versagen muss, setzt die Verpflichtung des Staates oder der Gemeinschaft ein“ (S. 273). Überhaupt seien „um so weniger sozialpolitische Eingriffe und Hilfsmaßnahmen notwendig, je erfolgreicher die Wirtschaftspolitik gestaltet werden“ könne (S. 257). Hier deutet sich zwar die Gefahr einer Wende zum aus seiner Sicht Schlechteren, eben zum „Versorgungsstaat“, an – als Zäsur begriff Erhard die Rentenreform des Jahres 1957 und die übrigen sozialpolitischen Reformen dennoch nicht. Die Ambivalenz seiner sozialpolitischen Position erlaubt es übrigens sowohl „Neoliberalen“ als auch Anhängern der Sozialen Marktwirtschaft, Erhard heute als Kronzeugen aufzubieten. Keinen Beistand finden bei ihm indes jene, die Freiheit hauptsächlich individualistisch interpretieren: In einem „Gebt dem Staate, was des Staates ist“ überschriebenen Artikel in der „Zeit“ vom November 1957 warnte er nämlich ausdrücklich vor einem „beziehungslosen Individualismus“. Freiheit impliziere eben nicht das Recht, „ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft und den Staat das zu tun oder das zu lassen, was dem Einzelnen oder der Interessengruppe gerade frommt“.28 Konsum, Wachstum, Wettbewerb und Eigenverantwortung – so lassen sich die zündenden und inspirierenden Botschaften des Buches zusammenfassen. Doch die Verwirklichung dieser Maximen stößt nicht erst seit der zu Beginn der 1990er Jahre einsetzenden neuen Globalisierungswelle auf beträchtliche Hindernisse. Hilft es deshalb wirklich weiter, Rat bei einem Wirtschaftspolitiker zu suchen, dessen Stern ja gerade zu sinken anfing, als sich die Wachstumsraten normalisierten? „Was würde Ludwig Erhard heute sagen?“29 – diese Frage verrät doch mehr Hilflosigkeit, als den solcherart Ratsuchenden möglicherweise bewusst ist. Dennoch versuchen konservative Politiker und Publizisten eifrig, ihrem Helden als Ideen- und Ratgeber zu einer Renaissance zu verhelfen: Während die Bundeskanzlerin unermüdlich „das Erbe des Vaters der Sozialen Marktwirtschaft“ beschwört30, ließ der mittlerweile unfreiwillig aus dem Amt geschiedene Michael Glos im Foyer des Wirtschaftsministeriums eine Büste seines übermäch-
28 „Gebt dem Staate, was des Staates ist“, in: Die Zeit vom 21.11.1957, zitiert nach Erhard: Wirtschaftspolitik (Anm. 5), S. 371–375, Zitat S. 371. 29 So lautet der Titel eines vom Präsidenten des CDU-Wirtschaftsrats, Kurt J. Lauk, herausgegebenen Buches (Stuttgart/Leipzig 2007). Darin kommen u. a. Angela Merkel, Wolfgang Schüssel, Karl Kardinal Lehmann, Udo Di Fabio und Berthold Leibinger zu Wort – und selbstverständlich Erhard selbst. 30 „Für Ludwig Erhard war die Freiheit unteilbar“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.7.2007.
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tigen Vorgängers aufstellen.31 Die Ludwig-Erhard-Stiftung nutzt in Gestalt ihres derzeitigen Vorsitzenden, Hans D. Barbier, ausgiebig die Möglichkeit, mittels einer regelmäßig im Wirtschaftsteil der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erscheinenden Kolumne die Erinnerung an ihren Namensgeber wach zu halten und dessen Lehren zu verbreiten. Ähnlich rührig ist die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. In gewissen Wellen schaltet sie meist kleinformatige, seltener ganzseitige farbige Anzeigen in den großen Tageszeitungen. Neben der markanten Figur Erhards mit verjüngten Gesichtszügen und der obligatorischen Zigarre findet sich unter der Zeile „Erhard schreibt wieder“ ein Zitat des Meisters und ein Kommentar der Initiatoren der Anzeigenkampagne. Dabei handelt es sich nach eigener Auskunft um eine „überparteiliche Reformbewegung von Bürgern, Unternehmen und Verbänden für mehr Wettbewerb und Arbeitsplätze in Deutschland“. Als Kennzeichen dieser Initiative, deren Öffentlichkeitsarbeit sich nicht auf Erhard-Anzeigen beschränkt, gelten ihre „Professionalität“ und „Beständigkeit“ sowie ihre finanzielle Unterstützung durch einen potenten Arbeitgeberverband, den Gesamtverband der Metall- und Elektroindustrie, kurz Gesamtmetall.32 Bei der Ludwig-Erhard-Stiftung ist man übrigens nicht glücklich über die Aktivitäten der Initiative: Abgesehen davon, dass der Scheitel auf dem Konterfei Erhards auf der falschen Seite sitze, stört man sich vor allem an dessen Instrumentalisierung, die einen „ernsthaften Bezug“ auf das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft vermissen lasse.33 Schließlich tauchte Erhard auch in der Kampagne „Du bist Deutschland“ auf: Hinter einem riesigen Kohlkopf ist das Gesicht einer älteren Frau zu sehen. Der kurze Anzeigentext verheißt: „Auch du kannst dir dein Wunder erarbeiten. Ob du dein Ziel erreichst, entscheidest du. Nicht das Schicksal.“ Die Kampagne zielte insgesamt darauf ab, „Eigenverantwortung und Verantwortung für das Land zu verkoppeln“ und den Adressaten zu verdeutlichen, dass „die Probleme des Landes vor allem individuelle Stimmungs- und Motivationsprobleme“ seien und „keine der politischen Institutionen, der Finanzmärkte oder der Unternehmensstrukturen“.34 Der ehemalige Wirtschaftminister und seine Verheißung vom „Wohlstand für alle“ passten deshalb optimal zu dieser Kampagne.
31 „Erhard in Theorie und Praxis“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.2. 2007. 32 Vgl. Rudolf Speth: Die zweite Welle der Wirtschaftskampagnen. Von „Du bist Deutschland“ bis zur „Stiftung Marktwirtschaft“, Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 127. 33 Horst Friedrich Wünsche: Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft. Eine Bilanz, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 112 (2/2007). Wünsche ist Geschäftsführer der Stiftung. 34 Rudolf Speth: „Du bist Deutschland“. Vom Verfertigen kollektiver Selbstbilder, in: Vorgänge, 46 (2007), S. 54–65.
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Warum wirken alle diese Bemühungen um eine Wiederbelebung Erhards und seiner Lehren ungeachtet der in Reden und Anzeigenkampagnen verbreiteten optimistischen und selbstsicheren Stimmung dennoch so seltsam hilflos? Warum ist es nicht damit getan, auf die Erfolge der 1950er Jahre zu verweisen und die alten Rezepte hervorzukramen nach dem Motto: Was damals gelang, werden wir heute erneut schaffen? Das liegt vor allem daran, dass Erhards heutige Parteigänger den Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Boom des „goldenen Zeitalters“ (Eric Hobsbawm) und dem westdeutschen „Wirtschaftswunder“ negieren. Im Rückblick wird deutlich, dass dieser Boom mit dem besonderen deutschen Modell der Sozialen Marktwirtschaft wenig zu tun hatte.35 Auch das Frankreich der „Planification“ boomte, wenn auch etwas schwächer als die Bundesrepublik. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass die „soziale Marktwirtschaft“ à la Erhard wohl eher ein Schönwetterkonzept gewesen sein könnte, das nicht zuletzt aufgrund seiner Wachstumsfixierung zwangsläufig in Schwierigkeiten geraten musste, als sich die Wachstumsraten wieder normalisierten. Insofern ist „Wohlstand für Alle“ in erster Linie als ein Dokument aus einer Epoche zu lesen, als das „Ärmelaufkrempeln“ auf günstige Bedingungen traf. Lehren und Ratschläge für die Bewältigung der gegenwärtigen Probleme lassen sich daraus nur bedingt und vereinzelt ableiten. III. Betrachtet man das Jahr 1957 unter dem Gesichtspunkt von Kontinuität und Diskontinuität, dann lassen sich folgende allgemeine Schlussfolgerungen ziehen: Anzeichen für eine klassische Zäsur – die im wirtschaftlichen Geschehen ohnehin selten vorkommt – etwa vom Ausmaß des Endes des Nachkriegsbooms 1973/ 74 oder wenigstens des Übergangs zum „selbsttragenden“ Wachstum 1951 finden sich nicht. Die späten 1950er Jahre waren zwar durch einen leichten Rückgang des Wachstums gekennzeichnet, aber dieser Rückgang fiel 1958 sogar noch etwas deutlicher aus. Andere Kennziffern wie beispielsweise die Arbeitslosenquote liefern noch weniger Anhaltspunkte für eine Zäsur. Wird der Begriff der Zäsur hingegen weniger streng gefasst, dann fällt der Befund anders aus. Auch wenn man die eingangs zitierten dramatisierenden Interpretationen – „Scheitern der freiheitlichen Wirtschaftsordnung“ oder „Ende der sozialen Marktwirtschaft“ – nicht teilt, so lassen sich doch gewisse Veränderungen im Verhalten oder in der Wahrnehmung der Akteure konstatieren. Die wohl deutlichste „Zäsur“ ist im Konsumsektor auszumachen. Sowohl das Ausmaß des Konsums als auch seine Ausweitung auf „ärmere“ Schichten, die zuvor von den Segnungen 35 Vgl. Mark Spoerer: Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft, in: Thomas Hertfelder/Andreas Rödder (Hrsg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 28–43.
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der Konsumgesellschaft ausgeschlossen waren, markierten diese Wende. Ludwig Erhard zählte zu den wichtigsten Förderern und Herolden dieser Entwicklung, und die Westdeutschen fassten allmählich Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft. Weniger deutlich war der Wandel in der Ordnungspolitik. Die Behauptung einer kollektivistisch-dirigistischen Wende erscheint jedenfalls überzogen. Freilich, bestimmte Regeln und Kontrollen vertrugen sich durchaus mit Erhards Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft, sodass die Neuerungen der zweiten Hälfte der 1950er Jahre und insbesondere das Kartellgesetz quantitativ ins Gewicht fallen mochten. Einen qualitativen Sprung bedeuteten sie jedoch nicht. Bleibt der mit der Rentenreform in Verbindung gebrachte Kurswechsel in Richtung „Versorgungsstaat“. Blickt man im Wissen um die heutigen Probleme des deutschen Sozialstaats ins Jahr 1957 zurück, scheinen dort in der Tat Wurzel und Ausgangspunkt allen Übels zu liegen. Doch wäre es zu einfach, alle Schuld auf das Umlageverfahren und die Bindung der Renten an die Lohnentwicklung zu schieben. Demographische und soziokulturelle Faktoren und Fehler in der Finanz- und Sozialpolitik haben jedenfalls mitgeholfen, die Finanzierungslücken im Sozialsystem zu vergrößern. Als Fazit bleibt somit, dass es, wie Knut Borchardt ja bereits angemerkt hat, ganz auf den Blickwinkel ankommt, ob das Jahr 1957 als Zäsur zu begreifen ist oder nicht.
Von der statischen zur „dynamischen“ Rente Die Rentenreform des Jahres 1957 in der Bundesrepublik als Zäsur der deutschen Alterssicherungspolitik Von Winfried Schmähl I. Einleitung Im Jahr 1957 trat in der Bundesrepublik eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung in Kraft, die eine grundlegende Neuorientierung darstellte, weitreichende Folgen sowohl für Rentner als auch für Erwerbstätige hatte und auch auf andere Zweige des sozialen Sicherungssystems ausstrahlte. Vorausgegangen war eine lange, intensive, zum Teil erbittert geführte Diskussion über zentrale Elemente des Reformansatzes: – Warum wurde – auf breiter Front – eine Reform überhaupt für erforderlich gehalten? – Was waren die zentralen Ziele und Elemente der Reform? – Welche Auswirkungen wurden erwartet oder von Kritikern befürchtet und welche traten ein? – Wie war in dieser Zeit die Diskussionslage zur Alterssicherung in der DDR? – Wie wird die Rentenreform des Jahres 1957 , die als „Epochenzäsur“ bezeichnet wurde,1 aus heutiger Sicht beurteilt? Das sind Fragen, auf die in diesem Beitrag kurz eingegangen werden soll. Er stützt sich vor allem auf Arbeiten von Hans Günter Hockerts sowie eigene in jüngerer Zeit vorgelegte Veröffentlichungen, in denen die Vorgeschichte sowie der Diskussions- und Entscheidungsprozess ausführlich und differenziert dargestellt sind.2 1 So Hans Günter Hockerts: Die Rentenreform 1957, in: Franz Ruland (Hrsg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, Neuwied u. a. 1990, S. 93. 2 Hans Günter Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, kann immer noch als grundlegend für die deutsche Nachkriegsdiskussion angesehen werden. Die folgenden Ausführungen basieren darüber hinaus insbesondere auf Winfried Schmähl: Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 3: 1949–1957 Bundesrepublik Deutschland. Bewälti-
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II. Wichtige Gründe für eine Rentenreform – die bestehende Rentenformel und ihre Folgen Als in der Nacht vom 21. auf den 22. Januar 1957 der Deutsche Bundestag nach fünfzehnstündiger Debatte mit überwältigender Mehrheit in der abschließenden dritten Lesung eine Reform der (1889 eingeführten) gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) beschlossen hatte,3 wurde ein neues Kapitel der deutschen Alterssicherungspolitik aufgeschlagen, denn in zentralen Fragen unterschied sich die GRV danach von dem, was zuvor maßgebend war. Die Notwendigkeit einer Rentenreform war weitgehend unumstritten angesichts der Höhe von Renten, die (Alters-)Armut oft nicht vermeiden konnte, so dass Fürsorgeleistungen oder Hilfen der Familie erforderlich wurden. Die bei Beginn der Rentenzahlung festgesetzten Rentenbeträge wurden nur sporadisch durch Zulagen erhöht, damit die Kaufkraft der Renten nicht immer weiter sank und die Renten nicht immer mehr hinter den Löhnen zurückblieben, die in der Nachkriegszeit in Westdeutschland schließlich deutlich stiegen. Maßgebend für diesen sozialpolitisch höchst unbefriedigenden Zustand war die seit Einführung der GRV im Jahre 1889 geltende Rentenformel. Danach ergab sich die Rentenhöhe aus – einem einkommensunabhängigen, einheitlich hohen (steuerfinanzierten) Grundbetrag und – einem Steigerungsbetrag, der auf den absoluten Beträgen früher erzielter Nominallöhne basierte und aus lohnbezogenen Rentenversicherungsbeiträgen finanziert wurde. Der Bezug zwischen Rente und Lohn war – insbesondere durch den einheitlichen Grundbetrag – nur schwach ausgeprägt.
gung der Kriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität., Baden-Baden 2005, S. 357–437; ders.: Die Einführung der Dynamischen Rente im Jahr 1957: Gründe, Ziele und Maßnahmen – zugleich Versuch einer Bilanz nach 50 Jahren, in: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Die gesetzliche Rente in Deutschland. 50 Jahre Sicherheit durch Anpassungen, Bad Homburg 2007, S. 9–28. 3 Auch war über weit mehr als 500 Änderungsanträge abzustimmen, da die SPD noch kurz vor der Koalitionsregierung einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der allerdings in den Grundfragen weitgehend mit der Regierungsvorlage übereinstimmte. Die unmittelbar vorausgegangene zweite Lesung hatte sich über drei volle Tage (jeweils von 9 bis 21 Uhr) erstreckt. Verabschiedet wurde die Reform mit den Stimmen aller Abgeordneten der oppositionellen SPD und – von den Regierungsparteien – von allen Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion sowie der Freien Volkspartei (FVP), die sich im Februar 1956 von der FDP abgespalten hatte, während der Rest der verbliebenen FDP-Fraktion (die auch nicht mehr an der Regierung beteiligt war) geschlossen dagegen stimmte und die Abgeordneten der Deutschen Partei (DP) sich mehrheitlich enthielten.
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Eine Anpassung des Rentenzahlbetrags während der Rentenlaufzeit (z. B. an ein sich änderndes Lohnniveau) war im Gesetz nicht vorgesehen.4 Der statische Charakter des Rentenkonzepts wird nicht nur an der fehlenden Anpassung von Renten während der Rentenlaufzeit deutlich, sondern auch an der Art, wie die individuelle Höhe der Renten berechnet wurde: Da die Rentenhöhe auf den absoluten Beträgen der jeweils früher an den Versicherten gezahlten Nominallöhne basierte (die für die Beitragszahlung maßgebend waren), wurden Rentenansprüche aus früheren Phasen des Erwerbslebens faktisch entwertet, wenn in der Zeit bis zum Rentenbeginn das Lohnniveau stieg. Dieser Effekt war umso stärker, je weiter die Beitragszahlung zurück lag und je stärker das Lohnniveau gestiegen war. Dadurch ergaben sich auch erhebliche Unterschiede in der Rentenhöhe zwischen den Versicherten, da die Rentenhöhe davon abhängig war, wann welche Löhne bezogen wurden und wann die Rente erstmals berechnet wurde. Je weiter der Rentenbeginn zurücklag, umso niedriger war im Prinzip die Rente, da ihre Höhe dem gestiegenen Lohnniveau während der Rentenlaufzeit nicht angepasst wurde. Sowohl die Höhe von Renten als auch der statische Charakter des Rentensystems wurden in der Nachkriegszeit kritisiert und führten zu einer Reihe von Änderungsvorschlägen sowie schließlich zu der nachfolgend darzustellenden Neuregelung, die in Westdeutschland rückwirkend zum 1. Januar 1957 in Kraft trat. Zu erwähnen ist, dass das Grundprinzip der alten Rentenformel – mit Grund- und Steigerungsbetrag sowie fehlender Dynamisierungsregel – in der DDR noch bis zum 30. Juni 1990 in Kraft blieb. Erst mit der Einführung der DM in der DDR setzte auch hier ein Prozess der Umgestaltung des Rentenversicherungssystems ein, der schließlich zu einer Ablösung der alten Rentenformel führte.5
4 Zudem unterschieden sich die Parameterwerte für Grund- und Steigerungsbetrag in den beiden quantitativ wichtigsten Zweigen der GRV – der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung: Der Grundbetrag war für Angestelltenrenten höher, aber der Steigerungs-Prozentsatz für die Berücksichtigung der Nominallöhne war niedriger. Die vielfach kritisierte Folge war, dass (bei gleichem Lohnverlauf) Angestelltenrenten bei kurzer Versicherungsdauer höher als Arbeiterrenten waren, während sich bei längerer Versicherungsdauer das Verhältnis umkehrte. 5 Wegen der unterschiedlichen Rentenzahlbeträge, je nachdem, wann jeweils der Versicherungsbeitrag bezahlt worden war bzw. erstmals die Rente bezogen wurde, kamen bei der Umstellung der Renten in der DDR zum 1.7.1990 unterschiedliche Umrechnungsfaktoren je nach dem Jahr des Rentenzugangs zur Anwendung. Näheres hierzu in Winfried Schmähl: Alterssicherung in der DDR und ihre Umgestaltung im Zuge des deutschen Einigungsprozesses. Einige verteilungspolitische Aspekte, in: Gerhard Kleinhenz (Hrsg.): Sozialpolitik im vereinten Deutschland I, Berlin 1991, S. 49– 95.
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III. Konzeptioneller Wechsel, veränderte Zielvorstellung und die neue Rentenformel Die konzeptionelle Veränderung, die im Hinblick auf die individuellen Renten vorgenommen wurde, bestand darin, dass die Renten nicht mehr nur ein Zuschuss zur Finanzierung des Lebensunterhalts im Alter, sondern ein Lohnersatz sein sollten. Erforderlich dafür war nicht allein eine Anhebung des Leistungsniveaus in der GRV, sondern auch die Berücksichtigung der Lohnentwicklung, und zwar sowohl im Zeitraum bis zur erstmaligen Berechnung der Rente als auch während der Rentenlaufzeit. Rentner sollten in Zukunft regelmäßig mit ihrer gesetzlichen Rente an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung teilhaben. An die Stelle eines statischen sollte also ein dynamisches System treten. Darin drückte sich eine gewandelte Vorstellung darüber aus, welche Rolle der Staat in der Alterssicherungspolitik (als Leistungserbringer) spielen sollte. Realisiert wurde dies durch eine neue Rentenformel, über deren Grundzüge zwischen Regierungskoalition und SPD-Opposition im Grundsatz – wenn auch nicht in verschiedenen Aspekten der konkreten Ausgestaltung – Übereinstimmung herrschte. Das vom Parlament schließlich verabschiedete Gesetz, auf das allein hier eingegangen werden soll, unterschied sich in einer Reihe wichtiger Gestaltungselemente von den eingebrachten Gesetzentwürfen.6 Durch die gesetzliche Neuregelung sollte die Rente in Zukunft ausschließlich auf einem Steigerungsbetrag beruhen, also ohne einheitlichen Grundbetrag. Bei der Erstberechnung war die Höhe der Rente nun nicht mehr von den absoluten Beträgen der früher bezogenen Nominallöhne abhängig, sondern von – der relativen Lohnposition des Versicherten (d.h. der Relation zwischen dem individuellen Bruttoentgelt und dem durchschnittlichen Bruttoentgelt aller Versicherten), die während aller Jahre der Erwerbstätigkeit im Durchschnitt des Erwerbslebens erreicht wurde, – der Versicherungsdauer sowie – einem gegenwartsnahen Niveau des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts aller Versicherten, der sogenannten „allgemeinen Bemessungsgrundlage“, die auf einem Dreijahresdurchschnitt des durchschnittlichen Bruttoentgelts aller Versicherten beruhte und damit – wenn auch zeitverzögert – der aktuellen Lohnentwicklung folgte.7 Damit wurde u. a. erreicht, dass bei gleicher – im Lebensdurchschnitt erreichter – relativer Lohnposition keine Unterschiede in der Rentenhöhe mehr auftraten, die davon abhängig waren, wann der Lohn bezogen wurde. 6
Vgl. ausführlich Schmähl: Sicherung bei Alter (Anm. 2), S. 410–425. Eine formale Darstellung der Rentenformel und ihrer Komponenten findet sich in Schmähl: Einführung der Dynamischen Rente (Anm. 2), S. 12–16. 7
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Formal beruhte die Erstberechnung der Rente (R)8 jetzt auf vier Elementen:9 – zwei individuell unterschiedlichen Faktoren,10 und zwar der Anzahl der zu berücksichtigenden Versicherungsjahre (v), bei denen neben Beitrags- auch weitere Zeiten berücksichtigt wurden,11 und dem Durchschnittswert der in den einzelnen Versicherungsjahren erreichten relativen (Brutto-)Lohnposition, d.h. der Relation des individuellen Bruttolohns (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) zum jeweiligen durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten im jeweiligen Kalenderjahr (bezeichnet als Vomhundertsatz – also Prozentsatz – der „persönlichen Bemessungsgrundlage“, pB), sowie – zwei für alle Versicherten gleichen Faktoren, und zwar dem Steigerungssatz (s) – einem Niveauparameter –, der für Alters- und Erwerbsunfähigkeitsrenten 1,5 v. H. pro Versicherungsjahr, für Berufsunfähigkeitsrenten (also bei teilweiser Erwerbsunfähigkeit) 1,0 v. H. betrug, und der „allgemeinen Bemessungsgrundlage“ des jeweils laufenden Jahres (BG(t)) – einem DM-Betrag, der sich als Mittelwert der durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelte aller Versicherten aus drei vorangegangenen Jahren ergibt; diese Ausgestaltung war im Interesse einer Glättung von Lohnausschlägen, aber auch aus konjunkturpolitischen Gründen – als Mittel einer „automatischen“ Konjunkturstabilisierung – befürwortet worden. Die Höhe der individuellen Versichertenrente (Altersrente) im Jahr t (R(t)) ergab sich danach aus:12 R
t v pB s BG
t:
Der Regierungsentwurf sah vor, dass das Dreijahresmittel der BG im Jahr vor dem laufenden Jahr (t–1) begann, während von der Union dann im Beratungsprozess im Parlament als Kompromiss unterschiedlicher Vorstellungen zu der – nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Union selbst – heftig umstrittenen Dynamisierungsfrage durchgesetzt wurde, dass es zwar bei der Erstfestsetzung an der automatischen Anknüpfung an die Löhne (durch die BG) blieb, das Dreijah8 Die Altrenten wurden (gemäß der relativen Lohnhöhe, wobei der individuelle Lohn nur in Lohnklassen erfasst war) mit Umrechnungsfaktoren umgestellt. 9 Die hier gewählten Abkürzungen dienen zur Vereinfachung der formelmäßigen Darstellung. 10 Sie bestimmen folglich die Differenzierung der Renten innerhalb einer Rentenart. Eine weitere Differenzierung erfolgt zwischen den Rentenarten durch den unterschiedlichen Steigerungssatz (3). 11 So Zeiten längerer Schul- und Berufsausbildung, sowie Zeiten für Krankheit, Arbeitslosigkeit, Kriegsdienst und Gefangenschaft (Ersatz- und Ausfallzeiten) sowie – bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten – auch Zurechnungszeiten. 12 Ergänzend sind zwei einkommensunabhängige Regelungen zu erwähnen: die Zahlungen der Rentenversicherungsträger an die Krankenversicherung (KVdR) und ggf. ein Kinderzuschuss.
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resmittel aber um ein Jahr nach hinten verlagert wurde, also die durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelte der Jahre t–2 bis t–4 umfasste (und daraus wiederum das arithmetische Mittel – der Durchschnitt – gebildet wurde).13 Die oppositionelle SPD hatte dagegen ein Anknüpfen an den Durchschnittslohn des vergangenen Jahres (also t–1) vorgeschlagen, somit eine aktuelle Bemessungsgrundlage, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen. Die „Aktualisierung“ der Bemessungsgrundlage war in späteren Jahren aber immer wieder ein Thema. Nach dieser Rentenformel sollte sich die im Durchschnitt des Versichertenlebens erreichte relative (Brutto-)Lohnposition in der Rentenhöhe widerspiegeln und zugleich ein gegenwartsnahes Lohnniveau berücksichtigt werden. Durch die Konstruktion der allgemeinen Bemessungsgrundlage war dies aber nun das Lohnniveau vor rund drei Jahren. Dies hatte Konsequenzen für die Relation der Renten zum jeweiligen aktuellen Bruttoarbeitsentgelt des gleichen Jahres – also für das Bruttorentenniveau. Durch die in die allgemeine Bemessungsgrundlage eingebaute Zeitverzögerung wurde das erreichbare Rentenniveau niedriger als ursprünglich geplant.14 So hatte die Regierung in ihrem Entwurf als Zielgröße formuliert, das Rentenniveau solle „bei 40 Arbeitsjahren etwa 69 bis 72% des Nettoarbeitsverdienstes vergleichbarer Arbeitnehmer betragen. Das sind [. . .] 60% des Bruttoverdienstes vergleichbarer Arbeitnehmer.“15 Nach der schließlich eingeführten Rentenformel erreichte jedoch ein während seiner gesamten Versicherungszeit gerade durchschnittlich verdienender Versicherter (pB = 100%) nach 40 Versicherungsjahren (später allgemein als „Eckrente“ bezeichnet)16 aber nur eine Rente von 60% der BG, nicht aber 60% seines eigenen letzten Lohnes oder des Durchschnittslohns aller oder vergleichbarer Versicherter. Bezogen auf den aktuellen Lohn der Beschäftigten lag der Prozentsatz der Rente wegen des „time lag“ in der BG umso niedriger, je höher in den vorangegangenen Jahren die Lohnzuwachsraten waren.17 13 So waren 1958 für die allgemeine Bemessungsgrundlage die Durchschnittsentgelte der Jahre 1956, 1955 und 1954 maßgebend, im nächsten Jahr die Entgelte aus 1955 bis 1957. 14 Vgl. Schmähl: Sicherung bei Alter (Anm. 2), S. 410–416. Seinerzeit wurde von einer verglichen mit der heutigen Situation deutlich geringeren Differenz zwischen Brutto- und Nettoentgelten ausgegangen. 15 Bettina Martin-Weber: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung: Ministerausschuß für die Sozialreform 1955–1960, München 1999, S. 156. Die SPD hatte – analog der Beamtenversorgung – 75% gefordert; vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter (Anm. 2), S. 407. 16 Der Begriff der „Eckrente“ spielte bereits im Zusammenhang mit den Plänen zur Rentenreform eine Rolle. So bezog sie der Bundesfinanzminister auf ein Durchschnittseinkommen nach 45-jährigem Arbeitsleben, eine Zeitdauer, die 1992 dann auch für die regierungsamtliche Definition übernommen wurde; vgl. Schmähl: Sicherung bei Alter (Anm. 2), S. 414, Anm. 328 und die folgende Anmerkungen. 17 Das Bruttorentenniveau für einen Durchschnittsverdiener nach 40 Versicherungsjahren („Brutto-Eckrentenniveau“) – d.h. die Rente in Beziehung gesetzt zum durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt desselben Jahres – erreicht bei dem „time lag“, mit
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Wichtig bleibt festzuhalten, dass die Rentenberechnung nicht vom letzten eigenen Bruttoentgelt ausgeht, wie dies beispielsweise in der Beamtenversorgung der Bundesrepublik der Fall ist. In welcher Relation die Rente der GRV zum letzten eigenen Bruttoentgelt steht, hängt vielmehr vom individuellen Lohnverlauf ab. Je höher das letzte Entgelt (relativ) im Vergleich zu dem im Durchschnitt des Versichertenlebens ist, umso niedriger ist die Relation der Rente zum letzten Entgelt.18 Bei der erstmaligen Berechnung einer Alters- oder Invaliditätsrente (also einer Neu- oder Zugangsrente) erfolgte durch die Anbindung an die allgemeine Bemessungsgrundlage eine automatische Koppelung an ein gegenwartsnahes Lohnniveau. Dies erforderte also keine Entscheidung des Bundestages. Umstritten war jedoch, wie sich eine einmal festgesetzte Rente während der Rentenlaufzeit entwickeln soll, d.h. wie die Anpassung der sogenannten „Bestandsrenten“ erfolgen sollte. In dieser Frage19 unterschieden sich die Vorschläge von Regierung und SPD deutlich: Die SPD – unterstützt vom DGB – schlug vor, auch die Bestandsrenten automatisch entsprechend der jährlichen Lohnentwicklung20 anzupassen, während der Regierungsentwurf eine Anpassung sogar erst nach jeweils fünf Jahren21 vorsah. Die Folge wäre gewesen, dass bei steigendem Preisniveau die Kaufkraft der Renten gesunken und nach jeweils fünf Jahren schlagartig eine Rentenanhebung erfolgt wäre.22 Nach intensiven Auseinandersetzungen entschieden sich schließlich Unionsfraktion und sozialpolitischer Ausschuss des Bundestags dem die BG der Lohnentwicklung folgt, bei einer konstanten Zuwachsrate von jährlich 3% knapp 55%; bei 5% Lohnzuwachs liegt es dagegen bereits unter 52%. Vgl. Winfried Schmähl: Das Rentenniveau in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1975, S. 42. Die „Eckrente“, die in der politischen Diskussion vielfach als Zielgröße herangezogen oder zur Beurteilung des Rentensystems verwendet wird , wurde im Rentenreformgesetz 1992 offiziell auf der Grundlage von 45 und nicht mehr 40 Versicherungsjahren definiert, was bei zeitlichen Vergleichen für Eckrente und Eckrentenniveau zu beachten ist. 18 Zudem ist die „Kappung“ durch die Beitragsbemessungsgrenze zu beachten. Die „Lohnersatzfunktion“ der Rente erübrigte nach Auffassung der Regierung Sonderregelungen bei niedrigen Renten, während die SPD unter bestimmten Bedingungen ein fiktives (Mindest-)Arbeitseinkommen vorsah. Eine solche „Rente nach Mindesteinkommen“ wurde 1972 ins Rentenrecht eingeführt. 19 Für die Dynamisierung existierten einige Vorschläge und Vorläuferregelungen, die weithin unbekannt geblieben sind. Eine Zusammenstellung hierzu findet sich in Winfried Schmähl: Dynamisierung der Renten in der Bundesrepublik: Vorschläge im Vorfeld der Rentenreform von 1957, in: Deutsche Rentenversicherung, 62 (2007), S. 69– 81. 20 Also der von ihr vorgeschlagenen allgemeinen Bemessungsgrundlage. 21 Der Bundesrat sprach sich für einen Drei-Jahres-Abstand aus. In beiden Fällen hätte dies zu jeweils schlagartigen Rentenerhöhungen geführt. 22 Außerdem sah der Regierungsentwurf vor, dass die Anpassung gemäß der Entwicklung des Volkseinkommens je Beschäftigtem, also einer anderen Bezugsgröße erfolgen sollte, als mit der allgemeinen Bemessungsgrundlage bzw. dem Durchschnittslohn für die Erstfestsetzung der Renten vorgesehen war. Das hätte zur Folge gehabt,
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dafür, auch bei der Anpassung der „Bestandsrenten“ von der Entwicklung der „allgemeinen Bemessungsgrundlage“ (BG) auszugehen. Eine Dynamisierung der Bestandsrenten war besonders umstritten, auch innerhalb der Bundesregierung. So versuchten Bundesfinanz- und Bundeswirtschaftsminister selbst dann noch den eigenen Regierungsentwurf zu entschärfen, als dieser bereits im Parlament eingebracht war.23 Der Kanzler sah sich angesichts der Widerstände und öffentlichen Äußerungen von Finanzminister Fritz Schäffer und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard im Oktober 1956 sogar gezwungen, die Grundsätze der Regierungsvorlage zu „Richtlinien der Politik“ zu erklären.24 Auch die Zentralbank, Versicherungen und viele Wissenschaftler warnten vor einer Dynamisierung der Renten. Man befürchtete schwerwiegende negative ökonomische Wirkungen, nämlich: – einen Inflationsschub (der Ökonom Wilhelm Röpke sprach davon, durch die „Gleitrente“ werde in die „Inflationsmaschine [. . .] ein Kompressor“ eingebaut);25 – ein Erlahmen der privaten Ersparnisbildung durch das„kollektive Zwangssparen“, was – so die Zentralbank – „einen unentbehrlichen Pfeiler der freiheitlichen Wirtschaft zum Einsturz“ bringen würde und – insbesondere auch negative Auswirkungen auf die Lebensversicherung.26 Diese Befürchtungen sollten sich, wie die Erfahrungen nach Umsetzung der Rentenreform zeigten, schon bald als grundlos herausstellen. Doch um ihnen zu begegnen, sollte nach Mehrheitsmeinung des Parlaments die Anpassung der Renten – im Unterschied zur Erstberechnung – nicht automatisch erfolgen, sondern jeweils durch ein gesondertes (Anpassungs-)Gesetz. Zwischengeschaltet war zudem das Votum eines neu zu schaffenden „Sozialbeirats“, der eine Empfehlung über die Anpassung abgeben sollte.27 Die seinerzeit von der SPD-Opposition geforderte automatische Rentenanpassung wurde übrigens erst 35 Jahre später – dass sich die Renten selbst bei gleicher Erwerbsbiographie nun doch wieder je nach Zugangsjahr unterschieden hätten. 23 So schlug das Finanzministerium im Oktober 1956 sogar wieder vor, einen „Staatsgrundbetrag“ einzuführen, den Steigerungssatz von 1,5 auf 0,9 für Altersrenten und von 1,0 auf 0,6 für Invalidenrenten zu reduzieren. Auf die Dynamisierung sei zu verzichten. Stattdessen solle es sich der Staat vorbehalten, von Zeit zu Zeit je nach wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Bedingungen Renten anzuheben. Schmähl: Soziale Sicherung bei Alter (Anm. 2), S. 412; Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen (Anm. 2), S. 403. 24 Ebd., S. 407. 25 Wilhelm Röpke: Das Problem der Lebensvorsorge in der freien Gesellschaft, in: Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (Hrsg.): Individual- und Sozialversicherung als Mittel der Vorsorge, Bielefeld 1956, S. 29. 26 Im August 1956 wurde die „Gemeinschaft zum Schutz der deutschen Sparer“ von Banken, Sparkassen und Lebensversicherungen als Lobbyeinrichtung gegründet, um insbesondere die Einführung der dynamischen Rente zu verhindern.
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1992 – verwirklicht. Dazwischen kam es jedoch lange Zeit zu einer „Quasi-Automatik“, da der Gesetzgeber weithin die Anpassungssätze für die Bestandsrenten gemäß der Entwicklung der allgemeinen Bemessungsgrundlage festsetzte. Verschiedentlich wurde jedoch „ad hoc“ eingegriffen, um die Entwicklung der Rentenausgaben, die ja maßgeblich durch die Veränderung der Bestandsrenten mitbestimmt wird, zu bremsen. In folgender Tabelle sind zusammenfassend die Kernelemente der neuen, 1957 eingeführten Rentenformel der zuvor gültigen Rentenberechnungsformel gegenübergestellt. Konzeption der gesetzlichen Rentenversicherung vor und nach der Reform
Ziel
bis 1956
1957
Zuschuss zum Lebensunterhalt
Lohnersatz
statisch
dynamisch
Konzept Rentenformel: – Erstberechnung
Grundbetrag: – einheitlich (steuerfinanziert)
nur Steigerungsbetrag bezogen auf
Steigerungsbetrag: – bezogen auf absolute Beträge früherer Nominallöhne
– Lohnposition, d.h. die im Durchschnitt des Erwerbslebens erreichte relative Höhe des individuellen Lohns und – gegenwartsnahes Lohnniveau
– Anpassung
nein (allenfalls fallweise)
ja, regelmäßig und lohnbezogen
„Umverteilung“
stark interpersonell (d.h. Vorsorgeorientierung schwach ausgeprägt)
stärker intertemporal (d.h. Vorsorgeorientierung stark ausgeprägt)
Quelle: Eigene Darstellung.
Hinsichtlich der Gestaltung des Leistungsrechts in der reformierten GRV sei hier darauf hingewiesen, dass bei einer Regelaltersgrenze von 65 Jahren unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit eines vorzeitigen Rentenbezugs bestand, und zwar nach Arbeitslosigkeit sowie für Frauen.28 Die vermutlich mit
27 Vgl. Winfried Schmähl: Der Sozialbeirat – ein Kind der Rentenreform von 1957. Anmerkungen zu den Anfängen anlässlich seines fünfzigjährigen Bestehens, in: Deutsche Rentenversicherung, 63 (2008), S. 149–163. 28 So konnte nach mindestens einem Jahr ununterbrochener Arbeitslosigkeit eine vorzeitige Altersrente ab 60 nun nicht nur von Angestellten, sondern auch von Arbei-
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vorzeitigem Rentenbeginn verbundene längere Rentenlaufzeit führte allerdings zu keiner Minderung des Rentenzahlbetrags (also durch Abschläge von der vollen Rente). Witwenrenten wurden in der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung nach einheitlichen Bedingungen gezahlt,29 und zwar mit einem Prozentsatz von nun 60% statt 50% der Versichertenrente des verstorbenen Ehegatten.30 IV. Auswirkungen der Rentenreform und insbesondere der neuen Rentenformel auf der Leistungsseite Durch die Neuberechnung der Renten, die 1957 erfolgte, wurden die laufenden Renten spürbar erhöht, und zwar die Arbeiterrenten im Durchschnitt um rund 65%, die Angestelltenrenten um rund 72%. Ein Grund für das unterschiedliche Ausmaß der Anhebung lag in den verschiedenen Parameterwerten der alten Rentenformel für Arbeiter und Angestellte (vgl. Anm. 4). Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass zwar bis auf eine Ausnahme identische rechtliche Regelungen zur Leistungsgestaltung und Finanzierung für Arbeiter und Angestellte geschaffen wurden.31 Doch wurde dies – entgegen den ursprünglichen Vorstellungen von Regierung wie SPD – in zwei getrennten Gesetzen geregelt und weiterhin für zwei Arten von Rentenversicherungsträgern, die bundeseinheitlich organisierte Angestelltenversicherung (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) und die regional gegliederten Landesversicherungsanstalten für die Arbeiter – eine Unterscheidung, die erst im Jahre 2005 durch die Organisationsreform und einen einheitlichen Versichertenbegriff beseitigt wurde.32 Durch die Reform wurde zwischen den individuellen Beitragszahlungen und den Rentenansprüchen – insbesondere wegen des Wegfalls des einheitlichen tern beantragt werden wie auch von Frauen, die in den letzten 20 Jahren überwiegend versicherungspflichtig waren. 29 Für Arbeiterinnen bestanden hier bisher etwas restriktivere Leistungsvoraussetzungen. 30 Der Regierungsentwurf sah für Witwerrenten nicht Bedürftigkeit als Voraussetzung vor, wohl aber, dass die verstorbene Ehefrau überwiegend den Unterhalt bestritten habe. Dies wurde aus der „Unterhaltsersatzfunktion“ der Hinterbliebenenrente abgeleitet. Diese ungleichen Bedingungen für Witwen- und Witwerrenten sollten erst in den achtziger Jahren aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts beseitigt werden. 31 Die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten war damit faktisch nur noch für die Zuordnung zu dem jeweiligen Versicherungsträger relevant. 32 Da für Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung ein einheitliches Finanzierungs- und Leistungsrecht bestand (die erwähnte Ausnahme betrifft die Versicherungspflichtgrenze für Angestellte, die schon in den Gesetzentwürfen von Regierung wie SPD-Opposition beseitigt werden sollte, aber erst 1968 aufgehoben wurde), ergaben sich im Laufe der Zeit für die Arbeiterrentenversicherung Finanzierungsprobleme, da es zu Verschiebungen in der Struktur der Beschäftigten (relative Zunahme von Angestellten) kam, jedoch 1957 keine Formen des Finanzausgleichs zwischen den beiden Arten von Rentenversicherungen vorgesehen wurden. Solche Finanzausgleichsregelungen wurden im Zeitablauf zwingend erforderlich.
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Grundbetrages – eine engere Beziehung zwischen Vorleistung (Beitrag) und Gegenleistung (Rente) hergestellt, also eine weniger interpersonelle und mehr intertemporale Einkommensumverteilung verwirklicht. Damit wie auch mit der Anhebung der Renten und dem Leitkonzept des Lohnersatzes durch die Rente wurde deutlich, dass mit der GRV auch eine Verstetigung der Einkommensentwicklung im Lebensablauf angestrebt wurde und nicht etwa nur Armutsvermeidung im Alter. Blickt man auf die verteilungspolitische Zielvorstellung hinsichtlich des Rentenniveaus und vergleicht sie mit den Auswirkungen der 57er Reform, so bleibt festzuhalten, dass die noch im Regierungsentwurf enthaltene Vorstellung, „daß der Versicherte als Rentner unter Berücksichtigung verminderter Bedürfnisse den Lebensstandard aufrechterhalten kann, den er im Durchschnitt seines Arbeitslebens“ hatte (genauer, den Lebensstandard, den er zuvor aus Arbeitsentgelt finanzieren konnte), durch die reformierte GRV allein nicht erreicht werden konnte. Dies war insbesondere eine Folge der Koppelung der Rente an die „allgemeine Bemessungsgrundlage“, die der aktuellen Lohnentwicklung nur gedämpft und zeitversetzt folgte. Dies wurde seinerzeit auch klar gesehen.33 Dennoch wurden Ziel und Konzept einer „Lebensstandardsicherung“ durch die GRV mehr und mehr zur dominierenden politischen Aussage. Unbeschadet dieser Tatsache trug die GRV in der 1957 geschaffenen Form in den Folgejahren maßgeblich dazu bei, dass Altersarmut in der Bundesrepublik immer mehr an Bedeutung verlor. V. Steigender Finanzbedarf durch die Rentenreform und seine Deckung Die Rentenumstellung und damit verbundene Rentenerhöhungen traten rückwirkend zum 1. Januar 1957 in Kraft. Das Ausgabenvolumen wuchs 1957 im Vergleich zum Vorjahr um rund 43% in der Arbeiterrentenversicherung bzw. 53% in der Angestelltenversicherung. Der Finanzbedarf stieg dementsprechend und sollte durch eine Erhöhung des Beitragssatzes von 11% auf 14% (die allerdings erst im April 1957 in Kraft trat) und durch einen Bundeszuschuss gedeckt 33 So schrieb der seinerzeit zuständige Abteilungsleiter im Bundesarbeitsministerium, der den Reformprozess seit Beginn im Ministerium miterlebt hatte: „Die deutsche Rente stellt die Mindestsicherung dessen dar, was von der Sozialen Sicherheit her zu erbringen ist. Sie läßt damit zugleich Raum und macht es zweckmäßig, daß daneben bestimmte Maßnahmen der eigenen Vorsorge betrieben werden“. Kurt Jantz: Die Haupterfahrungen aus der deutschen Rentenreform, in: Die Versicherungsrundschau, Bd. 18 (1963), S. 124. Dennoch setzte sich die politische Rhetorik – die GRV ermögliche eine „Lebensstandardsicherung“ – durch und diente schließlich insbesondere ab Ende der 1990er Jahre als Argument, um tiefgreifende Einschnitte in das Leistungsniveau der GRV zu begründen, da angeblich die „Lebensstandardsicherung“ in der GRV nicht mehr finanzierbar sei.
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werden. Diese Zahlungen des Bundes sollten nun nicht mehr – wie bisher – den Grundbetrag in der Rente (oder Erstattungen) finanzieren, sondern es wurde ein Pauschalbetrag festgesetzt, der im Ausgangsjahr bei etwa einem Drittel der Ausgaben lag und sich im Zeitablauf mit der Änderungsrate der BG entwickeln sollte. Der Bundeszuschuss war somit also im Prinzip an die Entwicklung der durchschnittlichen Bruttolöhne gekoppelt, nicht aber an die Entwicklung der Ausgaben. Damit wirkten sich aber z. B. demographisch bedingte Erhöhungen der Rentenausgaben nicht auf die Entwicklung der Bundeszahlungen aus, so dass im Zeitablauf der Anteil der Bundeszahlungen an den Rentenausgaben nahezu kontinuierlich sank. Dies wäre verhindert worden, wenn – wie von der SPD vorgeschlagen – der Bund einen festen Prozentsatz der Rentenausgaben (die SPD sah 40% vor) decken würde, da dann folglich der Finanzierungsanteil des Bundes konstant geblieben wäre. Im Zeitablauf gab es – und gibt es bis in die Gegenwart – immer wieder Bestrebungen des Bundes, seinen Finanzierungsanteil zu reduzieren, wodurch der Beitragsbedarf – bei sonst unveränderten Ausgaben – steigt. Die Diskussion über eine angemessene Abgrenzung der Ausgaben, die durch Beiträge und derjenigen, die aus dem allgemeinen Staatshaushalt zu finanzieren sind, durchzieht die weitere Entwicklung der GRV bis heute (vielfach unter dem etwas irreführenden Schlagwort der Finanzierung „versicherungsfremder Leistungen“).34 Umstritten war seinerzeit, welcher Finanzbedarf in Zukunft aufgrund der Neuregelungen zu erwarten sei. War für den ersten Zehnjahreszeitraum von der Regierung ein konstanter Beitragssatz von 14% als ausreichend angesehen worden, so wurde für das zweite Jahrzehnt ein Satz von 16,25% und für das dritte Jahrzehnt ein Beitragssatz von 18,25% als ausreichend errechnet, was andere allerdings als viel zu niedrig bezeichneten. Besondere Aufmerksamkeit fand in der Kontroverse darüber ein von dem Versicherungsmathematiker Georg Heubeck im Auftrag des Bundesfinanzministers erstelltes Gutachten,35 in dem Kritik an den Annahmen der Regierung insbesondere über die künftige Entwicklung der Lebenserwartung geübt wurde. Heubeck ging von einer weiter steigenden, das Ar-
34 Vgl. Winfried Schmähl: Aufgabenadäquate Finanzierung der Sozialversicherung durch Beiträge und Steuern. Begründungen und Wirkungen eines Abbaus der „Fehlfinanzierung“ in Deutschland, in: Hermann-Josef Blanke (Hrsg.): Die Reform des Sozialstaats zwischen Freiheitlichkeit und Solidarität, Tübingen 2007, S. 57–85. 35 Georg Heubeck: Gutachten über die finanzielle Auswirkung der vorliegenden zwei Gesetzentwürfe zur Rentenreform, Bonn 1956. Der Finanzminister informierte das Bundeskanzleramt erst am 29.9.1956 über die Gutachtenerteilung (so Thomas Ruf: Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Bd. 9, Boppard 1991, S. 76), also zu einem Zeitpunkt, als der Regierungsentwurf bereits seit Anfang Juni dem Parlament vorlag. Dies gehörte mit zu den Widerstandsmaßnahmen Schäffers wie auch der von ihm am 15.10.1956 dem Kabinett übersandte, vom Regierungsentwurf deutlich abweichende eigene Entwurf; vgl. Schmähl: Sicherung bei Alter (Anm. 2), S. 412.
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beitsministerium dagegen von einer konstanten Lebenserwartung aus. Heubeck kam zu dem Ergebnis: „Die Belastung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer steigt [. . .] im Lauf der Zeit sowohl beim Leistungssystem des Regierungsentwurfs als auch beim Leistungssystem des SPD-Entwurfs auf mehr als das Doppelte derjenigen an, die jetzt im Gesetz für das Jahr 1957 vorgesehen ist“.36 Unbeschadet aller Differenzen in den Berechnungen war aber klar, dass die demographische Entwicklung im Zeitablauf zu steigenden Abgaben führen werde. Eine demographisch bedingte Steigerung des Finanzbedarfs in der Alterssicherung wurde also nicht erst in den letzten Jahren erkannt. VI. Die Diskussion über das Finanzierungsverfahren: Umlageverfahren statt Kapitalfundierung Im Zentrum der über mehrere Jahre intensiv geführten politischen und wissenschaftlichen Diskussionen über die Rentenform stand neben der neuen „dynamischen“ Konzeption der Rente (insbesondere für die Bestandsrenten) die vorgesehene Abkehr von der bislang dominierenden Vorstellung, dass auch die gesetzliche Rente – und nicht nur die private Lebensversicherung – auf vorheriger Kapitalansammlung beruhen sollte. Stattdessen sollte weitgehend zum sogenannten Umlageverfahren übergegangen werden, bei dem im Prinzip die laufenden Einnahmen zur Finanzierung der jeweils laufenden Ausgaben dienen. Die Diskussion darüber, ob in der Rentenversicherung das Umlageverfahren oder „Kapitaldeckung“ anzuwenden sei, reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Nicht erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg betonten Wissenschaftler, dass das Umlageverfahren für ein staatliches Pflichtsystem angemessen sei. In der Diskussion in der Nachkriegszeit in Westdeutschland fanden Ausführungen des in Kiel lehrenden Ökonomen Gerhard Mackenroth besondere Beachtung, der in einem Vortrag zur Begründung eines umfassenden „Sozialplans“ und einer notwendigen „Verzahnung der Sozialpolitik mit dem volkswirtschaftlichen Kreislauf“ sagte: „Nun gilt der einfache und klare Satz, daß aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muß.“37 36 Heubeck: Gutachten (Anm. 35), S. 10. Ähnliche Größenordnungen werden in einer Stellungnahme aus dem Bereich der Privatversicherung genannt; vgl. Hans Peter Luzius/J. Mehring: Versicherungstechnische Gutachten zu den Gesetzentwürfen über die Reform der sozialen Rentenversicherung (eine Zusammenfassung), Karlsruhe o. J. [1956]. Dort heißt es abschließend: „Es wird also entschieden werden müssen, ob Beiträge in der Größenordnung von 35% des Arbeitslohns [. . .] tragbar sind.“ Ebd., S. 8. Abgesehen von den unterschiedlichen Annahmen zur Lebenserwartung wurde auch ein sinkender Anteil des Bundeszuschusses an den Rentenausgaben (implizit) unterstellt. 37 Gerhard Mackenroth: Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Gerhard Albrecht (Hrsg.): Die Berliner Wirtschaft zwischen Ost und West. Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan: Verhandlungen auf der Sondertagung des Vereins für Sozialpolitik, Berlin 1952, S. 41.
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Diese später in der bundesdeutschen Diskussion vielfach als „Mackenroth-These“ bezeichnete Aussage findet sich allerdings nahezu wortgleich in Schriften des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront aus den Jahren 1939 und 1940.38 Eine ähnliche Argumentation findet sich auch in anderen Publikationen. So wurde in dem 1942 in England vorgelegten Beveridge-Bericht ausgeführt, dass in einem Pflichtsicherungssystem angesichts der Steuer- (und man kann ergänzen: Beitrags-)hoheit des Staates zumindest aus finanzierungstechnischer Sicht für die Ansammlung von Reserven keine Notwendigkeit bestehe.39 Allerdings abstrahiert diese – auch von Mackenroth verwendete – kreislauforientierte Argumentation von möglicherweise unterschiedlichen Folgewirkungen der Finanzierungsmethoden u. a. auf die gesamtwirtschaftliche Ersparnis, Investitionen und wirtschaftliches Wachstum. Diese Gesichtspunkte spielten einige Jahrzehnte nach der Rentenreform in der deutschen Diskussion eine wichtige Rolle und dienten mit zur Begründung eines partiellen Umbaus nicht nur der Finanzierung, sondern zu Beginn des neuen Jahrtausends auch des gesamten Alterssicherungssystems.40 Nur allmählich vollzog sich in der Nachkriegszeit die Abkehr von der Vorstellung, in der gesetzlichen Rentenversicherung solle (zur Deckung der Ansprüche) ein entsprechender Vermögensbestand („Kapitaldeckung“) aufgebaut werden, auch wenn die Entwicklung der Vergangenheit gezeigt hatte, dass „Kapitaldeckung“ in der GRV faktisch weithin nicht praktiziert wurde oder nicht praktiziert werden konnte (z. B. wegen Inflation und Wirtschaftskrisen), folglich überwiegend Umlagefinanzierung notwendig war. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hielten die Rentenversicherungsträger und das Bundesarbeitsministerium grundsätzlich am Konzept der Kapitalansammlung fest und betrieben einen allmählichen Aufbau von Reserven.41 38 Vgl. dazu Volkswirtschaftliche Grundprobleme der Altersversorgung, in: Jahrbuch des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront 1 (1939), S. 309– 310, sowie wörtlich damit übereinstimmend in einem Buch des damaligen wissenschaftlichen Generalreferenten des Instituts, Theodor Bühler: Deutsche Sozialwirtschaft, Stuttgart 1940, S. 150–151. Hierauf habe ich erstmals hingewiesen in Winfried Schmähl: Systemänderung in der Altersvorsorge. Von der einkommensabhängigen Altersrente zur Staatsbürger-Grundrente. Eine theoretische und empirische Untersuchung ökonomischer Probleme im Übergangszeitraum, Opladen 1974, S. 111; vgl. auch ders.: Über den Satz „Aller Sozialaufwand muß immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden“, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 26 (1981), S. 160–163; Philip Manow: Individuelle Zeit, institutionelle Zeit, soziale Zeit. Das Vertrauen in die Sicherheit der Rente und die Debatte um Kapitaldeckung und Umlage in Deutschland, in: Zeitschrift für Soziologie 27 (1998), S. 193– 211. 39 Auch etwa in den Niederlanden stand das Umlageverfahren auf der Tagesordnung. 40 Vgl. als ein Beispiel: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium: Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, 1998, mimeo.
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Ein wichtiger Gesichtspunkt, der seinerzeit zugunsten des Umlageverfahrens sprach, war zweifellos, dass die weit verbreitete Auffassung, die unzureichende Höhe der Rente durch Leistungserhöhungen dem inzwischen deutlich gestiegenen Einkommensniveau anzupassen, angesichts des damit verbundenen zusätzlichen Finanzbedarfs nicht gleichzeitig mit einem erheblichen Vermögensaufbau in der Rentenversicherung durchzusetzen gewesen wäre. Im Zuge der Reform von 1957 wurde vor diesem Hintergrund für Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung42 zwar eine Abkehr von dem früher maßgebenden Konzept der „Kapitaldeckung“ beschlossen, jedoch (noch) kein vollständiger Übergang zum Umlageverfahren vorgenommen. Eingeführt wurde vielmehr ein „modifiziertes Umlageverfahren“. Hiernach sollte für einen jeweils zehn Jahre umfassenden „Deckungsabschnitt“ ein einheitlicher Beitragssatz so festgelegt werden, dass nicht nur die laufenden Ausgaben gedeckt werden konnten, sondern darüber hinaus am Ende des Deckungsabschnitts eine Vermögensreserve im Umfang von – vereinfacht ausgedrückt – einer Jahresausgabe vorhanden war. Dieses Konzept – das übrigens dem bei Einführung der GRV Ende des 19. Jahrhunderts ähnelt – war von Regierung und SPD gleichermaßen vorgeschlagen worden. Auf die Berechnungen zur weiteren Entwicklung des Beitragssatzes in den folgenden Zehnjahresperioden ist oben bereits hingewiesen worden. Allerdings wurde bereits nach Ende des ersten zehnjährigen Deckungsabschnitts dieses Konzept zugunsten eines Umlageverfahrens mit geringer Vermögensreserve (in Höhe von mindestens drei Monatsausgaben) aufgegeben. Im Zeitablauf wurde die gesetzlich vorgeschriebene Mindestreserve immer weiter reduziert und beträgt derzeit nur noch 0,2 Monatsausgaben. Sie ist damit weitaus zu niedrig, um Schwankungen zwischen Einnahmen und Ausgaben im Jahresablauf verlässlich ausgleichen zu können, hat dafür aber inzwischen den wohlklingenden Namen „Nachhaltigkeitsrücklage“ erhalten. VII. Diskussionen über Rentenreformen Mitte der 1950er Jahre vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts Nicht nur in der Bundesrepublik erfolgte Mitte der 1950er Jahre eine Diskussion über eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch in der DDR – wenngleich dort bei weitem nicht in so breitem Maße und unter Mitwirkung so vieler Akteure. In der Zeit des Wettbewerbs zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und eines „kalten Krieges“ ist es nicht überra-
41 Zudem strebte der Bundesarbeitsminister in dieser Zeit an, dass Reserven der Rentenversicherungsträger in höherem Maße als zuvor für Darlehen an Versicherte zum Erwerb von Grund und Boden und zum Hausbau gewährt werden sollten. 42 Für die KnRV erfolgte durch die Defizithaftung des Bundes ein reines Umlageverfahren.
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schend, dass sozialpolitische Fragen auch mit Blick auf den jeweils anderen deutschen Nachkriegsstaat diskutiert wurden. 1. Bundesrepublikanische Diskussion mit Blick auf die DDR und die Wiedervereinigung
Dass die Entscheidung über die 1957 durchgeführte Reform auch unter Berücksichtigung der Bevölkerung in der DDR getroffen wurde, macht exemplarisch eine Aussage von Ernst Schellenberg, dem sozialpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, deutlich. Bei der Vorstellung der Grundzüge des SPDKonzepts zur Rentenreform hob er hervor: „Aber das allerwichtigste ist der andere Teil Deutschlands. Man spricht dort von sozialen Errungenschaften und macht damit Propaganda. Begegnen wir dem durch Taten. Handeln wir so, daß die soziale Sicherung für unsere Alten und Arbeitsunfähigen in unserem Teil Deutschlands zum Vorbild für das ganze Deutschland werden kann.“43
Vor allem auch der Übergang zur Umlagefinanzierung wurde gerade mit Blick auf die deutsche Teilung und die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung als Positivum hervorgehoben. So äußerte der Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, dass die Umstellung auf die umlagefinanzierte dynamische Rente es möglich mache, „am Tage X – wann immer er kommen möge – den mit uns wiedervereinigten Teil des deutschen Volkes sofort an diesem ,neuen Plan‘ teilnehmen zu lassen und unmittelbar in den Genuß aller Leistungen zu setzen, die dieses System bietet. Das Kapitaldeckungsverfahren braucht 40–50 Jahre Anlaufzeit; der ,neue Plan‘ braucht keine Anlaufzeit; das ist sein ungeheuerer Vorteil im Hinblick auf die Wiedervereinigung. [. . .] Wenn sie drüben, jenseits des eisernen Vorhangs, von diesem Plan [. . .] sich ein zutreffendes Bild zu machen imstande sind, dann bedeutet er heute bereits einen Pluspunkt in ihrer Wertung der Bundesrepublik, und sie werden den Tag herbeiwünschen, an dem sie an ihm teilhaben dürfen.“44
43 So Ernst Schellenberg in seinem Referat auf dem Kölner Kongress der SPD am 14.1.1956, auszugsweise abgedruckt unter dem Titel: Der Weg der SPD zur Sozialreform, in: Zeitschrift für Sozialreform 2 (1956), S. 40. Margot Kalinke (DP) in der Bundestagssitzung am 19.10.1955 zur Begründung von gleichen rechtlichen Regelungen im Bundesgebiet und in West-Berlin, „um dann soziale Leistungen zu geben, die wir auch unseren Brüder [sic!] und Schwestern im deutschen Osten garantieren wollen!“ Sten.BerBT 2/107 vom 20.10.1955, S. 5879. Auch für Adenauer spielte die Rentenreform als gesellschaftspolitische Maßnahme mit Blick auf die DDR eine Rolle, damit die Bundesrepublik „attraktiv“ bleibe für die „Menschen in der Zone.“ So Hans Günter Hockerts: Sozialpolitische Reformbestrebungen in der frühen Bundesrepublik. Zur Sozialreform-Diskussion und Rentengesetzgebung 1953–1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), Heft 3, S. 371. 44 Oswald von Nell-Breuning: Die Produktivitätsrente, in: Zeitschrift für Sozialreform 2 (1956), S. 99–100.
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2. Diskussionen über eine Reform des Rentensystems in der DDR Mitte der 1950er Jahre
Auch in der DDR war die materielle Situation der Rentner unbefriedigend. Zum Teil war dies Folge eines primär auf Produktion und Wachstum ausgerichteten Sozialsystems, das insbesondere der Eingliederung von Menschen in den Produktionsprozess diente.45 Die Rentenberechnung (im Rahmen der Einheitssozialversicherung) folgte – wie erwähnt – dem zu diesem Zeitpunkt auch in der Bundesrepublik maßgebenden Konzept; Rentenerhöhungen fanden nur sporadisch und mit einheitlich hohem Betrag statt. Die positive wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik, die Flucht vieler Menschen aus der DDR in den Westen wie auch die dort geführte Diskussion über eine Sozialreform, die später auf die Rentenreform reduziert wurde, dürften Anstoß für Überlegungen zu einer Rentenreform auch in der DDR gewesen sein.46 Dabei schwankte die Diskussion zwischen einer (pauschalen) Erhöhung von Rentenzahlungen und einer systematischen Veränderung der Rentenberechnung hin und her. Letzteres wurde vor allem von dem für Wirtschaftsfragen im Zentralkomitee der SED zuständigen Sekretär (Gerhard Ziller) vertreten, der in recht allgemein gehaltenen Aussagen tendenziell eine Ankoppelung der Renten an Löhne und Gehälter vorschlug, was eine punktuelle Orientierung an in Westdeutschland von CDU und SPD vertretenen Vorstellungen erkennen lässt.47 Allerdings war von einer Dynamisierung der Rentenzahlungen nicht die Rede. Da im sozialistischen Wirtschaftssystem Inflation ex definitione nicht zu erwarten sei und vielfach an die Stelle von Nominaleinkommenserhöhungen z. B. Realeinkommensverbesserungen durch Subventionen traten – die übrigens ein wichtiges sozialpolitisches Instrument in der DDR darstellten –, überrascht es nicht allzu sehr, dass dieser Gesichtspunkt der Dynamisierung offenbar keine Beachtung fand. Vielleicht liegt dies aber auch an dem hiervon ausgehenden erheblichen Finanzbedarf. Auch ohne eine solche Dynamisierung von Renten spielten die finanzpolitischen Folgen einer Rentenreform eine zentrale Rolle in der Diskussion, 45 Für einen knappen Überblick über systembedingte Unterschiede in der Sozialpolitik vgl. Winfried Schmähl: Sozialpolitik und Systemtransformation. Zur Bedeutung und zur Veränderung von Sozialpolitik im Prozeß der deutschen Vereinigung, in: ders. (Hrsg.): Sozialpolitik im Prozeß der deutschen Vereinigung, Frankfurt 1992, S. 26–58. Zu beachten ist auch, dass vielfach hinter gleichlautenden Begriffen unterschiedliche Inhalte bzw. Konzeptionen stehen können. 46 In dieser Zeit fand auch eine Debatte über die Entstalinisierung statt und ein moderater Prozess des „Tauwetters“ in mittel- und osteuropäischen Staaten des „Ostblocks“ setzte ein. Diese Entwicklungen können wohl als weitere Einflussfaktoren angesehen werden; vgl. Dierk Hoffmann: Sozialistische Rentenreform? Die Debatte über die Verbesserung der Altersversorgung in der DDR 1956/57, in: Stefan Fisch/Ulrike Haerendel (Hrsg.): Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland, Berlin 2000, S. 293–309. 47 Vgl. ebd., S. 296.
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zumal offenbar an eine Veränderung des Beitragssatzes in der Sozialversicherung wie auch der Beitragsbemessungsgrenze nicht gedacht war. Beide blieben übrigens bis Mitte 1990 unverändert. Im Juni 1956 wurde – als Grundlage für eine Diskussion anlässlich der 28. Tagung des Zentralkomitees der SED – von einer vom Politbüro eingesetzten Kommission (der auch Gerhard Ziller angehörte) ein „Vorschlag für eine neue Pensionsregelung für die Arbeiterklasse und alle Werktätigen“ (der DDR) vorgelegt.48 Danach sollten sich Renten an der Dauer der beruflichen Tätigkeit und am Durchschnittsverdienst während der letzten fünf Arbeitsjahre vor Rentenbeginn orientieren, und zwar in ihrer Höhe zwischen einer Mindestpension und einer Höchstpension (die etwa das Fünffache der Mindestpension betragen sollte). Allerdings war kein linearer Zusammenhang mit dem Verdienst der letzten Jahre vorgesehen, sondern ein mit der Höhe des Verdienstes sinkender Prozentsatz. Insgesamt war auch dieses System – für das sich die SED-Führung schließlich entschied – stark interpersonell umverteilend konzipiert. Auf der 28. Tagung des ZK der SED, die Ende Juli 1956 stattfand, kündigte Walter Ulbricht dann öffentlich an, dass nicht nur die Renten angehoben werden sollen, sondern auch eine Rentenreform vorbereitet und 1957 umgesetzt werden sollte.49 Das neue Recht (eine neue „Pensionsregelung“) werde allen „Werktätigen [. . .] einen gesicherten Lebensabend“ bieten. Diese Reform wie auch die Erhöhung der „Altrenten“ (Bestandsrenten in westdeutscher Terminologie) „stellen eine echte Sozialreform dar“, so Ulbricht. Da keine Änderung der Beiträge vorgesehen war, hätten die Verbesserungen erhöhte Zuführungen aus dem Staatshaushalt erfordert.50 Zur Klärung und Präzisierung von Einzelfragen des neuen, auf der ZK-Tagung im Grundsatz verabschiedeten Konzepts setzte das ZK wiederum eine Kommission ein, die Arbeitsgruppen bildete, deren Koordination Gerhard Ziller übernahm. Dieser Prozess in Richtung auf eine Reform des Rentensystems geriet aber bereits im Herbst 1956 ins Stocken, vermutlich angesichts der Lage des Staatshaushalts.51 Von „Rentenreform“ war ab diesem Zeitpunkt keine Rede mehr. An ihre Stelle trat eine pauschale Erhöhung der Renten um 30 Mark, die das Politbüro Anfang November 1956 beschloss. In der Begründung hierzu hieß es, dass dies „zweifellos die Erwartungen der Rentner in hohem Maße befriedigen“ werde. Darüber hinaus vermutete man „bedeutende politische Auswirkungen auf die Arbeiterklasse, auch in Westdeutschland“.52 Die Volkskammer verab48
Ebd., S. 297. Vgl. ebd., S. 300. 50 Zeitgleich mit dieser Diskussion erfolgte die endgültige Übernahme der Sozialversicherung durch den FDGB. 51 Vgl. Hoffmann: Sozialistische Rentenreform (Anm. 46), S. 304. 52 Zit. nach ebd., S. 306. 49
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schiedete am 16. November 1956 das entsprechende Gesetz, das am selben Tag in Kraft trat. Bei der Begründung des Gesetzes betonte Ministerpräsident Grotewohl, dass aus Kostengründen das Pensionsgesetz verschoben werden müsse. Das Thema, strukturelle Veränderungen vorzunehmen, wurde aber nicht wieder aufgegriffen53 – in der Sozialversicherung blieb es bei gelegentlichen pauschalen Rentenerhöhungen, so 1958 im Zusammenhang mit der Abschaffung von Lebensmittelkarten. VIII. Zur Beurteilung der westdeutschen Rentenreform des Jahres 1957 – damals und heute Durch die in Westdeutschland durchgeführte Rentenreform des Jahres 1957 wurden Mängel des zuvor praktizierten statischen Systems beseitigt. Die Reformmaßnahmen stellten eine weithin als notwendig angesehene Anpassung der rentenrechtlichen Regelungen an eine sich dynamisch entwickelnde (wachsende) Wirtschaft dar, in der Produktivitätsfortschritte primär zu Einkommenserhöhungen (und nicht zu Preisniveausenkungen) führen. Dagegen blieb es in der DDR bis zum Sommer 1990 bei der statischen Konzeption der Rente. Dies erforderte im Zuge der Wiedervereinigung auch auf diesem Gebiet erhebliche Umstellungen, die übrigens z. T. technisch in ähnlicher Weise bewältigt wurden wie bereits 1957 die Umrechnung der Bestandsrenten. Die Rentenreform realisierte den Grundgedanken, dass auch die Älteren nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – genauer der Lohnentwicklung – weiterhin teilhaben. Allerdings wird dieser Grundgedanke durch politische Entscheidungen in jüngerer Zeit zur weitgehenden Abkoppelung der Rentenanpassung von der Lohnentwicklung zunehmend verwässert.54 Durch die Erhöhung des Leistungsniveaus wie auch durch die Anpassung an die Lohnentwicklung hat die Rentenversicherung im Zeitablauf maßgeblich dazu beigetragen, dass Altersarmut zunehmend an Bedeutung verlor. Diese sozial- und gesellschaftspolitisch wichtige Wirkung droht allerdings für die Zukunft durch politische Entscheidungen, die insbesondere seit dem Jahre 2001 getroffen wurden, in Frage gestellt zu werden.55 53 Hoffmann erwähnt, dass derjenige, der das Thema immer wieder zur Sprache gebracht hatte, Gerhart Ziffer, Ende 1957 Selbstmord beging; das Thema geriet danach in Vergessenheit; vgl. ebd., S. 309. 54 Vgl. Winfried Schmähl: Perspektiven der Alterssicherungspolitik in Deutschland. Über Konzeptionen, Vorschläge und einen angestrebten Paradigmenwechsel, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 1 (2000), S. 407–430; ders.: Umlagefinanzierte Rentenversicherung in Deutschland. Optionen und Konzepte sowie politische Entscheidungen als Einstieg in einen grundlegenden Transformationsprozeß, in: Winfried Schmähl/ Volker Ulrich (Hrsg.): Soziale Sicherungssysteme und demographische Herausforderungen, Tübingen 2001, S. 123–204.
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Durch die Rentenreform von 1957 wurde ein relativ enger Bezug zwischen der Höhe der Vorleistung, also dem Beitrag, und der Höhe der späteren Gegenleistung, der Rente, realisiert. Damit stellt für den Einzelnen die Beitragszahlung zur GRV – unabhängig davon, ob diese Zahlung in einem umlagefinanzierten oder einem kapitalfundierten System erfolgt – ein Element der Eigenvorsorge dar. Dieses Element wurde durch die Rentenreform deutlich gestärkt. Eigenvorsorge erfolgt also nicht nur – wie heute immer wieder behauptet wird – durch Zahlungen an private Versicherungen oder durch privates Sparen, sondern auch durch Beitragszahlungen in einem (umlagefinanzierten) Sozialversicherungssystem, sofern dort eine enge Verknüpfung zwischen Beitrag und Rente besteht. Durch die 1957er Reform wurde dieser Vorleistungsbezug deutlich gestärkt. Allerdings wird inzwischen von vielen Wissenschaftlern und Politikern – gezielt – zwischen der „solidarischen Umlagefinanzierung“ einerseits und der „Eigenvorsorge“ in privaten kapitalfundierten Systemen andererseits unterschieden.56 Dies ist übrigens ein Beispiel dafür, wie mit Begriffen – oftmals erfolgreich – Politik betrieben wird, denn der erwähnte Unterschied wird inzwischen nicht mehr in Zweifel gezogen. Doch bereits in den 1950er Jahren wurde darauf verwiesen, dass die Beitragszahlungen Eigentum für den Versicherten begründen. Dieser Gesichtspunkt wurde 1980 vom Bundesverfassungsgericht dadurch unterstrichen, dass durch Beiträge erworbene Rentenansprüche dem Eigentumsschutz des Grundgesetzes (Art. 14GG) unterliegen. Die Struktur der 1957 geschaffenen Rentenformel ist im Prinzip bis heute erhalten geblieben. 198957 wurde die Rentenformel jedoch begrifflich neu gefasst, indem die ursprünglich vier Elemente der Rentenformel jeweils zu zweien verschmolzen: (1) der Summe der Entgeltpunkte, die angibt, welche relative Lohnposition insgesamt erreicht wurde (was zuvor durch den Vomhundertsatz der persönlichen Bemessungsgrundlage und Versicherungsdauer ausgedrückt wurde) und (2) dem aktuellen Rentenwert, der durch Multiplikation des Steigerungssatzes und der allgemeinen Bemessungsgrundlage ermittelt wurde und den DM(bzw. inzwischen den Euro-)Wert eines Entgeltpunktes angibt.58
55 Vgl. ders.: Die Gefahr steigender Altersarmut in Deutschland. Gründe und Vorschläge zur Armutsvermeidung, in: Antje Richter/Iris Bunzendahl/Thomas Altgeld (Hrsg.): Dünne Rente – Dicke Probleme, Frankfurt a. M. 2008, S. 37–58. 56 Als ein Beispiel unter vielen: Axel Börsch-Supan/Christina Wilke: Zwischen Generationenvertrag und Eigenvorsorge, Köln 2006, wo zwischen umlagefinanziertem „Generationenvertrag“ und auf Kapitaldeckung basierender privater „Eigenvorsorge“ unterschieden wird. 57 Dies ist enthalten im Rentenreformgesetz 1992. 58 Jetzt allerdings auf Monatsbasis, indem das Produkt aus Steigerungssatz und allgemeiner Bemessungsgrundlage durch 12 dividiert wurde.
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Während die Summe der Entgeltpunkte individuell unterschiedlich ist, gilt der aktuelle Rentenwert für alle Renten. Seit der Umstellung der DDR-Renten zum 1. Juli 1990 existiert jedoch nach wie vor ein unterschiedlich hoher aktueller Rentenwert in West- und Ostdeutschland, abgeleitet aus dem unterschiedlichen Lohnniveau bzw. aus unterschiedlichen Zuwachsraten des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts. Allerdings hat sich die Fortschreibung des aktuellen Rentenwerts (im Vergleich zu der, die für die allgemeine Bemessungsgrundlage im Prinzip maßgebend war) im Zeitablauf verändert, indem zunächst seit 1992 nicht mehr die Entwicklung der durchschnittlichen Brutto-, sondern der Nettolöhne maßgebend wurde.59 2001 kehrte man zwar wieder zur Anbindung an die Veränderung der Bruttolöhne zurück, doch neben der Veränderung des GRV-Beitragssatzes wirken nun zunehmend weitere Faktoren auf die Veränderung des aktuellen Rentenwertes ein: Eingefügt wurde zunächst der „Altersvorsorgeanteil“ (manchmal auch als „Riester-Faktor“ bezeichnet) und seit 2005 darüber hinaus ein „Nachhaltigkeitsfaktor“. Weiterhin wird u. a. ein „Nachholfaktor“ („Modifizierung der Schutzklausel“) wirksam werden. Damit hat die Formel inzwischen an Transparenz verloren und mutierte zu einem rententechnischen Monster, das auch hinsichtlich seiner Wirkungen kaum noch angemessen beurteilt werden kann. Intransparenz fördert allerdings keinesfalls das auch für ein Rentensystem notwendige Vertrauen.60 Damit wurde auch der bereits erwähnte Grundgedanke der Reform von 1957 – Rentner an der Entwicklung der Löhne teilhaben zu lassen – deutlich verwässert. Die Rentenreform von 1957 stellte zweifellos einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der deutschen Alterssicherungspolitik dar,61 der von beiden großen Volksparteien (CDU/CSU und der in Opposition befindlichen SPD) politisch durchgesetzt wurde. In einer Zeit, in der die CDU/CSU mit dem Motto „Keine Experimente“ in den Wahlkampf des Jahres 1957 zog, hatten sich CDU/CSU – wie auch die SPD – in mancher Hinsicht und trotz erheblicher Widerstände auf 59 Allerdings erfolgten zuvor verschiedentlich Ad-hoc-Eingriffe, die den Anstieg der allgemeinen Bemessungsgrundlage beeinflussten. 60 Vgl. Winfried Schmähl: Plädoyer für eine einheitliche und verständliche Rentenformel, in: Sozialer Fortschritt 50 (2001), S. 1–5; ders.: Kriterien zur Beurteilung der weiteren Altersgrenzenanhebung in der GRV, in: Wirtschaftsdienst 87 (2007), S. 592– 599. 61 Hockerts spricht – wie bereits (in Anm. 1) erwähnt – von einer „Epochenzäsur“; vgl. auch Hans F. Zacher: Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 1: Grundlagen der Sozialpolitik, Baden-Baden 2001, S. 498, der vom „wichtigsten Wahrzeichen zeitgemäßer Neubelebung der Sozialversicherung“ spricht. Franz Ruland: 100 Jahre Rentenversicherung – Bilanz eines sozialpolitischen Fortschritts, in: Sozialer Fortschritt 40 (1991), S. 3, betont: „Rückblickend ist festzustellen, daß in der einhundertjährigen Geschichte der Rentenversicherung die Reform 1957 der ganz entscheidende Schritt nach vorn war“.
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Neuland gewagt und eine fundamentale Reform durchgesetzt. Politisch erntete die CDU/CSU die Früchte dieser Reform, die vorwiegend ihr zugeschrieben wurde, denn bei der Bundestagswahl im Herbst des Jahres 1957 errang sie die absolute Mehrheit, wozu die Rentenreform beigetragen haben dürfte. Die Rentenreform des Jahres 1957 mit ihrem Paradigmenwechsel (an dessen Durchsetzung Konrad Adenauer maßgeblich Anteil hatte)62 – der DGB-Bundesvorstand sprach von „der sozialen Großtat des 20. Jahrhunderts“63 – hatte, so das Urteil des Historikers Hockerts, „eine schwerlich zu überschätzende Bedeutung“ für die „innere Konsolidierung des neuen Staates“, der Bundesrepublik.64 Die Reform war nämlich nicht etwa nur für die damaligen Rentner von großer Bedeutung, sondern auch für die Erwerbstätigen, denn ihnen wurde eine bessere Perspektive für ihr eigenes Leben als Rentner eröffnet. Von der Dynamisierung der Renten ging zudem eine beträchtliche Ausstrahlung auf andere Arten von Sozialleistungen und weitere Bereiche der sozialen Sicherung in Deutschland aus. Rückblickend wird man sagen können, dass die vielfältigen negativen Auswirkungen, die aufgrund der Leistungserhöhung wie auch der neuen Systemkonstruktion – der Rentendynamik und des Umlageverfahrens – befürchtet wurden, weitgehend ausgeblieben sind. Das betrifft zum einen den vorausgesagten Inflationsschub durch einen Konsumstoß infolge einer kräftigen Anhebung der Renten, zumal die Produktionskapazitäten weithin ausgelastet waren. Vor allem aber wurde von der „Rentendynamik“ und von steigenden Beitragssätzen eine LohnPreis-Spirale befürchtet. Doch die Gewerkschaften benutzten steigende Beiträge nicht als Argument in Lohnverhandlungen, wurden doch durch die Beitragszahlungen der Erwerbstätigen Ansprüche erworben. Auch trat keine tiefgreifende Beeinträchtigung der Spartätigkeit und allgemein der Privatvorsorge ein; vielmehr nahm die Ersparnisbildung der privaten Haushalte 1957 beträchtlich zu. Die private Lebensversicherung, deren Neuzugang bereits vor der Rentenreform stetig wuchs, verzeichnete im Jahr der Rentenreform sogar einen Anstieg um „stolze 31,5 Prozent“, was weitaus mehr als das Doppelte des Zuwachses der Vorjahre war.65 Der Verband der Lebensversicherungsunternehmen betonte: „Die heftigen Rentendebatten haben das Gute gehabt, dass Grundsatzfragen langfristiger Vorsorge wie kaum jemals vorher in die öffentliche
62 Dies wurde insbesondere von Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen (Anm. 2), differenziert und überzeugend herausgearbeitet und bedarf auch heute keiner Revision. 63 Ruf: Aufzeichnungen (Anm. 35), S. 73. 64 Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen (Anm. 2), S. 425. 65 Roland Tichy: Aufbruch und Wirtschaftswunder: 1948–1965. Vertiefung der Versicherungsthemen, in: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (Hrsg.): Verantwortung: Gesellschaft und Versicherungen im Wandel der Zeit. 50 Jahre Versicherungswirtschaft in Deutschland, Berlin o. J. [1998], S. 30.
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Diskussion gekommen sind und darin bleiben werden“66. Vierzig Jahre später, Ende des 20. Jahrhunderts, war Gleiches zu verzeichnen. Das Konzept einer „dynamischen“ gesetzlichen Rente wurde jedoch auch nach der Reformentscheidung immer wieder kritisiert, so von der Bundesbank. Mitte November 1958 schrieb deren damaliger Präsident (Karl Blessing) im Zusammenhang mit der ersten Rentenanpassung an den Bundeskanzler:67 „Es sollte [. . .] der Eindruck vermieden werden, als sei damit der von manchen Seiten befürwortete ,Rentenautomatismus‘ in Bewegung gesetzt und als sei nach diesem ersten Schritt nun auch für die späteren Jahre eine regelmäßige Anpassung der Bestandsrenten an die zunächst wohl weiter stark steigende Bemessungsgrundlage zu erwarten.“ Angesichts der „wachsenden ,Überalterung‘“ und der zusätzlichen Rentenansprüche würden jährliche Anpassungen zu Finanzierungsproblemen führen. Der Zentralbankrat sei generell für „eine Loslösung der Rentenentwicklung von der [. . .] kommenden Lohn- und Gehaltsentwicklung“, und zwar nicht nur bei der Rentenanpassung, sondern auch bei der Erstberechnung der Renten.68 Im Laufe der Zeit ebbte zwar die zum Teil vehement vorgetragene Kritik an der dynamischen Rente und der Umlagefinanzierung ab. Doch gegen Ende der 1980er Jahre wurde sie wieder massiver vorgetragen. Begründet wurde sie u. a. mit angeblich vorher nicht gesehenen oder berücksichtigten Folgen der demographischen Entwicklung und argumentativ untermauert und publikumswirksam vermarktet durch spezifisch interpretierte Schlagworte wie „Generationengerechtigkeit“ und „Nachhaltigkeit“.69 Dies führte schließlich zu politischen Entscheidungen, die auf ein Zurückdrängen der Umlagefinanzierung und eine Leistungsreduzierung in der GRV ausgerichtet waren. Die angebliche Lebensstandardsicherung durch die GRV sei nicht mehr finanzierbar, tiefgreifende Einschnitte in das Leistungsniveau der GRV„alternativlos“. Immer wieder wurde in den letzten Jahren betont, die demographische Entwicklung mit ihren Folgen für die umlagefinanzierte Rentenversicherung sei 66
Zitiert nach ebd., S. 31. Anlage 1 zum Protokoll der 35. Sitzung des Zentralbankrats v. 13.11.1958, Historisches Archiv Bundesbank B 330/146. 68 Weiter heißt es, es wäre vor allem eine Belastung des Kapitalmarktes zu vermeiden, da sie „den Bundeshaushalt gerade dann des Rückhalts am Anleihemarkt berauben könne, wenn er auf Grund der wachsenden Verteidigungsausgaben dessen vielleicht am stärksten bedarf.“ Ebd. – Aus Sicht der SED-Führung wurde mit Blick auf die ansteigenden Verteidigungsausgaben eine Rentenreform, die erhebliche zusätzliche Ausgaben zur Folge hätte, zunächst als Propaganda und „Wahlköder“ eingestuft; vgl. Hoffmann: Sozialistische Rentenreform (Anm. 46), S. 303. 69 Winfried Schmähl: „Generationengerechtigkeit“ als Begründung für eine Strategie „nachhaltiger“ Alterssicherung in Deutschland, in: Gerhard Huber/Hagen Krämer/ Heinz D. Kurz (Hrsg.): Einkommensverteilung, Technischer Fortschritt und struktureller Wandel, Marburg 2005, S. 441–459. 67
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nicht frühzeitig genug erkannt worden. Doch bereits in der Reformdiskussion der fünfziger Jahre wurden erwartete demographische Veränderungen – u. a. unter den wertgeladenen Stichworten „Überalterung“ und „Rentenberg“ – diskutiert. Allerdings stand seinerzeit als Ursache primär eine steigende Lebenserwartung im Zentrum, nicht dagegen eine (starke) Abnahme der Geburtenhäufigkeit. Meines Wissens gibt es bislang jedoch keinen Beleg für den immer wieder von Wissenschaftlern und Politikern Adenauer in den Mund gelegten Ausspruch, Kinder bekämen die Leute ja sowieso.70 Die immer wieder aufgetretenen Finanzierungsprobleme der GRV hatten allerdings weniger mit demographischen Problemen oder einer Fehlkonstruktion des umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems zu tun als vielmehr etwa mit Arbeitslosigkeit, die zu verminderten Beitragseinnahmen und höheren Ausgaben in der GRV führt.71 Die anhaltenden Finanzierungsdiskussionen in der GRV sind zudem maßgebend auch durch politische Entscheidungen bedingt. Dies zeigt allein ein Blick auf die jüngste Vergangenheit. So beruhte die Beitragsanhebung im Jahr 2007 (von 19,5% auf 19,9%) zumindest zur Hälfte darauf, dass der Gesetzgeber die Bundeszahlungen an die GRV für Bezieher von Arbeitslosengeld II etwa halbierte. Dies ist eines von vielen Beispielen dafür, wie durch immer neue politische Entscheidungen der GRV entweder neue Finanzierungsaufgaben übertragen wurden (so z. B. die 1972 ausgeweiteten kostenträchtigen Möglichkeiten des vorzeitigen Rentenbezugs ohne Berücksichtigung der längeren Rentenlaufzeit bei der Rentenberechnung) oder Finanzmittel entzogen wurden (z. B. durch Kürzungen der Bundeszahlungen). Auch politische Entscheidungen, Kosten der deutschen Vereinigung auf die Sozialversicherungen zu verlagern (statt sie aus Steuern zu finanzieren), haben bis heute Folgen für den Beitragsbedarf. Die mit fortschreitender Zeit immer weiter reduzierte Mindestrücklage der Rentenversicherung war und ist ebenfalls eine der Ursachen für immer neue Finanzierungsdebatten. Wie erwähnt, ist die ursprüngliche Ein-Jahres-Reserve, die schon 1969 auf drei Monate vermindert wurde, inzwischen auf 20% einer Monatsausgabe zusammengeschrumpft und erfüllt damit nicht ihre finanzielle Pufferfunktion. All dies hat mit zu dem Vertrauensverlust in die GRV beigetragen, der von vielen Seiten tatkräftig im Interesse der Durchsetzung politischer und ökonomi70 Auf meine Nachfrage bei einem Bundestagsabgeordneten, der (wieder einmal) diesen Ausspruch als Adenauer-Zitat verwendete, wurde der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages eingeschaltet, der aber gleichfalls keine Quellenangabe finden konnte. Vielmehr gehe man davon aus, dass die Aussage gar nicht von Adenauer stamme, ihm aber zugeschrieben werde, so die schriftliche Mitteilung von Gregor Amann, MdB, an den Verfasser vom 13.12.2006. 71 Darüber hinaus mindert Arbeitslosigkeit auch die Möglichkeit zur privaten kapitalfundierten Vorsorge und führt für die Arbeitslosen auch zu keinen Ansprüchen auf betriebliche Alterssicherung.
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scher Ziele gefördert wurde. Dabei wurde der Eindruck erweckt, als ob nur in einem umlagefinanzierten System der zunehmende Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung die Alterssicherung verteuere und eine „tickende Zeitbombe“ darstelle.72 Besonders deutlich wird am Beispiel steigender Lebenserwartung, dass hiervon auch kapitalfundierte Systeme betroffen werden, denn entweder muss nun das angesammelte Altersvermögen zur Finanzierung des Lebensunterhalts für eine längere Zeit dienen oder es muss zuvor das Sparen für das Alter erhöht werden.73 Die angeführten Beispiele zeigen, dass es nicht an einem „fehlkonstruierten“74 und maroden System75 liegt, das angeblich „unrettbar“ krank sei, wenn immer neue Finanzierungsdiskussionen ausgelöst werden: Maßgeblich trugen und tragen dazu nicht zuletzt politische – z. T. außerordentlich kurzsichtige – Eingriffe bei.76 Allzu oft fehlte es an konzeptionsgerechten und langfristig orientierten Entscheidungen, die das System nicht überfordern. In Vergessenheit geraten ist inzwischen die hohe Integrationsleistung des umlagefinanzierten Systems, und zwar bereits nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf Vertriebene und Flüchtlinge und dann vor allem bei der Wiedervereinigung. Auch wird angesichts permanenter Finanzierungsdiskussionen kaum noch wahrgenommen, dass sich die umlagefinanzierte GRV in der Vergangenheit 72 „Jenseits des Aufwandsmaßstabs von Klassenausflügen und Kegelabenden ist das Umlageverfahren so gut wie nie eine intelligente Lösung“, schrieb der frühere Leiter der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und zu diesem Zeitpunkt Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, Hans D. Barbier: „Aus der Art“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.8.2007. Zum Vergleich zwischen Umlageverfahren und Kapitalfundierung vgl. Winfried Schmähl: Ökonomische Grundlagen sozialer Sicherung, in: Bernd Baron von Maydell/Franz Ruland/Ulrich Becker (Hrsg.): Sozialrechtshandbuch (SRH), 4. Aufl., Baden-Baden 2008, S. 170–175; ders.: Soziale Sicherung. Ökonomische Analysen, Wiesbaden 2009, insbes. Kap. 11–13. 73 In der GRV geht es analog um niedrigere Leistungen und/oder höhere Beiträge (bzw. Finanzierungsmittel). 74 So beispielsweise die derzeitige Leiterin des Wirtschaftsressorts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Heike Göbel: „Der Reformauftakt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.2.2006. Ähnlich negativ beurteilt in: Der Spiegel vom 1.8.2005. 75 So z. B. der Wirtschaftsrat der CDU: Von der Anspruchs- zur Leistungsgesellschaft. WR-Masterplan 2005–2009. Zehn Thesen für eine Wende: Deutschland nimmt wieder Kurs auf, in: Trend, II. Quartal 2005, S. 71, wo es heißt: „Die maroden Sozialsysteme zu sanieren bedeutet: Drosseln der Umlagefinanzierung und zügiger Aufbau einer Kapitalvorsorge [. . .] Eine Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung nach dem Prinzip ,Jung zahlt für Alt‘ ist gescheitert [. . .] Wenn die Altersversorgung zu etwa 40 Prozent durch Kapital gedeckt ist, gewinnt sie Verläßlichkeit zurück.“ 76 So stellt es etwa eine Verkehrung von Ursache und Wirkung dar, wenn geschrieben wird – so der Titel eines Beitrags des Publizisten Hugo Müller-Vogg: Die Rentenmisere hat bei vielen Bürgern das Vertrauen in den Staat zerstört, in: Trend, II. Quartal 2006, S. 32. Zutreffend ist vielmehr: Unter anderem durch die politischen Entscheidungen – und die in ihrem Vorfeld und zu ihrer Begründung geführten Diskussionen – wurde das Vertrauen in die Rentenversicherung zerstört.
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als außerordentlich anpassungsfähig an sich ändernde ökonomische und strukturelle Bedingungen erwiesen hat. Festzuhalten bleibt: Mit der Rentenreform des Jahres 1957 wurde erstmals in der Geschichte der deutschen Rentenversicherung eine Regelung eingeführt, durch die eine regelmäßige und regelgebundene Teilhabe der Rentner an der Lohnentwicklung bei der Erstberechnung wie auch während der Rentenlaufzeit erreicht werden sollte. Inzwischen sind wir allerdings in eine Phase eingetreten, in der die Renten vom steigenden Wirtschaftsertrag abgekoppelt sind. Durch die politischen Entscheidungen über einschneidende Minderungen des Leistungsniveaus in der GRV und deren Zusammenspiel mit sich ändernden Erwerbsbiographien dürfte die GRV in längerfristiger Perspektive für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr das ermöglichen, was in der Vergangenheit ein wichtiges Ergebnis der dynamischen Rente war, nämlich ein maßgebender Beitrag zur weitgehenden Beseitigung von Altersarmut zu sein. Die insbesondere seit 2001 ergriffenen politischen Maßnahmen stellen nichts anderes dar als den Einstieg in den Ausstieg von einer dynamischen Rente mit Lohnersatzfunktion, beides Kernelemente der 1957 beschlossenen Rentenreform. Die Grundgedanken der damaligen Reform könnten allerdings auch heute noch eine Leitschnur sein für eine Strategie zur Weiterentwicklung und Anpassung der GRV an sich wandelnde Umfeldbedingungen.77 Damit könnten sozial- und verteilungspolitisch problematische Folgen des seit 2001 politisch durchgesetzten Paradigmenwechsels vermieden werden.78 Einer solchen Rückbesinnung auf die Grundgedanken der Reform von 1957 und zugleich einer Revision der inzwischen als alternativlos dargestellten „neuen deutschen Alterssicherungspolitik“79 stehen allerdings einflussreiche Interessengruppen entgegen.
77 Vgl. Winfried Schmähl: Die Prinzipien von 1957 sind noch immer tragfähig, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Heft 111 (2007), S. 18–20; ders.: Raus aus der Armut. Vor 50 Jahren wurde in der Bundesrepublik die dynamische Rente eingeführt, in: Die Zeit vom 18.01.2007. 78 Vgl. Holger Viebrok/Ralf K. Himmelreicher/Winfried Schmähl: Private Vorsorge statt gesetzlicher Rente: Wer gewinnt, wer verliert?, Münster 2004; Winfried Schmähl: Gefahr steigender Altersarmut (Anm. 55). Ein Überblick über Paradigmenwechsel in der deutschen Alterssicherungspolitik findet sich in ders.: Alterssicherungspolitik im Wandel. Anmerkungen zu grundlegenden Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Ulrich Becker/Franz-Xaver Kaufmann u. a. (Hrsg.): Alterssicherung in Deutschland, Baden-Baden 2007, S. 291–314. 79 Ein Begriff, den inzwischen Hockerts aufgriff und den dann die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sogar zum Titel seines Beitrags wählte: Hans Günter Hockerts: Neue deutsche Alterssicherungspolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.4.2008.
Reformdruck und Reformpläne der DDR-Wirtschaft 1957 Von Marcel Boldorf I. Einleitung Als sich Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 von Stalin distanzierte, bot dies dem gesamten Ostblock den Weg für eine Neuorientierung. Trotz einer gewissen Verwirrung folgte die SED innerhalb kürzester Zeit dem aus Moskau vorgegebenen Konzept der Entstalinisierung und eröffnete damit die Möglichkeit, Reformvorstellungen zu formulieren. In der Folge legte der Ökonom Fritz Behrens ein Papier vor, das sich kritisch mit dem existierenden System der Planung und Lenkung der DDR-Volkswirtschaft auseinander setzte.1 Jedoch gingen seine Reformvorstellungen der SED-Parteiführung zu weit, so dass sie unter Verschluss gehalten wurden. Gleichwohl entdecken heute einige Historiker, die sich mit „reformökonomischem Denken“ beschäftigen, 1956 die Möglichkeit eines Wendepunktes für den ostdeutschen Staatssozialismus. Solche Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht: Die Reformgedanken wurden aus der öffentlichen Debatte verbannt, so dass ihre Wirkungen in den Folgejahren höchstens mittelbar zum Tragen kamen. Intern unterzog das SED-Politbüro das Planwirtschaftssystem einer kritischen Revision, ohne dabei an seinen Grundfesten zu rütteln. Damit reagierte man auf einen Reformdruck, der vor allem aus der Konkurrenzsituation zur Bundesrepublik mit ihrem hohen materiellen Lebensstandard resultierte. Ende 1957 änderte sich die defensive Haltung des Politbüros schlagartig und ging in eine Offensive über, die einen „sozialistischen Ausbau“ zum Ziel hatte. Infolge einer zeitweise günstigen wirtschaftlichen Lage machten sich Zuversicht und Optimismus breit, was im Juli 1958 auf dem 5. Parteitag der SED zur Formulierung der „ökonomischen Hauptaufgabe“ führte: Die Bundesrepublik sollte bis 1961 hinsichtlich des Konsums überrundet werden. Wie an1 Vgl. die Argumentation von Siegfried Prokop: 1956 – DDR am Scheideweg. Opposition und neue Konzepte der Intelligenz, Berlin 2006, S. 75–79; Jörg Roesler: Planungsreformen unter günstigen und ungünstigen Bedingungen, in: Siegfried Prokop (Hrsg.): Zwischen Aufbruch und Abbruch. Die DDR im Jahre 1956, Berlin 2006, S. 88–95; Günter Krause: „1956“ Erste Zäsur reformökonomischen Denkens in der DDR, in: Ebd., S. 310–332; siehe auch Friederike Sattler: „Betriebsegoismus“? Zum Problem der nicht systemkonformen Nutzung erweiterter betrieblicher Handlungsspielräume im Zuge der DDR-Wirtschaftsreform, in: Christoph Boyer (Hrsg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich, Frankfurt a. M. 2006, S. 276.
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dere sozialistische Länder ging die DDR zu einer Siebenjahresplanung mit stark überzogenen Wachstumsvorstellungen über. Der ambitionierte Plan musste kurze Zeit später im Zuge der Wirtschaftskrise der Jahre 1960/61 abgebrochen werden. In diesem Beitrag stehen die wirtschaftlichen Aufbruchideen des Jahres 1957 im Vordergrund, ihre Wurzeln, die Versuche zu ihrer Realisierung sowie letztlich die Gründe für ihr Scheitern. Zusammenfassend werden die wirtschaftlichen Gründe analysiert, die zum Mauerbau des Jahres 1961 beitrugen. Am intensivsten setzte sich bisher Ralph Sowart mit der hier zu behandelnden Thematik auseinander.2 Zur Erklärung des Scheiterns der „ökonomischen Hauptaufgabe“ liefert er ein Bündel an Erklärungsfaktoren, die scheinbar miteinander in Konkurrenz standen, und von ihm zu Thesen zusammengefasst werden: die Erwartungsthese (die Erwartung einer Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik), die Fehlwahrnehmungsthese (ein „eskalierender Zukunftsoptimismus angesichts sowjetischer Erfolge“), die Imperialismusthese (eine direkte Einflussnahme der Sowjetunion auf die DDR-Entwicklung) sowie die Wachstumsthese (eine Selbstüberschätzung der DDR-Regierung). Schließlich verwirft er diese Angebote und favorisiert die Außenhandelsthese, die verschiedene Überlegungen der DDR-Regierung zu einer durchaus rational motivierten Außenhandelsstrategie zusammenfasst.3 Sowart benennt wichtige Argumente, die sich auch in den Verhandlungen des Politbüros des Zentralkomitees (ZK) der SED finden lassen. Im Schlussabschnitt dieses Beitrags ist darauf einzugehen, ob die Punkte, die Sowart einander entgegenstellt, sich tatsächlich widersprechen. II. Sputnik-Revolution und Wirtschaftseuphorie Im Bereich der Raketenentwicklung und der Weltraumfahrt gelang der Sowjetunion 1957 ein entscheidender „Sprung nach vorn“.4 Den erfolgreichen Tests von Interkontinentalraketen im August folgte am 4. Oktober 1957 überraschend der Start des ersten künstlichen Satelliten, des Sputnik. Das Ereignis traf den Westen unvorbereitet, so dass vom „Sputnik-Schock“ gesprochen wird. Im Ostblock hingegen löste es einen breiten Propagandafeldzug aus, der die Überlegenheit des sozialistischen Systems gegenüber dem Kapitalismus betonte. Das gesteigerte Selbstbewusstsein drückte sich in der Hoffnung auf eine technologische „Sputnik-Revolution“ aus.
2 Vgl. Ralph Sowart: Planwirtschaft und die „Torheit der Regierenden“. Die „Ökonomische Hauptaufgabe der DDR“ vom Juli 1958, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (1999), S. 157–190. 3 Vgl. ebd., S. 185 f. 4 Andreas Hillgruber: Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit 1945–1963, 2. Aufl., München 1981, S. 83.
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Staats- und Parteichef Walter Ulbricht brachte in seiner Grundsatzrede auf der 33. Tagung des Zentralkomitee der SED am 16. Oktober 1957 den schlagartig gewachsenen Glauben an die Potenziale des Sozialismus zum Ausdruck: Der Sputnik ziehe „seine Bahnen um die Erde und der rote Erdtrabant leuchtet über New York, London und Bonn und kündet allen Völkern die Überlegenheit des sozialistischen Systems über das kapitalistische.“5 Bereits einige Tage zuvor hatte der stellvertretende Regierungschef Fritz Selbmann die Brücke von der Technik zur Wirtschaft geschlagen: „Wer als erster den Erdtrabanten in die Welt schicken kann, dem wird es auch möglich sein, die ökonomische Hauptaufgabe zu lösen, nämlich den Kapitalismus in der Produktion von Fleisch und Fett zu überholen“.6 Im Einklang mit den übrigen sozialistischen Staaten wähnte sich die DDR-Führung auf einer Erfolgswelle und glaubte, die drängenden wirtschaftlichen Probleme meistern zu können. Ulbricht behandelte in seiner Grundsatzrede den Weg zur Festigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht sowie zum Aufbau des Sozialismus. Hinsichtlich der „Grundfragen der ökonomischen und politischen Entwicklung“ sah er es als die Hauptaufgabe an, den Massen den Volkswirtschaftsplan zu erklären: Jeder müsse „vorbildlich seine Produktionsaufgaben“ erfüllen, d.h. den Materialverbrauch vermindern, die Produktion rationalisieren, die Verwaltungsarbeit vereinfachen und die Verschwendung von Investitionen vermeiden. Insofern sei der Aufbau des Sozialismus in erster Linie eine Frage der Erziehung, denn „bei der Erfüllung der neuen Produktionsaufgaben lernen die Menschen und gewöhnen sich schlechte Gewohnheiten aus der kapitalistischen Zeit, zum Beispiel Arbeitsbummelei, allmählich ab.“7 Der Übergang zu mehr Wachstum und Wohlstand wurde auf den Willen und die Arbeitsbereitschaft des Einzelnen zurückgeführt; das Primärziel war die Steigerung der Arbeitsproduktivität.8 Systemische Fragen stellten sich nicht, weil die sozialistischen Produktionsverhältnisse per se als die besseren angesehen wurden. Die „Sputnik-Revolution“ sollte ihnen zum endgültigen Durchbruch verhelfen. Für diesen „Kampf“ sei die Mobilisierung aller Ressourcen notwendig, wobei die UdSSR und andere Ostblockstaaten unterstützend agieren sollten. Ulbricht sprach die Notwendigkeit einer internationalen Arbeitsteilung im sozialistischen Lager an. Beispielsweise sei der Ausbau des DDR-Maschinenbaus von der Er5 Referat Walter Ulbrichts „Grundfragen der ökonomischen und politischen Entwicklung“ in der DDR auf der 33. Tagung des ZK der SED vom 16.10.1957, abgedruckt in: Günter Benser (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 2: 1945–1971, Berlin (Ost) 1988, S. 216. 6 Vgl. Rede Selbmanns am 10.10.1957, zit. nach André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 110 f. 7 Referat Walter Ulbrichts (Anm. 5), S. 219. 8 Heinz Reinecke: Die Erreichung der hohen Arbeitsproduktivität als wichtigste Aufgabe im Siebenjahrplan, Berlin (Ost) 1960.
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schließung neuer Erzgruben in der Sowjetunion abhängig.9 Überhaupt basierte das Kalkül der DDR-Regierung auf erheblichen außenwirtschaftlichen Hilfeleistungen.10 Für die Sowjetunion und die Länder des sozialistischen Lagers erwartete man ein größeres Wachstum der Schwerindustrie durch den Bau neuer Hochöfen und die Abteufung neuer Schächte. Dagegen hielt Ulbricht in der DDR keine Beschleunigung des Ausbaus der Grundstoffindustrie für möglich, weil dies nur auf Kosten der Lebenshaltung der Bevölkerung geschehen könne.11 Damit lenkte er den Blick auf den Konsumgüterbereich, schwieg sich dazu in seiner Rede aber aus. Vielmehr fand er zu diesem Zeitpunkt noch mahnende Worte, das Entwicklungstempo nicht zu überschätzen. Dieser Hinweis richtete sich gegen angebliche Forderungen der technischen Intelligenz, die „die sozialistische Gesellschaft schon jetzt in einer solchen Weise erleben [möchten], wie sie in der nächsten Etappe der Entwicklung, also nach dem Sieg des Sozialismus, gestaltet sein wird.“ Er prophezeite das Stolpern derer, „die versuchen, traumwandlerisch einen Sprung zu machen, um sich über die Schwierigkeiten der Übergangsperiode hinwegzusetzen“ – nicht ahnend, dass sein Bild die folgende Entwicklung symbolisch vorwegnahm. Ulbrichts Mahnung zum Trotze waren in den folgenden Monaten jedoch keine Anzeichen zur Mäßigung zu erkennen, im Gegenteil: Die Presseberichterstattung tendierte zu einer weiteren Überspannung der Erwartungen. Ein Artikel in der Berliner Zeitung vom 11. Dezember 1957 konstatierte, dass „wir“ nach der Oktoberrevolution „an der zweiten historischen Wende“ stünden, an der „die Kräfte des sozialistischen Lagers zum ersten Male die des kapitalistischen Restteils der Welt übertreffen.“12 Zum einen, so nahm der Artikel zur Tagesaktualität Bezug, sei Republikflucht deshalb eine „Dummheit“, zum anderen schlug er sogleich die Brücke zu den künftigen materiellen Lebensbedingungen im sozialistischen Lager: „Die sowjetischen Himmelkörper sind Symbol und Beweis dieser Gewichtsverlagerung, die sich von nun an immer schneller vollziehen wird“. So laute die Haupterkenntnis der Moskauer Beratungen der kommunistischen Parteien zum 40. Revolutionstag. Gemeint war die Novemberkonferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien aus 64 Ländern vom 14. bis 19. November, an der unter anderem auch China teilnahm.13 Die Sowjetunion sah sich an der Spitze des sozialistischen Lagers. Der Zeitungsartikel deutete die Internationalität des erwarteten sozialistischen Aufbruchs an, die später noch zu thematisieren ist.14
9
Vgl. Referat Walter Ulbrichts (Anm. 5), S. 219. Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan (Anm. 6), S. 111. 11 Vgl. Referat Walter Ulbrichts (Anm. 5), S. 219. 12 Abgedruckt in: Hermann Weber (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1985, 3. Aufl., München 1987, S. 232. 13 Hillgruber: Europa in der Weltpolitik (Anm. 4), S. 83 f. 14 Vgl. den Schlussabschnitt dieses Beitrags. 10
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In der Tat waren im Rückblick auf das Jahr 1957 reale Anzeichen für eine Wachstumsentwicklung festzustellen. Die Industrieproduktion konnte um acht Prozent gesteigert werden, d.h. der Plan wurde übererfüllt, was im Vorjahr noch misslungen war.15 Trotz dieser Fortschritte herrschten in der Konsumgüterproduktion immer noch Engpässe vor. Sie betrafen nicht zuletzt die Lebensmittelversorgung, so dass die seit der Nachkriegszeit bestehende Rationierung für gewisse Güter aufrecht erhalten wurde. Beispielsweise führte ein Regierungsbeschluss vom Januar 1957 ein neues Roggenbrot ein, dem 15 Prozent Weizenmehl beigemischt waren. Gleichzeitig wurde der Ausmahlungsgrad des verwendeten Roggenmehls um vier Prozent erhöht, weil die DDR ihren Bedarf an Roggen nicht decken konnte.16 Diese Maßnahme erinnerte an die NS-Kriegswirtschaft, als wegen Getreidemangels dieselben Methoden Anwendung fanden. Auf weitere Lücken der Lebensmittelversorgung wies der Mangel an Zucker hin. Das Politbüro des ZK der SED beschloss am 9. Februar 1957, Devisen in Höhe von 33 Millionen West-Mark für den Import von 55.000 Tonnen Rohrzucker freizugeben.17 Nach einer Überschlagsrechnung reichte diese Menge aus, um allen DDR-Bürgern die Tagesration von 40 Gramm über rund 86 Tage zu verabreichen.18 Trotz dieses Kraftaktes hielt der Zuckermangel an, so dass man sich bereits im April entschloss, eine Tauschmöglichkeit einzuräumen: Die Zuckerrationen waren gegen Fleisch eintauschbar, und zwar 300 g Zucker gegen 100 g Fleisch, die ungefähr zum gleichen Preis erhältlich waren.19 Im Konsumgüterbereich herrschte das Bewusstsein vor, das der Mangel dominierte. Im August 1957 legte das Ministerium für Handel und Versorgung dem Politbüro eine achtzehnseitige Liste von Einzelartikeln vor, die in der DDR nicht bzw. in nicht ausreichender Menge zur Verfügung standen.20 Einzelartikel aus allen Wirtschaftssektoren wurden aufgezählt. Die zahlreichsten Nennungen kamen aus der Textil- und Bekleidungsbranche, gefolgt von Gebrauchsgütern des Haushalts- und Freizeitbedarfs, z. B. Metallwaren, Küchenartikel, Werkzeuge, Glaswaren, Gummiartikel und Farben. Letztere Artikel entstammten der indus15 Vgl. Hermann Weber: Die DDR 1945–1986, München 1988, S. 46; Steiner: Von Plan zu Plan (Anm. 6), S. 111. 16 Vgl. Argumentationshinweis des Politbüros zur Änderung der Brotqualität vom 29.1.1957, in: Dierk Hoffmann/Karl-Heinz Schmidt/Peter Skyba (Hrsg.): Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949–1961, München 1993, S. 275 f. 17 BArch DY 30/J IV 2/2/527. Beschluss des Politbüros vom 9.2.1957. Der Verkaufswert dieser Zuckermenge betrug in der DDR 165 Millionen Ost-Mark. 18 Vgl. Marcel Boldorf: Sozialfürsorge in der SBZ/DDR 1945–1953. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut, Stuttgart 1998, S. 75. 19 Vgl. BArch DY 30/J IV 2/2/537. Beschluss des Politbüros vom 16.4.1957; vgl. auch Boldorf: Sozialfürsorge (Anm. 18), S. 85. Bis 1958 kosteten 300 Gramm Zucker 90 Pfennig, 100 Gramm Fleisch 1,12 Mark. 20 Vgl. DY 30/J IV 2/2/553. Anlage Nr. 5 zum Protokoll der Politbüro-Sitzung vom 6.8.1957.
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triellen Produktion, so dass in diesem Sektor eine Umstellung der Planvorgaben notwendig gewesen wäre. Insgesamt war der Anteil der individuellen Konsumtion, d.h. des privaten Verbrauchs, am Nationaleinkommen seit 1949 rückläufig,21 was die große Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage erklärt. III. Reformversuche zur Beseitigung von Dysfunktionalitäten Nüchtern betrachtet war beim Übergang zum Jahr 1958 die Versorgungssituation keineswegs befriedigend. Die SED durfte aber hoffen, dass ihr ein höheres Maß an Loyalität zuwachsen würde, wenn sie die Versorgungsprobleme in den Griff bekäme. Zur Realisierung der erhofften ökonomischen Wende nahm die Staatsführung im ersten Halbjahr 1958 eine Reihe organisatorischer Reformen zur Verbesserung des Plansystems vor, die sich an das „Gesetz zur Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates“22 vom 11. Februar 1958 anschlossen. Es überführte die Aufgaben mehrerer Industrie- und des Arbeitsministeriums in den Kompetenzbereich der Staatlichen Plankommission und löste den Wirtschaftsrat beim Ministerrat auf. Im gleichen Monat bildete das SEDPolitbüro eine Wirtschaftskommission mit Erich Apel an der Spitze, so dass das vormalige Regierungsgremium durch eine Parteiinstanz ersetzt wurde. Sekretär der Wirtschaftskommission wurde Günter Mittag, daneben gehörten ihm die sieben Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilungen des Zentralkomitees an, der Sekretär und ein weiteres Mitglied der Staatlichen Plankommission, jeweils ein Vertreter der Ministerien für Aufbau und für Finanzen, zwei Wirtschaftssekretäre der Bezirksleitungen (Berlin und Karl-Marx-Stadt), ein Vertreter des FDGB-Bundesvorstandes sowie die Vorsitzenden der Wirtschaftsräte zweier Bezirke (Magdeburg, Cottbus).23 Die Wirtschaftskommission nahm die Aufsicht über die verschiedenen Ressorts wahr, erarbeitete Beschlussvorlagen, zog Fachleute, meist „leitende Genossen“, zu Sachfragen hinzu und erprobte sich an der Verbesserung der Arbeit des Staatsapparates. Zur Durchführung dieser wirtschaftlichen Aufgaben bildeten sich drei Arbeitsgruppen: a) „Forschung, technische Entwicklung und Investitionspolitik“, b) „Ökonomie der Industriezweige“, c) „Anleitung der Wirtschaftsräte der Bezirke“.24 In der ersten Gruppe lag der Schwerpunkt u. a. auf der Erziehung der technischen Intelligenz, in der zweiten auf der Verbesserung der Effektivität der Leitungsmethoden in einzelnen Industriezweigen, in der dritten auf der 21 Vgl. André Steiner: Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 – Band SBZ/DDR, Bonn 2006, S. 67. 22 Gesetzblatt der DDR I. 1958, S. 117. 23 Vgl. DY 30/J IV 2/2/584. Anlage Nr. 8 zum Protokoll der Politbüro-Sitzung vom 11.3.1958. 24 BArch DY 30/J IV 2/2029/10. Organisationsschema der Wirtschaftskommission, Arbeitsgrundsätze der Arbeitsgruppen vom 31.3.1958.
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reibungslosen Umsetzung der Vorgaben auf unteren Verwaltungsebenen. Zwei Kernbegriffe prägten das Reformdenken: die Verbesserung der wissenschaftlichtechnischen Leitung und die Förderung der Technologieentwicklung. Dies mündete im ersten Halbjahr 1958 in konkrete Projekte wie die „Aussprache mit 130 bis 150 Jungingenieuren“, d.h. die Unterweisung von diplomierten Hochschulabsolventen, oder die „Untersuchung der ökonomischen Zusammenhänge innerhalb der Stadt Potsdam“, die auf die Optimierung der Leitungstätigkeit der staatlichen Organe zielte. Die beiden Beispiele verdeutlichen, dass sich die praktische Arbeit der Wirtschaftskommission weniger auf wirtschaftliche Stimuli im eigentlichen Sinne ausrichtete, als vielmehr auf die „sozialistische Persönlichkeitsbildung“ zielte, sprich die Erziehung der leitenden Kader, um deren „schöpferische Initiative“ zu fördern.25 Gleichzeitig leitete die Verordnung vom 13. Februar 1958 eine Stärkung der Ebene der Vereinigungen volkseigener Betriebe (VVB) ein. Deren Bedeutung erhöhte sich, indem ihnen die „operative Leitung“ der ihnen unterstellten Betriebe zugeschrieben wurde.26 Als unterstützende Instanz für den Hauptdirektor der VVB bildete man technisch-ökonomische Räte.27 Hinsichtlich der Planung fassten die VVB die Angaben der einzelnen Betriebe zusammen, so dass sie in zentraler Position die gesamte Produktions-, Material-, Investitions-, Arbeitskräfteund Finanzplanung lenkten. Ihre Kompetenzen erweiterten sich um die Erstellung von Perspektivplänen und die betriebliche Kontrolle der Planerfüllung. Die Werkleiter der volkseigenen Betriebe wurden angehalten, die Arbeiterschaft stärker in die betriebliche Leitung einzubeziehen.28 Dies meinte die stärkere Einbindung von Arbeitervertretern in die Werkleitersitzungen und andere betriebliche Besprechungen. Als wirtschaftliche Aufgabe rückte die Aktivierung der existierenden Neuerer- und Aktivistenbewegung in den Vordergrund, um eine ständige Produktionsberatung durch Teilnahme am betrieblichen Vorschlagswesen und somit höhere Arbeitsleistungen zu erzielen. Eine weitere Institution des sozialistischen Wettbewerbes war die Brigadebewegung. Die Mitglieder der Brigaden sollten nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch außerhalb des Betriebes vorbildhaft tätig sein.29 Der Förderung der Innovationstätigkeit außerhalb des betrieblichen Bereichs diente die 1958 ins Leben gerufene „Messe der Meister von Morgen“, die von der Freien Deutschen Jugend (FDJ) veranstaltet wurde.
25
BArch DY 30/IV 2/2029/16. Kontrollen der Wirtschaftskommission [1960]. Verordnung über die Statuten der Vereinigung Volkeigener Betriebe vom 13.2. 1958, in: Weber: Dokumente zur Geschichte (Anm. 12), S. 233. 27 Vgl. BArch DY 30/IV 2/2029/117. Ausarbeitung der Wirtschaftskommission vom 25.4.1958. Der technisch-ökonomische Rat der VVB. 28 Vgl. BArch DY 30/IV 2/2029/117. Maßnahmen zur Verbesserung der sozialistischen Leitungsmethoden in den volkseigenen Betrieben, ausgearbeitet von der Arbeitsgruppe der Wirtschaftskommission „Ökonomik der Industrie“, 10.5.1958. 29 Hoffmann/Schmidt/Skyba: Die DDR vor dem Mauerbau (Anm. 16), S. 279. 26
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Ab April 1958 rückte die Erarbeitung längerfristiger Perspektiven auf die Agenda der Staatlichen Plankommission. Sie erarbeitete Richtlinien für eine Planung, die sich der gewünschten Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Zunahme der Investitionen zuwandten. Es herrschte durchaus eine realistische Einschätzung vor: Man glaubte, den bundesdeutschen Pro-Kopf-Verbrauch wichtiger Konsumgüter von 1956/57 in der DDR bis 1964/65 erreichen zu können.30 Diese Annahme trug dem Umstand Rechnung, dass sich der künftige Verbrauch der Bundesrepublik bestenfalls schätzen ließ.31 Im internen Gebrauch diente der genannte Zeitrahmen, abweichend von der öffentlichen Verlautbarungen, auch in der Folgezeit als Referenzpunkt.32 Einen gleichfalls abwartenden Grundton schlug ein Schreiben Walter Ulbrichts an die Führung der KPdSU vom 13. Mai 1958 an:33 Es ging unter anderem auf die strukturelle Investitionsschwäche der DDR-Wirtschaft ein, schloss aber dennoch mit der Skizze des ehrgeizigen Projektes der Überrundung des Westens hinsichtlich der Konsumgüterproduktion. Was als Widerspruch zwischen politischem Kalkül und verzerrter Selbsteinschätzung wirken konnte, löste sich in der Importstrategie auf, die die DDR zur neunten RGW-Ratstagung (Juni 1958) vorlegte. Die Planung der industriellen Produktion und die Verbesserung der Versorgung mit industriellen Konsumgütern beruhte auf höheren Wachstumsraten, als die DDR mit eigenen Mitteln erreichen konnte. Ganz offensichtlich verließ man sich auf die Unterstützung der Sowjetunion, vor allem hinsichtlich der Rohstoffversorgung. Ohne diese Importe schien die Erfüllung der wirtschaftlichen Hauptaufgabe unmöglich.34 Mit diesem Entwurf verließ die DDR-Regierung den Pfad der Mäßigung, der Ulbrichts ZK-Rede im Oktober 1957 noch ausgezeichnet hatte. Um die Zuversicht der Bevölkerung zu steigern, hob die Regierung am 28. Mai 1958 die letzten Rationierungsbestimmungen für Fleisch, Fett, Zucker und Milch auf. Diese Entscheidung löste einen unmittelbaren Anstieg der Nachfrage aus, dem eine Verteuerung der Waren auf den Fuß folgte.35 Für 1.350 g Fleisch, 900 g Fett und 1.200 g Zucker, die bislang für 8 Mark mit der Grundkarte erhältlich waren, musste der durchschnittliche Konsument nun rund 17 Mark im Monat ausgeben.36 Diese Teuerung wurde 1958 durch Preisnachlässe in den Läden der 30
Vgl. Sowart: Planwirtschaft (Anm. 2), S. 162. Vgl. Bruno Gleitze: Die Industrie der Sowjetzone unter dem gescheiterten Siebenjahrplan, Berlin 1964, S. 8. 32 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan (Anm. 6), S. 112. 33 Zum Folgenden vgl. Sowart: Planwirtschaft (Anm. 2), S. 172–182. 34 Vgl. auch André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 39. 35 Vgl. Jennifer Schevardo: Vom Wert des Notwendigen. Preispolitik und Lebensstandard in der DDR der fünfziger Jahre, Stuttgart 2006, S. 198. 36 Vgl. Dietrich Staritz: Geschichte der DDR, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1996, S. 170. 31
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Handelsorganisation (HO) sowie durch Lohnzulagen und soziale Beihilfen für Rentner kompensiert. Insgesamt stiegen die Nettolöhne im Verlauf des Jahres 1958 um rund sieben Prozent. Während sich die Bilanz von Teuerungen und Einkommensverbesserungen ausgeglichen liest, zeitigte die Aufhebung der Rationierung bisheriger Mangelwaren vor allem einen psychologischen Effekt: Die Verbraucher träumten nicht mehr nur von einem Konsumanstieg, sondern dieser schien nun Realität zu werden. IV. Proklamierung und Durchführung der „ökonomischen Hauptaufgabe“ Der SED waren die vorhandenen Defizite des Systems der wirtschaftlichen Lenkung und Planung bekannt. Trotz dieser Kenntnis handelte die DDR-Regierung nach der Grundüberzeugung, dass das eigene Wirtschaftssystem dem westlichen Kapitalismus prinzipiell überlegen sei. Man hielt die Probleme für lösbar, insbesondere wenn positive Appelle für eine zukunftsorientierte Stimmung sorgten.37 In diesem Sinne knüpfte Walter Ulbricht an die Euphorie des ersten Fünfjahresplanes an,38 als er auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 seine Erwartungen zur weiteren wirtschaftlichen Entwicklung formulierte: „Die ökonomische Hauptaufgabe besteht darin, die Volkswirtschaft innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen Herrschaft umfassend bewiesen wird. Deshalb muß erreicht werden, daß der Pro-Kopf-Verbrauch der werktätigen Bevölkerung an allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern höher liegt als in Westdeutschland.“39 Ulbrichts Rede wird als Schlüsselstelle bei der Proklamation der „ökonomischen Hauptaufgabe“ aufgefasst, die einen Schlusspunkt hinter die seit Oktober 1957 gestiegenen ökonomischen Erwartungen setzte. Offensichtlich sollte die Wirtschaftskraft ganz auf den Konsum der Bevölkerung ausgerichtet werden. Als Schlüssel zur Einleitung einer Wachstumsoffensive beschwor der Parteivorsitzende erneut die „Steigerung der Arbeitsproduktivität“, die auf drei Wegen erreichbar schien: a) durch die Entwicklung der Produktivkräfte, b) durch die Entfaltung der sozialistischen Wettbewerbs- und Aktivistenbewegung, c) durch die Vervollkommnung der sozialistischen Produktionsverhältnisse.
37
Vgl. Steiner: DDR-Wirtschaftsreform (Anm. 34), S. 38. Vgl. Dierk Hoffmann/Michael Schwartz: Politische Rahmenbedingungen, in: dies. (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: Deutsche Demokratische Republik 1949–1961. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus, Baden-Baden 2004, S. 68. 39 Aus dem Beschluß „Über den Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat“, angenommen auf dem V. Parteitag der SED, 10.–16.7.1958, in: Benser: Dokumente zur Geschichte der SED (Anm. 5), S. 231. 38
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Von einem Siebenjahrplan hatte Ulbricht noch nicht gesprochen, und auch beim nächsten Realisierungsschritt, der Ausgestaltung der Hauptaufgaben für 1959 durch die Plankommission, tauchte der Begriff noch nicht auf.40 Ende September 1958 beriet das Politbüro ein Positionspapier, das die hochgesteckten Prognosen aufgriff und eine Neuschätzung der industriellen Bruttoproduktion vornahm.41 Bis Ende 1958 wurde erwartet, dass sie um zwei Milliarden Mark und 1959 gar um fünf Milliarden Mark höher ausfallen werde, als es der laufende Fünfjahresplan vorsah. Die Staatliche Plankommission schlug eine entsprechende Korrektur der Planziele nach oben vor. Die Produktionssteigerung der Industrie sollte zugleich die Voraussetzungen zur Erfüllung der „ökonomischen Hauptaufgabe“ hinsichtlich der Verbesserung des privaten Konsums schaffen. Um die Übertragung auf den Konsumgütersektor zu erreichen, konzentrierte sich die Planung des Output-Anstiegs auf folgende Bereiche: Sicherung der Produktion hochwertiger Erzeugnisse der Metallurgie, Erhöhung der Aufgaben der chemischen Industrie, Minderung der Engpässe in der Verpackungswirtschaft, beschleunigte Rekonstruktion der Baumwollindustrie, Steigerung der Spanplattenproduktion zum Erreichen einer höheren Möbelproduktion. Weitere Schwerpunkte lagen in der Glasindustrie und dem Maschinenbau. Es herrschte die Überzeugung vor, dass durch diese Maßnahmen „eine bedeutend höhere Warenbereitstellung als im 2. Fünfjahrplan“42 gewährleistet werde. Nicht nur die Produktions-, sondern auch die Investitionsplanungen wiesen auf die Ziele der staatlichen Planer hin. Investitionen waren nicht nur für die Produktionssteigerung, sondern auch für die Diffusion von Innovationen von größter Bedeutung. Ihre Verteilung auf verschiedene Sektoren gibt über deren jeweilige Entwicklungsmöglichkeiten Aufschluss. Die in die Tabelle aufgenommenen Investitionsplanungen lassen eine doppelte Strategie erkennen. Eine Vernachlässigung der Investitionsgüterindustrien zugunsten der Konsumgüterindustrien fand nicht statt.43 Allein im Bereich des Kohlebergbaus waren die projektierten Summen rückläufig, ansonsten floss der größte Teil der Mittel wie schon zuvor in die verarbeitende Industrie und den Energiesektor. Die Schwerpunktbereiche der fünfziger Jahre wie das Berg- und Hüttenwesen behaupteten sich auf dem Durchschnitt des Investitionsniveaus aller Industriezweige, allein der Maschinenbau sollte unterdurchschnittlich wachsen. Die Schwerpunktsetzungen des dritten Fünfjahrplans wiesen große Ähnlichkeiten mit denen der vorhergehenden Planperioden auf. Die Finanzplanungen umfassten 40 In der bundesdeutschen Presse wurden die sowjetischen Vorstellungen eines Siebenjahrplanes zur Überholung der kapitalistischen Welt im August 1958 bekannt; vgl. Gleitze: Industrie der Sowjetzone (Anm. 31), S. 6 f. 41 Vgl. BArch Berlin DY 30/J IV 2/2/613a. Kurze Gesamtdarstellung der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR im 3. Fünfjahrplan, 30.9.1958. 42 Ebd. 43 Vgl. auch Gleitze: Industrie der Sowjetzone (Anm. 31), S. 11.
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Investitionsplanung der Staatlichen Plankommission für 1958–1965 Investitionssumme in Mio. Mark 1958 1 1a
Industrie gesamt Kohle
Indexwert 1960 Indexwert 1965 (1958=100) (1958=100)
5.080 1.300
127 108
185 81
1b Energie 1c Berg- und Hüttenwesen
935 472
131 138
286 186
1d Chemische Industrie 1e Maschinenbau
688 666
145 106
276 146
1f Leichtindustrie 1g Lebensmittelindustrie
272 139
134 99
206 130
2 3
Verkehr Landwirtschaft
1.615 1.263
101 133
176 166
4
Wohnungsbau
1.932
138
171
Quelle: BArch Berlin DY 30/J IV 2/2/613a. Kurze Gesamtdarstellung der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR im 3. Fünfjahrplan, 30. September 1958.
auch größere Verkehrsausbauten, v. a. des Eisenbahnnetzes und der Rostocker Hafenanlagen. Nach den Planungen im September 1958 stiegen die Investitionen 1959 um ca. 1,57 Milliarden Mark und 1960 erneut um 1,87 Milliarden Mark.44 Das Gesamtvolumen sollte im dritten Fünfjahresplan gegenüber dem zweiten um 62 Prozent wachsen (von 62,7 Milliarden auf 101,7 Milliarden Mark). Die größten Hoffnungen wurden in Technologie- und Maschineneinsatz, Rationalisierung und Spezialisierung gesetzt, denn als Hauptmerkmal der dritten Fünfjahresplanperiode galt, dass „der gesamte Zuwachs der Bruttoproduktion durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht werden muss.“45 Hierin floss die realistische Schätzung ein, dass die Zahl der Erwerbspersonen zwischen 1960 und 1965 um rund eine halbe Million zurückgehen würde. Daher müsse die Arbeitsproduktivität um die Hälfte zunehmen. Wie André Steiner anmerkt, befand sich die DDR-Staatsführung in einer „Zwickmühle“.46 Die Parteiführung wusste, dass die Investitionen im Vergleich mit westlichen Ländern und selbst mit den anderen RGW-Staaten zu niedrig waren. Gerade die Konsumgüterindustrie bedurfte größerer Investitionen, um die versprochenen Ergebnisse erreichen zu können. Außerdem wirkte die Erhöhung
44 Vgl. BArch Berlin DY 30/J IV 2/2/613a. Kurze Gesamtdarstellung der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR im 3. Fünfjahrplan, 30.9.1958. 45 Ebd. 46 Steiner: Von Plan zu Plan (Anm. 6), S. 111.
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der Investitionsquote kurzfristig negativ auf die Konsumquote zurück. Von den für den Konsum relevanten Industrien verzeichnete aber die Lebensmittelindustrie unterdurchschnittliche Steigerungsraten, während die Leichtindustrie hinsichtlich der Investitionen relativ besser gestellt wurde. Wie in der zweiten Spalte der Tabelle zu erkennen ist, starteten die beiden Sektoren allerdings von einem ausgesprochen niedrigen Investitionsniveau. Da dies mit entsprechend niedrigen Produktionskapazitäten korrespondierte,47 wäre eine stärkere Investitionslenkung in diese Sektoren notwendig gewesen, um realistische Aussichten zu haben, die Bundesrepublik hinsichtlich des Konsums zu überrunden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Investitionseinteilung stärker in den hergebrachten Bahnen bewegte, als die Propaganda von der „ökonomischen Hauptaufgabe“ es erwarten ließ. Die Konsumgüterproduktion genoss – bis auf wenige Ausnahmen – auch in der Planungsoffensive des Jahres 1958 keine politische Priorität. Wie die internen Erläuterungen zum Investitionsplan zeigten, richteten sich die Projektionen keineswegs starr auf die Hauptaufgabe aus. Die Planungskommission behielt andere Bereiche ebenfalls im Auge, z. B. die technologische und maschinelle Modernisierung („sozialistische Rekonstruktion“) sowie den infrastrukturellen Ausbau („sozialistische Territorialstruktur“). Konkret meinte letzterer Punkt eine Lenkung der Investitionen in bislang wenig berücksichtigte Gebiete v. a. im Norden der DDR.48 Offensichtlich zielten die Absichten der Parteiführung auf soziale Befriedung, aber zugleich auf den schnellen wirtschaftlichen und technischen Fortschritt in Gestalt der „sozialistischen Umwälzung“.49 Eingedenk dieser Probleme kamen Fachleute durchaus zu einer realistischen Einschätzung der Lage. Bruno Leuschner, der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, machte weit reichende Abstriche an den überoptimistischen Planungen, indem er bereits in der Politbürositzung im September 1958 darauf hinwies, dass die Überrundung der Bundesrepublik bis 1961/62 in Bezug auf manche Produktgruppen kaum zu erwarten sei. Seine Zweifel bezogen sich auf einige in der DDR begehrte Konsumartikel wie PKW, Kühlschränke, Südfrüchte, Kakao und Perlonstrümpfe.50 Die Planungsreform ging das Problem des Devisenmangels nicht grundsätzlich an, so dass mit vermehrten Einfuhren der gefragten Importwaren nicht zu rechnen war. In der PKW-Produktion war die Kostensituation wegen der Importabhängigkeit der Zulieferung besonders ungünstig, weil die Her47
Vgl. ebd., S. 108. Vgl. Prinzipien der Standortverteilung der Investitionen (Sitzung der Staatlichen Plankommission vom 20.10.1958), in: Matthias Judt (Hrsg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Bonn 1998, S. 153 f. 49 Vgl. Staritz: Geschichte der DDR (Anm. 36), S. 173. 50 Vgl. BArch Berlin DY 30/J IV 2/2/613a. Kurze Gesamtdarstellung der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR im 3. Fünfjahrplan, 30.9.1958. 48
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stellungskosten über den festgelegten Verkaufspreisen lagen.51 Aber selbst um die allgemeinen konsumpolitischen Ziele zu erreichen, musste ein Stützungsfonds zur Verbesserung der Lebenslage eingerichtet werden. Aus diesem Topf wurde im Dezember 1958 eine Summe von 1,2 Milliarden Mark für die Preissenkung von Lebensmitteln (Margarine, Sahne, Fischkonserven, Zucker, Reis), Genussmitteln (Kaffee) und Textilien (Baumwollgewebe) aufgewandt.52 Hinzu kamen 700 Millionen Mark, die der Staat für Lohnzusätze zahlte, um die Kaufkraft zu erhöhen. Diese Entscheidung macht deutlich, wie die Subventionspolitik zur Konsumhebung schon Ende 1958 der Produktionserhöhung mittels Investitionen diametral gegenüberstand.53 V. Von der Planungseuphorie zur Mauerkrise Überragende Ergebnisse vermochte die DDR-Wirtschaft allein im Bereich der industriellen Produktion zu verzeichnen: Diese stieg 1958 um 11 Prozent und 1959 noch einmal um 13 Prozent, was sogar die Erwartungen der Planer übertraf.54 Wie gesehen, waren die Investitionen verstärkt in die Industriesektoren geflossen, was diese guten Resultate zu erklären vermag. Ganz anders sahen die ersten Bilanzen in der Konsumgüterproduktion aus: Die weiterhin lückenhafte Versorgung ließ die systemimmanenten Mängel des Planungssystems zu Tage treten. Die Betriebe orientierten sich noch immer rein quantitativ auf die Erfüllung der Produktionspläne und berücksichtigten die Bedürfnisse der Konsumenten kaum. Das Preis- und Anreizsystem zeichnete sich durch größere Mängel aus. Aufgrund der fehlenden Nachfrageorientierung hielt der Missstand der „Überplanbestände“ an, d.h. dass in manchen Warengruppen mehr produziert wurde, als dem effektiv an Nachfrage der Käufer gegenüberstand. Zum Beispiel belief sich Ende 1959 die in den Lagern verbleibende Menge an Textilien auf 11 Prozent der in diesem Jahr abgesetzten Ware.55 Die Konsumenten kauften die in der DDR produzierte Bekleidung häufig nicht mehr, weil sie zunehmend Wert auf Qualität legten und sich an Modemustern orientierten, die westlichen Standards entsprachen. Die Absicht der Planer, dass „gleichlaufend mit der mengenmäßigen Entwicklung auch die modische und farbige [sic!] Gestaltung entschie-
51
Vgl. Prokop: DDR am Scheideweg (Anm. 1), S. 77 f. Vgl. BArch Berlin DY 30/J IV 2/2a/670. Beschluss des Politbüros vom 2.12.1958. 53 Vgl. zum Anwachsen des Subventionsvolumens: André Steiner: Leistungen und Kosten: Das Verhältnis von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Sozialpolitik in der DDR, in: Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hrsg.): Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/ 49–1989, München 2005, S. 38–45. 54 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan (Anm. 6), S. 112. 55 Vgl. ebd., S. 108. 52
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den verbessert werden“ müsse,56 reichte nicht aus, um eine Konsumentenorientierung in der Textilbranche zu bewirken. Eine höhere Leistungsfähigkeit war durch ständige Appelle an die sozialistische Gesinnung nicht zu erreichen. Es fehlte an einem Instrumentarium, um die institutionellen Schwächen des Wirtschaftssystems zu überwinden. Die Anreize für Betriebe zu höherer Leistung waren nach wie vor zu schwach ausgeprägt, und die 1958 durchgeführten organisatorischen Reformversuche beseitigten die grundlegenden Ineffizienzen nicht. Erst 1963 begegnete die SED den erkennbaren systemimmanenten Mängeln mit dem Übergang zum Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung. Die Krise des Systems der Lenkung der Volkswirtschaft konnte außenwirtschaftlich nicht abgefangen werden. Die hochgesteckten Planerwartungen gingen von großzügigen Hilfen der Sowjetunion und anderer Ostblockländer aus, die diese nicht zu leisten bereit waren.57 Im Gegenteil blieben Lieferwünsche an die UdSSR unerfüllt und dies ab 1959 mit steigender Tendenz, so dass das Importvolumen nur um ca. zwei Prozent zunahm. Lediglich die Stationierungskosten für das sowjetische Militär wurden der DDR ab 1959 erlassen, was den Spielraum für Importe, v. a. Rohstofflieferungen, leicht erhöhte. Die gewünschten Devisen, die für die Erfüllung von Konsumwünschen nach Südfrüchten, Kaffee oder Zucker notwendig waren, ließen sich auf diese Art nicht beschaffen. Dies galt umso mehr, als die Importe aus der Bundesrepublik im Verlauf der einsetzenden Wirtschaftskrise um ca. 10 Prozent zurückgingen.58 Die 1958/59 noch positiv erscheinende Wirtschaftslage, die vom Wachstum des industriellen Sektors getragen war, setzte sich Anfang der 1960er-Jahre nicht fort. Die Wachstumsrate des Nationaleinkommens fiel von 6,6 Prozent (1960) auf 1,5 Prozent (1961).59 Als weiteres Krisenmerkmal kam der Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion hinzu, der maßgeblich auf die Kollektivierung zurückzuführen war.60 Die Folgen für die agrarische Produktion waren desaströs: Statt des erhofften „Sprungs nach vorn“ sorgte die Abwicklung der Reste privater Landwirtschaft für einen Rückgang der Erträge an Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben und Schlachtvieh. Das Warenangebot für die Bevölkerung verschlechterte sich merklich, und immer wieder fehlte es selbst an den wichtigsten Grundnah-
56 BArch Berlin DY 30/J IV 2/2/613a. Kurze Gesamtdarstellung der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR im 3. Fünfjahrplan, 30.9.1958. 57 Dieses Argument wird überbetont in: Sowart: Planwirtschaft (Anm. 2), S. 181– 186. 58 Vgl. Staritz: Geschichte der DDR (Anm. 36), S. 177; Steiner: Von Plan zu Plan (Anm. 6), S. 112. 59 Vgl. Steiner: Statistische Übersichten (Anm. 21), S. 63. 60 Vgl. Hermann Weber: Geschichte der DDR, 2. Aufl., München 2000, S. 213–216; Steiner: Von Plan zu Plan (Anm. 6), S. 115–119.
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rungsmitteln. Des weiteren traten Lücken in der Versorgung mit manchen Textilien und Schuhen auf. Der volkswirtschaftliche Schaden durch die Abwanderung nahm immer mehr zu. Zwar hatte die Staatliche Plankommission für 1960 realistisch mit 60.000 und für 1961 mit 40.000 „Republikflüchtlingen“ gerechnet, doch die realen Zahlen bewegten sich in ganz anderen Größenordnungen. Nach einem Abflauen der Wanderungsbewegung 1958/59 überschritten 1960 wieder über 200.000 Personen die Grenze nach Westen, und im ersten Halbjahr 1961 waren es nochmals 130.000. Der allein dadurch entstandene Produktionsausfall der DDR-Industrie kann auf 2,5 bis 3 Milliarden Mark geschätzt werden.61 Ohne Hilfe der Sowjetunion und der anderen Blockstaaten stand die DDR vor erheblichen Stabilitätsproblemen. Es drohte eine Katastrophe der DDR-Wirtschaft: Die Erfüllung des Siebenjahrplans war illusorisch, und Ulbricht kam nicht umhin, dieses Scheitern gegenüber Moskau einzugestehen. Die Planziele wurden im Mai 1961 erheblich gesenkt.62 Um die anhaltenden Substanzverluste, besonders an qualifizierten Arbeitskräften, einzudämmen, setzte die DDR-Führung gegenüber der sowjetischen Hegemonialmacht zum 13. August 1961 den Mauerbau durch. VI. Schlussbilanz Die Wirtschaftskrise, die zum Mauerbau führte, fußte in den überzogenen Zukunftserwartungen, die sich seit Oktober 1957 entwickelten. Nach den Vorstellungen der DDR-Staatsführung sollte sich die Planwirtschaft als überlegene Alternative zum historisch überlebten marktwirtschaftlichen System bewähren. Die Überschätzung der eigenen Potentiale, gepaart mit einer zu hoch erwarteten Unterstützungsleistung der Sowjetunion, führte zu einem Investitionsschub, dessen Schwerpunkt aber keineswegs in den konsumrelevanten Sektoren lag. Noch stärker auf ideologische Gründe zurückzuführen war die Krise des Agrarsektors. Hier führte die Forcierung der Kollektivierung zu Produktionsausfällen, die gravierende Engpässe in der Nahrungsmittelversorgung nach sich zogen. In Teilen hatte die Situation der Jahre 1960/61 auch Züge einer Erwartungskrise. Die Gründe für die Unzufriedenheit und die erneut stark anschwellende Abwanderung lagen in der Spanne zwischen den optimistischen Erwartungen und den im Vergleich dazu nur langsam verlaufenden gesellschaftlichen Entwicklungen. Immerhin stieg die Produktion wichtiger Gebrauchsgüter, z. B. von Elektrogeräten, einzelnen Bekleidungs- und Textilwaren und Möbeln, sogar noch während der Krisenperiode, wenn auch eine erhebliche Verlangsamung des Wachstums eintrat und Qualitätseinbußen zu beklagen waren.63 Psychologisch 61 62 63
Vgl. Staritz: Geschichte der DDR (Anm. 36), S. 194. Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan (Anm. 6), S. 120. Vgl. Gleitze: Industrie der Sowjetzone (Anm. 31) , S. 233, 241, 259 f. und 287.
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fatal waren allerdings die Produktionsrückgänge im Nahrungsmittelsektor, insbesondere bei Fett, Butter, Fleisch und Zucker.64 Der gestiegenen Erwartungshaltung konnte die Realität somit in keiner Weise gerecht werden. Da zudem die Propaganda auf ein Höchstmaß gesteigert worden war, breitete sich die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen schneller als zuvor aus. Die übrigen sozialistischen Länder durchliefen vergleichbare Krise, weil sie die euphorische Aufbruchstimmung gemeinsam erfasst hatte. In die größte Katastrophe manövrierte sich die Volksrepublik China, wo das Scheitern des „Großen Sprungs nach vorn“ in einer Hungersnot größten Ausmaßes endete. Es folgte eine tiefe Krise des Außenhandels im sozialistischen Lager, die auch die ausgebliebene Unterstützung der Sowjetunion zu erklären vermag.65 Insofern gab es kaum einen Spielraum für eine „außenwirtschaftliche Stabilisierungsstrategie“.66 Die Internationalität der Krise lässt die ernsten Allokationsprobleme erkennen, wenn Planwirtschaften aufgrund unrealistischer Prognosen die Richtschnur des proportionalen gelenkten Aufbaus verlassen. Während in der DDR die Produktion mancher Textilwaren, z. B. von Teppichen und Baumwollgeweben, gesteigert werden konnte, traten in anderen Bereichen, z. B. in der Wollwarenherstellung, Produktionsausfälle auf.67 Auch wenn die Krise in anderen sozialistischen Staaten wesentlich dramatischer ausfiel, „stolperte“ die DDR in einer drastischen Weise, die Ulbricht im Oktober 1957 ahnungslos denjenigen prophezeit hatte, die versuchten, „traumwandlerisch einen Sprung zu machen“.68
64
Vgl. ebd., S. 242. Vgl. Ulrich Menzel: Wirtschaft und Politik im modernen China. Eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von 1842 bis nach Maos Tod, Opladen 1978, S. 91–93. 66 Sowart: Planwirtschaft (Anm. 2), S. 190. 67 Vgl. Gleitze: Industrie der Sowjetzone (Anm. 31), S. 262. 68 Referat Walter Ulbrichts auf der 33. ZK-Tagung vom 16.10.1957 (Anm. 5), S. 219. 65
Der zweite Weg zum Sozialismus Das Agrarprogramm Kurt Viewegs und Marga Langendorfs und die Krisenanalyse im Jahr 1957 Von Kyra T. Inachin I. Einleitung Am 18. März 1957 entschied die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) auf ihrer 147. Sitzung über den Parteiausschluss des Agrarwissenschaftlers Professor Kurt Vieweg und seiner Assistentin Marga Langendorf wegen ihrer Versuche, „die Einheit der Partei zu untergraben“.1 Sie hätten „konterrevolutionäre Vorschläge für die Agrar-Politik ausgearbeitet“ und versucht, „die Parteiorganisation des Instituts für Agrar-Ökonomie zu einer parteifeindlichen Gruppe zu organisieren“.2 Vieweg wurde vorgeworfen, er habe in einer Situation, „in der die Reaktion ihre konterrevolutionäre Tätigkeit in Ungarn aufs Höchste entfaltete, um die sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen zu beseitigen und die Partei alle revisionistischen und feindlichen Bestrebungen auf das Entschiedenste bekämpfte“, begonnen, „offen Vorschläge zur Agrar-Politik zu verbreiten, die im Gegensatz zur Generallinie der Partei“ stünden. Seine Assistentin wurde beschuldigt, sie unterstütze und bestärke Kurt Vieweg „in der Ausarbeitung konterrevolutionärer Vorschläge für die Agrarpolitik“ und setze „sich eifrig für deren Durchführung in der Parteiorganisation ein“.3 Auslöser für dieses Parteiverfahren war ein von Kurt Vieweg und Marga Langendorf ausgearbeitetes „Neues Agrarprogramm für die Entwicklung der Landwirtschaft beim Aufbau des Sozialismus in der DDR“.4 Bereits in den ersten Sätzen dieses Agrarprogramms betonten die Autoren, dass sie „dem Ziel des Sozialismus, ohne Ausbeutung den Menschen zu ständig wachsendem Wohlstand zu verhelfen“, dienen wollten. Dieses Ziel müsse jedoch von der „Masse der Werktätigen verstanden und aus tiefer Überzeugung heraus gebilligt werden“. Denn ohne die bewusste und aktive Teilnahme der überwiegenden Mehrheit der Bevöl1 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen (SAPMO), Bundesarchiv (BA), DY 30/IV 2/4/396; Bl. 92, 226. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 1 ff.
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kerung „kann die Sache des Sozialismus nicht siegen“. Sie glaubten erkannt zu haben, dass in der DDR die Mehrheit der Bauern die genossenschaftliche Großproduktion ablehnte und die „Beibehaltung ihrer individuellen Wirtschaften“ anstrebte. Folglich betrachteten diese Bauern „die vor allem seit 1952 durchgeführte Agrarpolitik als einen direkten bzw. indirekten Zwang zur Kollektivierung“ und verhielten sich „aus diesem Grunde dem Aufbau des Sozialismus gegenüber ablehnend“. „Ein dauerhaftes Bündnis zwischen den Arbeitern und Bauern setzt aber voraus, daß die Bauern von der Zweckmäßigkeit und Richtigkeit des Weges zum Sozialismus überzeugt sind und darin auch für sich die erstrebenswerte Perspektive erblicken“. Es sei notwendig, die „nationalen Besonderheiten“ und „historischen Bedingungen, unter denen sich der Aufbau des Sozialismus in der DDR vollzieht“, einzubeziehen und „eine grundsätzliche Änderung in der bisherigen Agrarpolitik herbeizuführen“. Folglich plädierten Vieweg und Langendorf dafür, nicht mit alten landwirtschaftlichen Produktionsmethoden und Familientraditionen zu brechen. Die Agrarpolitik der DDR müsse „künftig von dem Grundprinzip ausgehen, daß ein sozialistischer Staat auch über einen historisch langen Zeitraum auf dem Nebeneinanderbestehen zweier Wirtschaftsformen in der Landwirtschaft beruhen kann: einerseits auf dem staatlichen und genossenschaftlichen Sektor und andererseits auf einem großen Sektor einzelbäuerlicher Familienbetriebe.“ Dementsprechend müsse neben einer „sinnvollen Förderung der LPG“ auch Familienbetrieben die Möglichkeit gegeben werden, ihre Betriebe mit moderner Technik auszustatten, so dass sie „ohne Verwendung fremder Arbeitskraft hohe Produktions- und Marktleistungen hervorbringen können“.5 Nach Auffassung der ZPKK unterbanden solche nonkonformen Ansichten zur Agrarpolitik die sozialistische Entwicklung in der Landwirtschaft der DDR. Stattdessen würden „die kapitalistischen Elemente auf dem Lande gestärkt und alle Voraussetzungen für die Wiederherstellung der alten Verhältnisse geschaffen“. Daraus folgernd erklärte die ZPKK: Sein „ständiges Handeln gegen die Beschlüsse der Partei, seine zersetzende Tätigkeit mit dem Ziel, eine konterrevolutionäre Plattform gegen die Partei aufzubauen, kennzeichnen Vieweg als Feind der Partei“.6 In der Begründung für Marga Langendorfs Parteiausschluss heißt es korrespondierend: „Sie erklärte sich mit allen Handlungen des Kurt Vieweg, die darauf abzielten, die sozialistische Entwicklung der Landwirtschaft aufzugeben und statt dessen eine konterrevolutionäre Politik durchzusetzen, einverstanden. Sie selbst setzte sich dafür ein, die Parteiorganisation für diese konterrevolutionären Vorschläge zur Agrarpolitik als Basis zum Vorgehen gegen die Partei zu organisieren. Die Ablehnung der Generallinie der Partei, die Nichtanerkennung der 5 Ebd., Bl. 4 f.: Neues Agrarprogramm für die Entwicklung der Landwirtschaft beim Aufbau des Sozialismus in der DDR. 6 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/463, ZPKK-Beschluss 18.3.1957; DY 30/IV 2/4/396, Bl. 92–93.
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Beschlüsse und ihre zersetzende Tätigkeit mit dem Ziel, eine Plattform gegen die Partei aufzubauen, sind unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der Partei.“ Mit dem Ausschluss aus der SED war Viewegs und Langendorfs berufliches und politisches Schicksal besiegelt. Zwei Tage nach dem Ausschluss musste Vieweg den Präsidenten Wilhelm Pieck ersuchen, seine Ernennung zum ordentlichen Akademiemitglied zurückzunehmen und dem Präsidium der Landwirtschaftsakademie offenbaren, dass sein Fall Angelegenheit der SED sei. Vieweg befürchtete sogar verhaftet zu werden. Er nahm die entsprechende Warnung eines Freundes ernst und flüchtete nach Westdeutschland. Marga Langendorf begleitete ihn. Um die Auseinandersetzung um Kurt Viewegs und Marga Langendorfs Agrarprogramm zu rekonstruieren, soll zunächst der Frage nachgegangen werden, inwieweit Viewegs rascher Aufstieg in der Parteihierarchie und die eng damit verbundene steile wissenschaftliche Karriere mit seinem Sturz 1957 zusammenhängen. Herangezogen werden in diesem Zusammenhang Viewegs wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Agrarpolitik, die Akten in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin7 sowie seine Personalakte im Universitätsarchiv Greifswald. Anhand seiner Kaderakte, der Einschätzungen des MfS und der westlichen Presse wird zu diskutieren sein, ob die SED-Führung Vieweg fürchten musste und er in eine Reihe mit Wolfgang Harich oder Imre Nagy zu stellen ist. Schließlich werden Viewegs und Langendorfs Reaktionen auf die Angriffe anhand ihrer Aussagen im Parteiausschlussverfahren beleuchtet. In diesem Zusammenhang steht ihre Motivation: Vieweg und Langendorf betonten in vielen, der Verbreitung ihres Agrarprogramms folgenden, Befragungen, dass sie durch den XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und die Ereignisse in Polen und Ungarn zu ihrem Reformkonzept motiviert worden seien. Es wird folglich zu fragen sein, welchen Einfluss der XX. Parteitag, auf dem die sowjetische Führung mit Stalin und dem Stalinismus gebrochen und neue ideologische Konzepte vorgestellt hatte, auf die Intellektuellen der DDR hatte, ferner ob die Agrarreformen in Polen unter dem wieder eingesetzten Władisław Gomułka, der die einseitige Förderung der Kollektivwirtschaften beendet hatte, Einfluss auf die Agrarpolitik der DDR hatte. Kurt Viewegs und Marga Langendorfs Biographien sind in vieler Hinsicht beispielhaft. Nach eigenen Aussagen waren sowohl der Schock des XX. Parteitags 7 Im Bundesarchiv Berlin wurden folgende Bestände für die Recherche herangezogen: RY 1/2-3/127, Bl. 61–69: KPD; R 58/3291, Bl. 43–62: Reichssicherheitshauptamt; R 58/3211, Bl. 13, 22: Reichssicherheitshauptamt; DY 30/2/4/393: SED; DY 30/ 2/4/396: SED; DY 30/2/4/463: SED; DY 30/2/11/2586: SED; DA 1/1377: Volkskammer, Bl. 350; DR 3: Min. für Hoch- und Fachschulwesen; DA 1: Volkskammer der DDR, Abgeordnetenkabinett; DA 5: Staatsrat der DDR, Gnadensachen; DA 1/1830 und 1895: Abgeordnetenmappe Kurt Vieweg 1949–1954; DA 5/1944: Gnadensache Kurt Vieweg 1964; NY 4182: Nachlass Walter Ulbricht; NY 4090: Nachlass Otto Grotewohl; DY 19: VdgB; DK 1: Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft; DK 107: Akademie der Landwirtschaftswissenschaften.
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als auch die agrarpolitischen Reformen in Polen für beide Auslöser für eine persönlich vollzogene Neubewertung ihres Verhältnisses zur SED und der Agrarpolitik der DDR. Bis dahin gehörte insbesondere Kurt Vieweg zu den vom Stalinismus geprägten Kommunisten, die sich mit voller Überzeugung und bis zur Selbstaufopferung in den Dienst der kommunistischen Sache gestellt, der Parteidisziplin gebeugt und im besten Sinne als „Parteisoldaten“ betätigt hatten. Tatsächlich hatte Vieweg innerhalb dieses Systems politisch und beruflich Karriere gemacht: Nach der Rückkehr aus der Emigration war er rasch in der SED-Hierarchie aufgestiegen, als Sekretär des Zentralkomitees der SED und Generalsekretär der Bauernorganisation. Parallel dazu machte er eine rasante wissenschaftliche Karriere, die in der Ausarbeitung eines landwirtschaftlichen Reformprogramms gipfelte.8 Er war durch den Stalinismus geprägt, wusste also, welche Konsequenzen abweichendes Verhalten nach sich ziehen würde und hatte sich bis dahin nicht zu den innerparteilichen Säuberungsaktionen geäußert. Erst nach den Enthüllungen des Generalsekretärs der KPdSU überdachte er, nach eigenem Bekunden, die eigene Arbeit. Nikita Chruschtschows neue ideologische Konzepte, die eine friedliche Koexistenz der verschiedenen Gesellschaftssysteme und alternative Wege zum Sozialismus implizierten, weckten in ihm sogar die Hoffnung auf eine alternative Deutschlandpolitik der DDR.9 Damit stellte er sich auf die Seite der prominenten Kritiker Walter Ulbrichts, der einen harten Kurs gegen politisch Andersdenkende einschlug und innerparteiliche Konkurrenten als „Opponenten“ bis 1958 abstrafte.10 In letzter Konsequenz steht die Flucht Viewegs und Langendorfs in den Westen. Damit wurde ihre Kriminalisierung vereinfacht oder zumindest begünstigt. Dass sie zurückkehrten, sich der DDR-Justiz stellten und für viele Jahre ins Gefängnis gingen – Vieweg wurde wegen schweren Staatsverrats zu zwölf Jahren, Marga Langendorf zu sieben Jahren Haft verurteilt – macht ihre Biographien ebenfalls beispielhaft für Funktionäre, die nach außen selbstbewusst und mutig auftraten, nach innen in einem langen Prozess ideologischer Indoktrination nur noch als Befehlsempfänger funktionierten. Als „Parteifeinde“ und „Abweichler“ beschimpft und aus dieser Gemeinschaft ausgestoßen, sahen sie sich nicht als Gegner des Systems und der Partei. So arbeitete Vieweg nach seiner Entlassung erneut für den Geheimdienst und setzte seine wissenschaftliche Karriere in Greifswald fort. Viewegs Biographie ist somit ein Aspekt der Geschichte der Machtkämpfe im SED-Apparat nach Stalins Tod. Das Schicksal des ehemaligen Sekretärs für Landwirtschaft des ZK, Kurt Vieweg, gilt dafür als eines der prominentesten Beispiele, gewürdigt in der For8 Zur Biographie vgl. Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004, S. 817 f.; Michael Scholz: Bauernopfer der deutschen Frage. Der Kommunist Kurt Vieweg im Dschungel der Geheimdienste, Berlin 1997. 9 Vgl. Hermann Weber: Geschichte der DDR, München 1985, S. 275–283. 10 Vgl. ebd., S. 283–296.
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schung zur Agrargeschichte der DDR und in der von Michael Scholz verfassten Biographie.11 Die an der Ausarbeitung des Agrarprogramms beteiligte studierte Wirtschaftswissenschaftlerin Marga Langendorf steht im Schatten ihres zehn Jahre älteren Chefs. Ihr werden lediglich assistierende Kompetenzen zugestanden. Dabei deutet vieles darauf hin, dass sie in hohem Maße an der Ausarbeitung des Programms beteiligt war. So betonte Vieweg: „Die einzige, die größere Verantwortung an der Ausarbeitung trägt, ist die Genn. Langendorf, während ich den Hauptteil an dieser Sache trage.“12 Auch die Einschätzung der ZPKK und des MfS lässt darauf schließen, dass Langendorf sogar der theoretische Kopf des Teams war.13 II. Das Neue Agrarprogramm Bis zu der kurzfristig getroffenen Entscheidung zur Flucht war Kurt Vieweg sehr selbstbewusst aufgetreten und hatte sein Programm, das er auf Druck seiner Gegner als „Entwurf“ bezeichnete, eloquent verteidigt. Er sah sich als Fachmann, der mit wissenschaftlichen Analysemethoden zu nachprüfbaren Ergebnissen gelangt war, die er mit renommierten Kollegen auf internationalen Kongressen diskutiert hatte. Kurt Vieweg leitete das 1953 gegründete Institut für Agrarökonomik an der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften. Er selbst bezeichnete sein Institut als Leiteinrichtung für die agrarökonomische Forschung der DDR14 und hielt sich mit Kritik an der Agrarpolitik der DDR, der landwirtschaftlichen Praxis in der Sowjetunion und den Volksdemokratien nicht zurück. Und er betonte stets, dass neben dem Marxismus-Leninismus die „Erkenntnisse der großen Wissenschaftler der Vergangenheit auf dem Gebiete der Agrarökonomik“ die Grundlage seiner Forschungsarbeit bildeten. Er war davon überzeugt, dass die Erkenntnisse der klassischen Agrarökonomie durchaus für die Landwirtschaft der DDR nutzbar gemacht werden könnten und die alten Methoden Vorbildcharakter hätten. Vieweg schätzte vor allem den Nationalökonomen und Begründer der landwirtschaftlichen Betriebswirtschaftslehre Johann Heinrich von Thünen (1783–1850) und stand mit dem Thünen-Forscher an der Universität Rostock, Professor Asmus Petersen, Mitglied der DAL, Sektion Agrarökonomik und Leiter des Thünen-Archivs, in Kontakt. 11
Vgl. Michael Scholz: Bauernopfer (Anm. 8), Berlin 1997. SAPMO, BA, Dy 30/IV 2/4/396, Bl. 67: Protokoll über die Befragung des Genossen Vieweg am 5.2.1957. 13 Bauer verweist in einer Fußnote auf dieses Forschungsdesiderat. Vgl. Theresia Bauer: Blockpartei und Agrarrevolution von oben. Die Demokratische Bauernpartei 1948–1963, München 2003, S. 418. 14 Kurt Vieweg: Die Aufgaben des neugegründeten Instituts für Agrarökonomik, in: Die deutsche Landwirtschaft (1953), Heft 10, S. 506 ff. 12
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Kurt Viewegs Engagement wurde von der SED hoch geschätzt und verhalf ihm zu einem raschen beruflichen Aufstieg: Am Nationalfeiertag, dem 7. Oktober 1955, empfing er für die Mitarbeit am „Handbuch des Genossenschaftsbauern“ den Nationalpreis Zweiter Klasse. Er und das Kollektiv hätten, so heißt es in der Laudatio, ein „bleibendes Verdienst um die Förderung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“ erworben. Wenige Tage später, am 15. Oktober 1955, verteidigte Vieweg seine Dissertation zum Thema „Untersuchungen über die Methodik der planmäßigen Standortverteilung der landwirtschaftlichen Produktion in der DDR“ mit „Summa cum laude“.15 Es folgte seine Habilitation „Zur Theorie der Standortverteilung und der landwirtschaftlichen Produktion unter sozialistischen Produktionsbedingungen“ und die Berufung zum Akademieprofessor. Völlig unbeeindruckt davon, dass er auf dem IV. Parteitag der SED (30.3.– 6.4.1954) nicht wieder in das ZK gewählt worden war, konzentrierte sich Vieweg auf seine Forschungen und reiste 1955 mit anderen DDR-Agrarwissenschaftlern nach Schweden und Dänemark, Länder, die er aus seinen Jahren im Exil kannte.16 Auf die dort gewonnenen Erkenntnisse aufbauend machte er Vorschläge für die Landwirtschaft der DDR auf Grund der von den Delegationsteilnehmern gesammelten Erfahrungen. Er forderte die Erforschung der schwedischen Landwirtschaft. Die Ergebnisse könnten Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen sein: „Als wichtigstes Resultat der Erfahrungen aus Schweden wie auch aus Dänemark muß eine grundlegende Reorganisierung, Veränderung der Arbeitsmethode und Qualifizierung im Beratungswesen der DDR vorgenommen werden.“17 Daraus resultierten erste Überlegungen zu einer praktizierbaren alternativen Agrarpolitik, welche die Landwirtschaft der DDR aus der Krise führen sollte. Als Sekretär des Zentralkomitees hätte sich Vieweg eine solch grundsätzliche Kritik an der DDR-Agrarpolitik wohl noch erlauben können, als Institutsdirektor jedoch nicht mehr.18 Einige Institutsmitarbeiter zeigten sich empört darüber, dass Vieweg mit seinen Reformvorschlägen die Parteihierarchie durchbrach und wandten sich im Dezember 1955 „mit der Bitte um Hilfe und Unterstützung bei der Durchsetzung der Politik der Partei und Regierung in unserem Institut“ an die ZPKK. Um dem Bericht mehr Substanz zu geben, verwiesen sie auf die undurchsichtige Vergangenheit ihres Chefs und unterstellten ihm, dass er ein „Werkzeug in den Händen feindlicher Agenten“ geworden sei. Aufgrund seiner ideologi-
15
Universitätsarchiv Greifswald, Personalakte Vieweg, Lebenslauf, 26.12.1970. Vgl. SAPMO, BA, NY 4 182/1 070 (Nachlass Ulbricht), Vorläufige Gesamtauswertung der Reise der Agrarwissenschaftler der DDR nach Schweden, Institut für Agrarökonomik, 18.1.1956. 17 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/395: Broschüre „Bericht über die schwedische Landwirtschaft, S. 98 f. 18 Zu diesem Schluss kommt Scholz: Bauernopfer (Anm. 8), S. 179. 16
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schen und charakterlichen Schwächen sei Vieweg das „Haupthindernis“ für ihre politische und fachliche Arbeit. Die Schreiber beklagten Viewegs „Verdrehungsund Entstellungskunst“, sie kritisierten, dass Vieweg sich mit seinem guten Verhältnis zu führenden Genossen wie Walter Ulbricht, Erich Mückenberger und Heinrich Rau brüste und warfen ihrem Chef vor, dass er „nicht aufrichtig“ mit ihnen arbeite. Sie bemängelten auch die Kaderzusammensetzung am Institut, da nur die Hälfte der Mitarbeiter der SED angehöre. Statt die jungen, marxistisch ausgebildeten Kader – also sie selbst – zu fördern, bevorzuge Vieweg die alten bürgerlichen Spezialisten. Um sicher zu gehen, dass Vieweg aus seiner Position entfernt würde, unterstellten sie ihm eine Affäre mit seiner Assistentin Marga Langendorf. Sie hätten „enge, undurchsichtige Verbindungen“. Da Langendorf aus bürgerlichen Verhältnissen stamme, übe sie auf Vieweg einen „negativen Einfluß“ aus.19 In der Erkenntnis, dass sowohl persönliche Machtkämpfe am Institut als auch ideologische Diskussionen in der herrschenden Wirtschaftskrise kontraproduktiv sein würden, entschied die SED-Führung, Viewegs professionelles Wissen weiterhin zu nützen und nicht auf die Anschuldigungen zu reagieren. Vieweg selbst zeigte sich unbeeindruckt. Er unternahm Studienreisen ins Ausland und arbeitete weiter an einer Reform der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse. Ferner sah er sich durch die von der 3. Parteikonferenz (24.–30.3.1956) bestätigte Direktive für den zweiten Fünfjahrplan, die als wichtigstes Element die Modernisierung der Wirtschaft durch eine „wissenschaftlich-technische Revolution“ vorsah, bestärkt. Die industrielle Bruttoproduktion sollte bis 1960 um „wenigstens 150 Prozent des Standes von 1955“ und das Volkseinkommen um 45 Prozent gesteigert werden.20 Diese erforderte Produktionssteigerungen, die durch den Übergang der Bauern zur genossenschaftlichen Großproduktion und die Einführung moderner Technik in den landwirtschaftlichen Betrieben erreicht werden sollten.21 Ulbricht erklärte die Weiterführung der Kollektivierung, stellte aber auch Unterstützungsmaßnahmen für die private Landwirtschaft in Aussicht. Dass etliche landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) schwach und zurückgeblieben und damit für Einzelbauern wenig attraktiv waren, war bekannt. Statt diese aufzulösen, wie Vieweg es forderte, sollten die LPG gezielt gefördert werden.
19 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/395, Rothe/Welack/Zierold an die ZPKK, 29.12. 1955. 20 Protokoll der 3. Parteikonferenz der SED, S. 62. 21 Vgl. Protokoll der 3. Parteikonferenz, Bd. 1, S. 113; Bd. 2, S. 1029; vgl. auch Weber: Geschichte der DDR (Anm. 9), S. 279 f.
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III. „Ich habe das für die Partei gemacht“22 – die Agrarpolitiker Vieweg und Langendorf Seit 1956 wurde Kurt Vieweg zunehmend ausgegrenzt. So gehörten weder Vieweg noch ein anderer Vertreter des Instituts für Agrarökonomik der in Zusammenhang mit der Einrichtung von Arbeitsgruppen zur Untersuchung der ökonomischen Fragen gebildeten Agrarkommission beim Zentralkomitee an.23 Stattdessen übernahm Erich Mückenberger deren Vorsitz. Mückenberger, ein Jahr älter als Vieweg und gelernter Schlosser, war bereits Viewegs Nachfolger im Amt des ZK-Sekretärs für Landwirtschaft geworden24 und hatte ein besonderes Augenmerk auf den Agrarwissenschaftler, der öffentlich Kritik an der praktizierten Agrarpolitik übte. Viewegs Argumentation orientierte sich an den krisenhaften Entwicklungen, die 1956 bereits weit fortgeschritten und damit sowohl der Agrarkommission als auch dem Landwirtschaftsministerium bekannt waren.25 Wie von Vieweg prognostiziert, hatte die Kollektivierung nicht den erwarteten Erfolg gehabt. Seine Erkenntnis, dass viele LPG wirtschaftlich schwach waren, wurde durch die umfangreichen Haushaltsmittel, die bereitgestellt werden mussten, dokumentiert. Produktionsrückgänge wurden jedoch akzeptiert und den LPG weitere Förderung versprochen. Statt Viewegs Vorschlag, schwache LPG aufzulösen, zu folgen, beharrten die Verantwortlichen jedoch weiterhin auf deren Förderung. Und etliche privat wirtschaftende Bauern, von denen Vieweg behauptete, sie würden der DDR kritisch gegenüberstehen, verließen lieber die DDR, als sich von der genossenschaftlichen Produktion überzeugen zu lassen. Schließlich wurde die Krise 1956 durch die Ereignisse in Polen und Ungarn weiter verschärft, da Rohstofflieferungen ausgefallen waren und die DDR nur unzureichend mit Produktionsmitteln beliefert werden konnte. Die Frage, ob die Versorgung der Bevölkerung in der DDR auch in Zukunft gesichert sei, blieb unbeantwortet.26
22
SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 83. Vgl. Christel Nehrig/Lothar Nozeczka: Die Weiterentwicklung der Agrarpolitik der SED 1956/57, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12 (1985), S. 1090 f. 24 Wer war Wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch, hrsg. v. Bernd-Rainer Barth u. a., Frankfurt a. M. 1995, S. 517. 25 Vgl. Dieter Schulz: „Kapitalistische Länder überflügeln“. Die DDR-Bauern in der SED-Politik des ökonomischen Wettbewerbs mit der Bundesrepublik von 1956 bis 1961, Hefte zur ddr-geschichte 16 (1994), S. 14. Schulz weist auf die besondere Brisanz der Finanzsituation der LPG Typ III hin. Dort wurde nicht nur das Ackerland, sondern der gesamte Grund und Boden gemeinsam genützt, also auch Grünland, Wald und Teiche, alle Maschinen und Geräte, das Vieh und die Wirtschaftsgebäude. Nur für den Lohn der Mitglieder dieses LPG-Typs mussten pro Jahr rund 378 Mio. Mark, also 75 Prozent des insgesamt ausgezahlten Geldes aufgewendet werden. 26 Vgl. SAPMO, BA DY 30/IV 2/7/22, Mellentin an Reichelt, 26.9.1956; Information für Mückenberger und Mellentin, 26.10.1956. 23
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Als Wissenschaftler plädierte Vieweg dafür, die in der Sowjetunion, in Polen und Ungarn gesammelten Erfahrungen zu analysieren und daraus Rückschlüsse für die Landwirtschaft in der DDR zu ziehen. In diesem Zusammenhang stand er in regem Kontakt zu Agrarwissenschaftlern der östlichen Nachbarländer. Besonders die Entwicklungen in Polen, wo nach der Rückkehr Gomułkas an die Spitze der polnischen KP neue Wege möglich schienen, und die Kollektivierung gestoppt worden war, beeinflussten Viewegs Überlegungen. Auch die Krise in Ungarn, wo nach dem blutig niedergeschlagenen Aufstand die Stalinisten gestärkt worden waren, war Vieweg bekannt.27 Vor allem das Schicksal von Imre Nagy traf Vieweg tief.28 Vieweg kannte Nagy als einen der wenigen Agrarfachleute der KP. Wie Vieweg war Nagy nach Skandinavien gereist, hatte das dänische Genossenschaftswesen untersucht und deren Vorbildcharakter betont. Vieweg und Langendorf erklärten, dass sie nach dem XX. Parteitag der KPdSU, den Ausführungen des Genossen Chruschtschow und der Festrede Michail Suslows zum 39. Jahrestag der Oktoberrevolution sowie den Ereignissen in Polen und Ungarn zu der Überzeugung gekommen seien, dass „die Länder des Lagers des Sozialismus verschiedene Wege in ihrer Entwicklung beschreiten“ müssten.29 Daraus zogen sie den Schluss, dass nach einem solchen Weg gesucht werden müsse. Vieweg schrieb an Erich Mückenberger, dass er das Interesse der SED an „Grundsatzfragen der Landwirtschaft“ und die Einsetzung vieler Kommissionen begrüßte. Deren Mitglieder seien jedoch keine Fachleute. „Mir scheint ein grosser Fehler darin zu liegen, dass nicht eine kleine Gruppe von qualifizierten Genossen sich mit den wichtigsten grundsätzlichen Fragen beschäftigt – mit der politisch-ökonomischen Generallinie unserer landwirtschaftlichen Entwicklung“.30 Er fühlte sich offensichtlich bei der Bildung der Kommission, die auf wissenschaftlichen Sachverstand glaubte verzichten zu können, übergangen und bot nun an, eine kleine Arbeitsgruppe von Spezialisten zu bilden. Ansonsten machte er sich „ernsthaft Sorgen“, in den „isoliert arbeitenden Kommissionen“ würden „falsche“, „oberflächliche“ Vorschläge ohne klare Linie ausgearbeitet.31 Vieweg traf sich am folgenden Tag mit dem sowjetischen Fachmann Tscherjomuschkin, der ihm – nach Aussage Viewegs – zustimmte. Tscherjomuschkin sollte später das Gegenteil aussagen. Tatsächlich war Viewegs Kritik an der SED-Agrarpolitik weitgehend bekannt. Bereits nachdem Ulbricht auf der 24. ZK-Tagung (1.–2.7.1955) die „Versuche“ des Rostocker Thünen-Experten Asmus Petersen damit kritisiert hatte, jener 27 Michael Scholz stellt fest, dass Vieweg zumindest in groben Umrissen die Ereignisse in Polen und Ungarn bekannt waren. Vgl. Scholz: Bauernopfer (Anm. 8), S. 188. 28 Vgl. ebd., S. 187. 29 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 2. 30 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 35 f.: Vieweg an Mückenberger, 2.11.1956 (Abschrift). 31 Ebd.
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wolle Thünen mit Marx „in Einklang“ bringen, hatte Vieweg in einem Artikel mit dem Titel „Beitrag zur Ausarbeitung der Ökonomik der LPG“ in der „Einheit“ dazu Stellung genommen. Damit positionierte er sich und seine Forderung nach einer Umkehr der Agrarpolitik offen als Ulbrichts Gegner. Mückenberger reagierte wohl auch aus diesem Grund nicht sofort. Am 6. November schlug er in einem vierzeiligen Antwortschreiben eine Aussprache vor.32 Wie später kritisiert wurde, antwortete Vieweg nicht auf dieses Angebot. Stattdessen berief er eine Sitzung im Institut ein, die am 12. November stattfand. Damit machte er sich damit aus der Sicht der SED einer „bewussten Täuschung“ schuldig.33 Viewegs Gegner, vor allem Erich Mückenberger, sahen die Möglichkeit ihn auf politischem Weg abzusetzen. Das Agrarprogramm, das eine gangbare Alternative zur praktizierten Agrarpolitik beinhaltete, wurde Erich Mückenberger zugespielt. Dieser handelte umgehend. Unterstützt von Viewegs unzufriedenen Kollegen, die ihm Unterlagen zukommen ließen34, leitete der ZK-Sekretär für Landwirtschaft eine interne Untersuchung ein. Er ließ die bereits verschickten Exemplare des parteiinternen Materials mit Viewegs Ausführungen über die Landwirtschaft Schwedens am 29. November wieder einziehen35 und die folgenden vier Versammlungen der Parteiorganisation des Instituts für Agrarökonomik (3.12.1956, 10.12.1956, 20.12.1956, 3.1.1957) minutiös protokollieren. Ziel der Parteiversammlungen sei es, „den parteifeindlichen, revisionistischen Charakter des Agrarprogramms nachzuweisen mit dem Ziel, eine grundsätzliche ideologische Aussprache in der Parteiorganisation herbeizuführen, die Parteiorganisation von der Gefährlichkeit und dem zersetzenden Inhalt des Programms zu überzeugen mit dem Ziel, dass die Parteiorganisation offen von dem Programm-Entwurf abrückt und ihn verurteilt“.36 Auf der ersten Sitzung, am 3. Dezember 1956, informierte Kurt Vieweg die 22 Anwesenden über den Stand der Ausarbeitungen seines Agrarprogramms. Er kritisierte, dass die Agrarkommission des ZK der SED „keine Generallinie“ besitze und sich lediglich mit Teilfragen beschäftige. Sie löse damit nicht die Grundfragen der Agrarpolitik und der ökonomischen Entwicklung der Landwirtschaft. Laut Bericht ignorierte Vieweg mit diesen Aussagen die Generallinie der Partei in Fragen der Landwirtschaftspolitik, des IV. Parteitags, der 3. Parteikonferenz und die Aufgabenstellung der Agrarkommission des ZK.37 Laut Vieweg besaß die Parteiführung „eine falsche Einschätzung über die wirkliche Lage der Bauernschaft in der DDR“.38 „Die bisherige Politik der Partei hat bewiesen, dass wir 32 33 34 35 36 37
Vgl. ebd., Bl. 36: Mückenberger an Vieweg 6.11.1956 (Abschrift). Ebd. Vgl. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/395: Information Sektor V, 15.11.1956. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396: BPKK Neubrandenburg an ZPKK, 13.2.1957. SAPMO, BA DY 30/IV 2/4/396, Bl. 37 f.: Bericht an Gen. Matern. Ebd., Bl. 48: Bericht an Gen. Matern.
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die Mehrheit der Bauernschaft nicht für den Sozialismus gewinnen können.“39 Daraus leitete Vieweg ab, dass seine „erarbeiteten Vorschläge zu recht bestehen, da sie für die Bauernschaft einen annehmbaren Weg zum Sozialismus beinhalten“.40 Er fuhr fort, er habe Walter Ulbricht und Erich Mückenberger davon unterrichtet, dass „an der Lösung der grundsätzlichen Fragen einer annehmbaren Agrarpolitik zur Entwicklung des Sozialismus im Institut gearbeitet“ werde. Er sei es gewesen, der die Parteiführung unterrichtet habe.41 Anschließend ergriff Viewegs Assistentin Marga Langendorf das Wort. Sie glaubte, dass eine Änderung der Grundkonzeption der Parteilinie in der Agrarpolitik möglich sei. Da die aktuelle Linie der Partei nicht mit der Praxis übereinstimme, hätten sie das Programm entworfen. Wie Vieweg zuvor, erklärte sie, dass ihr der XX. Parteitag Mut gegeben habe. Sie hoffe nun auf eine freiere Diskussion. Doch die Genossen des ZK hätten diese Hoffnung durch ihr Auftreten zerschlagen.42 Für den Berichterstatter habe sie in „provozierender Weise“ ausgeführt, die Parteisekretäre wären nur in der Lage allgemeine Hinweise zu geben, aber die Lösung der wissenschaftlichen und agrarökonomischen Fragen müsse man schon den Wissenschaftlern überlassen.43 Indessen suchte Vieweg nach Verbündeten und sprach alte Freunde und Weggefährten an, so z. B. Ernst Pudlich. Jener war aber genauso wenig bereit Vieweg zu unterstützen wie Franz Dahlem.44 Vieweg fand die gesuchte Unterstützung bei seinen Fachkollegen außerhalb der DDR. Man kannte sich von Konferenzen der Agrarwissenschaftler und wollte nun Forschungsarbeiten gemeinsam koordinieren.45 Am 8. Dezember 1956 trafen sich Fachleute aus Moskau, Sofia, Warschau, Belgrad und Prag mit Vieweg in Berlin zu einer informellen Beratung. Diskutiert wurden die hauptsächlichen Faktoren der landwirtschaftlichen Entwicklung. Sie kritisierten die aktuelle Agrarpolitik und kamen zu dem Schluss, dass nach Alternativen gesucht werden müsse. Länderspezifische Unterschiede wurden aufgezeigt. Das Treffen der Spezialisten diente der Vorbereitung eines Symposiums, für das der sowjetische Teilnehmer Samuil G. Kolesnjew Leitlinien formulierte. Wie Vieweg gefordert hatte, sollte auch über die kritischen Bauern gesprochen und ihnen Angebote unterbreitet werden. Kolesnjew lehnte jedoch einen „dritten Weg“ ab. Auch Vieweg sprach sich gegen einen „dritten Weg“ aus. Er berichtete über die Forschungsarbeit in seinem Institut und über die Ablehnung, auf die er 38 39 40 41 42 43 44 45
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., Bl. 49. Vgl. ebd. Vgl. Scholz: Bauernopfer (Anm. 8), S. 190. Vgl. Schulz: DDR-Bauern (Anm. 25) S. 163 f.
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in seiner Partei gestoßen war. Er stellte erneut fest, dass viele Bauern in der DDR keine berufliche Perspektive sähen und zur kapitalistischen Wirtschaftsweise zurückkehren wollten. Er wolle nach Wegen suchen, um die Bauern im Land zu halten und auch den DDR-Staat zu befriedigen. Als Lösung schlug er eine Übergangszeit ein, in der beide Wirtschaftsformen nebeneinander existieren müssten. Erst am Ende stehe die sozialistische Großwirtschaft.46 Am 10. Dezember 1956 mussten sich Vieweg und Langendorf erneut der Kritik der Kollegen stellen. Der ebenfalls anwesende spätere Landwirtschaftsminister Heinz Kuhrig, damals noch Mitarbeiter der ZK-Landwirtschaftsabteilung, griff Vieweg scharf an. Er bezeichnete die Maschinen-Traktoren-Stationen (MAS/MTS) als die entscheidenden Machtmittel der Arbeiterklasse auf dem Land. Eine „unumstößliche Tatsache“ sei: „Wer an der MTS rüttelt, rüttelt an den Grundlagen der Arbeiter- und Bauernmacht.“47 Diese Aussage war eindeutig zweckorientiert, da von den rund 100.000 in den MTS Beschäftigten 23,4 Prozent der SED angehörten und die Partei damit Einfluss auf die Landbevölkerung ausüben konnte.48 Vieweg verteidigte sich, seine Forschungsarbeit und seine politischen Vorstellungen, indem er Kuhrig offen attackierte: „Ob er sich denn Genossenschaften im sozialistischen Staat vorstellen könne, die über Traktoren und Maschinen verfügten? Seine Frage war viel politischer, als es zunächst den Anschein hatte. Ihm ging es um praktikable Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit. Wenn man Kuhrig folgte, müsste man nach der deutschen Wiedervereinigung den Bauern im Westen ihre Maschinen und Traktoren wegnehmen und ihnen verbieten, diese in die LPG einzubringen.“49 Auch Erich Mückenberger war bei den Sitzungen anwesend und nahm Viewegs deutsch-deutschen Fehdehandschuh auf. Die Wiedervereinigung würde nicht in den Beginn des Sozialismus einleiten, da man die „Periode der antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ nicht überspringen könne. Die SED müsse den Weg zum Sozialismus weiter gehen. Die in der Sowjetunion geführte Diskussion über Agrarreformen müsse dabei „noch lange nicht“ in der DDR aufgegriffen werden. „Ebenso tun wir nicht das, was in Ungarn und Polen geschieht.“50 Auf der dritten Sitzung der Parteiorganisation des Instituts, am 20. Dezember 1956, wurde Erich Mückenberger deutlicher. Er warf Vieweg vor, er habe mit seinem Agrarprogramm der Partei eine Diskussion aufgezwungen und zwar „zu 46 Vgl. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396: Niederschrift der Beratung über die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen Agrarökonomen der sozialistischen Länder, 8.12.1956. 47 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Protokoll der Mitgliederversammlung 10.12. 1956. 48 Vgl. Nehrig/Noziczka: Weiterentwicklung (Anm. 21) S. 1083. 49 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Protokoll der Mitgliederversammlung 10.12. 1956. 50 Ebd.
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einer Zeit, wo die internationale Reaktion den Großangriff gegen den Kommunismus und Sozialismus startet. Wo die internationale Reaktion versucht, einzudringen in die Kommunistischen und Arbeiterparteien der Welt“.51 Diese Diskussion sei schädlich, da sie die Kräfte „absorbiere“. Viewegs Programm sei eine „neue Plattform einer neuen Agrarpolitik“, in der die Bündnisfrage aufgehoben und damit eine Grundform des Marxismus-Leninismus in Frage gestellt werde. Die Partei werde nie ein Bündnis mit Großbauern schließen, die mehr als 50 Hektar besitzen. Ferner machte er sich zum Fürsprecher der MTS, sie seien die „materielle Basis beim Aufbau des Sozialismus“ und „Stützpunkt der Arbeiterklasse auf dem Lande“. Vieweg würde nur die ökonomische, nicht aber die politische Seite des Problems betrachten. Er endete mit der Aussage: „Lassen wir uns im Tempo des Aufbaus des Sozialismus von Westdeutschland leiten? Nie.“ „Wir richten unsere Politik so ein, daß wir die Aktionseinheit der Arbeiterklasse unterstützen, daß wir in Westdeutschland zu demokratischen Verhältnissen kommen, über die Nationale Front mit den westdeutschen fortschrittlichen Kräften ein Programm entfalten für Westdeutschland. Aber nicht umgekehrt.“ In diesem Zusammenhang glaubte er auch die Meinungsfreiheit einschränken zu können, wenn es um die Macht gehe. Vieweg ging nicht auf Mückenbergers Angriffe ein, ließ sich auch nicht vom Parteisekretär und dem Kaderleiter am Institut beeindrucken. Er lehnte es ab, sich von seinem Programm zu distanzieren. Er erklärte Kollegen gegenüber, dass ein „Kesseltreiben“ gegen ihn organisiert werde, um ihn als Institutsdirektor zu stürzen.52 Er betonte, dass er sowohl politisch als auch fachlich erfahrener sei als Mückenberger. Vor dem Hintergrund seiner Gespräche mit den Fachkollegen verwies er auf die verfehlte Kollektivierungspolitik, wie sie in den anderen sozialistischen Ländern geübt wurde. Insbesondere „der Mut der polnischen Genossen und der persönliche Mut des Genossen Gomułka, die kühn von sich aus die Fragen stellten und für ihr Land durch die Korrektur der Politik der polnischen Partei ein zweites Ungarn ersparten“ und auf diese Weise auch „den Weg zu den Massen“ zurückfänden, imponierten ihm. Ein Plenum des ZK der polnischen Kommunisten unter Leitung Władisław Gomułkas hatte der agrarpolitischen Reformdebatte neue Impulse gegeben. Gomułka, der 1948 auch wegen seiner Kritik an der seiner Ansicht nach forcierten Kollektivierung entmachtet worden war, stand seit 1956 wieder an der Spitze der Partei. Er kritisierte die bislang praktizierte Förderung der Produktionsgenossenschaften und schlug vor, schwache Kollektivwirtschaften aufzulösen. Er ventilierte eine sozialistische Landwirtschaft ohne Kollektivierung und zweifelte damit an der marxistisch-leninistischen Vorstellung, dass die kleinbäuerliche Produktion nur innerhalb der kapitalistischen Entwicklung zu einer erweiterten Reproduktion fähig sei. Nach Vieweg 51 52
SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 51: Bericht an Gen. Matern. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 49: Bericht an Gen. Matern.
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war dieser Weg auch in der DDR gangbar. Er würde es deshalb begrüßen, „wenn unser ZK mit uns zusammen und mit Hilfe unserer Ausarbeitungen, auch einen solchen Mut beweisen würde und zu einer ähnlichen Lösung auf dem Gebiet der politischen Führung kommt, so wie in Polen“. Unmittelbar nach dieser Sitzung informierte Erich Mückenberger Mitglieder und Kandidaten des Politbüros schriftlich über die Sitzung am Institut für Agrarökonomik und das „freche“ Verhalten Viewegs. Das einzig positive an der Versammlung war für Mückenberger die offene Distanzierung der anwesenden Genossen vom Programmentwurf. Er war sich aber der Gefährlichkeit Viewegs bewusst: Er schätzte Vieweg als erfahrenen Funktionär ein, dessen Beziehungen zur Parteispitze und zu Wissenschaftlern nicht unterschätzt werden durften. Aus diesem Grund suchte Mückenberger nach einer offensichtlichen Schwachstelle in Viewegs Biographie. Er fand sie in Viewegs Assistentin, Marga Langendorf. So heißt es im Bericht: „Weiterhin war kennzeichnend für die Diskussion, dass 5 Genossen zum Auftreten und der Rolle der Langendorf Stellung nahmen, was bis zur Forderung ging, die Rolle der Langendorf im Institut endlich gründlich zu untersuchen.“53 Während sie bislang kaum in Erscheinung getreten war, stellte Mückenberger sie nun als Hauptakteurin dar, die einen entscheidenden Anteil an der Ausarbeitung des Agrarprogramms habe.54 Es folgte die vierte Parteiversammlung am 3. Januar 1957. Gleich zu Beginn übernahm Marga Langendorf das Wort. Sie zeigte sich „erstaunt“ darüber, dass man Vieweg und ihr vorwarf, bei der Erarbeitung ihres Programms „leichtfertig vorgegangen“ zu sein. Sie fand dies „befremdlich“, da man schon „jahrelang“ über die Probleme der LPG, der MTS, die Zusammenstellung des statistischen Materials über die Landwirtschaft der DDR Bescheid wisse. Sie habe eine wissenschaftliche Untersuchung durchgeführt und sei keineswegs „irgend welcher Verführung“ unterlegen. Sie verwies auf den XX. Parteitag, Aussagen Mückenbergers und Ulbrichts und schloss ihren Redebeitrag mit einem Zitat von Mao Tse Tung.55 Überraschend für die Anwesenden lenkte Vieweg zunächst ein. Er erklärte, er habe eingesehen, dass er sowohl formal als auch inhaltlich Fehler gemacht habe und räumte ein, sein gutes Verhältnis zu führenden Genossen habe ihn zu diesem Programm verführt. Danach zitierte er aus Walter Ulbrichts Einlassungen im „Neuen Deutschland“. In der Ausgabe vom 30. Dezember 1956 hatte Ulbricht eingeräumt, dass innerhalb der SED über einige Fragen – z. B. zur Preispolitik, zur Philosophie oder Wirtschaftspolitik – unterschiedliche Meinungen existierten. Über diese sei zu diskutieren. Am Ende müsse jedoch ein für alle 53
SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 53: Bericht an Gen. Matern. Vgl. SAPMO, BA, NY 4 182/894 (Nachlass Ulbricht), Mückenberger an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, 21.12., Informationen über den Verlauf der Diskussion in der Parteiorganisation des Instituts für Agrarökonomie der DAL. 55 Vgl. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4§96, Bl. 293 f.: Protokoll der Mitgliederversammlung vom 3.1.1957. 54
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Parteimitglieder geltender bindender Beschluss stehen. Sollte ein Parteimitglied dennoch nicht überzeugt werden können, würde die Erfahrung lehren, wer Recht behalte. Vieweg erklärte sich nun bereit, die Beschlüsse anzuerkennen, wollte aber an seinem Recht, Bedenken anmelden zu dürfen, festhalten. Der Berichterstatter hielt Viewegs Ausführungen für den „krampfhaften“ Versuch, die durch Mückenberger dargelegten Fakten „abzuschwächen“, indem er sie „in Abrede stellte, oder verdrehte“.56 Ebenso wie Vieweg zeigten sich auch seine Gegner entschlossen. Sie lehnten seinen Vorschlag ab, die Diskussionen in einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern und „führenden Genossen“ fortzusetzen. Am Ende der Sitzung wurde eine Entschließung verabschiedet, welche den Programmentwurf als Widerspruch zur marxistisch-leninistischen Generallinie der Partei darstellte.57 Ohne über den Inhalt zu sprechen, wurde beschlossen, die Arbeit am Programm einzustellen. Die Forschungsarbeit werde sich künftig ausschließlich an der Generallinie der Partei orientieren.58 Zum Ärger Mückenbergers zeigte sich, dass das Agrarprogramm nicht so geheim war, wie zunächst gedacht. Bekannt war es beispielsweise unter Wissenschaftlern des neu gegründeten Instituts für Wirtschaftswissenschaften. Zu ihnen zählte Professor Fritz Behrens, Leiter des Zentralamts für Statistik, ferner Arne Benary. Deren gemeinsames Buch „Zur ökonomischen Theorie und ökonomischen Politik in der Übergangsperiode“ kritisierte offen das bürokratisch-zentralistische Wirtschaftssystem. Nach dem Vorwurf des Revisionismus wurde die Auslieferung des Buches gesperrt. Vieweg hatte auch mit Prof. Kuczinski vom Institut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften gesprochen, der das Programm befürwortete. Nach diesen Erkenntnissen dauerte es eine Woche, ehe Mückenberger dem Politbüro über den Verlauf der Versammlung Bericht erstattete. Er fasste die Äußerungen Viewegs auf den vier Parteiversammlungen zusammen: Jener sei nicht gewillt, „das parteischädigende Verhalten seiner Handlungsweise zuzugeben“. Sein Auftreten zeige, dass er mit der Generallinie der Partei nicht einverstanden sei und für ähnliche Veränderungen in Führung und Politik der Partei wie in der Volksrepublik Polen werbe. Mückenberger endete seinen Bericht mit der Bitte, auf einer der nächsten Sitzungen des Politbüros diese Frage auf die Tagesordnung zu setzen.
56
SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 53: Bericht an Gen. Matern. Vgl. ebd., Bl. 23 ff.: Bericht an das Politbüro über die 4. Parteimitgliederversammlung im Institut für Agrarökonomie am 3.1.1957. 58 Vgl. ebd., Bl. 34: Bericht an das Politbüro über die 4. Parteimitgliederversammlung im Institut für Agrarökonomie am 3.1.1957, Entschließung der Parteiversammlung. 57
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IV. „Der zweite Weg zum Sozialismus“59 – Der Parteiausschluss Kurt Vieweg war rasch in der SED-Parteihierarchie aufgestiegen und hatte eine steile wissenschaftliche Karriere gemacht. Durch seine Veröffentlichungen zur Agrarpolitik positionierte er sich im Laufe des Jahres 1956 als Kritiker der praktizierten Agrarpolitik. Darauf musste die SED-Führung reagieren. In einem Schreiben an den Vorsitzenden der ZPKK, Hermann Matern, wurden auf 27 Schreibmaschinenseiten die Ereignisse um Viewegs Agrarprogramm zusammengefasst:60 Nachdem zunächst eine Chronologie entworfen, der Briefwechsel zwischen Mückenberger und Vieweg erläutert und die Hauptpunkte des Agrarprogramms aufgezählt worden waren, wurden die Diskussionen auf den Parteiversammlungen rekapituliert bzw. Viewegs Erläuterungen und Erklärungen wiedergegeben. So reagierte er zunächst auf den Vorwurf, die Parteiführung hintergangen zu haben, indem er heimlich ein Agrarprogramm ausgearbeitet habe: „Wir wollten es doch für die Partei entwerfen. Als Wissenschaftler sind wir dazu jederzeit berufen.“ Unmittelbar darauf erläuterte er seine Motivation: „Der XX. Parteitag verlangt von allen Genossen und insbesondere von uns Wissenschaftlern, dass wir uns mutig und kühn den neuen Erkenntnissen zuwenden und sie ausarbeiten und zur Diskussion stellen.“ Das habe man, inspiriert vom XX. Parteitag, sowohl in Polen als auch in Italien und der Sowjetunion gemacht. Vieweg endete: „Die theoretischen Fragen, die wir entworfen haben, sind richtig. Wer sie nicht anerkennt zeigt damit, dass er nicht begriffen hat, was der XX. Parteitag für Probleme gestellt hat und hört nicht auf die Stimme der Massen.“ Der Bericht vermerkt, Vieweg habe danach die Parteiführung massiv angegriffen. Viewegs Gegner reagierten nicht weiter auf diesen Aspekt, sondern verwiesen auf die Kurzfristigkeit der Ereignisse in Polen und Ungarn: „die Ausarbeitung des Programms geschah in großer Eile, unter dem Eindruck der Ausnutzung der Ereignisse in Polen.“61 Auf die Ereignisse in Ungarn anspielend habe Vieweg gesagt, „dass man auch in Ungarn zu spät auf die Massen gehört habe und dann von den Massen korrigiert worden sei“. Zu Polen bemerkte Vieweg: „Mir imponiert deshalb der Mut der polnischen Genossen und der persönliche Mut des Genossen Gomułka, die kühn von sich aus die Fragen stellten und für ihr Land durch die Korrektur der Politik der polnischen Partei ein zweites Ungarn ersparten. Auch wir müssen diesen Weg gehen.“ Das verstand der Berichterstatter als offene Kampfansage: „[Vieweg] sagte weiter: ,Bei uns kann man nicht offen diskutieren und diese Fragen offen stellen.‘ Er mißkreditierte dabei in schoflichster Form die Tätigkeit unserer Staatssicherheitsorgane.“62
59 60 61 62
Ebd., Bl. 34. Vgl. ebd., Bl. 33 ff. Ebd., Bl. 36. Ebd., Bl. 52.
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Sowohl Vieweg als auch seine Assistentin reagierten bewusst auf den XX. Parteitag der KPdSU. Nach eigenen Aussagen haben die Eröffnungen Chruschtschows einen Sinneswandel bewirkt, der durch die Ereignisse in Polen und Ungarn zusätzlich gestärkt wurde. Folglich waren sie nicht länger bereit, Parteidisziplin zu halten und machten ihre Forschungsergebnisse, von denen sie wussten, dass sie der Agrarpolitik Ulbrichts widersprachen, publik. So sagte Vieweg bereits auf der Versammlung seines Instituts am 6. November, als über die jüngsten Ereignisse in Ungarn gesprochen wurde, dass „die Stalinisten“ auch in der DDR Fehler gemacht hätten und es nun notwendig sei, Veränderungen vorzunehmen. Auch aus diesem Grund forderte er eine Korrektur der Agrarpolitik.63 Damit reagierte er indirekt auf die dritte Parteikonferenz der SED vom 30. März 1956, nach der er Hoffnungen auf einen Wandel der SED begraben musste. Die SEDFührung, vor allem Walter Ulbricht, verneinten Fehlentwicklungen und sahen ihren politischen Kurs bestätigt.64 Vieweg erklärte, dass er an einem Entwurf für ein Agrarprogramm für das Politbüro arbeitete. Dieser sei streng geheim. Auf die Rede des Chefideologen der KPdSU, Michail Suslow, über neue Formen zum Übergang des Sozialismus Bezug nehmend, erläuterte Vieweg die schwierigen Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus auf dem Lande: Breite Kreise der Bauernschaft stünden der SED skeptisch bis feindlich gegenüber. Die Ursache dafür sei die fehlende Zukunftsperspektive für jene Bauern, welche die LPG ablehnten. In diesem Zusammenhang verwies er auf die mittelbäuerlichen Betriebe in der BRD und stellte die bäuerlichen Familienbetriebe in der DDR als erfolgreiches Modell dar. Er glaubte, die skeptischen Bauern, falls sie die Garantie erhielten, zwei oder drei Generationen auf ihrem eigenen Hof wirtschaften zu dürfen, zum Bleiben bewegen zu können. Folgerichtig lehnte er für diese Bauern eine Zwangskollektivierung ab. Der Beitritt in die LPG müsse auf freiwilliger Basis sein. Für eine Übergangszeit sollte es zwei Arten von landwirtschaftlichen Betrieben geben: zum einen den hoch mechanisierten Familienbetrieb, der ohne fremde Arbeitskräfte bis 40 Hektar bewirtschaftete, zum anderen den Lohnarbeitsbetrieb. Die Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) wollte er auflösen und die Maschinen gegen Abzahlung den LPG zur Benutzung übergeben. Die Stützpunkte der MTS könnten in bäuerliche Maschinengenossenschaften mit staatlicher Beteiligung umgewandelt werden und ohne staatliche Subventionen auskommen. Vieweg nahm in Kauf, dass etliche LPG auf diese Weise aufgelöst werden müssten. Viewegs Zuhörer waren mit ihm einer Meinung, dass in der Agrarpolitik Maßnahmen ergriffen werden mussten, um die Produktion zu steigern. Sie glaubten jedoch nicht, dass die Bauern der SED feindlich gesinnt seien. Keiner hatte einen Gegenvorschlag zu Viewegs Programm parat. 63 64
Vgl. ebd., Bl. 37. Vgl. Weber: Geschichte der DDR (Anm. 9), S. 275.
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Da Mückenberger bemerkt hatte, dass Vieweg getroffen werden konnte, ohne ihn direkt anzugreifen, wandte er seine Aufmerksamkeit nun Marga Langendorf zu. Als eine Art „Bauernopfer“ schlug er vor, sie zu entlassen und Vieweg zu versetzen. Jener könne die Verwaltung des Thünen-Arbeitskreises in Rostock zu übernehmen, um „die unmarxistische Lehre Thünens zu widerlegen“.65 Das belastende Material, das Mückenberger gesammelt hatte, reichte offensichtlich immer noch nicht aus. Vieweg selbst zeigte sich weitgehend unbeeindruckt, war aber vorsichtig. So wollte er der Einladung zur Parteileitungssitzung am Institut am 14. Januar nur nachkommen, wenn die Aussprache geheim bleibe. Zwar fasste die Parteileitung einen dahingehenden Beschluss, Mückenberger war jedoch unmittelbar nach dem Treffen im Besitz eines Protokolls. Auf die Geheimhaltung vertrauend, hatte Vieweg deutliche Worte gefunden und erneut auf die Folgen des XX. KPdSU-Parteitags verwiesen. Inzwischen war das Agrarprogramm zweitrangig geworden. Während man von ihm eine Distanzierung von seinen früheren Aussagen erwartete, forderte er immer deutlicher eine klar formulierte Abkehr vom Personenkult und ein Eingeständnis der in der Zeit des Stalinismus begangenen Fehler. So bedauerte er Walter Ulbrichts Fazit zum XX. Parteitag der KPdSU und die Verharmlosung des Stalinismus. Schließlich griff er die ZPKK direkt an, indem er ihr die fehlende demokratische Kontrolle ihrer Arbeit vorwarf.66 Bereits am nächsten Tag, dem 15. Januar 1957, meldete Mückenberger dem Politbüro Viewegs Aussagen auf der Institutsversammlung. Unterstützt wurde er vom Leiter der ZK-Landwirtschaftsabteilung Franz Mellentin. Das höchste Parteigremium fasste schließlich den Beschluss, Viewegs Fall an die ZPKK zu überweisen. Marga Langendorf sollte vom Akademiedirektor entlassen werden. Mückenberger wollte eine Begründung noch formulieren.67 Der ZK-Sekretär schrieb nun einen Bericht für die ZPKK mit Erläuterungen zum Agrarprogramm und dem Verbreitungsgrad der Schrift.68 Ferner schickte er das Programm als „Persönliche Verschlusssache“ an alle Kandidaten und Mitglieder des Politbüros, mit der Bemerkung, dass dieses ohne Wissen der Parteiführung verfasst worden sei.69 Seit Januar 1957 erhielt der „Fall“ Vieweg eine neue Dynamik. Ulbricht hatte die Agrarpolitik eng mit der Frage des Sozialismus verbunden. Er verknüpfte die Auflösung der LPG in Polen und Ungarn im Herbst 1956 mit dem „Neuen Agrarprogramm“ und warf Vieweg auf dem 30. ZK-Plenum vor, seine Vorschläge stün65 SAPMO, BA, NY 4 182/894 (Nachlass Ulbricht), Mückenberger an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, 10.1.1957. 66 Vgl. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Information über den Verlauf der Parteileitungssitzung im Institut am 14.1.1957 (Rohde), 15.1.1957 (Abschrift). 67 Vgl. SAPMO, BA, DY 30/J IV 2/2/522 Politbüro-Sitzung, 15.1.1957. 68 Vgl. SAPMO, BA DY 30/IV 2/4/396, Bl. 33 ff.: Bericht an Gen. Matern. 69 Fred Oelßner sollte später zu den Gegnern Mückenbergers und Ulbrichts gehören, da er sich für eine Verlangsamung der Kollektivierung aussprach.
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den in Verbindung mit der Modifizierung der Agrarpolitik in den „Bruderstaaten“. Die Kritik beschränkte sich nicht auf Vieweg und die Akademie. Dem Ministerium für Landwirtschaft wurde vorgeworfen, kein aussagefähiges statistisches Material erarbeitet zu haben. Die ZK-Abteilung Landwirtschaft unter Leitung Franz Mellentins kam im November zu dem Schluss, dass, entgegen der Einschätzung des Ministeriums, „die LPG in ihrer Entwicklung nicht vorangekommen wären“.70 So war der Anteil der LPG im dritten Quartal 1956 rückläufig. Mellentin machte für die Vernachlässigung der LPG Typ I und II den Wirtschafts- und Staatsapparat verantwortlich, der diese Formen aufgrund des niedrigeren Vergesellschaftungsgrades der Produktionsmittel für ideologisch minderwertiger als die des Typs III hielten. Sie würden diesen Genossenschaftstypen keine längerfristige Existenz zugestehen und würden sich deshalb auch nicht besonders anstrengen, um jenen zu helfen.71 Die SED-Führung hingegen hielt an ihrer Agrarpolitik fest und ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie zu Veränderungen grundsätzlicher Art nicht bereit war. Deutlich wird damit jedoch auch, dass sie Kenntnis über das Ausmaß der Krise in der Landwirtschaft hatte. Vieweg, der die Misswirtschaft im Agrarwesen bloßstellte, indem er die Freiwilligkeit anzweifelte und die Kollektivierung als staatlich geplanten und administrativ durchgesetzten Akt darstellte, musste folglich an einer weiteren Verbreitung seiner Ansichten gehindert werden. Es wurde nun stets betont, dass Vieweg das Programm „heimlich“ verfasst habe. Die ZPKK stellte fest, dass er sich damit der „Irreführung und Täuschung der Genossen in der Parteiorganisation am Institut für Agrar-Ökonomie, denen er vorgab, er handele im Auftrage des ZK“, schuldig gemacht habe. Er habe versucht, „sich in der Parteiorganisation eine Basis für sein parteifeindliches Vorgehen gegen die Partei zu schaffen“. Lediglich durch die „Wachsamkeit der Genossen“ seien die Absichten Viewegs und seiner Assistentin Marga Langendorf vereitelt worden. Vieweg habe das in ihn gesetzte Vertrauen missbraucht, indem er „die von der 3. Parteikonferenz und den nachfolgenden ZK-Tagungen festgelegten Aufgaben zur Entwicklung und Stärkung der sozialistischen Landwirtschaft sabotierte“. Es ist zu vermuten, dass Vieweg bis zum 30. ZK-Plenum am 30.1.1957 glaubte, dass er und Marga Langendorf ihre berufliche Tätigkeit fortführen könnten.72 Selbstbewusst verkündete Vieweg, dass er die Deutsche Akademie für Landwirtschaftswissenschaften verlassen werde, falls man Marga Langendorf kündigte.73 Alte Vorwürfe, er sei im „Dritten Reich“ für SA oder Gestapo tätig 70 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/7/27, Bl. 100-135: Entwurf: Vorschlag über die Entwicklung der Produktion in den LPG bis 1960, 14.11.1956. 71 Vgl. ebd., Bl. 101. 72 Vgl. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/7/561, Bl. 89–107: Protokoll der Mitgliederversammlung der DAL am 28./29.1.1957. 73 Vgl. ebd., Bl. 17.
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gewesen, erlangten neue Brisanz. Wie es in den Erläuterungen zu seinem Parteiausschluss heißt, musste er sich „wegen unklarer Angaben über seine Vergangenheit und seines doppelzünglerischen Verhaltens“ bereits in einem Verfahren rechtfertigen. Mückenberger nahm hier Bezug auf den 1953 von der Staatssicherheit gegen Vieweg eingeleiteten Überprüfungsvorgang „Direktor“. In der Folge der Ermittlungen wurde seine Kaderpolitik in der Zentralvereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe, im Gesamtdeutschen Arbeitskreis der Land- und Forstwirtschaft und an der Akademie für Landwirtschaftswissenschaften beleuchtet. Die Staatssicherheit erstellte ein umfangreiches Dossier über Viewegs deutsch-deutsche Überlegungen zusammen und befragte Viewegs Mitarbeiter über dessen Westkontakte.74 Immer wieder warf Mückenberger Vieweg vor, der Partei „eine Diskussion aufgezwungen“ zu haben, den XX. KPdSU-Parteitag „falsch und einseitig“ auszulegen, nur negative Kritik zu üben und unwissenschaftlich und oberflächlich zu argumentieren. Schließlich verglich er Viewegs Programm mit dem Agrarprogramm der SPD und der im Dezember 1956 unter Vorsitz von Andreas Hermes gegründeten „Forschungsstelle für bäuerliche Familienbetriebe“. 75 Am 5. Februar 1957 verhörte die ZPKK Vieweg und Langendorf getrennt von einander. Ihnen wurde offiziell mitgeteilt, dass ein Parteiverfahren gegen sie eröffnet werde.76 Die Befragung Langendorfs fand am Vormittag des 5. Februar statt. Sie erläuterte erneut, dass die Ereignisse in Polen und Ungarn sie auf den Gedanken gebracht hätten, das Programm zu verfassen. Sie habe es als notwendig erachtet, der Partei Vorschläge zu machen, „damit wir etwas ähnliches verhindern können“. Sie sei der Meinung, dass die Initiative nur von der Partei ausgehen könne und „nicht spontan von den Massen“. Auf ihr Verhältnis zu Vieweg angesprochen erklärte sie: „Ich bin nicht verführt worden, ich habe einen eigenen Kopf und wenn mit etwas einleuchtet, dann stehe ich dafür ein und wenn es verkehrt war, dann sehe ich das ein. Ich habe bisher den demokratischen Zentralismus etwas anders verstanden. Dass jeder Genosse, ob einfacher Arbeiter oder Wissenschaftler, die Verpflichtung hat, dass wenn er merkt, dass irgend etwas nicht richtig ist, er seinerseits darauf aufmerksam macht, dass hier etwas geändert wird und nicht auf einen Auftrag von oben wartet. Ich habe das in keiner Weise als parteischädigend angesehen, wenn man als Fachwissenschaftler mit konkreten Vorschlägen kommt.“77
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Vgl. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/395, Betr. Kurt Vieweg, 31.10.1955. Unsere ökonomischen Probleme und die Verbesserung der Wirtschaftsführung. Diskussionsreden (30. Tagung des ZK der SED vom 30.1.–1.2.1957, Berlin (Ost) 1957, S. 96 ff. 76 Vgl. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 64 ff.: Protokoll über die Befragung ZPKK des Gen. Kurt Vieweg am 5./6.2.1957. 77 Ebd., Bl. 363 ff.: Protokoll über die Befragung der Genossin Langendorf am 5.2.1957. 75
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Kurt Vieweg musste sich am Nachmittag des 5. Februar im Haus der Einheit in der Wilhelm-Pieck-Straße 1 einfinden. Das Gespräch wurde am Abend abgebrochen und am nächsten Tag fortgeführt. Auf die Fragen der ZPKK-Mitglieder rechtfertigte er sich, dass er sich nicht „gegen den Arbeiter- und Bauernstaat gewandt“ habe, auch nicht „gegen die Entwicklung der sozialistischen Landwirtschaft“. Er wolle auch nicht die MTS beseitigen. Der XX. Parteitag der KPdSU habe gezeigt, man solle „dazu übergehen, die Dinge neu zu untersuchen“.78 Das SPD-Programm kenne er nicht.79 Stattdessen hätten ihn die Ereignisse in Polen und Ungarn darin „bestärkt, daß man bei uns in der Partei einiges grundsätzlich ändern muß“.80 Daraufhin stellte er erneut sein Agrarprogramm in den entscheidenden Punkten vor: „1.) Das Tempo der Kollektivierung unter den Bedingungen der DDR muß langsamer sein. 2.) Die Formen des Übergangs zum Sozialismus der Landwirtschaft müssen vielgestaltiger sein und den Bauern genehmere Formen geschaffen werden. 3.) Eine solche Agrarpolitik betreiben, wo die Bauern zum Aufbau des Sozialismus gewonnen werden, die nicht bereit sind, in die LPG einzutreten.“81 Die Anwesenden waren nicht gewillt, sich von ihm überzeugen zu lassen. Stattdessen wurden bekannte Kritikpunkte, die auf Mückenberger zurückgingen, erneut aufgenommen. Vieweg bemühte sich dennoch, die Genossen mit seinen Erläuterungen zu überzeugen.82 An dieser Stelle nimmt sein Verhältnis zu Marga Langendorf wieder breiten Raum ein. Zunächst sollte er Stellung nehmen zu Langendorfs Forderung, die „Produktion bestimmter militärischer Dinge zurückzustellen“, um Klein- und Mittelbauern die Möglichkeit zu geben, ihre Betriebe zu mechanisieren.83 Später im Verhör sollte er Langendorfs Satz, „Wir wollen der Partei helfen, damit nicht solche Bewegung kommt, damit nicht so ein Volksaufstand wie in Ungarn kommt, wir wollen rechtzeitig die Partei warnen“, kommentieren.84 In Zusammenhang mit der Erarbeitung des Programms sagte er den ZPKK-Mitgliedern, dass er außer mit der Genossin Langendorf mit keinem im Institut „ein freundschaftliches Verhältnis unterhalten“ habe.85 „Ich habe ein sehr gutes Verhältnis, wobei auch ein gewisses platonisches Gefühl eine große Rolle gespielt hat. Hinzu kam, daß sie 1 1/2 Jahre allein in Berlin war. Ich 78 Ebd., Bl. 64: Protokoll über die Befragung ZPKK des Gen. Kurt Vieweg am 5./ 6.2.1957. 79 Vgl. ebd., Bl. 65: Protokoll über die Befragung ZPKK des Gen. Kurt Vieweg am 5./6.2.1957. 80 Ebd., Bl. 67: Protokoll über die Befragung ZPKK des Gen. Kurt Vieweg am 5./ 6.2.1957. 81 Ebd., Bl. 68: Protokoll über die Befragung ZPKK des Gen. Kurt Vieweg am 5./ 6.2.1957. 82 Vgl. ebd., Bl. 88 f.: Erklärung für die ZPKK, Kurt Vieweg, 11.2.1957. 83 Ebd., Bl. 77: Protokoll über die Befragung ZPKK des Gen. Kurt Vieweg am 5./ 6.2.1957. 84 Ebd., Bl. 86. 85 Ebd., Bl. 81.
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habe mich mehr um sie als um andere gekümmert. Ich habe niemals ein Geheimnis daraus gemacht. Ich habe sie zum Essen mitgenommen, das ist nicht richtig gewesen. Ich besuche sie genau so, ob der Mann da ist oder nicht. Ich habe gesagt, wenn ich ein starkes Gefühl für sie habe, dann stehe ich auch dazu und werde sie heiraten. Ich kann nur sagen, daß es eine ordentliche und gute Sache gewesen ist. Mein Fehler ist, daß ich zu Reden Anlaß gegeben habe. Ich habe faktisch nachts an meiner Weiterbildung gearbeitet. Habe in der Genn. Langendorf eine große Hilfe gehabt. Sie hat bei Neueinstellungen Gutachten abgegeben, aber sie hat nichts mit Kaderfragen zu tun gehabt. [. . .] Ich habe durch mein persönliches Auftreten Anlaß zu gewissen Vermutungen und Klatschereien gegeben.“86 Wenn man ihn zwinge, sie zu entlassen, werde er auch gehen. Er würde sich als ein Schuft vorkommen, wenn er die Langendorf jetzt entlassen würde, weil sie im Agrarprogramm mitgearbeitet habe. Auch seine menschliche Ehre verbiete ihm, die Genossin Langendorf zu entlassen.87 Nun griff das MfS in die ZPKK-Untersuchungen ein, belastendes Material wurde an Erich Mückenberger weitergeleitet, der es der ZPKK weiterreichte.88 Inzwischen berichteten die westlichen Medien über Vieweg. Der „Rias“ sendete am 15. Februar einen Beitrag darüber, wie Agrarwissenschaftler „unter den negativen Folgen des Sowjetkultes zu leiden“ hätten. Es seien „keine Anzeichen dafür vorhanden, dass Erkenntnisse von Wissenschaftlern die sich auf konkrete Untersuchungen stützen bei den verantwortlichen SED Funktionären Berücksichtigung finden.“89 Die Tageszeitung „Die Welt“ titelte am 18. Februar 1957: „Unruhe unter den SED-Genossen“ und „Agrarfachmann vor Parteigericht“.90 Am 24. Februar 1957 erschien im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ ein Eigenbericht mit dem Titel „Den Feinden zur Antwort“. Darin wurde über die öffentliche Parteiversammlung des Instituts für Agrarökonomik in Auswertung der 30. Tagung des ZK der SED berichtet. Dort hätten sich die Anwesenden mit der „konterrevolutionären Konzeption von Prof. Vieweg“ auseinandergesetzt. Zitiert wird Mückenbergers Schlusswort: „Um allen wissenschaftlichen Mitarbeitern des Instituts die Schädlichkeit der Auffassung von Prof. Vieweg zu zeigen, ist es erforderlich, daß durch die Parteiorganisation in freimütiger und kameradschaftlicher Aussprache alle Unklarheiten in bezug auf die Agrarpolitik unserer Arbeiter- und Bauern-Regierung beseitigt werden“.91
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Ebd., Bl. 84 f. Vgl. ebd., Bl. 103. 88 Vgl. ebd., Last an Mückenberger, 16.2.1957; Mückenberger an ZPKK, Schreiben von Last mit Niederschrift als Anlage. 89 Ebd., Bl. 208–210: Mitschrift des Rias-Beitrags vom 15.2.1957. 90 Die Welt vom 18.2.1957. 91 Neues Deutschland vom 24.2.1957. 87
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Der öffentliche und parteiinterne Druck auf Vieweg und Langendorf nahm seit der Eröffnung der Parteiverfahren gegen sie zu. Vieweg bat am 10. März 1957 den Präsidenten der Deutschen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften, Hans Stubbe, schriftlich um Entbindung von seinen Ämtern als Sekretär der Sektion für Agrarökonomik, als Institutsdirektor und als ordentliches Mitglied der Akademie. Am 18. März 1957 wurde auf der 147. Sitzung der ZPKK der Parteiausschluss von Kurt Vieweg und Marga Langendorf beschlossen.92 Am 22. März traf Vieweg Stubbe, um ihm zu erläutern, dass sein Fall „Angelegenheit der Partei“ sei und dass er außerdem „als Staatsbürger über sich selbst entscheiden könne und dabei nicht der Zustimmung der Akademie unterworfen sei“.93 Am 26. März 1957 behandelte das Politbüro die Vorlagen der ZPKK und bestätigte den Ausschluss von Vieweg und Langendorf. Am selben Tag verließen Kurt Vieweg und Marga Langendorf die DDR. Über West-Berlin flogen sie nach Frankfurt am Main und fuhren von dort aus nach Darmstadt, wo Viewegs Bruder wohnte. Bereits eine Woche nach seiner Flucht erhielt Vieweg Besuch von seiner Ehefrau Gertrud, die ihm mitteilte, dass er weder die DDR-Behörden noch die Staatssicherheit zu fürchten habe. Er wiederum beteuerte, dass er sie nicht mit Marga Langendorf betrogen habe. Gertrud Vieweg kehrte am folgenden Tag mit einer Botschaft ihres Mannes in die DDR zurück. Er beteuerte, dass er nicht gegen die DDR arbeiten werde und er hoffe, dass man bald einsehen werde, dass man ihm Unrecht angetan habe. V. Fazit Als am 18. März über den Parteiausschluss von Vieweg und Langendorf verhandelt wurde, entschieden die Mitglieder der ZPKK auch über die so genannte „Harich-Gruppe“. Kurz zuvor waren Wolfgang Harich und seine angeblichen Mitstreiter zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. In seiner mehrstündigen Befragung am 5. Februar 1957 hatte Vieweg beteuert: „Ich kenne Harich nicht, habe ihn nicht gesehen, keiner von dieser Gruppe ist mir bekannt.“94 Als das Politbüro am 26. März den Ausschluss von Vieweg und Langendorf bestätigte, nahm es auch den Bericht über die so genannte Harich-Gruppe zur Kenntnis und beauftragte das Ministerium für Staatssicherheit, eine Analyse über diese „konterrevolutionäre Gruppe“ vorzulegen.95 Die zeitliche Nähe dieser Personen bleibt bestehen: 1990 wurde Wolfgang Harich und im folgenden Jahr Kurt Vieweg und Marga Langendorf rehabilitiert. Kurt Vieweg und Marga Langendorf rücken damit in die Gruppe der oppositionellen Intellektuellen der DDR ein. Ihr Verhalten 92
Vgl. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/463, ZPKK-Beschluss 18.3.1957. SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 222 f.: Mellentin an Matern, Aussprache Stubbe mit Vieweg, 22.3.1957; SED-Hausmitteilung von Abt. Landwirtschaft an Matern, 23.3.1957. 94 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 67: Befragung Viewegs 5./6.2.1957. 95 SAPMO, BA DY 30/J IV 2/2/534, Politbürositzung, 26.3.1957. 93
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gegen die „Apparateherrschaft“ ist beispielhaft.96 Ihre agrarwissenschaftlichen Überlegungen zu einer Reform der Landwirtschaftspolitik sind demnach in den Kontext der revisionistischen Strömungen in der Philosophie Robert Havemanns, Wolfgang Harichs und Ernst Blochs oder in den Wirtschaftswissenschaften mit Fritz Behrens und Arne Benary einzuordnen. Tatsächlich vermerkte Walter Ulbricht in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen zum 30. ZK-Plenum am 30. Januar 1957: „Vieweg – Benary“.97 Ulbricht erklärte, das „konterrevolutionäre“ Agrarprogramm beinhalte sowohl die Aufgabe einer planmäßigen Entwicklung der Landwirtschaft generell als auch das Ende der systematischen Förderung der sozialistischen Landwirtschaft. Die von Vieweg propagierte Förderung der bäuerlichen Familienbetriebe bezeichnete Ulbricht als „Rückkehr zur kapitalistischen Wirtschaft“. Viewegs Programm bedeute nichts anderes als den „Verzicht der sozialistischen Umgestaltung“ und die „Restauration des Kapitalismus in der Landwirtschaft“. Das heiße, vor den Schwierigkeiten des Aufbaus des Sozialismus zurückzuschrecken. Mit Blick auf Viewegs deutsch-deutsche Überlegungen erklärte er, dass sich manche Bauern die Wiedervereinigung wohl „zu einfach“ vorgestellt hätten und einen „leichteren Weg“ suchten. Dabei seien sie „bestimmten sozialdemokratischen Politikern auf den Leim“ gegangen. Nun wüssten die Bauern, „daß in Westdeutschland die militaristischen Kräfte, die Deutschland zweimal in die Katastrophe gestürzt haben, wieder an der Macht sind“. Damit bestätigte er indirekt das Ende der bisher propagierten Deutschlandpolitik. Die Sicherung des Friedens und die Wiedervereinigung Deutschlands hingen von der Bändigung des Militarismus in Westdeutschland ab. Aus diesem Grund müsse die Arbeiter-und-Bauern-Macht gestärkt werden. Die vorbildliche Entwicklung der Wirtschaft und des kulturellen Lebens in der DDR sei die grundlegende Aufgabe für die friedliche Lösung der deutschen Frage. Ulbricht knüpfte daran die Hoffnung, dass auch in der BRD in Zukunft der Sozialismus aufgebaut werde. Folglich dürften in der DDR die „sozialistischen Errungenschaften“ nicht eingeschränkt werden.98 Die Auseinandersetzung um das Agrarprogramm von Kurt Vieweg und Marga Langendorf zeigt, dass die Kraftprobe zwischen den intellektuellen Reformern und der SED-Führung im Jahr 1957 noch nicht entschieden war. Sie zeigt auch, dass die Richtungskämpfe innerhalb der SED tobten. Der XX. Parteitag der KPdSU hatte auf alle Beteiligten schicksalhaft gewirkt und sie vorsichtig gemacht. So wollte die ZPKK keine weit reichenden Entscheidungen treffen, die ihnen später vorgeworfen werden könnten. Auch in der Deutschen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften hatte man Vieweg nur sehr zurückhaltend kritisiert. Entsprechend äußerte sich deren Präsident Hans Stubbe, der in seiner Stel96
Vgl. Weber: Geschichte der DDR (Anm. 9), S. 283 ff. SAPMO, BA, NY 4 182/894 (Nachlass Ulbricht), handschriftliche Aufzeichnungen Ulbrichts (30. Tagung): „Vieweg – Benary“. 98 Ulbricht, Fünf Jahre Entwicklung der sozialistischen Landwirtschaft, S. 612 f. 97
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lungnahme auf die sich aus dem Fall Viewegs ergebenden Konsequenzen verwies. Es gehe nicht „nur um Herrn Vieweg, sondern vor allem um das Ansehen, vielleicht sogar den Fortbestand unserer Akademie“. Er schlug deshalb vor, Vieweg zu beurlauben. Schließlich wurde der Rücktritt Viewegs als „unvermeidlich“ bezeichnet.99 Kurt Viewegs Degradierung im Frühjahr und seine Flucht in die BRD im Sommer 1957 waren spektakulär. Es gibt nur wenige Vergleichsbeispiele aus der SED-Parteiprominenz. Zu nennen wären hier Heinz Lippmann, Stellvertreter Honeckers in der FDJ, oder Erich Gniffke, Mitglied des ersten Zentralsekretariats der SED. Wenig spektakulär hingegen war die Rückkehr Viewegs in die DDR im Herbst 1957. Diese ist auf den ersten Blick überraschend, zumal Vieweg sowohl das Schicksal des Agrarfachmannes und ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy als auch das Vorgehen der SED-Führung gegen Reformer wie Wolfgang Harich oder Bernhard Steinberger bekannt waren. So bleibt jedoch auch der Eindruck, dass Erich Mückenberger die treibende Kraft in der Ausschaltung Viewegs war. Mit seinem Verhältnis zu Mückenberger wäre auch zu erklären, warum Vieweg nicht von seinen Positionen abrückte. Mit seinem Agrarprogramm wollte er eine wissenschaftliche Plattform schaffen, um die Entwicklung des Sozialismus in der DDR zu fördern und die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands herbeizuführen. Er betonte immer wieder, dass er am Marxismus-Leninismus festhalten, diesen jedoch vom Stalinismus befreien wollte. Ihm wurde unterstellt, einen anderen, spezifisch deutschen Weg zum Sozialismus anzustreben. Er selbst sah diesen Weg lediglich als einen sehr langen an. Ermuntert durch den XX. Parteitag der KPdSU und die Entwicklungen seit Stalins Tod erkannte er die Möglichkeit, durch Alternativvorschläge dem gemeinsamen Ziel näher zu kommen. Dabei war die deutsche Wiedervereinigung von zentraler Bedeutung. Indem er auch den westdeutschen Bauern Angebote machte, wollte er auf der landwirtschaftlichen Ebene eine breitere Basis für ein politisches Bündnis von Arbeitern und Bauern in Deutschland schaffen. Bis dahin sah er für eine Übergangsphase eine gesicherte Existenz der traditionell wirtschaftenden Bauern als notwendig an, eine zweigleisige Gegenwart für eine sozialistische Zukunft. Mit seinem Agrarprogramm verzichtete Vieweg also auf die schnelle Errichtung einer idealen sozialistischen Landwirtschaft. Aus diesem Grund forderte er auch die Auflösung der unrentabel wirtschaftenden LPG. Die Kollektivierung in der Landwirtschaft wollte er nur mit äußerster Vorsicht und nicht gegen den Widerstand der Beteiligten durchsetzen. Von Ulbricht und führenden SED-Politikern versprach sich Vieweg keine Reformen und somit auch keine Unterstützung für seine Agrarreform. 99 SAPMO, BA, DY 30/IV 2/4/396, Bl. 218 f.: Deutsche Akademie der Landwirtschaftsgenossenschaften zu Berlin an den Sekretär des Zentralkomitees der SED Erich Mückenberger, 15.3.1957.
Das Lächeln der Verfassungsrichterin Das Ende des väterlichen „Stichentscheids“ und die Suche nach der Demokratie in der frühen Bundesrepublik Von Till van Rahden I. Ein Urteil haben Richter mit ernster Miene zu verkünden. Umso bemerkenswerter ist der Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 30. Juli 1959 über das Verhalten von Erna Scheffler am Vortag. Scheffler, die einzige Frau unter den sechzehn Richtern des seit 1951 bestehenden Bundesverfassungsgerichts, habe nämlich dessen Entscheidung zum sogenannten „väterlichen Stichentscheid“ mit „einem Lächeln“ verkündet.1 Laut diesem Urteil des obersten bundesdeutschen Gerichts führe die „zwischen den Eltern bestehende sittliche Lebensgemeinschaft und ihre gemeinsame, unteilbare Verantwortung gegenüber dem Kinde [. . .] in Verbindung mit dem umfassenden Gleichberechtigungsgebot der Verfassung im Bereich der elterlichen Gewalt zu voller Gleichordnung von Vater und Mutter“.2 Mit dieser Entscheidung erklärte das Gericht zwei Paragraphen des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. Juni 1957 für nichtig, in denen sich ein patriarchalisches Verständnis elterlicher Autorität niedergeschlagen hatte. Paragraph 1628 des BGB sah vor, dass in Erziehungsfragen der Vater das letzte Wort habe, und Paragraph 1629 bestimmte, dass die Vertretung des minderjährigen Kindes allein ihm zustünde. Zwar betonten 1959 auch die Verfassungsrichter, dass die „objektiven biologischen oder funktionalen [. . .] Unterschiede“ der Geschlechter im Familienrecht eine je spezi1 Vater und Mutter sollen gemeinsam entscheiden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.7.1959, Nr. 173, S. 1. Der vorliegende Text ist eine überarbeite und erweiterte Fassung meines Aufsatzes „Demokratie und väterliche Autorität. Das Karlsruher „Stichentscheid“-Urteil von 1959 in der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik“, der zuerst in den Zeithistorischen Forschungen, 2 (2005), S. 160–179, erschienen ist. Er ist im Rahmen meines Forschungsvorhabens „Wie Vati die Demokratie lernte. Zur Frage der Autorität in der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik“ entstanden. Für ihre finanzielle Unterstützung danke ich der Alexander von Humboldt-Stiftung, der Fritz Thyssen-Stiftung und der nordrheinwestfälischen Landesregierung, von deren Exzellenzwettbewerb „Geisteswissenschaften gestalten Zukunftsperspektiven“ ich profitieren durfte. 2 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 10, Tübingen 1960, S. 59.
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fische rechtliche Bestimmung der Rolle für die Ehegatten erlaube. Mit dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes sei durchaus zu vereinbaren, dass nach Paragraph 1360 des BGB, „die Ehefrau ihre Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushaltes“ erfülle, „der Ehemann [dagegen] [. . .] durch Erwerbstätigkeit“. Anders lägen jedoch die Dinge bei der Frage der Erziehung der Kinder. Das Prinzip des väterlichen Stichentscheids, für das sich die Bundesregierung und der Bundestag ausgesprochen hatten, lasse sich nicht aus den objektiven Unterschieden zwischen Männern und Frauen herleiten. „Für die verfassungsrechtliche Beurteilung“, argumentierten die Richter, sei „maßgebend, daß die bestehenden Verschiedenheiten – mag man sie biologisch oder funktional nennen –“ im Vergleich zu „den vergleichbaren Elemente[n]“ in den „Beziehungen von Vater und Mutter zu den Kindern“ zu vernachlässigen seien. Aus Sicht des Gerichts waren daher „die Beziehungen beider Eltern zu Kindern ihrem Wesensgehalt nach gleich“.3 Im Rahmen des bürgerlichen Rechts war mit diesem Karlsruher Urteil der Familienpatriarch entthront. Künftig hatte nun der Vater nicht mehr das letzte Wort: Sollten sich Vater und Mutter ausnahmsweise nicht einigen können, hatten nun beide das Recht, einen Vormundschaftsrichter anzurufen, der eine Rolle als „entscheidende Instanz ,letzter Linie‘ “ übernehme.4 Das epochemachende Urteil des Gerichts war ein Schlag ins Gesicht der CDUgeführten Bundesregierung und löste unter den Anhängern einer patriarchalischen Familienordnung einen Sturm der Entrüstung aus. Dabei tat sich vor allem der „Rheinische Merkur“ hervor. Der Leitartikel, mit dem die einflussreiche konservativ-katholische Wochenzeitung auf das Urteil reagierte, wies die Begründung des Gerichts entschieden zurück. Mit ihrer Entscheidung, argumentierte der Leiter des Bonner Büros der Zeitschrift Paul Wilhelm Wenger, seien die Hüter der Verfassung dem „,Trend‘ dieser Zeit“ gefolgt, „die vaterlose Gesellschaft als Leitidol zu etablieren“. Statt die Familie als „Keimzelle aller irdischen Gemeinschaft“ zu schützen, hätten sich die Richter einer Argumentation bedient, die den Geist „verstaubte[r] Geltungskämpfe aus der Ära der Suffragetten“ atme. „Dank 3
Ebd., S. 74 und 75. Ebd., S. 84. Zum Verhältnis von elterlicher Gewalt und dem Vormundschaftsgericht in den sechziger Jahren siehe: Wolfram Müller-Freienfels: Ehe und Recht, Tübingen 1962, S. 105 f., Georg Scheffler: § 1627 BGB, in: ders./Karl E. Meyer: Das Bürgerliche Gesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtssprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes, Bd. 4. Familienrecht, 10. u. 11. Aufl., Berlin 1964, S. 931–934; Hans Dölle: Familienrecht. Darstellung des deutschen Familienrechts mit rechtsvergleichenden Hinweisen, Bd. 2, Karlsruhe 1965, S. 142 f.; Wilhelm Knittel: Die verfassungsrechtliche Normenkontrolle als Ursache von Gesetzeslücken. Zu den Auswirkungen der Verfassungswidrigkeit der §§ 1628, 1629 I BGB, in: Juristenzeitung 22 (1967), S. 79–84. Die infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts geschaffene Rechtslage galt bis zum 1.1.1980, als das „Gesetz zur Neuregelung der elterlichen Sorge“ vom 18.7.1979 in Kraft trat. Vgl. Günther Beitzke: Familienrecht. Ein Studienbuch, 26. Auflage, München 1992, S. 289. 4
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dieser Prinzipientreue“, warnte der „Rheinische Merkur“, „stehen wir nun vor einem Einbruch der ungeeignetsten Instanz, nämlich des Staates, in jenen Bereich, dessen innere Ordnung und Gesundheit erst den guten Staat als Verband möglichst vieler guter Familien ausmacht“. Das Urteil beruhe auf der „abenteuerliche[n] Irrlehre, daß der Staat – repräsentiert vom Vormundschaftsrichter – der legitime Vater- und Mutter-Ersatz sei“, und erinnere daher an „jene wilden Anfangszeiten des Sozialismus, als anarchistisch lebende Berufsrevolutionäre sich der Frau gegenüber dadurch entpflichteten, daß sie deren unbeschränkte Freiheit und Gleichheit proklamierten“. Man könne sich leicht vorstellen, so Wenger, „wie vergnügt man sich in der Sowjetzone die Hände über diese formaldemokratische Einebnung der Familie reiben wird“. Um den Schaden zu begrenzen, solle der Bundestag noch einmal die Frage aufgreifen, auf welche Weise der Staat „Ehe und Familie in ihrer vorhandenen Kulturüberlieferung“ schützen könne. Zudem müsse die Bundesregierung umgehend ein „Oberste[s] Bundesgericht“ errichten, um den Einfluss der Verfassungsrichter zu beschneiden, bevor diese die Familienpolitik durch eine weitere Entscheidung gefährden könnten.5 Sieht man einmal von dem Aufruf ab, das Bundesverfassungsgericht zu entmachten, finden sich in diesem Leitartikel des „Rheinischen Merkurs“ noch einmal die Kernelemente eines „christlich-abendländischen“ Leitbildes der Ehe und Familie. Wie zahlreiche Studien zur Geschlechtergeschichte der frühen Bundesrepublik gezeigt haben, knüpfte die Regierung Adenauer an christliche Politikentwürfe aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an.6 Vor allem Adenauers seit Oktober 1953 amtierender Familienminister Franz Joseph Wuermeling pries die „bürgerliche“ Familie und eine Hierarchie der Geschlechter als Garanten der Stabilität und als moralische Waffen im Kampf gegen die nationalsozialistische Vergangenheit und die neue kommunistische Bedrohung. Statt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen innerhalb der Familie zu ermöglichen, 5 Paul Wilhelm Wenger: Vaterlose Gesellschaft, in: Rheinischer Merkur vom 7.8. 1959, Nr. 32, S. 1; siehe auch Otto Gritschneder: Verfrühter Suffragettenjubel. Übersehenes im Gleichberechtigungsurteil, in: Rheinischer Merkur vom 14.8.1959, Nr. 33, S. 2; sowie: Summum jus . . ., in: Deutsche Tagespost vom 31.7.1959. 6 Vgl. Robert G. Moeller: Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der westdeutschen Nachkriegspolitik, Frankfurt a. M. 1997; Elizabeth Heineman: What Difference does a Husband Make? Women Standing Alone and the Changing Meaning of Marital Status in Germany, 1933–1961, Berkeley 1999; Klaus-Jörg Ruhl: Verordnete Unterordnung. Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie, München 1994; Ingrid Langer: Die Mohrinnen hatten ihre Schuldigkeit getan . . . Staatlich-moralische Aufrüstung der Familien, in: Dieter Bänsch (Hrsg): Die Fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur, Tübingen 1985, S. 108–130; zum katholischen Leitbild der Familie in den zwanziger Jahren siehe Rebecca Heinemann: Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik, München 2004. Zur fachwissenschaftlichen Debatte der westdeutschen Zivilrechtler siehe Christine Franzius: Bonner Grundgesetz und Familienrecht. Die Diskussion um die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der westdeutschen Zivilrechtslehre der Nachkriegszeit 1945–1957, Frankfurt 2005.
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wie es Frauenrechtlerinnen und Soziologen gefordert hatten, schrieb das 1957 verabschiedete Familiengesetz die patriarchalische Geschlechterordnung fest, indem es den Vätern die entscheidende Autorität zuwies und das Leitbild der „Hausfrauenehe“ festschrieb. Folgt man Robert Moeller, gab es während der Ära Adenauer in der „Diskussion über die Stellung der Frau und die Struktur der Familie [. . .] wenig Raum für Experimente irgendwelcher Art“. In den fünfziger Jahren habe es, so Moeller, einen breiten Konsens gegeben, dass die Familie „Erneuerung und Schutz, nicht die Konfrontation mit neuen Entwürfen“ verdiene.7 So anregend, schlüssig und einflussreich diese Lesart der Geschlechtergeschichte der frühen Bundesrepublik ist, eines kann sie nicht recht erklären: Das Lächeln der Bundesverfassungsrichterin Erna Scheffler, als diese am 29. Juli 1959 für das Karlsruher Gericht den väterlichen Stichentscheid als verfassungswidrig verwarf. Immerhin war Scheffler, 1893 in Breslau geboren, eine feministische Vorzeigejuristin ihrer Generation. Sie sei in einer Zeit aufgewachsen, urteilte ihr Kollege im Ersten Senat des Bundesverfassungsgericht Konrad Zweigert rückblickend, „in der die berufstätige Frau, besonders die Juristin, noch als abartige [. . .] Figur“ galt, und habe deshalb „um so entschlossener“ Jura studiert und bereits 1914 promoviert.8 Ihren Platz im Senat des Karlsruher Gerichts hatte sich Scheffler mit einer fulminanten Kritik des patriarchalischen Ehe- und Familienrechts auf dem deutschen Juristentag von 1950 verdient. So kontrovers ihre Thesen waren, so hoch war ihre Reputation unter Juristen, so dass sie sich gegen Hildegard Krüger und Elisabeth Selbert durchzusetzen konnte, welche die SPD im Mai 1951 neben Scheffler als erste Bundesverfassungsrichterin ins Gespräch gebracht hatte.9 Auch nach ihrem Wechsel nach Karlsruhe warb Scheffler in zahlreichen Reden und Veröffentlichungen für die Gleichberechtigung von Mann und Frau und schreckte nicht davor zurück, den ehe- und familienrechtlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung öffentlich als „tragisch, wenn nicht lächerlich“ zu bezeichnen, da dieser das Patriarchat ebenso sichere wie das alte BGB.10 Vor allem aber 7
Moeller: Geschützte Mütter (Anm. 6), S. 337. Konrad Zweigert: Erna Scheffler. 80 Jahre, in: Juristenzeitung 28 (1973), S. 605. 9 Vgl. Erhard Lange: Dr. Erna Scheffler, geb. Friedenthal (1893–1983). Eine Breslauerin – erste Richterin am Bundesverfassungsgericht, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 42–44 (2001–2003), S. 560. 10 Erna Scheffler, Referat auf dem 38. Deutschen Juristentag, in: Gleichberechtigung als Verfassungsauftrag. Eine Dokumentation zur Entstehung des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. Juni 1957, Düsseldorf 1996, S. 128–134; Kritik einer Bundesrichterin am Gleichberechtigungsgesetz, in: Die Neue Zeitung vom 30.1.1953. Zur Wahl der von der SPD vorgeschlagenen Scheffler ans Bundesverfassungsgericht siehe Udo Wengst: Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane in der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, S. 231 f. Allgemein zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts innerhalb der politischen Kultur der frühen Bundesrepu8
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nutzte sie die Chance, die sich ihr in Karlsruhe bot, um für eine egalitäre Geschlechterordnung einzutreten. Laut Zweigert seien bis zu ihrem Ausscheiden als Bundesverfassungsrichterin im Jahre 1963 alle Karlsruher Entscheidungen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau „im wesentlichen ihr Werk“ gewesen. Für Scheffler sei es „besonders beglückend“ gewesen, so ihr Kollege, dass ihr als Verfassungsrichterin „das starke Gebot der gerichtlichen Entscheidung zu Gebote stand“, an die alle westdeutschen „Verfassungsorgane [. . .] gebunden waren und sind“, sofern es ihr gelang, „ihre richterlichen Kollegen“ zu überzeugen.11 Selbst konservative Kollegen wie Theodor Ritterspach, der dem Ersten Senat wie Scheffler und Zweigert von Anfang an angehörte, würdigten, dass Scheffler „persönliche Liebenswürdigkeit und sachliche Bestimmtheit“ überzeugend verbunden und daher „sehr wirkungsvoll“ für ihre Position gestritten habe.12 Noch am Tag der Urteilsverkündung schrieb Scheffler an Marie-Elisabeth Lüders, sie empfinde es als „eine der schönsten Freuden“, „Ihnen das Urteil schicken zu können“.13 In gut unterrichteten Karlsruher Kreisen zirkulierte Anfang August zudem das Gerücht, Scheffler habe am Abend des 29. Juli 1959 das Ende des väterlichen Stichentscheids mit Freunden im „Erbprinz“ zelebriert, einem mondänen Restaurant der Stadt, in dem Gina Lollobrigida, Horst Buchholz und Maria Schell zwei Jahre zuvor ihre Bambis gefeiert hatten.14 Kaum überraschen kann es, dass die Verfassungsrichterin das Urteil als „Krönung ihres Werkes“ empfand, wie sich der Familienrechtler Wolfram Müller-Freienfels heute erinnert, den der Juristinnenbund im Februar 1959 gemeinsam mit Helmut Ridder beauftragt hatte, jene vier Mütter zu vertreten, die gegen die Paragraphen 1628 und 1629 des BGB Verfassungsbeschwerde erhoben hatten.15 Insofern griffe es zu kurz, Scheffler als eine Ausnahmeerscheinung zu deuten, der es gleichsam zufällig gelang, dem patriarchalischen Geist der Ära Adenauer eine verfassungsrechtliche Nase zu drehen, indem sie ihre sieben Kollegen des Ersten blik siehe Donald P. Kommers: Judicial Politics in West Germany. A Study of the Federal Constitutional Court, Beverly Hills 1976. 11 Zweigert: Erna Scheffler (Anm. 8), S. 605. 12 Theodor Ritterspach: Erinnerungen an die Anfänge des Bundesverfassungsgerichts, in: Eckart Klein (Hrsg.): Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1995, S. 203 f. 13 Scheffler an Lüders, Bundesarchiv Koblenz, NL Marie-Elisabeth 151/226; zit. nach: Gleichberechtigung als Verfassungsauftrag (Anm. 10), Dok. Nr. 70, S. 497, Fn. 4. 14 Lange: Dr. Erna Scheffler (Anm.9), S. 572, Fn. 202. 15 Gespräch mit Wolfram Müller-Freienfels (Freiburg, 26. Januar 2005), dem ich hiermit herzlich für seine Bereitschaft danke, mir über die Hintergründe des Urteils Auskunft zu geben; siehe auch Wolfram Müller-Freienfels: Equality of Husband and Wife in Family Law, in: International and Comparative Law Quarterly 8 (1959), S. 249– 267; ders., Kernfragen des Gleichberechtigungsgesetzes, in: Juristenzeitung 12 (1957), S. 685–696; sowie ders.: Ehe und Recht (Anm. 4), S. 103–106. Der Hinweis auf den Auftrag des Juristinnenbundes findet sich in: Gleichberechtigung als Verfassungsauftrag (Anm. 10), S. 496.
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Senats überredete, eine Entscheidung mitzutragen, die diese abgelehnt hätten, wären sie sich der Konsequenzen ihres Urteils bewusst gewesen. II. Vielleicht kommt man Schefflers Lächeln auf die Spur, indem man zwischen zwei Säulen einer patriarchalischen Geschlechterordnung unterscheidet. Die eine umfasst die sozial- und arbeitsrechtliche Dimension. Hier herrschte in der Tat bis weit in die sechziger Jahre hinein ein breiter Konsens, dass Frauen ihren Beitrag zum Unterhalt der Ehe und Familie primär durch Hausarbeit, Männer dagegen durch außerhäusliche Berufstätigkeit zu leisten hatten. Nur eine kleine Minderheit plädierte für arbeitsmarkt- und sozialpolitische Modelle, die es erleichtern sollten, Familie und Beruf zu vereinbaren.16 Die andere Säule umfasst dagegen die rechtliche Normierung von Macht und Herrschaft im Verhältnis der Geschlechter. Hier ging es buchstäblich darum, wem der Gesetzgeber in Fragen des ehelichen Zusammenlebens und der Erziehung der Kinder das letzte Wort zusprach. In den fünfziger Jahren konzentrierte sich die Kritik an der patriarchalischen Geschlechterordnung auf diesen Aspekt. Dass Scheffler und ihre Richterkollegen die rechtlich vorgeschriebene väterliche Vorherrschaft im engeren Sinne für verfassungswidrig erklärten, lässt sich daher als eine familienpolitische Zäsur und als ein epochemachender Durchbruch einer emanzipatorischen Geschlechterpolitik interpretieren. Laut Marie-Elisabeth Lüders beendete das Urteil einen fünfzig Jahre zurückreichenden Kampf für die „Anerkennung elementarster Selbstverständlichkeiten“. In ihren Memoiren betonte die Wortführerin der liberalen Frauenbewegung in der frühen Bundesrepublik, dank Schefflers „geradezu glänzender Darlegung aller juristischen Für und Wider“ sei es gelungen, „die sinnlose und verfassungswidrige Formulierung“ des Stichentscheids „zu Fall zu bringen und damit die vorbehaltlose Gleichberechtigung beider Ehepartner [. . .] durchzusetzen“.17 16 Dass hierin eine empfindliche Einschränkung einer emanzipatorischen Geschlechterpolitik lag, war Frauenrechtlerinnen wie Erna Scheffler dabei durchaus bewusst; siehe Erna Scheffler: Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im Wandel der Rechtsordnung seit 1918, Frankfurt 1970, S. 29–31; dies.: Zwölf Jahre Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Bestimmungen des Grundgesetzes über die Gleichberechtigung von Mann und Frau und über den Schutz von Ehe und Familie, in: Informationen für die Frau 15 (1964), Heft 9, S. 7 f.; zeitgenössische Kritik an Vätern, die auf ihren Beruf verzichteten und ihr Glück in der Rolle des Hausmannes suchten, dokumentiert Lu Seegers: Fragen Sie Frau Irene. Die Rundfunk- und Familienzeitschrift „Hör zu“ als Ratgeberin in den fünfziger Jahren, in: WerkstattGeschichte 21 (1998), S. 98 f. 17 Marie-Elisabeth Lüders: Fürchte Dich nicht. Persönliches und Politisches aus mehr als achtzig Jahren 1878–1962, Opladen 1963, S. 56 und 188 f. Als „Durchbruch“ interpretiert das Urteil auch Gerhard E. Gründler: Die sonnige Rechtslage, in: Christa Rotzoll (Hrsg.): Emanzipation und Ehe. Zehn Antworten auf eine heikle Frage, München o. J. [1969], S. 70. Die „große Signalwirkung“ des Urteils betont Sabine Berghahn:
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Auch wenn man über die Grenzen der Bundesrepublik hinausblickt, war das Karlsruher Urteil bemerkenswert. Abgesehen von den skandinavischen Ländern, die bereits in den frühen zwanziger Jahren dem Patriarchen seine familienrechtliche Legitimation entzogen hatten, kannte das Familienrecht aller anderen europäischen Demokratien zu Beginn der sechziger Jahre weiterhin die Institution des väterlichen Entscheidungsrechts oder „Stichentscheids“. „Le mari est le chef de la famille,“ hieß es in Art. 213 des französischen Code civil – und dabei handelte es sich um eine entschärfte Version der bis 1938 geltenden Fassung: „Le mari doit protection à sa femme, la femme obéissance à son mari“.18 Griechenland und Österreich kannten als einzige europäische Staaten bis in die späten siebziger Jahre sogar noch das Institut der „väterlichen Gewalt“. Dem Familienrecht der Donaurepublik galt dieses patriarchalische Privileg als „unverzichtbar, unveräußerlich [und] unvererblich“. Nach § 198 ABGB trat „beim Tode des Vater [. . .] daher kein Übergang auf die Mutter ein; es wird ein Vormund bestellt“. Die Forderung, die väterliche Gewalt durch ein „mütterliches Recht den Kindern gegenüber“ zu ergänzen, – wie sie kommunistische und sozialistische Politikerinnen formulierten – verhallten in der Zweiten Republik ohne Echo.19 Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts entsprach einem in der westdeutschen Öffentlichkeit verbreiteten Bedürfnis, väterliche Autorität nicht mehr als ein natürliches Entscheidungsrecht des Mannes und als ein hierarchisches Verhältnis von Befehl und Gehorsam aufzufassen. Das war insofern erstaunlich, als zu Beginn der fünfziger Jahre selbst ein linksliberales Organ wie „Die Gegenwart“ den „väterlichen Stichentscheid“ verteidigt hatte. „Irgend jemand muß schließlich die Entscheidung treffen“, betonte im August 1952 der Mitherausgeber der Halbmonatsschrift Max von Brück, ohne jedoch zu begründen, warum nicht auch die Mutter die Rolle des „irgend jemand“ hätte übernehmen können.20 Am Ende der fünfziger Jahre dagegen stieß das endgültige Aus
50 Jahre Gleichberechtigungsgebot. Erfolge und Enttäuschungen bei der Gleichstellung der Geschlechter, in: Max Kaase/Günther Schmid (Hrsg.): Eine lernende Demokratie. 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, WZB-Jahrbuch, Berlin 1999, S. 317. 18 Vgl. Siegfried Boschan: Europäisches Familienrecht. Ein Handbuch, 3. Auflage, Berlin 1963; Art 213 C.c. zit. nach: Alan MacDonald: The French Law of Marriage and Matrimonial Rights, in: International and Comparative Law Quarterly 1 (1952), S. 323; siehe auch Kristen Stromberg Childers: Fathers, Families, and the State in France, 1914–1945, Ithaca 2003, S. 14–17; Bernard Schnapper: Autorité domestique et partis politique de Napoleon à de Gaulle, in: ders., Voies nouvelles en histoire du droit. La Justice, la famille, la répression pénale, Paris 1991, S. 555–596. 19 Vgl. Boschan: Europäisches Familienrecht (Anm. 18), S. 317 und 324; MüllerFreienfels: Ehe und Recht (Anm. 4), S. 103; Maria Mesmer: Die „Neugestaltung des Ehe- und Familienrechts“. Re-Definitionspotentiale im Geschlechterverhältnis der Aufbau-Zeit, in: Zeitgeschichte 24 (1997), H. 5–6, 186–210; Oskar Lehner: Die österreichische Familienrechtsreform. Analyse eine 70jährigen Kampfes um die Gleichberechtigung der Frau im österreichischen Familienrecht, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales Hg., Frauen in den 80er Jahren, Wien 1989, 26–38.
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für den väterlichen Stichentscheid in der Presse auf breite Zustimmung – sieht man vom „Rheinischen Merkur“ ab. Obwohl Ende Juli eigentlich Gerüchte die Titelseiten beherrschten, ein USA-Besuch des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow stehe unmittelbar bevor, war das Karlsruher Urteil in allen großen Zeitungen Gegenstand des Aufmachers und des Leitartikels. „Pater familias dethroned in Germany“, titelte die Londoner „Times“, und die „Frankfurter Rundschau“ begrüßte die Entscheidung des Gerichts „ohne Einschränkung“: Es bestehe „kein Zweifel“, so der Kommentar, dass „die beiden für nichtig erklärten Paragraphen dem Gleichberechtigungsgrundsatz unseres Grundgesetzes widersprochen haben“.21 Der Leitartikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erinnerte an die „mit viel weltanschaulicher Wolle begründeten Umschreibungen des betreffenden Paragraphen, in denen immer wieder das gemeinsame Entscheidungsrecht des Ehegatten betont wird, um dann doch zuletzt das Entscheidungsrecht des Vaters festzustellen“. Die verquaste Rede von der „christlich-abendländischen“ Familie habe aber ebenso wenig „wie die unschöne Wortbildung ,Stichentscheid‘“ davon ablenken können, dass „hier der Grundsatz der Gleichberechtigung durchbrochen war“.22 Von einem „schwarzen Tag“ der Väter sprach spöttisch die „Welt“, „Die Zeit“ freute sich darüber, dass nun die „letzte Bastion väterlicher Vorherrschaft in der Familie gefallen“ sei, und die „Deutsche Zeitung mit Wirtschaftszeitung“ sah die Idee eines väterlichen Stichentscheids nach dem Urteil in der „Rumpelkammer der Geschichte“: Jedem, der den Text der Verfassung lese, sei es „selbstverständlich“, dass „Frauen in der Bundesrepublik [. . .] bei der Erziehung ihrer Kinder die gleichen Rechte [. . .] wie ihre Männer“ haben sollten.23 Selbst die damals noch den Unionsparteien nahestehende „Süddeutsche Zeitung“ befürwortete das Urteil und erinnerte an die „ungeheure soziale Umwälzung der letzten Jahrzehnte“ – eine wenn auch etwas ungenaue Umschreibung für die Erfahrung des Nationalsozialismus, des totalen Kriegs und der Zusammenbruchgesellschaft. Diese habe „die Frau in der Ehe zur Partnerin des Mannes gemacht und ihr in weit größerem Maße als früher die Verantwortung 20 Max von Brück: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Die geplante Reform des Familienrechts, in: Die Gegenwart 7 (1952), Nr. 18 vom 30.8.1952, S. 556. 21 Pater familias dethroned in Germany. Equal Rights for Mothers, in: The Times vom 30.7.1959; Pflicht zur Verständigung, in: Frankfurter Rundschau vom 30.7.1959, Nr. 173, S. 3. 22 Heddy Neumeister: Der integrierte Vater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.7.1959, Nr. 173, S. 1. Die Redaktion der FAZ hielt die Karlsruher Entscheidung zudem für so bedeutend, dass die Zeitung zentrale Passagen des Urteils in der Rubrik „Dokumente der Zeit“ abdruckte; Der Vater kann nicht länger alleine entscheiden. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Juli über den „Stichentscheid“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.8.1959, Nr. 178, S. 9. 23 Ilse Elsner: Das letzte Wort, in: Die Welt vom 30.7.1959, Nr. 174, S. 3; Das Machtwort des Vaters . . . und die perfekte Gleichberechtigung – Urteil des BVG, in: Die Zeit vom 7.8.1959, Nr. 32, S. 4; Fritz Richert: Gleichberechtigte Mütter, in: Deutsche Zeitung mit Wirtschaftszeitung vom 30.7.1959, Nr. 99, S. 1.
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für die Erziehung der Kinder auferlegt, ihr aber auch durch Bildung und Beruf die Fähigkeit gegeben, diese Aufgabe zu bewältigen“.24 Sogar die Mehrzahl jener konservativen Experten für Familienrecht, die während der siebenjährigen Entstehungsgeschichte des „Gleichberechtigungsgesetzes“ vom 18. Juni 1957 dafür eingetreten waren, dass dem Mann und Vater in Ehe und Familie das letzte Wort gehöre, akzeptierte das Karlsruher Urteil stillschweigend. Einige unter ihnen plädierten sogar dafür, mit der Entscheidung des Gerichts pragmatisch umzugehen. Das galt etwa für Günther Beitzke, der sich als Mitglied der Familienrechtskommission der Evangelischen Kirche Deutschlands und als Sachverständiger im Bundestagsausschuss für Rechtswesen für den väterlichen Stichentscheid eingesetzt hatte. Zwar kritisierte der Verfasser des auflagenstärksten Lehrbuchs für Familienrecht im November 1959 einzelne Argumentationsschritte der Karlsruher Richter. Deutlich wies er jedoch die Position seines Bonner Kollegen Friedrich Wilhelm Bosch zurück, der die Gesetzeskraft des Urteils vom 29. Juli 1959 bezweifelt hatte. Statt einer solchen Fundamentalopposition sollten sich die Familienrechtler nun darauf konzentrieren, „ein AushilfsEntscheidungsrecht des Vormundschaftsgerichts in engen Grenzen“ zu halten – ein Argument übrigens, in dem er sich mit liberalen Familienrechtlern einig war und das Scheffler selbst bereits auf dem Deutschen Juristentag im September 1950 formuliert hatte.25 In der von der „Arbeitsgemeinschaft für öffentliche und freie Wohlfahrtspflege“ herausgegebenen Zeitschrift „Soziale Arbeit“ notierte die Rechtsanwältin und Kritikerin der patriarchalischen Elemente im Gleichberechtigungsgesetz Emmy Engel-Hansen im Dezember 1959 ebenso lakonisch wie zufrieden, es sei in Zukunft „müßig“, sich weiterhin mit den „Verfechter[n] des Stichentscheides“ auseinanderzusetzen. Denn das Urteil der Karlsruher Richter besitze „Gesetzeskraft“ und binde die Gerichte.26
24 Annemarie Endres: Vater und Mutter entscheiden gemeinsam, in: Süddeutsche Zeitung vom 1./2.8.1959, Nr. 183; siehe auch: Kein Stichentscheid des Vaters mehr, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.7.1959, Nr. 181, S. 3; sowie Hans Schuster: Elternrecht – nicht Vaterrecht, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.8.1959: Es habe „wenig Sinn [. . .] so zu tun, als könnten wir nach Belieben an einem zeitgebundenen patriarchalischen Ideal festhalten. Die Autoritätsverschiebung in der Familie anerkennen, heißt doch auch die vermehrte Verantwortung der Mutter in unserer Zeit mit erhöhten Rechten honorieren“. 25 Günther Beitzke: Die elterliche Gewalt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Juristische Rundschau 1959, S. 405; Erna Scheffler: Referat auf dem 38. Deutschen Juristentag, in: Gleichberechtigung als Verfassungsauftrag (Anm. 10), S. 133. Zu Beitzke als einem typischen Vertreter jener Zivilrechtler, die von entschiedenen Verfechtern des Patriarchats zu Befürwortern der Gleichberechtigung wurden, siehe Franzius: Grundgesetz und Familienrecht (Anm. 6), S. 167. 26 Emmy Engel-Hansen: Gleichberechtigung und Stichentscheid des Vaters, in: Soziale Arbeit 8 (1959), S. 531; Engel-Hansens Kritik am Gleichberechtigungsgesetz findet sich in dies.: Gleichberechtigungsgesetz und Praxis, in: Soziale Arbeit 7 (1958), S. 289–294.
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Die Karawane der Rechtsexperten, welche die Frage der väterlichen Autorität von der Verabschiedung des Grundgesetzes bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diskutiert hatte, zog weiter. Wenige Monate nach der Verkündung des Urteils war nur noch zweierlei strittig: Ob es auch für die Zeit „der Scheinherrschaft des Paragraphen 1629“, nämlich die Zeit vor dem 29. Juli 1959, Geltung beanspruchen könne, und ob das Vormundschaftsgericht die Religion von Kindern bestimmen dürfe, eine Kompetenz, die manche für unvereinbar mit dem Gebot der konfessionellen Neutralität des Staates hielten.27 Bereits 1966 konnte Helmut Ridder konstatieren, nach einem „ephemeren Aufwallen“ sei das Thema des ,Stichentscheids‘ seit 1960 „aus dem Schrifttum“ verschwunden: „Auch die durch den Wegfall der nichtigen BGB-Vorschriften vermeintlich entstandene ,Lücke‘ wird offenbar nicht mehr als solche empfunden“.28 Auf Zustimmung stießen Scheffler und ihre Richterkollegen zudem bei jenen katholischen Laien, die in der Familien- und Jugendarbeit tätig waren und sich vor dem Hintergrund ihrer praktischen Erfahrungen immer offener vom katholischen Klerus distanzierten, der die theologische Begründung für den Letztentscheid des Vaters geliefert hatte. Der Chefredakteur der „Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft“, Karl Borgmann, etwa kritisierte jene „katholische[n] Juristen und Schriftsteller“, die argumentiert hatten, das Urteil verstoße „gegen die Lehre der katholischen Kirche“. Deren Haltung sei nach der Karlsruher Entscheidung nicht nur realitätsblind, sondern verstelle auch den Blick auf die „Vorteile“, die „durch den Wegfall des Stichentscheides gegeben“ seien. Seinen Gegnern hielt Borgmann vor, das „Prinzip der väterlichen Autorität blind“ anzuwenden. Zweifellos nehme der „gute Vater an den Sorgen seiner Frau Anteil“; es sei aber eine „auch durch lange Tradition nicht mehr zu heiligende ,Barbarei‘ [. . .], wenn nun der Vater bei Meinungsverschiedenheiten [. . .] das absolute 27 Vgl. Julius Schwoerer: Zur Frage der Wirksamkeit von Alleinvertretungsakten des Vaters in der Zeit der Scheinherrschaft des Paragraphen 1629, Abs. 1 BGB n. F., in: Der Wirtschaftstreuhänder 13 (1960), S. 1419–1423; Dölle: Familienrecht (Anm. 4), S. 145 f.; Heinrich Götz: Rückwirkung des BVG-Urteil zum Alleinvertretungsrecht des Vaters? in: Neue juristische Wochenschrift 12 (1959), S. 1890 ff.; ders.: Nochmals: Rückwirkung des BVG-Urteil zum Alleinvertretungsrecht des Vaters? in: ebd. 13 (1960), S. 1324–1325. Laut dem Kieler Zivilrechtler Heinrich Lange könne kein Zweifel daran bestehen, dass die §§ 1628 und 1629 BGB in der Fassung des Gleichberechtigungsgesetzes „niemals geltendes Recht gewesen sind“; ders.: Die Lücke im Kindschaftsrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift 14 (1961), S. 1889; Hellmut Glässing: Kann der Vormundschaftsrichter die Erstbestimmung der Konfession der Kinder vornehmen?, in: Ehe und Familie. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 9 (1962), S. 350–352; vgl. dagegen Walter Becker: Religiöse Mischehen und Gleichberechtigung, in: Innere Mission 48 (1958), Heft 3, S. 71–74, der sich nach der Einführung des Gleichberechtigungsgesetzes entschieden für den Stichentscheid des Vaters gerade in dieser Frage ausgesprochen hatte. 28 Helmut Ridder: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Ein Plädoyer, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.): Die moderne Demokratie und ihr Recht, Bd. 2, Tübingen 1966, S. 222.
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Entscheidungsrecht haben soll“. Er sei überzeugt, dass das Urteil des Verfassungsgerichts „sich nicht nur nachteilig auswirken“ werde. Die „gegenwärtigen Polemiken“, schloss Borgmann, glichen „ohnehin nur müden Nachhutgefechten“.29 Auch die vormundschaftsgerichtliche Praxis zeigt, dass sich die Vorherrschaft der Väter nach dem 29. Juli 1959 nicht mehr auf die Hilfe des Staates und der Justiz verlassen konnte. Inwiefern sich infolge des Karlsruher Urteils das Machtverhältnis von Vätern und Müttern im Alltag jener Familien verschob, die nicht in den Blick der Justiz gerieten, muss hier offen bleiben. Kaum überraschen kann vermutlich, dass gerichtsrelevant vor allem Konflikte in zerrütteten Ehen wurden: Fast immer hatten sich die Eltern getrennt oder zerstritten, häufig war das Scheidungsverfahren eröffnet, die Scheidungsklage aber noch in der Schwebe. Meist entschieden die Vormundschaftsgerichte zugunsten der Mütter. Manche Kinder wie die 1943 geborene Gisela N. jedenfalls verdankten dem verfassungsrichterlichen Urteil ihre Chance auf eine bessere Schulbildung. Giselas Eltern lebten getrennt, und da sie im März 1961 die Höhere Handelsschule verließ, stellte sich die Frage, ob die Tochter, wie ihr Vater es wünschte, eine kaufmännische Stellung annehmen oder, wie ihre Mutter es wollte, eine Wirtschaftsoberschule besuchen sollte, um die höhere Reife zu erlangen. Auf Antrag der Mutter übertrug das Vormundschaftsgericht ihr das Sorgerecht für die Tochter und stellte so sicher, dass Gisela die Wirtschaftsoberschule besuchen konnte. Die Klage des Vaters gegen diese Entscheidung verwarf sowohl ein Landgericht als auch das Karlsruher Oberlandesgericht als unzulässig. Ob Gisela N. die höhere Reife tatsächlich erwarb, geht aus dem Urteil nicht hervor, wohl aber, dass ihre Mutter sie Ostern 1961 an der Wirtschaftsoberschule anmeldete und sie diese zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts im Oktober 1961 besuchte.30 III. Richtet man, um ein Zwischenfazit zu ziehen, den Blick weniger auf die sozial- und arbeitsrechtliche Säule der patriarchalischen Geschlechterordnung, sondern auf die Frage nach der Verteilung von Macht und Herrschaft im Verhältnis der Geschlechter, wird deutlich, dass auch die Ära Adenauer eine Zeit der geschlechterpolitischen Experimente und Neuanfänge war. So sehr der Kanzler die 29 Karl Borgmann: Der ,Stichentscheid‘ des Vaters ist aufgehoben, in: Caritas. Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft 60 (1959), S. 262–266. 30 Urteil des OLG Karlsruhe vom 2. Oktober 1961, in: Die Justiz. Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg 11 (1962), S. 80 f.; ähnlich auch: Urteil des AG Hamburg, in: Ehe und Familie. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 8 (1961), S. 123–125; Urteil des OLG Frankfurt, in: ebd., S. 125 f.; Urteil des AG Wennigsen, in: ebd., S. 485 f.; Dölle: Familienrecht (Anm. 4), S. 142 f.; eine positive Bilanz zog früh eine erfahrene Vormundschaftsrichterin; vgl. Anna Endres: Generalklausel Lebensgemeinschaft. Zum neuen Ehe- und Familienrecht, Nürnberg 1960, S. 83–85.
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Politik der frühen Bundesrepublik prägte, in der leidenschaftlichen Diskussion über die Frage der väterlichen Autorität entfaltete sich eine geschlechterpolitische Dynamik, die sich auch in der Zeit der Kanzler-Demokratie und der Erdrutschsiege der Christdemokraten nicht mehr steuern ließ. Die Suche nach neuen Formen der Vaterschaft war nicht nur eine Obsession, die die bundesdeutsche Öffentlichkeit zwischen den frühen fünfziger und späten sechziger Jahren umtrieb, sie bot zugleich die Möglichkeit, sich über das Verhältnis von Autorität und Demokratie zu verständigen. In der Rede über den „demokratischen Vater“ experimentierten die Westdeutschen mit einem Lebensgefühl, das es ihnen erlaubte, die Bundesrepublik nicht nur als Schicksal, sondern als Chance zu begreifen. Erst vor diesem Hintergrund wird die epochale Bedeutung der Karlsruher Entscheidung und die breite öffentliche Zustimmung für dieses Urteil verständlich. Damit ist der Kontext angesprochen, in den das Urteil vom 29. Juli 1959 gehört: Die unwahrscheinliche Renaissance einer demokratischen Kultur in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft im Anschluss an die Katastrophe des Nationalsozialismus und des genozidalen Vernichtungskriegs. Volker Berghahn hat darauf hingewiesen, dass wir inzwischen zwar eine Vorstellung davon gewonnen hätten, wie die Deutschen in den Nationalsozialismus hineingewachsen seien, aber nur wenig darüber wüssten, wie es ihnen gelang, aus dieser Geschichte von Gewalt, Terror und Massenmord wieder herauszukommen.31 Über die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik darf nicht in Vergessenheit geraten, wie schwach das demokratische Bewusstsein in der jungen Bundesrepublik war. Bereits frühe demoskopische Untersuchungen bestätigten, wie skeptisch die westdeutsche Öffentlichkeit der Idee der Demokratie gegenüberstand. Auf die Frage „Welcher große Deutsche hat Ihrer Ansicht nach am meisten für Deutschland geleistet?“ antworteten noch 1950 zehn Prozent der Bundesbürger mit Adolf Hitler, weitere vierzehn Prozent entschieden sich für Kaiser und Könige, fünfunddreißig Prozent für Otto von Bismarck, während nur sechs Prozent der Befragten „demokratische und liberale Politiker“ nannten. Die Westdeutschen der ersten zwei Nachkriegsdekaden standen, wie Theodor Heuss es 1946 formulierte, vor der Herausforderung, „bei dem Wort Demokratie“ mit dem „Buchstabieren [. . .] ganz von vorn an[zu]fangen.32 31 Vgl. Volker Berghahn: Recasting Bourgeois Germany, in: Hanna Schissler (Hrsg.): The Miracle Years: A Cultural History of West Germany, 1949–1968, Princeton, 2001, S. 326; siehe auch: Richard J. Bessel/Dirk Schumann: Introduction: Violence, Normality and the Construction of Postwar Europe, in: dies. (Hrsg.): Life after Death. Approaches to a Cultural and Social History of Europe During the 1940s and 1950s, Cambridge 2003, S. 13. 32 Vgl. Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947–1955, Allensbach 1956, S. 138–142; Dirk van Laak: Der widerspenstigen Deutschen Zähmung. Zur politischen Kultur einer unpolitischen Gesellschaft, in: Eckart Conze/Gabriele Metzler (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Daten
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Besonders Remigranten stach ins Auge, wie fremd den Deutschen die Idee der Demokratie als Lebensform zunächst war. Julius Posener, der 1945 als Offizier der britischen Political-Intelligence-Abteilung Eindrücke im besetzten Deutschland sammelte, warnte davor, zu große Hoffnungen in das Programm der „Reeducation“ zu setzen. Die „große Mehrheit“ der Bevölkerung stehe unter einem „moralischen“ Schock, der „sie veranlaßt zu rufen: ,Es war alles falsch, all-les falsch!!!!!!‘“, notierte der 1904 in Berlin geborene und 1935 als Jude emigrierte Architekturhistoriker. Die meisten Deutschen griffen nach jedem „hingehaltenen neuen Wort [. . .] wie nach einem neuen Mäntelchen, das die Blöße bedecken soll, die nach dem Herunterreißen des braunen Hemdes sichtbar wurde“. Das neue Schlagwort der „Demokratie“ sei „bis dato inhaltsleer“: Infolge des moralischen Schocks sei den Deutschen noch ganz „dumm im Kopf, und da sie sich umsehen, finden sie nichts als ein Wort und schreiben es als neuen Titel über die alten, noch halb geglaubten Inhalte“.33 Viele Stichwortgeber der intellektuellen Debatten während der Zusammenbruchgesellschaft formulierten ihre existentielle Sorge um die demokratische Zukunft des Gemeinwesens im Kontext der von ihnen diagnostizierten Krise der Geschlechterordnung. Dabei deuteten sie das „Dritte Reich“ nicht als Betriebsunfall, sondern stellten die Erfahrung des Nationalsozialismus in einen größeren historischen Zusammenhang. Das gilt etwa für den in Stuttgart arbeitenden Psychoanalytiker und Therapeuten Felix Schottlaender, der einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, als er 1947 den Beitrag „Freiheit“ für den Sammelband „Zur Klärung der Begriffe“ verfasste, einem Schlüsselwerk für die politische Ideengeschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit.34 Zur Voraussetzung für die „Entstehung des Terrors in Deutschland“ erklärte der Freudschüler und erste Herausgeber der Zeitschrift „Psyche“ in seinem 1946 veröffentlichten Essay „Zwang und Freiheit“ die „reaktionäre und freiheitsfeindliche Einstellung der kirchlichen Gewalten“ und das Fehlen „einer starken politischen Oberschicht“. Als die Ursache für den Erfolg des Nationalsozialismus galt ihm die zur „Selbstaufgabe gewachsene Angst“ vor der Freiheit. Dieser Kleinmut sei typisch für eine „patriarchal bestimmte Nation“ und führe zu einem „Abbau der nüchternen Vernunft“. Befalle die Furcht vor der Freiheit „in Gestalt einer politischen Panik ein ganzes Volk“, spüle sie „die mühselig geschaffenen Errungenschaften“ des deund Diskussionen, Stuttgart 1999, S. 332; Theodor Heuss: Um Deutschlands Zukunft (18. März 1946), in: ders., Aufzeichnungen 1945–1947, aus dem Nachlaß hg. und mit einer Einleitung versehen von Eberhard Pikart, Tübingen 1966, S. 184–208, hier: S. 207. 33 Julius Posener: In Deutschland 1945 bis 1946, Berlin 2001, S. 55. Ähnlich auch Martha Gellhorn: Rheinland, April 1945, in: Hans Magnus Enzensberger Hg., Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944–1948, Frankfurt am Main 1990, S. 87–97, bes. 92. 34 Vgl. Felix Schottlaender: Freiheit, in: Herbert Burgmüller (Hrsg.): Klärung der Begriffe. Beiträge zur Neuordnung der Werte, München 1947, S. 103–116.
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mokratischen Rechtsstaats hinweg. Daher setze die Demokratie den Bruch mit dem patriarchalen Prinzip voraus: Sie bedeute die „Bereitschaft zur Selbsthilfe in einem reifgewordenen Volke, das dem Glauben an die väterliche Häuptlingsallmacht entwachsen ist und sich auf seine ihm innewohnende Fähigkeit verläßt, auch große Schwierigkeiten und Gefahren aus eigener Kraft zu meistern“.35 Die Frage, ob und wenn ja wie Autorität und Demokratie zu vereinen seien, spielte eine wichtige Rolle in der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik, und der „Vater“ avancierte zu einem zentralen Symbol in dieser Debatte. Es erscheint zunächst naheliegend, die frühbundesrepublikanische Obsession mit der Autorität als einen Hinweis auf ein Demokratisierungsdefizit zu verstehen, das erst im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, sprich 1968, überwunden wurde.36 Einer solchen Lesart der politischen Kultur der jungen Bundesrepublik entgeht jedoch, dass sich das Verständnis dessen, was Autorität sei und wie diese sich begründe, zwischen den frühen fünfziger und den späten sechziger Jahren verschob. Hatte sich Autorität um 1950 noch häufig an einem Modell von Befehl und Gehorsam orientiert und durch den Verweis auf Tradition legitimiert, betonten seit Mitte der fünfziger Jahre immer mehr Zeitgenossen, dass eine demokratische Gesellschaft ein neues Verständnis von Autorität voraussetze, das sich in einem Vertrauensverhältnis zwischen sozial Gleichen legitimiere. Das „Evangelische Soziallexikon“, das 1963 in einer grundlegend neubearbeiteten Auflage erschien, warnte davor, Autorität mit Macht zu verwechseln. „Autorität lebt von dem Vertrauen, das ihr entgegengebracht werden kann.“ Dieses Vertrauen, fuhr das Lexikon fort, solle „nicht blind geschenkt werden“, sondern setze die „kritische Wachsamkeit“ voraus, auf die „echte Autorität angewiesen“ sei. Daher sei eine solche Form der Autorität mit dem „Gedanken der Partnerschaft“ durchaus vereinbar: „Partnerschaft ist echte Voraussetzung jeder Autorität, nicht etwa nur deren (dialektische) Ergänzung“.37 Partnerschaft wiederum sei nur auf dem „Boden einer freien Gesellschaft möglich“. Sie gründe in der „Gleichheit“ und „Mündigkeit der Partner“ und sei daher mit einer „patriarchalisch-autoritären Ordnung“ unvereinbar.38 35 Ders.: Zwang und Freiheit. Ein Versuch über die Entstehung des Terrors in Deutschland, Stuttgart 1946, S. 32, 34 und 43. „Wo die Frau abhängig und unterjocht ist, wo sie in törichter Bewunderung vor ihrem überlegenen Gebieter versinkt,“ schloss Schottlaender, „fehlt der wichtigste Schutz gegen das falsche Heldentum und das ewige Gerede vom Krieg, fehlt die wichtigste Schutzwehr gegen den Terror.“ 36 Vgl. Arnd Bauerkämper: Remigranten als Akteure von Zivilgesellschaft und Demokratie. Historiker und Politikwissenschaftler in Westdeutschland nach 1945, in: ders. (Hrsg.): Die Praxis der Zivilgesellschaft: Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt a. M. 2003, S. 345; sowie Ingrid Gilcher-Holthey: Die 68er-Bewegung: Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001, S. 127. 37 Cornelius Adalbert von Heyl: Autorität, in: Evangelisches Soziallexikon, 4. Auflage, Stuttgart 1963, Sp. 129–131. 38 Heinz-Dietrich Wendland: „Partnerschaft, in evangelischer Sicht,“ in: ebd., Sp. 960 f. Diesen Eintrag ebenso wie jene über „Autorität“ und „Demokratie“ sucht
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Den Zusammenhang zwischen der Demokratisierung der Gesellschaft und der Suche nach neuen Formen der väterlichen Autorität griffen Kritiker des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. Juni 1957 auf. Aus ihrer Sicht war ein patriarchalisches Entscheidungsrecht des Mannes mit der Idee der Demokratie unvereinbar. Noch vor der letzten Lesung des Gesetzes notierte beispielsweise die Karlsruher CDU-Stadträtin Elisabeth Kamm in der „Zeit“, mit vielen Frauen sei sie „restlos enttäuscht“, dass der Rechtsausschuss des deutschen Bundestages sich im Dezember 1956 mit fünfzehn gegen dreizehn Stimmen für den Stichentscheid des Vaters ausgesprochen hatte. Für „völlig unrichtig und unbewiesen“ hielt Kamm das Argument, „wer gegen den Stichentscheid sei, zeige sich sozialistisch angesteckt, denn er wolle die Entscheidungen aus dem Eigenbereich von Ehe und Familie in das staatliche Kollektiv verlagern“. „Auf solche Weise könnte man ja den Spieß umdrehen und sagen, der Stichentscheid stelle eine Diktatur im kleinen dar“. „Entweder wir sind gleichberechtigt, dann aber überall, oder wir sind es nicht – laut Stichentscheid“, schloss Kamm: „Dann muß man das aber auch in aller Ehrlichkeit zugeben. Und hier wäre dann als ,dritte Instanz‘ das Bundesverfassungsgericht anzurufen“.39 Ähnliche Argumente zirkulierten auch in Periodika, die sich eher unpolitisch verstanden und kaum als Sprachrohr eines kämpferischen Feminismus gelten können. In „Haus und Heim. Monatsschrift für Hauswirtschaft und Heimgestaltung“, einem Organ, das vor allem Artikel über „Heißwasser für die Küche“, „Kunst und Tapete“ und „Neuzeitliches Wohnen mit Polstermöbeln“ veröffentlichte, erschien ebenfalls im März 1957 beispielsweise ein Leitartikel von Johanna Dressler über „Zeitgemäßes Familienrecht“. Man müsse „kein ,Mannweib‘ sein, wenn man die Gleichberechtigung beider Geschlechter für eine in unserem Jahrhundert selbstverständliche Angelegenheit hält“, betonte die Journalistin. „Technisierung und Industrialisierung, zwei Kriege und Inflationen“ hätten das Zeitalter „der patriarchalischen Familienstruktur“ beendet. Im neuen Familienrecht sollten daher „beide Ehegatten“ „gemeinsame Rechte und Pflichten“ gegenüber ihren Kindern haben. Wer dem zustimme, müsse die Idee des väterlichen Stichentscheids verwerfen. „Abgesehen davon, dass ,Gleichberechtigung‘ und ,Stichentscheid‘ eines Ehepartners paradox und unvereinbar sind, gäbe man mit dem Stichentscheid des Vaters dem weniger unterrichteten Elternteil“ das letzte Wort. „Wir sind“, schloss Dressler, „im Gegensatz zu den Verfechtern des väterlichen Stichentscheids – eben aus echter Bejaman in der ersten Auflage des „Evangelischen Soziallexikons“ (Stuttgart 1954) vergeblich. Heinz-Dietrich Wendland selber hatte in seiner Besprechung der ersten Auflage moniert, es setze sich nicht hinreichend mit Fragen der Demokratie auseinander; vgl. ders.: Rez. Evangelisches Soziallexikon, in: Zeitwende. Die neue Furche 26 (1955), S. 563 f. 39 Elisabeth Kamm: Sind Männer so geschaffen? Der Stichentscheid und die Gleichberechtigung – Das Bundesgesetz steht wieder zur Debatte, in: Die Zeit vom 14.3.1957, Nr. 11, S. 21 f. Alle Hervorhebungen im Original. Für den Hinweis auf Kamms Text danke ich Svenja Goltermann, Freiburg.
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hung der Gleichberechtigung – nicht so uneinsichtig und unsachlich, den Stichentscheid der Mutter zu verlangen, was wir mit dem gleichen Recht tun könnten, zumal wir damit nur die gesetzliche Anerkennung der tatsächlichen Verhältnisse in den meisten Familien verlangten, in denen die Erziehung der Kinder in ganz überwiegendem Maße nur noch in den Händen der Frau liegt“.40 In ihrem vielbeachteten Gesetzeskommentar empörte sich Hildegard Krüger, die nach ihrer gescheiterten Nominierung für das Bundesverfassungsgericht als Landesverwaltungsgerichtsrätin in Düsseldorf arbeitete und sich im Laienkatholizismus engagierte, darüber, dass in einer Zeit, in der „die Welt [sich] demokratisier[e]“ und „sogar die Tyrannen“ meinten, sich „der demokratischen Fassade“ bedienen zu müssen, der Bundestag glaube, „den patriarchalischen Vater als gesetzliches Leitbild entgegen der Norm der Verfassung schaffen zu müssen“.41 Noch deutlicher wurde Krüger in ihrer Kritik an Albert Ziegler.42 Der Jesuitenpater hatte sein Verständnis des Mannes als „naturhafte[m] Träger des Entscheidungsrechtes in Ehe und Familie“ damit begründet, dass „Befehlen [. . .] eine naturhafte Sonderbefähigung des Mannes“ sei, „Gehorchen eine ebensolche der Frau“.43 „Die Diktatoren des Westens und des Ostens“, antwortete Krüger 1959 in den „Frankfurter Heften“, würden zweifellos Zieglers Rede von Befehl und Gehorsam „befriedigt aufgreifen“. Patriarchalische Strukturen, und zwar vor allem „von Männern für Männer gegründete Gesellschaften“, seien „auf Befehl, aber eben deshalb auch [. . .] auf Gehorsam aufgebaut“. Statt an diese Tradition anzuknüpfen, sei die Öffentlichkeit besser beraten, sich daran zu erinnern, dass es „keine von Frauen für Frauen geschaffene Gesellschaft oder Gemeinschaft“ gebe, die „derart organisiert“ sei: „In allen primär weiblichen Gesellschaften,“ so Krüger, überwiege „bei weitem das demokratische Element“. Umso dringlicher sei es endlich, die „Ehe auch rechtlich als das anzusehen, was sie in jeder Hinsicht sein soll: die Gemeinschaft, in der Mann und Frau gleichgewichtig und gleichberechtigt sind“.44 Eine weitere Kritikerin der Bundesregierung, Luise Berthold, argumentierte in einem öffentlichen Brief an die FDP-Bundestagsabgeordnete Hertha Ilk, die „friedlich-schiedliche Einigung über Differenzen“ sei ein „Kernpunkt der Demokratie“: „Diese sollte in der Familie anfangen [. . .] und für 40 Johanna Dressler: Zeitgemäßes Familienrecht, in: Haus und Heim. Monatsschrift für Hauswirtschaft u. Heimgestaltung 6 (1957), H. 3, S. 1–5, Zitate: S. 2 u. 4. Die genannten Artikeltitel entstammen dem Inhaltsverzeichnis desselben Heftes. 41 Hildegard Krüger/Ernst Breetzke/Kuno Nowack: Gleichberechtigungsgesetz, München 1958; zit. Nach: Gleichberechtigung. Die Zukunft der Notare, in: Der Spiegel vom 9.7.1958, Nr. 28, S. 26. 42 Vgl. Lange: Dr. Erna Scheffler (Anm. 9), S. 560. 43 Albert Ziegler, SJ: Das natürliche Entscheidungsrecht des Mannes in Ehe und Familie, Heidelberg 1958, S. 269. 44 Hildegard Krüger: Von Natur zum Gehorchen verurteilt? Gegen eine allzu männliche Begründung des männlichen Entscheidungsrechtes, in: Frankfurter Hefte 14 (1959), S. 502 und 505.
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die Kinder an ihren Eltern beobachtbar sein“. Umso bedauerlicher sei die Haltung des Gesetzgebers. Die Familie könne schwerlich zur Schule der Demokratie werden, solange der Staat hierarchische Beziehungen zwischen den Eltern rechtlich festschreibe. Als „Test für wahre oder nur vorgegebene Demokratie“ galt Berthold daher die Frage, ob eine Partei sich für oder gegen den väterlichen Stichentscheid ausspreche. Mit einem an Dramatik kaum zu überbietenden „Videant consules!“ schloss die Marburger Altgermanistin, die sich 1923 als eine der ersten Frauen in Deutschland habilitiert hatte, aber bis 1952 auf eine außerordentliche Professur warten musste, ihr Schreiben.45 Bereits zu Beginn der fünfziger Jahre argumentierten selbst katholische Familienexperten, das Leitbild des patriarchalisch-autoritären Vaters und ein militärisch-soldatisches Verständnis von Männlichkeit widersprächen der Idee der Demokratie. In den Augen dieser Experten war der Versuch, neue Formen väterlicher Autorität zu begründen, eine der zentralen Herausforderungen in einer Gesellschaft, die sich mit dem doppelten Erbe des Nationalsozialismus und des Militarismus auseinandersetzen musste. Auch wenn diese Lesarten des „Dritten Reiches“ heute fragwürdig erscheinen mögen, verdeutlichen sie doch, wie intensiv die frühbundesrepublikanische Öffentlichkeit die Frage nach den Ursachen von Gewaltherrschaft und Völkermord diskutierte.46 Der bereits erwähnte Karl Borgmann glaubte 1952 beobachten zu können, dass das Familienbild vieler Christen „noch allzusehr vergangenen Staatsformen zugewendet ist, in denen der Bürger von oben regiert wurde und fast zur politischen Untätigkeit verurteilt war“. Kinder müssten, so der katholische Familienexperte im Januarheft von „Frau und Mutter“ – einer Zeitschrift „für die katholische Frau in Familie und Beruf“, die monatlich mehr als eine halbe Millionen Abonnenten erreichte –, von frühauf lernen, „die Freiheit [zu] erfahren und [zu] gebrauchen“. Daher dürfe die Familie sich keinesfalls am Ideal der „absoluten Monarchie“ oder gar der „Diktatur“ orientieren. Wer einer patriarchalisch-autoritären Erziehung das Wort rede, habe nicht verstanden, dass die für die Verbrechen des Nationalsozialismus Verantwortlichen meist aus „,geordneten‘“ Verhältnissen und nicht von den Rändern der Gesellschaft stammten. Väter, die „autoritär [. . .] und mit handgreiflichen Mittel“ erzögen, seien die Geburtshelfer der nationalsozialistischen Diktatur. Wer 45 Luise Berthold an Hertha Ilk (FDP), in: Informationen für die Frau, 1957, Nr. 2, S. 6 f. Zu Berthold siehe: Christine v. Oertzen: Luise Berthold. Hochschulleben und Hochschulpolitik zwischen 1909 und 1957, in: Feministische Studien 20 (2002), Heft 1, S. 8–22. 46 Die inzwischen breit angewachsene Forschung zur Politik der Erinnerung in den fünfziger Jahren scheint mir die Bedeutung dieser Themen in den öffentlichen Kontroversen über die unmittelbare Vorgeschichte der Bundesrepublik zu unterschätzen; siehe etwa Robert G. Moeller: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001; Kay Schiller: The Presence of the Nazi Past in the Early Decades of the Bonn Republic, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 285–294; sowie als anregende Fallstudie Neil Gregor: Haunted City. Nuremberg and the Nazi Past, New Haven 2008.
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Kinder „immer wieder ungerecht“ behandele, müsse damit rechnen, dass diese „als Erwachsene selbst zu Unterdrückern“ würden, warnte Borgmann abschließend: „Manche Henker aus den KZ stammten nachweislich aus sogenannten ,geordneten Familien‘“.47 Dass Demokratie „in der Familie“ beginne, betonte auch der „Männer-Seelsorger“, eine Zeitschrift, die ihre Leserschaft vor allem im katholischen Klerus fand, der Anregungen für die Predigt und für den Vortrag an einem der damals verbreiteten Männerabende suchte. In einer demokratischen Gesellschaft habe „die patriarchalische Familie“ sich überlebt. Keinesfalls dürfe der Vater „nach einseitigem Führerprinzip selbstherrlich entscheiden“. Stattdessen solle gerade auch in „der modernen Familie [. . .] etwas zu spüren sein vom Geist der guten Demokratie“.48 Ähnlich argumentierte auch die mit einer Auflage von etwa einer halben Millionen Exemplaren ebenfalls viel gelesene katholische Zeitschrift „Mann in der Zeit“. Die Illustrierte warnte davor, Söhne und Töchter „eiskalt-militärisch“ zu behandeln. Väterliche Autorität könne nicht dadurch gewonnen werden, dass man seine Kinder „Strammstehen“ lasse oder sie im „Kasernenhofton“ herumkommandiere.49 Diese neuen Formen der häuslichen und familiären Männlichkeit fanden bald auch Eingang in die Beratungsliteratur über Fragen der Kindererziehung, die sich zunehmend direkt an Väter richtete.50 Sicherlich bieten diese Texte keine statistisch gesicherten Hinweise darauf, wie oft Väter tatsächlich den Kinderwagen schoben, die Windel wechselten oder ihre Kinder herzten. Doch angesichts ihrer meist hohen Auflage und der Tatsache, dass sie sich als Ware an dem Geschmack des Publikums orientieren mussten, lassen sie sich als Seismographen der Sehnsüchte nach einer „idealen Familie“ begreifen, d.h. als eine spezifische Form der imaginären Familienwirklichkeit, die kaum weniger „real“ ist als der reale Alltag der Familie.51 Am bekanntesten unter diesen Texten ist vermutlich Ernst Heime47 Karl Borgmann: Völker werden aus Kinderstuben. Um die rechte Ordnung in der Familie, in: Frau und Mutter 35 (1952), Heft 1, S. 4 f. Zur Auflage der Zeitschrift siehe: Die deutsche Presse 1954. Zeitungen und Zeitschriften, Berlin 1954, S. 539. 48 R. Sailer: Demokratie beginnt in der Familie, in: Der Männer-Seelsorger 2 (1952), Nr. 1, S. 26. 49 Ehrfurcht vor dem Vater. Mein Sohn sagt „Otto“ zu mir, in: Mann in der Zeit 5 (1952), Nr. 11. 50 Vgl. Markus Höffer-Mehlmer: Elternratgeber. Zur Geschichte eines Genres, Baltmannsweiler 2003, S. 227–235; Miriam Gebhardt: Frühkindliche Sozialisation und historischer Wandel, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 32 (2004), S. 258– 273. 51 Vor allem John Gillis hat darauf hingewiesen, dass diese „ideale Familie“, die sich aus Mythen, Ritualen und Bildern zusammensetzt, weitaus stabiler sei als die „fragmentarische und vorübergehende [. . .] reale Familie“. Diese kulturellen Repräsentationen könnte man mit Roger Chartier als „Matrizen der Konstruktionspraktiken der sozialen Welt“ begreifen. John R. Gillis: Mythos Familie. Auf der Suche nach einer eigenen Lebensform, Weinheim 1997, S. 11; Roger Chartier: Die Welt als Repräsentation, in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hrsg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, S. 336.
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rans „Der Vater und sein erstes Kind“. Diese, laut Untertitel, „fröhliche[n] Betrachtungen und wohlmeinende[n] Ratschläge“ erschienen zwar schon 1938, wurden aber erst nach 1945 zu einem Erfolgstitel, der 1958 bereits seine 22. Auflage erlebte. Heimeran, ein Journalist, der sich seit April 1933 nach seiner Entlassung als Redakteur im Feuilleton der „Münchner Neuesten Nachrichten“ ausschließlich seiner verlegerischen Tätigkeit widmete, ermunterte werdende Väter, ihre Frauen bei den Arztbesuchen während der Schwangerschaft zu begleiten, ihnen „bei der Geburt bei[zu]stehen“ und bereits bei der Säuglingspflege eine aktive Rolle zu übernehmen.52 Bei Heimeran trat den Leserinnen und Lesern der fünfziger Jahre der Vater als ein tolpatschiges, aber lernfähiges Mitglied der Familie entgegen, der die Säuglingspflege als Teil seiner Identität begriff: „Das, was der Vater vordem in Gedanken weit von sich gewiesen hatte, nämlich sein Kind zu wickeln, das bereitet ihm jetzt eine tiefe Befriedigung“.53 Der buchhändlerische Erfolg von Heimerans „fröhlichen Betrachtungen“ fiel in eine Zeit, in der pädiatrische, heilpädagogische und psychiatrische Experten ihre fürsorgliche Aufmerksamkeit zunehmend auch dem Vater angedeihen ließen und „Zärtlichkeit“ zum Schlagwort der (populär-)wissenschaftlichen Erziehungstheorie wurde.54 Seit 1952 boten die Bibliotheken der „Amerikahäuser“ der interessierten bundesrepublikanischen Öffentlichkeit jeweils mehrere Exemplare von Benjamin Spocks „Dein Kind – dein Glück“ an. Wer den amerikanischen Kinderarzt und Bestsellerautor las, der erfuhr, man könne „ein zärtlicher Vater [. . .] und doch zugleich ein ganzer Mann sein“. „Wir wissen“, mahnte Spock, dass „ein enges, freundschaftliches Verhältnis zum Vater für die gesamte geistige und charakterliche Entwicklung des Kindes von entscheidender Bedeutung ist.“ Väter sollten daher bereits zum Säugling eine intensive Bindung aufbauen.55 Dass sol52 Ernst Heimeran: Der Vater und sein erstes Kind, München 1992, S. 50. Einen Eindruck von Heimerans journalistischer Tätigkeit bietet sein Nachlass in der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs, Marbach; allgemein zur Biographie siehe Wilmont Haacke, Art. Ernst Heimeran, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 8. 1969, S. 275 f. 53 Heimeran: Vater (Anm. 52), S. 68. 54 Der Kaufbeurener Kinderarzt Wilhelm von Haller etwa warnte 1955 davor, „in der Zärtlichkeit etwas Unmännliches bzw. Unpassendes zu sehen“. „Bosheit erwächst aus einem Mangel an Liebe!“. Dagegen beginne „jede tiefergehende menschliche Bindung mit Zärtlichkeit“. Wer das Bedürfnis nach Zärtlichkeit pflege, bereite „den Boden für noch mehr“, „als nur für bessere mitmenschliche Beziehungen“; ders.: Die Bedeutung des kindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses für die Entwicklung des Gemüts, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 4 (1955), S. 248–250; siehe auch Georg Gerster: Säuglinge brauchen Liebe. Eine Stunde mit Prof. Dr. René A. Spitz, in: Kristall. Illustrierte für Unterhaltung und neues Wissen 12 (1957), 2. Vierteljahr, Nr. 9, S. 446– 449 (die Auflage der von Axel Springer verlegten Zeitschrift lag 1953 bei 330.000 und 1960 bei 450.000 Exemplaren); sowie Anna Luise Meyer: Auch Väter dürfen zärtlich sein, in: Die Kommenden. Unabhängige Zeitung für freies Geistesleben 16 (1962), Nr. 15, S. 8. 55 Benjamin Spock: Dein Kind – dein Glück, Stuttgart 1952, S. 17.
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che Ratschläge Teil einer transnationalen Zirkulation von Ideen waren, lässt sich am Beispiel von Oscar-Louis Forel zeigen. Ausdrücklich berief sich der französische Familienexperte in seinem 1955 erschienenen Ratgeber auf die vom „Gesundheitsdepartment von Springfield, Illinois, USA veröffentlichten ,Briefe an die Eltern‘“. Ähnlich wie Heimeran oder Spock warnte auch Forel Väter, „der Mutter [. . .] das Monopol der Zärtlichkeit“ zu überlassen: „Glauben Sie nicht, daß es unter Ihrer Würde ist, Ihrem Kind Zuneigung zu zeigen“. Väter sollten sich darum bemühen, ihrem Kind „ein Freund“ zu sein, „wenn es sechs Monate alt ist, sechs Wochen, sechs Tage“. Väter, die glaubten, sich auf die Rolle des Familienernährers beschränken zu können, mahnte Forel, „Ihrem Kleinen das“ zu ersparen, „worunter Sie zu leiden hatten. Wenn Ihr Vater ein unnahbarer Schaffer war [. . .], wenn Sie warten mußten, bis Sie erwachsen waren, um ihn zu schätzen und zu lieben, so haben Sie das beste Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte.“56 Wenige Jahre später fanden solche Vorstellungen auch Eingang in die katholische Ratgeberliteratur. Die Broschüre „Ohne Vater geht es nicht“, die katholische Männer in den Bistümern Münster und Essen 1961 während der Fastenerziehungswoche erhielten, ermahnte diese nicht nur, weniger Zeit bei der Arbeit, in der Kneipe oder im Fußballstadion zu verbringen. Darüber hinaus erhielten die Leser den Rat, bereits die Geburt des Kindes mitzuerleben, um eine „innige Beziehung“ zum Kleinkind zu „entwickeln“. Väter sollten zudem auf „abendliche Strafgerichte“ verzichten. Wer glaube, mit Strafen und Schlägen erziehen zu können, werde „bald das Vertrauen seines Kindes verlieren“.57 Kurz darauf, im Mai 1961, lobte die Zeitschrift „Zwischen Dom und Zechen“, eine Beilage zu der Monatsschrift „Mann in der Zeit“, das Buch „Gute Väter – frohe Kinder“ als „eine schöne Sammlung von Skizzen über die Vaterwelt“.58 Im Mittelpunkt des Buches stand eine Photoreportage über einen „Männer Säuglingspflege-Kurs“, den der Samariterverein Zürich-Hard veranstaltete. Es sei wichtig, kommentierte der Herausgeber, dass die Väter lernten, wie „sie an einem freien Samstag oder Sonntag den Haushalt ohne größere Katastrophen durchbringen“ können, „wenn die Frau ihre Besuchspflichten bei den Verwandten erfüllen will“. Viele Abbildungen freilich beeindrucken mehr als gekonnte Inszenierung von bürgerlicher Respektabilität denn als Ikonographie sanfter Väterlichkeit. Manche Photographien wecken zudem Zweifel, inwieweit selbst fortschrittliche katholische Män56 Oscar Forel: Einklang der Geschlechter. Sexuelle Fragen in unserer Zeit, Zürich 1955, S. 219 f. 57 Hansmartin Lochner/Robert Svoboda (Hrsg.), Ohne Vater geht es nicht, o. O. [Hamm, Westfalen] 1961, S. 4. „Gewiß“, fuhr der Ratgeber fort, „Strafen müssen sein, aber Schläge sind nur bei wirklich schwerwiegenden Übeltaten angebracht“ (ebd., S. 4). Die Broschüre hatte am 13. Dezember 1960 das Imprimatur des Bistums Paderborn erhalten (ebd., S. 15). 58 Der wiederkehrende Vater, in: Zwischen Dom und Zechen. Beilage zum „Mann in der Zeit“ Mai 1961, Nr. 5.
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ner bereit waren, sich im Familienalltag an der Sorge um die Säuglinge zu beteiligen: Zwei der vier Männer, die das Wechseln einer Windel übten, hatten sich einen Mundschutz angelegt.59 Einige Familienexperten stellten ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen einer aktiven Rolle des Vaters bei der Säuglingspflege und Kindererziehung und der Demokratisierung der Gesellschaft her. In der Zeitschrift „Ruf ins Volk. Monatsschrift für Volksgesundung und Jugendschutz“ warb Walter Becker im Januar 1963 dafür, den Vater in die Sorge um die Säuglinge und Kleinkinder stärker einzubeziehen. „Es wäre früher unvorstellbar gewesen“, so der Experte für Jugendfürsorge, „daß Väter an Säuglingskursen teilnahmen. Immer mehr sieht man aber, daß junge Väter, die einmal ihre Frau vertreten mußten, für solche Kurse Interesse haben“. Statt den Gesichtspunkt eines „kämpferischen Führertums“ zu betonen, messe man dem Vater eine neue Rolle zu, in der er – ähnlich wie die Mutter –, „beim Kleinkind Gefühle der Geborgenheit, der Sicherheit und Wärme“ erwecke. Mit dieser neuen Zärtlichkeit der Väter gehe ein neues Verständnis von Autorität einher. An die Stelle des „autoritäre[n] Prinzip[s] der Großvaterzeit, gekennzeichnet durch die Anrede ,Herr Vater‘“, argumentierte Becker, sei ein „demokratischere[s] Ordnungsprinzip“ getreten, bei dem „der Gedanke der familiären Gemeinschaft und Partnerschaft [. . .] im Vordergrund“ stehe. Die väterliche Autorität, schloss Becker, habe „nichts mit Macht und Gewalt zu tun“ und stütze sich daher nicht mehr auf „das Befehlen-Gehorchen“, sondern auf „das tief gegründete Vertrauen des Kindes zur Autoritätsperson“. In Zeiten dieser familienzentrierten Männlichkeit fände es daher „niemand mehr komisch oder unwürdig, wenn der Vater den Kinderwagen schiebt, für die Kinder oder mit ihnen einkauft, am Wochenende die Kinder auf den Spielplatz begleitet, sich für Kinderernährung interessiert“.60 Die Vorstellung, dass eine demokratische Gesellschaft auch ein neues Verständnis der väterlichen Autorität erfordere, fand in der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts ein – wenn auch, wie es der Textgattung angemessen war – leises Echo. „In dem durch Beseitigung des Letztentscheidungsrechts des Mannes frei gewordenen Raum“, führten die Karlsruher Richter aus, sollten „die Ehegatten und Eltern gemeinsam in gleicher Freiheit und Verantwortung das Schicksal der Familie, insbesondere die Erziehung der Kinder gestalten“. Gegen jene, die argumentierten, der Artikel 6 Grundgesetz beziehe sich allein auf die „christlich-abendländische“, sprich: patriarchalische, Ehe und Familie, betonten Erna Scheffler und ihre Kollegen, dass es die Verfassung offenlasse, „wie die Entscheidung in der Familie sich bilde. Dies entspricht auch allein der einem weltanschaulich nicht einheitlichen Staat wie der Bundesrepublik gestellten“ 59 Karl P. Lukaschek (Hrsg.): Gute Väter – frohe Kinder, o. O. [Münster/Westf.] o. J. [1961], S. 32. 60 Walter Becker: Das neue Bild des Vaters, in: Ruf ins Volk 15 (1963), S. 27–28.
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Aufgabe, „das Recht so zu normieren, daß es den Bürgern die Freiheit läßt, bei der Gestaltung des Ehe- und Familienlebens ihren religiösen und weltanschaulichen Verpflichtungen [. . .] nachzuleben“. In diesen Prozess der „Willensbildung“, der von „Familie zu Familie“ verschieden sei, dürfe der Gesetzgeber nicht dadurch eingreifen, indem er vorschreibe, dass im Konfliktfall der Vater das letzte Wort habe.61 Deutlicher formulierte im Juli 1959 Helmut Ridder als Vertreter der vier Frauen, welche die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten, die epochale Bedeutung der Entscheidung für die politische Kultur der frühen Bundesrepublik. In seinem Plädoyer vor dem Verfassungsgericht räumte er ein, dass „die Sache, um die es hier konkret geht, praktisch gar nicht so ungeheuer wichtig ist“. Die Frage des „Gebieten und Sich-Fügens“ werde in den meisten Ehen „auch in Zukunft nicht gestellt werden“. „Wenn wir in einem Zustand romantischer Verschweizerung lebten“, seien „die Schildbürgerstreiche des Gesetzgebers“ nicht der Rede wert. Um so schärfer aber warnte Ridder vor der „mit ihrer Methodik ansteckenden Perversion unseres Verfassungsrechts“. Falls der „gegenwärtige Versuch einer freiheitlichen Verfassung“ scheitere, könne nach den Erfahrungen „der jüngsten deutschen Geschichte nur noch eine unfreiheitliche nachrücken“. „Die Treue zur Verfassung, die innere Verfassungsloyalität“, schloss der Gießener Professor für Öffentliches Recht, sei „daher das erste der politischen Gebote der Stunde“.62 Seine Gegner, die glaubten, das Leitbild des christlichen Abendlandes verlange die patriarchalische Familie, belehrte Ridder darüber, dass dem Kanonischen Recht die Rechtsfigur des väterliches Stichentscheids fremd sei. Der Blick auf Schweden, wo anders als in der Bundesrepublik das Prinzip der christlichen Staatskirche gelte, zeige, dass eine emanzipatorische Geschlechterpolitik durchaus mit der „,christlich-abendländischen‘ Tradition“ zu vereinbaren sei. Nur noch Spott kannte er für jene „Deutschen, die sich aufgrund einer Reihe von eigentümlichen nationalen Charaktermerkmalen früher als die Ordnungsmacht des christlichen Universums oder als die Hüter des Rechts der Welt, später als das ,Reich‘ in der völkerrechtlichen Grossraumordnung usw. empfunden haben und nun teilweise der fixen Ideen verfallen sind, die Retter des christlichen Abendlandes zu sein“.63 Ausdrücklich berief sich Ridder dagegen auf jene katholischen Familienexperten, die wie der Redemptorist Bernhard Häring davor gewarnt hatten, „,die (paulinische) Forderung – Ihr Frauen gehorcht Euren Männer! – zum Anlaß einer die Frau benachteiligenden bürgerlichen Gesetzgebung zu machen‘“. Im Streit um den väterlichen Stichentscheid gehe es „,eigentlich [. . .] um Gerechtigkeit und Billigkeit für die benachteiligte Partnerin in der scheiternden oder gescheiterten Ehe‘“.64 61 62 63
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 10, Tübingen 1960, S. 84 f. Ridder: Männer und Frauen (Anm. 28), S. 236. Ebd., S. 233 und 229 (Hervorhebung im Original).
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Vor allem in der öffentlichen Reaktion auf das Karlsruher „Stichentscheid“Urteil zeigte sich, wie sehr die öffentliche Debatte über die väterliche Erziehungsgewalt vom Bedürfnis getragen war, das Verhältnis von Autorität und Demokratie neu zu bestimmen. Der Leitartikel der „Deutschen Zeitung mit Wirtschaftszeitung“ sprach erleichtert davon, dass die Karlsruher Richter die „perfektionistische Vorstellung“ als „irrig“ und verfassungswidrig verworfen hätten, es müsse, „wie beim Militär, so auch in der Ehe einen Höchstkommandierenden geben“. Die Forderung des Frankfurter Familienrechtlers Wolfram Müller-Freienfels, an die Stelle des „autoritativen“ solle der „integrative“ Vater treten, griff der Kommentar der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auf. Zwar sei es sinnvoller, vom „,integrierten‘ Vater [. . .] oder von integrierten Ehepartnern“ zu sprechen, aber es sei gewiss ein Gewinn, wenn Männer und Frauen nun „ohne ausdrücklich juristisch festgestellte Herrschaftsansprüche miteinander übereinkommen müssen“.65 In einen noch größeren historischen Zusammenhang stellte die „Bild“Zeitung das Karlsruher Urteil: „Bis in das vorige Jahrhundert hinein sagte man noch ,Herr Vater‘ und ,Sie‘,“ dozierte der Chefredakteur der Zeitung, Hans Zehrer, in seinem Kommentar: „Das war, als der Familienvater im Kreise seiner Lieben noch die gleiche Autorität besaß wie der Landesvater im Bereich seiner Untertanen. Das 20. Jahrhundert hat die Autorität des Landesvaters beseitigt und die Demokratie an seine Stelle gesetzt“. Infolge des Karlsruher Urteils habe die eigene Gegenwart nun auch die Herrschaft des „Familienvaters“ beendet.66 Auch die juristische Fachliteratur betonte den engen Zusammenhang zwischen neuen Formen der väterlichen Autorität und der Suche nach Demokratie in der frühen Bundesrepublik. Hans Dölle, von 1946 bis 1963 Direktor des Hamburger 64 Ebd., S. 235; Zitat im Zitat: Bernhard Häring: Soziologie der Familie. Die Familie und ihre Umwelt, Salzburg 1954, S. 84 und 82. Ebenso gut hätte sich Ridder auf katholische Publizisten wie Josef Blank berufen können, der 1956 argumentierte, dass sich die „patriarchalische Gesellschaftsordnung“ nicht mit Verweis auf „die christliche Auffassung der Familie“ legitimieren lasse. Konstitutiv für die „christliche Familie“ sei nicht die Idee des Patriarchats, sondern die „Erkenntnis vom übergeordneten Wert der Person“. Daher habe das Christentum in der Familie „die heidnischen Vater- und Muttergötzen entthront, und es ist eine Verirrung, wenn man christliche Familienverherrlichung treibt“ (ders.: Patriarchalische und christliche Familie, in: Die Besinnung 11 (1956), S. 93 und 96 f.); ganz zu schweigen von linken Katholiken wie Walter Dirks oder Ernst Michel, die zu den führenden Kritiker einer patriarchalischen Familienordnung gehörten. Zu Häring u. a. katholischen Vordenkern eines personalistischen Familienverständnisses vgl. Rölli-Allkemper: Familie im Wiederaufbau, S. 153–155. 65 Fritz Richert: Gleichberechtigte Mütter, in: Deutsche Zeitung mit Wirtschaftszeitung vom 30.7.1959, Nr. 99, S. 1; Heddy Neumeister: Der integrierte Vater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.7.1959, Nr. 173, S. 1. Die „Süddeutsche Zeitung“ wiederum verwandte das Bild des „Familienrat[es]“, in dem nach dem Karlsruher Urteil nicht nur dem Vater, sondern endlich auch der Mutter „die Stimme [. . .] zustehe“; Annemarie Endres: Vater und Mutter entscheiden gemeinsam, in: Süddeutsche Zeitung vom 1./2.8.1959, Nr. 183, Beilage „Eine Seite für die Frau“. 66 Hans im Bild [d.i. Hans Zehrer]: Oh mein Papa, in: Bild vom 31.7.1959, Nr. 175, S. 2.
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Max-Planck-Instituts für Ausländisches und Internationales Privatrecht, betonte 1964 mit Blick auf das „Stichentscheid“-Urteil, das Ende eines patriarchalischen Verständnisses der Vaterschaft gründe vor allem in der „geistig-politischen Strömung“, in der die Gleichberechtigung der Frau und Mutter als Teil „der allgemeinen Demokratisierung der Gesellschaft“ gelte. Die Ablösung der patriarchalischen durch die partnerschaftliche Familie finde seine Analogie „im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern: die äußere Autorität der Eltern, insonderheit des Vaters, schwindet, die Individualität der Kinder wird betont, frühzeitig treffen sie selbständig ihre Entscheidungen“.67 Erna Scheffler selbst verstand 1960 das Ende der väterlichen Gewalt ebenfalls als Ausdruck der „geistigen Strömungen“ in der frühen Bundesrepublik. In ihrem Beitrag über „Ehe und Familie“ für den damals maßgeblichen Grundrechtskommentar wies sie darauf hin, dass „das Abendland unserer Zeit von der Persönlichkeit und ihrer Würde“ ausgehe, die in den „Ideen von Freiheit und Gleichheit ihren allgemeinen Ausdruck“ fänden. Wie der Kölner Familiensoziologe René König glaubte Scheffler, dass die Spannung zwischen „Abhängigkeit und Selbständigkeit“ durch „Verständigung und Zusammenwirken in gemeinsamer Bindung an gemeinsame Ziele und Zwecke“ aufzulösen sei, statt durch den Verweis auf „Befehl und Gehorsam“. Die Suche nach einer neuen Familienordnung stehe daher in einem engen Zusammenhang mit der Idee der „sozialen Demokratie“, die, wie Scheffler im Anschluss an Adolf Arndt – den „sozialdemokratischen Kronjuristen“ (Wilhelm Hennis) – betonte, nicht als „bloß ,wertfreie Spielregel‘, sondern als ,universales Partnerschaftsprinzip‘ “ zu begreifen sei, das „,alle Lebensbereiche,“ umfasse.68 „Das Ringen um eine neue Ordnung der Familie,“ schloss die Bundesverfassungsrichterin, erscheine so „als Teil des Ringens um Überwindung des ,sozialen Krankheitszustandes von Herrschaftlichkeit und Unfreiheit‘, der ,cupido dominandi‘ durch das ,Credo humaner Gegenseitigkeit‘“.69
67 Hans Dölle: Familienrecht. Darstellung des deutschen Familienrechts mit rechtsvergleichenden Hinweisen, Bd. 1, Karlsruhe 1964, S. 20. 68 Erna Scheffler: Ehe und Familie, in: Karl August Bettermann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hrsg.): Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. 4, Grundrechte und institutionelle Garantien, Berlin 1960, S. 262 f.; Scheffler bezieht sich auf René König: Abhängigkeit und Selbständigkeit in der Familie, in: Leopold von Wiese (Hrsg.): Abhängigkeit und Selbständigkeit im sozialen Leben, Köln 1951, S. 232–244; sowie Adolf Arndt: Sozialistische Staatspolitik – Heute, in: Die neue Gesellschaft Jg. 1958, Heft 2, S. 3 ff. und S. 7; Wilhelm Hennis: Der sozialdemokratische Kronjurist. Besprechung von Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.11.1991. 69 Scheffler: Ehe und Familie (Anm. 68), S. 263 (Zitat im Zitat: Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart, Bd. 3, S. 510 und 523).
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IV. Zum Fürsprecher eines neuen Verständnisses von Autorität, das nicht mehr auf einem Automatismus von Befehl und Gehorsam basiere, machte sich wenige Monate nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch Dolf Sternberger. Der einflussreiche Philosoph und Publizist, der mehr als jeder andere Intellektuelle in der frühen Bundesrepublik der Idee der bürgerlichen Gesellschaft neues Leben einhauchte, stellte in seinem Vortrag „Autorität, Freiheit und Befehlsgewalt“ den Trugschluss in Frage, dass Autorität an sich „eine konservative Vorstellung“ sei. Diese Überzeugung beruhe auf einem Missverständnis, und so lange dieses „nicht aufgeklärt“ sei, „wird uns die liberale Republik nicht zum Vaterlande werden“.70 Unter Verweis auf Hannah Arendt und Carl J. Friedrich argumentierte Sternberger, Autorität dürfe nicht mit „Befehlsgewalt“ verwechselt werden, sie sei „nicht einmal notwendig mit Entscheidungsbefugnis verknüpft“. Im Gegensatz zu diesem Herrschaftsverhältnis wirke Autorität „nicht durch Zwang“, sondern werde „freiwillig angenommen und eingeräumt“. Sie sei auctoritas und nicht potestas.71 Aus Sternbergers Sicht war ein solches Verständnis von Autorität zugleich die Voraussetzung für die Existenz der Bundesrepublik als eines „demokratischen und liberalen Gemeinwesens“ und verhielt sich komplementär zur Idee der Freiheit. Diese brauche „Autorität, nämlich die Autorität allderjenigen Einrichtungen und Kräfte, welche die Demokratie gewährleisten“, vor allem die Autorität der „freiheitlichen Staatsverfassung“. Umgekehrt gelte aber auch, dass Autorität Freiheit voraussetze, nämlich „die Freiheit derer, die sie aus freien Stücken anerkennen –, da sie sonst dem Verderb anheimfällt, zur Zwangsordnung und Gewaltherrschaft entartet“.72 Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass Sternberger die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts begrüßte. Das Urteil habe zwar den „Sturz der väterlichen Autorität in der Familienordnung“ vollendet und dazu beigetragen, die „Bindung von Autorität an die Vaterrolle“ aufzulösen. Doch habe das Gericht damit nicht die Möglichkeit der Autorität als solcher verworfen. Vielmehr lege das Urteil „einen Weg zu neuer Autorität frei“, eine Autorität, „die vielleicht schwerer zu erringen sein mag als die überlieferte, die aber doch gefordert ist und sich auch bilden“ könne.73 Es griffe zu kurz, die frühbundesrepublikanische Debatte über die Krise väterlicher Autorität, auf die sich Sternberger hier bezog, allein als Ausdruck der 70 Dolf Sternberger: Autorität, Freiheit und Befehlsgewalt, Tübingen 1959, S. 4 f. Siehe hierzu Jens Kertscher: „Autorität“. Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Umgang mit einem belasteten Begriff, in: Carsten Dutt (Hrsg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, S. 143. 71 Ebd., S. 12 und 14. 72 Ebd., S. 23. 73 Ebd., S. 20.
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Sorge über eine in Bewegung geratene Ordnung der Geschlechter zu deuten. Vielmehr stellt die Sehnsucht nach neuen Formen der Vaterschaft einen besonders aufschlussreichen Aspekt der westdeutschen Suche nach Demokratie in den fünfziger und den frühen sechziger Jahren dar. Das Leitbild der „demokratischen Familie“ gehört in jenen Zusammenhang, den man mit Kaspar Maase als den Aufstieg der „kulturellen Demokratie“ begreifen könnte. Zu denken ist hier auch an ähnliche Phänomene: Die Wertschätzung des Gesprächs als „demokratischer Kulturtechnik“ wuchs, die Haltung gegenüber der vor- und außerehelichen Sexualität und die Einstellung gegenüber berufstätigen und alleinerziehenden Müttern liberalisierten sich. Auch der Traum der neuen Väterlichkeit war Teil einer Vision einer egalitäreren Geschlechterordnung, in der Frauen und Männer Familie und Beruf miteinander vereinbaren können sollten.74 Und doch war die Rede über die „demokratische Vaterschaft“ mehr, nämlich ein zentraler Ort, an dem sich die junge Bundesrepublik darüber verständigte, wie das Verhältnis von Autorität und Demokratie zu bestimmen sei. Aus der hohlen Phrase der „Demokratie“, die wie Julius Posener geklagt hatte, dazu diente, die moralischen Abgründe der unmittelbaren Nachkriegsjahre zu verdecken, wurde in den fünfziger Jahren ein mit Inhalt und Leben gefüllter Leitbegriff der politischen Sprache. Die Suche nach neuen Formen der väterlichen Autorität trug entscheidend dazu bei, dass die Bundesbürger sich zugleich intellektuell und emotional vom Nationalsozialismus und Militarismus und dem damit verbundenen Männlichkeitsideal des heroischen Arbeitersoldatentums verabschiedeten, dass sie den Weg in eine demokratische Gesellschaft fanden und es ihnen gelang, sich in ihrer „liberalen Republik“ einzurichten, um noch einmal mit Sternberger zu sprechen. Ob Erna Scheffler seine Zeilen zur Kenntnis genommen hat, wissen wir leider nicht. Hätte sie Sternbergers Text gekannt, hätte sie ihn aber sicherlich mit dem gleichen Lächeln gelesen, mit dem sie am 29. Juli 1959 das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den väterlichen Stichentscheid verkündet hatte.
74 Vgl. Kaspar Maase: Establishing Cultural Democracy. Youth, „Americanization“, and the Irresistible Rise of Popular Culture, in: Hanna Schissler (Hrsg.): Miracle Years, S. 428–450; Nina Verheyen: Diskussionslust. Zur Kulturgeschichte des „besseren Arguments“ in Westdeutschland 1945–1973, Göttingen 2010; Maria Höhn: GIs and Fräuleins: The German-American Encounter in 1950s West Germany, Chapel Hill 2002, S. 12; Christine von Oertzen: Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen: Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948–1969, Göttingen 1999; Carola Sachse: Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939–1994, Göttingen 2002, S. 30; Sybille Buske: Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900–1970, Göttingen 2004. Eine frühe, ebenso brillante wie anregende Deutung der fünfziger Jahre als einer dynamischen Zeit bietet Hans-Peter Schwarz: Der Geist der fünfziger Jahre, in: ders.: Die Ära Adenauer: Gründerjahre der Republik, 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 375–464.
V. Zwischen „skeptischer Generation“, empfundener „Restauration“ und intellektuellen Aufbrüchen – der Blick auf Literatur und Wissenschaft
Helmut Schelskys skeptische Jugend Die mythische Geburtsstunde einer bundesrepublikanischen Generation Von Jens Hacke I. Helmut Schelsky als Soziologe der frühen Bundesrepublik Ohne Zweifel ist Helmut Schelsky (Jahrgang 1910) einer der einflussreichsten Zeitdiagnostiker der frühen Bundesrepublik gewesen. Dafür spricht allein die weite Spanne seiner Forschungsgebiete, die der theoretisch versierte Soziologe der so genannten Leipziger Schule abgedeckt hat: Familien-, Klassen- und Betriebssoziologie, Institutionentheorie, Religions-, Intellektuellen- und Rechtssoziologie – dies sind nur einige Themen, zu denen Schelsky maßgebliche Arbeiten vorgelegt hat. Auch als Leiter der Sozialforschungsstelle in Dortmund, Förderer akademischen Nachwuchses (Luhmann, Habermas und Dahrendorf verdankten ihm zu verschiedenen Zeiten wesentliche Unterstützung), als Hochschulpolitiker, der mit Universitätsgründung und -reform besonders in Nordrhein-Westfalen (v. a. Bielefeld) betraut war, und als gefragter Politikberater – übrigens anfangs gewerkschaftsnah und für die SPD – gibt es wenige, die es mit ihm aufnehmen können.1 Die Biographie dieses umtriebigen Wissenschaftlers, Publizisten und politischen Strippenziehers zu schreiben, wäre für sich gesehen ein lohnendes Forschungsprojekt. Schelskys größte publizistische Erfolge – seine soziologischen Analysen waren gleichzeitig populärwissenschaftliche Bestseller – trafen den Nerv der Zeit und beanspruchten, bei der Suche nach der zeitgenössischen Wirklichkeit zu helfen. Dieser Aktualitätsanspruch hat seinen Preis, wenn man in Betracht zieht, dass im Gegensatz zu seinem langjährigen befreundeten Mentor Arnold Gehlen (der literarisch und theoretisch ambitionierter war und mittlerweile im Rang eines modernen Klassikers steht) keines seiner Werke heute mehr im Buchhandel erhält1 Vgl. zum näheren Kontext Karl-Siegbert Rehberg: Verdrängung und Neuanfang. Die Soziologie nach 1945 als „Normalfall“ westdeutscher Geschichtserledigung, in: Wilfried Loth/Bernd-A. Rusinek (Hrsg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 259–284; Hermann Lübbe: Die Idee einer Elite-Hochschule im Zeitalter der Massenakademisierung. Helmut Schelsky als Universitätsgründer, in: ders.: Modernisierung und Folgelasten. Trends kultureller und politischer Evolution, Berlin 1997, S. 366–376.
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lich ist. Schelskys Arbeiten, selbst seine grundlegenden theoretischen Aufsätze, scheinen heute nur soziologie- und zeithistorisches Interesse zu finden, aber keinen klassischen Rang zu besitzen. Dieser Niedergang setzte bereits zu Schelskys Lebzeiten ein, denn in den letzten zehn Jahren vor seinem Tod verspielte er sein Renommee dadurch, dass er sich polemisch zum Anti-Soziologen stilisierte.2 Dauerhaft präsent, ja anhaltend wirksam bleiben allerdings zwei Begriffsprägungen, die für die Geschichte der Bundesrepublik einschlägig geworden sind: die fast schon zwanghaft zitierte „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, erstmals von Schelsky in seiner Untersuchung über die „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“ eingeführt, sowie die „skeptische Generation“, der Titel seines 1957 erschienenen Buches über die deutsche Nachkriegsjugend.3 Als beschreibende und gleichzeitig suggestiv wertende Formeln fehlen sie in keiner Geschichtsdarstellung der Bundesrepublik.4 Schelskys Diagnose von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ verbindet eine offensichtliche soziologische Tendenz, nämlich die Einebnung der Klassenund Standesunterschiede durch die Entwicklungen innerhalb der Industriegesellschaft, den Niedergang des klassischen Bürgertums und die Integrationsaufgabe von Millionen von Vertriebenen, mit einem demokratischen Gleichheitsversprechen, das seit Aristoteles in einer breiten Mittelschicht (den Mittleren, mesoi) die Grundlage für ein erfolgreiches demokratisches Gemeinwesen voraussetzt. Bei genauer Betrachtung enthält der von Schelsky für die Nachkriegszeit erkannte Rückzug in die private Geborgenheit der Familie bereits die wesentlichen qualitativen Merkmale, die auch die „skeptische Generation“ auszeichnen werden: Bei den Westdeutschen der Nachkriegszeit registriert er „eine starke Minderung der politischen Aktivität und Handlungsbereitschaft, eine sehr weitgehende Passivität gegenüber allen Geschehnissen der Öffentlichkeit“ und eine „Konzentration auf die privaten Leistungen“.5 2 Helmut Schelsky: Rückblicke eines „Anti-Soziologen“, Opladen 1981. Beispiele für die zunehmende polemische Verschärfung gegenüber der Neuen Linken und den Intellektuellen im Allgemeinen finden sich in ders.: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, München 1977; ders.: Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979. 3 Vgl. Helmut Schelsky: Die Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart 1960, 4. Aufl., S. 218–242; ders.: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1963 (Sonderausgabe). 4 Auch in den aktuellen Darstellungen fehlt die Auseinandersetzung mit Schelskys Leitformeln nicht. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949–1990, München 2008, S. 110, 187; Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2009, S. 197–200, 277. 5 Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie (Anm. 3), S. 242. Vgl. für den weiteren Kontext Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 1999, S. 330–335.
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Die Ambivalenz einer solchen Deutung liegt auf der Hand. Zum einen ist Schelsky einer der ersten, der die durch den Nationalsozialismus bewirkte Modernisierung – über ein Jahrzehnt vor den viel diskutierten Arbeiten von Dahrendorf und Schoenbaum6 – soziologisch begründet und eine plausibel erscheinende Beschreibung der dynamischen Wirtschaftswundergesellschaft liefert. Zum anderen setzt sich diese Interpretation dem Vorwurf aus, neue materielle Ungleichheiten im Zuge dieses Transformationsprozesses geflissentlich zu übersehen und Ludwig Erhards Parole „Wohlstand für alle“ einen sehr forcierten sozialwissenschaftlichen Unterbau zu verschaffen, wenngleich er im Jahr 1953 noch weit entfernt davon ist, Erhards Optimismus zu teilen. Für Schelsky gehören die Deutschen wie Europa insgesamt zu den „verarmenden Völkern“, die „der Familie in Zukunft wieder viel mehr Funktionen ökonomischer Art zuweisen müssen“.7 Darin zeigt sich eine aus der angespannten Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit erklärbare Fehldiagnose, die den Ausbau eines leistungsfähigen, daseinsvorsorgenden Wohlfahrtsstaates, späterhin das Kernelement eines von Schelsky mit vertretenen technokratischen Konservatismus, noch unterschätzt. Schelskys einseitige Betonung von modernisierender Traditionsauflösung, Mobilität und sozialer Nivellierung hängt aber auch mit dem Datenmaterial seiner empirischen Untersuchung zusammen, die sich fast ausschließlich auf die Befragung von 167 Flüchtlingsfamilien im nordwestdeutschen Raum stützt. Seine Prämisse, anhand dieser Erhebungen trotzdem verallgemeinerungsfähige Trends bestimmen zu können, scheint in vielerlei Hinsicht fraglich, gerät so doch der große Bereich gesellschaftsstruktureller Kontinuitäten etwas aus dem Blick.8 Schelskys Gesellschaftsdiagnose, die „konkrete[s] Wissen um die soziale Wirklichkeit des heutigen Menschen“ vermitteln möchte, ist wohl am umstrittensten in ihren demokratietheoretischen und normativen Implikationen. Soziale Nivellierung, Konsumorientierung und Reprivatisierung bzw. die Flucht in sozialromantische Idylle bedeuten für Schelsky, dass „der politischen Grundstruktur der der letzten zwei Jahrhunderte, der demokratischen Öffentlichkeit, immer mehr an Realität“ entzogen wird. In dieser Einschätzung, die Schelsky ausdrücklich unbewertet lässt, ist bereits die Grundthese von der Herrschaft des Sachzwangs angelegt, die er 1961 in seinem viel beachteten Aufsatz „Der Mensch in der wissen6 Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965; David Schoenbaum: Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln 1968. 7 Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie (Anm. 3), S. 42. 8 „Die Flüchtlingsfamilie ist keine Ausnahme, kein Gegensatz zu einer konstant bleibenden Familienverfassung der deutschen Gesellschaft, sondern sie scheint die fortgeschrittenste und ausgeprägteste Form einer Wandlung zu sein, der die deutsche Familie in der Gegenwart überhaupt unterliegt.“ (Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie [Anm. 3], S. 50.) – Vgl. auch die kritische Würdigung von Hans Braun: Helmut Schelskys Konzept der nivellierten Mittelstandsgesellschaft und die Bundesrepublik der 1950er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 199–223.
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schaftlichen Zivilisation“ formuliert. Der Soziologe Schelsky sieht den unauflöslichen Gegensatz zwischen dem „demokratische[n] Optimum“ eines unabhängigen, verantwortlichen, an der politischen Öffentlichkeit partizipierenden Staatsbürgers und der Notwendigkeit gesellschaftlicher Integration und Stabilisierung.9 Um diesen Widerspruch und Schelskys hinter einem „Realitätsdrall“ verborgene eigene moralisch-politischen Vorstellungen von der Bundesrepublik und ihren Bürgern genauer zu analysieren, lohnt ein erneuter Blick auf sein für die Identität des westdeutschen Staates so wichtiges Buch über die „skeptische Generation“. II. Die skeptische Generation Es ist zu fragen, warum dieses Werk eine solche kollektiv-identitäre Prägekraft entfalten konnte, denn schließlich handelte es sich ja lediglich um eine empirisch-soziologische Analyse, die sich einem sehr begrenzten Gegenstand widmete. Zwei Vermutungen sind vorauszuschicken: (1) Schelsky selbst konnte die Wirkung seiner Jugendsoziologie zwar nicht abschätzen, aber gleichzeitig verfolgte er vermutlich mit seiner Arbeit über den reinen Forschungsgegenstand hinausgehende Absichten. So versah er die jugendlichen „Skeptiker“ in einer Mischung aus Intuition und Intention mit Attributen und Charakteristika, die ihm für den politischen und sozialen Neuaufbau essentiell erschienen; sie sollten einen Neuanfang verkörpern. (2) Insbesondere Schelskys weniger empirische, sondern interpretatorische Passagen enthielten Deutungen, die teilweise durch spätere Entwicklungen bestätigt worden sind. Darüber hinaus lieferte er eine plausible und attraktive Selbstbeschreibung für eine Generation, die erst fünf bis zehn Jahre nach Erscheinen des Buches öffentlich erkennbar in Erscheinung trat. In dem langen Wirken dieser Generation spielt die autobiographische affirmative Selbstdeutung ihrer Angehörigen eine nicht zu überschätzende Rolle.10 Schelsky setzt einen relativ weiten Generationenbegriff voraus: Die „Skeptiker“ entstammen den Jahrgängen, die zwischen 1945 und 1955 im Alter von 14 bis 25 Jahren waren, d.h. alle zwischen 1920 und 1941 Geborenen. Dass in einem auf die Spitze getriebenen Denkmodell der Anfang der 1920er Jahre geborene Kriegsheimkehrer zur selben Generation gehören soll wie sein zu diesem Zeitpunkt möglicherweise vierjähriger Sohn, erscheint wenig plausibel. Dies gerät in Vergessenheit, denn es hat sich herauskristallisiert, im Anschluss an Schels-
9 Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie (Anm. 3), S. 42, 242. Vgl. weiterhin Helmut Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961), in: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1965, S. 439–480. 10 Dass hier im Besonderen die öffentlich wirksamen Intellektuellen oder auch die Politiker dieser Generation der Intellektuellen gemeint sind, ist dem einseitigen Blickwinkel des Autors geschuldet. Vermutlich lässt sich deren Einfluss auch in der Wirtschaft analog nachzeichnen, wenn man die betreffenden Unternehmer- bzw. Managerpersönlichkeiten wie z. B. Alfred Herrhausen berücksichtigt.
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kys Entwurf lediglich diejenigen in den Generationenzusammenhang einzugliedern, die zum Zeitpunkt des Kriegsendes Jugendliche und junge Erwachsene waren. In den Arbeiten von Heinz Bude und Dirk Moses werden somit nur die Jahrgänge bis Anfang der 1930er Jahre berücksichtigt. Die Flakhelfer wiederum kann man – eigentlich eine „Teilmenge“ der „skeptischen Generation“ – als ihre Kerngruppe betrachten, zwischen den Jahrgängen der aufs Schwerste dezimierten Soldatenjahrgänge (1920–25) und der Nachkriegsjugend, die zu jung für den Flakhelferdienst oder den Volkssturm war.11 Schelsky zeichnet das Portrait einer Jugend, die die so genannte „Stunde Null“ als elementare Verunsicherung erlebt – oft vaterlos, haltlos, geschichts- und traditionslos. Eine „Grunderfahrung der sozialen Unsicherheit“, die durch das „Erleben des Zufälligen und Versehrbaren jeglicher sozialen und menschlichen Sicherheit und Stabilität“ gekennzeichnet sei, präge die emotionale Disposition dieser Generation. Im Zustand totaler „geistiger Ernüchterung“ seien die Jugendlichen des Jahres 1945 kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubens- und illusionsloser als alle Vorgängergenerationen.12 Diese Attribute wendet Schelsky ins Positive: Durch ihre Absage an alle Formen der Politisierung und Ideologisierung entwickelt die „skeptische Generation“ nämlich ein „unerbittliches Realitätsverlangen“ und einen „skeptischen und nüchternen Wirklichkeitssinn“.13 Es ist offensichtlich, dass Schelsky in diesem Kontext auch eigene biographische Erfahrungen verarbeitet, denn als jugendbewegt-überzeugter Nationalsozialist gehörte er der vorangegangenen „Generation der politischen Jugend“ an, die die „politischen Massenorganisationen auch als Sozialform der Jugend“ bejaht und hunderttausendfach in ihnen aktiv gewesen ist, um aus diesem teilnehmenden Engagement „Verhaltenssicherheit“ zu beziehen.14 Nach Kriegsende wandte sich dann der Philosoph Schelsky, der noch seine Dissertation über Fichte und seine Habilitation über Hobbes geschrieben hatte, der Soziologie zu. Nach eigener ideologischer Verblendung hatte er sich ein wissenschaftliches Ernüchterungsprogramm auferlegt. Es ging ihm nun darum, die komplexe soziale Wirklichkeit nicht mehr durch die Flucht in die Ideologie zu kompensieren, sondern die Entfremdungen der modernen Industriegesellschaft auszuhalten, in ihrer Realität zu erkennen und zu akzeptieren. Das Bestreben, die gesellschaftliche Wirklichkeit der Indus11 So Heinz Bude: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt a. M. 1987, S. 41. Etwas ungenauer dagegen A. Dirk Moses, der die „Fünfundvierziger“ in den Jahrgängen 1922–32 situiert. Siehe ders.: German Intellectuals and the Nazi Past, New York 2007, S. 56. Grundlegend zur genaueren Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Schelskys Werk ist Franz-Werner Kersting: Helmuth Schelskys „Skeptische Generation“ von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 465–495. 12 Vgl. Schelsky: Die skeptische Generation (Anm. 3), S. 380 f. 13 Ebd., S. 77. 14 Vgl. ebd., S. 58–73.
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triegesellschaft zu beschreiben, akzentuierte einen neuen Realismusbegriff. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Individuums veranschlagte Schelsky gering; es war gerade das Kennzeichen der Moderne, dass der Einzelne die Wirklichkeit nur noch mittelbar erfuhr. „Die Realitätsverwirrung in unserem sozialen Dasein hat sich zu einem umfassenden Realitätsverlust gesteigert“, konstatierte er 1954 und forderte: „Wiederherstellung und Wiederentdeckung der sozialen Wirklichkeit im personenhaften Schicksal und Handeln des Einzelnen ist heute die Aufgabe des Menschen in unserer Gesellschaftsverfassung; ihm dabei zu helfen die bescheidene Aufgabe, die die Gesellschaftswissenschaft heute vielleicht erfüllen kann.“15 Als Soziologe setzte Schelsky gleich nach dem Krieg auf die Jugend, an deren „unbarmherzige Realistik“ und „Wirklichkeitsfanatismus“ positiv anzuknüpfen sei, wie er 1947 bereits in einem kurzen Text der Zeitschrift „Volk und Zeit“ schrieb.16 In ihrem „Konkretismus“ beschränke sich die „skeptische Generation“ pragmatisch auf die überblickbare Lebenswelt und finde ihre Erfüllung im Privaten, in der Familie, in der Berufskarriere. Alles Kollektive werde sie ablehnen und, so prognostiziert Schelsky, „nie revolutionär“ werden, weil sie „unspekulativ“, „gedanklich unaggressiv“ und tolerant sei.17 Ihre „Identifikationsnot“ und ihre „ontologische Unsicherheit“, wie es Heinz Bude später im Anschluss an Schelsky formuliert, gleicht die „skeptische Generation“ durch einen funktionstüchtigen Pragmatismus aus. Ihre geistige Leistung sei es deshalb, als erste deutsche Jugendgeneration den Anforderungen der Modernität gerecht zu werden und diese rückhaltlos zu akzeptieren. Angesichts der Lebensbedingungen in der Moderne zeichne sich nämlich konform zu anderen westlichen Industriegesellschaften „ein anscheinend zwingender gleicher sozialer Auftrag dieser Generation“ ab, nämlich überall die industrielle Gesellschaft zu konsolidieren.18 Spätestens hier wird deutlich, dass Schelskys Verständnis von Skepsis erläuterungsbedürftig ist und wenig mit einem philosophischen Skepsisbegriff zu tun hat. Die bundesrepublikanische Nachkriegsjugend scheint Skepsis und Zustimmung gleichermaßen verinnerlicht zu haben.19 Ihre skeptische Haltung richtete 15 Helmut Schelsky: Der Realitätsverlust der modernen Gesellschaft, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit (Anm. 9), S. 392. Vgl. dazu auch Jens Hacke: Wirklichkeitswissenschaft? Realistisches Denken in analytischen Kontexten, in: Merkur 62 (2008), S. 80–85. 16 Zit. nach Michael Th. Greven: Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Opladen 2007, S. 269. 17 Schelsky: Die skeptische Generation (Anm. 3), S. 77. 18 Bude: Deutsche Karrieren (Anm. 11), S. 58, 64; vgl. Schelsky: Die skeptische Generation (Anm. 3), S. 385. 19 Siehe auch die programmatische Titelwahl bei Odo Marquard: Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994. Für die Möglichkeiten der Skepsis in der politischen Philosophie vgl. Jens Hacke: Art. „politische Skepsis/politischer Skepti-
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sich in erster Linie gegen jede ideologische Mobilisierung und Handlungsmotivation und spiegelte die vorherrschende Tendenz der Zeit wider, paradoxerweise mitten im Kalten Krieg von einem Ende der Ideologie bzw. vom Abschluss des ideologischen Zeitalters insgesamt auszugehen. Von Raymond Aron über Daniel Bell bis hin zu Arnold Gehlen fand diese Auffassung in verschiedenen Formen Verbreitung. Nach der Erfahrung des Stalinismus ging es Bell und Aron vor allem darum, marxistisch inspirierten westlichen Intellektuellen die Unrealisierbarkeit sozialistischer Utopien vor Augen zu führen, während Gehlen eher auf die Alternativlosigkeit der industrialisierten Moderne abhob, in deren Sachzwanglogik politische Ideologien ohnehin überflüssig würden. Es ist aber interessant, dass sich ein kulturkritisch-skeptischer Ton auch bei einem liberalen Intellektuellen wie Aron findet. Sein Buch schließt – wohl ganz im Sinne Schelskys – mit einem Plädoyer für den „Skeptizismus“, den er einem „vernunftbegründeten Glauben“ vorzieht: „Wenn aber die Toleranz nur aus dem Zweifel geboren wird, dann lehre man den Zweifel an Vorbildern und Utopien, man lehre, die Propheten des Heils und die Verkünder von Katastrophen in ihre Schranken zu weisen. Rufen wir mit unseren Wünschen die Zweifler herbei, wenn sie es vermögen, den Fanatismus zu töten!“20 Die Rückseite dieser Ideologieskepsis ist die entschiedene Affirmation der bestehenden Staats- und Wirtschaftsordnung, und es ist natürlich fraglich, ob man den Verzicht auf Kritik und die „unbesehene Akzeptanz der vorgegebenen Wirklichkeit“ (Buckmiller) noch skeptisch nennen möchte. In dieser Konformitätsforderung liegt besonders dann ein Problem, wenn man sich – trotz aller Liberalisierung – die politische Kultur der frühen Bundesrepublik mit ihren durchaus erkennbaren Defiziten vergegenwärtigt.21 Schelskys Generationenskizze bleibt ambivalent, sowohl im Hinblick auf ihre interpretatorische Reichweite als auch in der Unbestimmtheit ihrer politischen Wertungen. Zum einen strebt er eine generelle Theorie der modernen Jugend an; diese fügt sich gleichsam den Sachzwängen der industriellen Gesellschaft und „funktioniert“ nach den Maßgaben des Systems. Dazu hat Franz-Werner Kersting mit Recht angemerkt, dass sich eine solche Interpretation in vielem lese „wie eine jugendsoziologische Variante des CDU-Wahlslogans ,keine Experimente‘ “.
zismus“, in: Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, hrsg. von Winfried Hilsch, Stephan Gosepath und Beate Rössler, Berlin/New York 2008, Bd. 2, S. 1187–1191. 20 Raymond Aron: Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung, Köln 1954, S. 383 f.; vgl. weiterhin Daniel Bell: The End of Ideology. On the Exhaustion of political Ideas in the Fifties (1960), Cambride/Mass. 2001, sowie Arnold Gehlen: Über kulturelle Kristallisation (1961), in: ders.: Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 311–328. 21 In dieser Hinsicht sehr kritisch Michael Buckmiller: Schwieriger Anfang. Die skeptische Generation – eine kritische Nachbemerkung, in: Michael Buckmiller/Joachim Perels (Hrsg.), Opposition als Triebkraft der Demokratie. Bilanz und Perspektiven der zweiten Republik. Jürgen Seifert zum 70. Geburtstag, Hannover 1998, S. 16.
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Insofern lässt sich auch für den Begriff der „skeptischen Generation“ eine politische Implikation erkennen.22 Zum anderen stellt Schelsky selbst in Aussicht, dass dieser passive Funktionalismus auf lange Sicht nicht aufgehen werde – dass sich mit der Konsolidierung der industriellen Gesellschaft die Protestbedürfnisse der Jugend wieder steigern werden: „Ich erwarte eine sezessionistische Jugendgeneration, gekennzeichnet durch eine Welle sinnloser Ausbruchsversuche aus der in die Watte manipulierter Humanität, überzeugter Sicherheit und allgemeiner Wohlfahrt gewickelten modernen Welt.“23 Schelsky vermeidet aber die Spekulation darüber, wie sich die von ihm untersuchte Jugendgeneration weiterentwickeln wird. Unklar bleibt bei Schelsky, welche Bedeutung er der politischen Orientierung der „Skeptiker“ in letzter Konsequenz zuschreibt. Als „eine stille Generation“, die sich auf das Überleben eingerichtet hat, begrüßt er den Rückzug ins Private als Abschied von verblendeter Ideologie. Gerade für die deutschen Verhältnisse gilt, dass die junge „skeptische Generation“ „sich damit abfindet und es besser weiß als ihre Politiker, daß Deutschland von der Bühne der großen Politik abgetreten ist“.24 Zu Schelskys funktionalistischer Sichtweise passt seine Diagnose einer aus seiner Sicht „vorpolitischen Haltung zur Politik“, die sich im „Wandel der konkreten Forderungen an den Staat und in dem Bedürfnis nach unbedingter persönlicher Freiheit gegenüber staatlicher und politischer Organisation“ äußert. Diese Haltung habe um so mehr Chancen, „je stabiler und legitimer ein politisches System ist“, weil man sich dadurch von jeder anstrengenden und spannungsreichen Aktivität entlasten könne.25 Für Schelsky bedeutet die neue Lage allerdings auch einen Gestaltwandel des Politischen. Wenn es für den Jugendlichen fast natürlich wird, Politik und Öffentlichkeit als „tiefes Fremdheitserlebnis ohne den starken Zwang zu seiner Bewältigung“ zu erfahren, dann scheint dieser Grundzug für moderne Demokratien generell beherrschend zu werden. An dieser Stelle wäre zu fragen, inwiefern diese Form der gefühlten individuellen Einflusslosigkeit nicht immer schon konstitutiv 22
Kersting: Helmut Schelskys „Skeptische Generation“ (Anm. 11), S. 485. Schelsky: Die skeptische Generation (Anm. 3), S. 387 f. Diese Prognose Schelskys, die seine ambivalente Interpretation der „Industriegesellschaft“ unterstreicht, ist überwiegend in Vergessenheit geraten. Auch Hermann Lübbe sah Schelskys Deutung der „skeptischen Generation“ durch die Jugendbewegung der späten 1960er Jahre „in wichtigen Hinsichten falsifiziert“ und begründete dies mit dem „philosophisch-normativen Gehalt“ von Schelskys Gesellschaftstheorie: „gesellschaftliche Modernisierung macht Sachbezogenheit und Ausbildung von Wirklichkeitssinn zugleich immer schwieriger und immer nötiger“ (Hermann Lübbe: Prinzip Erfahrung. Zum Gedächtnis von Helmut Schelsky, in: Neue Zürcher Zeitung vom 5.3.1984, S. 17). 24 Schelsky: Die skeptische Generation (Anm. 3), S. 388. Freilich argumentiert Schelsky nicht im Rahmen einer Intellektuellenkritik, sondern vielmehr auf Grundlage empirischer Forschungen über die Einstellungen der Jugend. 25 Ebd., S. 354, 358. 23
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für demokratisch regierte Flächenstaaten war, denn Schelsky präsentiert die Einsicht in die abstrakte Sachlichkeit des politischen Systems ohne besondere Begründung als etwas grundstürzend Neues.26 Die Vorzüge der Demokratie vermag der Jugendliche vor allem in den negativen Freiheiten zu erkennen: „Demokratie liegt für sehr viele Jugendliche einfach in Richtung unbedingter persönlicher Freiheit und einer Abwesenheit allen Zwanges: Man kann tun und lassen, was man will.“ Die politische Einstellung der meisten beschreibt Schelsky deshalb als „unpolitisch demokratisch“ und sieht darin „ein sehr gewichtiges Problem der modernen Demokratie aufgeworfen“, die in ihrer Angewiesenheit auf massenmediale Vereinfachung und Verzerrung den „Verhaltenstyp des unpolitisch Zustimmenden geradezu hervorruft und als tragende Schicht des Systems auf die Dauer bejahend zur Kenntnis nehmen muß“.27 Im Klartext heißt dies wohl, dass die Bürger ohnehin in ein de facto politisch unmündiges Dasein hineingezwungen werden und dass diese unvermeidliche Entwicklung in der soziologischen Analyse der Jugend bereits sichtbar wird. Eine solche Sichtweise lässt überdeutlich den Abschied von einem emphatischen Begriff des Politischen erkennen, der für den „reflexiv lernfähigen“ ehemaligen SA-Mann Schelsky lange Zeit Bestand hatte.28 Gleichzeitig deutet er an, dass sich die Werteskala des Politischen verschoben habe und dass die „Skeptiker“ nicht ganz so isoliert privatistisch sein können, wie es nach seiner Charakterisierung der „erfolgreichen jungen Männer“, der „Jugend des deutschen Wiederaufbaus“, den Anschein hat: „Hinter der kaltschnäuzig wirkenden skeptischen Weltklugheit steckt ein durchaus lebendiges Bedürfnis, das Substantielle und im normativen Sinne Verbindliche an den Dingen und den Menschen zu erkennen und ihm zu folgen, aber zugleich die tiefe Scheu, sich durch Phrasen, ja durch Worte überhaupt täuschen zu lassen.“29 Solche Aussagen wird man sicherlich weniger als empirische Soziologie denn als Beschreibung des Wünschbaren ansehen müssen. III. Folgenreiches Nachleben Gerade auf die betroffene Intellektuellengeneration wirkte Schelskys Interpretation in besonderem Maße. Einerseits besaß sie hohe Plausibilität und lud zur 26 Schelsky schreibt: „Die moderne Demokratie und die ihr zugeordnete politische Öffentlichkeit stellen ein politisches System dar, das ,von oben‘, d.h. als abstraktes Ganzes, rational begriffen sein und auf Grund prinzipieller Einsichten und Entschlüsse freiwillige und konkrete politische Aktivität erregen will.“ (ebd., S. 352). 27 Ebd., S. 352 f. 28 Von „reflexiver Lernfähigkeit“ spricht Hans-Ulrich Wehler im Bezug auf die NSVergangenheit der Historiker Werner Conze und Theodor Schieder. Vgl. Hans-Wehler: Nationalsozialismus und Historiker, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 334. 29 Schelsky: Die skeptische Generation (Anm. 3), S. 78.
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Identifikation ein, weil durch sie der „Geist der frühen Bundesrepublik“ ein repräsentatives generationelles Gesicht erhielt. Die gegenwartsbezogene Wiederaufbauleistung und der rationale, funktionstüchtige Charakter des jungen Staates wurden durch eine unbelastete, aber von der Erfahrung des Krieges gezeichnete Opfergeneration verkörpert, die durch ihre Tatkraft und ihren Wirklichkeitssinn gleichsam präsentistisch das Wirtschaftswunder und die Rückkehr in zivilisatorische Normalität bewerkstelligte. Dementsprechend betont Klaus Harpprecht (Jahrgang 1927) den Einfluss der „Skeptiker“: „Sie machten, was immer sie waren, die Bundesrepublik zu dem, was sie wurde.“30 Dieses Verdienst ließ man sich als Generationsgenosse gern anheften, vor allem als sich die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik abzeichnete. Andererseits sind Tugenden wie Anpassungsfähigkeit, leistungsorientiertes Karrieredenken und Politikdistanz keine Auszeichnungen für Intellektuelle, ja sie stehen vielmehr im Widerspruch zum Typus des Intellektuellen schlechthin. So musste Schelskys Jugendsoziologie, die ja den Anspruch hatte, klassen- und bildungsunabhängige Aussagen zu treffen, bezogen auf die Akademikergeneration späterhin an ihre Grenzen stoßen. Die politische Ausrichtung vieler dieser aufstrebenden Akademiker war zunächst – dies gilt es gerade im Unterschied zur Weimarer Zeit zu betonen – außerordentlich homogen.31 Entgegen dem lange gepflegten Bild von den spießigen, restaurativen Jahren der Adenauer-Ära erlebte die erste (freilich zahlenmäßig noch kleine) bundesrepublikanische Studentengeneration neue intellektuelle Freiheit und ging ihren vielfältigen Interessen an den wiedereröffneten Universitäten nach. Demokratie, Diskussionskultur und Wissenschaft mussten und wollten, mit Eifer und Entdeckungsfreude, neu gelernt werden. Die Ebene eines liberaldemokratischen Konsenses wurde nicht verlassen. Spätere „Neokonservative“ wie Hermann Lübbe oder Thomas Nipperdey erfuhren sogar ihre tagespolitische Sozialisation in der SPD und hätten sich zunächst wohl kaum als konservativ bezeichnet. Junge Intellektuelle traten in den Fünfzigern gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ein, protestierten gegen Atomwaffen, wählten 1961 eher Willy Brandt als Konrad Adenauer, rezipierten von Marx bis Lukács die Klassiker der Linken ebenso, wie sie sich von der geistigen Kraft der schuldig gewordenen Rechtsintellektuellen Heidegger, Schmitt, Freyer oder Gehlen faszinieren ließen.32 In grundsätzlichen Fragen wie der neuen Ostpolitik sollte auch später überwiegend Zustimmung zum Kurs der Regierung Brandt/Scheel herrschen, und an den Hochschulen traten junge Professoren seit Anfang der sechziger 30
Zit. nach Kersting: Helmut Schelskys „Skeptische Generation“ (Anm. 11), S. 471. Dies wird auch am Beispiel der betreffenden Historikergeneration deutlich. Vgl. die Interviews in Rüdiger Hohls/Konrad Jarausch (Hrsg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart 2000. Lothar Gall verortet den Querschnitt der politischen Einstellungen „im Bereich Mitte-Links“ (ebd., S. 310). 32 Diese Einflüsse konzediert auch Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1987, S. 144. 31
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Jahre verstärkt für die Reformierung der Ordinarienuniversität ein, um der Expansion des Wissenschaftsbetriebes gerecht zu werden. Hinzu kommt, dass diese „skeptische Generation“ von den Neugründungen der Universitäten wie Bochum, Konstanz und Bielefeld, von der Vergrößerung der Fakultäten, der Schaffung von neuen Lehrbereichen erheblich profitierte, da sie in großer Zahl diese Stellen selbst besetzte. So gingen aus der von Schelsky beschriebenen „skeptischen Generation“ viele derjenigen Persönlichkeiten hervor, die über den Erfahrungshorizont der „Stunde Null“ verfügten und die Bundesrepublik politisch prägen sollten. Die pragmatische und unauffällige Orientierung im Nachkriegsdeutschland wollten die „Skeptiker“ also nicht mit politischer Indifferenz gleichgesetzt wissen. „Meine Generation hat auf die politische und moralische Katastrophe der zusammengebrochenen Diktatur der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gerade nicht mit Rückzügen aus der Politik reagiert“, hebt Hermann Lübbe im Kontrast zu der auf Anpassung und unpolitische Privatheit abzielenden Interpretation Schelskys hervor, sondern war „für praktisch politische Engagements bei der zweiten parlamentarischen deutschen Demokratie frei“. Mit ihrem Eintritt in die neuen politischen Parteien bzw. ihrer Akzeptanz der politischen Institutionen war sie zügig im neuen westdeutschen Staat angekommen und hatte, wie Lübbe herausstellt, auch 1968 „keinerlei Politisierungs-Nachholbedarf“.33 Im Gegenteil: Im gleichen Maße, wie das Trauma des Nationalsozialismus den Hintergrund für die Skepsis bildete, die Odo Marquard in seiner Ernüchterung und Irritation „zur philosophischen Position gemacht“ hat, trug diese historische Generationserfahrung auch zur bewussten Politisierung bei. Marquard hebt die Eigenschaft des Zögerlichen und Ambivalenten hervor, die eine philosophisch verstandene Skepsis in dieser Generation prägte. Als Intellektueller absolvierte Marquard das von Schelsky implizierte Generationsschicksal nur halb: „Ich war nicht praktisch zupackend, sondern (parasitär zum Wiederaufbau durch die praktisch Zupackenden) nur skeptisch, wohl auch wegen des unbestimmten Eindrucks, nach dem gewesenen Schrecklichen nicht gleich zur Tagesordnung übergehen zu können. [. . .] Das war Philosophie als prolongierte Schrecksekunde.“34 Die „Zerstörung des moralischen Selbstbewusstseins“ und die dominante Erfahrung des Totalitarismus einschließlich seiner Massenzustimmung waren die ent33 Hermann Lübbe: Zusammenfassende Diskussionsbemerkung, in: Zerstörung des moralischen Selbstbewusstseins: Chance oder Gefährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus, hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1988, S. 230 f.; ders.: Carl Schmitt liberal rezipiert, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 429. 34 Odo Marquard: Einwilligung in das Zufällige, in: Christine und Michael Hauskeller (Hrsg.): „. . . was die Welt im Innersten zusammenhält“. 34 Wege zur Philosophie, Hamburg 1996, S. 57; ferner ders.: Skepsis als Philosophie der Endlichkeit, Bonn 2002, S. 6.
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scheidenden Signaturen dieser Generation. Sie blieben Explanandum und negative Kontrastfolie zugleich. In der Situation des Kalten Krieges war die totalitarismustheoretische Option für die liberale Demokratie daher nur konsequent. Alles in allem wird man darum sagen können, dass die „skeptische Generation“ – ganz entgegen der Tendenz von Schelskys Deutung der Kriegs- und Nachkriegsjugend – im positiven Sinne zur ersten politischen Generation der Bundesrepublik wurde. Wirft man allerdings einen genaueren Blick auf diese politische Generation, so lässt sich im Zuge des „Alterns einer Generation“ (Bude) ein Prozess der Ausdifferenzierung erkennen, der deutliche Bruchlinien und Spaltungen innerhalb dieser Jahrgänge mit sich brachte. Auch jenseits der Skepsis gegenüber ideologischen Großentwürfen blieb Raum für handfeste politische Auseinandersetzungen, die sich insbesondere aus der unterschiedlichen Einschätzung der Studentenbewegung und der Neuen Linken ergab. Zwar wird man sagen können, dass die nachhaltige Katastrophenerfahrung des Jahres 1945 und die Verarbeitung der NS-Verbrechen als über lange Zeit integrativ wirkende Klammer fungierte, denn in der Tat blieb die politische Kultur und die Staatsräson der Bundesrepublik auf die moralische Absetzung vom totalitären NS-Regime fixiert. Aber darüber hinaus wurden auch Friktionen unübersehbar, die weniger mit dem gemeinsamen orientierungsstiftenden Rückbezug auf die Vergangenheit, sondern mit der unterschiedlichen Einschätzungen gegenwartsbezogener politischer Optionen zu tun hatten. IV. Resümee Schelskys Hervorhebung des Generationenzusammenhangs war erfolgreicher als seine Interpretation und Prognose. Gern haben nahezu alle Vertreter der „Skeptiker“ sich der von Schelsky skizzierten Kohorte angeschlossen und mit dem Verweis auf den gemeinsam geteilten Erfahrungsraum die Ernsthaftigkeit und die Tiefe ihrer politischen Anliegen bekräftigt. Die Kriegserfahrung hat dieser Generation grundsätzliche Überzeugungen vermittelt, die von der Ideologieskepsis in die überzeugte Übernahme eines resoluten cold war liberalism oder aber in ein Pathos der Friedensabsichtsbekundung umschlagen konnte. Eine große Varianz politischer Überzeugungen war selbstredend auch in dieser Generation gegeben, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Helmut Kohl und Hans Magnus Enzensberger ebenso Generationsgenossen sind wie der liberalkonservative Hermann Lübbe und der sozialliberale Jürgen Habermas, dass die Begründer der Humanistischen Union ebenso aus den Reihen der skeptischen Generation stammen wie die Initiatoren des hochschulpolitisch konservativ ausgerichteten Bundes Freiheit der Wissenschaft. Auch mit Blick auf die so unterschiedlichen maßgeblichen Journalistenpersönlichkeiten der Bonner Republik von Rudolf Augstein bis Joachim Fest, von Hans Ulrich Kempski bis Johannes Gross, von
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Theo Sommer bis Klaus Bölling, die zweifelsohne fern davon waren, „unpolitische Demokraten“ zu sein, zeigt sich die Vielfalt des kritischen Potentials in dieser skeptischen Generation.35 Nimmt man noch das politische Engagement der Schriftsteller hinzu, die – überwiegend den Reihen der „skeptischen Generation“ entstammend – sich in der Gruppe 47 zusammenfanden, so wird dieses Bild noch weitaus bunter und differenzierter. Es würde vermutlich die Generationenforschung überfordern, die eher wissenssoziologische Frage nach den Bedingungsgründen politischer Orientierung und Parteilichkeit zu beantworten.36 Die generelle Ungenauigkeit kollektivpsychologischer Beschreibungen markiert hier eine interpretatorische Grenze, die schwer zu überschreiten ist, denn der heuristische Wert einer Widerlegung oder Modifikation von Schelskys Jugendsoziologie ist kaum zu bestimmen. Schelskys Konstrukt der „skeptischen Generation“ fußte auf einer Intuition, die das richtige Gespür für zukünftige Entwicklungen insofern enthielt, als dass er die Bedeutung der ersten in die Bundesrepublik hineingewachsenen Generation in ihrer Sonderstellung erkannte. Aufgrund ihrer Jugend war sie keine Gründungsgeneration im eigentlichen Sinne, aber sie wurde schnell zur paradigmatischen und repräsentativen Generation der Republik, weil sie auf besondere Weise die moralische Lehre aus der Vergangenheit mit dem modernisierenden geistigen Aufbruch verknüpfen konnte – wohl mit ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, aber doch im Rahmen eines weiten liberalen Konsenses. Im Sinne einer „Gnade der späten Geburt“ war sie zu jung, um für den Nationalsozialismus zur Verantwortung gezogen werden zu können, aber alt genug, um die totalitären Erziehungsanstalten des Regimes erfahren zu haben. Aus diesem Umstand ließ sich das besondere Charisma eines glaubwürdigen und zugleich erfahrungsgesättigten Neuanfangs ableiten. Dazu passt, dass die nationalsozialistische Wirklichkeit für die Skeptiker noch gegenwärtig genug war, um sich im Umgang mit der älteren Generation im Modus des „kommunikativen Beschweigens“ (Lübbe) der Vergangenheit pragmatisch den Gegenwartsfragen zuzuwenden. Nicht zuletzt dieses Verhalten haben ihnen die moralisch rigoroser urteilenden jüngeren Generationen zeitweise im Ton übertriebener Erregung vorgeworfen. Aber auch bei einigen Generationsangehörigen schwand die Abgeklärtheit in moralischen Fragen mit der Zeit, wie der Historikerstreit, der Streit um das Holocaust-Mahnmal oder auch die ad personam geführten Debatten über die minderjährige Partei- oder Waffen-SS-Mitgliedschaft belegen. Doch bislang – und das ist ein Zeichen ihrer Wirkungsmacht – 35 Vgl. dazu auch Christina von Hodenberg: Politische Generationen und massenmediale Öffentlichkeit. Die „45er“ in der Bundesrepublik, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 266–294. Vgl. weiterhin Jörg Lau: Auf der Suche nach der verlorenen Normalität. Helmut Kohl und Hans Magnus Enzensberger als Generationsgenossen, in: Klaus Naumann (Hrsg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 498–520. 36 Vgl. zu Problemen und Reichweite der Generationenforschung die hervorragende Einführung von Ulrike Jureit: Generationenforschung, Göttingen 2006.
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sind alle Auseinandersetzungen um die historische Identität der Deutschen fest in der Hand dieser „langen Generation“ gewesen, ohne die das geistige Profil der Bundesrepublik nicht bestimmbar wäre.37 Die nun einsetzende Historisierung ihres Wirkens im Spannungsfeld zwischen der anwachsenden Memoirenliteratur und wissenschaftlicher Aufarbeitung wird sich vermutlich noch lange am Mythos dieser Generation abarbeiten, ohne ihn destruieren zu können. Dass Helmut Schelsky mit seiner Erfindung der „skeptischen Generation“ diesem Mythos die erste soziologische Grundlage lieferte und die Exzeptionalität dieser Generationenlage auf den Begriff brachte, markiert auch ein Stück erfolgreicher Identitätssuche in der jungen Bundesrepublik. Nicht umsonst verlegte sich der ehemals überzeugte Nationalsozialist nach der Diskreditierung der Nation als deutschem Identitätssubjekt auf die weniger heiklen kollektiven Vergemeinschaftungsformen. Vermittelt durch Familie und Generation sollte es den Deutschen wieder möglich sein, sich als emotionale Wir-Gruppe zu verstehen. Und erst langsam gewöhnt sich die intellektuelle Deutungselite des Landes an den Gedanken, in absehbarer Zeit ohne die Stimmen der Skeptiker als affirmationsbereite Bundesrepublikaner auskommen zu müssen.
37 Vgl. zu dieser „langen Generation“ mit Blick auf die Soziologen und die Historiker v. a. Heinz Bude: Die Soziologen der Bundesrepublik, in: Merkur 46 (1992), S. 569–580, sowie Paul Nolte: Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine lange Generation, in: Merkur 53 (1999), S. 413–423.
„Kreuzwegqual zwischen Politik und Literatur“ Der Umbruch Ende der 1950er Jahre als Zäsur in der Geschichte der Gruppe 47 Von Dominik Geppert Der tief greifende politische, ökonomische, gesellschaftliche, kulturelle und mentale Umbruch in der Bundesrepublik im letzten Drittel der 1950er Jahre markierte auch in der Geschichte der Gruppe 47 eine wichtige Zäsur. Meist wird in diesem Zusammenhang auf die wachsende Bedeutung verwiesen, welche die Auseinandersetzung mit Krieg und Nationalsozialismus im Werk vieler Gruppenmitglieder einzunehmen begann – oder besser: wieder einzunehmen begann, nachdem die so genannte Kahlschlagliteratur der späten 1940er Jahre ein „Intermezzo“ geblieben war im allgemeinen literarischen Drang, „geistig aus der Zeit zu fliehen, heile Welt zu imaginieren, in Romanen und Metaphysik Zuflucht zu finden“.1 Noch Anfang der 1960er Jahre konstatierte Fritz J. Raddatz in seiner Einführung zu einer Anthologie der Gruppe 47, die „öffentlichen Dinge“ kämen darin erstaunlich wenig zur Sprache. Das Dargebotene weise die Gruppe nicht als politisches Instrument aus, nicht einmal die Notierungen eines empfindlichen Seismographen könnten festgestellt werden: „In dem ganzen Band kommen die Worte Hitler, KZ, Atombombe, SS, Nazi, Sibirien nicht vor – kommen die Themen nicht vor. [. . .] Die wichtigen Autoren Nachkriegsdeutschlands haben sich allenfalls mit dem Alp der Knobelbecher und Spieße beschäftigt; die Säle voll Haar und Zähnen in Auschwitz oder die Pelztiermentalität des tagebuchführenden SS-Professors Kremer [. . .] wurden nicht zu Gedicht und Prosa.“2 Das begann sich seit dem letzten Drittel der 1950er Jahre mit Romanen wie Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund (1957) und Günter Grass’ Blechtrommel (1959) zu ändern, die sich beide – auf ganz unterschiedliche Weise – mit der NS-Zeit auseinander setzten, während Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob (1959) die deutsche Teilung thematisierte und Martin Walsers Debütroman Ehen in Philippsburg (1957) den Alltag der westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft satirisch porträtierte. Für die internationale Reputation der 1 Heinrich Vormweg: Literatur, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Geschichte in drei Bänden, Bd. 3: Kultur, Frankfurt a. M. 1983, S. 50–51. 2 Fritz J. Raddatz: Die ausgehaltene Realität, in: Hans Werner Richter (Hrsg.): Almanach der Gruppe 47, 1947–1962, Reinbek 1962, S. 55–56.
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Gruppe 47 bildete die zunehmende Bekanntheit von Autoren wie Andersch oder Heinrich Böll, vor allem aber der Welterfolg von Grass’ Blechtrommel einen entscheidenden Einschnitt – seither war ihr Markenname auch literarisch weniger interessierten Zeitgenossen ein Begriff, und das Prestige ihrer Mitglieder stieg entsprechend. Wolfgang Bächler, ein Gruppenmitglied der frühen Jahre, das seit 1956 in Frankreich lebte, notierte im Herbst 1959, er habe „am normannischen Strand selbst Sekretärinnen, ja sogar ein Hotelzimmermädchen [getroffen], die diesen Böll gelesen hatte und mich dann als ,un ami de Böll‘ vorstellte usw. Dann folgen Andersch, Koeppen, [Hans Werner Richter] und Schnabel [. . .], von den älteren Freunden der Gruppe ist Hermann Kesten natürlich sehr bekannt und angesehen, von den Lyrikern kennen wenigstens alle Kritiker, die deutsch lesen in Paris Eich, Celan, Bachmann, Höllerer und mich, und Ilse Aichinger ist den Intellektuellen auch ein Begriff“.3 Die gestiegene Bedeutung lässt sich auch aus der Entwicklung der Teilnehmerzahlen an den Gruppentreffen ablesen, die seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre immer weiter anschwollen und die Gruppe zu einem „für den einzelnen kaum noch überschaubaren Konglomerat von Autoren, Kritikern, Journalisten, Verlegern und weiteren Gästen“ werden ließen.4 Unter den Mitgliedern nahm die Dominanz der „Landser“-Generation ab, deren prägende Erfahrung das Fronterlebnis des Zweiten Weltkriegs gewesen war: „die ständige Bedrohung, die brutale Unterdrückung eigener Interessen, die totale Reduzierung auf den Nullpunkt, wo nur der Wille zum Überleben gilt“.5 Neben diese Kriegsheimkehrer wie Richter, Andersch, Wolfdietrich Schnurre oder Walter Kolbenhoff, die oft kleinbürgerlichen Milieus entstammten und keine akademische Bildung genossen hatten, traten seit Ende der 1950er Jahre verstärkt jüngere, vornehmlich in der Nachkriegszeit sozialisierte Autoren mit ganz unterschiedlichen biographischen Hintergründen und Bildungswegen. Der Rundfunk spielte nicht mehr die zentrale Rolle wie noch im ersten Jahrzehnt der Gruppengeschichte, als zahlreiche Autoren der Gruppe ihr Auskommen durch Hörfunk-Features für vergleichsweise gut bezahlte öffentlich-rechtliche Radioprogramme verdient hatten, vor allem beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR), wo das Gruppenmitglied Ernst Schnabel zunächst Chefdramaturg des Hörspiels und seit 1952 Intendant war. Von Seiten der Schriftsteller wurde auf der Ulmer Hörfunktagung 1960 erstmals deutliche Kritik an dieser einseitigen Ausrichtung laut, weil sie die Autoren von ihrer „eigentlichen“ literarischen Tätigkeit ablenke. Da außerdem viele Funkhäuser ihre Kulturprogramme ein3 Bächler an Richter, 6.10.1959, abgedruckt in Hans Werner Richter: Briefe, hrsg. von Sabine Cofalla, München u. a. 1997, 59/10, S. 292. 4 Heinz Arnold: Die Gruppe 47. Ein kritischer Grundriß, München 1978, S. 165. 5 Hans Werner Richter: Im Etablissement der Schmetterlinge. 21 Porträts der Gruppe 47, Berlin 2004, S. 153.
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schränkten, wandten sich zahlreiche Schriftsteller stärker den privatwirtschaftlich organisierten Printmedien zu, wo sich im Verlauf des Wirtschaftsaufschwungs seit Anfang der 1950er Jahre ein florierender Markt von Zeitungen, Zeitschriften und Buchverlagen herausgebildet hatte, der in gewisser Weise an den Zeitschriftenboom vor der Währungsreform 1948 anknüpfte. Insbesondere zur Wochenzeitung „Die Zeit“ entwickelte die Gruppe 47 in diesen Jahren ein symbiotisches Verhältnis. Deren Feuilletonchef Rudolf Walter Leonhard nahm zwischen 1959 und 1964 regelmäßig an den Gruppentreffen teil, kommentierte sie ausführlich und kaufte sogar gelegentlich Texte zum Erstabdruck. Die Gruppenmitglieder Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki waren als ständige Mitarbeiter für „Die Zeit“ tätig. Das schuf der Gruppe ein öffentlichkeitswirksames Forum, während die Wochenzeitung umgekehrt vom internationalen Prestige der Schriftsteller profitierte und ihren Ruf als führendes Blatt der linksliberalen Intelligenz festigte.6 Wenn man in der Gruppe 47 nicht nur eine literarische Vereinigung erblickt, sondern mindestens ebenso sehr einen politischen Zusammenschluss linker Intellektueller, dann ist eine andere Veränderung freilich wichtiger als diese künstlerischen, soziologischen und mediengeschichtlichen Akzentverschiebungen. Die zunehmende Politisierung der Schriftsteller und ihr windungsreicher, um 1957 beginnender Annäherungsprozess an die Sozialdemokratie, so die These dieses Beitrags, markierte einen noch zentraleren Einschnitt: sowohl für den weiteren Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte als auch für das Verhältnis deutscher Intellektueller zu Politik und Parteien. Beides soll im Folgenden am Beispiel des Grünwalder Kreises und der Anti-Atombewegung, in denen führende Köpfe der Gruppe an herausgehobener Stelle engagiert waren, etwas ausführlicher untersucht werden.7 Von besonderem Interesse ist dabei Hans Werner Richter als Organisator der politischen Aktivitäten der Gruppe 47, dessen politische Wünsche und Sorgen die Zukunftsträume und Zwangsvorstellungen einer größeren Gruppe deutscher Linksintellektueller widerspiegelten und in den politischen Prozess einzuspeisen halfen.8 6 Siehe hierzu Arnold: Gruppe 47 (Anm. 4), S. 223–229; Christian Haase/Axel Schildt (Hrsg.): „DIE ZEIT“ und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008. 7 Zum Grünwalder Kreis siehe Johannes Heesch: Der Grünwalder Kreis, in: Gesine Schwan u. a. (Hrsg.): Demokratische politische Identität. Deutschland, Polen und Frankreich im Vergleich, Wiesbaden 2006, S. 35–69. Zur Anti-Atombewegung siehe jetzt umfassend Holger Nehring: The Politics of Security. The British and West German Protests against Nuclear Weapons and the Social History of the Cold War, 1957–1964, Oxford 2008. 8 Die folgenden Beobachtungen beruhen wesentlich auf Richters weit verzweigter Korrespondenz, die von der zeitgeschichtlichen Forschung erst allmählich als Fundgrube entdeckt wird. Richters Nachlass liegt im Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg [künftig HWR-Archiv]; ein beträchtlicher Teil ist ediert in Hans Werner Richter: Briefe (Anm. 3).
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I. Der Grünwalder Kreis Im Grünwalder Kreis versammelten sich 1956 und 1957 regierungskritische Publizisten, Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker, die bedrängende Sorgen vor einer schleichenden Rechtsentwicklung der jungen Bonner Republik zusammen geführt hatten. Den Antikommunismus der Adenauer-Regierung sahen sie als Fortentwicklung eines ins „Dritte Reich“ zurückverweisenden, dumpfen, völkisch angehauchten Antibolschewismus. In den Publikationen rechtsextremer Verlage und Autoren erblickten sie einen gefährlichen Nährboden für das erneute Wuchern nationalsozialistischer Denkmuster. Personelle Kontinuitäten zur NSZeit in Justiz, Schule und Verwaltung hielten sie für ebenso bedrohlich wie fortbestehende ideologische Verbindungslinien etwa in Teilen der Schulbuchliteratur. Angesichts des seit Januar 1956 anlaufenden Aufbaus der Bundeswehr fürchteten sie auch eine Rückkehr zu verhängnisvollen militaristischen Traditionen. Man wollte im Grünwalder Kreis dafür sorgen, so Richter im Oktober 1956, „daß mit der Wiederaufrüstung nicht die Armee wieder zu einem Staat im Staate wird, und damit die zivilen Tugenden und bürgerlichen Rechte wieder unter das Diktat des Militärischen kommen“.9 Inhaltlich knüpfte der Kreis vielfach an Positionen eines undogmatischen, humanitär-demokratischen Sozialismus und einen europäisch eingebetteten Nationalneutralismus an, wie sie Richter und Andersch in den Jahren 1946 und 1947 in der Zeitschrift „Der Ruf“ vertreten hatten.10 Die Initialzündung zur Gründung des Grünwalder Kreises gab eine Tagung zum Thema „Der Auftrag der künstlerischen Berufe in der demokratischen Gesellschaft“, zu der am 4./5. Februar 1956 insgesamt 47 Männer und eine Frau in der Sportschule München-Grünwald zusammenkamen. Die Veranstalter, zu denen neben Richter noch der Leiter des „Nachtstudios“ des Bayerischen Rundfunks Gerhard Szczesny und der sozialdemokratische Nachwuchspolitiker Hans-Jochen Vogel gehörten, erhofften sich eine Selbstverständigung unter Künstlern und Intellektuellen über ihre politische Position und Verantwortung. Die „kulturtragenden Schichten“ sollten sich ihrer politischen Verantwortung bewusst werden, die diesmal größer sei, „als sie es jemals war“.11 Der alarmistische Grundton der Veranstaltung entsprang nicht nur einer apokalyptischen Zukunftsprognose für das Atomzeitalter, sondern auch der Erinnerung an den Untergang der Weimarer Republik. Der Nachgeschmack vergangener Katastrophen und die Sorge vor künftigem Unheil mündeten zusammen mit dem verbreiteten Gefühl, in einer prekären Gegenwart zu leben, in eine Stimmung heute nur noch schwer nachvollziehbarer Angst. In Deutschland bestehe die Gefahr, schrieb Richter im Vorfeld 9 Richters Eröffnungsrede auf der Kölner Tagung des Grünwalder Kreises am 13./ 14.10.1956, abgedruckt in: Die Kultur, November 1956, S. 2. 10 Vgl. Alexander Gallus: „Der Ruf“ – Stimme für ein anderes Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25/2007, S. 32–38. 11 Die Kultur, November 1956, S. 2.
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der Grünwalder Tagung an Walser, „daß wir in wenigen Jahren und vielleicht schon morgen von der politischen Reaktion sozusagen ,erledigt‘ werden. Wir müssen aus unserer ,Indifferenz‘ heraus. [. . .] Das geistige Klima in Deutschland wird sich mit der Wiederaufrüstung ändern, wenn wir uns jetzt nicht zusammenfinden, wird man uns in wenigen Jahren mit einem nassen Handtuch erschlagen können. Wir haben das alles schon einmal erlebt.“12 Neben dem äußeren Anlass der Wiederaufstellung einer deutschen Armee gab es für Richter noch einen zweiten, persönlicheren Antrieb, sich politisch gegen vermeintliche oder tatsächliche „Refaschisierungs-“ und „Remilitarisierungstendenzen“ zu engagieren. Sein 1955 im Münchener Desch-Verlag erschienener Roman Du sollst nicht töten war in der „Süddeutschen Zeitung“ mit dem Vorwurf der „Flüchtigkeit in der Beschreibung“ beziehungsweise der „Schematisierung“ und „Armut im Ausdruck“ äußerst negativ besprochen worden.13 Der Schriftsteller vermutete, dass sich hinter der künstlerischen Kritik politische Motive verbargen. Leute wie er müssten mundtot gemacht werden, war ihm gerüchteweise aus der Redaktion zugetragen worden, die Zeit dieser Leute sei vorbei, und sie sorgten dafür, dass Verteidigungsminister Theodor Blank nicht „die richtigen Leute (sprich Soldaten)“ bekäme. Solche Kritiken und der Versuch, Männer seines Schlages „beiseite zu schieben“, seien es, die ihn zu „einer neuen [. . .] politischen Aktivität“ veranlassten, schrieb Richter einem Bekannten.14 Um einer für wahrscheinlich gehaltenen Hetzjagd auf Intellektuelle zuvorzukommen, plante Richter mit dem Grünwalder Kreis einen „Ringverein“ ins Leben zu rufen: „einen Ringverein deutscher Intellektueller, die sich nichts gefallen lassen und sich mit allen Mitteln zu wehren verstehen“.15 In seiner Eröffnungsrede sprach er von einer „freiwilligen demokratischen Feuerwehr“.16 Bei der Organisation dachte er nicht an einen Zentralverein mit einheitlicher landesweiter Mitgliederstruktur, sondern an lokale oder regionale Kreise wie denjenigen in Grünwald, die durch Vertrauensleute in engem Kontakt miteinander stünden, so dass man „jeweils gemeinsame Schritte unternehmen“ könne.17 Später unterteilte sich der Kreis auf berufsständischer Basis in verschiedene „republikanische Clubs“ und regionale Schwerpunktgruppen für Publizisten, Lehrer, Juristen und sogar für Offiziere und Soldaten.
12
Richter an Walser, 19.1.1956, in: HWR-Archiv. Süddeutsche Zeitung vom 15./16.10.1955. 14 Richter an Braem, 19.1.1956, in: HWR-Archiv; teilweise abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 55/7, S. 203, Fn. 1. 15 Richter an Walser, 19.1.1956, in: HWR-Archiv. 16 Zit. nach: Richter: Briefe (Anm. 3), 56/6, S. 214, Fn. 2. 17 Richter an Andersch, 17.2.1956, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 56/8, S. 217–218. 13
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Die Gruppe 47 diente Richter als Vorbild für die Arbeit im Grünwalder Kreis. Bei allen inhaltlichen und persönlichen Streitigkeiten wollte er die Vielfalt der Ausdrucksformen, Einstellungen und Charaktere aufrechterhalten, unterschiedliche persönliche, politische und literarische Ansichten ausklammern. Wie bei der Gruppe 47 sollte auch beim Grünwalder Kreis allmählich und gleichsam organisch ein fester Gruppenkern entstehen.18 Die Gruppe 47 selbst trat dabei für Richter Ende der 1950er Jahre gegenüber seinen politischen Aktivitäten in den Hintergrund, und er drängte seine literarischen Freunde, es ihm gleichzutun.19 Mitunter hatten diese Appelle Erfolg: Zusammen mit Hans Georg Brenner bereitete er eine zweite überregionale Tagung Mitte Mai 1956 in Hamburg vor; gemeinsam mit Paul Schallück organisierte er die dritte Tagung im Oktober 1956 in Köln; an der Berliner Tagung Ende März 1957 nahmen unter anderem Axel Eggebrecht und Roland H. Wiegenstein teil. Inhaltlich ging es Richter und seiner „Löschmannschaft“20 darum, alle „faschistischen oder kommunistischen, oder sonst wie extremen Strömungen“, die auf eine Zerstörung der Demokratie bedacht waren, „zu bekämpfen, abzuwehren und wenn möglich zu ersticken“.21 Prinzipiell befand sich dieses Ziel durchaus im Einklang mit dem antitotalitären Gründungskonsens der Bundesrepublik, und die meisten Mitglieder des Grünwalder Kreises verstanden sich durchaus als demokratische Antikommunisten. In ihren konkreten Ausformungen richteten sich die Aktivitäten des Kreises jedoch nicht gegen reale oder vermeintliche Bedrohungen der Demokratie von links, sondern lediglich von rechts. Das deutete sich bereits bei der ersten Aktion vom April 1956 an: einer Strafanzeige gegen den Druffel-Verlag in Leoni am Starnberger See, der vom früheren stellvertretenden Reichspressechef der NSDAP Helmut Sündermann betrieben wurde und Erinnerungs- und Rechtfertigungsschriften ehemaliger führender Nationalsozialisten wie Ilse Heß oder Joachim von Ribbentrop publizierte. Eine zweite Anzeige gegen den ebenfalls extrem rechtslastigen Plesse-Verlag in Göttingen wurde vorbereitet, dann aber nicht erstattet. Auf der Hamburger Tagung im Mai 1956 verabschiedete man eine Eingabe an den Deutschen Bundestag, dieser solle mit dem Paragraphen 96a eine neue Strafnorm zum Schutz der demokratischen Ordnung gegen nationalsozialistische oder faschistische Gruppierungen ins Strafgesetzbuch einfügen, wie sie beispielsweise in Italien und Österreich existierten. Außerdem protestierte der Kreis gegen – als „Maulkorbgesetz“ bekannt gewordene – Pläne der Bundesregierung, einen Zusatz ins Strafgesetzbuch zu integrieren, 18 Siehe Erich Embacher: Hans Werner Richter. Zum literarischen und zum politisch-publizistischen Wirken eines engagierten deutsche Schriftstellers, Frankfurt a. M. 1985, S. 358. 19 Vgl. Richter an Böll, 6.5.1956, in: Richter: Briefe (Anm. 3), 56/16, S. 228. 20 Richter an Brenner, 10.4.1956, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 56/12, S. 222. 21 Zit. nach: Die Kultur, November 1956, S. 2.
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der „unwahre oder gröblich entstellende Behauptungen“ über die Bundeswehr unter Strafe stellte.22 Personelle, finanzielle und organisatorische Unterstützung erhielt der Grünwalder Kreis von der deutschen Sozialdemokratie.23 Auf der Gründungstagung war die Partei mit dem bayerischen Landesvorsitzenden, Waldemar von Knoeringen, vertreten. Der damals 29 Jahre alte Hans-Jochen Vogel, der vier Jahre später Münchener Oberbürgermeister wurde, half im Vorfeld der Grünwalder Tagung bei der Versendung der Einladungen und bei der Pressearbeit. Sein juristischer Sachverstand war für die Ausarbeitung der Strafanzeige gegen den Druffel-Verlag nützlich. Im Kölner Raum war der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Werner Jacobi für den Kreis aktiv, der die dortige Zusammenkunft mit vorbereitete. Bei der Berliner Tagung sprach zur Begrüßung Willy Brandt, damals Präsident des Abgeordnetenhauses, während der SPD-Politiker und spätere Chefredakteur des „Vorwärts“ Jesco von Puttkamer neben Vogel eines der zentralen Referate hielt. Finanziell wurde der Kreis nicht nur von der bayerischen Landeszentrale für Heimatdienst unterstützt, sondern auch von der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Akademiker.24 Bei manchen Intellektuellen stieß die parteipolitische Verbindung auf Vorbehalte. Er halte wenig von dieser Tagung, schrieb Andersch an Richter vor dem Grünwalder Zusammentreffen. Dass sich die SPD auf einmal an die künstlerischen Berufe erinnere, komme ihm lächerlich vor: Sie interessiere sich „nur für die künstlerischen Berufe, nicht für die Kunst“.25 Obwohl Richter versicherte, die Initiative sei nicht von der Partei ausgegangen, sondern von ihm, erschien Andersch nicht in Grünwald. Auch gegenüber Walser glaubte Richter sich für die Einbeziehung der SPD rechtfertigen zu müssen. Er gehöre der Partei nicht an und werde ihr auch in Zukunft nicht angehören, schrieb er. An „irgendeinen Parteibauernfang“ denke er nicht. Vielmehr sei es an der Zeit, dass die Schriftsteller „endlich ein wenig Initiative“ zeigten, sonst könne es sein, „dass wir in wenigen Jahren wieder bitterlich weinend an den Wassern von Babylon sitzen und uns an die Brust schlagen müssen [. . .] ich bin schuld, ich bin schuld, warum habe ich nichts getan?“26
22
Vgl. hierzu Embacher: Richter (Anm. 18), S. 358–363. Sabine Cofalla: Die „Gruppe 47“ und die SPD. Ein Fallbeispiel, in: Ulrich von Alemann u. a. (Hrsg.): Intellektuelle und die Sozialdemokratie, Opladen 2000, S. 147– 165; Hans Jochen Vogel: Hans Werner Richter und der Grünwalder Kreis, in: Akademie der Künste (Hrsg.): Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur, Berlin 1988, S. 39–40. 24 Vgl. Richter: Briefe (Anm. 3), 56/1, S. 206, Fn. 1. 25 Andersch an Richter, 16.1.1956, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 56/1, S. 206. 26 Richter an Walser, 19.1.1956, teilweise abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 56/2, S. 208, Fn. 6. 23
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Trotz – oder gerade wegen – der Nähe zur SPD bemühte sich Richter auch um Kontakte zu Politikern anderer Parteien, etwa zu Hildegard Hamm-Brücher von der FDP oder zum Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier von der CDU, den er wegen dessen Zugehörigkeit zum Kreisauer Kreis und seiner Verhaftung nach dem gescheiterten Stauffenberg-Attentat hoch schätzte. Ähnliches galt für den ordoliberalen Ökonomen und CDU-Politiker Franz Böhm, der dem Beraterkreis von Carl Friedrich Goerdeler angehört hatte und nach dem 20. Juli 1944 nur durch Zufall einer Inhaftierung entgangen war. Gerstenmaier und Böhm hatten sich schon seit geraumer Zeit gegen die Aufnahme von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS in die Bundeswehr ausgesprochen, und Richter versuchte sie unter Verweis auf das gemeinsame Ziel der „Bekämpfung des Neofaschismus“ als Gastredner für die Hamburger Tagung zu gewinnen, um „einen engeren Kontakt zwischen Vertretern der kulturtragenden Berufe und den verantwortlichen Politikern zu schaffen“, wie er dem Bundestagspräsidenten schrieb.27 Nachdem zuerst Gerstenmaier und dann auch Böhm abgesagt hatten, gab Richter allerdings die Versuche auf, prominente christdemokratische Politiker für seine Initiative zu gewinnen. Letztlich scheiterten die Aktionen des Grünwalder Kreises nicht an der politischen Hegemonie der Christdemokraten oder an personellen Kontinuitäten zur NS-Herrschaft im Beamten- und Justizapparat, wie manche Mitglieder des Kreises annahmen. Eine kürzlich erschienene Studie betont ganz im Gegenteil, dass staatliche Institutionen wie der Bundespräsident, das Bundesjustizministerium, der Verfassungsschutz und der Bundestagsausschuss zum Schutz der Verfassung durchaus „positiv auf die Aktivitäten des Grünwalder Kreises reagierten“.28 Der eigentliche Grund für das Scheitern ist vielmehr im leer laufenden Alarmismus der Initiative zu sehen und im fehlenden organisatorischen Unterbau: Was bei der Gruppe 47 Teil des Erfolgsrezeptes war, funktionierte bei einer stärker auf direkte politische Wirkung bedachten Gruppierung wie dem Grünwalder Kreis nicht. Zu diesen Enttäuschungen kam Richters eigener Unwille, sich die beträchtliche Organisationsarbeit für den Kreis weiter zuzumuten. Schon im März 1957 hatte er Schallück geschrieben, er leide an „Zerstückelung und Verzettelung“ und verspüre in sich „eine große Sehnsucht nach der Gruppe 47 und nach dem Weg zurück in die Literatur“.29 Als er Ende 1957 den Vorsitz abgab, war das Schicksal des „Ringvereins“ besiegelt. Zwar trat der Grünwalder Kreis Ende November desselben Jahres in Frankfurt noch einmal zu einer überregionalen Konferenz zusammen, stellte danach aber seine Aktivitäten weitgehend sang- und klanglos ein. Lediglich die „Clubs republikanischer Publizisten“ blieben in einigen Städten noch mehrere Jahre tätig. 27
Richter an Gerstenmaier, 19.3.1956, in: HWR-Archiv. Vgl. Richter: Briefe (Anm. 3), 56/12, S. 224, Fn. 5. 29 Richter an Schallück, 20.3.1957, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 57/2, S. 247, Fn. 9. 28
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II. Das Münchener Komitee gegen Atomrüstung Das Ende des Grünwalder Kreises bedeutete keineswegs Richters Rückzug aus der aktiven Politik in die Literatur. Die tagespolitische Abstinenz, die er und einige andere Mitglieder der Gruppe 47 mit ihrer Beteiligung am Grünwalder Kreis aufgegeben hatten, erschien ihnen jetzt angesichts der veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erst recht keine angemessene Haltung mehr. Die letzten verbliebenen Skrupel, mit der SPD zusammenzuarbeiten, schwanden. Fast folgerichtig fungierte die Partei bei Richters nächstem politischen Projekt nicht mehr nur als Geldgeber, sondern als politischer Bündnispartner im Kampf gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr. Konkreter Anlass für die Entstehung des Massenprotests gegen die Atomrüstung war jene Pressekonferenz im Frühjahr 1957 gewesen, auf der sich Adenauer dafür ausgesprochen hatte, die Bundeswehr mit atomaren Waffen auszustatten. Daraufhin gingen 18 prominente Atomwissenschaftler am 12. April 1957 mit ihrer „Göttinger Erklärung“ an die Öffentlichkeit, in der sie auf die verheerenden Auswirkungen taktischer und strategischer Atomraketen hinwiesen und die Regierung aufforderten, auf die Ausrüstung der Bundeswehr mit derartigen Waffen zu verzichten. Die Erklärung rief ein starkes Echo in der Öffentlichkeit hervor. Gewerkschaften, Kirchen, Hochschullehrer, Studentenverbände, Schriftsteller und andere Intellektuelle machten sich die Argumente der Wissenschaftler zu Eigen. Aus Sicht der SPD bot die Anti-Atombewegung die Chance, der Bundesregierung in einer Frage Paroli zu bieten, in der sie breiten Rückhalt in der Bevölkerung verspürte. Wie bei der Debatte um den deutschen Wehrbeitrag wenige Jahre zuvor suchte die SPD das Bündnis mit einer außerparlamentarischen Opposition, die sich vorwiegend aus bürgerlichen Kreisen rekrutierte. Im Vergleich zur „Ohne mich“Welle der frühen 1950er Jahre zeichnete sich der Widerstand gegen die Atombewaffnung allerdings durch eine zeitweise verbesserte Organisation und Konzertierung des Protests aus. Die von SPD-Politikern zusammen mit Gewerkschaftern, evangelischen Theologen und Wissenschaftlern ins Leben gerufene Aktion „Kampf dem Atomtod“ bildete dabei das Zentrum.30 In Richters privater Korrespondenz finden sich schon 1957 Hinweise darauf, wie kritisch er den Plänen der Regierung gegenüberstand.31 An die Öffentlichkeit trat er mit seinem Engagement allerdings erst nach dem Rückzug aus dem Grünwalder Kreis ein Dreivierteljahr später, nachdem Ende März 1958 der Antrag der SPD, auf eine Atombewaffnung der Bundeswehr zu verzichten, im Parla30 Vgl. Jost Dülffer: The Movement against Rearmament 1951–55 and the Movement against Nuclear Armament 1957/59 in the Federal Republic: A Comparison, in: Maurice Vaïsse (Hrsg.): Le pacifisme en Europe des années 1920 aux années 1950, Brüssel 1993, S. 417–434. 31 Vgl. etwa Richter an Oettinger, 16.8.1957, HWR-Archiv.
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ment mit 270 gegen 165 Stimmen abgelehnt worden war. Am 1. April initiierte Richter einen „Aufruf gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr“ in der Zeitschrift „Die Kultur“, in dem es hieß: „Wir protestieren gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, weil sie jede weitere Verständigung zwischen Ost und West unmöglich zu machen droht, die Gefahr einer dritten Katastrophe für das deutsche Volk heraufbeschwört und die Wiedervereinigung verhindern kann. Die Anwendung atomarer Waffen ist Selbstmord.“32 Gleichzeitig gründete Richter das „Münchener Komitee gegen Atomrüstung“, das in der bayerischen Landeshauptstadt im Zirkus Krone für den 18. April zu einer Kundgebung unter dem Motto „Keine Experimente, keine Atomrüstung“ aufrief – eine deutliche Anspielung auf den Wahlkampfslogan, mit dem die CDU im Jahr zuvor die absolute Mehrheit bei den Bundestagswahlen gewonnen hatte.33 Das Münchener Komitee gehörte zu einer Reihe von Bürgerkomitees, die in den Jahren 1957 und 1958 spontan gegründet wurden und der Anti-Atombewegung einen Massenanhang bescherten. Obwohl die Union im Herbst 1957 die absolute Mehrheit im Bundestag errungen hatte, sprach sich in demoskopischen Umfragen regelmäßig eine große Mehrheit der Bürger (teilweise über achtzig Prozent) gegen Atomwaffen in der Bundesrepublik aus.34 Im April 1958 befürworteten 52 Prozent der Befragten sogar Streikmaßnahmen, um die Atombewaffnung zu verhindern. An der von Richter organisierten Kundgebung in München Mitte April 1958 nahmen rund 8.000 Personen teil. In den Wochen darauf fanden in rascher Folge weitere Protestveranstaltungen in anderen bayerischen Städten statt. Zur abschließenden Großdemonstration in der Landeshauptstadt am 1. Mai kamen bis zu 80.000 Menschen.35 Neben der Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise bestand ein weiteres Ziel des Münchener Komitees darin, die deutsche Anti-Atombewegung in ein internationales Netz ähnlich ausgerichteter Organisationen einzubinden und mit gleichgesinnten Persönlichkeiten aus anderen Ländern in Kontakt zu bringen. So hatten anlässlich der Münchener Kundgebung der Schweizer Schriftsteller Max Frisch, der italienische Regisseur Roberto Rosselini und der französische Philosoph Jean-Paul Sartre Grußadressen geschickt. Besonders wichtig wurde die Verbindung zur britischen „Campaign against Nuclear Disarmament“ (CND) unter ihrem Vorsitzenden John L. Collins, Kanoniker der Londoner St. Paul’s Cathe32 Abgedruckt in: Reinhard Lettau (Hrsg.): Die Gruppe 47. Bericht, Polemik, Kritik, Neuwied u. a. 1967, S. 451. 33 Vgl. Richter: Briefe (Anm. 3), 58/6, S. 264. 34 Vgl. zu diesem scheinbaren Paradox Michael Geyer: Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Klaus Naumann (Hrsg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 267– 318. 35 So jedenfalls Richter an Schallück, 5.5.1958, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 58/6, S. 263.
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dral.36 Nachdem ein Treffen in Basel von der Schweizer Regierung verboten worden war, fand im Januar 1959 ein Kongress in London statt, auf dem sich Atomwaffengegner aus neun Ländern zur „Europäischen Föderation gegen Atomrüstung“ zusammenschlossen und Richter zu ihrem ersten Präsidenten wählten. Die Eröffnungsrede in London hielt der britische Nobelpreisträger Bertrand Russell, die Abschlusskundgebung unter dem Slogan „Europa ruft“ wurde in der Frankfurter Paulskirche abgehalten.37 Durch sein Engagement in der Anti-Atombewegung intensivierte Richter seinen im Grünwalder Kreis begonnenen Kontakt mit der SPD, auch wenn er später stets betonte, dass seine Initiative „nicht parteigebunden“ gewesen sei.38 Schon im Frühsommer 1957 hatte Fritz Heine, SPD-Pressesprecher und Vorstandsmitglied, um Richters öffentliche Unterstützung im bevorstehenden Bundestagswahlkampf geworben und dabei nicht nur auf das gemeinsame Interesse am „Klima der geistigen Freiheit in Deutschland“ verwiesen, sondern auch an den „außenpolitische[n] Kreuzweg [erinnert], an dem wir stehen: Atombewaffnung Deutschlands oder kollektive Sicherheit“.39 In den vom gehobenen Münchener Bildungsbürgertum dominierten Mitgliederlisten des Münchener Komitees tauchte neben Hildegard Hamm-Brücher und dem Linkskatholiken Carl Amery auch HansJochen Vogel auf. An der Kundgebung im Münchener Zirkus Krone nahm Waldemar von Knoeringen als Redner teil. Die Abschlusskundgebung des Kongresses der „Europäischen Föderation“ in der Paulskirche wurde in Abstimmung mit dem Frankfurter Oberbürgermeister Werner Bockelmann von der SPD organisiert. Anders als beim Grünwalder Kreis war diesmal die Initiative allerdings nicht allein von Richter ausgegangen, sondern – zumindest indirekt – von der SPD an ihn herangetragen worden. Im Unterschied etwa zur britischen CND waren die ersten großen bundesdeutschen Proteste „nicht das Ergebnis spontaner Initiativen einzelner, sondern der Versuch einer politischen Partei, der Sozialdemokraten, ihre Ziele im außerparlamentarischen Raum und nicht im Parlament zu erreichen.“40 Zwar ähnelte das Münchener Honoratioren-Komitee in seiner bildungs36 Holger Nehring: National Internationalists: British and West German Protests against Nuclear Weapons, the Politics of Transnational Communications and the Social History of the Cold War, 1957–1964, in: Contemporary European History 14 (2005), S. 559–582. 37 Vgl. die Einladung zum Europäischen Kongress gegen Atomrüstung, London sowie die Broschüre „Europa ruft. Europäisches Komitee gegen Atomrüstung“, beides in: HWR-Archiv. 38 Hans Werner Richter: Erfahrungen mit Utopien. Briefe an einen jungen Sozialisten, München 1990, S. 80. 39 Heine an Richter, 18.6.1957, in: HWR-Archiv. 40 Holger Nehring: Die Proteste gegen Atomwaffen in der Bundesrepublik und Großbritannien, 1957–1964 – ein Vergleich zweier sozialer Bewegungen, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 31 (2004), S. 93–94.
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bürgerlichen Zusammensetzung von allen deutschen Gruppen noch am ehesten der Organisationsform des CND, doch auch dort standen parteipolitische Gesichtspunkte diesmal stärker im Vordergrund als zwei Jahre zuvor im Grünwalder Kreis.41 Trotz anfänglicher Vorbehalte, ob man in dieser Verbindung nicht von der SPD allzu sehr vereinnahmt werden und in parteipolitische Abhängigkeitsverhältnisse geraten würde, schloss sich Richters Münchener Komitee 1959 auch förmlich mit der SPD-Kampagne zusammen, um die Kräfte der Bewegung zu bündeln und größere Breitenwirkung zu entfalten.42 Ähnlich wie bei der Gründung des Grünwalder Kreises deutete Richter auch sein Engagement in der AntiAtombewegung als Ergebnis eines Reifungsprozesses und staatsbürgerliches Erwachsenwerden. An seinen Lektor beim Münchener Desch-Verlag schrieb er, „daß unsere Generation nun in die Verantwortung hineinwächst, daß da neue Dinge auf uns zukommen, und daß wir uns trivial gesagt ,ein wenig am Riemen reißen‘ müssen, um uns selbst unsere Art zu bewahren“.43 Dafür zahlte er einen hohen Preis – nicht nur durch den Zeitaufwand und das Zurückstellen eigener literarischer Projekte, die mit der Leitung des Komitees verbunden waren, sondern mehr noch dadurch, dass sein Ruf Schaden nahm. Schon im April hatte die Münchener Staatsanwaltschaft sowohl sein Haus als auch die Geschäftsstelle des Komitees gegen Atomrüstung durchsuchen lassen.44 Von der Reaktion mancher Schriftstellerfreunde in der Gruppe 47 war er dabei enttäuscht. Zwar hatten die meisten den Aufruf in der „Kultur“ mit unterzeichnet. Ingeborg Bachmann und Günter Eich waren Mitglieder des Münchener Komitees gegen Atomrüstung. Hans Magnus Enzensberger, Jürgen von Hollander, Günter Weisenborn und Paul Schallück reisten mit zum Kongress nach London. Aber die erhofften Protestaktionen nach der Münchener Hausdurchsuchung blieben aus. Notwendig war Richters Ansicht nach „ein Protest aller Schriftsteller (da die Haussuchung bei einem Schriftsteller stattfand) beim Ministerpräsidenten Seidel in München, Staatskanzlei und auch bei Heuss.“45 Stattdessen reagierten die meisten Autoren eher mit matten Sympathiebekundungen oder zynischem Spott.46 Nur Wolfgang Weyrauch, Christian Ferber, Paul Schallück und Walter Kolbenhoff wurden aktiv – Letzterer mit einem Protestbrief an Bundespräsident 41 Richters in Schweden lebender Bruder Otto beglückwünschte den Schriftsteller jedenfalls im Sommer 1958 zu seinem Einsatz gegen die Atomrüstung mit dem expliziten Hinweis, es sei bedauerlich, „dass die Sozialdemokraten eine Position nach der anderen verlieren“; Otto an Hans Werner Richter, 8.7.1958, in: HWR-Archiv. 42 Vgl. Richter: Briefe (Anm. 3), 59/9, S. 290, Fn. 4. 43 Richter an Mundt, 15.12.1958, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 58/14, S. 275. 44 Vgl. den Bericht „Die Haussuchung in München“, in: Vorwärts Nr. 19 vom 9.5.1958. 45 Richter an Schallück, 5.5.1958, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 58/6, S. 262. 46 Vgl. etwa Enzensberger an Richter, 20.6.1958, in: HWR-Archiv.
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Heuß.47 Andersch hingegen schrieb, er glaube nicht, dass man Heuss für irgendeine gegen Adenauer gerichtete Initiative gewinnen könnte – das sei, als wolle man versuchen, eine „alte Semmel in einen Vulkan zu verwandeln“.48 Wolfgang Hildesheimer erklärte, es sei nicht Aufgabe des Intellektuellen, „das Rad des Weltgeschehens zu drehen [. . .] Das tun nur die Drittklassigen, und denen gelingt es.“49 Andere interpretierten Richters politisches Engagement als bedauerliche Absage an sein eigentliches Metier: die Kunst. Der Verleger Kurt Desch bedrängte ihn, „wieder einmal ein Buch zu schreiben“. Es sei eine „Affenschande“, dass Richter sich von dem „politischen Tageswerk vollkommen auffressen“ lasse und als Schriftsteller in Vergessenheit gerate.50 Ähnlich argumentierte der Lektor des Suhrkamp-Verlages, Friedrich Podszus, der Richter „in der Kreuzwegqual zwischen Politik und Literatur“ sah und ihm wünschte, er möge zur Literatur zurückkehren, weil es ihm allein auf diesem Weg gelingen könne, „der Opposition, zu der wir alle gehören müssen, sofern wir leben wollen, wertvolle Impulse zu vermitteln“.51 Tatsächlich versickerte der Protest wenig später. Die Kampagne hatte schon an Schwung verloren, nachdem der Bundestag im März 1958 für die Atombewaffnung der Bundeswehr gestimmt und damit vollendete Tatsachen geschaffen hatte. Zusätzlich nahm das Verfassungsgericht, das am 30. Juli 1958 eine Volksbefragung in dieser Angelegenheit verbot, dem Widerstand den Wind aus den Segeln. Schließlich stand auch die SPD bald nicht mehr voll hinter der Strategie der außerparlamentarischen Opposition. Vielmehr begann sie auf ihrem Stuttgarter Parteitag vom Mai 1958 mit jenem Erneuerungskurs Ernst zu machen, der nicht mehr in der Fundamentalopposition den Erfolg suchte, sondern sich um weitgehende Gemeinsamkeiten mit der Regierung bemühte und im Godesberger Programm von 1959 gipfelte. Bei dieser Annäherung passte den Reformern ein schwer kontrollierbarer Massenprotest nicht ins Konzept. III. Verbindungslinien zwischen Grünwalder Kreis und Münchener Komitee Über das kurzfristige politische Scheitern, die personellen Kontinuitäten und organisatorischen Verflechtungen hinaus verband den Grünwalder Kreis dreierlei mit dem Münchener Komitee gegen Atomrüstung: Da war erstens der Traum Richters und anderer, rund ein Jahrzehnt, nachdem „Der Ruf“ sein Erscheinen 47 Vgl. Richter an Isolde und Walter Kolbenhoff, 13.5.1958, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 58/7, S. 265–266. 48 Andersch an Richter, 27.5.1958, in: HWR-Archiv. 49 Hildesheimer an Richter, 23.9.1958, in: HWR-Archiv. 50 Desch an Richter, 16.7.1958, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 58/8, S. 267. 51 Podszus an Richter, 11.11.1958, in: HWR-Archiv.
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hatte einstellen müssen, über den Protest gegen den Aufbau der Bundeswehr und deren Atombewaffnung gleichsam eine „nachgeholte Stunde Null“ zu realisieren und die schon verpasst geglaubte Chance einer Neugründung Deutschlands aus dem Geist des demokratischen Sozialismus im zweiten Anlauf doch noch zu ergreifen.52 Die Reaktion der Öffentlichkeit auf diese Vision – und das ist die zweite Verbindungslinie – erfolgte jeweils entlang der Frontverläufe von Antitotalitarismus versus Antifaschismus. Drittens schließlich verklammerte auch das widersprüchliche, von großen Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen geprägte Verhältnis zur SPD den Grünwalder Kreis mit dem Münchener Komitee gegen Atomrüstung. Noch Anfang der 1960er Jahre blickte Richter nostalgisch auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurück: auf „die Jahre der vielen Reformpläne, von denen keiner verwirklicht wurde, die Jahre der Illusionen, der Ideen und der großen Hoffnungen“ im Zeichen von Freiheit, Demokratie, Humanismus; auf einen „Sozialismus vieler Spielarten und Schattierungen“, auf die „Vereinigung Europas zu einem demokratisch-sozialistischen Staatenbund“ und die „Aufgabe der nationalen Souveränität zugunsten größerer internationaler Ordnungen“.53 Vor dem Hintergrund dieser Vision eines sozialistischen Neuanfangs nahm sich die real existierende „liberal-bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung mit stark restaurativen Elementen“, die man in der Bonner Republik vor sich zu haben glaubte, notgedrungen spießig, muffig, intolerant und rückwärtsgewandt aus.54 Man sah die Adenauer-Ära als Restaurationszeit, die eine wirkliche Demokratisierung des Landes verhindert hatte und nun angesichts des Entstehens der Bundeswehr kurz davor stand, von einem Nationalsozialismus im neuen Gewande abgelöst zu werden. Nur vor diesem Hintergrund erklärt sich die fast panische Angst vor einem Wiederaufleben von Faschismus und Militarismus. Dagegen setzten der Grünwalder Kreis und das Münchener Komitee gegen Atomrüstung die Forderung einer gründlichen Liberalisierung der politischen Kultur und der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik. Der „Prozeß der Demokratisierung in Deutschland“ müsse „mit allen Mitteln und auf allen Gebieten“ vorangetrieben werden, forderte Richter in seiner Eröffnungsrede auf der Kölner Tagung des Grünwalder Kreises. Man müsse sich auf allen Gebieten für die Meinungsfreiheit einsetzen, „wo sie durch eine direkte oder indirekte Zensur bedroht ist und all denen den Rücken stärken, deren Haltung durch einen wachsenden Konformismus ins Wanken gerät“.55 52 Vgl. Holger Nehring: Die nachgeholte Stunde Null. Intellektuelle Debatten um die Atombewaffnung der Bundeswehr 1958–1960, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hrsg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik, 1960–1980, Göttingen 2008, S. 229–250. 53 Hans Werner Richter: Zwischen Freiheit und Quarantäne, in: ders. (Hrsg.): Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962, München u. a. 1962, S. 17–18. 54 Hans Werner Richter: Bilanz, in: ebd., S. 567.
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Mit derartigen Vorstellungen setzten sich Richter und seine Mitstreiter Ende der 1950er Jahre dem Vorwurf aus, dem Gegner im Kalten Krieg in die Hände zu spielen. Die Mitglieder des Grünwalder Kreises, hieß es in einem kritischen Pressekommentar zur Hamburger Tagung, bereiteten unter der „Tarnung des Kampfes gegen den ,Neofaschismus‘“ den Boden für die „geistige Bolschewisierung“ des Landes, indem sie den Kampf gegen den Kommunismus als „bloßen Vorwand für den ,deutschen Imperialismus‘ verdächtigten“.56 Derartige Vorwürfe kamen selbst von Wohlgesinnten wie dem Schriftsteller, Film- und Literaturkritiker Hans Sahl, der Richter mit Blick auf die Aktivitäten der „demokratischen Feuerwehr“ des Grünwalder Kreises im April 1956 mahnte, „Wachsamkeit gegenüber den braunen Brandstiftern“ genüge nicht, sofern sie nicht „mit ebensoviel Entschiedenheit gegenüber den roten ausgeübt“ werde, wovon bei den Petitionen des Kreises keine Rede sein könne. Es sei deshalb zu befürchten, dass sich unter Richters „Mannschaft auch Leute befinden, die mit der einen Hand einen Brand löschen, während sie mit der andern einen neuen entfachen“. Die „heimatlose Linke“ dürfe nicht den Fehler begehen, „statt ihrer früheren linken Heimat den Kampf anzusagen, die alte, viel zu einseitige Parole ,Der Feind steht rechts‘, zu wiederholen“.57 In der Tat fällt auf, dass Richter und seine Mitstreiter Einschränkungen der Meinungsfreiheit wie das „Maulkorbgesetz“ als Teil einer umfassenden „Refaschisierung“ brandmarkten, während sie zugleich ebenso vehement von der Bundesregierung Zensurmaßnahmen im Kampf gegen Rechtsextremismus und Neonazismus einforderten. Mit dem Anspruch auf totale Presse- und Meinungsfreiheit, schrieb Richter in diesem Kontext, schaffe die deutsche Demokratie „zugleich das Feld, auf dem sie selbst bekämpft und gestürzt werden kann“.58 Mit derartigen Einseitigkeiten erleichterte er es der Bundesregierung, auch die Aktivitäten der Atomgegner als ein Paktieren mit dem Kommunismus darzustellen. Innenminister Gerhard Schröder geißelte die Anti-Atombewegung in einer Bundestagsrede Mitte Juni 1958 als Trojanisches Pferd des Ostens, und Arbeitsminister Theodor Blank erklärte: „Der Mob ist los in Deutschland. Die KPD kommt aus ihren Löchern gekrochen.“59 Auf diese Weise gelang es der Regierung, antikommunistische Ängste der Bevölkerung gegen die Atomgegner zu mobilisieren. Da das SED-Regime die Initiative nach Kräften unterstützte, so lautete die implizite Argumentation, könne man davon ausgehen, dass die Proteste auch von Ost-Berlin gesteuert würden. Tatsächlich verfügte das ostdeutsche Regime mit dem „Ständigen Kongreß gegen die atomare Aufrüstung“ über eine eigene Organisation in der westdeutschen Protestbewegung, von der sich Richter
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Zit. nach: Die Kultur, November 1956, S. 2. Deutsche Stimmen vom 10.6.1956. Sahl an Richter, 5.4.1956, abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 56/11, S. 221. Hans Werner Richter: Missbrauch der Legalität, in: Die Kultur, April 1956, S. 4. Zit. nach Dominik Geppert: Die Ära Adenauer, 2. Aufl., Darmstadt 2007, S. 96.
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in der Zeitschrift des Deutschen Gewerkschaftsbundes zwar in aller Deutlichkeit, aber letztlich doch erfolglos abgrenzte.60 Nach eineinhalb Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit in der Atomwaffenkampagne, bilanzierte der Schriftsteller im Dezember 1959, stehe er nicht nur vor dem finanziellen, sondern auch vor dem professionellen Ruin: wegen des „unmittelbaren Zeitverlust[s]“ und weil viele Buchhändler seine Bücher mit der Begründung boykottierten, er sei „ein ,Kulturbolschewist‘ oder ,Salonbolschewist‘“.61 Derartige Vorwürfe führten schließlich dazu, dass die SPD im Zuge ihrer inhaltlichen Neuausrichtung vor und nach dem Godesberger Parteitag 1959 zunehmend auf Distanz zum Grünwalder Kreis und dem Münchener Komitee gegen Atomrüstung ging. Insbesondere das Einschwenken der SPD auf den außen- und wehrpolitischen Kurs der Bundesregierung in den Jahren 1959 und 1960 betrachtete Richter als Verrat. „Es war jammervoll“, schrieb er. „Hunderte von deutschen Intellektuellen, viele von Rang und Namen, ließen sich mobilisieren, gingen voller Idealismus auf die Straße, schlugen sich in Versammlungen herum, und wurden im Stich gelassen, als es sich wahlmäßig als nicht ergiebig erwies.“62 Das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Linksintellektuellen war dabei von keiner Seite jemals völlig ohne Hintergedanken gewesen. Die „Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Akademiker“ hatte schon seit dem Sommer 1955 in einem „Grünwalder Arbeitskreis“ für den Aufbau einer staatlichen Politischen Bildungsakademie in Bayern geworben und damit den institutionellen Anstoß zur Gründung des Grünwalder Kreises gegeben. Von der Ausweitung versprachen sich die sozialdemokratischen Initiatoren ursprünglich eine Popularisierung ihrer Ideen und ein Ausgreifen auf Intellektuelle und Künstler, zu denen die SPD sonst wenig Kontakt hatte. Später kritisierte die Partei die Praxisferne der Schriftsteller und deren angeblich elitäre Demokratievorstellungen wohl auch deshalb so heftig, weil sie sich über den störrischen Eigensinn der Intellektuellen ärgerte. In politischen Fragen verlangte sie eine Prärogative, die ihr die Intellektuellen nicht zugestehen wollten. Richter und seinen Mitstreitern ging es ihrerseits vor allem um finanzielle und organisatorische Hilfe durch die Partei, während sie gleichzeitig die eigene Unabhängigkeit eifersüchtig gegen Einflussnahmeversuche der Politik wahren wollten. Er habe „die Absicht, die SPD auszunutzen – und nicht umgekehrt die SPD uns“, pflegte Richter seinen Schriftstellerfreunden zu schreiben, wenn sie vor einer allzu engen Verflechtung in die Parteipolitik warnten.63 Man müsse „mit 60
Welt der Arbeit vom 20.6.1958. Richter an Menzel, 2.12.1959, in: HWR-Archiv. 62 Hans Werner Richter: Von links in die Mitte, in: Martin Walser (Hrsg.): Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?, Reinbek 1961, S. 121. 63 Richter an Walser, 19.1.1956, teilweise abgedruckt in: Richter: Briefe (Anm. 3), 56/2, S. 208, Fn. 6. 61
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Bonn“ immer zusammenarbeiten, gab er seinem Nachfolger im Vorsitz des Münchener Komitees mit auf den Weg, „jedoch aufgrund völliger Souveränität beiderseits“.64 Mit Blick auf seine eigene Motivation bemerkte er, in der Atomwaffenkampagne sei er „in erster Linie moralisch engagiert und erst in zweiter Linie politisch“.65 Zum Ausbruch kamen die subkutanen Spannungen in der „Affäre Schroers“, die in Richters eigener Wahrnehmung die Frage seiner moralischen Integrität und politischen Unabhängigkeit vital berührte, während die SPD sie vor allem unter dem Blickwinkel eines möglichen Imageschadens in der Öffentlichkeit beurteilte. Der rheinische Katholik Rolf Schroers, zwischen 1955 und 1957 beim Verlag Kiepenheuer & Witsch als Lektor tätig, war über den Club republikanischer Publizisten und den Grünwalder Kreis zur Gruppe 47 gestoßen. Er gehörte außerdem dem Münchener Komitee gegen Atomrüstung an, hatte als Delegierter am Londoner Kongress der Europäischen Föderation gegen Atomrüstung teilgenommen und fungierte als Herausgeber der Zeitschrift „Atomzeitalter“, die von der SPD-Initiative „Kampf gegen den Atomtod“ publiziert wurde. Zur Auseinandersetzung kam es, nachdem in der Gruppe 47 im Sommer 1959 Gerüchte kursierten, Schroers habe während des Zweiten Weltkriegs in Italien Geiseln erschossen. Richter zufolge hatte sich Schroers in angetrunkenem Zustand selbst gegenüber dem Schriftsteller Franz Joseph Schneider dieser kriminellen Erschießungen bezichtigt.66 Obwohl Schroers den Vorwurf vehement zurückwies, verweigerte Richter jede weitere Zusammenarbeit und forderte diesen auf, sich aus der Politik zu verabschieden, weil nur so die moralische Integrität der AntiAtombewegung gewahrt werden könne. Die Sozialdemokraten im Umfeld des Grünwalder Kreises und des Münchener Komitees hingegen drängten darauf, den Streit möglichst still beizulegen, weil die Affäre, „sollte sie in die Öffentlichkeit dringen, dem Grünwalder Kreis, der Anti-Atombewegung und der SPD größte Unannehmlichkeiten bereiten würde“.67 Jesco von Puttkamer, als Chefredakteur des „Vorwärts“ wie Schroers und Richter Mitglied im Club republikanischer Publizisten, drohte sogar mit negativen gerichtlichen Konsequenzen, falls Richter darauf bestand, Schroers aus seinen Ämtern zu entfernen. Sollte es zu einem öffentlichen Prozess kommen, schrieb er, so sei „der politische Skandal nicht mehr aufzuhalten“. Darüber hinaus sei „mit größter Sicherheit anzunehmen“, dass Richter den Prozess verlieren werde und damit nicht nur das Schicksal des Clubs, sondern auch seine „eigene Existenz ernsthaft“ gefährde.68 Die intellektuellen und politischen Eigenlogiken 64 65 66 67 68
Richter an Siegfried Bußjäger, 22.3.1960, in: HWR-Archiv. Richter an Menzel, 2.12.1959, in: HWR-Archiv. Vgl. Richter an Menzel, 17.12.1959, in: HWR-Archiv. Puttkamer an Richter, 8.10.1959, in: HWR-Archiv. Puttkamer an Richter, 26.1.1960, in: HWR-Archiv.
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folgten in der Affäre Schroers unterschiedlichen Fluchtlinien. Das gab zu gegenseitigen Verdächtigungen und Schuldzuweisungen Anlass. Kritiker von Richters moralischem Rigorismus argwöhnten, er instrumentalisiere die Auseinandersetzung, um mit Schroers einen literarischen Rivalen und politischen Kontrahenten loszuwerden.69 Der Schriftsteller seinerseits vermutete, die SPD-Politiker spielten den Fall hoch, um das Münchener Komitee „in die Hand zu bekommen“ und die Europäische Föderation gegen Atomrüstung „zu erobern“.70 Am Ende kam es nicht zu der befürchteten gerichtlichen Auseinandersetzung. Richter gab „zur Vermeidung eines Skandals“ eine etwas versöhnlicher gehaltene Erklärung ab, während Schroers schließlich auf Druck des DGB doch aus seinen Funktionen entfernt wurde.71 Am Vertrauensbruch zwischen Richter und der SPD änderte das kurzfristig wenig. Der Schriftsteller fühlte sich von der Bonner Oppositionspartei verraten und ausgenutzt. Man sei in Deutschland immer noch „schlecht bedient“ mit linken Politikern, klagte er, die „Apparatschiks à la Puttkamer“ handelten „ausschließlich nach den Interessen ihrer Partei. [. . .] es darf kein dunkler Fleck auf dem sozialdemokratischen Anzug bleiben [. . .]. Das nennt man in Deutschland Politik.“72 Seinen ideellen Einsatz für die SPD bereute Richter. Seine ehrenamtliche, unentgeltliche Hilfe, so sah er es, hatte ihm die Sozialdemokratie mit „Prozeßdrohungen, Verleumdungen, Entstellungen“ entgolten.73 Als Konsequenz kündigte er seinen Freunden an, dass er sich „für immer aus jeder politischen Spielerei zurückziehe und [. . .] ganz der deutschen Literatur hingeben werde“.74 Im Rückblick bewertete Richter seine Aktivitäten weniger negativ. Den Grünwalder Kreis, notierte er in seinen 1974 erschienenen Briefen an einen jungen Sozialisten, habe er selbst eingehen lassen, weil seine „wesentlichen kurzfristigen Ziele [. . .] erreicht“ gewesen seien. Ob damals wirklich die Gefahr einer „Refaschisierung“ bedrohlich groß war, bezweifelte er in der Retrospektive: „Auf jeden Fall vermuteten wir sie überall und glaubten sie überall zu finden“. Zehn Jahre nach dem Verschwinden des Nationalsozialismus habe man die Auseinandersetzung mit ihm für noch nicht beendet gehalten, „und es sollte noch einmal zehn Jahre dauern bis die Angst vor seiner Wiederkehr endgültig abklang. Ähnlich, wenn auch in mehr organisierter Form, war es mit der Bewegung gegen die
69 Vgl. Richter an Kolbenhoff, 12.2.1960; Richter an Böll, 11.7.1960, beide in: HWR-Archiv; vgl. auch Richter: Briefe (Anm. 3), 59/9, S. 290, Fn. 4. 70 Richter an Schallück, 6.6.1960, in: HWR-Archiv; vgl. auch Richter an Isolde Kolbenhoff, 10.5.1960, ebd. 71 Richter an Schallück, 6.6.1960; Richter an Isolde Kolbenhoff, 10.5.1960, beide in: HWR-Archiv. 72 Richter an Ursula und Christian Ferber, 6.6.1960, in: HWR-Archiv. 73 Richter an Isolde Kolbenhoff, 10.5.1960, in: HWR-Archiv. 74 Richter an Schädlich, 17.4.1960, in: HWR-Archiv.
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atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Auch hier engagierten sich fast alle deutschen Intellektuellen.“ Er sei heute noch überzeugt, so Richter, dass sie seinerzeit „nur so handeln konnten und handeln mussten. Bemerkenswert ist, daß sich damals viele in diesem gleichen Bewußtsein an den Protesten und Protestbewegungen beteiligten. Hätten sie sich [. . .] ideologisch auseinandergelebt, wären sie ohne Wirkung gewesen, was sie nicht waren.“75 IV. Resümee Fragt man nach der Bedeutung der Jahre um 1957 als Zäsur sowohl für die Entwicklung der Gruppe 47 als auch für die Geschichte der Bundesrepublik, dann fallen verschiedene Verbindungen auf. Einmal kann man die Gruppenhistorie als einen Spiegel betrachten, der zentrale Veränderungen in der Gesamtgesellschaft reflektierte. So wie sich die Gruppe 47 von einer Versammlung versprengter, durch den Krieg entwurzelter und in der Literatur Rückhalt suchender autodidaktischer Landser in eine feste, fast hegemoniale Größe im westdeutschen Literaturbetrieb verwandelte, in eine „literarische Ersatzhauptstadt“ (Heinrich Böll) mit internationaler Strahlkraft, so transformierte sich auch die Bundesrepublik in den ersten knapp zehn Jahren ihrer Existenz: Aus der vom Nationalsozialismus totalitär geformten, desorientierten, durch Krieg und Niederlage traumatisierten Wiederaufbaugesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde eine stärker pluralistische, individualistische, freizeitorientierte und im Ausland zunehmend als gleichberechtigt akzeptierte westliche Konsumgesellschaft. Auf dem Feld der Politik hingegen wirkte die Gruppe 47 nicht so sehr als Indikator für allgemeinere Trends in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, sondern als Katalysator einer Entwicklung, die breitere Schichten erst mit einer gewissen Zeitverschiebung nachvollzogen. Die Politisierung der Schriftsteller und ihre spannungsvolle Annäherung an die Sozialdemokratie am Ende der 1950er Jahre bereitete einem Bewusstseinswandel größerer Bevölkerungskreise den Boden, der sich in den frühen und mittleren 1960er Jahren anbahnte, ehe er gegen Ende der Dekade dominierend wurde und ein neues Verständnis von Politik und der Reichweite des Politischen hervorbrachte. Dabei überstand die neue Gemeinsamkeit von SPD und Linksintellektuellen sogar die Implosion der Themen, die sie ursprünglich zusammengeführt hatte. Denn auch nachdem die deutsche Sozialdemokratie 1960 vollends auf den außen- und verteidigungspolitischen Kurs der Bundesregierung eingeschwenkt war, blieb das Engagement Richters und anderer Mitglieder der Gruppe 47 für die SPD bestehen, ja es intensivierte sich im Verlauf der 1960er Jahre noch einmal
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126.
Hans Werner Richter: Briefe an einen jungen Sozialisten, Hamburg 1974, S. 123–
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beträchtlich.76 Insofern bedeutete Richters Enttäuschung nach der „Affäre Schroers“ lediglich eine vorübergehende Abkühlung des Verhältnisses zur SPD, keine vollständige Abwendung von der Partei. Nur standen jetzt nicht mehr „Remilitarisierung“ oder Atombewaffnung im Mittelpunkt, sondern eine neue Ostund Deutschlandpolitik.77 Die strategische Stoßrichtung dieser außenpolitischen Themen blieb freilich dieselbe: Es ging um die Ablösung des antitotalitären Grundkonsenses der Adenauer-Ära, der mit seinem lautstarken, mitunter schrillen Antikommunismus und einem eher still akzeptierten Antinazismus stets eine antisozialistische Stoßrichtung besessen hatte. An seine Stelle sollte ein revitalisierter Antifaschismus als ideologischer Kitt der Linken treten, mit dessen Hilfe eine sozialistische – oder zumindest sozialdemokratische – Politik in der Bundesrepublik aus der weltanschaulichen Defensive heraus kommen und in die Offensive gelangen konnte. Wenn man den weiteren Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte betrachtet, kann man feststellen, dass dies über weite Strecken gelungen ist.
76 Vgl. Dominik Geppert: Von der Staatsskepsis zum parteipolitischen Engagement. Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und die deutsche Politik, in: Geppert/Hacke (Hrsg.): Streit (Anm. 52), S. 46–68. 77 Vgl. Joachim Scholtyseck: Mauerbau und Deutsche Frage. Westdeutsche Intellektuelle und der Kalte Krieg, in: ebd., S. 69–90.
Philosoph des „anderen Deutschland“? Ernst Bloch in Leipzig Von Manfred Riedel „Geheimes Deutschland“, so lautet der Titel eines Gedichts aus Stefan Georges letztem Band „Das neue Reich“ (1928). Obwohl nicht zweifelsfrei verbürgt, spricht einiges dafür, dass so Claus Schenk von Stauffenbergs letzter Ausruf nach dem Scheitern des Hitler-Attentats vom Juli 1944 vor dem Erschießungspeloton gelautet hat („Es lebe das geheime Deutschland“ und nicht das „heilige“ oder gar das „andere“, wie heutige Festredner unterstellen); zumal dieser Titel im GeorgeKreis seit langem als Symbol, als eine Art „Erkennungszeichen“ unter den Kreismitgliedern, lebendig war. Was die Formel vom „anderen Deutschland“ meint und worauf sie zielt, hat mich stets interessiert. Mein Interesse geht bis auf die Studienzeit unter Ernst Bloch in Leipzig zurück. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Begriffen ist groß. Lebensmäßig tief verwoben mit der deutschen Teilungsgeschichte, musste es für jemanden, der das Ende des Hitlerreiches, den Einmarsch erst amerikanischer und dann russischer Truppen, die Besatzungszeit in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) und den Anfang der DDR miterlebte, um schließlich als Bloch-Anhänger nach dessen Entlassung aus dem Leipziger Lehramt in die Bundesrepublik zu fliehen, besondere Anziehungskraft besitzen. Es beschäftigt mich bis heute, zwei Jahrzehnte seit dem Berliner „Mauerfall“ und der deutschen Vereinigung, vielleicht stärker denn je zuvor. I. Deutschland-Utopie? Vorprägung durch Simmel, Lukács, Bloch Nach der späten „Selbstdarstellung“ (Lebenslauf, 1974) datiert Bloch, der 1908 über Rickert seine Dissertation schrieb, die Freundschaft mit dem GeorgeInterpreten und Lukács-Lehrer Georg Simmel auf die Jahre 1908–1911. Sie zerbricht am Beginn des Ersten Weltkriegs, während die 1911 geschlossene Lebensfreundschaft mit Lukács bis zu dessen Tod (1971) anhält. Bloch nannte ihn den „Lokalpatrioten der Kultur“, dessen Patriotismus so weit ging, dass er in seinem Buch über den jungen Hegel (1948) in der „Phänomenologie des Geistes“ die „leere Stelle“ einer „Deutschland-Utopie“ entdeckt zu haben glaubte, deren Erfüllungsort sich in der klassisch-deutschen Philosophie vorbereitet habe: „Wie das Reich der wirklichen Welt in das Reich des Glaubens und der Einsicht über-
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geht, so geht die absolute Freiheit aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über, worin sie in dieser Unwirklichkeit als das Wahre gilt, an dessen Gedanken er sich labt, und dieses in das Selbstbewußtsein eingeschlossene Wesen als das vollkommene und vollständige Wesen weiß.“ Als Leser der Zeitschrift „Sinn und Form“ war ich diesem Gedanken schon in Blochs Vorabdruck seines Hegel-Buchs (II. Jahrgang, 1950) begegnet, als ich Kant und Hegel durch Paul Menzers „Einleitung in die Philosophie“ näher kennen lernte, eines Dilthey-Schülers wie Georg Simmel und bis 1948 Professor in Halle. Um mich von Bloch und Lukács fernzuhalten, die sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zum „Marxismus“ bekannten, hatte ich in Leipzig unter Hermann August Korff, dem berühmten Literaturhistoriker des „utopischen Deutschland“, Germanistik zu studieren begonnen. Als das Werk abgeschlossen war, lagen Blochs Hegelbuch und der erste Band des „Prinzip Hoffnung“ vor. Sie machten auf mich einen großen Eindruck, sodass ich es an der Zeit fand, alle Vorbehalte zurückzustellen und Blochs Vorlesungen im Peterssteinweg zu besuchen, dem Nachkriegssitz des Instituts für Philosophie. Viele Gerüchte waren über Bloch im Umlauf: wie er auf den seit Gadamers Weggang 1947 verwaisten Lehrstuhl gegen den Willen der Philosophischen Fakultät durch die Landesregierung auf den Druck ihm ergebener SED-Funktionäre berufen wurde; wie er sich den Umständen in der frühen DDR anpasste, von der „Fahnenwache“ des 64-jährigen im FDJ-Blauhemd bis hin zur Verfolgung „bürgerlicher“ Wissenschaftler, die aus Gadamers Zeiten im Umkreis der Pädagogischen und Psychologischen Institute philosophisch lehrten oder zur Berufung orthodoxer Marxisten in seiner Umgebung, die ihn später zu Fall brachten; von vergeblichen Plänen zur Gründung linksorientierter Periodika wie einem „Archiv für wissenschaftlichen Sozialismus“ und der Planung eines Kongresses über „Das nationale Erbe in der deutschen Philosophie“ mit Georg Lukács als Hegel-Redner in Leipzig bis hin zu Versuchen, den Einfluss des für alle Studenten obligatorischen „Grundstudiums“ des Marxismus-Leninismus zu begrenzen, die auf Unwillen und eisernen Widerstand der SED-Funktionäre bis hinauf ins Sekretariat für Hochschulwesen stießen. Seine Gedanken zur „Deutschland-Utopie“ konnte er nicht öffentlich vortragen, sondern sah sich auf das Feld der Geschichte europäischer Philosophie verwiesen, dem Thema seiner Pflichtvorlesungen seit 1954. Als ich sie im September 1955 zu besuchen begann, war er gerade bei der spätantiken Gnosis angelangt, deren Hauptsatz sich mit seinem utopischen Denken berührte und den er ständig umkreiste: „Die Welt liegt im Argen.“ Ich war fasziniert von der souveränen Art, wie er immer neu einsetzende Gedankengänge in philosophische Denkbewegung entfaltete und darin sein eigenes Denken unmerklich einmischte. Noch mehr aber von seinen alten Büchern: „Geist der Utopie“ (1918) und „Erbschaft dieser Zeit“ (1934). Es muss in einer
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Vorlesung aus dem Herbstsemester 1955 gewesen sein, als ich Bloch über den Abschied von Simmel während einer Fahrt mit der Heidelberger Straßenbahn zu dessen berühmtem Vortrag über seine „Wende“ beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs sprechen hörte: Als Simmel kurz entschlossen die Oppositionsidee vom „geheimen Deutschland“ aufgab und sich zum „offiziellen“ bekannte, das mit der ganzen Welt im Kampf lag. Anfang Oktober desselben Jahres kam es zum berühmten „Colloquium und Forum im Anatomischen Institut“, dem größten Hörsaal der Medizinischen Fakultät, wo Bloch über „Universität, Wahrheit, Freiheit“ sprach. Allen Anwesenden im überfüllten Rund war klar, dass für den Redner die Zeit der Anpassung an DDR-Verhältnisse vorbei war; dass er nicht mehr darauf verzichten wollte, die eigene Sprache zu sprechen und, wie in der wenig besuchten Antrittsrede von 1949, wo sich das ursprünglich anvisierte Thema („Probleme des Kulturerbes“) in aktualisierenden Ausführungen über „Universität, Marxismus, Philosophie“ versteckte. Bloch, ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Nationalpreisträger, Mitglied des Präsidialrats des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats für Philosophie beim Staatssekretariat für Hochschulwesen, trat aus dem Zwielicht ideologischer Grabenkämpfe im sächsischen Kleinformat heraus und war entschlossen, maßgebend teilzunehmen an der Entwicklung der philosophischen Lehr- und Forschungstätigkeit der DDR als „Repräsentantin des anderen Deutschland“. Das hieß für ihn, an der Einheit um jeden Preis festzuhalten und nicht nachzugeben in dem Bemühen, das politische Auseinanderdriften beider deutscher Staaten zu verhindern. Die Zuhörer des Vortrags in der Leipziger Anatomie und danach die vielen Hörer aller Fakultäten, die sich nach Blochs Verlegung seiner Vorlesungen aus dem kleinen Saal im Peterssteinweg in Hörsaal 40 des Augusteums um ihn sammelten, fühlten sich davon angesprochen. Blochs Veranstaltungen waren im Entscheidungsjahr 1956 Treffpunkt aller Kräfte der „inneren Opposition“ an der Leipziger Universität und ihres Kampfes um ein „anderes Deutschland“. II. Doppelfrage: Ob der Zweck die Mittel heilige und philosophische Diskussionen Einverständnis im Politischen voraussetzen In der Diskussion habe ich jene zwei erwähnten Fragen gestellt, die meine Freunde und mich damals umtrieben: Ob der Zweck alle Mittel heilige, die zu seiner Erreichung angewandt werden; und ob ein „Fehlgehen“ auf politischem Feld einem philosophischen Gespräch hinderlich sei oder es ganz verbiete. Was die erste Frage angeht, zog sich Bloch nach meiner Erinnerung mit der Bemerkung aus der Affäre, Mittel und Zweck verhielten sich nicht auf gleiche Weise adäquat wie Ursache und Wirkung. Was die zweite betrifft, bezog er sich auf das moralisch vorbildliche Verhalten von Karl Jaspers, der, mit einer jüdi-
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schen Frau verheiratet, keine Kompromisse mit den Nationalsozialisten gemacht und bis zur äußersten Konsequenz widerstanden habe. Trotzdem seien philosophische Debatten mit ihm unmöglich, weil seine zentralen Fragen ganz „metaphysisch“ seien; während sie mit Heidegger, 1933 Nazi-Rektor und NSDAP-Mitglied bis zum Ende des Hitlerreichs, möglich wären, weil dessen Grundfrage nach dem „Sinn von Sein“ zum ersten Mal seit Nicolaus Cusanus das Nichts thematisiert habe. Nach dem Ende der Veranstaltung kam Bloch auf mich zu, fragte nach meinem Studienfach und lud mich dann zu einem Besuch in sein Direktorzimmer im Institut für Philosophie ein. So ging ich denn Tags darauf zum Peterssteinweg und sah an der Tür des Direktorzimmers einige seiner Philosophiestudenten stehen. Einer fragte seinen Lehrer – es war der Oberassistent Horst Sperling –, ob er während des Gesprächs anwesend sein könnte. Ich erinnere mich, dass sich Bloch zuerst über die „Heterogonie der Zwecke“ verbreitete, das Thema Wilhelm Wundts, einer seiner Vorgänger an der Leipziger Universität. Mit dieser Formel umschrieb er die Vervielfachung und Summation von Zweckmotiven aufgrund der Folge- und Nebenwirkungen von Willenshaltungen, wonach der ursprünglich vorgestellte Zweck modifiziert wird oder nicht-intendierte Zwecke entstehen; sodass der Zusammenhang einer Zweckreihe im wesentlichen dadurch vermittelt ist, dass der Effekt jede Wahlhandlung infolge unfehlbarer Nebeneinflüsse mit der im Motiv gelegenen Zweckvorstellung sich nicht deckt, ein Thema, das Bloch in seiner Gedenkrede auf Wundt 1955 behandelt hat. Schwierig und lustig zugleich wurde es, als sich das Gespräch um das „Nichts“ und „Alles“ drehte, Blochs Verklammerung der ethischen Grundfragen menschlichen Handelns mit der kosmologischen. Als Leipziger Student sog ich aus zwei Wissensquellen: tagsüber aus verschiedenen Hörsälen der Universität, den vielen getrennten Fächern vom allen vorgeschriebenen Marxismus-Leninismus bis hin zum „Hauptfach“ dem Wissen auf der Spur, das einen könnte; abends aus dem wissenschaftlichen „Nachtprogramm“ bundesdeutscher Radiostationen wie dem Südwestfunk, dem Norddeutschen Rundfunk und dem Kölner Deutschlandsender, das Ohr dicht am Apparat, oft in Decken eingehüllt, damit die Zimmerwirtin nichts mitkriegte vom absonderlichen Nebenstudium, das ich trieb. Davon waren auch die Fragen nach dem Verhältnis von Zweck und Mittel und die angemeldeten Zweifel am Zusammenhang des Ethisch-Politischen und Eschatologisch-Kosmologischen in Blochs Philosophie motiviert; was Bloch zu bemerken schien. Denn in seiner Antwort klang an, dass, wer so mit Schelling oder Heidegger nach der Grundlosigkeit des „Nichts“ forscht, ohne das „Alles“ zu bedenken: jenes überzeitliche Eschaton im Naturprozess, „den langen, über Äonen hinstreichenden Atem der Welt als Geschichte des Menschen, der werde leicht auch auf die „Gegenseite“ übergehen und Schellings oder Heideggers unpolitischer „Metaphysik“ als „reine Philosophie“ den Vorzug geben, ohne sich um das Utopisch-Menschliche zu kümmern und der Frage nach dem Werden der
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Natur zum Menschen aus dem Weg zu gehen, die „Welt“ als dessen Heimat zu erwarten, die ihm einmal in der Kindheit erschien. Und so wollte denn der Philosoph vom Korffschüler wissen, ob ich Goethes „Natur“-Aufsatz aus dem Tieffurter Journal gelesen hätte; ein Aufsatz, der vielleicht, wie Bloch hinzufügte, gar nicht von Goethe, sondern von Tobler stamme. Seine Zusatzfrage, ob mir ToblerSchokolade bekannt sei, entspannte das Prüfungs-Gespräch, da er, zurückgekehrt aus der amerikanischen Emigration im Gründungsjahr der DDR, so tat, als wüsste er nicht, einen hier Aufgewachsenen vor sich zu haben, der darauf nur „nein“ antworten konnte. Diese verneinte Anfrage erledigte Blochs Rückgriff auf Goethe, dem die Natur ja nicht nur mütterlich „nah“ schien wie im Traum der Kindheit, sondern ferne ist und gerade dadurch belehrt, dass sie sich wirklich (wie Rousseau) um das Schicksal ihrer Kinder nicht eben kümmert. Oder erinnerte Bloch sich nur daran, dass er neben dem geliebten Holländer-Tabak die „Toblerone“ bei einem seiner gelegentlichen Westberlin-Besuche erworben hatte? Wie dem auch sei: Blochs Gedankengänge und der Sprung in utopische Gedanken hatten es mir angetan, und so wurde ich eine Zeitlang, genauer gesagt: im Schicksalsjahr 1956, das zugleich über Blochs Altersschicksal und mein eigenes und das vieler anderer (eigentlich aller) in unserem Land entschied, sein Schüler. Ich wurde als Gast in sein Oberseminar aufgenommen, erhielt Einblick in noch ungedruckte Manuskripte („Naturrecht und menschliche Würde“, „Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz“) und las die Hauptwerke „Geist der Utopie“ und „Erbschaft dieser Zeit“. III. Eine „Idee von 1914“? In dieser Zeit dämmerte mir einiges über die Motive seiner schroffen Abwendung vom eigentlichen Lehrer, der ursprünglich George-Anhänger gewesen war und dessen Vorkriegsidee eines „geheimen Deutschland“ nahestand. Offenbar entstanden sie im Zeichen der deutschen und europäischen Krise von 1914, in der unter dem Vorzeichen des Kampfes um die Weltherrschaft im Namen der auserwählten Klasse oder bevorzugten Rasse jene von vornherein polemisch gemeinten Begriffsdichotomien aufgekommen waren. Berief sich doch nicht nur die Linke, sondern auch die Rechte darauf, dass es immer zwei Deutschland gegeben habe; dass der Politiker – ich zitiere hier Hitler aus der Anfangszeit der NS-Bewegung, der von dieser Doppelexistenz ausging und sein Handeln eben daran orientierte – ein „fanatischer Kämpfer für ein anderes Deutschland“ sein müsse.1
1 Brief an Dr. A. Dinter vom 25.7.1928, in: Albrecht Tyrell (Hrsg.): Führer befiehlt . . . Selbstzeugnisse aus der Kampfzeit der NSDAP, Düsseldorf 1969, S. 204; vgl. auch Werner Jochmann: Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, Hamburg 1980, S. 177.
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Noch unpolemisch tritt uns die Idee vom „anderen Deutschland“ in Georg Simmels Betrachtungen zur „Innenseite des Weltschicksals“ von 1914 entgegen. Im vergleichenden Zusammenblick des Kriegsgeschehens gewinnt Simmel die Überzeugung, „daß das Deutschland, in dem wir geworden sind, was wir sind, versunken ist wie ein ausgeträumter Traum, und daß wir, wie auch immer die jetzigen Ereignisse auslaufen mögen, unsere Zukunft auf dem Grund und Boden eines andern Deutschland erleben werden“.2 Für Simmel handelt es sich um eine „sozusagen undifferenzierte Idee“, die uns zu verstehen gibt, dass das „andere Deutschland“ kommen wird, ohne seine Ankunft, seine Träger oder seine Konturen genauer zu bestimmen. Nur eine Bestimmtheit besitzt es: die der seelischen Einheit im höheren Sinne des Wortes, worin sich die sozialen Verhärtungen des Bismarckreiches auflösen, die Klassengegensätze und politischen Spannungen in den Ländern ausgleichen und die Trennung der Kultur vom Staat im Zeichen eines neuen Lebensideals und der Neubildung der „Einheit Mensch“ rückgängig gemacht werden. Um für das Kommen des „Neuen“ bereit zu sein, gilt es „umzulernen“ und sich vom Vorurteil loszureißen, der Krieg drehe sich um eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage oder der deutschen Machtstellung in der Welt. Vielmehr verlangt er die Entscheidung eines jeden zugunsten des einen „Vaterlands der Zeit“, das, im „Schmelztiegel des Krieges“ gewonnen, Symbol und Bedingung dafür darstellt, dass „auch unser Volk endlich eine Einheit und Ganzheit geworden ist und als solches die Schwelle des anderen Deutschland überschreitet.“3 Die Seele des Vaterlands, das war Simmels Auffassung, die er mit BlochFreunden wie Max Scheler teilte, kommt ganz erst über den Genius des Krieges zur Erscheinung. Dieser bereitet zum „anderen Deutschland“ den Weg, indem er erschüttert, was allen selbstverständlich und darum im Alltag wie verschüttet erschien: den Boden des Volkes, worauf der Einzelne steht, damit er ihn fühle und sich seinen Zusammenhang mit der Nation zu Bewusstsein bringe. Es handelt sich um eine Kriegsidee, die ursprünglich zum Arsenal der Ideen von 1914 gehört, jener mystischen Deutung des momentanen Erlebnisses nationaler Integration als Verwirklichung des spezifisch „deutschen Staatsgedankens“, der im Gegensatz zu den Ideen von 1789 (der auf „ungestalteter Freiheit“ und „Gleichheit“ gegründeten Staatenwelt Westeuropas) die kommende Ordnung und Gestaltung der menschlichen Dinge verkörpern sollte. Mit einem Wort: Das andere ist das geistige Deutschland, die Kulturnation, der die im Bismarckreich gestaltete Staatsnation fremd gegenüberstand, jene zwei Nationen, die sich darin – seit Nietzsches Kritik an der äußeren Reichsgründung und dem veräußerlichten Leben der Deutschen nach der Gründerzeit von 1871 – jedenfalls nicht begegnen
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Georg Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München 1917, S. 9. Ebd., S. 29.
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mochten. Um die Überwindung dieses Zwiespaltes geht es Simmel in seiner Rede, die dem Kriegsgeschehen einen Sinn zu geben suchte und damit einen breiten Widerhall fand. Wir müssen das Reich, so folgerten daraus Max und Alfred Weber, die sie wie Bloch in Heidelberg gehört hatten, „in gewissem, vor allem im geistigen Sinn, aber auch in manchen äußeren Aufbauformen, noch einmal errichten, wenn es uns – das geistige Deutschland – fassen soll“4. Obwohl die Problematik eines spezifisch deutschen Sendungsgedankens auf der Hand liegt, wird er von Wortführern der nationalen Partei immer wieder vertreten, darunter von so besonnenen Denkern wie Paul Natorp und Rudolf Eucken. Aber sie konnte auch bei den Jüngeren auf Verständnis stoßen, so bei den beiden Simmelschülern Ernst Bloch und Georg Lukács. Am Beispiel seines Lehrers verdeutlicht Lukács die Bereitschaft der deutschen Intelligenz zu jenem „anderen Deutschland“, das die überkommene „Isolation der Kultur und Kulturträger“ gegenüber dem Staat durchbrechen und eine Solidargemeinschaft im Geist erneuerter Brüderlichkeit und Verantwortung für das soziale Ganze stiften sollte: „Das Zusammenhaltende dieser Gemeinschaft für den Krieg ist gegeben: die Kameradschaft in der gemeinsam bestandenen und überwundenen Gefahr. Daß sie aber auch nach dem Krieg fortbestehen soll, das scheint – für diese Hoffnung – unzweifelhaft, wenn man es auch nicht aussprechen will noch kann, woraus diese Gemeinschaft bestehen sollte.“5 In der Nachfolge der Ideen von 1789 ruhen für Lukács und seinen Weggefährten Ernst Bloch alle Nachkriegshoffnungen auf der russischen Oktoberrevolution, während den Anhängern der nationalen Partei die erwartete Gemeinschaft trotz des enttäuschenden Kriegsausgangs (oder vielleicht deswegen?) mit Kategorien völkischer Verbundenheit und Kameraderie zusammenfiel. Das „Andere“, fragt Bloch, der sich mit Simmel über dessen Kriegssinngebung entzweite, ohne ihren anti-westlichen Affekt preiszugeben, was den Ententemächten „dereinst noch viel furchtbarer und radikaler erscheinen wird als das deutsche Arsenal oder die von der ganzen Welt verworfene Staatsmystik: stammt es nicht wiederum aus Deutschland? Aus einem anderen Deutschland – Karl Marx, der Sozialismus als Wissenschaft, die alte deutsche Philosophie, alle die an der russischen Grenze vordem so sicher der Zensur verfallenen Bücher . . .“6
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Georg Simmel: Gedanken zur deutschen Sendung, Berlin 1915, S. 52. Georg Lukács: Die deutschen Intellektuellen und der Krieg (1916), in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text und Kritik 39/40 (1973), S. 65 f. 6 Ernst Bloch: Geist der Utopie, München 1918, S. 198 f. Vgl. Peter Zudeick: Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch. Leben und Werk, Baden-Baden 1985, S. 63. 5
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IV. George in der Erstfassung des „Geistes der Utopie“ und das Verschwinden des George-Kreises aus Blochs Traditionsbild Kein Zweifel, dass Bloch Heinrich Heine im Sinn hat, dessen politische Lyrik und theoretischen Untersuchungen zur klassisch-romantischen Kunstperiode der deutschen Literatur, worin zum ersten Male das „geheime“ und das „andere Deutschland“ auseinandertraten. Bloch wendet diese Unterscheidung auf die „Geheimlehrer“ seiner eigenen Zeit an, an deren Spitze in der ersten Fassung des „Geistes der Utopie“ Stefan George erscheint, ein „gewaltiger Lyriker und dem, der an ihn glaubt, auch Priester. Es wäre oberflächlich, um ihn herum nur eitelstes Mittunwollen, Mittundürfen, lebendig zu sehen. Denn dieses gilt nur für die zahlreichen streberischen oder affenhaften Naturen, die nirgends fehlen, wo es um heraushebende Klüngels geht, die nirgends darüber entscheiden.“ Überall sonst, rühmt Bloch, hat der George-Kult viel Gutes unter die Jugend gebracht, „Demut, verecundia, entsagenden, zeitfremden Sinn fürs Echte, Freude am schönen, am formvollendeten Gewachsensein“, Dinge, die laut Bloch auch „ohne das Andere“ bestehen könnten, welches „das Tiefere, das aristokratisch Magierhafte minus Christentum“, wie es der George-Gemeinschaft eigentümlich ist, nicht zu seiner Ableitung brauchte. Worüber Bloch zu schweigen vorzieht, da ja dem Geist des George-Kultes alles Proselytentum und aller Wille zur Disputierbarkeit völlig fernliege; um vage anzudeuten, zwischen Simmel und Gundolf bestehe nicht der Unterschied, als ob Gundolf etwas „völlig Unerreichbares außer etwa der Lebendigkeit des gewaltigen Lyrikers begegnet wäre, und daß bessere Hölderlinausgaben oder bessere Literaturgeschenke noch nicht auf das Saatkorn hindeuten, aus dem ein anderer großer Baum zu wachsen hätte“. In der Neufassung des „Geistes der Utopie“ (1923) entfällt die Berufung auf die „Geheimlehrer“ mit George und seinem Kreis an der Spitze. An ihre Stelle treten die Umrisse des „anderen Deutschland“. Während das Wilhelminische Kaiserreich Europa mit der Organisation der Unfreiheit, dem preußischen Militär- und Obrigkeitsstaat, bedroht, erwacht jenes „andere“, und das heißt jetzt immer: „gute“ Deutschland, das auch die westliche Kriegspropaganda vom militärisch „fehlgeleiteten“ und „bösen“ unterschieden hatte, ausgerechnet in Russland – für Bloch eine „deutsche Schande“, zumal die russische Revolution losgebrochen sei unter bewusster Loslösung von dem bisherigen deutschen Einfluss und unter negativer Mitwirkung der großen westlichen Demokratien (wobei er Lenins Unterstützung durch die Oberste Heeresleitung nicht verschweigt). Blochs Ideen über das Zusammengehen des „anderen Deutschland“ mit dem revolutionären Russland fallen bei den sozialistischen Parteien und Gruppierungen der Jugendbewegung nach dem Krieg auf fruchtbaren Boden. „Deutschland ist tot“, so konnte Karl O. Paetel am Ende der Weimarer Republik in seiner „Zwischenbilanz“ feststellen: „Heute kämpfen wir noch im Namen des Vaterlands von morgen, in dem die Arbeitermacht um der Wirklichkeit willen unsere Träume von gestern zerstampfen muß. Gestern hatten wir eine Tradition und eine Geschichte,
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eine Kultur – die endete in dem Augenblick, da wir unter die Sturmfahnen des Proletariats traten, das morgen seine Tradition beginnt.“7 In „Erbschaft dieser Zeit“ rückt unter diesem Vorzeichen Unvereinbares zusammen: die Breite des Romans von Thomas Mann, ein Kreis diskutierend Scheinlebendiger (im „Zauberberg“) mit „all seinen Fragen, außer der einen: woher denn dieses Leben und diese Fragwürdigkeit stamme, und wie sie daher wirklich beschaffen sei“, mit der Konzentriertheit auf das lyrisch Wesentliche im George-Kreis: scheinbare „Urerlebnisse“ um Tat und Freundschaft, Gestalten der Jugend und der „dunkle Sonnenmensch“, das „Pantheon eines heroischen Sonnenzirkels“ göttlicher (oder vergöttlichter) Menschen; „vertikale Entlegenheit schlechthin“, deren „Pan“ harter Süden sein will, griechisch-römisch vollendete Natur; in der Form eine Imitation Dantes, Goethes und des „Sonngotts Albagal“, die das Leere in dekorative Strenge enthüllt, dem über Rom und Magna Graecia trotz aller Zeitkritik die „herrschende Runde“ besingt, als wäre sie „das geheime Deutschland“.8 Die Berauschung, so Blochs Fazit, ist ein ahnungsvollerer Bürgerengel als die Ironie, nicht am „Zauberberg“ der gegenwärtigen Welt wohnend, sondern an Propaganda-, aber auch Bruchstellen, voll Kampf und Komik und unfreiwilligem Orakel. Unter diesen Kämpfen innerhalb der Tradition um eine neue erscheint die Weimarer Republik als „Sieg“ des „kulturellen“ über das „preußische Deutschland“, jener geistigen Mächte, die das erste (Heilige Römische) Reich bedeuteten, aber geschichtlich nur noch als „tatenlose Sehnsucht und Traum“. Die nationalsozialistische Bewegung, so erklärte einer ihrer Geschichtsideologen, wurde möglich, weil die intellektuellen Gegner des „wilhelminisch verhärteten Pseudoreichs (Marxisten, Partikularisten usw.), die sich häufig als das andere, bessere, geheime Deutschland betrachteten, im Grunde schon ihrer eigenen Spannkraft beraubt waren, da ihre Aufgabe ihnen genommen war“9. V. Emigrationsideen? Zwischen Brecht und Thomas Mann Dieser Ansicht neigte während des Zweiten Weltkriegs, als sich Hitler die ganze Welt zum Feind gemacht hatte, auch die westliche Kriegspropaganda (in den Büchern von Lord Vansittart (Black Record, 1941; Lessons of my Life, 1943) zu. Sie wies die Unterscheidung zwischen einem Nazi-Deutschland und Deutschland überhaupt (dem „anderen“, als das es weiterhin bezeichnet wurde) als sentimentale Germanophilie zurück, weil in der großen Masse der schlechten 7
Karl O. Paetel in: Sozialistische Nation I 5 (1931), S. 63. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit (1935), Erweiterte Ausgabe, Werke Bd. 4, S. 198 ff. 9 Christoph Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938, S. 17 und 63 f. 8
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militaristischen Deutschen die kleine Zahl der „guten“ verschwinde und Hitler wie Wilhelm II. oder Bismarck im Grunde nur identische Verkörperungen einer langen Geschichte von Aggressivität seien. Dieser simplifizierenden These haben Männer und Frauen des Widerstands und deutsche Emigranten widersprochen, darunter Ernst Bloch, Karl Löwith und Thomas Mann, der in seinen monatlichen Rundfunkreden auf die Tatsache deutscher Gefangener in den Konzentrationslagern und die Todesurteile im Prozess gegen die Gruppe der Münchner Studenten und Professoren hinwies, die wir heute als „Weiße Rose“ kennen. Aber als im Juli 1943 in Moskau das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ gegründet wurde, zog Thomas Mann das zusammen mit Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht und Bruno Frank gegebene Einverständnis mit der Kundgebung deutscher Kriegsgefangener und Emigranten wieder zurück, die von Moskau aus das deutsche Volk aufgerufen hatten, „seine Brüder zu bedingungsloser Kapitulation zu zwingen und eine starke Demokratie in Deutschland zu erkämpfen“.10 Als Reaktion auf Thomas Manns widersprüchliches Verhalten und seine Anerkennung des Rechts der Alliierten, das deutsche Volk für die in seinem Namen begangenen Untaten zu bestrafen, ja selbst (wenn wir Brechts Zeugnis in diesem Punkt trauen dürfen) bis zu eine halbe Million Menschen zu töten, beschrieb sein Antipode in einem großen Hassgedicht auf den „Nobelpreisträger Thomas Mann“ zugleich den Widerspruch in seinem eigenen Verhalten, mit dem kulturbürgerlichen Schriftsteller zu paktieren, der offenbar am unteilbaren Deutschland und dessen schuld- und leidverstrickter Geschichte festhielt. Und er schrieb einen Essay unter dem Titel: „The Other Germany“ (1943), den wenige Jahre zuvor die Geschwister Mann in einem Buch verwendet hatten, worin sie der amerikanischen Öffentlichkeit die deutschen Emigranten (vor allem Schriftsteller und Künstler) vorstellten.11 Brecht scheint diesen Titel so zu verstehen, wie er damals im Ausland und auch im Inland verstanden wurde: als Ausdruck für die deutsche Opposition gegen Hitler.12 Das scheint nur so. Zwar spielt Brecht darauf an, wenn er schreibt, 10 Vgl. Günter Hartung: Bertolt Brecht und Thomas Mann, in: Weimarer Beiträge 12 (1966), S. 430; Herbert Lehnert: Bert Brecht und Thomas Mann im Streit über Deutschland, in: Hermann Kurzke (Hrsg.): Stationen der Thomas-Mann-Forschung, Würzburg 1985, S. 247 ff. 11 Vgl. Erika Mann/Klaus Mann: The Other Germany, New York 1940. 12 In dieser Konnotation gebraucht ihn im September 1939 Ulrich von Hassel. Vgl. Freiherr Hiller von Gaertingen (Hrsg.): Die Hassel-Tagebücher 1938–1944, Berlin 1989, S. 20, 111 und 359. Die Erstausgabe erschien unter dem Titel: „Vom anderen Deutschland“ (1946). Vgl. auch die erste Publikation von Carl Friedrich Goerdelers politischem Testament, in: Friedrich Krause (Hrsg.): Dokumente des Anderen Deutschland, New York 1945. Zu erwähnen ist auch die Nachkriegsschriftenreihe Das Andere Deutschland. Beiträge zum geistigen Wiederaufbau des Abendlandes und zum Kulturschaffen der Welt, München 1946.
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dass die Welt schon in der Zeit, als Hitler unangefochten auf dem Höhepunkt seiner Macht war, wusste, dass er von innen bekämpft wurde und „man“ seine Feinde, die ihm passiven Widerstand leisteten und dafür in Konzentrationslagern und Gefängnissen einsaßen (nach Brecht eine Armee von 200.000 Deutschen), „das andere Deutschland“ nannte. Aber er ist sich bewusst, dass sie nicht dessen „Gesamtheit“, sondern nur „ein Teil seiner Kräfte“ darstellen. Brecht sagt nichts vom Ganzen oder von bestimmten politischen Gruppierungen, obwohl er gelegentlich die Besorgnis mächtiger gegnerischer Gruppen erwähnt, die das „andere Deutschland“ mit Misstrauen betrachten, weil sie befürchten, es sei „sozialistisch“. Er spricht davon, was seine Anhänger und Freunde beunruhigt, „sogar einige, die selbst zum anderen Deutschland gehörten“, vom Verdacht, dass der Krieg dem Bürgerkrieg im Land ein Ende bereitet haben könnte. Darauf kommt es Brecht in seinem Versuch an, mit den Mitteln soziologischer Analyse die Ursachen des nationalsozialistischen Anspruchs auf das eine Deutschland und die in Hitler verkörperte Einheit der Nation als ideologischen Schein zu enthüllen. Wer darüber klage, dass das deutsche Volk das Hitlerregime seinen schrecklichen Angriffskrieg führen lasse, der beklage in Wahrheit, dass es keine gesellschaftliche Revolution gegen die Klasse der „Industriellen und Junker“ durchführe, deren Interessen das Regime befriedige. Ob das tatsächlich der Fall ist, danach fragt Brecht nicht. Die Idee vom Anderen Deutschland wird zur Bürgerkriegsidee, und Brecht lässt keinen Zweifel daran, dass er damit ein „sozialistisches Deutschland“ meint, dessen Geburt die Verurteilung und Liquidierung dieser Klasse durch eine „Revolution gigantischen Ausmaßes“ voraussetzt. Deutschland muss sich „nicht als Nation emanzipieren, sondern als Volk, genauer als Arbeiterschaft“.13 Brecht ist sich wohl bewusst, dass Völker nicht leichtfertig mit radikalen Änderungen des ökonomischen Systems „spekulieren“, da sie die Unordnung hassen und fürchten, die mit gesellschaftlichen Veränderungen einhergeht. Um den Krieg zu beenden, wird sie das deutsche Volk wagen, und für das große Wagnis der von Brecht erhofften sozialen Revolution gilt in Kleinschrift: „Wenn unser anderes deutschland siegen soll, dann muß es seine lektion gelernt haben.“14 Auf diesen Umschlag der Kulturidee in eine Ideologie des Bürgerkriegs, die den latenten Moralismus der Idee auf die Spitze treiben und durch die Identifikation des „anderen Deutschland“ mit der Arbeiterschaft und deren geschichtlicher Richter- und Heilsfunktion in Klassenterror einmünden musste, antwortet Thomas Mann in seinem Vortrag über „Deutschland und die Deutschen“ (1945). Es ist seine Antwort auf die Neigung der deutschen Emigration zu politischer 13 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal 1938–1955, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1973 (am 11. November 1943). 14 The Other Germany (1943), in Progressive Labor, New York, Bd. 5, Nr. 3 (1966), zit. nach Bertolt Brecht: Gesammelte Werke Bd. 20, Anmerkungen 16–22.
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Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei. Sie lebte in Ost und West vom Gegensatz zu dem „einen Deutschland“, und je mehr sie es von außen betrachtete und als verworfen zeichnete, desto klarer und leuchtender musste das „andere Deutschland“ vor diesem Hintergrund sein Profil gewinnen.15 Im Schlussakt der Katastrophe stellt sich Thomas Mann nicht außerhalb des furchtbaren Geschehens und ist in dieser Haltung vorbildlich für Ernst Bloch geworden. Beide verzichten darauf, „den Richter zu spielen, aus Willfährigkeit gegen den unermeßlichen Haß, den sein Volk zu erregen gewußt hat, es zu verfluchen und zu verdammen und sich selbst als das ,gute Deutschland‘ zu empfehlen, ganz im Gegensatz zum bösen, schuldigen dort drüben, mit dem man gar nichts zu tun hat . . . Man hat zu tun mit dem deutschen Schicksal und deutscher Schuld, wenn man als Deutscher geboren ist.“16 So bezieht sich Thomas Mann selbst ein in die erzählte Geschichte der deutschen „Innerlichkeit“ und ihres Missverhältnisses zur politischen Welt seit Luther (und Thomas Münzer, Blochs „Gegenheld“ zu Luther), worin er den Ursprung des Zwiespalts der deutschen Seele, ihrer Größe und ihres Versagens, zu erblicken glaubt: das für die Zeit von Goethe und bis hin zu Nietzsche und darüber hinaus charakteristische „Auseinanderfallen des spekulativen und gesellschaftlich-politischen Elements menschlicher Energie und die völlige Prävalenz des ersten vor dem zweiten“. Die ausgezogenen Grundlinien der Irrwege deutscher Geschichte kehren zuletzt zum Hauptpunkt der Brecht-Kontroverse zurück – mit der entschiedenen Gegenthese, dass es „nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug“. Das böse Deutschland, so lautet Thomas Manns Fazit im Streit mit Brecht und der ihm nahestehenden Emigration, „das ist das fehlgeschlagene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung“. In der Tat: Wahrheiten, die man über sein Volk zu sagen sucht, können nur das Produkt von Selbstprüfung sein. Sie werden unwahr, wenn kritische Distanzierung von deutschem Schicksal zum Abstand des Selbstgerechten führt, der von außen richtet und verurteilt.
15 Vgl. Joachim Radkau: Die Exil-Ideologie vom „anderen Deutschland“ und die Vansittartisten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2/1970, S. 37. 16 Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen, Berlin 1947, S. 7.
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VI. Nationale Perspektive für die geteilte Nation Vor diesem Hintergrund hebt sich die nationale Perspektive ab, die Bloch in Leipzig vertrat. Was er als „anderes Deutschland“ nach dem Abschied vom „geheimen“ sah, fällt mit dem Bild zusammen, das er als erster in „Geist der Utopie“ vor Augen hatte: Karl Marx, der Sozialismus als Wissenschaft, die alte deutsche Philosophie, die in Russland unter Zensur gefallenen Bücher wie auch später die eigenen, seit dem Berliner Mauerbau in der DDR nicht mehr erhältlichen Werke. Als sich dem Amerika-Emigranten 1948 die Möglichkeit bot, in Leipzig zu lehren, schrieb er sich zu, in der Philosophie die „deutsche Perspektive“ zu vertreten, was schließlich keine Schande sei. In diesem Zusammenhang sind seine bald gestoppten und gescheiterten Bemühungen zu sehen, gegen das ZKOrgan „Einheit“ und ihr Zusammengehen mit Stalins „Partei neuen Typs“ eine philosophische Zeitschrift für „wissenschaftlichen Marxismus“ (den „westlichen“) zu gründen und eine große Konferenz zum Thema „Das nationale Erbe in der deutschen Philosophie“ einzuberufen. Darauf spielt noch die Bezeichnung des späteren, sehr erfolgreichen Periodikums „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“ an, die auf ihrem Titelblatt die „Wissenschaftlichkeit“ im „marxistischen“ Sinne von Marx – nicht als Parteimann, sondern als „Mann der Wissenschaft“ – betonte. Darum drehte sich meines Erachtens der Kampf, den Bloch 1956/57 in Leipzig ausfocht. Die Hauptsache war das Festhalten der nationalen Perspektive gegen diejenigen, die sie gefährdeten oder zu Fall brachten, die in der Bundesrepublik herrschenden Parteiströmungen „rechts“ von SPD und FDP und in der DDR Walter Ulbricht, Stalins Vertrauensmann beim „Aufbau des Sozialismus“ nach russischem Muster. Der Utopiker, dem bis heute nachgesagt wird, nicht gewusst zu haben, wo er lebte; bei dem der Aufstand vom 17. Juni 1953 nicht vorkam und dessen „utopisches Deutschland“ weder Züge der DDR noch der Bundesrepublik trug und der doch (wie Johannes R. Becher) die Oder-Neiße-Grenze nur als „provisorisch“ anerkennen mochte, er hat die Hauptsache erkannt, wovon alles abhängen würde für das Schicksal der Deutschen in Ost und West: die Schaffung der deutschen Einheit. Um dahin zu gelangen – so erkannte Bloch, nachdem er auf der III. Parteikonferenz der SED wenige Wochen nach dem 20. Parteitag der KPdSU erlebte, wie Ulbricht in „Ein-Mann-Regie“ den Stalinschen „Personenkult“ als „zweitrangig“ abtat und wie der ZK-Sekretär Kurt Hager sie mit der „Chefideologie“ an Universitäten verglich und damit Bloch persönlich angriff – musste Ulbricht zurücktreten. Eine Forderung, die er im engsten Schülerkreis mehrfach wiederholte, ohne zu bedenken, dass dem Kreis Stasi-Mitarbeiter angehörten, darunter nicht nur Oberassistent Sperling, sondern weitere, die von der Parteileitung beauftragt waren, „Kontakte“ zu Bloch zu pflegen, um diesen von „kleinbürgerlichen und opportunistischen Kräften zu lösen“.17 Sperling warf im Streit um Bloch dessen
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Widersachern am Institut Verletzung der Bündnispolitik und „parteischädigendes Verhalten“ vor, was ihn seinerseits in deren Schusslinie brachte und mit Parteiund Institutsausschluss geahndet wurde. Es war schließlich eine Mitarbeiterin, welche dafür später Karriere machte, die die Bloch-Äußerung an die Parteileitung weitermeldete. Sie gelangte zur Universitäts- und Bezirksleitung der SED und von dort in die Berliner SED-Zentrale, wo Ulbricht zu Ohren kam, was ihm seit längerem bekannt war: Blochs Rücktrittsforderung im übergeordneten Interesse der Wiederherstellung deutscher Einheit. Dies hatte Blochs Intimus Wolfgang Harich in seiner denkwürdigen Unterredung mit dem sowjetischen Botschafter und in persönlicher Audienz Ulbricht selbst zu verstehen gegeben. Und nachdem dieser im Zusammenhang mit dem ungarischen Aufstand im November 1957 verhaftet wurde, musste zum Erweis der Existenz eines Petöfi-Widerstandskreises in der DDR mit dem Lukács-Freund Bloch an der Spitze dieser als heimlicher „Rädelsführer“ der Konterrevolution „entlarvt“ werden. Darum griff Ulbricht auf dem Delegiertentreffen der SED-Funktionäre an der Leipziger Universität persönlich ein und wandte sich gegen die Position des Parteisekretärs am Philosophischen Institut, der sich von der Ulbrichtschen Lesart der Universitätsparteileitung abgrenzte, die in Harichs Aktivitäten Versuche sah, „eine Linie in der DDR zu vertreten, die letzten Endes die Beseitigung der volksdemokratischen Ordnung im Auge hatte“. Als dieser die entgegengesetzte Auffassung der SED-Grundorganisation am Philosophischen Institut vortrug, unterbrach ihn der im Präsidium sitzende Parteichef aus Berlin mit den Worten: „Hat euch der Professor Bloch nicht näher informiert? Ich meine, unter Philosophen muß man offen sprechen über die Konzeption von Harich. Er muß ihn doch kennen.“18 Damit war die „Umkippung“ der Situation erreicht und das Startzeichen zum Angriff gegen den Philosophen des „anderen Deutschland“ gegeben. Denn das war Ernst Bloch zwischen 1917 und 1957. Sein Werk enthält im Kern eine „Theorie von der zweiten Revolution“,19 von der auch Martin Heidegger zwischen 1933/34 träumte. Beiden Revolutionen war freilich nichts gemeinsam als dies, dass sie auf einer historisch irrtümlichen Situationsanalyse beruhten (auf der heute ganz unverständlichen Annahme, die einzig revolutionäre Kraft in Deutschland sei die „Hitler-Jugend“ und Teile der SA!) und darum „ausblieben“. 17 Vgl. H. Engelmann, Stellungnahme zu meiner politisch-ideologischen Haltung in den letzten zwei Jahren am Institut für Philosophie (14.3.1957), BV PDS Leipzig PA/4/ 14/90, mitgeteilt bei Volker und Petra Caysa/Klaus-Dieter Eichler/Elke Uhl (Hrsg.): „Hoffnung kann enttäuscht werden.“ Ernst Bloch in Leipzig, Frankfurt a. M. 1992, S. 39 und 50. 18 Protokoll der Delegiertenkonferenz am 21./22.12.1956, BV PDS Leipzig PA N/4/ 14./005. 19 Rede des Sekretärs der SED-Bezirksleitung Siegfried Wagner vor Genossen Kulturschaffenden vom 30.1.1957, in: Leipziger Volkszeitung vom 30.6./1.7.1990, S. 12.
Ernst Bloch in Leipzig
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Als Ulbricht in der Konsequenz einer verfehlten Deutschland-Politik die Berliner Mauer mit militärisch gesicherten „Grenzen“ zwischen den deutschen Nachkriegsstaaten errichten ließ, hatte Bloch, eingesperrt in das von ihm inzwischen so genannte „DDR-Konzentrationslager“, keine andere Wahl und verwandelte seinen Kurzbesuch im „Westen“ zu einem Daueraufenthalt. Den „Grenzübertritt“ erklärte er in marxistischer Terminologie als „Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit“ in die „Freiheit“, womit der Traum vom „anderen Deutschland“ ausgeträumt war . . .
Die Gründung des Wissenschaftsrates als Zäsur für die Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik? Von Olaf Bartz Das Konzept der „langen 1960er Jahre“, die etwa von 1957/58 bis 1973/74 reichen, hat sich in den letzten Jahren nachgerade zu einem Allgemeingut der bundesrepublikanischen Historiographie entwickelt. Die Überzeugungskraft dieser Periodisierung entstammt vornehmlich ihrer sozialgeschichtlichen Fundierung einerseits1 und ihrer grundlegenden Antwort auf die Frage nach dem historischen Ort von „1968“ andererseits – indem nämlich dieses symbolträchtige Jahr in eine länger währende Transformationsphase eingebettet und seines vermeintlichen Zäsurcharakters entkleidet wurde.2 Wenn „1968“ schwerpunktmäßig an den Hochschulen stattfand und im Rahmen der „langen 1960er Jahre“ erklärt werden kann, liegt der Gedanke nicht fern, dass gerade im Bereich der Wissenschaftspolitik der besagte Epochenbeginn 1957/58 besonders leicht aufzufinden sein könnte, zumal die Gründung des Wissenschaftsrates in dieser Zeit sofort ins Auge fällt. Ziel der folgenden Ausführungen ist es daher, den Zäsurgehalt von „1957“ für die bundesdeutsche Wissenschaftspolitik zu untersuchen. Dies geschieht in zwei Kapiteln, deren erstes die Gründung des Wissenschaftsrates und deren zweites seine frühen Aktivitäten behandeln sowie kurz andere mögliche Zäsurindikatoren in den Blick nehmen. Im Fazit wird das Jahr 1957 unter hochschul- und wissenschaftspolitischer Perspektive mit dem Jahr 1964 verglichen.
1 Vgl. Axel Schildt: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/ 90, München 2007. 2 Paradigmatisch Ulrich Herbert, der die „68er“ als „Epigonen“ charakterisierte (Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. Eine Skizze, in: ders. (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49, hier S. 45). Vgl. exemplarisch außerdem Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.): Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006 sowie Tagungsbericht HT 2004: Eine „zweite Gründung“? 1968 und die langen 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik. 17.9.2004, Historikertag Kiel. In: H-Soz-u-Kult, 15.10. 2004, . Vgl. zuletzt Anne Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München 2010.
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Olaf Bartz
I. Die Gründung des Wissenschaftsrates 1956/57 Eine Analyse der Vorgänge, die schlussendlich dazu führten, dass Bundeskanzler Adenauer und die Ministerpräsidenten der Länder am 5. September 1957 das Verwaltungsabkommen zur Errichtung eines Wissenschaftsrates unterzeichneten, führt zu dem Ergebnis, dass sich hier drei politische Handlungsstränge in einer Weise überlagerten, dass die Gründung dieses Gremiums allen Akteuren folgerichtig erschien. Dabei handelte es sich erstens um eine vergleichsweise entspannte föderale Konstellation, zweitens um ein wissenschaftsfreundliches politisches Klima und drittens, als zentrales Schmiermittel, um zu verteilende Überschüsse aus dem Bundeshaushalt, den so genannten „Juliusturm“. Zum ersten Punkt: In den frühen Jahren der jungen Bundesrepublik bestand alles andere als Einvernehmen darüber, wie die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet der Wissenschaft aussehen könnte.3 Auf der einen Seite betrachteten die Gliedstaaten sowohl die Hochschulen als auch die außeruniversitäre Forschung als ihr ureigenes Revier, auf der anderern Seite vergab der Bund relativ freihändig Gelder, damals als „Dotationen“ bezeichnet, an Projekte und Institutionen aller Art, beispielsweise an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Dabei konnte er sich auf die Ziffer 13 des Art. 74 des Grundgesetzes berufen, die – recht eigentümlich – dem Bund die konkurrierende Gesetzgebung bezüglich der „Förderung der wissenschaftlichen Forschung“ zusprach. Zwar wurde damals (und bis heute) niemals ein derartiges Gesetz verabschiedet, aber als Rechtfertigung für Bundeshandeln taugte dieser Passus gleichwohl. Mitte der 1950er Jahre entspannte sich die Lage nicht zuletzt dadurch, dass sich die Einnahmesituation des Bundes deutlich besser entwickelte als die der Länder. In der Folge fassten die Ministerpräsidenten Anfang 1954 einen Beschluss betreffend die „Dotationen des Bundes auf kulturellem Gebiet“, die darin nicht mehr grundsätzlich kritisiert, sondern als gegeben hingenommen wurden. Nunmehr sollte eine „Abstimmung zwischen Bund und Ländern [. . .] über die Verteilung und Verwendung der Mittel erreicht“ werden4 – wenn die Länder also den Bund schon nicht bremsen konnten und wollten, strebten sie zumindest Mitsprache an. Vor diesem Hintergrund war beispielsweise der „Widerstand der Länder gegen die Förderung der Atomforschung durch den Bund [. . .] im ganzen gering“:5 Weder wurde die Einrichtung des Bundesatomministeriums 1955 zu einem föderalen Problem, noch sträubte sich Baden-Württemberg gegen die fünfzigprozentige Beteiligung des Bundes am ersten deutschen Reaktor in Karlsruhe. 3 Vgl. Olaf Bartz: Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957–2007, Stuttgart 2007, S. 18–22. 4 Vermerk des Bundeskanzleramtes vom 31.5.1954 über das Treffen der Ministerpräsidenten vom 5. und 6. Februar des Jahres, in: Bundesarchiv (BArch) B136/2028. 5 Thomas Stamm: Zwischen Staat und Selbstverwaltung. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945–1965, Köln 1981, S. 176.
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Zum zweiten Punkt: Das Jahr 1956 sah in der öffentlichen Diskussion eine Welle der Erregung, wonach die Bundesrepublik auf technologischem Gebiet hinter die UdSSR zurückfallen und damit den „Kalten Krieg der Hörsäle“ verlieren könne, der in diesem Jahr zu einem geflügelten Wort in Parlamentsdebatten wurde.6 Ob diese Befürchtungen in jedem Fall auf einer tatsächlich verspürten Angst gründeten oder die jeweiligen Redner ihre Forderung nach mehr Geld für die Wissenschaft mit dem Verweis auf die weltpolitische Auseinandersetzung unterfüttern wollten, muss zwar dahingestellt bleiben, zu widerlegen war dieses Argument allerdings kaum. Deutlich wird an dieser Stelle, dass der „SputnikSchock“ nicht aus heiterem Himmel kam, sondern dass entsprechende Unterlegenheits- und Rückständigkeitstopoi lange vor dem Start des ersten künstlichen Satelliten im Oktober 1957 geläufig waren.7 Ausdruck dieser Besorgnis war insbesondere eine Denkschrift des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), der ebenfalls Anfang 1956 das Schreckensszenario eines Ingenieurmangels zeichnete und sein Traktat an alle Parlamentarier von Bund und Ländern versandte. Zum dritten Punkt genügen wenige Worte: Schon zeitgenössisch legendär war der so genannte „Juliusturm“, mit dem die von Bundesfinanzminister Fritz Schäffer angehäuften Haushaltsüberschüsse von mehreren Milliarden DM bezeichnet wurden. So sehr Schäffer auch darauf insistierte, dieses Geld sei als Vorsorge für die Kosten der Besatzung und für den Aufbau der Bundeswehr bereits verplant,8 versuchten 1956/57 praktisch alle politischen Kräfte darauf zuzugreifen – man denke an den „Kuchenausschuss“ der CDU, der vor der Bundestagswahl 1957 6 So etwa bei Waldemar von Knoeringen (SPD) vor dem Bayerischen Landtag; vgl. Bayerischer Landtag, Stenographische Berichte, 3. Wahlperiode, 57. Sitzung vom 22.3.1956, S. 1846; Franz Josef Strauß (CSU) am 3.5.1956 vor einem Unterausschuss der Deutschen Atomkommission; vgl. Stamm: Staat und Selbstverwaltung (Anm. 5), S. 198; Reinhold Bender (CDU) vor dem Deutschen Bundestag; vgl. Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 2. Wahlperiode, 148. Sitzung am 7.6.1956, S. 7850; desgleichen auch bei Georg Kahn-Ackermann (SPD) in der nämlichen Bundestagssitzung (S. 7835), der die Urheberschaft des Zitates jedoch dem US-amerikanischen Außenminister Dulles zuschrieb. Der bayerische Kultusminister August Rucker (parteilos) bezeichnete speziell die Ingenieure als „Soldaten des Kalten Krieges der Hörsäle“; vgl. Bayerischer Landtag, Stenographische Berichte, 3. Wahlperiode, 61. Sitzung vom 26.4. 1956, S. 2037. Auch außerhalb der Parlamente war die Sentenz anzutreffen, z. B. 1957 auf der Jahresversammlung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft; vgl. ein entsprechendes Zitat bei Winfried Schulze: Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 1920–1995, Berlin 1995, S. 226. Die Konjunktur dieses Schlagwortes neigte sich aber alsbald dem Ende zu: 1958 stellte Ludwig Ratzel (SPD) fest, „vor fast zwei Jahren [. . .] war das Wort vom ,Kalten Krieg der Klassenzimmer‘ noch neu. Heute ist es bereits stark abgegriffen“; vgl. Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 3. Wahlperiode, 23. Sitzung am 18.4.1958, S. 1224. 7 Solche Aussagen hatten schon früher dazu gedient, wissenschaftspolitisches Handeln zu untermauern: Die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war ebenfalls u. a. mit der Sorge begründet worden, Deutschland drohe gegenüber anderen Wissenschaftsnationen an Bedeutung zu verlieren. 8 Vgl. Fritz Schäffer: Das Märchen vom Juliusturm, in Die Zeit vom 19.1.1956.
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Wahlgeschenke verteilte.9 Selbstverständlich versuchten auch die Wissenschaft und ihr nahestehende Kreise, ein Stück besagten Kuchens zu erhalten. Vor dem Hintergrund dieser drei Faktoren lässt sich die gut anderthalbjährige Gründungsgeschichte des Wissenschaftsrates von Anfang 1956 bis Ende 1957 in drei Phasen aufteilen, in denen jeweils unterschiedliche Akteure die Initiative übernahmen: die SPD, die Vertreter der Wissenschaftsorganisationen unter Führung von DFG und Westdeutscher Rektorenkonferenz (WRK) sowie die – unionsgeführte – Bundesregierung. Die von der SPD dominierte Phase begann im März 1956, als der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion10 im Bayerischen Landtag, Waldemar von Knoeringen,11 die Initiative des VDI aufgriff und die Konturen einer Bund-Länder-Verständigung skizzierte, die den Ingenieurmangel beheben und die Kulturhoheit wahren sollte. Ebenfalls von Bayern aus wurden alsbald organisatorische Fragen angeschnitten, wobei nun auch die DFG ins Spiel kam. Ihr Generalsekretär Kurt Zierold schrieb später, im Mai 1956 hätten er, von Knoeringen und die freidemokratische bayerische Landtagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher beschlossen, „den Plan eines ,Zentralrats der Wissenschaft‘, wie wir den späteren Wissenschaftsrat damals nannten, zu starten“.12 In Wirklichkeit hatte das Umfeld von Knoeringens, der vielversprechende Nachwuchspolitiker nach Art eines Think-Tanks um sich scharte, entsprechende Überlegungen bereits zuvor ausgetüftelt. Gleichwohl mündeten diese Überlegungen in den berühmten Artikel „Ein langfristiger Plan für die Wissenschaft“, den der DFG-Vorsitzende Gerhard Hess am 5. Juli 1956 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte und mit dem die zweite Phase der Wissenschaftsrats-Gründung begann, in der nun die Wissenschaftsorganisationen die Initiative übernehmen sollten. Hess konstatierte in seinem Aufsatz, die Notwendigkeit einer verstärkten Wissenschaftsförderung sei zwar erkannt. Es fehle aber „eine klare Vorstellung vom Gegebenen und eine 9 Vgl. Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949– 1957, Stuttgart 1981, S. 325. 10 Damals Regierungsfraktion – unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner amtierte eine Viererkoalition aus SPD, FDP, Bayernpartei und GB/ BHE; vgl. Bernhard Taubenberger: Licht übers Land. Die bayerische Viererkoalition 1954–1957, München 2002. 11 Zu von Knoeringen vgl. Helga Grebing/Dietmar Süß (Hrsg.): Waldemar von Knoeringen 1906–1971. Ein Erneuerer der deutschen Sozialdemokratie. Reden, Aufsätze, Briefwechsel und Kommentare zu Leben und Wirken, 2 Bde., Berlin 2006 sowie Taubenberger: Licht übers Land (Anm. 10). 12 Kurt Zierold: Forschungsförderung in drei Epochen. Deutsche Forschungsgemeinschaft: Geschichte – Arbeitsweise – Kommentar, Wiesbaden 1968, S. 535 f.; Gerhard Hess datierte dieses Gespräch, an dem er selbst nicht teilnahm, auf den 8. Mai, vgl. Gerhard Hess: Zur Vorgeschichte des Wissenschaftsrates, in: Wissenschaftsrat 1957– 1967, hrsg. v. Wissenschaftsrat, o. O. 1968, S. 6.
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fundierte Übersicht des in den nächsten Jahren Erforderlichen“,13 außerdem existiere eine „Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Förderungsquellen, das „Schlagwort der Stunde“ heiße daher „Koordinierung“. Nach einigen, zeitgenössisch sehr geläufigen Vergleichen der bundesrepublikanischen Wissenschaftsförderung mit den entsprechenden Programmen der USA, der UdSSR und Großbritanniens samt allfälliger Rückständigkeitstopoi forderte Hess eine „umfassende Hilfsaktion für die wissenschaftlichen Institute“ ein, die „nicht planlos“ sein dürfe.14 Für das Erstellen eines solchen Plans möge man nicht auf politische Entscheidungen über Kompetenzen und Zuständigkeiten warten und dürfe sich nicht in einem „Chaos von Rivalitäten“15 verlieren, sondern solle einen „Zentralrat“ für die Wissenschaft schaffen, in dem „Bund, Länder und Wissenschaft“ vertreten sein müssten. Ob darüber hinaus auch „Wirtschaft und Parlamente Delegierte entsenden, wäre zu prüfen“. Dieser Zentralrat hätte zwei Aufgaben: zunächst „die Aufstellung eines Plans für den Ausbau der Hochschulen, der Institute der reinen Forschung, die in der Max-Planck-Gesellschaft zusammengefaßt sind, sowie der höheren Fachschulen. Gegenstand des Plans wären Bauten, Sachfonds, Planstellen für den Lehrkörper, Mittel für wissenschaftliche und technische Mitarbeiter, Stipendien für die Studenten“. Die zweite Aufgabe wäre „die Aufstellung eines Finanzplans für diesen Bedarf“.16 Damit hatte Hess bereits in groben Zügen skizziert, was später der Auftrag des Wissenschaftsrates werden sollte. Ein solches Ergebnis stand jedoch mitnichten von vornherein fest, denn obwohl sich alle Akteure von der Sache her darin einig waren, Geld für die Wissenschaftsförderung aufzuwenden, lag die konkrete Realisierung vor allem in organisatorischer Hinsicht noch in weiter Ferne. In der zweiten Jahreshälfte 1956 trommelten Hess und sein Kollege Helmut Coing, Präsident der WRK, unablässig für die Idee des Zentralrates, sowohl publizistisch als auch in zahlreichen Hintergrundgesprächen. Ihr größter Erfolg bestand darin, Bundespräsident Theodor Heuss für ihre Sache zu gewinnen: Dieser schrieb am 23. Oktober 1956 zwei gleichlautende Briefe an Bundeskanzler Adenauer und an den Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), den hessischen Regierungschef Georg August Zinn. Darin warb Heuss für die Einrichtung eines Zentralrates und erklärte sich bereit, gegebenenfalls dessen Mitglieder auf der Basis von Vorschlagslisten zu berufen. Die Wirkungsmacht dieser Idee lag neben der persönlichen Autorität Heuss’ vor allem darin, dass eine solche Verfahrensweise geeignet war, ein gewisses Maß an Konfliktpotential aus den Bund-Länder-Zuständigkeitsfragen herauszunehmen.17 Er 13 Der Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist dokumentiert in: Gerhard Hess: Gesellschaft – Literatur – Wissenschaft. Gesammelte Schriften 1938–1966, München 1967, S. 217. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 218. 16 Ebd. 17 Vgl. Heuss an Zinn, 23.10.1956, in: BArch B122/306; Heuss an Adenauer, 23.10. 1956, in: BArch B136/2029.
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ließ sich bewusst vor den Karren der Wissenschaftsseite spannen, wie er privat auch notierte: „Gestern Sonntag abend [. . .] verfaßte ich ein großes ,Memorandum‘ für Adenauer – er wird schön gucken – über Konzentrationsmöglichkeiten in der Wissenschaftsförderung – man hat davon mehr geredet als dafür getan. Die Sache mit einigen Gelehrten vorher besprochen, für die ich nun eben [. . .] so etwas wie die Standarte wurde. Manchmal mühsam zu tragen, die Standarte nämlich.“18
Ab Januar 1957 griff die Bundesregierung aktiv in das Geschehen ein und übernahm auch schnell die Regie, so dass nun von der dritten Phase des Gründungsprozesses gesprochen werden kann, die – eingedenk des Themenschwerpunktes „1957“ im vorliegenden Buch – ausführlich behandelt wird. Innerhalb der Bundesregierung federführend war nicht das Atomministerium, das bereits Erfahrung in der nationalen Koordinierung wissenschaftlicher Großprojekte besaß, sondern das Bundesinnenministerium unter dem energischen und erfahrenen Minister Gerhard Schröder, das nach wie vor über die maßgebliche Kulturabteilung verfügte. Der amtierende Atomminister, Siegfried Balke, versuchte zwar im Januar und Februar 1957, auf den Kurs der Bundesregierung Einfluss zu nehmen, wurde aber in der Sitzung des Bundeskabinetts vom 15. Februar 1957 von Adenauer unmissverständlich durch den Hinweis in die Schranken gewiesen, „daß alle kulturellen Aufgaben organisatorisch beim Bundesministerium des Innern“ zusammenzufassen seien.19 Dass der Bund sich überhaupt zu positionieren begann, hatte nicht zuletzt parteipolitische Hintergründe: Der Vorsitzende der hessischen CDU-Landtagsfraktion schrieb am 16. Januar 1957 an Adenauer, „kulturpolitische Aktionen großen Stils der SPD“ machten es notwendig, „von höchster Stelle der CDU in aller Kürze eine Erklärung über Hilfsmaßnahmen des Bundes zur Förderung von Wissenschaft und Forschung“20 abzugeben. Im gleichen Sinne wandte sich der CDUBundesgeschäftsführer an Kanzleramtschef Globke. Augenscheinlich begannen die wissenschaftspolitischen Initiativen der SPD Wirkung zu zeigen, zumal in diesem Jahr die Bundestagswahl anstand. Der Ministerialdirektor im Bundesinnenministerium und Leiter der Kulturabteilung, Paul Egon Hübinger, äußerte Mitte Januar 1957 gegenüber der Kultusministerkonferenz (KMK), „nach anfänglicher Zurückhaltung befürworte man nun im Bundesministerium des Innern den von Prof. Hess vorgetragenen Vorschlag.“21 Ein erstes öffentliches Schlaglicht platzierte Innenminister Gerhard Schröder im Rahmen einer Ansprache zur Ver18 Theodor Heuss: Tagebuchbriefe 1955/1963. Eine Auswahl aus Briefen an Toni Stolper, Stuttgart 1970, Brief vom 22.10.1956, S. 203 f. 19 171. Kabinettssitzung am 15.2.1957, TOP 9, in: Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 10: 1957, München 2000, S. 153. 20 Schreiben in: BArch B136/6046. 21 Protokoll der 57. Sitzung der KMK vom 17./18.1.1957 in Bonn, in: Archiv der Kultusministerkonferenz.
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leihung des Bundesverdienstkreuzes an den Ärztetagspräsidenten am 19. Januar 1957, die wenige Tage später im Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht wurde und damit jenseits des konkreten Anlasses einen offiziösen Charakter erhielt.22 Schröder forderte, „die Anstrengungen bei der Wissenschaftsförderung auf allen Seiten nachhaltig zu erhöhen“, und sah den Zeitpunkt gekommen, „der gemeinsames Vorgehen von Bund und Ländern erheischt, um miteinander die Förderung zu verstärken, sie systematischer zu gestalten und aufeinander abzustimmen.“ Dafür, so Schröder, „sollten sich Bund und Länder der Hilfe eines von ihnen gemeinsam zu berufenden Organs, eines deutschen Wissenschaftsrates, bedienen“23 – hier tauchte der später gewählte Name erstmals auf. Genauere Ausführungen darüber, wie sich Schröder ein solches Gremium organisatorisch vorstellte, formulierte er am 29. Januar 1957 in einem Schreiben an den Bundeskanzler. Er schlug vor, „seitens der Bundesregierung [. . .] sogleich den Anstoß zu einer Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern über die Bildung eines ,Deutschen Wissenschaftsrates‘ zu geben“. Schröder plädierte für eine starke Rolle der Wissenschaftsvertreter und begründete dies dahingehend, dass es der Bund als seine vordringliche Aufgabe betrachten solle, „gegenüber der von den Ländern vermutlich zu erwartenden Tendenz, ausschließlich oder überwiegend durch staatliche Organe über die Verwendung der Mittel für die Wissenschaft beschließen zu lassen, die Freiheit der Wissenschaft von jeder Art und Gefahr des Dirigismus durch eine entsprechende Konstruktion des Deutschen Wissenschaftsrates sicherzustellen.“24
Tatsächlich hatte die KMK Mitte Januar 1957 beschlossen, ein rein staatliches Gremium für die Verteilung der Bundesmittel mit einer separaten, ausschließlich beratenden Wissenschaftlerkammer einsetzen zu wollen. Die MPK folgte Ende Februar diesem Ansinnen, was wiederum der Wissenschaftsseite überhaupt nicht zupass kam, die ein einheitliches Organ mit einer zentralen Rolle für sich selbst verfocht.25 Alles würde also von dem endgültigen Kurs der Bundesregierung abhängen. Deren zugrundeliegenden Erwägungen gehen aus einem weiteren umfänglichen Schreiben Schröders an Adenauer hervor, das der Innenminister im Vorfeld eines nunmehr anberaumten Bund-Länder-Spitzentreffens am 21. März verfasste.26 Darin wies er insbesondere „auf einen Gesichtspunkt politisch-taktischer Art“ hin, dass nämlich der Wissenschaftsrat auf dem Wege eines Förderprogramms Probleme lösen solle, „die heute im Brennpunkt der politischen Aus-
22 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 14/ 1957, 22. Januar, S. 124. 23 Ebd. 24 Abschrift des Briefes in: BArch B122/306. 25 Vgl. die Protokolle der 57. und 58. Sitzung der KMK in Bonn und Saarbrücken, 17./18.1. 1957 bzw. 7./8.3.1957, in: Archiv der Kultusministerkonferenz, sowie das Protokoll der 24. Sitzung des DFG-Senats vom 22.2.1957, in: BArch B227/162891. 26 Abschrift des Briefes in: BArch B122/306.
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einandersetzung“ stünden. Darin, so Schröder, habe die Bundesregierung „angesichts der unerfüllbaren, aber lautstark verfochtenen Milliardenforderungen der Opposition im Bewußtsein der Öffentlichkeit eine schwache Stellung eingenommen“, doch nun bestehe die Chance auf einen grundlegenden Wandel. Denn die Bundesregierung werde „die gesamte Wissenschaft und – nach den bisher vorliegenden Pressestimmen – auch die öffentliche Meinung auf ihrer Seite haben, wenn sie gegenüber den Ländern und deren Wortführern, den Ministerpräsidenten Hoegner und Zinn [beide SPD, O. B.], auf angemessener Berücksichtigung der Wissenschaft in dem zu bildenden Gremium besteht und diese Stellungnahme zu Gunsten der Wissenschaftler mit Nachdruck verficht.“
Das hehre Argument, die Sache der Wissenschaftler zu unterstützen, fand somit seine materielle Basis in einer parteipolitischen Unterfütterung. Auch föderal-fiskaltaktisch sah Schröder den Bund in einer guten Position: Die Länder müssten an einer schnellen Lösung allein schon deshalb interessiert sein, „weil der Wissenschaftsrat ihnen den Zugang zu wesentlichen Subsidien von Seiten des Bundes öffnen soll“. In diesem Sinne stimmte die Bundesregierung in einer Besprechung der Staatssekretäre aller Ressorts, „die an der Bildung eines Deutschen Wissenschaftsrates interessiert sind“, ihr Vorgehen ab. Die starke Position des Bundes wurde auch von den Ländern wahrgenommen. Kurz vor dem Spitzentreffen stellte der Generalsekretär der KMK, Kurt Frey, einige selbstkritische Überlegungen in einem internen Schriftstück an: Man habe es „nicht vermocht, rechtzeitig klare kulturpolitische Linien und entsprechende finanzielle Notwendigkeiten deutlich zu machen“, weswegen „der Ruf nach einem Gremium unabhängiger Persönlichkeiten“27 durchaus berechtigt sei. Insofern müsse man wohl die Pläne von KMK und MPK revidieren, als darin die Wissenschaftler „nur so als eine Art Anhängsel“ erschienen, so dass „die scharfe öffentliche Reaktion bis zu einem gewissen Grad verständlich“ sei. Im Prinzip gestand der KMK-Generalsekretär nicht weniger als das Scheitern der bisherigen Strategie seiner Dienstherren ein, um dann einige Vorschläge zur weiteren Vorgehensweise zu machen. Vor allem plädierte Frey dafür, das Konzept zweier Kommissionen beizubehalten und als Argument anzuführen, dass nur so alle elf Bundesländer mit Sitz und Stimme 27 Positionspapier von Kurt Frey mit dem Titel „Einige Bemerkungen zur Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auf kulturellem Gebiet“ vom 14.3.1957, in: BArch B122/306. Schon drei Jahre später beurteilte Frey die Situation deutlich anders: Die Aufgaben des Wissenschaftsrates hätten „zu einem großen Teil zweifellos auch vom Hochschulausschuß der Kultusministerkonferenz, d.h. also von den Kultusverwaltungen gemeinsam mit den Bundesbehörden [. . .] erfüllt und auch bewältigt werden können. Durch den Wissenschaftsrat beginnt nunmehr aber eine nicht unerhebliche Verschiebung der Gewichte zwischen Staat und den eigentlich empfangenden Gruppen einzutreten, die weit über das zulässige Maß der Beratungsfunktion, die der Wissenschaft zukäme, hinausgeht“ (Kurt Frey: Zur personellen Ausstattung der Kultusverwaltungen im Hinblick auf die Koordinierungsaufgaben [1960], in: ders.: Konstruktiver Föderalismus. Gesammelte kulturpolitische Beiträge 1948–1975. Weinheim 1976, S.140 f.).
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vertreten sein könnten (ein Ein-Kammer-Gremium, wie von Hess und anderen stets propagiert, ermögliche dies nicht), was für die spätere Verbindlichkeit der Beschlüsse von entscheidender Bedeutung sein werde. Da somit jedes einzelne Land an der Beschlussfassung mitwirke, ließen sich nicht „nur Vorschläge“, sondern Pläne mit dem „Gewicht von Regierungsvorlagen“ erarbeiten, so dass eine „ausdrückliche Unterwerfung von Bund und Ländern unter den Rat der Wissenschaft“ erzielt werden könne. Angesichts dieser Ausgangslage konnte auf dem Spitzentreffen von Kanzler und Ministerpräsidenten am 21. März die Übereinkunft erzielt werden, ein BundLänder-Verwaltungsabkommen zwecks Schaffung eines Wissenschaftsrates anzustreben. Der niedersächsische Kultusminister Langeheine deutete zudem die Bereitschaft der Länder an, sich bezüglich der organisatorischen Ausgestaltung in Richtung der Position des Bundesinnenministeriums zu bewegen. Für die weitere Arbeit wurde eine sechsköpfige Arbeitsgruppe eingesetzt.28 Diese Runde beriet in den folgenden Monaten intensiv über die Paragraphen des Verwaltungsabkommens. Die Verhandlungen, die am 6. Mai 1957 begannen, wurden vielfach als „recht schwierig“29 und mit „großen Mühen“30 verbunden bezeichnet. Dennoch gelang es bis Mitte Juni, eine erste Einigung zu erzielen. Der Streitpunkt zwischen einem Ein-Kammer-System unter Beteiligung von Wissenschaftlern (dem Vorschlag des Bundes) und einem Zwei-Kammer-System mit einem beratenden Wissenschaftler- und einem entscheidenden Bund-Länder-Gremium (dem Ländermodell) wurde sozusagen additiv gelöst: Der erste Entwurf der Arbeitsgruppe sah beide Kammern wie im Vorschlag der Länder vor, die hier aber jeweils nur vorbereitende Aufgaben hatten und sich in einer Vollversammlung vereinigten, die die Entscheidungen als einheitliche Kammer traf.31 Als Mitglieder der nunmehr so genannten „Verwaltungskommission“ waren deren elf für die Länder und somit für jedes Land eines vorgesehen, der Bund stellte sechs Vertreter, die jedoch 11 Stimmen führen und so eine Parität zur Länderseite herstellen sollten. Die „Wissenschaftliche Kommission“ bestand zum einen aus 16 von den Spitzenorganisationen der Wissenschaft – DFG, Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und WRK – gemeinschaftlich nominierten Mitgliedern, die vom Bundespräsidenten 28 Positionspapier Frey, 14.3.1957, in: BArch B122/306; über dieses Ergebnis informierte auch das Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 57/1957, 23. März, S. 486. 29 So z. B. in einem Schreiben des Innenministeriums an das Bundespräsidialamt vom 30.4.1957, in: BArch B122/306; desgleichen in einer Ressortbesprechung im Bundesinnenministerium am 1.7.1957; vgl. das Protokoll in: BArch B136/6048. 30 So der Staatssekretär des Innenministeriums, Georg Anders, auf einer Sitzung des Wirtschaftskabinetts, vgl. 71. Sitzung des Kabinettsausschusses für Wirtschaft am 23.7.1957, TOP 3, in: Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Kabinettsausschuß für Wirtschaft, Bd. 3: 1956–1957, München 2001, S. 403. 31 Vgl. den Entwurf des Verwaltungsabkommens vom 15.6.1957, in: BArch B136/ 6048.
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zu ernennen seien, der auch, zum anderen, weitere sechs der Wissenschaft nahestehende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens berufen sollte, welche auf gemeinsamen Vorschlag von Bund und Ländern auszuwählen waren. Damit erhielt der Wissenschaftsrat 17 plus 22 gleich 39 Mitglieder mit insgesamt 44 Stimmen; da Entscheidungen einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedurften, genügte eine Koalition aus zwei der vier Gruppierungen nicht, um eine Kampfabstimmung zu gewinnen. Damit ging man im Entwurf auf bestehende Sorgen ein, dass womöglich die Länder durch eine Union von Wissenschaftlern und Bund dominiert werden könnten.32 Dem Wissenschaftsrat wurden als Aufgaben zugewiesen: „1. Die Pläne zur Förderung der Wissenschaft, die Bund und Länder im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aufstellen, aufeinander abzustimmen und unter Berücksichtigung dieser Pläne einen Gesamtplan zu erarbeiten. Hierbei sind die Schwerpunkte und Dringlichkeitsstufen zu bezeichnen; jährlich ein Dringlichkeitsprogramm aufzustellen; Empfehlungen für die Verwendung derjenigen Mittel zu geben, die in den Haushaltsplänen des Bundes und der Länder für die Förderung der Wissenschaft verfügbar sind.“33
Weiter hieß es, Bund und Länder würden „die Vorschläge des Wissenschaftsrats bei der Aufstellung ihrer Haushaltspläne berücksichtigen“, und eine Geschäftsstelle solle „bei einem Land der Bundesrepublik“ eingerichtet werden.34 Dieser Entwurf lag bereits sehr nahe am letztendlich verabschiedeten Abkommen – aber das war immer noch alles andere als selbstverständlich. Erstens liefen die aus den konkreten Verhandlungen weitgehend ausgegrenzten Wissenschaftler Sturm. So bezeichnete Hess viele Passagen des Entwurfes als „einfach unannehmbar“35, insbesondere dass die Vertreter des öffentlichen Lebens von den Regierungen ausgewählt werden sollten. Ähnlich äußerte sich der Stifterverband, der bereits zuvor Position im Sinne der Wissenschaftsorganisationen bezogen hatte.36
32 Vgl. einen entsprechenden Hinweis in einem internen Vermerk des Bundeskanzleramtes vom 12.7.1957, in: BArch B136/6048. Die Regelung der Zwei-Drittel-Mehrheit wurde dort als „unschön, aber nicht von entscheidender Bedeutung“ bezeichnet. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Hess an Coing, 21.6.1957, zit. nach: Stamm: Staat und Selbstverwaltung (Anm. 5), S. 215. 36 Vgl. ebd.; auf der Jahresversammlung des Stifterverbandes am 25.4.1957 hatte dessen Generaldirektor Dr. Ernst Hellmut Vits einige sehr präzise Forderungen zur Ausgestaltung des Wissenschaftsrates gestellt, die sich im Wesentlichen mit denen der Wissenschaftler deckten, vgl. Vits’ Rede, abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 79/1957, 27. April, S. 688. Vgl. auch Schulze: Der Stifterverband (Anm. 6), S. 226–231.
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Zweitens stand die Frage der Wissenschaftsförderung – erstmals – auf der Tagesordnung der Sitzung des Bundeskabinetts vom 16. Juli, und Bundeskanzler Adenauer äußerte heftige Kritik am Verhandlungsstand. Das Verwaltungsabkommen „binde einseitig den Bund und bedeute einen Verzicht des Bundes auf seine Zuständigkeit nach Art. 74 Nr. 13 GG“.37 Zudem würden die Länder wieder einmal ihre verfassungsmäßigen Pflichten nicht erfüllen, nunmehr solle der Bund einspringen. „Ferner sei es eine Unmöglichkeit“, die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates bei einem Bundesland einzurichten. Adenauers Tirade gipfelte in der Aussage, dass das Abkommen „in seiner ganzen Anlage falsch“ sei.38 Mehrere Minister wandten sich daraufhin gegen eine sofortige Beschlussfassung im Kabinett und mahnten verschiedene Änderungen an. Der Innenminister warb dagegen mit dem Argument, „ein sofortiger Abschluß des Abkommens werde das politisch umstrittene Gebiet der Förderung von Wissenschaft und Forschung vor den Wahlen neutralisieren“39 – auf die anstehenden Bundestagswahlen vom 15. September 1957 und das Bild der Bundesregierung in der Öffentlichkeit hatte sich zuvor schon Adenauer bezogen. Der Konflikt wurde auf dieser Kabinettssitzung nicht abschließend geklärt; man verständigte sich darauf, zunächst den Kabinettsausschuss Wirtschaft am 23. Juli mit der Frage zu betrauen und danach die Angelegenheit erneut zu behandeln. Davor stand jedoch für den 18. Juli 1957 die letzte anberaumte Sitzung des Bund-Länder-Sechserausschusses an, zu der erstmals, auf Anregung des Kanzleramtes,40 auch Wissenschaftsvertreter hinzugezogen wurden.41 Dort wurden vor allem einige Modifikationen formell gebilligt,42 die auf einer Ressortbesprechung des Bundes am 1. Juli angeregt worden waren: So sollten in der Aufgabenstellung das Anfertigen eines Gesamtplanes vor die Koordinierung etwaiger Einzelpläne rücken und die Vorschläge des Wissenschaftsrates nunmehr „im Rahmen der haushaltsmäßigen Möglichkeiten“ berücksichtigt werden. Einem Adenauer’schen Kritikpunkt kam man entgegen, indem die Geschäftsstelle „im Einvernehmen zwischen Bund und Ländern“ errichtet werden sollte. Die Wissenschaftsvertreter erreichten zwar keinen kodifizierten Einfluss auf die Nominie-
37 189. Kabinettssitzung am 16. Juli 1957, TOP 5, in: Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 10: 1957 (Anm. 19), S. 329. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 330. 40 Vgl. einen entsprechenden Vorschlag in einem Schreiben des Kanzleramtes an Zinn vom 2.7.1957, in: BArch B136/6048. 41 Es handelte sich um Hess für die DFG, Coing für die WRK sowie den Vizepräsidenten und ein Vorstandsmitglied der MPG; vgl. das Protokoll dieses Treffens, in: BArch B136/6048. 42 Die Länder waren bereits vorab über die Änderungswünsche informiert worden, und Zinn als Vorsitzender der MPK hatte am 11. Juli in einem Schreiben an den Kanzler sein Einverständnis erklärt; vgl. BArch B136/6048.
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rung der Vertreter des öffentlichen Lebens, jedoch erklärten alle Beteiligten, diese Personen „in gegenseitiger Fühlungnahme“ auswählen zu wollen.43 Wenig später, am 23. Juli 1957, billigte der Kabinettsausschuss Wirtschaft des Bundes das Verhandlungsergebnis. Bei einiger Detailkritik setzte sich das Bundesinnenministerium mit der Position durch, man „müsse den größten Wert darauf legen, an der jetzt vorliegenden mit großen Mühen erreichten Formulierung des Abkommens nichts mehr zu ändern“.44 Aus dem Bundeskabinett, das am 20. August darüber sprach, kamen keine substantiellen Einwände mehr, und das Abkommen wurde durchgewunken.45 Hatten sich in diesen Verhandlungen tatsächlich „die Länder überwiegend durchgesetzt“ und waren die Wissenschaftler wirklich „unzufrieden“?46 Die laut Abkommen einzig entscheidende Instanz des neuen Gremiums, die Vollversammlung, war eindeutig ein einheitliches Gremium mit starker Repräsentanz der Wissenschaftler und lag in seiner Struktur damit erheblich näher an deren eigenen Vorstellungen wie auch an denjenigen des Bundes. Die zwei vorgelagerten, getrennten Kommissionen waren klar als lediglich vorbereitende definiert, und insofern kann keine Rede davon sein, dass ein „Zwei-Kammer-System im wesentlichen ebenfalls verwirklicht“47 worden wäre. Dass sich in der Praxis alsbald eine weitgehende Prärogative der Wissenschaftlichen Kommission entwickeln sollte, war in der Konstruktion der Gremien nicht angelegt, und dass die Sitzungen der Vollversammlung „nicht allzu häufig“48 stattgefunden hätten, entspricht nicht den Tatsachen. Hinsichtlich der Entscheidungsstruktur ist zudem zu bemerken, dass die elf Stimmen des Bundes de facto stets geschlossen abgegeben werden mussten, da sie von lediglich sechs Vertretern zu führen waren,49 während es als wahrscheinlich anzusehen war, dass die elf Länder keineswegs immer einheitlich votieren würden. Demgegenüber bedeutete die Einrichtung des Wissenschaftsrates einen großen Erfolg insbesondere für Hess, dessen Zentralratsvorschlag in weiten Teilen Realität wurde. Die Wissenschaftsorganisationen erhielten eine über das Bestehende weit hinausgehende Rolle bei der Gestaltung der Wissenschaftslandschaft und konnten sich nun anschicken, „einen Teil der im Juliusturm des Bun43
Vgl. das Protokoll dieses Treffens, in: BArch B136/6048. 71. Sitzung des Kabinettsausschusses für Wirtschaft am 23.7.1957, TOP 3, in: Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Kabinettsausschuß für Wirtschaft, Bd. 3: 1956– 1957 (Anm. 30), S. 401–403. 45 Vgl. 193. Kabinettssitzung am 20.8.1957, TOP 6a, in: Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 10: 1957 (Anm. 19), S. 363 f. 46 Stamm: Staat und Selbstverwaltung (Anm. 5), S. 214. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 In der später verabschiedeten Geschäftsordnung des Wissenschaftsrates wurde die einheitliche Stimmabgabe des Bundes überdies formell festgeschrieben. 44
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desfinanzministeriums gehorteten Milliarden der Wissenschaft, vornehmlich den Hochschulen zuzuführen“,50 was Hess zehn Jahre später offenherzig als den ihn seinerzeit „beherrschende[n] Gedanke[n]“ bezeichnete.51 Der Bund, lange in einer passiven Position, konnte ebenfalls seine Anliegen im Wesentlichen durchsetzen, war er es doch, der die Wissenschaftler in einem solch herausragenden Maße einzubinden trachtete; außerdem würde er als Geldgeber stets einen hervorragenden Einfluss jenseits formaler Bestimmungen ausüben können. Der Erfolg der Länder bestand vor allem in jenem Punkt, den die MPK bereits 1954 ausgesprochen hatte: Wenn der Bund schon über umfangreiche Mittel verfügte und seine Dotationen nicht grundsätzlich zu verhindern waren, wollte man wenigstens über deren Verwendung mitbestimmen – dies wurde erreicht. Die Unterzeichnung des Verwaltungsabkommens war nun nur noch eine Formalität und fand am 5. September 1957 im Haus des Bundeskanzlers statt.52 Nicht näher sei an dieser Stelle auf die Konstituierung und die personelle Besetzung des neuen Gremiums eingegangen. Festgehalten sei lediglich, dass für die Wissenschaftliche Kommission zahlreiche hochrangige Vertreter aus Wissenschaft und Gesellschaft, namentlich der Wirtschaft, gewonnen werden konnten: Die erste Mitgliederliste enthielt mehrere amtierende und ehemalige Vorsitzende von DFG und WRK, die MPG hatte aus ihren Reihen einen Nobelpreisträger nominiert, und einige Vorstands- bzw. Aufsichtsratsvorsitzende aus namhaften deutschen Aktiengesellschaften waren ebenfalls vertreten.53 II. Die „Blaue Bibel“ 1960: Restauration statt Wendepunkt Aus dem bisher Gesagten dürfte mehr als deutlich geworden sein, dass der Gründungsprozess des Wissenschaftsrates eine übliche politische Aushandlungsprozedur darstellte und für sich genommen nicht als Beleg eines Zäsurcharakters des Jahres 1957 zu dienen vermag. Jetzt sei diskutiert, ob seine frühen Aktivitäten eine wissenschaftspolitische Zeitenwende zu begründen in der Lage waren. Die bloße Verteilung der Gelder aus dem Juliusturm genügt hierfür gewiss nicht, zumal es sich von der Natur der Sache her um eine temporäre Aktion handelte. Will man möglichst nah am Jahr 1957 bleiben, ist die erste große Veröffentlichung des Wissenschaftsrates einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Dabei handelte es sich um die 1960 herausgegebenen „Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil I: Die Hochschulen“, die ein Expansionsprogramm erheblichen Ausmaßes vorschlugen, das in der hochschulpolitischen 50
Hess: Vorgeschichte (Anm. 12), S. 7 f. Ebd. 52 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 165/1957, 6. September, dort die Ansprachen Adenauers (S. 1537 f.) und Zinns (S. 1539 f.). 53 Vgl. Bartz: Der Wissenschaftsrat (Anm. 3), S. 36–49. 51
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Öffentlichkeit auf einhellige Zustimmung stieß, den Ruhm des Wissenschaftsrates begründete und binnen weniger Jahre so detailgetreu umgesetzt wurde, dass diese Schrift – aufgrund der Farbe ihres Einbandes – rasch als „blaue Bibel“ bekannt wurde.54 Ihr Erfolg beruhte jedoch darauf, dass darin gerade eben kein Reformprogramm vorgeschlagen wurde, sondern der Wissenschaftsrat die klassische deutsche Ordinarienuniversität, für deren geistige Grundlegung der Autor den Begriff des „Humboldtianismus“55 vorgeschlagen hat, bestärkte: Insbesondere sollte der Lehrstuhl weiterhin die Basiseinheit und Keimzelle der wissenschaftlichen Hochschule bleiben. Daher empfahl der Wissenschaftsrat, die Zahl der Ordinariate um 1.200 beziehungsweise um 40 Prozent zu erhöhen,56 dabei aber wo immer möglich das traditionelle Organisationskonzept beizubehalten, nach welchem jeder Lehrstuhlinhaber seinem eigenen Institut vorstand, ohne diese Position mit einem Kollegen teilen zu müssen. Zwar würde sich vielerorts die Einrichtung von „Parallel-Professuren“ – damit waren zwei oder mehr Lehrstuhlinhaber gemeint, die dasselbe Fach in Forschung und Lehre an derselben Universität vertraten – nicht vermeiden lassen, aber im Idealfall wollte der Wissenschaftsrat dennoch jeden dieser Hochschullehrer mit einem jeweils separaten Institut versorgen und empfahl daher „Parallel-Institute“.57 Die kleinteilige Organisationsstruktur der deutschen Universität wurde somit nicht in Frage gestellt, und der vorgeschlagene quantitative Ausbau sollte keinesfalls in eine neue Qualität umschlagen, sondern lediglich den Erfordernissen der Forschung und der allmählich gestiegenen Bildungsnachfrage Genüge tun. Der Wissenschaftsrat argumentierte, die Zahl der Studenten sei seit Ende der 1920er Jahre von 111.500 auf aktuell 200.000 gestiegen und prognostizierte, sie werde bis zum Ende der 1960er Jahre auf ungefähr 250.000 anwachsen und dann ein stabiles Niveau erreichen. Die gewaltige Bildungsexpansion, durch die 1970 bereits 310.000 Studierende allein an den Universitäten eingeschrieben waren (bis 1980 verdoppelte sich die Zahl noch einmal), lag 1960 noch jenseits aller Vorstellungskraft. Der Wissenschaftsrat beschwor also – zum ersten und letzten Mal – die traditionellen Verhältnisse, übrigens in fast vollständigem Konsens zwischen Bund, Ländern und den Universitäten selbst.58 Angesichts dieses allgemeinen Einverständnisses nimmt es nicht wunder, dass die Empfehlungen weitgehend umge54
Vgl. ebd., S. 50–69. Vgl. ebd., S. 70–79 sowie Olaf Bartz: Bundesrepublikanische Universitätsleitbilder. Blüte und Zerfall des Humboldtianismus, in: die hochschule. journal für wissenschaft und bildung 14 (2005), Heft 2, S. 99–113. 56 Vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil I: Wissenschaftliche Hochschulen, Tübingen 1960, S. 159. 57 Ebd., S. 72 f. 58 Vgl. Bartz: Der Wissenschaftsrat (Anm. 3), S. 50–69. 55
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setzt und eine große Zahl neuer Lehrstühle eingerichtet wurden. Nicht verwirklicht wurde bezeichnenderweise jener eine Vorschlag des Wissenschaftsrates, der tatsächlich eine Innovation dargestellt hätte: Bestimmte Fächer sollten an einzelnen, dafür bereits ausgewiesenen Standorten besonders gefördert werden. Die Schaffung solcher damals als „Schwerpunkte“ bezeichneter Strukturen – heutzutage würde man von „Profilbildung“ sprechen – widersprach jedoch dem allgemeinen Gleichheitspostulat aller Fächer an allen Orten und scheiterte entsprechend. III. Fazit: 1964 statt 1957 Als Ergebnis lässt sich insgesamt festhalten, dass Gründung und frühe Aktivitäten des Wissenschaftsrates, so bedeutsam sie zweifellos für die bundesdeutsche Wissenschaftspolitik ausfielen, für diese gleichwohl keinen Zäsurcharakter um das Jahr 1957 herum begründen. Dies bestätigt ein kurzer Blick auf andere Akteure in diesem Feld: Sowohl die Geschichte der Fraunhofer-Gesellschaft59 als auch die der DFG60 sowie der Vorläufer des Bundesministeriums für Bildung und Forschung61 liefern keine Hinweise auf einen Wendepunkt gegen Ende der 1950er Jahre. Vor allem aber gilt es festzuhalten, dass nicht einmal das umfangreiche Projekt zur Geschichte der deutschen Großforschungseinrichtungen an diesem Punkt einen Zeitenwechsel verortet hat, obwohl jene Institutionen exakt seit Mitte der 1950er Jahre errichtet wurden. Stattdessen wurde für die staatliche Forschungs- und Technologiepolitik eine „Nachkriegs- und Wiederaufbauperiode der ,langen‘ fünfziger Jahre (1949–1962/64)“62 diagnostiziert. Tatsächlich erfolgte ein epochaler Umbruch in praktisch allen Aspekten der Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftspolitik erst zu diesem Zeitpunkt – in der ersten Hälfte der 1960er Jahre. Will man den Beginn der neuen Ära auf eine Jahreszahl festlegen, so wäre dies 1964. In diesem Jahr erschien Georg Pichts berühmter Artikel über die „Bildungskatastrophe“, der dabei den Boom der hö59 Vgl. Helmuth Trischler/Rüdiger vom Bruch: Forschung für den Markt. Geschichte der Fraunhofer-Gesellschaft, München 1999, S. 79 f. 60 Zumindest soweit es sich aus den bisher bekannten und vorab kommunizierten Ergebnissen des groß angelegten Forschungsprojekts zur Geschichte der DFG ersehen lässt (vgl. Tagungsbericht Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920– 1970. 30.01.2008–31.01.2008, Berlin. In: H-Soz-u-Kult, 08.03.2008, ). 61 Vgl. Peter Weingart/Niels C. Taubert: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, in: dies. (Hrsg.): Das Wissensministerium. Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland, Weilerswist 2006, S. 12. 62 Helmuth Trischler: Die „amerikanische Herausforderung“ in den „langen“ siebziger Jahren. Konzeptionelle Überlegungen, in: Gerhard A. Ritter/Margit Szöllösi-Janze/ Helmuth Trischler (Hrsg.): Antworten auf die amerikanische Herausforderung. Forschung in der Bundesrepublik und der DDR in den „langen“ siebziger Jahren, Frankfurt a. M. 1999, S. 16.
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heren Bildung eher orchestrierte denn einleitete. „Die Politik“ auf allen ihren Ebenen – Parteien, Parlamente, Regierungen, sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene – nahm sich des Bildungsthemas in noch weitaus größerem Ausmaß als 1956/57 an und forcierte zum einen groß angelegte Ausbaumaßnahmen im Schulbereich. Zum anderen geriet das Hochschulwesen auf eine in der noch jungen Geschichte der Bundesrepublik bisher nicht bekannte Weise in das Blickfeld der politischen Akteure: „Man trägt dieses Jahr Hochschulreform“, brachte Franz Josef Strauß im Bundestag das Geschehen auf den Punkt.63 Den Zäsurcharakter begründen dabei die in Schulen und Hochschulen gleichermaßen eingeleiteten Bildungsexpansionsprozesse,64 die aufgrund ihrer Dynamik bisweilen gar – zu Recht – als Element einer „sozialen Revolution“65 beschrieben wurden.
63 Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode, 118. Sitzung vom 4.3.1964, S. 5471. 64 Vgl. zur Expansionsphase Bartz: Der Wissenschaftsrat (Anm.3), S. 80–131; ders.: Expansion und Umbau. Hochschulreformen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1964 und 1977, in: die hochschule. journal für wissenschaft und bildung 16 (2007), Heft 2, S. 154–170. 65 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 363–401.
VI. Statt eines Resümees
Probleme von Bundesregierung und SED-Politbüro im Jahr 1957 Von Werner Müller Die Themenfelder, die die Tagungen der Bundesregierung einerseits und des Politbüros der SED andererseits beherrschten, werfen ein Schlaglicht auf die politischen, wirtschaftlichen, Sicherheits- und auch deutschlandpolitischen Fragen aus der Sicht der Führungen in beiden deutschen Staaten im Jahre 1957. Naturgemäß kann der Blick auf die Agenda des Bundeskabinetts auf der einen und des faktisch höchsten Führungsorgans der DDR auf der anderen Seite keine detaillierte Analyse der Regierungs- und Leitungsarbeit ersetzen. Die Betrachtung der Tagesordnung der im Allgemeinen wöchentlich tagenden Gremien lässt aber die Umrisse jener Probleme hervortreten, vor denen die beiden deutschen Teilstaaten standen. Besonderes Gewicht gilt im Folgenden neben den deutschdeutschen Fragen auch dem Grad der „Normalität“, der seit Kriegsende zu verzeichnen war. I. Die Nachwirkungen des Krieges Die DDR war bekanntlich drei Mal – 1949, 1954 und 1955 – für souverän erklärt worden. Gleichwohl behandelte das Politbüro in einer außerordentlichen Sitzung am 7. März 1957 den Entwurf eines Vertrages über die Stationierung sowjetischer Streitkräfte in der DDR.1 Die SED-Führung hatte gegenüber dem ersten sowjetischen Entwurf zwei größere Änderungen intendiert. Zum ersten wollte sie die Souveränität der DDR deutlicher herausgestellt haben (was dann auch in Artikel 1 des am 12. März unterzeichneten Vertrages geschah), zum zweiten beanspruchte die DDR, über Zahl und Standorte der sowjetischen Truppen mit befinden zu dürfen.2 Eine elementare Frage blieb ungelöst: die nach den Stationierungskosten. Genannt wurde von sowjetischer Seite ein DDR-Anteil von 800 Millionen DDR-Mark, zuzüglich möglicher weiterer Belastungen.3 Die DDR erhielt in der Folge allenfalls „ein begrenztes Mitspracherecht in Fragen militäri1 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO BArch), DY 30/J IV 2/2/531. 2 Im Einzelnen: Silke Satjukow: Besatzer. „Die Russen“ in Deutschland 1945–1994, Göttingen 2008, S. 77 ff. 3 Ebd., S. 78.
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scher Sicherheitspolitik und in Fragen der Stationierungspolitik. [. . .] Die 1945 einmarschierte Armee blieb eine Besatzungsarmee“, bilanzierte Silke Satjukow.4 Äußerlich nicht unähnlich präsentierte sich die Situation in der Bundesrepublik. Mit den Pariser Verträgen, die am 5. Mai 1955 in Kraft traten, war die Bundesrepublik völkerrechtlich souverän und allen anderen NATO-Mitgliedstaaten gegenüber gleichberechtigt. Während jedoch die SED-Herrschaft die sowjetischen Truppen zur Sicherung ihrer eigenen Existenz benötigte, wie es am deutlichsten in den Tagen um den 17. Juni 1953 sichtbar wurde, sah sich die Bundesregierung vor einer unübersehbaren militärischen Bedrohung von außen. Die Anwesenheit westalliierter militärischer Formationen war für sie unverzichtbar, das bedeutete zugleich auch, finanzielle Kompensationen zu akzeptieren. Im Jahre 1956 waren lange und intensive, naturgemäß auch kontroverse Verhandlungen über TruppenStationierungsverträge sowie die damit verbundenen Kosten geführt worden. In der Kabinettssitzung vom 30. Mai 1956 berichtete Bundesaußenminister Heinrich von Brentano über die Verhandlungen mit den westlichen Bündnispartnern, diese seien „recht unerfreulich gewesen“.5 Vor allem seien die deutschen Zahlungsangebote nicht akzeptiert worden. Eine Woche später konnte er allerdings Erfreulicheres berichten: Der US-Botschafter hatte ihm versprochen, „die deutschen Wünsche zu unterstützen“; zugleich hatten die USA ihre finanziellen Vorstellungen deutlich heruntergeschraubt. Für das Haushaltsjahr 1956/57 rechnete die Bundesregierung mit Kosten für die NATO-Steitkräfte in Deutschland in Höhe von rund 1,45 Milliarden DM, davon gingen rund 650 Millionen DM an die USA.6 Hinzu kamen noch weitere größere Summen für den Aufbau und die Bewaffnung der Bundeswehr. Die USA und Großbritannien drängten auf umfangreiche Rüstungseinkäufe in Großbritannien, um die dortige Wirtschaft zu stützen. So kaufte die Bundesrepublik allein im Jahre 1957 für rund 205 Millionen DM ein, dafür vorgesehen waren bis zum Jahr 1960 insgesamt 662 Millionen DM.7 Die Bundesregierung stellte bei diesen Verhandlungen stets heraus, dass die Bundesrepublik bis an die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit gegangen sei; zugleich wurde vorgebracht, dass die Westalliierten nach den Pariser Verträgen keinen Rechtsanspruch mehr auf Zahlung der Stationierungskosten hätten.8 Diese im Grunde kuriose Situation änderte sich schnell, denn mit dem Nordatlantikvertrag hatten sich die Partnerstaaten zu gegenseitiger Unterstützung, auch finanzieller Art, verpflichtet. Das Kabinett verabschiedete in dessen Folge am 12. Juni 1957 ein Gesetz über gegenseitige Hilfeleistungen mit den drei Westalli4
Ebd., S. 83. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung werden im Folgenden nach der Online-Ausgabe des Bundesarchivs zitiert. 136. Kabinettssitzung vom 30.5.1956. 6 137. Kabinettssitzung vom 6.6.1956. 7 5. Kabinettssitzung vom 27.11.1957. 8 137. Kabinettssitzung vom 6.6.1956. 5
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ierten sowie den Niederlanden, Belgien und Dänemark, das für das Haushaltsjahr 1957/58 finanzielle Verpflichtungen in Höhe von 1,2 Milliarden DM nach sich zog. Die Belastung des Bundeshaushaltes sank also. Selbstverständlich äußerte der Bundesfinanzminister Bedenken.9 Mit einem weiteren rechtlichen Akt wurde die Phase der Besatzung abgeschlossen: Am 13. März 1957 verabschiedete das Bundeskabinett einen (dritten) Gesetzentwurf zur Beendigung des Besatzungsrechts.10 Zweifellos waren die finanziellen Belastungen für beide deutsche Staaten beachtlich. Die Bundesrepublik konnte das im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs jedoch relativ leicht bewältigen, während die DDR mühsam um Konsolidierung und Stabilisierung rang. Ferner hatte sie, gemessen an der Größe des Landes und der Einwohnerzahl, über die proportional weit höheren Besatzungskosten hinaus noch die Lasten der eigenen Aufrüstung mit zu tragen. So setzte 1955/56 eine neue Aufrüstungs-Welle in der DDR ein, in der Folge ihres Beitritts zum Warschauer Pakt. Anders als 1952/53 war dieser zweite Anlauf jedoch besser vorbereitet, so dass die sichtbare Belastung für Bevölkerung und Wirtschaft geringer blieb.11 Die Bundesregierung befand sich in den Verhandlungen mit den Westmächten nicht gerade in einer starken Position, verfügte aber über einen Spielraum, während die SED-Führung eher beiläufig von der Sowjetunion über die Höhe der Besatzungskosten informiert wurde. Nicht nur im Bereich der äußeren Sicherheit zeigten sich die Folgen des Krieges weiter. Das Politbüro der DDR stellte offen die Rechte der vier Alliierten in Frage, als es in seiner Sitzung am 6. August 1957 die Vereinbarungen über die Luftkorridore der Westmächte nach West-Berlin kritisierte und erwartete, dass ihr die Hoheitsrechte dafür übertragen würden.12 Das Gremium zeigte sich enttäuscht über die Vereinbarung zwischen der UdSSR und der DDR vom 7. Januar 1957, die den DDR-Wünschen nicht Rechnung getragen hatte. II. Wirtschaft und Lebensverhältnisse Im Januar 1957 räumte das Politbüro in seinem turnusgemäßen Bericht an das Plenum des Zentralkomitees ein, es „gab auf allen Gebieten zahlreiche Beispiele dafür, dass unsere Funktionäre oft an den elementarsten Sorgen der Menschen achtlos vorbeigehen. Einer solchen Erscheinung, dass in komplizierten und 9
185. Kabinettssitzung vom 12.6.1957. 175. Kabinettssitzung vom 13.3.1957 – Probleme hatte dabei die Übernahme von Personal der britischen Besatzungsbehörden in deutsche Stellen bereitet. 11 Torsten Diederich: Aufrüstungsvorbereitung und -finanzierung in der SBZ/DDR in den Jahren 1948 bis 1953 und deren Rückwirkungen au die Wirtschaft, in: Bruno Thoß (Hrsg.): Volksarmee schaffen – ohne Geschrei! Studien zu den Anfängen einer verdeckten Aufrüstung in der SBZ/DDR 1947–1952, München 1994, S. 335 f. 12 Protokoll Nr. 33/57 vom 6.8.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/553. 10
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schwierigen Situationen, trotz der Zustimmung der Mehrheit der Arbeiterklasse und der anderen Werktätigen zur Generallinie der Partei, das Vertrauen immer Schwankungen unterliegt, wird in unserer Arbeit nicht immer Rechnung getragen.“13 Dieser hier nicht zum ersten Mal den Funktionären gegenüber erhobene Vorwurf mündete in einen Aufruf an die Partei, ihre Arbeitsweise zu ändern. Das Politbüro erwog, „dass alle Parteiarbeiter für eine bestimmte Zeit in einen Betrieb oder in ein Dorf entsandt werden, damit sie sich dort mit dem Leben und der Arbeit vertraut machen und den Grundorganisationen an Ort und Stelle helfen, ihre Aufgabe zu lösen“.14 Zugleich setzte das Politbüro eine Kommission ein, die Pläne zur „Verbesserung und Vereinfachung der Arbeit des Parteiapparates“ erarbeiten sollte. Ihr gehörten Walter Ulbricht, Hermann Matern, der Vorsitzende der Zentralen Parteikontrollkommission, Karl Schirdewan, der „zweite Mann“ nach Ulbricht und Leiter der Abteilung „Leitende Organe“ der Partei, sowie die ZKMitglieder Alfred Neumann, Karl Mewis und Alois Pisnik an.15 Nur wenige Wochen später „bestätigte“ das Politbüro eine Vorlage über die „Vereinfachung und Verbesserung der Arbeit des Zentralkomitees“.16 Wie weit her es indes mit der Gewinnung des Vertrauens war, zeigte die im gleichen Bericht angesprochene Bewaffnung von Funktionären. Ungefähr 10.000 Parteimitglieder, ein vom Politbüro festgelegter Kreis, wurden sukzessive mit Pistolen ausgerüstet, beginnend in den Grenzkreisen und den „sonstigen Schwerpunkten“ der Parteiarbeit. „Der festgelegte Personenkreis soll außerdem durch Instrukteure der Volkspolizei am Karabiner und der Maschinenpistole ausgebildet werden. Diese Ausbildung erfolgt unmittelbar nach Ausgabe der Pistolen.“17 Das Politbüro kritisierte zugleich, dass der Beschluss des 29. ZK-Plenums über die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 45 Stunden bislang nur unzureichend umgesetzt worden sei. Die Parteiführung regte an, eine zentrale Kommission einzurichten, an deren Spitze Fritz Selbmann, ZK-Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates, stehen sollte. Sie hatte „eine straffe Leitung zur Durchführung der Kampagne zur Verkürzung der Arbeitszeit zu sichern; in den Schwerpunkten Magdeburg, Leuna, Jena zur Unterstützung der Arbeit der Parteiund Betriebsleitungen Brigaden der zentralen Organe einzusetzen; den Zeitpunkt für die Einführung der 45-Stundenwoche in den vorgesehenen Industriezweigen auf den 1. März 1957 festzulegen.“18
13 Protokoll Nr. 4/57, Außerordentliche Sitzung des Politbüros am 26.1.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524, 9–65, hier 22. 14 Ebd., 30. 15 Ebd., 30 f. 16 Protokoll Nr. 7/57 vom 9.2.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/52 BArch DY 30/J IV 2/2/527. 17 SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524, 59. 18 Ebd., 32.
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Auch wenn sich die wirtschaftliche Lage leicht besserte, blieben Knappheit und Versorgungsmängel dominant. Dem Politbüro lag in seiner Sitzung am 6. August 1957 der mehrseitige Bericht einer Arbeitgruppe vor mit Vorschlägen zur Aufhebung der Rationierung (die tatsächlich erst 1958 wirksam wurde) und zugleich für „Maßnahmen zur Abschöpfung des Kaufkraftüberhangs“19 – die DDR hatte also in den vorausgegangenen Jahren die Geldmenge ohne entsprechendes Produktionswachstum vergrößert. Wie weit sich das Spektrum der Mangelwaren erstreckte, zeigte eine nicht weniger als 19 Seiten umfassende „Liste von Konsumgütern, die nach der Meinung der Genossen des Ministeriums für Handel und Versorgung nicht bezw. nicht ausreichend für die Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung stehen“.20 Die Aufstellung umfasste fast alle Bereiche des gewöhnlichen und auch des gehobenen Bedarfs. Darunter waren Kleidung, Schuhe, Stoffe, ebenso Arbeits- und Berufskleidung und eine breite Palette von Erzeugnissen der Leichtindustrie wie Musikinstrumente, Spielzeug, FreizeitSportartikel, Schreibwaren bis hin zu Hygieneartikeln wie Zahnpasta und Reinigungsmitteln. Selbst Schulbänke fehlten in dieser Aufstellung nicht. Dass Haushalts-Ausstattungsgegenstände wie Kühlschränke oder Herde zu den Mangelwaren zählten, war weniger verwunderlich, aber selbst Töpfe oder Besteck waren hier verzeichnet, ganz zu schweigen von Werkzeugen wie Hämmer, Zangen oder Wasserwaagen. Auch Pkw und (kleine) Lkw tauchten ebenso auf wie Fahrräder, Glühbirnen, Fotoapparate oder Fernsehgeräte. Kugeln für Luftgewehre sowie Vogel- und Fischfutter bildeten den Schluss dieser Aufstellung. Ferner offenbart die Liste, wie weit noch Ersatzstoffe verarbeitet werden mussten, wenn „Schuhwerk aus Austauschstoffen“ oder „Koffer aller Art aus Hartplatte, Kunstleder und Vulkanfiber“ genannt sind. Nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens waren von dieser Liste der Mangelwaren betroffen, Arbeit, Ausbildung, Schule und Beruf, aber auch Urlaub, Freizeit oder Hobbys. Um so mehr müssen dann die Verheißungen einer Überflussgesellschaft in den Jahren 1958 und 1959 die Menschen bewegt haben. So zeichnete die Parteipropaganda zum zehnjährigen Bestehen der DDR die Vision einer Überflussgesellschaft: Für Berlin, als „Hauptstadt der DDR“, wurde das Zukunftsbild gekennzeichnet mit „einer Kette glänzender Geschäfte“, an denen die Konsumenten auf fast unendlich langen Rollbändern vorbei defilierten, nicht einmal mehr laufen sollten sie müssen.21 Für sie offen stand eine „Fülle von Waren“, der „vielfältige Reichtum der Welt“. 19
Protokoll Nr. 33/57 vom 6.8.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/553, 5–7. Ebd., Anlage Nr. 5, 32–50. 21 Vgl. Rainer Gries: Virtuelle Zeithorizente. Deutsch-deutsche Geschichtsbilder und Zukunftsvisionen Ende der fünfziger Jahre, in: Monika Gibas/Dirk Schindelbeck (Hrsg.): „Die Heimat hat sich schön gemacht . . .“ 1959: Fallstudien zur deutsch-deutschen Propagandageschichte (Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, Heft 3, 1994), Leipzig 1994, S. 19 f. 20
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Das Politbüro nahm ferner „zur Kenntnis“, dass die SED-Grundorganisation des Verlages Die Wirtschaft und die ZK-Abteilung Wissenschaft und Propaganda gegen die Auslieferung einer Broschüre zur Wirtschaftsreform von Prof. Dr. Fritz Behrens und Dr. Arne Benary votiert hatten. In dieser Schrift, so das Politbüro, sei „offensichtlich die Lehre des Marxismus-Leninismus von der Rolle des Staates und der Partei als Übergangsperiode negiert bzw. verfälscht“ worden.22 Benary wurde angekreidet, dass nach seinen Ausführungen „in der zweiten Etappe der Übergangsperiode“ zum Sozialismus die Selbstverwaltung der Wirtschaft „an die Stelle der Verwaltung durch den zentralistischen Staat treten“ müsse. Benary sprach aber eindeutig von der Zukunft. Die Lage für das Bundeskabinett war ungleich weniger dramatisch. Im Januar und Februar 1957 stand der große Streik der Metallarbeiter in Schleswig-Holstein23 auf seiner Tagesordnung. Im Januar wurde im Kabinett nur nach einem möglichen Schichtungsgesetz gefragt.24 In seiner Sitzung im Februar brach der Streit über die Rolle des Staates, über die Erfahrungen der Weimarer Zeit mit dem System der Zwangsschlichtung und der Notwendigkeit staatlichen Eingreifens breit aus. Einen Konsens gab es offenbar nicht.25 Letztlich respektierte die Bundesregierung die Prinzipien der Tarifautonomie, indem sie sich weder in die Konfrontation einbinden ließ noch zur Konfliktlösung Stellung nahm. Das Politbüro der SED dagegen nahm selbstverständlich Partei. Es beschloss, einen Entwurf „für die weitere Führung der Streikbewegung“ ausarbeiten zu lassen. Dazu wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, der Hermann Matern, Chef der Zentralen Parteikontrollkommission, die Politbüro-Mitglieder Alfred Neumann und Paul Verner, der Chef der (illegalen) westdeutschen KPD Max Reimann und Rudolf Kirchner, Mitglied des Präsidiums der FDGB und dort zuständig für die „Westarbeit“, angehörten.26 Das Streikende machte die Versuche, auf den weiteren Verlauf Einfluss zu nehmen, offenbar obsolet. Ansonsten spiegelten die Kabinettsprotokolle manche Aspekte des sich entfaltenden „Wirtschaftswunders“ wider. Ende August 1957 konstatierte man, dass der Zahlungsbilanzüberschuss „bedrohliche Formen“ annehme.27 Das Kabinett argumentierte gleichwohl, dass eine Aufwertung der Deutschen Mark nicht angezeigt sei. In welcher Lage man sich 1957 befand, zeigten die Debatten um einen Kredit an Polen, der zwar vom Umfang nicht bedeutsam, aber vom symbolischen 22
Protokoll Nr. 4/57, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524, 36 f. Vgl. im Einzelnen Rainer Kalbitz: Gewerkschaftliche Tarifpolitik in den Jahren des Wirtschaftswunders, in: Hans-Otto Hemmer/Kurt Thomas Schmitz (Hrsg.): Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990, S. 26 ff. 24 166. Kabinettssitzung vom 11.1.1957. 25 170. Kabinettssitzung vom 6.2.1957. 26 Protokoll Nr. 6/57 vom 5.2.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/526. 27 193. Kabinettssitzung vom 26.8.1957. 23
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Wert gesehen beachtlich war. Das Bundeskabinett billigte in seiner Sitzung vom 20. August 1957 die Stundung der Rückzahlung.28 An dieser eher marginalen Frage entzündeten sich jedoch weitere Debatten. Man befürchtete einen Präzedenzfall und ähnliche Reaktionen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Bulgarien. Der Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte verlangte eine Grundsatzdebatte zur Ostpolitik.29 III. Innerdeutsche Beziehungen Auf diesem Feld waren die Kontraste zwischen Ost und West am größten. Das Bundeskabinett folgte der Maxime, den zweiten deutschen Staat nach Möglichkeit zu ignorieren. Auch intern sprach man, wenn überhaupt, nur von der „Sowjetzone“. Nennenswerte Erwähnung fand allenfalls der innerdeutsche Handel, zumeist aber im Rahmen des Wirtschaftsausschusses des Bundeskabinetts behandelt. Anders im Politbüro der SED: Auseinandersetzungen mit Westdeutschland gab es regelmäßig, vor allem mit der Perspektive, dass der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen sei. Die DDR veranlasste, wenn auch indirekt, eine der nicht sehr häufigen Sondersitzungen des Bundeskabinetts am 17. Oktober 1957,30 damit nach der letzten regulären Sitzung des zweiten Kabinetts Konrad Adenauers und dem Zusammentritt der neuen, aufgrund der Bundestagswahlen 1957 gebildeten Regierung. Gegenstand war „die Anerkennung der sogenannten DDR durch Jugoslawien“, wie sich Außenminister von Brentano ausdrückte. Als einzige Antwort sah er den Abbruch der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Adenauer sowie die Minister Lemmer, Oberländer, von Merkatz, Preusker und Seebohm schlossen sich diesem Votum an. Immerhin dauerte diese Sitzung mit einem einzigen Tagesordnungspunkt und eindeutiger Sachlage mehr als eineinhalb Stunden. Der Abbruch der wirtschaftlichen Kooperation mit Jugoslawien wurde ebenfalls einmütig gebilligt; offen blieben die technischen Details, denn es gab einen erst eineinhalb Jahre alten Vertrag über wirtschaftliche Zusammenarbeit. Auch die zweite Erwähnung der DDR im Bundeskabinett ging von einem entlegenen Anlass aus. Am 4. April 1957 nahm das Bundeskabinett die Nachricht von der Verhaftung Dr. Viktor Agartz’ zur Kenntnis und wies in einer Erklärung Versuche zurück, einen Zusammenhang zwischen der Verhaftung von Agartz und dem Wahlkampf herzustellen.31 28
190. Kabinettssitzung vom 20.8.1957. 4. Kabinettssitzung vom 21.11.1957. 30 Sondersitzung vom 17.10.1957. 31 178. Kabinettssitzung am 4.4.1957 – Agartz hatte für seine „Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ Geld aus der DDR erhalten. Der Bundesgerichtshof sprach ihn im Dezember 1957 vom Vorwurf der Agententätigkeit für die DDR frei. 29
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Ansonsten erörterte das Bundeskabinett Probleme des Interzonenhandels, der insgesamt im Jahre 1957 im Vergleich zu den Vorjahren deutlich anstieg.32 Zu Beginn dieses Jahres sah es allerdings nicht sehr rosig aus. Die Bundesregierung nahm einen Bericht zur Kenntnis, dass die Kohlenversorgung in der DDR am Rande des Zusammenbruchs stand. Ursache seien ausgebliebene Lieferungen von Steinkohle aus Polen. Die DDR sei gezwungen, die Versorgung durch heimische Braunkohle zu sichern und könne daher ihre Exportverpflichtungen, insbesondere zur Versorgung von West-Berlin, nicht erfüllen. Adenauer hielt es „für richtig, einen Zusammenbruch der Kohleversorgung in der SBZ nicht zu provozieren.“33 Wenige Tage später zeichnete der Kabinettsausschuss für Wirtschaft ein düsteres Bild. Vereinbart seien Lieferungen in Höhe von rund einer Milliarde Verrechnungseinheiten, die DDR ihrerseits sei mit der Lieferung von Zucker, Treibstoff und vor allem von Braunkohle im Rückstand.34 Sie hatte sich inzwischen bereit erklärt, wieder Braunkohlen-Briketts zu liefern, die vor allem der Versorgung West-Berlins dienten. Zuvor hatte sie im Herbst 1956 die vereinbarten Lieferungen ganz eingestellt, so dass Berlin vom Bundesgebiet aus versorgt werden musste. Zudem hatte sich die DDR erst zur Wiederaufnahme der Lieferungen bereit gefunden, „nachdem die Bundesrepublik rigoros alle Eisen- und Stahllieferungen in die SBZ gesperrt hatte“, fügte Ministerialrat Dr. Woratz vom Bundeswirtschaftsministerium an. Da die Bundesrepublik in den folgenden Monaten vertragsgemäß Dünger und Lebensmittel in die DDR zu liefern hatte, drohte angesichts der Asymmetrie die Verschuldung der DDR über die vereinbarte Obergrenze des zinslosen Überziehungskredits anzusteigen. Um eine Lösung dieses Dilemmas wurde lange gestritten. Der Präsident der Bank deutscher Länder argumentierte, eine Erhöhung des Swings sei eine Angelegenheit nicht der Bank, sondern der Politik. Den Berliner Bürgermeister Franz Amrehn beunruhigte die Versorgung Berlins, und er warnte vor einem Druck auf die DDR, der allenfalls dazu führen könne, dass sie die OstIntegration vorantreibe. Zu Ende des Jahres hatten sich die Lieferungen offenbar normalisiert, immerhin konnten im November neue Warenlisten für den Handel verabredet werden; der Kabinettsausschuss erwartete eine deutliche Steigerung des Warenverkehrs. Den Grund sah er in neuen Krediten der Sowjetunion an die DDR, „sie werde daher bestrebt sein, über das in den Listen vorgesehene Volumen Waren zu beziehen“.35 Zugleich habe die DDR zugesichert, den Transitverkehr nach Berlin ebenso störungsfrei zu halten wie den Interzonenhandel. 32 Vgl. Michael Kruse: Politik und deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen von 1945 bis 1989, Berlin 2005, S. 298. 33 165. Kabinettssitzung am 9.1.1957. 34 62. Sitzung des Kabinettsausschusses für Wirtschaft am 15.1.1957. 35 1. Sitzung des Kabinettsausschusses für Wirtschaft am 12.11.1957.
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Anfang 1957 traten auf einem anderen schwierigen Feld neue Probleme auf. Im Januar 1957 berichtete der Bundeskanzler, Prälat Kunst, der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesregierung, habe ihm „mitgeteilt, dass der Druck der SBZ-Regierung auf die Kirchen in letzter Zeit erheblich gestiegen sei“.36 Ursache waren die Unterstützungszahlungen der Landeskirchen aus der Bundesrepublik. Diese betrugen rund 40 Millionen DMOst im Jahr und kamen dadurch zustande, dass zwischen 8 und 10 Millionen DM-West zum Marktkurs umgetauscht worden waren. Die DDR hatte nun die letzte Zahlung in Höhe von 900.000 DM einbehalten und forderte, die Unterstützungsleistungen zum Kurs von 1:1 umzutauschen,37 was den Kirchen als unzumutbar schien.38 Ein Ausweg erwies sich als nicht gangbar, da es nach westlicher Sicht einen Wechselkurs zwischen DM-West und DM-Ost fixiert hätte: Die DDR-Regierung wollte den Kirchen 10 Millionen DM-Ost zur Verfügung stellen, dafür hätten die Westkirchen an die DDR etwa 60.000 bis 70.000 Tonnen amerikanischer Steinkohle geliefert. Diese Menge den DDR-Kirchen zu schenken, war möglich, entpuppte sich aber nur als Teillösung, da die Hälfte der Unterstützungssumme nicht von den Kirchen, sondern von der Bundesregierung kam. Angesichts der absehbaren finanziellen Mehrbelastung der Bundesrepublik blieb zunächst die Frage offen. Man war der Meinung, dass die Kirchen angesichts steigender Kirchensteuereinnahmen ihren Anteil steigern könnten, die Zuschussfrage des Bundes nicht im Ausschuss, sondern nur im Gesamtkabinett geregelt werden könne. Einig war man sich, die drohenden Zahlungsschwierigkeiten für das erste Quartal 1957 zu überwinden. Eine dauerhafte Lösung wurde 1957 nicht gefunden. Das Politbüro der SED wiederholte seine gewohnten Thesen zur Wiedervereinigung: „Unsere Aufgabe wird es sein, den neuen Aufschwung in der Aktivität der Volksmassen für die weitere Entwicklung unserer nationalen Politik und die Lösung unserer volkswirtschaftlichen Aufgaben zu nutzen. Um diesen Prozess zu fördern, hat sich das Polit. Büro [sic] in der Berichtsperiode aufgrund einer eingehenden Analyse der Entwicklung der Klassenkräfte in Deutschland und der immer stärker werdenden Versuche der Bonner Regierung, ihre aggressive, volksfeindliche Politik mit nationalen Losungen zu tarnen, gründlich mit der Frage der Wiedervereinigung zu einem friedlichen, demokratischen Staat und der Taktik der Partei bei der Herstellung39 der Aktionseinheit der deutschen Arbeiter-
36
165. Kabinettssitzung am 9.1.1957. Protokoll Nr. 6/57 vom 5.2.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/526, 8 und 32 f., sowie 38–40. Dort befindet sich eine Aufstellung der „gesperrten Konten“ der evangelischen Kirchen. 38 Chefbesprechung über Fragen Interzonenhandel vom 2.2.1957 (Kabinettsausschuss für Wirtschaft). 39 Aus „Wiederherstellung“ in der Vorlage handschriftlich abgeändert. 37
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klasse befasst [. . .]“.40 Die gleichen Töne waren im Kontext der Bundestagswahlen zu vernehmen. Die SED-Führung wollte den „Kampf gegen die konzentrierte Macht des Monopolkapitals, des revanchelüsternen Militarismus und die klerikalfaschistische Reaktion“ geführt wissen.41 Über diese allgemeinen Floskeln hinaus vermochte es die SED-Führung nicht, neue Aktivitäten und Positionen zu entwickeln – zu sehr war sie im Jahr 1957 mit internen Problemen befasst. In der Praxis versuchte sie, den innerdeutschen Reiseverkehr einzuschränken. Im Juni behandelte das Politbüro eine Vorlage zur Änderung der Bestimmungen für den Interzonenreiseverkehr.42 Danach sollten in Zukunft Arbeiter und Angestellte der Volkseigenen Betriebe (VEB), des Staates sowie alle Angehörigen von Schulen und Hochschulen eine Befürwortung ihres Vorgesetzen für eine Westreise benötigen. Umgekehrt war die wiederholte Einreise Westdeutscher in die DDR nur erwünscht, wenn sie „im politischen oder wirtschaftlichen Interesse der DDR“ lag. Erst gegen Ende des Jahres 1957 kam die SED-Führung zu einer neuen Offensive auf propagandistischem Feld. In der Frühphase des Bundestags-Wahlkampfes hatte die oppositionelle SPD eine Große Anfrage an die Bundesregierung zum Komplex Atomwaffen gerichtet. In dem Kontext befasste sich das Kabinett zum ersten Mal mit dieser Frage.43 Die Antwort stellte die atomare Aufrüstung einerseits als friedenssichernde Maßnahme heraus, andererseits unterstrich sie das besondere Interesse der Bundesregierung an einem Rüstungskontroll-Abkommen. Sie erkannte zugleich die emotionale Lage der Bevölkerung an, den Wirkungen eines solchen Krieges zu entgehen, und sprach sich für entsprechende Schutzmaßnahmen aus. Anschließend verlor das Thema an Aktualität. Erst als die Sowjetunion mit dem ersten künstlichen Satelliten demonstrierte, dass sie über Interkontinentalraketen verfügte und der polnische Außenminister Rapacki den Plan einer kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa propagierte, gewann das Thema erneut an Aktualität und Schärfe. Das SED-Politbüro sah sich auf der Erfolgsseite: „Angesichts dieser Gefahren, die der Bevölkerung Westdeutschlands immer mehr bewusst werden, ist in Westdeutschland ein bedeutender Stimmungsumschwung vor sich gegangen. Infolge der Erkenntnisse der bedrohlichen Folgen einer Atom- und Raketenrüstung Westdeutschlands, infolge der konsequenten Friedenspolitik der Sowjetunion und der Politik unserer Partei und Regierung sowie die Tätigkeit der unter schwierigen Bedingungen kämpfenden Kommunistischen Partei Deutschlands ist der Unwille gegen die atomare Aufrüstung, gegen die Errichtung von Raketenbasen und für eine atomwaffenfreie Zone zu einer breiten, umfassenden Volksstimmung ange40 41 42 43
Protokoll Nr. 4/57 vom 26.1.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524, 28. Protokoll Nr. 40/57 vom 24.9.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/584. Protokoll Nr. 26/57 vom 25.6.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/570, 65–67. Sondersitzung am 9.5.1957.
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wachsen.“44 Die SED sah sich daraus sogar in ihrem gesamtdeutschen Anspruch bestätigt: „Hier stehen die Bonner Atomkriegspolitiker einer breiten Volksstimmung gegenüber, die sich zum Teil bereits gegen den Bonner Staat richtet. Diese Übereinstimmung der großen Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung mit unserer Politik zur Sicherung des Friedens bestätigt einmal mehr, wie sehr unsere Regierung legitimiert ist, für ganz Deutschland zu sprechen, während sich die Adenauer-Regierung gegen die Lebensinteressen der Nation vergeht! Diese Entwicklung macht deutlich, dass sich unsere Politik mit dem Hauptstoß gegen die Kriegsvorbereitungen des deutschen Imperialismus und für die Sicherung des Friedens durchsetzt.“45 Das Politbüro bilanzierte siegessicher: „Die Hauptlinie der Entwicklung im Jahre 1957 ist die Tatsache, dass sich das Kräfteverhältnis in der Welt weiter zu Gunsten der Kräfte des Friedens verändert hat.“46 Man plante später eine umfangreiche Kampagne in Westdeutschland.47 IV. Opposition und Meinungsvielfalt In den Debatten des Bundeskabinetts spielte die Opposition eine marginale Rolle; sie wurde allenfalls in Zeiten des Wahlkampfes wahrgenommen. So wurden die SPD-Anfrage zur Atombewaffnung48 oder die Affäre Agartz49 als Wahlkampf-Aktionen betrachtet. Das Kabinett hatte zwar am 11. April beschlossen, in der Folgesitzung über Wahlkampfthemen zu beraten,50 aber es blieb bei der Ankündigung. Erst kurzfristig vor der Bundestagswahl am 15. September, Anfang Juli, kündigte der Bundeskanzler für den 10. Juli eine Kabinettssitzung an, die der Sprachregelung im Wahlkampf dienen sollte.51 Auch hier blieb es bei der Ankündigung, zumal Meinungsumfragen inzwischen einen deutlichen Vorsprung der Regierungsparteien vor der Opposition vorhersagten. Während es auf diesem Feld in den westdeutschen Führungsgremien recht geräuschlos und unaufgeregt zuging, lösten diese Probleme – selbstverständlich 44 Aus dem Bericht des Politbüros an das 35. Plenum des Zentralkomitees, 3.– 6.2.958 mit handschriftlichen Korrekturen Erich Honeckers, SAPMO BArch DY 30/ 2059, 1–90. 45 SAPMO BArch DY 30/2059, 10 – Der zweite Satz wird hier in der von Honecker handschriftlich veränderten Fassung wiedergegeben. In der maschinenschriftlichen Vorlage lautet er: „Diese Zustimmung der großen Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung zu unserer Politik der Sicherung des Friedens bestätigt einmal mehr, wie sehr unsere Regierung demokratisch legitimiert ist für ganz Deutschland zu sprechen, während sich die Adenauer-Regierung gegen die Lebensinteressen der Nation vergeht.“ 46 Protokoll Nr. 4/57, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524. 47 Protokoll vom 18.12.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/572. 48 Vgl. Anm. 43. 49 Vgl. Anm. 31. 50 179. Kabinettssitzung am 11.4.1957. 51 187. Kabinettssitzung am 2.7.1957.
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völlig anders gelagert – in der DDR hohe Wellen aus. Für die SED-Führung ergaben sich letztlich vier „Gefahrenherde“ oder Bedrohungspotentiale, denen sie entgegentreten musste. Das waren zum ersten die Nachwirkungen der Aufstandsbewegungen in Ungarn und Polen aus dem Jahr 1956, ferner zum zweiten die im Zuge der „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien potentiell gefährlich ideologischen und politischen Einflüsse des Titoismus. Zum dritten betraf das die fern der Macht wirkenden Exponenten einer intellektuellen Opposition in der DDR um Wolfgang Harich, Heinz Zöger, Gustav Just und andere, zum vierten die zu einer „Fraktion“ hochstilisierte Gruppe um Karl Schirdewan, Ernst Wollweber, Fred Oelßner und Gerhard Ziller aus dem engeren Führungszirkel der SED. Im Falle Ungarns unterstellte das SED-Politbüro, „dass die Agentenzentralen in Westdeutschland nicht von den Ereignissen in Ungarn überrascht worden sind, da sie seit zwei Jahren an der Vorbereitung des ,Aufstandes‘ gearbeitet haben. Diese Verschwörung ist, dank der Unterstützung der revolutionären Arbeiter und Bauern Ungarns, durch die Sowjetsoldaten und die Werktätigen der Welt, nicht gelungen.“52 Zur Stabilisierung des kommunistischen Regimes in Ungarn lieferte die DDR Rohstoffe, Strom, Massenbedarfsartikel und stellte einen Kredit in Höhe von 20 Millionen Dollar zur Verfügung.53 Waren die ungarischen Ereignisse noch relativ einfach mit Verschwörungstheorien abzutun, zeigten sich bei der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Fragen, die der SED kaum angenehm sein konnten. So wurde deutlich, dass es in Fragen der Kollektivierung der Landwirtschaft durchaus Meinungsverschiedenheiten gab, ferner bestand sie auf einer Selbstverwaltung der Betriebe, in denen Arbeiterräte eine besondere Funktion genossen. Das Lohnsystem barg zudem die Gefahr von Arbeitslosigkeit in sich. Ferner eröffnete das Wahlsystem Chancen für nichtkommunistische Kandidaten. So wurde vermerkt, dass der Chefredakteur der Studentenzeitung „Pro Postu“ in einem Warschauer Wahlbezirk die meisten Stimmen erreicht und nach seiner Wahl in das Parlament die Abschaffung der Pressezensur und eine unabhängige Außenpolitik gefordert habe.54 Während sich die SED-Führung den polnischen Kommunisten gegenüber durchaus kritisch verhielt, war gegenüber den Jugoslawen fast eine offene Ablehnung sichtbar. Das Politbüro räumte ein, dass auch nach der „Normalisierung“ seit 1955 „noch eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus weiter bestanden“. Kritisiert wurde die Haltung der jugoslawischen Führung zum Aufstand in Ungarn. „Nach außen hin traten sie für eine Unterstützung der Kadar-Regierung ein, in der Praxis bereiteten sie mit ihrer bekannten Unterstützung von Nagy der Kadar-Regierung 52 53 54
Protokoll Nr. 4/57, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524, 13 f. Ebd., 14. Ebd., 15–18.
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Schwierigkeiten.“55 Ferner unterstellte man den Jugoslawen „Erscheinungen der groben Einmischung von Mitarbeitern der diplomatischen Vertretungen in den volksdemokratischen Ländern“. Als Beispiel nannte man die Verbreitung einer Tito-Rede „unter Umgehung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei.“56 Das Politbüro wollte auf diese Weise „bestehende Meinungsverschiedenheiten mit den jugoslawischen Genossen in parteigemäßer Form“ besprechen, jedoch, wie auch die Debatten mit der polnischen und ungarischen Parteiführung zeigen, war die SED-Spitze kaum bereit, von ihren eigenen abweichende Positionen zu tolerieren. Innerhalb der Partei zeigte sich dieses Phänomen noch viel deutlicher. Dem wiederholt geforderten „Meinungsstreit“ waren damit von vornherein sehr enge Grenzen gezogen, die von den politischen Anschauungen des engsten Kreises der Parteiführung geprägt waren. Wie schmal der Grat war, wurde in den Anforderungen an das Zentralorgan der Partei deutlich: „Die Redaktion hat die Aufgabe, kühn und in lebendiger, geistreicher Form die parteimäßige, prinzipielle Diskussion zu den Fragen des geistigen Lebens“ in der DDR zu führen. Und weiter: „Die Redaktion muss den Meinungsstreit auf hohem Niveau mit dem Ziel einer schöpferischen Anwendung des Marxismus-Leninismus auf den einzelnen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens [. . .] organisieren. Sie hat das Recht, Meinungen und Gegenmeinungen zu veröffentlichen, aber unbedingt57 die Pflicht, in der Diskussion die Linie und den Standpunkt der Partei zu erläutern und zu präzisieren.“58 Das Urteil des Politbüros über die Überlegungen der Wirtschaftstheoretiker Fritz Behrens und Arne Benary wurde oben bereits genannt.59 Immerhin: Beide hatten nicht über konkrete Wirtschaftsreformen nachgedacht, sondern über die Rolle des Staates in der Zukunft. Das gleiche Schicksal erlitt der Leiter des Instituts für Agrarökonomie, Kurt Vieweg. Ihm warf das Politbüro vor: „Seine Theorien in Fragen des Klassenkampfes auf dem Lande, der Rolle der MaschinenTraktoren-Stationen (MTS), der Rolle der LPG, der Preisgestaltung, der Forderung so genannten Familien- und Anteilbetriebe, der Aufhebung der Klassendifferenzierung, der Planung, laufen praktisch auf den Verzicht der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft hinaus und sind im wesentlichen als Versuch zu bewerten, den Marxismus-Leninismus auf dem Gebiet von der Rolle des Staates [sic] in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, und in der Agrarfrage zu revidieren.“60 55 56 57 58 59 60
Ebd., 23. Ebd., 25. In der Vorlage unterstrichen. Protokoll Nr. 4/57, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524, 37 f. Vgl. oben Anm. 22. Protokoll Nr. 4/57, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524, 35.
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Besonders heftig fiel die Polemik des Politbüros gegen die Exponenten der intellektuellen Opposition um Wolfgang Harich, Heinz Zöger, Gustav Just, Walter Janka und andere aus, die im März 1957 zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden.61 Schon vor dem Gerichtsurteil hatte das Politbüro ein eindeutiges Verdikt formuliert. Es stehe „vor uns die Frage, wie wir die Tätigkeit solcher Leute wie Harich und anderer einzuschätzen haben, die offensichtlich versuchten, den aggressiven Plänen der NATO in die Hände zu arbeiten. Handelt es sich bei der verbrecherischen Tätigkeit dieser Leute um eine Aktion wild gewordener Spießbürger, über die wir zur Tagesordnung übergehen können, oder wollte diese Gruppe jenen Kräften den Weg ebnen, denen das friedliche Wirken der Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik und anderer volksdemokratischer Länder ein Dorn im Auge ist? Die Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees könnten sich aufgrund der vom Politbüro veranlassten Einsichtnahme in die entsprechenden Unterlagen davon überzeugen, dass das Letztere zutrifft. Die Konzeption dieser Leute, deren staats- und parteifeindliche Tätigkeit durch die Parteiführung aufgedeckt wurde, stimmt vollkommen mit der Konzeption Adenauers und Brentanos und anderer Vertreter der aggressivsten Teile des westdeutschen Monopolkapitals überein.“62 Es war schon verwunderlich, dass das Politbüro im (nicht zur Veröffentlichung bestimmten) Bericht an die erweitere Parteiführung auf nichts anderes als die eigenen Propagandafloskeln zurückgriff. Wesentlich konkreter formuliert waren die Anschuldigungen gegen Karl Schirdewan, Ernst Wollweber, Gerhard Ziller und Fred Oelßner, denen „fraktionelle Tätigkeit“ vorgeworfen wurde. „Zwei grundlegende Fehler“ wurden Schirdewan angekreidet, zum einen die NATO-Politik und die Versuche „der deutschen Militaristen“, die DDR „zu unterminieren“, unterschätzt und zum anderen von Demokratisierung gesprochen zu haben, „aber nicht von der Notwendigkeit Sicherungsmaßnahmen gegen die Unterminierungsarbeit des Gegners zu treffen“.63 So konzentrieren sich die Vorwürfe letztlich auf den einen Punkt, Schirdewan habe Ulbrichts aktuelle Sicht von innerer Bedrohung und Gefährdung nicht geteilt, wie es auch in seiner Auseinandersetzung mit Stasi-Chef Ernst Wollweber sichtbar wurde.64 Getreu dem Muster innerparteilicher kommunistischer Führungsstreitigkeiten reichten bloße Meinungsverschiedenheiten für Sanktionen nicht aus, es musste der Vorwurf der „Fraktionsbildung“ hinzukommen. Und so konstruierte die Mehrheit des Politbüros auch einen solchen Vorgang. Im Ergebnis einer längeren Beratung über das Verhalten von Gerhard Ziller, ZK-Sekretär für Wirtschaft, und 61 Vgl. im Einzelnen: Guntolf Herzberg: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin 2006. 62 Protokoll Nr. 4/57, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/524, 42 f. 63 SAPMO BArch DY 30/2059, 62. 64 Vgl. den Beitrag von Roger Engelmann in diesem Band.
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Industrieminister Fritz Selbmann „gelangte das Politbüro, mit Ausnahme der Genossen Schirdewan und Oelßner, zu der Schlussfolgerung, dass die außerordentlich ernsten Vorgänge auf dieser Zusammenkunft65 auf eine fraktionelle Tätigkeit hinwiesen, die schon seit längerer Zeit in Gang gebracht sein musste. Es stellte sich dabei sehr schnell heraus, dass gewisse Schwankungen der Genossen Schirdewan, Wollweber, Ziller in Grundfragen der Politik unserer Partei und in einigen taktischen Fragen, die im Herbst 1956 und später auftraten, zu gruppenmäßigen Bindungen geführt hatten, an deren Spitze der Genosse Schirdewan66 als treibende Kraft stand.“67 Diese „Fehler“, deren Substanz Schirdewan freilich in Abrede stellte, bildeten die Grundlage für die Degradierung dieser Funktionäre. Ulbricht entledigte sich so insbesondere des zweiten Mannes nach ihm in der SED-Führung. Damit war für rund ein Jahrzehnt Ulbrichts faktische Alleinherrschaft gesichert und blieben (tatsächliche oder potentielle) Rivalen in der Parteiführung entmachtet. V. Fazit Die Führungsgremien in beiden deutschen Staaten standen in allen Nachkriegsjahren vor höchst unterschiedlichen Problemen. Sie regelten Fragen der „großen“ Politik ebenso wie eine Fülle kleinerer Routine- und Alltagsfragen bis hin zu Personalien. Dass die Bilder gleichwohl tief differierten, war selbstverständlich auch Ausdruck des wirtschaftlichen Aufstiegs und gesellschaftlichen Wandels. In Westdeutschland waren nun die Verhältnisse der Nachkriegsjahre weitgehend überwunden. Das dritte Bundeskabinett konnte im Herbst des Jahres 1957 eine beruhigende Bilanz ziehen. Die neue Bundesregierung setzte auf Kontinuität und Stabilität. Schließlich war das Motto „Keine Experimente“ auch die zentrale und schnell zum geflügelten Wort avancierte Wahlkampfaussage gewesen. Über die Debatte um die Regierungserklärung formulierte das Protokoll: „Zum innen- und außenpolitischen Teil bemerkte er [der Bundeskanzler], dass die Erklärung Überraschungen nicht biete, und auch nicht zu bieten brauche; sie sei darauf abgestimmt, dass die bisherigen Erfolge dazu berechtigten, den beschrittenen Weg weiter zu verfolgen.“68 Eingefügt wurde auf Wunsch des Ministers für gesamtdeutsche Fragen „ein Appell an die Machthaber der Sowjetzone“, die dortigen politischen Gefangenen freizulassen. 65 Gemeint ist eine Vorstandssitzung im Dezember 1957 der „Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut“ (SDAG), dem Uran-Bergbau in der DDR, an dem Ziller und Selbmann teilgenommen hatten. Vgl. auch: Außerordentliche Sitzung des Politbüros am 13. und 14.12.1957, SAPMO BArch DY 30/J IV 2/2/571. 66 Zu den Positionen Schirdewans vgl. Werner Müller: Karl Schirdewan: Ein Stalinist mit preußischer Disziplin, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 20. Jg. 2008, Baden-Baden 2009, S. 64 ff. 67 SAPMO BArch DY 30/2059, 61. 68 1. Kabinettssitzung am 20.10.1957.
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In der DDR wirkten die Folgen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs nach 1945 fort. Das System der Parteidiktatur entbehrte nicht nur weitgehender Loyalität, sondern musste auch weiterhin nach effizienten Formen der Herrschaftsausübung suchen. Die wiederkehrenden Debatten um Verbesserungen der Arbeit von Parteiorganisation und Staatsverwaltung zeigten, welches chronische Defizit bestand. Wieder einmal suchte sie Anfang 1958 „neue Methoden der Führung und der politisch-ideologischen Erziehung“.69 Ähnliches galt für die Auseinandersetzung mit tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern innerhalb und außerhalb der SED, auch nachdem die „bürgerlichen“ Kräfte weitgehend aus- oder gleichgeschaltet waren. Die Wirtschaft blieb für die SED ein Sorgenkind, auch wenn die Produktion in den Jahren 1958 und 1959 deutlich wuchs und sich die Versorgungslage (vorübergehend) sichtbar besserte. Für die DDR waren die Belastungen der Nachkriegsjahre eindeutig noch nicht vorbei.
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SAPMO BArch DY 30/2059, 45.
VII. Dokumentation
Erinnerungen an die DDR um das Jahr 1957 – zwei Zeitzeugenberichte* Von Gustav Just Wir haben heute den 6. Juli 2007, und in wenigen Tagen jährt sich zum 50. Male der Tag, an dem ich in einem Schauprozess verurteilt wurde, zusammen mit Walter Janka, Heinz Zöger und Richard Wolf. Der angekreidete Straftatbestand hieß „Bildung einer konterrevolutionären feindlichen Gruppe mit dem Ziel, die sozialistische Ordnung zu untergraben und die Partei und Staatsführung zu stürzen“. Was es damit auf sich hatte, warum es zu zwei Prozessen kam gegen die so genannte Harich-Gruppe, einmal im März einmal im Juli, das will ich versuchen Ihnen zu erzählen. Ich werde nicht als Wissenschaftler einen Vortrag halten, sondern einfach von mir aus, aus meiner Erinnerung erzählen, wie ich die fünfziger Jahre erlebt habe, und warum ich am Ende notgedrungen im Zuchthaus landen musste. Da muss ich zurückgehen auf das Jahr 1953, denn ohne 1953 ist 1956 schwer zu verstehen. Ich war damals Sektorenleiter für Kunst und Literatur in der Kulturabteilung des Zentralkomitees. In meinen Stasi-Akten fand ich eine Charakteristik meiner Person, die die Kulturabteilung 1957 abgegeben hatte. Darin hieß es, mit dem Genossen Just hatten wir immer Probleme. Statt die Politik der Partei in die Intelligenz zu tragen, bemüht er sich, die Stimmungen der Intelligenz in die Partei zu tragen. Umso größer war meine Verwunderung und die meiner Genossen in der Kulturabteilung, als ausgerechnet ich als Einziger in den frühen Maitagen 1953 in eine Kommission des Politbüros berufen wurde, die die Änderungen der Politik vorbereiten sollte, die man später „Neuer Kurs“ nannte auf dem Gebiet der Kultur und des Schulwesens. Diese Kommission stand unter der Leitung von Fred Oelßner, Mitglied des Politbüros. Darin waren Paul Wandel, Sekretär des Zentralkomitees, Kurt Hager, Abteilungsleiter für Propaganda im Zentralkomitee, Else Zaisser, die Gattin des Staatssicherheitsministers Wilhelm Zaisser, die damalige Schulministerin und ich. In dieser Kommission wurde in * Gustav Just und Erich Loest sprachen auf der Konferenz „1957“ des Historischen Instituts der Universität Rostock und der Friedrich-Ebert-Stiftung am 6. Juli 2007 im InterCityHotel Rostock. Ihre frei gehaltenen Reden werden hier anhand von Tonbandschnitten dokumentiert. Wir haben lediglich leichte sprachliche Modifikationen und Kürzungen vorgenommen. Zur genaueren Einbettung und -ordnung siehe die ausführlichen autobiographischen Verarbeitungen der beiden: Gustav Just: Deutsch, Jahrgang 1921. Ein Lebensbericht, Berlin 2007; Erich Loest: Prozesskosten. Bericht, Göttingen 2007.
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einer Offenheit diskutiert über notwendige Änderungen, um die Verkrustungen des Sozialismus in der DDR, diesen Kasernensozialismus mit Reglement und Gewalt, zu beheben. Es war die Rede davon, dass wir uns der Sozialdemokratie anzunähern haben, um eine Möglichkeit zur Wiedervereinigung zu schaffen. Es blieben letztlich die alten Gedanken der SED: Einheit und Sozialismus zu realisieren. Ich erinnere mich an einen Satz von Fred Oelßner, der damals sagte, „wir werden erleben, dass Ollenhauer, der Führer der SPD, in Leipzig vor Menschen sprechen wird, und wir müssen bis dahin eine Politik gemacht haben, dass die Arbeiter nicht den Bonzen weglaufen“. Das war ein unvergessliches Erlebnis in diesen Maitagen, das andere war eine Einladung zu Rudolf Herrnstadt, damals Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ und Kandidat des Politbüros. Er lud mich und vielleicht zwei, drei Journalisten ein, um mit uns zu besprechen, wie wir jetzt in Zeitungen, in Artikeln diese Ideen des „Neuen Kurses“ vortragen sollen, nämlich genau in dem Sinne dieser Kommissionssprache. Ein drittes Erlebnis war etwas anderer Natur. Ende Mai wurde ich zu Semjonow eingeladen. Semjonow war damals der Oberste Repräsentant der Sowjetunion in der DDR. Er wurde später als Hoher Kommissar offiziell in seiner Funktion bestätigt. Der Anlass seiner Einladung war eine damals gerade im Druck befindliche Broschüre von mir zum Verhältnis von Marx, Engels, Lenin und Stalin zu Kunst und Literatur. Es war ein überarbeiteter Vortrag, den ich an der Parteihochschule gehalten hatte. Semjonow sagte zu mir, „Genosse Just, das ist sehr interessant und sehr gut, was sie da geschrieben haben, aber wissen Sie, den Sozialismus wollen wir da raus streichen. Sozialismus ist noch verfrüht. Wir orientieren auf die antifaschistisch-demokratische Ordnung, und uns ist die Wiedervereinigung nach wie vor wichtig.“ Ich sagte: „Genosse Semjonow, das wird ein Wirrwarr in dieser Broschüre, allen Sozialismus raus zu streichen“. „Machen sie sich keine Sorgen, das hat der Verlag bereits getan“, war die Antwort. Das waren also meine Erlebnisse vor dem 17. Juni, vor dem Volksaufstand. Sie verdeutlichten mir, dass in der DDR nichts ohne einen Wink aus Moskau geschah. Dass sich dort irgendwie Fraktionen gebildet haben mussten, war mir klar. Stalin war ja im März gestorben, und eine Fraktion, zu der auch Herrnstadt als ein Mann des sowjetischen sachlichen Wissens gehörte, wollte offenbar den Sozialismus erhalten, ihn aber demokratisieren und anziehender machen. Eine andere Fraktion um Berija wollte die DDR aufgeben. Und da haben die Bauarbeiter in der DDR dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich habe deswegen zu diesem so genannten Volksaufstand ein sehr ambivalentes Verhältnis. Der Mut ist zu schätzen, und dagegen ist nichts zu sagen, aber die Aufständischen wollten Ulbricht beseitigen, „der Spitzbart muss weg“. Das Ergebnis war nach der Niederschlagung des Aufstandes, dass Ulbricht mächtiger und sicherer im Sattel saß als vorher. Hätte es diesen Aufstand nicht gegeben, hätte es bald keine DDR
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mehr gegeben, dann hätte Berija gesiegt. Aber so bekamen dessen Gegner Oberwasser, und er wurde in einem Geheimprozess verurteilt und im Dezember hingerichtet. Damit war der neue Kurs im Grunde erledigt. Die eifrigsten Verfechter des neuen Kurses wurden in die Wüste geschickt, Herrnstadt und Zaisser, aber auch andere Mitglieder des Politbüros, und ich als kleiner Funktionär, aber immerhin mit Parteiauftrag, mussten aus der Kulturabteilung ausscheiden. Allerdings konnte ich mir aussuchen, was ich machen wollte. Becher, der damals Kulturminister wurde – Oelßners Kommission war ja aufgelöst worden – holte mich als Generalsekretär des Schriftstellerverbandes. Diese Tätigkeit versah ich ein Jahr, immer im Kreise des neuen Vorsitzenden. Aus dieser Zeit gibt es eine bemerkenswerte Episode, ein Schriftstellertreffen auf der Wartburg, wo ostdeutsche und westdeutsche Schriftsteller aufgrund einer christlichen Initiative des Pfarrers Liedel aus Zwickau, unterstützt von Minister Becher und mir, zusammen kamen. Unter dem Motto vom „Brückenschlag des Wortes“ beschwor die Tagung die Einheit der deutschen Nation und damit die Einheit des deutschen Volkes. Das ist eine Episode, die in der Geschichtsschreibung ziemlich am Rande behandelt wird oder gar nahezu untergegangen ist. Die nächste Etappe führte mich als Redakteur zur Wochenzeitung „Sonntag“. Es heißt immer, ich war der Stellvertretende Chefredakteur. In Wirklichkeit waren wir zwei Chefredakteure, wir standen gemeinsam im Impressum, hatten uns die Arbeit geteilt, Zöger für Politik, ich für Kultur. Beim „Sonntag“ fand ich eine offene, frische Atmosphäre vor. Wir hatten die Losung geprägt: positive Ungeduld, d.h., über alle Gebiete der Kunst und Kultur, aber auch des öffentlichen Lebens freimütig zu diskutieren. Der „Sonntag“ aus den Jahren 1955 und 1956 verdiente eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Würdigung. Wir haben dort eine breite Diskussion auf vielfältigen Gebieten entfacht: ob der Musik, des Theaters oder der Literatur oder über den Kitsch in der Formgestaltung. Wir haben uns damit nicht nur Freunde gemacht. So zum Beispiel die Schriftstellerin Hedda Zinner: Die war aus der Emigration zurückgelehrt, die Frau von Fritz Erpenbeck und sehr befreundet mit Ulbricht. Sie hatte ein Theaterstück geschrieben, „Die Lützower“, über die Freiheitskriege. Wir haben das im „Sonntag“ so zerrissen, dass Ulbricht intervenierte. Darauf bekamen wir eine schwere Kritik aus dem Zentralkomitee, von Ulbricht persönlich, und wir sollten Widerrufe schreiben. Ein Professor Baumann, der so ein Arzt der Regierung war, veröffentlichte dann einen ganz zornigen Artikel im „Sonntag“. Wir waren ja liberal. Eines Tages ging ich spazieren am Scharmützelsee und entdeckte en passant das Haus von Hedda Zinner und Fritz Erpenbeck; daneben lag das Haus von Professor Baumann. So lief das damals. In dieser Zeit, im Februar 1956, tagte der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Ein Parteitag, der Wasser auf unsere Mühlen leitete, denn nicht erste in der Geheimrede über Stalin, sondern schon in der öffentlichen Sit-
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zung kamen zwei neue Forderungen an die Kommunistische Partei zur Sprache. Die eine zielte auf Demokratisierung, also auf die Vereinbarung von Sozialismus und Demokratie. Dazu sollte eine offene Diskussion und das Aufzeigen von Alternativen gehören. Bald machten sich dies insbesondere die italienischen und französischen Euro-Kommunisten zu eigen. Die zweite Forderung zielte auf die Berücksichtigung nationaler Besonderheiten. Jedes Land müsse nach seinen Traditionen und Verhältnissen den Weg zum Sozialismus finden. Das war genau das, was wir im „Sonntag“ aufgriffen. Unsere Diskussion wurde dadurch noch interessanter, vor allem weil wir gute Kontakte zu polnischen, ungarischen und tschechischen Intellektuellen und deren Zeitungen hatten. Wir veröffentlichten beispielsweise kritische Beiträge aus Ungarn von Gyula Hay, von Tibor Déry und vielen anderen. Wir hatten zwischenzeitlich auch einen Korrespondenten aus Polen, der lebendige und informative Berichte lieferte. Er hieß Marcel Reich, später nannte er sich Marcel Reich-Ranicki. Zu meiner Verwunderung erwähnt er in seiner Autobiographie die Mitarbeit am „Sonntag“ mit keiner Zeile. Vielleicht war es ihm nicht so bedeutsam, aber uns war das wichtig. Wir fühlten uns nicht allein. Wir sahen, wie es überall in Ostmitteleuropa gärte. Dieser XX. Parteitag rüttelte die kommunistische Welt durcheinander, vor allem die Intellektuellen innerhalb der Kommunistischen Partei. Die Reaktion der Parteiführung auf den XX. Parteitag war enttäuschend. Ulbricht brachte nicht mehr über die Lippen als die Bemerkung, Stalin sei kein Klassiker mehr. Unsere Diskussionen, die wir jetzt intern in der Parteigruppe des Aufbauverlages führten, richteten sich mehr und mehr auch gegen die Politik der Ulbricht-Gruppe, die offenbar nicht die Absicht hatte, endlich die Lehren aus der sowjetischen Entwicklung zu ziehen. Durch die Diskussionen ab 1956 formte sich mit der Zeit ein kleiner Kreis von Gleichgesinnten heraus, die zum Teil politisch gebildet waren, die Parteischule hinter sich hatten und zu philosophischem Denken befähigt waren. Zu nennen ist Wolfgang Harich, ein hoch intelligenter Philosoph, zufällig mein Doktorvater. Er ist in meinen Augen allerdings ambivalent zu beurteilen. Über ihn schrieb der Herausgeber der „Deutschen Rundschau“ Rudolf Pechel in einer Polemik einmal, er sei ein Kopf auf zwei Beinen. Was dazwischen ist, Herz, Seele, Gemüt, das fehle. Harich neigte dazu, immer zu weit zu gehen und die Realität zu missachten. Gleichsam den Gegenpol bildete Walter Janka. Der Altkommunist und tüchtige Verleger – schon in der Emigration in Mexiko, wo er den Verlag „Editorial El Libro Libre – Das Freie Buch“ gegründet und geleitet hatte – war sehr angesehen unter den Intellektuellen, auch international. Hinzu kamen Anna Seghers, Heinz Zöger, auch Altkommunist, aber mehr an den praktischen als ideologischen Dingen interessiert, und ich. Ich war ein junger Genosse, mit Parteischulerfahrung, hatte Marxismus-Leninismus studiert und jahrelange Erfahrungen im Parteiapparat gesammelt. Dadurch wusste ich von allen am besten, was in der
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Partei zulässig war und was man nicht machen darf (insbesondere „Fraktionsmacherei“). Hier und da gesellte sich der Parteisekretär zu uns. Er hieß Schubert und war IM, wie wir später feststellten. In unseren Diskussionen spielte folgender Aspekt eine große Rolle: Man kann doch nicht alle Schuld auf Stalin schieben und behaupten, mit dem Ende seiner Herrschaft sei alles erledigt und wieder gut. Schließlich steckt dahinter ein ganzes System, das einen Stalin erst möglich machte und zuließ, dass ein alter Bolschewik seine altbolschewistischen Genossen erschießen ließ, und eine Diktatur errichtete, die im Ergebnis etwa 50 Millionen Opfer kostete. Dieser Stalinismus war damals ganz verpönt, aber wie haben wir ihn benutzt? Wir wollten herausfinden, wie es dazu kommen konnte. Außerdem bewegte uns die Frage danach, was in der DDR geschehen müsste, damit der Sozialismus sich so entwickle, wie er gedacht war, nämlich zu einem humanistischen Sozialismus, mit „menschlichem Antlitz“, wie später die Tschechen formulieren sollten. Wir hatten damals übrigens das Gefühl, nicht allein auf weiter Flur zu stehen. Wir bekamen Zuschriften, Intellektuelle äußerten sich bei uns, im „Sonntag“ schrieben Leute, die bis dahin nichts geschrieben hatten. Im Sommer lud mich einmal Bertolt Brecht zu sich ein. Wir kannten uns seit der kurzen Zeit im ZK, wo ich mit ihm zu tun hatte. Er lobte sehr, was wir im „Sonntag“ machten und versprach uns jede Unterstützung. Ich sagte ihm: „Genosse Brecht, wir fühlen uns wie eine Insel im Meer.“ Darauf entgegnete er ungefähr Folgendes: „Interessant diese Insel im Meer, aber außer Euch gibt es viele Inseln, und diese Inseln wachsen mit der Zeit zu, dann ist das Meer ein Festland.“ Dann sprachen wir darüber, warum dieser Sozialismus in der DDR, diese gute herrliche Idee, so wenig bei den Menschen ankommt, und was daran nicht in Ordnung ist. Er zeigte auf das Wasser und sagte, da fährt ein Segelboot, und das Segelboot fährt nicht. Dann werde gesagt, man müsse den Kapitän auswechseln, die Segel vergrößern oder ähnliches. Es werde aber trotz solcher „Reformen“ nicht fahren, weil kein Wind wehe von Seiten der Arbeiterschaft. Die Arbeiterklasse oder wenigstens ein großer Teil von ihr sei nicht aktiv, wolle offenbar gar keinen Sozialismus. Das ist das Problem. Wir kamen auf den Kapitän zu sprechen, und ich sagte, wir sind absolut gegen Ulbricht, aber wer soll das sonst machen? Brecht sagte, er könne mir im Handumdrehen 15 Personen nennen, die jederzeit dazu in der Lage wären. Da bei diesem Gespräch zufällig Jakob Walcher anwesend war, ein Altkommunist, der als Gegner Thälmanns aus der KPD ausgeschlossen wurde und in der KPO tätig war, legte er nahe, dass er vielleicht an solche Personen dachte. Wir haben nie wieder darüber gesprochen, weil Brecht wenig später gestorben ist. Nach diesem Besuch fuhr ich nach Prag und hatte dort aufschlussreiche Gespräche mit Verantwortlichen unserer Schwesternzeitungen. Es herrschte allseits die Überzeugung, dass in den Ländern des Realsozialismus etwas passieren müsse. Ich war der Meinung, wir könnten doch nicht immer bloß diskutieren, wir
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müssten jetzt einen Weg finden, uns der Parteiführung mitzuteilen. Änderungen können ja nur von oben erfolgen, weil es einen Aufstand von unten nicht geben wird. „Harich, Du bist doch der Intelligenteste, schreibe doch unsere Gedanken auf.“ Harich fing daraufhin tatsächlich an, unsere Überlegungen auszuarbeiten. Wir bekamen sie aber nie zu Gesicht, weil seine Verhaftung dazwischen kam. Ich wusste daher nicht, inwieweit Harichs Gedanken mit meinen übereinstimmten. Worin diese damals bestanden, will ich im Folgenden kurz erläutern. Wir dachten an eine Wiedervereinigung, die aber mit Adenauer und Ulbricht nicht zu machen war. Wir wollten die Länder wiederherstellen – fünf mit sozialistischem und neun mit kapitalistischem Profil – und in einer Art Zweckgemeinschaft oder „Konföderation“ zusammenführen. In der Wirtschaft wollten wir die Wirtschaftsplanung reduzieren auf Richtwerte und auf die Grundstoffindustrie, also auf Schlüsselbetriebe in Bergbau und Hüttenwesen, Energie und Verkehr. Im Übrigen wollten wir das einführen, was die Tschechen später Sozialistische Marktwirtschaft nannten. Mit Blick auf die Lage in der Landwirtschaft waren wir der Meinung, die Kollektivierung sei richtig, aber nicht nach sowjetischem Muster. Wir wollten stattdessen deutsche Traditionen aufgreifen. In Deutschland gab es doch Vorbilder für Kollektivwirtschaften wie die Raiffeisengenossenschaft oder die Molkereigenossenschaften. Uns ging es darum, in der Verwaltung die Bürokratie zu reduzieren, eine Reihe von Ministerien aufzulösen, die uns völlig überflüssig schienen. Außerdem sollten die Hoch- und Fachschulen künftig durch einen Rektorenrat geleitet werden, nicht durch den Staat. Sie sollten sich selbst verwalten und ihre traditionelle Autonomie gegenüber staatlicher Gängelung zurückgewinnen. In der Literatur wollten wir jegliche Form der Zensur abschaffen. Das Ministerium für Staatssicherheit war uns ein Dorn im Auge. In Deutschland hatte es außer dem Reichssicherheitshauptamt der Nazis nie ein eigenes Ministerium für Staatssicherheit gegeben. Die militärische Aufklärungsspionage und Antispionage sollte wieder ganz in die Armee verlagert und die Verfolgung von kriminellen und politischen Delikten dem Innenministerium übertragen werden. Zudem sollten Repressionen gegen die Kirche und die Junge Gemeinde sofort eingestellt werden. Besonders wichtig schien mir auch das Problem der Jugend, der FDJ. Ich war der Meinung, zumal ich Erfahrungen in der bündischen Jugend gesammelt hatte, dass die FDJ nicht einfach ein Abdruck des Komsomol sein durfte. Angesichts christlicher und liberaler Studenten hatte die FDJ meines Erachtens eine Dachorganisation für unterschiedlichste Gruppierungen zu sein und somit die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse widerzuspiegeln. Schließlich nannte sich die oberste Instanz der FDJ nicht ZK, sondern vielmehr Parlament. Das heißt, es ist ursprünglich auch gedacht gewesen, die FDJ so zu gestalten. Darüber hinaus war es für uns wichtig, dass die Parteien und Massenorganisationen, die es in der DDR gab, ernst genommen werden. Gewerkschaften sollten nicht in erster Linie Direktiven der Partei verfolgen, sondern die Interessen der
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Arbeiter vertreten. Ferner sollten die Blockparteien nicht nur treue Anhänger der SED sein, sondern auch ihre eigenen Möglichkeiten mehr zur Geltung bringen. Als Mensch der Ideen und Chefredakteur des „Sonntag“ lag mir, last but not least, eine wahrheitsgetreue offene Berichterstattung über alle Probleme, die die Menschen bewegen, besonders am Herzen. – Das war eine einfache Zusammenfassung unserer Konzeption. Mehr nicht. Wir haben sie nicht veröffentlicht. Was wollten wir tun? Ich meinte, der beste Weg sei, dass Harich dies in Form eines Artikels niederschreibe. Ich bot mich im übrigen auch dafür an. Dann sollte einer von uns den Artikel an die „Einheit“ schicken, war das doch keine Fraktionsmacherei. Die „Einheit“ wird das natürlich nicht abdrucken, sondern an das Politbüro weitergeben. Harich sagte, die werfen das in den Papierkorb. Ich widersprach, schließlich wusste ich aus meiner Erfahrung, dass im Politbüro nicht nur stalinistische Betonköpfe wie Ulbricht, Matern und Honecker saßen, sondern auch andere wie Otto Grotewohl, Friedrich Ebert, Fred Oelßner oder Heinrich Rau. Es bestehe für uns die Hoffnung, dass der Artikel zur Diskussion freigegeben werde. Vielleicht, so hofften wir, wird eine große theoretische politische Versammlung von Intellektuellen über eine neue Politik des Sozialismus einberufen. Wir wussten in vielen Angelegenheiten selber nicht genug Bescheid, verstanden beispielsweise zu wenig von Wirtschaft. Wir wussten aber, dass Vieweg neue Ideen für die Landwirtschaft entwickelt hatte. Doch dann kam Ungarn dazwischen, und damit war alles zunichte gemacht, weshalb ich auch zum dortigen Volksaufstand ein ambivalentes Verhältnis habe. Die Schuldigen am Aufstand waren nicht, wie Ulbricht behauptete, die Intellektuellen und die von ihnen ausgehenden Fehlentwicklungen. Schuld waren die Stalinisten selber: Statt Mátyás Rakosi durch einen ausgewiesenen Gegner des Stalinismus zu ersetzen, ersetzten sie ihn durch Ernö Gerö. Der gleiche Stalinist, der auf Studenten schießen ließ, löste dann diese Bewegung aus, die in einer Art Bürgerkrieg ausartete. Dabei hat Georg Lukács im Sommer in einem Gespräch mit Janka und mir gesagt, der kommende Mann ist János Kádár, der unter Stalin bitter gelitten hatte. Er kam dann auch, aber spät als Nothelfer. Er wurde eine tragische Figur, weil er praktisch gegen seine ursprünglichen Überzeugungen die Politik der Sowjets fortsetzen musste. Das zeitigte schlimme Folgen wie Verhaftungen und Todesurteile. In der DDR blieb es bei Verhaftungen. Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Ungarn wurde Harich Ende November verhaftet. Kurz zuvor war er noch zu einem Besuch beim sowjetischen Botschafter Puschkin eingeladen gewesen. Warum er dort eingeladen gewesen war, wem er das verdankte, das wissen wir nicht. Harich erklärte Puschkin, die Deutschlandpolitik der Sowjets müsse sich auf neue Wege einstellen. Er kam ganz belämmert und verärgert von dem rund vierstündigen Gespräch zurück, in dem er unsere Konzeption zur Länderspinnerei vorgetragen hatte. Wenige Tage später wurde Harich zu Ulbricht gerufen. Da wurde ihm etwas deutlicher gesagt, diese Pläne dulde man in der DDR nicht.
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Kurze Zeit später wurde Janka verhaftet. Ich blieb im „Sonntag“ mit Heinz Zöger zusammen. Wir mussten dann Selbstkritik üben. Zöger entwarf einen Text, der mir aber nicht gefallen hat. Ich bin in der Folge aus dem „Sonntag“ ausgeschieden und zum Kulturbund zurückgekehrt. Im Januar von der Stasi zu einem Gespräch geholt, habe ich dort unsere Konzeption verteidigt. Sie diene der Festigung des Sozialismus. Die MfS-Leute nahmen das zur Kenntnis, haben nichts dazu gesagt. Ein paar Tage später wurde ich zur Parteikontrollkommission gerufen und dort tatsächlich beschuldigt: „Genosse Just, wir machen ein Parteiverfahren gegen Sie als Angehöriger der Gruppe Harich.“ Ich antwortete, von einer Gruppe Harich nichts zu wissen. Auch sei Harich nicht unser Anführer. „Na vielleicht warst Du das“, sagten sie. Das Ergebnis habe ich nicht mehr erfahren. Ich wurde am 8. März vorgeladen als Zeuge im Prozess gegen Harich. Ich sagte dort wahrheitsgemäß zur Konzeption aus und wurde noch aus dem Gerichtssaal heraus verhaftet. Meine Reaktion war nur: Gibt es denn so was? Aber es gab so was. Ich will noch knapp erläutern, warum es zwei Prozesse gegen die HarichGruppe gab. Harich hat in der Haft, sagen wir, klein beigegeben und sich praktisch auf die Darstellungen unserer Konzeption durch die Staatssicherheit eingelassen. Demnach wollten wir den Staat ruinieren und den Sozialismus abschaffen. Er war reumütig, geständnisbereit. Ich will ihn dafür nicht so sehr verurteilen, schließlich ist er ein schwacher Mensch gewesen. Aber er hat auch Dinge gemacht, von denen wir nichts wussten. Er war ohne unser Wissen zur SPD nach West-Berlin gegangen, dort zu einem Funktionär, von dem später herauskam, dass er unter dem Namen Fredi ein wichtiger Agent Markus Wolfs war, also ein Mann der Staatssicherheit. Dieser Sozialdemokrat schickte Harich zum Ostbüro. Damit hatte Harich etwas begangen, was in der DDR als Straftat geahndet wurde, galt das Ostbüro doch als Agentennest. So haben sie Harich im März verurteilen können. Er legte ein Geständnis ab und bedankte sich sogar bei der Staatssicherheit dafür, dass sie ihn wie ein scheuendes Pferd aufgehalten hat. Janka, der schon in Untersuchungshaft saß, war nicht in den Prozess einbezogen. Er stritt genauso wie ich später diese Konzeption ab. Wir waren ehrlich, wir wollten den Sozialismus so nicht, wir haben uns nie ein Geständnis abpressen lassen. Der Prozess gegen Harich musste vorgezogen werden, damit er in unserem als Kronzeuge gegen uns auftreten konnte. Dies sollte ihm Janka nie verzeihen. Darin liegt aber nur die letzte Ursache eines peinlichen Zerwürfnisses dieser zwei alten Männer. Wir bekamen unsere Strafe weg. Ich habe in den vier Jahren Haft mich nie dazu bewegen lassen, ein Geständnis abzulegen oder mich als schuldig zu bekennen. Deswegen hatte ich meine Strafe bis zum letzten Tag abzusitzen. Meiner Frau wurde immer nahe gelegt, auf mich entsprechend einzuwirken. Sie verstand aber schnell, dass dies bei ihrem Mann zwecklos war. Meinem Charakter hätte es absolut widersprochen, Lügen zu gestehen. Außerdem wusste ich aus der histori-
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schen Erfahrung, dass schon die Inquisition die Ketzer zwar zu Geständnissen zwang, zum Teil durch Folter, sie aber trotzdem auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Manch Angeklagte des Stalinismus beugten sich ebenfalls aberwitzigen Beschuldigungen – etwa Sinowjew, Kamenew oder Bucharin. Genutzt hat es ihnen nichts: Sie wurden trotzdem erschossen. Um so mehr stand für mich ein Geständnis außer Frage. Über die Haftzeit will ich nicht weiter sprechen, stattdessen aber ein knappes Fazit ziehen. Wir sind gescheitert: Reformsozialisten und -kommunisten gleichermaßen. Wir sind gescheitert, die Tschechen sind 1968 gescheitert, Gorbatschow ist mit seiner Perestroika ebenfalls gescheitert, weil der auf Stalin und Lenin aufgebaute Sozialismus nicht reformierbar ist. Das hat sich erwiesen. Im Endergebnis sind später auch die gescheitert, die uns 1957 zum Scheitern gebracht haben.
*** Von Erich Loest Ich bin fünf Jahre jünger als „Gustel“ Gustav Just, vielleicht sind es sogar zwei Generationen an Erfahrung: Ich bin viel jünger, viel unbedarfter und nüchterner in diese neue Zeit hinein gekommen. Wir waren überzeugte Nazis gewesen, Hitlerjugendführer, als Reserveoffiziersbewerber davongekommen, hörten, was die Deutschen den Anderen angetan haben, den Juden, den Polen, den Tschechen, den Russen, und für uns war dieser Antifaschismus kein verordneter Antifaschismus, wie man das so manchmal hört, das war echt. Wir wollten wiedergutmachen, wir schämten uns für das, was wir mitgetan hatten. Ich war Soldat, ein Jahr lang, ich habe wahrscheinlich niemanden getötet, aber ich war dabei, und ich wollte mich bekennen zu dem Dabeigewesensein, auch wir hatten Auschwitz verteidigt, wir sahen es ein, wir wollten auf der richtigen, der guten Seite sein. Den Namen Gustav Just habe ich am 17. Juni 1953 zum ersten Mal gehört. Ich war in Berlin beim Schriftstellerverband. Es war zufälligerweise für diesen Mittwoch eine Sitzung angesetzt wegen eines Stipendiums. Da hieß es dann, wir hätten dem Genossen Gustav Just im ZK gestern nicht zu seinem Geburtstag gratuliert. Wir waren beflissen, den Genossen Gustav Just zu beglückwünschen. Nun fanden aber schon die Straßendemonstrationen in Berlin statt, und wir waren schon unten gewesen, um mit den streikenden Arbeitern zu diskutieren. Es war eine entsprechende Parteilosung ausgegeben worden. Wir gingen also runter und sagten irgendwas. Dann antwortete die „Arbeiterklasse“: „Zeigt mal eure Pfoten her“, und dann zeigten wir unsere weichen Pfoten her. Da sagten sie: „Hau ab, du Sachse.“ Ich kam auf die Idee, den Genossen Just zu holen. Wir mit den weichen Pfoten waren nicht geeignet, aber wir hatten im Verband Kraftfahrer, das waren
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Arbeiter, und die hatten Ölpfoten. Wir haben dann einen Kraftfahrer losgeschickt. Er kam nach anderthalb Stunden unverrichteter Dinge zurück. Vor dem KarlLiebknecht-Haus der Partei tobte die Menge und brüllte: „Wir wollen den Ulbricht sehen.“ Wir konnten unter diesen Umständen nicht zu Gustel vordringen. Das war das erste Mal, wo ich diesen wichtigen Namen hörte. Dann erlebte ich ihn etwa ein halbes Jahr später, als ich einen frechen Artikel geschrieben und Kritik an der Presse geübt hatte. Ich war in Ungarn zu Besuch gewesen, ein Schriftstellerbesuch zusammen mit Strittmatter. In der Zwischenzeit hatten mich die Leipziger schon aus der Partei und dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Ich kam zurück: Da saß der wichtige Genosse Gustel. Und der fragte Siegfried Wagner, den Verantwortlichen für Kultur in der SED-Bezirksleitung, ob sie nicht hätten warten können. Anna Seghers sagte, „da ist ja unser Bösewicht“, und das klang sehr herzlich. Jedenfalls wurde den Leipzigern das Wasser abgegraben, worauf sie weiter logen. Jedenfalls bemerkte ich die helfende Hand, die Gustel über mich gehalten hat. Das ist unser Beginn, und nun kommen die Jahre in Leipzig, diese drei Jahre zwischen 1953 und 1956, wo das, was wir da erlebt hatten, in uns nicht zur Ruhe kam. Der Aufstand der Arbeiter gegen die Partei, die sich Arbeiterpartei nannte, und die Unmöglichkeit, an der Parteipolitik etwas zu ändern, wirkten nach. Der 17. Juni hieß in offizieller Diktion „faschistischer Aufstand“. Nichts anderes durfte gelten. „Keine Fehlerdiskussion!“, das wurde uns ins Stammbuch geschrieben, den Weicheiern, die da eine Fehlerdiskussion führen wollten. Wir sahen das aber deutlich und waren nicht wieder in das Bett der Parteidisziplin hineinzubringen. Die führenden Schriftsteller, die merkten das. Ich weiß noch, dass Becher kam und sagte, lieber hundertmal mit der Partei irren, als sich einmal gegen die Partei stellen. Ist uns das als Lenin verkauft worden? Oder ist das Bechers Eigenbau? Das war Eigenbau von Becher, aber das macht doch Eindruck, wenn ein solch erfahrener Genosse uns Jungen das so erzählt. Schließlich Alfred Kurella, der klagte, das haben wir uns alles an den Schuhsohlen abgelaufen. Und ihr jungen Genossen, ihr stellt Fragen, die sind 1932 schon erledigt worden, oder 1934. Warum kommt ihr immer wieder mit dem? Aber Zwerenz und andere, zu denen auch ich gehörte, ja ein Freundeskreis aus jungen Genossen, alles Intellektuelle, stellten Fragen. Dann folgte der XX. Parteitag mit Chruschtschows berühmter Rede, die uns gerade recht kam. Darauf hatten wir gewartet, und sie kam aus West-Berlin herüber, mein Exemplar stammte von der „Welt“. Den Abdruck hatte ich für eine Nacht daheim, dann musste ich ihn weitergeben an den nächsten, der es dann wieder las usw. Wir kamen nicht zur Ruhe und diskutierten über Schlagworte wie „Stalinismus“ oder „Aufbau der Schwerindustrie“. Wir sprachen auch darüber, wie viele damals umgebracht wurden. In Chruschtschows Bericht wird das offen gelassen. Wenn man mich damals gefragt hätte, wie viele Opfer es waren, na ja, dann hätte ich gesagt fünftausend, schrecklich viel: fünftausend. Etwas später erfuhren wir von Solschenizyn, wie viele es in Wirklichkeit waren.
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Es war eine aufregende Zeit, die uns nicht zur Ruhe kommen ließ. Dann hörten wir, was in Berlin so vor sich geht. Und wir hatten einen Gewährsmann, Joachim Wenzel. Der war aus Leipzig zum „Sonntag“ gegangen als Redakteur. Der enge Freund war Volontär bei einem Wurstblatt gewesen, bevor er in die Höhle des Löwen gelangte. Er erzählte uns, was im Aufbau-Verlag vor sich ging. Wir staunten. Dann hörten wir stückweise von diesen Diskussionen, und das steckte uns an. Wenn diese Verbindung mit diesem armen Menschen nicht gewesen wäre, wäre vieles anders verlaufen. Aber es war nun mal so, wir hörten davon. Ich ging dann in Leipzig los und hatte jemanden, von dem ich meinte, der war immer dabei, der kann dir was erzählen: Das war Wieland Herzfelde, der große Verleger des Malik-Verlages in den zwanziger Jahren, Emigrant in den USA, mit allen Großen befreundet und per Du. Nur war es sehr mühselig, aus ihm etwas herauszukriegen. Eines aber sagte er mir: In all dieser Zeit, in den dreißiger Jahren, habe die ganze Hoffnung auf der Sowjetunion und Stalin gelegen. Die Demokratien England und Frankreich hätten Spanien verraten, dann die Tschechoslowakei in München. Einer blieb, und das war Stalin. Er war die einzige Hoffnung, so sagte Herzfelde, die wir hatten, und aus dieser Hoffnung heraus ist unser Schweigen entstanden zu all diesen Vorgängen. Das leuchtete mir ein, auch wenn er keine Einzelheiten aus sich herauslocken ließ. Ein weiterer „Großintelligenzler“ war Hans Mayer, den das Ganze wenig berührte. Er hatte seine Literatur, da ging es um Kafka. Außerdem Bloch, der war für uns unerreichbar. Er war in dieser Zeit auch für seine Schüler, für Zwerenz oder Zehm unerreichbar. Was für ein Theoretiker, lebt in Leipzig und schreibt über den Marxismus, und schreibt so hoch, dass wir es nicht so richtig verstehen. Er war einer, der die Realität sehr, sehr fürchtete gegenüber der Theorie. Und wenn die Realität der Theorie nicht entsprach, war er sehr böse. Also, dort hatten wir keine Hoffnung. Aber wir taumelten voller Hoffnung durch diesen großartigen Sommer. In Berlin ist es während dieses Tauwettersommers ähnlich gewesen: Dort wurde der Donnerstagskreis von Raddatz gegründet, wo dann Harich das große Wort führte. Ich kenne fast alle Namen von den Leuten die dabei waren: insgesamt rund dreißig. Der Petöfi-Kreis in Ungarn, das waren Tausende, über das ganze Land verstreut, also gar kein Vergleich. Dann kamen diese beiden fürchterlichen Tage, als Janka in sein Haus nach Kleinmachnow einlud. Dort wurde mit Merker geredet. Es ist ganz lange nicht herausgekommen, dass noch einer eingeladen wurde: Walter Markow, Geschichtsprofessor in Leipzig, in Jugoslawien aufgewachsen, aus der Partei ausgeschlossen wegen Titoismus, aber im Amt geblieben. Joachim Wenzel hatte den Auftrag von Janka, Markow dazu zu holen. Der hatte aber seine Erfahrung mit dem „Titoismus“ und solchen Geschichten. So ist er nicht hingegangen.
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Zu uns kam auch ein polnischer Journalist mit Namen Taddäus Kupis und erzählte aufregende Dinge von Polen, was da los war mit dem Gomułka. Wir haben ihm zugehört, wie herrlich sie das machen in Polen, dieser großartige Gomułka. Einer von uns sagte, die Stalinisten haben Fehler gemacht. Dann folgerte er, Stalinisten sind Verbrecher. Es war heftig und trefflich, und wir waren ein gutes Dutzend, also etwas zu viel, um unter uns zu bleiben. Auf dem hochwichtigen 29. Plenum diskutierte dann die Parteiführung die Frage: Treiben wir es mit der Öffnung weiter, oder machen wir den Deckel drauf? Sie entschloss sich dann mehrheitlich, die Stalinistenrunde fortzusetzen: Jetzt wurde es wieder hart. Hätte die Partei uns das erzählt, dann wäre manches anders gekommen. Dann hätten wir das verstanden. So liefen wir offen ins Messer. Wir saßen in Leipzig herum und merkten, wie das Verhängnis so langsam auf uns zukam. Die Schauprozesse liefen ab, das hatten wir der Zeitung entnehmen können. Auch ist der treffliche Joachim Wenzel dabei gewesen; er hat sehr karg berichtet bei uns. Man erzählte uns von diesen Verfahren, von Ernst Melsheimer, der da rumgebrüllt hatte. Uns wurde kalt, und wir fühlten uns in einer Falle. Einer ist dann nach dem Westen abgehauen, Zwerenz. Der war geladen worden zum Prozess gegen Zehm in Jena, sein Kumpel war Bloch. Er sollte aussagen, und er sagte: „Ich gehe da nicht hin, da sind schon mal welche aus dem Zeugenstand heraus verhaftet worden, ich habe vier Jahre russische Gefangenschaft hinter mir mit TBC, ich halte das nicht noch mal aus, ich haue ab.“ Das hat er mir im Sommer in aller Ruhe erzählt, und ich habe ihm gesagt, ich bleibe hier. Ich war stur; auch wollte ich Siegfried Wagner und Paul Fröhlich nicht die Möglichkeit geben zu sagen: „Aha, da setzt er sich in den Westen ab, aber wir haben gewusst, dass er ein Verräter ist.“ Ich hatte drei kleine Kinder, und ich wusste auch, dass im Westen nicht auf uns gewartet wurde. Ich wusste es von Alfred Kantorowicz. Ihm ist es übel ergangen. Ich habe mir gedacht, vielleicht sperren sie dich ein, da war schon einer verhaftet worden in Leipzig, Reginald Rudorf, ein Jazzer. Er hatte gesagt, der Jazz ist etwas Feines und was Fortschrittliches, aber es war die Musik des Klassenfeindes. Er bekam zwei Jahre. Ich dachte nun, vielleicht bekommst du auch zwei Jahre. Aus dieser Mischung zwischen Fantasielosigkeit, Sturheit und Trotz bin ich da geblieben. Dann wurde Ralf Schröder verhaftet, schließlich folgte ich. So wurden Gedanken und Meinungen zu Taten. Da wir auf Walter Ulbrichts Ablösung gehofft hatten – das stritten wir gar nicht ab – folgerte man, dass wir ihn hätten stürzen wollen. Unser Verfahren zog sich lange hin, bei mir 14 Monate. Wir wissen bis heute nicht, warum es so lange gedauert hat. Bei anderen ging es viel schneller. Vielleicht gab es oben Diskussionen darüber, was man da machen solle. Von Grotewohl wurde berichtet, er habe gesagt, wir müssen nicht immer brechen, wir müs-
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sen auch mal biegen. Und er wollte sich uns zurechtbiegen. Das war eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit: Sie warteten auf das neue Gesetz, das Strafrechtsergänzungsgesetz. Am 6. Dezember 1957 verabschiedet, wurden wir dann nach diesem verurteilt. Der uns gemachte Vorwurf lautete „Staatsverrat“. In dem Wort Staatsverrat, § 13, war aber immer Gewalt eingeschlossen: „Wer es unternimmt, mit Gewalt Teile der DDR abzutrennen . . .“. Bei uns war von Gewalt bei niemandem die Rede gewesen. Wir hatten gehofft, oben die Macht, das ZK, setzt Ulbricht ab und bringt dann alles auf die Reihe. Es ist anders gelaufen, und über uns wurden Strafen von zehn, achteinhalb und bei mir siebeneinhalb Jahren verhängt. Es ging nach Bautzen II. Dort sind Gustel und ich uns einmal über den Weg gelaufen, abends, als das Werkzeug abgegeben wurde. Jeder gab was ab, und ich gab auch was ab. Später bin ich auch mit Janka zusammen gekommen, den ich vorher nie gesehen hatte. Einer sagte mir, das ist ein Verleger. Beim gemeinsamen Hofgang zeigte er ihn mir: der Schwarze da, das ist der Verleger. Er hatte mal ein Foto gesehen von Janka, also das wird er wohl sein. Schließlich mogelte ich mich hinter ihn, indem ich auf der Treppe an den Schuhen nestelte, an den Schnürsenkeln, die anderen Häftlinge liefen an mir vorbei. So direkt hinter ihm, ging ich dicht an ihn ran und sagte, ich bin der Erich Loest. Er schwieg, keine Reaktion. Was ich damals nicht wusste: Ich hatte auf sein linkes, fast taubes Ohr gesprochen. Später haben wir zwar einmal unter der Dusche miteinander gequatscht, aber unser Kontakt blieb insgesamt fast bei Null. Das will ich aber nicht weiter erzählen, stattdessen den später eskalierenden Streit zwischen Janka und Harich erwähnen. Harich war am Ende der Klügere, der mehr durchschaut hatte und auch mehr von seinen alten Positionen in die neue Zeit überleiten wollte. Janka hatte sich völlig in seinen alten Gräben verschanzt, um alles abzustreiten. Harich wollte es neu durchdenken, kam auch auf die Idee, zu schreiben, es war nicht die Harich-Janka-Gruppe, sondern nur die Gruppe von dem alten Funktionär Janka, der die Fäden in der Hand hielt. Er sei bloß der zweite Mann gewesen. Das leuchtete mir ein: Einen wirklichen Putsch im ZK, das hätte Janka nur mit Merker zustande gebracht, aber nicht Harich mit irgendeinem. Es hat zwei Gerichtsprozesse gegeben, und beide haben sich weder versöhnt noch je wieder ein Wort miteinander gesprochen. Janka wollte das nicht. Er hatte noch zu DDR-Zeiten im Sommer 1989 den Vaterländischen Verdienstorden in Gold bekommen und angenommen. Ich las es in der Zeitung und war von den Socken. Ich habe das nicht für möglich gehalten. Es war vorgesehen, dass er Präsident der DDR werden sollte. Das war die Modrow-Regierung. Sie erwartete, sich noch eine Weile an der Macht zu halten. Es waren drei Persönlichkeiten im Gespräch, die dafür in Frage kamen: neben Kurt Masur, dem Kapellmeister aus Leipzig, war das Christa Wolff. Beide lehnten schnell ab. Der dritte war Janka,
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und der lehnte nicht ab. Auch wieder verständlich, das wäre natürlich nach diesem schrecklichen Leben eine großartige Möglichkeit gewesen, ein Triumph, ähnlich dem, den Stefan Heym empfunden hat, als er als Alterspräsident den Bundestag eröffnen durfte. Wenn man durch so viel Dreck und Mühe durchgegangen ist und dann die Sonne des Ruhmes aufgeht . . . Die Sonne muss sehr, sehr hell geleuchtet haben und wohl beide, die hier erwähnt wurden, etwas geblendet haben. Was ist aus uns geworden? Wir waren alle, als wir angefangen haben, Marxisten und Leninisten, ohne jede Frage. Und dann sind wir durch diesen Dreck hindurch gegangen. Einige von uns haben gesagt, weg mit dieser dummen Politik, ich habe jetzt genug gelitten und da ist meine Familie, da ist mein Beruf, das ist schwer genug. Sehr verständlich, sehr lobenswert, geradezu weise. Zwei sind Sozialdemokraten geworden, der Gustel und ich, Gustel in der Partei, ich außerhalb der Partei, wo es viel leichter ist, ein guter Sozialdemokrat zu sein als in ihr. Einer ging ganz nach rechts: Günter Zehm, zunächst bei der „Welt“ und später noch weiter nach rechts. In Jena, wo er zum Professor ernannt wurde, hat er einen nationalen Kreis gegründet – nicht sehr konservativ, das ist ja was sehr Anständiges, sondern schon sehr rechts. Einer nennt sich Trotzkist: Das ist Gerhard Zwerenz, mein wirklich sehr, sehr enger Freund über viele Jahre und, als ich dann in den Westen kam, mein großer Helfer. Er hatte auch schon, während wir im Knast saßen, im Westen immer wieder gebohrt für uns. Es war schwer, am Rhein für uns etwas zu tun, für Harich und für mich, die im Knast saßen. Dabei war immer Carola Stern, auch mal Heinz Zöger. Aber es blieb stets ein überschaubarer Kreis, der für uns eintrat. Die Appelle gingen allesamt ins Leere. Später im Jahr 1994 ist Zwerenz dann in den Bundestag gegangen, als Teil von Gysis bunter Truppe. Da hat sich Zwerenz gut gemacht in dieser Buntheit. In jener Zeit hat er den Kontakt, die Freundschaft mit mir einschlafen lassen, abgebrochen, ohne eine Erklärung. Er hat wohl gemerkt, wie schwer es ist, gleichzeitig mit dem Gysi und mit dem Erich gut dran zu sein. Das konnte wohl in einem Gehirn nicht richtig zusammen passen. Da war ich eben die Bruchstelle für dieses schöne, wirklich schöne Treueverhältnis. Die anderen sind Marxisten-Leninisten geblieben, manche bis zu ihrem Tod: Janka sowieso, Harich auch. Er hat zwischenzeitlich mit der DKP getändelt, bevor er wieder rüber in die PDS ist. Ralf Schröder, immerhin zehn oder acht Jahre gesessen, wurde noch Spitzel für die Stasi in den siebziger Jahren. Unvorstellbar und unbegreiflich, ein bedeutender Slawist. Er redete im Sinne von Gorbatschow, was das für ein wunderbarer Mensch sei, der unsere alten Ideale wieder aufzubauen helfe. Und auf der anderen Seite nun ein Stasispitzel? Ein Trinker? Es war aber nicht so einfach, dass man sagen könnte: Nüchtern war er bei Gorbatschow, besoffen bei der Stasi. Weitere Aggregatzustände mischten sich auf das Unange-
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nehmste. Er ist sehr spät enttarnt worden, erst 1990, nach seinem Tod. Wir konnten ihn nicht mehr befragen. Ich bezweifle ohnehin, dass er uns Antworten hätte geben können. Das muss bei ihm eine solche Mischung sein, eine Spaltung, die in Verrücktheit übergeht. Als Fazit bleibt: Das ganze Ding war von Anfang an falsch. Es geht nicht, dass man die Wirtschaft bis auf den letzten Nagel hin plant. Und es geht nicht, dass man einer Partei Recht gibt, die so gebaut ist, wie Lenin sie gebaut hat, und dass letztlich ein Mensch oben übrig bleibt, der die ganze Partei leitet. Das geht nicht. Wir brauchen die Demokratie, wir brauchen die Parteien, die miteinander streiten. Wir brauchen eine freie Wirtschaft, die möglichst durch Gewerkschaften im Zaum gehalten wird. Es kommt auf die richtige Balance an. Die Gewerkschaften dürfen nicht stärker sein als die Wirtschaft und umgedreht schon gar nicht. Es bedarf dieser Mischung. Alles andere ist falsch.
Autorinnen und Autoren Olaf Bartz, Dr., Referent in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates Marcel Boldorf, PD Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum Werner Bührer, Prof. Dr., apl. Professor für Zeitgeschichte, TUM School of Education, Fachgebiet Politikwissenschaft Gerd Dietrich, Prof. Dr., apl. Professor am Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Roger Engelmann, Dr., Projektleiter der Abteilung Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Berlin Alexander Gallus, Prof. Dr., Juniorprofessor für Zeitgeschichte, Universität Rostock Dominik Geppert, Prof. Dr., Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn Hans-Georg Golz, Dr., wissenschaftlicher Referent, Bonn Rainer Gries, Prof. Dr., apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Vertragsprofessor für Empirische Kommunikationswissenschaft am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien Jens Hacke, Dr., Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung Guntolf Herzberg, Dr., bis 2009 Philosophisches Institut der Humboldt-Universität Kyra T. Inachin, Prof. Dr., apl. Professorin am Historischen Institut der Universität Greifswald Eckhard Jesse, Prof. Dr., Professor für Politische Systeme, Politische Institutionen, Technische Universität Chemnitz Gustav Just, Journalist und Schriftsteller, Prenden Erich Loest, Schriftsteller, Leipzig Wilfried Loth, Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen Christoph Meyer, Dr., Leiter des Herbert-Wehner-Bildungswerk e.V. in Dresden Werner Müller, Prof. Dr., Professor für Zeitgeschichte, Universität Rostock Beate Neuss, Prof. Dr., Professorin für Internationale Politik, Technische Universität Chemnitz Till van Rahden, Prof. Dr., Titulaire, Chaire de recherche du Canada en études allemandes et européennes Professeur agrégé, Département de littératures et de langues
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Autorinnen und Autoren
modernes, Centre canadien d’études allemandes et européennes, Université de Montréal Manfred Riedel, Prof. Dr., gest. 2009, zuletzt Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Winfried Schmähl, Prof. Dr., Univ.-Professor und zuletzt Direktor der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen Wolfgang Schmidt, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundeskanzler-WillyBrandt-Stiftung Berlin Hermann Weber, Prof. Dr. Dr. h. c., zuletzt Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte, Universität Mannheim