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German Pages 171 [174] Year 2015
Torben B.F. Stich
Somalia zwischen Staatsaufbau und Staatszerfall
31 Staatsdiskurse Franz Steiner Verlag
Torben B.F. Stich Somalia zwischen Staatsaufbau und Staatszerfall
Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 31
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Erfurt Norbert Campagna, Luxemburg Paula Diehl, Berlin Michael Hirsch, München Manuel Knoll, Istanbul Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Göttingen Birgit Sauer, Wien Peter Schröder, London
Torben B.F. Stich
Somalia zwischen Staatsaufbau und Staatszerfall
Franz Steiner Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-11186-7 (Print) ISBN 978-3-515-11188-1 (E-Book) Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Bosch Druck, Ergolding Printed in Germany
Für H.S., G.S. und R.S. „Du verstehst. Es ist zu weit. Ich kann diesen Leib da nicht mitnehmen. Er ist zu schwer.“ (Antoine de Saint-Exupéry)
EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt
INHALTSVERZEICHNIS Vorbemerkung........................................................................................................13 1. Einleitung...........................................................................................................15 2. Somalia – Ein historischer Abriss......................................................................21 2.1. Frühe Geschichte und Islamisierung..........................................................22 2.2. Kolonialismus.............................................................................................25 2.3. Die Jahre 1960–1969..................................................................................27 2.4. Die Jahre 1969–1991..................................................................................28 2.5. Die Jahre ab 1991.......................................................................................32 3. Der Staat – eine historisch-genealogische Hinführung......................................38 3.1. Geschichte des Staates – seine Voraussetzungen und Bedingungen..........39 3.2. Herausbildung und Genealogie von Souveränität......................................41 4. Zwischen Staatsaufbau und Staatszerfall – eine Betrachtung............................43 4.1. Erosion von Souveränität...........................................................................47 4.1.1. Failed States – Annäherungen an einen Begriff..................................47 4.1.2. Souveränität – ihre Dialektik und Auflösung.....................................49 4.1.2.1. Theorie des Irregulären...............................................................51 4.1.2.2. Bürgerkrieg.................................................................................54 4.1.2.3. Exkurs I: Verdrängung der Souveränität.....................................56 4.1.2.4. Exkurs II: Behemoth...................................................................57 4.1.2.4.1. Das nationalsozialistische Deutschland...............................58 4.1.2.4.2. Die Islamische Republik Iran..............................................59 4.1.2.5. Der Staat und seine Auflösung bei Carl Schmitt.........................60 4.1.3. Sterblichkeit von Staatlichkeit............................................................62 4.2. Milieu der Staatlichkeit..............................................................................63 4.2.1. Recht...................................................................................................64 4.2.1.1. Recht und Warenförmigkeit........................................................65 4.2.1.2. Recht und Sharia.........................................................................67 4.2.2. Ökonomie...........................................................................................68 4.2.2.1. Abfolge (ökonomischer) Gesellschaftsformationen....................70 4.2.2.1.1. Ursprüngliche Akkumulation..............................................71 4.2.2.1.2. Kolonialismus und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen..................................................................................72 4.2.2.1.3. Nachholende Modernisierung.............................................73 4.2.2.2. Warenförmigkeit..........................................................................74 4.2.2.2.1. Ware Arbeitskraft.................................................................74 4.2.2.3. Postkoloniale Vergesellschaftung................................................75 4.2.2.3.1. Rentierstaaten und Entwicklungshilfe.................................76 4.2.3. Nation.................................................................................................76 4.2.4. Religion...............................................................................................77
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4.2.5. Individuum und Familie.....................................................................78 5. (Proto-)Staatlichkeit in Afrika............................................................................81 5.1. Soziale Formierungen in Afrika – jenseits des Staates...............................81 5.2. Postkoloniale Staatlichkeit.........................................................................84 6. Staat und Staatlichkeit mit Bezugnahme auf Somalia.......................................87 6.1. Somalia: „The original failed state“...........................................................87 6.1.1. Souveränität und ihre Erosion in Somalia..........................................87 6.1.1.1. Praxis des Irregulären in Somalia...............................................89 6.1.1.1.1. Bewaffnete Aufstandsgruppierungen in Somalia................89 6.1.1.1.2. Der Bürgerkrieg in Somalia..............................................100 6.2. Recht.........................................................................................................111 6.2.1. Xeer...................................................................................................111 6.2.2. Recht während der Republik Somalia...............................................112 6.2.3. Islamische Gerichte...........................................................................112 6.2.4. Zwischenanmerkung.........................................................................115 6.3. Ökonomie.................................................................................................115 6.3.1. (Pastoraler) Nomadismus..................................................................116 6.3.2. Entwicklungshilfe.............................................................................117 6.3.3. Plünderungsökonomie.......................................................................118 6.3.4. Racketeering.....................................................................................123 6.3.5. Warlord-Ökonomie...........................................................................123 6.3.6. Zwischenanmerkung.........................................................................127 6.4. Nation.......................................................................................................128 6.4.1. Ethnisch-kulturelle Homogenität......................................................129 6.4.2. Expansiver Nationalismus................................................................131 6.4.3. Islamistische Bestrebungen und Nationalismus...............................131 6.4.4. Zwischenanmerkung.........................................................................131 6.5. Islam, Islamismus und Staatlichkeit.........................................................132 6.5.1. Islamistische Bestrebungen in Somalia............................................135 6.5.1.1. Al-Ittihad...................................................................................135 6.5.1.2. Union Islamischer Gerichtshöfe................................................138 6.5.1.3. Al-Shabaab................................................................................139 6.5.1.4. Hisbul Islam..............................................................................142 6.5.2. Zwischenanmerkung.........................................................................143 6.6. Individuum und Familie...........................................................................143 6.6.1. Familiäre Strukturen in Afrika..........................................................144 6.6.2. Clan-Wesen in Somalia.....................................................................144 6.6.3. Exkurs: Individuum und Nomadentum............................................151 6.6.4. Rolle der Frau...................................................................................152 6.6.5. Zwischenanmerkung.........................................................................154 6.7. Sezession..................................................................................................154 6.7.1. Somaliland........................................................................................155 6.7.2. Puntland............................................................................................158 6.7.3. Zwischenanmerkung.........................................................................159
Inhaltsverzeichnis
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7. Fazit..................................................................................................................161 Literaturverzeichnis..............................................................................................165
VORBEMERKUNG Der vorliegende Text entstand aus meiner Magisterarbeit, die ich an der JLU Gießen einreichte. Bei Prof. Dr. Rüdiger Voigt möchte ich mich recht herzlich dafür bedanken, dass er mir die Möglichkeit gab sie zu veröffentlichen. Für die Veröffentlichung wurden noch Ergänzungen und Überarbeitungen vorgenommen, diese betreffen maßgeblich das Kapitel 4 und 6. Für Hilfe und Unterstützung verschiedenster Art bei und an dieser Arbeit möchte ich mich ausdrücklich bei Christoph Glanz, Manuel Glittenberg, Thomas Helfert und Fabio de Toffoli bedanken. Mein Dank geht auch an Sinem Özkan, die mir während der Zeit an dieser Arbeit stets beistand. Ebenso gilt mein Dank meinen Großeltern Helmgard und Ferdinand Benesch, die mir in meinem Leben stets zur Seite standen. Meinem Vater Hartmut Stich bin ich zutiefst zu Dank verpflichtet, nicht nur wegen seiner Hilfe bei der vorliegenden Arbeit, sondern auch weil er mir die Freiheit ließ meinen Weg eigenständig zu wählen und mich dabei stets in meinen Entscheidungen und Vorhaben unterstützte. Ebenso bin ich vor allem Dr. Alexandra Kurth und Prof. Dr. Samuel Salzborn zu allerherzlichstem Dank verpflichtet, nicht nur dass sie mich stets auf meinem universitären Weg unterstützten und förderten, sondern auch über diesen hinaus.
1. EINLEITUNG Die vorliegende Arbeit hat den Staat zum Gegenstand, den Staat in seiner ihm eigenen Dialektik – zwischen dem Staat in seinem Vollzug und dem des failed state. Hierbei soll Somalia im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Somalia ist bei den United Nations als Mitgliedsstaat aufgeführt1 (vgl. UN o.J.: 8) – jedoch steht Somalia Jahr für Jahr an der Spitze des failed state Index, den die Zeitschrift Foreign Policy und der Fund of Peace ermitteln ( vgl. Traub 2010: 81). Es existiert eine somalische Regierung sowie eine somalische Botschaft in Deutschland, alles Dinge über die man landläufig sagen würde, dass sie einen Staat ausmachen (vgl. Fischer Weltalmanach 2013: 425). Die Berichterstattung über Somalia dominieren jedoch Berichte über Warlords, kriminelle Banden, ausufernde Gewalt, Terroristen und Piraten. Letztere werden als Bedrohung für den globalen Warenverkehr und damit die (Welt-)Ordnung des freien Marktes angesehen. Ebenso gilt – wie es der Überfall auf das Westgate Einkaufszentrum im September 2013 in Nairobi erneut deutlich unter Beweis gestellt hat – Somalia als Ausgangspunkt für terroristische Attacken, da dort die Möglichkeit des Unterschlupfs, der (Re-)Organisation, der Planung und des Trainings von terroristischen Attacken bestehe (vgl. Kronauer 2013: 20). In der vorliegenden Arbeit soll davon ausgegangen werden, dass der Staat weder eine gott- noch eine naturgegebene Konstante darstellt. Sondern, dass es sich um eine Konstruktion von und durch Menschen handelt, auch wenn der einzelne Mensch sich ihm als ohnmächtig gegenüberstehend ansieht und sich als ‚Spielball‘ seiner empfindet2. Der Staat ist eine menschliche Konstruktion, die sich durch menschliches Handeln und Denken, wenn auch zumeist unbewusst, vollzieht und darin begründet ist, und der aufgrund dessen auch entsprechend labil und fragil ist. Das Horn von Afrika wird als die ‚Wiege der Menschheit‘ angesehen, das auch die (kulturelle) ‚Drehscheibe‘ zwischen dem afrikanischen und dem (süd-)arabischen Raum darstellt. Aber es gilt eben auch als chronische Krisenregion, die geprägt ist von Hunger, Krieg und Flüchtlingselend; als das Armenhaus Afrikas und der sogenannten Dritten Welt und somit als eine der ärmsten Region auf der ganzen Erde überhaupt; als ein blutiger Kriegsschauplatz, der von äußerst verheerenden Staaten- wie auch Bürgerkriegen und Unabhängigkeitskämpfen heimgesucht wurde und wird. Die Geschehnisse, die diese Region erschütterten, waren zumeist verwirrend und schwer zu durchschauen. Ein Land, das am Horn 1
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Dabei werden als Mitglieder der UN alle souveränen Staaten der Welt (mit Ausnahme der Republik China, des Kosovos und der Vatikanstadt) gezählt – ebenso sind die Demokratische Republik Sahara und die Türkische Republik Nordzypern keine Mitglieder (vgl. Fischer Weltalmanach 2013: 578). Ähnlich wie Herr K. in Kafkas Roman „Der Prozess“ (Kafka 1999).
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Einleitung
von Afrika liegt, ist Somalia, es liegt auf der Somali-Halbinsel – seine Bewohner, die Somalis, zeichnen sich gegenüber anderen Völkern, die am Horn von Afrika leben, durch ein besonders stark ausgeprägtes ethnisch-kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl aus3. Nach den gängigen entwicklungspolitischen und sozioökonomischen Maßstäben und Kriterien gehört Somalia zu den ärmsten und rückständigsten Staaten der Erde. Somalia gilt als eine Gesellschaft ohne Staat, deren Mitglieder zum großen Teil eher schlecht als recht in unsicheren Verhältnissen leben und überleben. (Vgl. Matthies 1997: 9ff., 16, 18, 20, 51,110) „Der Staat ist nicht selbstverständlich.“ (Bakonyi 2011: 10) – so leitet Jutta Bakonyi ihr Werk „Land ohne Staat“ (Bakonyi 2011) ein, ein Werk über Somalia. Der Zusammenhang zwischen der Frage nach Staat(-lichkeit) und Somalia ist ein enger; dies aufzuzeigen ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit. Somalia gilt als „ein Land ohne Staat, ohne Regierung und [...] ohne Zukunft“ (Engelhardt 2012: 8) – ein failed state, der (dadurch) einen faszinierenden Sonderstatus für Journalisten (und weitere) einnimmt (vgl. Engelhardt 2012: 8), denn: „[e]in gescheiterter, zerfallener Staat, das gibt es nur einmal auf der Welt“ 4 (Engelhardt 2012: 8). Ein Ort, an dem nicht einmal eine eigentlich neu gewählte Regierung residieren kann/ mag – und so statt in Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, in einem anderen Staat, in Kenia, sich niederließ (vgl. Sheikh / Weber 2010: 9). Somalia gilt als „a testament to the persistence of state pathology and the weakness of the powers the world community can bring to bear“ (Traub 2010: 81). Dennoch bleibt das Denken und Handeln der internen und externen Akteure in bzw. für Somalia konzentriert auf Staatlichkeit: „Die Idee des modernen Staates erweist sich auch in Somalia als langlebig und enorm machtvoll. Obwohl der somalische Staat 1991 faktisch zu existieren aufhörte, bleibt er, wenn auch als Imagination, in den Handlungen, Deutungsmustern und Rechtfertigungen vieler somalischer Kriegsakteure ebenso präsent wie in den Programmen internationaler Geber.“ (Bakonyi 2011: 15).
Obwohl der Staat nicht (mehr) existiert, und das im Falle Somalias seit geraumer Zeit, hat sich dennoch der Staat bzw. die Idee des Staates tief in den Köpfen der Menschen verankert (vgl. Bakonyi 2011: 16). Seit Mitte der neunziger Jahre beschäftigen sich die Sozialwissenschaften wieder verstärkt mit der Thematik des Staates und der Staatlichkeit, vor allem auch deswegen, weil seine Zukunft in Frage gestellt wird – sei es auf theoretischer Ebene, wie es verschiedene postmoderne/ poststrukturalistische Theoretiker bzw. Theoretiker des global governance-Ansatzes tun, oder auf ‚praktischer‘ Ebene – so werden auf verschiedenen Erdteilen Staat und Staatlichkeit durch zunehmende Kriminalität, Bandenwesen und -gewalt, bewaffnete Konflikte und (Bürger-)Kriege herausgefordert (vgl. Bakonyi 2011: 10). Die Entwicklungen in Somalia Anfang der neunziger Jahre wird ebenso dazu beigetragen haben, dass die Sozialwis3 4
Weiteres dazu in Kap 6.4. Diese Aussage (Engelhardts Buch erschien 2012), ist durchaus mit Einschränkungen zu begegnen, verwiesen sei hierbei z.B. nur auf Syrien.
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senschaften sich wieder vermehrt mit der Thematik Staat und Staatlichkeit, und vor allem mit dessen Fragilität (und letztendlich auch dessen Erosion) auseinandergesetzt haben. Somalia gilt hierbei als der „[t]he original failed state“ (Traub 2010: 80). Samuel P. Huntington stellt in seinem Werk „Kampf der Kulturen“ (Huntington 1998) die Geschichte, die Konkurrenz und die (möglichen) Konflikte von Kulturkreisen dar. Er prophezeite 1993: „The next world war, if there is one, will be a war between civilizations.“ (Huntington 1993: 39). Die maßgebliche Gefahr sieht er aber in dem größeren und eigentlichen Kampf, dem zwischen Zivilisation und Barbarei. Die Barbarei zeigt sich in der Auflösung von Recht und Ordnung, sie findet ihren Ausdruck in den failed states (vgl. Huntington 1998: 530). „Weltweit scheint die Zivilisation in vieler Hinsicht der Barbarei zu weichen, und es entsteht die Vorstellung, daß über die Menschen ein beispielloses Phänomen hereinbrechen könnte: ein diesmal weltweites finsteres Mittelalter.“ (ebd.). Inwiefern Somalia ein Bestandteil dieses Szenario ist, soll im Folgenden diskutiert werden. Die (deutsche) Schreibweise von übernommenen somalischen Begriffen wird oft recht unterschiedlich gehandhabt – ich habe versucht, diese so weit wie möglich in der vorliegenden Arbeit zu vereinheitlichen und ggf. entsprechend anzupassen. Der Begriff Somalia wird in der vorliegenden Arbeit benutzt werden, auch wenn der Staat Somalia zerfallen ist oder auch auch in Bezug auf Geschehnisse, die sich vor der Gründung des Staates Somalia ereigneten. Gemeint ist damit die Region am Horn von Afrika, die als Somalia – unabhängig von der staatlichen Verfasstheit – bezeichnet wurde und wird. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der (deutschsprachigen) Literatur, die über Somalia vorliegt, ist entweder davon geprägt, dass damit offenbar (politische) Absichten bezweckt werden oder dass sie eher an eine Art ‚Abenteuerroman‘ erinnern. Diesem Umstand versuchte ich durch eine breite Lektüre entgegenzuwirken und die wesentliche Geschehnisse, Vorgänge etc. herauszuarbeiten. Das Thema Somalia ist immer noch hochaktuell und beständig im Wandel begriffen. Eine (systematische) Darstellung von Ereignissen kann jedoch immer nur im Nachhinein stattfinden – aufgrund dessen kann eine Arbeit, wie sie hier an dieser Stelle vorliegt, auch nicht die neusten Entwicklungen und Geschehnisse berücksichtigen. In dem folgenden Kapitel 2 werde ich zunächst einen kurzen Abriss zur Geschichte Somalias liefern, dabei soll ein weiter Bogen von der frühen Geschichte Somalias bis in die jüngste Zeit gespannt werden. Dabei werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Kapitel 3 soll eine historisch-genealogische Hinführung an die Thematik des Staates leisten. Es soll dabei betrachtet werden, wie sich der Staat historisch (aus-)gebildet hat, was die Voraussetzungen und die Bedingungen dafür waren und wie er sich etablieren konnte. Ebenso soll dabei Beachtung finden was Staatlichkeit ausmacht – deswegen wird auch ein besonderes Augenmerk auf die Herausbildung und Konstitution von Souveränität gelegt werden.
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Da Somalia – wie obenstehend bereits deutlich gemacht – immer wieder die Attribuierung eines failed state zukommt, sogar die des „[t]he original failed state“ (Traub 2010: 80), wird zunächst mit einer Begriffsklärung begonnen werden. Dies soll in Kapitel 4 erfolgen. Zentraler Fluchtpunkt soll dabei der in Kapitel 3 herausgearbeitete Kern von Staatlichkeit, die Souveränität, sein. Ihre Dialektik und letztendlich ihre Auflösung sollen dabei zum betrachtenden Gegenstand gemacht werden. Dies schließt neben Betrachtungen zu Gewaltorganisationen, die das staatliche Gewaltmonopol herausfordern bzw. bekämpfen und den daraus möglicherweise resultierenden Kulminationspunkt des Bürgerkriegs, auch Exkurse zur Verdrängung von Souveränität in der Theoriebildung und der Verdrängung von Souveränität in der Form des Behemoth mit ein. Da Staatlichkeit nicht im ‚luftleeren Raum‘ existiert, sondern selbst sowohl voraussetzungsvoll ist wie auch Voraussetzungen schafft, sowohl andere Bereiche bedingt wie auch in einem Spannungsverhältnis zu anderen Bereichen steht und letztendlich auch von anderen Bereichen bedingt oder auch in ihrer Existenz gefährdet wird, soll auch das Milieu der Staatlichkeit betrachtet werden. Die Akzentuierungen sind auch dahingehend gesetzt bzw. gewählt, dass sie später in Hinblick und in Bezugnahme auf Somalia aufgegriffen und betrachtet werden können. Es sollen dabei die Bereiche des Rechts, der Ökonomie, der Nation, der Religion und des Bereichs von Individuum und Familie betrachtet werden. In weiterer Fortführung zu den Darstellungen in Kapitel 3 werde ich in Kapitel 4.2.1 zunächst näher auf das Recht eingehen und aufzeigen, wie eng Recht und Staatlichkeit miteinander verbunden, sind. Ebenso werde ich dabei den Zusammenhang von Recht und warenförmiger Vergesellschaftung näher herausstellen sowie das Verhältnis von Recht und Sharia ausloten. Gegenstand des Kapitels 4.2.2. ist die Ökonomie. Die kapitalistische Ökonomie steht in einer engen – nicht einseitig auflösbaren Beziehung – zu Staatlichkeit und Recht. So sollen in diesem Kapitel die (Mechanismen der) warenförmige(n) Vergesellschaftung und ihre Voraussetzungen dargestellt werden. Ein besonderes Augenmerk kommt dabei ihrer Genese zu. In Kapitel 4.2.3. soll das Konzept der Nation betrachtet werden. Gerade Staat und Nation stehen (heute) in einem Zusammenhang, der fast nicht auflösbar zu sein scheint. Es ist ein unterstützendes wie zugleich spannungsgeladenes Verhältnis. Wie in Kapitel 3 aufzeigt, ist das Verhältnis von Staat und Religion stets ein sehr spannungsgeladenes, aber (dadurch) auch ein sehr inniges. Erst durch das Herauslösen aus der Dominanz der Kirche (als Ausdruck von Religion) wurde der (weltliche) Staat möglich, erst in der Trennung kam er zu sich selbst, und aus diesem Spannungsverhältnis erwuchs erst die Freiheit für das Individuum, wie wir sie heute kennen. Diese Herauslösung fand aus der christlichen Kirche heraus statt, der islamische Raum hat an diesem Prozess nicht partizipiert. Eine Diskussion dessen findet in Kapitel 4.2.4. statt. Ebenfalls in einem engen Zusammenhang zum Staat steht die Familie, wie ich in Kapitel 4.2.5. aufzeigen werde, auch wenn diese sich antagonistisch zu jenem ausagieren kann. Zentrales Subjekt für den Staat, das Recht und die warenförmige
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Vergesellschaftung ist das einzelne Individuum, sie bedürfen seiner als Grundlage und Voraussetzung, (re-)produzieren es zugleich aber auch. Dabei wird von den konkreten Eigenheiten in der Erscheinung des Individuums abstrahiert – sei es Hautfarbe oder auch Geschlecht. Das darauffolgende Kapitel 5 wird den Rahmen auf das (subsaharische) Afrika erweitern und die Frage nach Staatlichkeit und Protostaatlichkeit in Afrika stellen. Dabei wird zunächst die sozialen Formierungen in Afrika jenseits von Staatlichkeit betrachtet werden. Durch die Kolonisierung Afrikas von überwiegend europäischen Mächten änderte sich (nachhaltig) das Gefüge sozialer Ordnung und das dortige soziale Ordnungsdenken. Diesem soll Rechnung getragen werden, indem postkoloniale Staatlichkeit in Afrika betrachtet werden soll. Kapitel 6 stellt das zentrale Kapitel dieser Arbeit dar. In ihm und mit ihm soll die Betrachtung von Staat und Staatlichkeit sowie des Milieu der Staatlichkeit in Bezugnahme auf Somalia stattfinden – Elemente des Staatsaufbaus wie des Staatszerfalls sollen darin Berücksichtigung finden. In Kapitel 6.1. werde ich die Souveränität und ihre Erosion in in Somalia untersuchen. Dabei betrachte ich die Praxis des Irregulären, wie sie sich in Somalia ausagierte, so werden die Gewaltgruppierungen in Somalia und ihre Auseinandersetzungen mit dem Staat und untereinander im somalischen Bürgerkrieg, betrachtet werden. In den Kapiteln 6.2. bis einschließlich 6.6. sollen sodann die verschiedenen Punkte, die in Kapitel 4.2. aufgezeigt sind, mit den Verhältnissen in Somalia in Bezug gesetzt werden. Diese Punkte sollen dabei mit der Situation in Somalia (ggf. kontrastierend) verhandelt werden. Den Abschluss eines jeden dieser Kapitel bilden zusammenfassende Betrachtungen. Dadurch mögen sich Redundanzen mit dem Fazit ergeben, aufgrund des Umfangs der Arbeit scheint mir dies jedoch die gebotene Vorgehensweise darzustellen. Zunächst werde ich dabei die Punkte Recht und Ökonomie, wie ich sie in Kapitel 4.2. entwickelt habe, mit Somalia in Bezug setzen. Danach den Punkt der Nation, der gerade in Hinblick auf Somalia von besonderem Interesse ist – da sich Somalia in diesem Punkt, wie oben bereits angedeutet, von vielen anderen Ländern in Afrika unterscheidet. Daran anschließend wird der Punkt der Religion in Bezug auf Somalia betrachtet werden. Gerade im Hinblick auf Staatlichkeit ist in Somalia, als islamisch geprägtes Land, die Thematik der Religion von besonderem Augenmerk. Genealogische Strukturen spielen und spielten in Somalia eine große Rolle, wie es auch schon in den Kapiteln zuvor deutlich werden wird. In Kapitel 6.6. findet daher gehend eine Betrachtung von Individuum und Familie in der somalischen Gesellschaft, gerade unter der Bezugnahme zu Staat und Staatlichkeit statt. Ebenfalls soll in diesem Kapitel die Situation der Frauen in Somalia betrachtet werden. Das Kapitel 6.7. wird sich schließlich einer Betrachtung der Sezessionsbestrebungen in Somalia widmen. Sezessionsbestrebungen stellen immer eine Bedrohung von Souveränität und damit von Staatlichkeit dar, sind doch Souveränität und Staatlichkeit (zumindest bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt weitestgehend bis ausschließlich) an Territorialität gekoppelt.
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Einleitung
Daran schließt sich das Fazit an, in dem die verschiedenen Punkte zusammengeführt werden und mit der Frage nach Staatsaufbau und Staatszerfall in Somalia abschließend diskutiert werden sollen.
2. SOMALIA – EIN HISTORISCHER ABRISS Die folgende Darstellung kann nur eine verkürzte sein, dennoch sollen wichtige Punkte der historischen Entwicklung Somalias skizziert werden. Der Fokus liegt hierbei auf der jüngeren Geschichte Somalias, da sie vorrangig und exemplarisch für den in der vorliegenden Arbeit bearbeiteten Themenkomplex steht. Da jedoch viele dieser Punkte in Kapitel 6 (wieder) aufgegriffen werden, wird es im vorliegenden Kapitel auch immer wieder zu Auslassungen kommen, um Redundanzen im höheren/ größeren Ausmaße zu vermindern. Somalia liegt, wie bereits erwähnt, am Horn von Afrika und somit im östlichsten Teil Afrikas, nur durch eine Meerenge1 von der Arabischen Halbinsel getrennt. Es enthält einen großen Anteil an Fläche, welche direkt am Meer liegt; dieser Küstenstreifen ist 1800 Kilometer2 lang. In der Breite ist Somalia zwischen 220– 350 Kilometern, was letztendlich eine Gesamtfläche von 637657 Quadratkilometern ausmacht. Die Somalis teilen sich auf in sechs große Clan-Familien 3 – sie lebten überwiegend als Hirtennomaden, entsprechend sind auch ihre segmentäre Sozialstruktur und die materielle Kultur, die ihnen zu eigen ist, stark von den Erfordernissen eines Wanderlebens, das stets unstet ist, geprägt (vgl. Matthies 1997: 20f.; Fischer Weltalmanach 2013: 425; Bakonyi 2011: 91). Die pastoral-nomadische Kultur der Hirtennomaden war in numerischer und soziopolitischer Hinsicht die dominierende. So waren es vor allem die im Norden und Zentralsomalia anzutreffenden sehr kargen Umweltbedingungen, die die Herausbildung dieser pastoral-nomadischen, nicht-sesshaften Lebens- und Wirtschaftsweise beförderten und bewirkten, im Süden war es dagegen möglich, Landwirtschaft zu betreiben. (Vgl. Höhne 2002: 11f.) „Insgesamt lässt sich eine grobe Zweiteilung der präkolonialen Somali-Gesellschaft in vornehmlich pastoral-nomadische lebende Gruppen im Norden und weitgehend sesshafte, Landwirtschaft betreibende Gruppen im Süden erkennen.“ (Höhne 2002: 12)4.
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Was oftmals eine große Rolle spielt, wie im Verlauf der Arbeit noch aufgezeigt werden wird; sei es bei der Islamisierung Somalias, sei es beim Handel oder sei es auch heutzutage bezüglich der Piraterie. Die Angaben dazu sind unterschiedlich: spricht Bakonyi (2011: 91) von einer Länge von 1800km, lautet die Angabe bei Becker (Becker 2009: 14) 3000km und wäre somit die längste Küste in Afrika. Zum Clanwesen und die damit einhergehende Umstände wird näher eingegangen in Kap. 6.6.2. Dies spiegelt sich auch genealogisch respektive im Clanwesen wider – die pastoral-nomadischen Clanfamilien werden unter die Abstammungslinie Samaale und die agropastoralistischen Clanfamilien unter Sab subsumiert. Auf diesen beiden Abstammungslinien basiert das Clansystem. (Vgl. Matthies 1997: 111)
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Somalia – Ein historischer Abriss
So wie es jedoch auch feste Ansiedlungen und Landwirtschaft im Norden gab, gab es Viehhaltung im Süden (vgl. Höhne 2002: 12). Der Fischer Weltalmanach 2014 beziffert die aktuelle Bevölkerung auf 10195000, die letzte Zählung fand jedoch im Jahr 1987 statt, mit damals 7114431 Einwohnern; Geburtsurkunden, Ausweise oder Kataster gibt es in Somalia schon lange nicht mehr (vgl. Fischer Weltalmanach 2013: 425; Engelhardt 2012: 161). Aufgrund dessen sind – laut Bakonyi – alle auf Somalia bezogene Daten und Statistiken als ungenau zu betrachten, die genannten Zahlen sind dahingehend nur als ungefähre Annäherungen zu verstehen; laut ihr rangieren die Schätzungen der Einwohner Somalias zwischen sechs bis acht Millionen. Davon leben etwa 24 Prozent in Städten, eine Million leben in Mogadischu, die somit größte Stadt, dicht gefolgt von Hargeysa5; die Einwohnerzahl der Hafenstädte Bosaso (im Nordosten) und Kismaayo (im Süden) hat sich seit Beginn des Krieges verdoppelt. Generell kann festgestellt werden, dass die (kriegsbedingten) Fluchtbewegungen Bewegungen in die Städte (hinein) sind, sofern sie nicht gänzlich außerhalb des Landes führen. (Vgl. Bakonyi 2011: 90ff.) Mit dem Af-Somaali verfügen die Mehrheit derer, die auf der Somali-Halbinsel leben und sich als ethnische Somalis verstehen, über eine gemeinsame Sprache. In Ermangelung einer eigenen Schriftsprache wurde und wird eine starke orale6 Tradition gepflegt – der Dichtkunst kommt innerhalb der somalischen Kultur eine große Bedeutung zu (vgl. Matthies 1997: 21; Höhne 2002: 28; Bakonyi 2011: 91). Auf der Somali-Halbinsel ist eine Dominanz des (sunnitischen) Islams auszumachen (vgl. Matthies 1997: 18; Bakonyi 2011: 91). 2.1. FRÜHE GESCHICHTE UND ISLAMISIERUNG Auch wenn die Geschichte des Horn von Afrika seit langer Zeit (untrennbar) mit der Geschichte der (heutigen) Somalis verknüpft ist, sind sie wohl nicht die originären Bewohner dessen. Über Geschehnisse und Entwicklungen, die auf der somalischen Halbinsel stattfanden, bevor die Kolonisierung dort einsetzte, lässt sich nur schwer etwas (aus-)sagen, die Rekonstruktion ist ungenau und bruchstückhaft. Es wird vermutet, dass Nomaden, die dem äthiopischen Hochland entstammten, seit schätzungsweise 1000 v.Chr. die somalische Halbinsel bevölkerten. (Vgl. Bakonyi 2011: 92; Sheikh / Weber 2010: 11) Nach dem eigenen Selbstverständnis der Somalis stammen sie aus der Qureysch-Linie des Propheten Mohammed ab – was sich patrilinear zurückverfolgen ließe; dies spiegelt sich in entsprechender Weise in der Kultur und dem Glau5 6
Hargeysa ist die Hauptstadt der Republik Somaliland, die sich 1991 abgespalten hat, jedoch nicht international anerkannt ist; es wird noch weiteres darüber in Kap. 6.7. ausgeführt werden (vgl. Bakonyi 2011: 92). Die Sprache der Somalis ist den kuschitischen Sprachen zuzuordnen (vgl. Matthies 1997: 18); wobei sich im Süden Somalias ein abweichender Dialekt (Af-Maymay) gebildet hat – im Gegensatz zu den anderen Landesteilen (Af-Somali). Dies mag gegebenenfalls mit dem obenstehend Angeführten zusammenhängen.
Frühe Geschichte und Islamisierung
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ben der Somalis wider. Aber auch wie und wann genau der Islam nach Somalia kam, ist nicht ganz zweifelsfrei zu bestimmen. Es kann jedoch mit einer sehr hohen Sicherheit gesagt werden, dass der Islam über die Küste nach Somalia gelang. Mitgebracht von Bewohnern der Arabischen Halbinsel, die aus religiösen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gründen einwanderten – während es anfangs noch hauptsächlich wirtschaftliche Gründe waren, waren es mit/ nach der Entstehung des Islam dann die religiösen, die aber zugleich – aufgrund der Streitigkeiten zwischen den arabischen Herrschern – auch politische waren7. Manche Darstellungen verweisen darauf, dass im 7. Jahrhundert n. Chr. sich Händler, Priester, Krieger und Nomaden, die von der arabischen Halbinsel stammten und dem islamischen Glauben anhingen, entlang der Handelswege im nordöstlichen und östlichen Afrika niederließen und dabei am Golf von Aden und am Indischen Ozean die ersten arabisch-somalischen Hafenstädte gründeten. Andernorts ist davon zu lesen, dass im 9. Jahrhundert n. Chr. Araber, die an der Küste ansässig waren, Harar auf dem äthiopischen Plateau erreichten und dort mehrere Sultanate gründeten; dabei machten arabische Händler den Islam bekannt: bei ihren Bediensteten, bei ihren Handelspartnern oder eben auf dem Markt bzw., damit verbunden, in Marktdörfern. Dort wurden Produkte, die aus dem ostafrikanischen Hinterland (ent-)stammten, mit denjenigen, von der arabischen Halbinsel oder aus anderen Orten des Orients getauscht. In diesem Zusammenhang heirateten arabische Händler auch somalische Frauen und begründeten damit ein Konzept von arabisch-muslimischer Somali-Verwandschaftsidentität. Die Somalis nahmen beträchtliche Anleihen beim Islam und bei der arabischen Sprache. Sie praktizierten eine pastoral-nomadische Lebensweise, durch diese und den damit verbundenen ausgedehnten Wanderungen, wurde die Islamisierung der Somalis beschleunigt und der Islam verbreitete sich rasch8. Waren es zunächst die nordöstlichen Regionen, in denen sich die Migranten von der arabischen Halbinsel niederließen und in denen eine Islamisierung stattfand, breitete sich der Islam dann im 11. Jahrhundert, durch eine Wanderbewegung der zum Teil assimilierten afrikanischen Urbevölkerung des Nordostens, schließlich auch im Süden aus. Dort kam es dann auch zu einer Verschmelzung mit der dort – im Süden – lebenden Bevölkerung, den Galla. Überhaupt war die Region um das Horn von Afrika auch immer durch den Kampf zwischen Muslimen und Christen geprägt – die muslimischen Sultanate grenzten direkt an das mächtige und altehrwürdige Äthiopien bzw. Abessinien, das christlich geprägt war9. (Vgl. Lapidus 1991: 532; Bakonyi 2011: 92; Sheikh / Weber 2010: 11f.) 7 8 9
Auch darin zeigt sich, dass im Islam (und natürlich nicht nur ausschließlich dort) die religiöse und die politische Sphäre nicht so einfach und sauber voneinander zu trennen war/ist und eine Verschränkung beider stattfindet. Bei Bakonyi wird der Zeitraum der Islamisierung der Somalis im 8. und 9. Jahrhundert n. Chr. ausgemacht (vgl. Bakonyi 2011: 92). Dabei wäre nochmal gesondert zu betrachten wie das Christentum nach Äthiopien kam. Im Gegensatz zu anderen afrikanischen Staaten, in die das Christentum durch die Kolonisierung (und damit verbunden der Missionierung) kam – wurde Äthiopien nie kolonisiert. Das Christentum existiert dort schon sehr lange Zeit und hat auch eine eigenständige Entwicklung genommen.
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Somalia – Ein historischer Abriss
Wie erwähnt, wird in der somalischen Genealogie Wert darauf gelegt, dass ihre Abstammung von Arabern herrührt, vorzugsweise von der Familie des Propheten selbst. Ungeachtet der Zweifel ob der historischen Korrektheit dieses Anspruches, macht es jedoch ohne Zweifel deutlich, wie wichtig und bedeutsam die einstigen arabischen Immigranten waren, in Hinsicht darauf, dass sie einstmals den Islam an das Horn von Afrika brachten. (Vgl. Fisher 1970: 385) „Supposed tribal ancestors are revered as saints, and many other Arab missionaries are remembered.“ (ebd.). Somalische Städte und vor allem somalische Häfen stellten für die arabischen Händler wichtige Handelsstützpunkte dar, so wurde später auch ein Großteil des (arabischen) Sklavenhandels über Häfen in Somalia getätigt10, zu nennen wären hierfür: Zeila, Berbera, Merka, Mogadischu und Baraawe (vgl. Pankhurst 1961: 372). „Ab dem 16. Jahrhundert wurden somalische Küstenstädte zu Objekten wechselnder Eroberungen durch Portugal, Ägypten, das Osmanische Reich und Sansibar, die jeweils versuchten den Seehandel zu monopolisieren.“ (Bakonyi 2011: 93). Durch den Aufstieg, den Sansibar im 19. Jahrhundert erlebte, wurde der Karawanenhandel mit den (süd-)somalischen Küstenstädten ausgeweitet. Da diese Karawanen jedoch immer wieder durch Überfälle bedroht waren, fand eine Zusammenarbeit mit lokalen Clangruppierungen statt; dies begünstigte den Aufstieg der „Abaans“, Mittelsmänner, die bei den Clans hohes Ansehen genossen, die den Schutz durch die Clangruppierung mit den Händlerkarawanen vermittelten11. Die Nomaden, aber auch vor allem arabische und indische Händler ließen im südlichen Somalia Sklaven das dortige fruchtbare Flussland (agrikulturell) bearbeiten, damit die stetig steigende Nachfrage nach Getreide in den Küstenstädten befriedigt werden konnte. Dies hatte zur Folge, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zu Beginn der italienischen Eroberungen auf der somalischen Halbinsel, im Süden Somalias eine Plantagenökonomie blühte, die in puncto Produktionskapazität alles überstieg, was später im 20. Jahrhundert jemals folgen sollte. Die Fertigstellung des Suez-Kanals12 1869 lenkte letztendlich die (verstärkte) Aufmerksamkeit der Europäer in die Region – so wurde die Region zu einem Schauplatz von imperialen Rivalitäten – sowohl von europäischer, als auch von afrikanischer Seite aus. (Vgl. Bakonyi 2011: 93f.)
10 Durch die Ausweitung des Sklavenhandels und den Aufstieg der urbanen Händler, die auch den Aufstieg der Abaans mit sich brachte (weitere Ausführungen zu den Abaans sind untenstehend zu finden), sollte sich das soziale und lokale (Macht-)Gefüge im Süden Somalias beträchtlich wandeln (vgl. Bakonyi 2011: 93). 11 Dabei spielten sie jedoch oftmals selbst eine zwielichtige Rolle, so sollen sie für eigene Überfälle oder auch anderweitigen Betrügereien an den Händlerkarawanen bekannt gewesen sein (vgl. Bakonyi 2011: 93). 12 Dadurch wurden der Golf von Aden und das Rote Meer zu einer der wichtigsten Seehandelstrassen der Welt und des Welthandels – dies hält bis heute an, ohne diesen Umstand wäre das Problem der Piraterie vor Somalia quasi nicht-existent oder zumindest nur von geringer(er) Bedeutung (vgl. Bakonyi 2011: 93).
Kolonialismus
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2.2. KOLONIALISMUS Jutta Bakonyi macht als Startpunkt für das einsetzende imperiale Wettrennen um die somalische Halbinsel die Einverleibung der Hafenstadt Obock durch Frankreich aus, dies war im Jahre 1862. In Folge gab es mehrere verschiedene Mächte, die das Gebiet Somalias kolonisierten, dazu zählen: Großbritannien, Frankreich, Italien13, Ägypten (quasi stellvertretend für das Osmanische Reich zur damaligen Zeit) und Äthiopien (bzw. zur damaligen Zeit das Kaiserreich Abessinien). Durch die koloniale Aufteilung des Horn von Afrika wurden die Somalis in verschiedene Teileinheiten zerrissen – Ende des 19. Jahrhunderts wurden ihre Lebensräume zerstückelt: Die Ogaden-Region im zentralen Westen fiel Äthiopien zu, zu Großbritannien gehörten Britisch-Somaliland im Nordwesten und der Nördliche Grenzdistrikt Kenias im Südwesten, Frankreich erhob Anspruch auf die Französische Somali-Küste im äußersten Norden und Italien auf Italienisch-Somaliland, das von Nordosten bis Süden reichte. Die Bevölkerung nahm all dies (im Alltag) kaum wahr14. (Vgl. Matthies 1997: 21 u. 28; Höhne 2002: 26f.; Bakonyi 2011: 94) Dies änderte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als es zu einem Aufstand gegen die Kolonialherrschaft in Somalia kam, angeführt von Said Mohammed Abdille Hassan15. Er deklarierte diesen Aufstand als einen „Heiligen Krieg“ und nahm 1899 für sich in Anspruch, der Mahdi16 zu sein.
13 Italien wollte noch weitere Gebiete kolonisieren, so auch Teile Äthiopiens. Äthiopien konnte jedoch dieses Unterfangen militärisch stoppen und blieb somit eines von zwei Ländern in Afrika, die nicht kolonisiert wurden; im Gegenteil es kolonisierte – wie im Folgenden aufgezeigt – selbst. (Vgl. Bakonyi 2011: 94) 14 So errichtete England lediglich ein paar Handelsstationen für Frischfleisch an der Küste Nordsomalias (vgl. Bakonyi 2011: 94). 15 Von seitens der Engländer bekam er den Spitznamen „Mad Mullah“. Er wird dem OgadenClan zugeordnet, im Alter von 35 Jahren unternahm er eine Pilgerfahrt nach Mekka, wo er dem Derwischorden der Ssalihiya (einer Abzweigung der Achmediya) beitrat. Wieder zurück auf somalischem Gebiet, ließ er sich bei den Dulbahanta nieder, wo er im Sinne seines Lehrers des Derwischordens (Muhammed ibn Ssalich, dieser gründete auch den Derwischorden), dem er angehörte, für eine tiefere Religiösität unter den Muslimen warb und wirkte. Sowohl bei den Dulbahanta, als auch bei seinen eignen Verwandten, den Ogaden, gewann er großen Einfluß (vgl. Brockelmann 1943: 374). Derwischorden spielten und spielen heute immer noch im religiösen Leben der Somalis eine bedeutsame Rolle (vgl. Höhne 2002: 27). Heutzutage ordnet die islamistische Miliz Al-Shabaab den Sufismus und seine Praktiken als unislamisch ein und zerstörte die traditionellen Sufi-Schreine. Dadurch verloren sie deutlich an Rückhalt in der Bevölkerung. (Vgl. Bakonyi 2011: 344) 16 Da die Abfolge der Blutsverwandschaft des Propheten Mohammed (vermutlich) abbrach, konstituierte sich die Idee eines verborgenen Imams, „der als Mahdi die Welt zu richten kommen wird.“ (Jaroš 2012: 55). Diese Idee fand jedoch hauptsächlich nur im persischen Raum ihre Verbreitung. Er ist eine Endzeit-Gestalt (ähnlich der Gestalt des Messias), der die Menschen zu Gott zurückführen wird. (ebd.: 55 u. 169). „Selbst wenn für die Welt schon der letzte Tag angebrochen ist, wird Gott diesen Tag solange hinausziehen, bis der verheißene Mahdi gekommen ist und sein Werk der Gerechtigkeit vollendet hat.“ (ebd.: 169).
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Dieser Aufstand war das Produkt einer protonationalen 17, antikolonialen Widerstandsbewegung, die dem religiösen Traditionalismus verhaftet war. In der Folge davon machte Hassan zwei Jahrzehnte lang nicht nur den Engländern, sondern auch Italien und Abessinien, mittels seiner Kriegszüge viel zu schaffen. Auch dass ihm der italienischen Teil des Nugaltals als ihm eigenes Herrschaftsgebiet im Jahre 1905 überlassen wurde, genügte ihm nicht und er nahm 1908 erneut den Kampf und die Raubzüge auf. Während des Ersten Weltkriegs gelang es Italien ihn durch Verträge mit ihm feindlich gesonnen Stammeshäuptern in Nordsomalia einzudämmen. Letztendlich entschloss sich 1920 Großbritannien energisch gegen ihn vorzugehen und ließ von ihren Luftstreitkräften seine Stellungen ausschalten, anschließend verfolgten ihn englische Kamelreiter und somalische Verbündete der Briten. Hassan floh zu seinen Verwandten, den Ogaden und starb dort am 23. November 1920. „Sein Versuch, sein Volk über die alten Stammesrivalitäten hinweg auf religiöser Grundlage zu einigen, indem er wie der Machdi [sic!] im Sudan nur noch über die Derwische herrschen wollte, war schon 1905 erschüttert, als sein Lehrer in Mekka auf Betreiben der Engländer und Italiener ihn in den Bann getan hatte, so daß der andere unter den Somali verbreitete Orden, die Kadirija, ihn als Ketzer bekämpfen konnte.“ (Brockelmann 1943: 374).
Somit war Said Mohammed Abdille Hassan, der „Mad Mullah“, nicht mehr als irgendein anderer (selbsternannter) Anführer eines Clans, er war einer unter all den anderen und seine Anhänger folgten ihm nur, weil dies reiche Beute versprach. (Vgl. Matthies 1997: 112; Brockelmann 1943: 374) Italien wollte durch seine Kolonisierung von Teilen Ostafrikas seine Position im europäischen Wettrennen um Kolonien sichern bzw. sich überhaupt erst Geltung verschaffen. Eine Erschließung der von ihnen beanspruchten Gebiete fand jedoch erst wirklich während des Aufstiegs des Faschismus in Italien während der 1920er Jahre statt. Im Zuge dessen entwickelte sich ein weiterer Expansionsdrang Italiens in Ostafrika, wobei erneut Äthiopien Ziel der italienischen Aggression war. Die Kriegshandlungen verliefen blutig und grausam, sie waren begleitet von Massakern, Massenerschießungen und Giftgaseinsätzen. Im Zuge dessen eroberte Italien 1940 auch die britische Besitzungen auf der Somalihalbinsel; jedoch wurde Italien bereits 1941 von der britischen Armee, zusammen mit äthiopischen Widerstandsgruppen, in die Knie gezwungen, und so verließ Italien noch im selben Jahr das Horn von Afrika. Die ehemals italienischen Kolonialgebiete wurden nun unter britische Kontrolle gestellt und nach Ende des Zweiten Weltkriegs der Verantwortung der UN übergeben. Jedoch wurde von Seiten der UN das Land 1950 erneut unter den einstmaligen Kolonialmächten aufgeteilt; dieses Mal wurde – im Gegensatz zum 19. Jahrhundert – dies sehr wohl von einer großen Anzahl der Soma17 Der Protonationalismus spielt in der Nationalismustheorie Eric J. Hobsbawms eine tragende Rolle, er entwickelte die Idee des Protonationalismus aufbauend auf Andersons These der „imagined community“: Es existieren bestimmte Spielarten von kollektiven Zugehörigkeitsgefühlen, die (später) von nationalen Bewegungen (oder Staaten) mobilisiert werden konnten (vgl. Hobsbawm 2005: 59). Wie im (weiteren) Verlauf der Darstellung der somalischen Geschichte und auch in Kap. 6.4. deutlich werden wird, spielt dies in Somalia eine (ge-)wichtige Rolle.
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lis (ablehnend) wahrgenommen, es gab mittlerweile eine große Unabhängigkeitsbewegung, die sich (zudem) für die Vereinigung aller Gebiete, in denen Somalis wohnen, in einem Staat aussprachen und engagierten. (Vgl. Bakonyi 2011: 94f.) „In Reaktion auf die koloniale Herausforderung entfaltete sich auf der Grundlage der überkommenen ethnisch-kulturellen Homogenität der Somali ein moderner Nationalismus, der zunehmend politische Bedeutung gewann, nach Unabhängigkeit verlangte und in der Forderung nach einer politisch-staatlichen (Wieder-)Vereinigung aller im Horn von Afrika lebenden Somali in einem eigenen Staatswesen („Größeres Somalia“) gipfelte.“ (Matthies 1997: 113).
2.3. DIE JAHRE 1960–1969 Am 1. Juli 1960 entstand der (unabhängige) Staat Somalia – nachdem am 26. Juni Britisch-Somaliland und am 1. Juli der italienische Teil unabhängig wurden und sich beide Teile noch am gleichen Tag zur Republik Somalia vereinten (vgl. Bakonyi 2011: 90, 95; Matthies 1997: 43, 114; Sheik / Weber 2010: 19; Höhne 2002: 33). Die Vereinigung des Nordens und des Südens verlief nicht reibungslos, der Gegensatz war zu groß, es bedeutete ein Aufeinandertreffen von zwei massiv unterschiedlichen soziopolitischen und ökonomischen Systemen, die Folge dessen belastete die junge Republik und brachte das Problem politischer Instabilität mit sich. Sowohl politisch als auch ökonomisch war Nord-Somalia im Nachteil. Ein Großteil der neuen Verfassung, die bereits vor der Unabhängigkeit ausgearbeitet wurde, wurde im Süden ausgearbeitet – so dass die politischen Kräfte, die im Norden ansässig waren nur noch wenig Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich der Verfassung des neuen Staates Somalia hatten18. Ebenso war Mogadischu, die bedeutendste Stadt im Süden, eindeutig das Machtzentrum, während Hargeisa, das Zentrum des Nordens, marginalisiert wurde. Ein Großteil der Agrar- sowie auch der Industrieproduktion war im Süden angesiedelt19. (Vgl. Höhne 2002: 33f.; Sheikh / Weber 2010: 23) Dennoch gilt die Zeit nach der Unabhängigkeit als Somalias „Goldene Zeit“ (vgl. Engelhardt 2012: 13). Innerhalb der Regierung sollte neben einer regionalen Balance auch das Prinzip einer Clan-Repräsentation gewahrt werden (vgl. Höhne 2002: 33). Das parlamentarische Regierungssystem Somalias in den Jahren von 1960 bis 1969 gilt als ein bemerkenswerter Sonderfall innerhalb der Verfassungspolitik auf dem afrikanischen Kontinent dieser Zeit, so kennt es nämlich verhältnismäßig kaum autoritäre Maßnahmen zur Unterdrückung der Opposition (vgl. Matthies 1997: 117). Ab 1963 kam es zu einer komplexen Organisation des Militärs, welches mit einer modernen Bewaffnung ausgestattet war/ wurde. Zugleich formierten sich in den sechziger Jahren aber auch verschiedene Befreiungs- und Oppositionsbewe18 Entsprechend wurde die neue Verfassung im Juni 1961 nur von weniger denn 50% der Parlamentariern des Nordens ratifiziert, während die Parlamentarier des Südens sie mit überwiegender Mehrheit ratifizierten (vgl. Sheikh / Weber 2010: 23f.). 19 Eine Ausnahme bildete hierbei die Hafenstadt Berbera im Norden des Landes (vgl. Höhne 2002: 34).
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gungen, die einer Guerilla ähnlich agierten und operierten (vgl. Matthies 1997: 43). Gemäß den Bestrebungen der Somalis, als eine Nation in einem Staatsgebiet vereinigt zu sein20, unterstützte der somalische Staat Bestrebungen in den Siedlungsgebieten von Somali-Clans außerhalb des somalischen Staatsgebietes, gegen den dort herrschenden Staat aufzubegehren und vor allem auch gewaltsam gegen ihn anzugehen. So unterstützte der somalische Staat 1963 einen Aufstand von Somalis in den Ogaden, 1963–1967 unterstützte er einen Kleinkrieg der Somalis im Nordosten Kenias und 1964 führte er einen Grenzkrieg gegen Äthiopien. (Vgl. Matthies 1997: 114) Die Folge der Einbringung des traditionellen Clan-Systems in den modernen politischen Prozess führte dazu, dass die Clans um die Verteilung von Posten und allen möglichen anderen Dingen im Staat rangen und stritten. Die existierenden politischen Parteien waren maßgeblich von den Interessen der einzelnen Clans geprägt, dies hatte unter anderem zu Folge, dass die parlamentarischen Mehrheiten und damit auch die Regierungen extrem instabil waren. Eine exzessive Zuspitzung dieser Gemengelage führte dazu, dass die Parlamentswahlen 1969 Unruhen mit zahlreichen Toten auslösten sowie dass am 15. Oktober der damals amtierende Präsident Shermake ermordet wurde. Der Ausnahmezustand wurde verhängt – dieser dauerte fünf Tage an. (Vgl. Matthies 1997: 117; Engelhardt 2012: 15; Sheikh / Weber 2010: 27) 2.4. DIE JAHRE 1969–1991 Im Jahre 1969, eine Woche nach dem Attentat auf Präsident Shermake, fand eine (gewaltsame) Beendigung des Clanparteienstreits mittels eines Putsches des Militärs, angeführt von Siad Barre, statt. Nach dem fünftägigen Ausnahmezustand besetzte das Militär alle neuralgischen Punkte in Mogadischu, die Verfassung wurde suspendiert, die Nationalversammlung wurde aufgelöst, alle Parteien verboten und alle Parlamentarier wurden in Haft genommen, ebenso wurde der Höchste Gerichtshof aufgelöst. An der Spitze des Staates wurde nun das „Supreme Revolutionary Council“ (S.R.C.) installiert – angeführt von General Siad Barre, der auch als Präsident der Republik fungierte, flankiert von 24 Offizieren im S.R.C. Die darauffolgenden Jahre unter der Herrschaft von Siad Barre, können auch als eine Art ‚Entwicklungsdiktatur‘ verstanden werden, bei der eine Orientierung am Konzept eines „nachholenden nation-buildings“ ausgemacht werden kann. (Vgl. Heyer 1997: 8; Engelhardt 2012: 15; Sheikh / Weber 2010: 27f.) Die neue Militärregierung begann die somalische Gesellschaft, zerrissen durch die Clanstruktur (und die daraus entstehenden divergierenden Interessen), unter dem Anspruch einer ‚Revolution‘ umzugestalten – es sollte (damit) ein „sozialistischer Entwicklungsweg“ beschritten werden. Leitlinie dabei war der Siyadismus, er kann als eine Mischung aus egalitär-demokratischer Somalitradition, Islam, Marxismus-Leninismus und letztendlich Personenkult beschrieben 20 Darauf wird später in Kap. 6.4. näher eingegangen.
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werden, Barre stilisierte sich als „Vater der Nation“, neben sowjetischen und maoistischen Elementen und Anleihen diesbezüglich orientierte er sich dabei maßgeblich am Vorbild des nordkoreanischen Herrschers Kim Il Sung. (Vgl. Matthies 1997: 118; Höhne 2002: 40) Der S.R.C. trat 1976 zurück; Barre verkündete im Anschluss daran, die Gründung der „Somali Revolutionary Socialist Party“ (S.R.S.P.) – ebenso wie den Aufbau eines Politbüros und eines Zentralkomitees, die er in seiner Funktion als Präsident anführte21. Es fand damit eine Transformation von einer Militärdiktatur hin zu einer Einparteiendiktatur statt. (Vgl. Bakonyi 2011: 108; Sheikh / Weber 2010: 29) Siad Barre versprach den „wissenschaftlichen Sozialismus“, dabei will er „die Institution abschaffen, die seit jeher das Leben aller Somalis bestimmt: den Clan als wichtigste soziale Struktur“ (Engelhardt 2012: 16). Dies spiegelte sich auch auf allen Ebenen der Verwaltung wider, so sollte die verwandtschaftliche Tradition der Ämterbesetzung durch die Neubesetzung mit Militärs und Technokraten durchbrochen werden22 (vgl. Höhne 2002: 40). Waren bis dato sowohl Englisch als auch Italienisch und Arabisch in Somalia als Schriftsprache gängig, und galt bis dahin auch das Fehlen einer somalischen Schriftsprache als ein großes Problem, wurde 1972 Somali als Schriftsprache eingeführt23 – mit lateinischen Buchstaben (vgl. Matthies 1997: 118; Sheikh / Weber 2010: 28). 1974 war Äthiopien durch die dort stattfindende Revolution geschwächt (vgl. Matthies 1997: 114). Die Western Somali Liberation Front (WSLF), die für den Anschluss der Ogaden-Region an Somalia eintraten, kämpfte in der OgadenRegion gegen den äthiopischen Staat; dabei griffen 1977 somalische Truppen inoffiziell in das Kampfgeschehen ein, im Februar 1978 schließlich auch offiziell (vgl. Höhne 2002: 45). Im Ogadenkrieg zwischen Äthiopien und Somalia wurde die dortige Region letztendlich auch zu einem Krisenherd der damaligen Weltpolitik 24, eine nachhal21 So fungierte er nicht nur als Vorsitzender von Politbüro und Zentralkomitee zugleich, sondern er war auch ebenso der Generalsekretär des S.R.S.P. – er verfügte damit nahezu über die absolute Macht (vgl. Bakonyi 2011: 108). 22 Laut Höhne lässt sich sowohl der Umsturz selbst, als auch die darauffolgende Praxis clanpolitisch erklären, war doch der Marehan-Clan, dem Barre angehörte, bis dato politisch marginalisiert (vgl. Höhne 2003: 40). 23 Zur Wirkmächtigkeit der Verschriftlichung und zum Fortschritt, der daraus entsteht (bzw. entstehen kann) sowie zu Hemmnissen des Fortschritts die aus der oralen Tradition entstehen (können) – siehe: Diner 2007: 107–144. 24 War bis zur Revolution in Äthiopien die USA (seit 1953) wichtigster Verbündeter Äthiopiens, war es für Somalia, sowohl aus ideologischer wie auch militärischer und ökonomischer Sicht, die Sowjetunion (seit 1963). Im Zuge des Ogaden-Kriegs kam es zum Bruch zwischen der Sowjetunion und Somalia. Die Sowjetunion unterstützte fortan Äthiopien. Während des Ogaden-Krieg ließ die Sowjetunion Äthiopien Militärhilfe zukommen, ebenso wurde Äthiopien auch von Kuba massiv militärisch unterstützt, auch mit militärischen Truppen. Die Hinwendung Barres an die USA brachte nicht den erwünschten Erfolg, da die USA sich nicht so stark engagieren wollten, wie Barre es sich wünschte und auch dies nur unter der Bedingung, dass Barre sich von der (aktiven Durchsetzung der) „Greater Somalia“-Politik abwende. (Vgl.
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tige Umstrukturierung der (bisherigen) Verhältnisse der Region fand (dort) statt. Somalia erlitt letztendlich 1978 eine vernichtende Niederlage im Ogadenkrieg (vgl. Matthies 1997: 42, 115; Höhne 2002: 46). Diese Niederlage löste sowohl innenpolitisch eine Legitimations- als auch eine außenpolitische Orientierungskrise aus und kann somit letztendlich als der Anfang vom Ende der Herrschaft Siad Barres gesehen werden; aber nicht nur für Barre selbst kann diese Niederlage als ein Wendepunkt gelten, sondern auch für die Politik in der gesamten Republik Somalia kann dies als ein Wendepunkt in der Geschichte ausgemacht werden. Der Ausgang des Krieges wirkte als Auslöser und Katalysator für innersomalische Zwistigkeiten, die sich (dadurch) verschärften. Hinzu kamen der Niedergang der Wirtschaft und der schleichende Verfall des politischen Systems; durch die Flucht von hunderttausenden Somalis aus den Ogaden-Gebieten in die Republik Somalia waren die ohnehin schon sehr schwachen ökonomischen und politischen Strukturen noch einmal zusätzlicher Belastung ausgesetzt. Die innere Ordnung des Staates konnte nur noch durch massive und weit umfassende humanitäre Hilfe durch die internationale Gemeinschaft aufrechterhalten werden – zentraler Konflikt hierbei war die Kontrolle und damit die Verteilung dieser externen Zuwendungen. So kam es im April 1978 zu einem Putschversuch gegen Barre von Seiten somalischer Offiziere, die hauptsächlich dem Mijertein-Clan entstammten. Nachdem dieser misslang, flüchteten sie nach Äthiopien und gründeten dort die Somali Salvation Front (SOSAF); dies kann als Beginn der bewaffneten Opposition gegen das Regime von Siad Barre gesehen werden. In Folge des verlorenen Ogaden-Krieges kam es schließlich zum Auftreten weiterer bewaffneter Oppositionsgruppen. Das Regime reagierte mit immer stärker repressiven Mitteln und nahm immer stärker offen diktatorische Züge an, Somalia wurde immer mehr zu einem sogenannten Polizeistaat, in welchem Menschenrechtsverletzungen und Willkürakte zur Tagesordnung gehörten. Zahlreiche einflussreiche und bewaffnete Gruppen, die sich in Opposition zu Barre und dessen Regime sahen, wurden Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre gegründet, dabei standen vor allem Gruppen von exilierten Somalis in England und Saudi-Arabien Pate. (Vgl. Matthies 1997: 120 u.127; Höhne 2002: 46f.) Die (inner-)somalische Situation verschlechterte sich in den 1980er Jahren in nahezu allen Belangen25. Auf Druck des Internationalen Währungsfonds musste der somalische Staat regulierend in Bereiche eingreifen, die bisher weitestgehend autonom waren und die der Clan-Ökonomie zugeordnet waren. Dies schürte entsprechend auch politische sowie ökonomische Konflikte – es entstand eine Schattenwirtschaft (bzw. sie erlangte eine (wesentlich) größere Bedeutung), die seitens des Staates nicht mehr kontrolliert werden konnte. Angesichts dieser ökonomischen Misere und den außenpolitischen Erschwernissen und Problemen, erstarkte auf der (inneren) soziopolitischen Ebene wieder das Ordnungssystem der Clans Matthies 1997: 41; Höhne 2002: 45; Sheikh / Weber 2010: 35f.) 25 Dabei ist vornehmlich der Stopp von somalischen Vieh-Importen seitens Saudi-Arabiens zu benennen. Ein wichtiger und althergebrachter Handelszweig in Somalia. (Vgl. Höhne 2002: 47)
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und die Ausrichtung des Einzelnen darauf und darin. Dementsprechend kam es zu (weiteren) (innen-)politischen Fraktionierungen, was eine (weitere) Destabilisierung der (ohnehin schon fragilen bzw. prekären) staatlichen Ordnung und damit von Staatlichkeit an sich in Somalia zur Folge hatte. Innere Unruhen waren die Folge, ebenso kam es zu vereinzelten Umsturzversuchen. Die (wichtigen) bewaffneten Oppositionsgruppen26, wie die Somali Salvation Democratic Front (SSDF) oder das Somali National Movement (SNM) agierten im Clan-Ordnungssystem und waren (eindeutig) (Sub-)Clans zugeordnet – so war die SSDF dem DaroodSubclan der Majerten zugeordnet und das SNM gehörte zur Isaaq-Clanfamilie. Obwohl Barre einstmals (zumindest vordergründig) gegen die Clanstruktur als politisches Ordnungsinstrument vorgegangen war, versuchte er nun seine Macht dadurch zu erhalten, dass er sich das Clansystem selbst zu Nutzen machte. War er nach wie vor (immens) auf internationale Unterstützung angewiesen, war er innenpolitisch jetzt zudem von den einstmal bekämpften „tribalistischen Kräften“ auch abhängig. Er nutzte die Ungleichgewichte von Macht(-verteilung) innerhalb verschiedener Clans aus, um seine eigene Macht zu erhalten. Maßgeblich stützte er sich clanpolitisch gesehen auf die sogenannte M.O.D.-Allianz 27. (Vgl. Höhne 2002: 47f.) Im Jahr 1987, nach fast drei Jahrzehnten somalischer Staatlichkeit, zumindest auf formaler Ebene, wurden letztendlich die Spannungen zwischen den Clans – auch geschickt manipuliert von Seiten Barres – größer denn je; (auch) die M.O.D.-Allianz zerfiel Ende der 1980er Jahre. Es war somit letztendlich das Barre-Regime selbst, welches den Weg in den Bürgerkrieg wies. (Vgl. Höhne 2002: 49) 1988 kam es zum Friedensabkommen mit Äthiopien; dieser Friedensschluss besiegelte somit offensichtlich endgültig das Ende des Regimes Barres. Auch wenn die gesamten 1980er Jahre in Somalia als eine Art Zustand des latenten Bürgerkriegs bezeichnet werden können, war es doch erst das Jahr 1988, in dem es zu einem umfassenden Ausbruch von Gewalt kam und dadurch zum manifesten innersomalischen Bürgerkrieg28 wurde, der die Republik Somalia letztendlich zerstörte. (Vgl. Matthies 1997: 116, 129, 131; Höhne 2002: 49) In und an diesem diesem Bürgerkrieg, der bis heute quasi andauert, „offenbarte sich das Scheitern des Versuchs einer modernen Staaten- und Nationenbildung“ (Matthies 1997: 131). Als Gründe für dieses Scheitern führte Volker Matthies folgende Punkte an: Erstens gelang es nicht, das Clanwesen, das sich durch segmentäre und dezentrale Organisation auszeichnete, mit einem Staatswesen in Einklang zu bringen, das eben zentralistisch organisiert war. Ebenso gelang es nicht Loyalitätsstrukturen aufzubauen, die sich über einen einzelnen Clan hinaus erstreckten und somit übergreifend wären. Den zweiten Punkt sieht Matthies in der Existenz eines Nord-Süd-Gefälles, es gelang nicht, eine Integration des ehemals Britisch26 Näheres zu den verschiedenen Gewaltgruppierungen, die gegen Barre agierten, findet sich in Kap. 6.1.1. 27 M.O.D. steht für die Subclans der Marehan (diesem war Barre zugehörig), der Ogaden und der Dulbahante (vgl. Engelhardt 2012: 20). 28 Höhne sieht diesen Bürgerkrieg als einen „against-system conflict“ an (vgl. Höhne 2002: 50).
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Somaliland im Norden mit dem ehemals Italienisch-Somalia im Süden zu bewerkstelligen. Diese Problematiken evozierten zudem noch weitere. (Vgl. ebd.: 131f.) 2.5. DIE JAHRE AB 1991 Der somalische Staat wurde zum Schluss nur noch durch äußere Ressourcen gespeist und damit am Leben erhalten; nach Ende des Kalten Krieges, im Januar 1991, zerbrach der somalische Staat dann endgültig. Die Entscheidung fiel in der Hauptstadt Mogadischu – Siad Barre flüchtete am 26. Januar aus selbiger, spätestens damit war der Kampf um die (Regierungs-)Macht eröffnet. Nach dem Sturz Barres verschärften sich die ‚Diadochenkämpfe‘, die Kämpfe zwischen denen, die seine Nachfolge anstrebten, in Somalia zusehends. (Vgl. Matthies 1997: 9; Heyer 1997: 1f.; Höhne 2002: 50) Während der Warlord29 Mohammed Aideed sich der Verfolgung Barres widmete, wurde eine Interimsregierung mit Ali Mahdi an der Spitze gebildet. Die Interimsregierung unter Ali Mahdi bemühte sich um eine Einbeziehung aller Clankräfte, die von Relevanz waren – jedoch scheiterte dieses Vorhaben an den unvereinbaren Interessen der verschiedenen Oppositionsbewegungen. Somalia war spätestens ab 1991 ein Schlachtfeld interner Clankriege – bereits zu Beginn des Krieges ist der Staat vollständig und dauerhaft zerfallen. Im Süden kam es zu Fraktionierung der Kriegsparteien – waren es einstmals noch die Clans – schritt dies weiter zu den Subclans und schließlich dann zu noch kleineren Einheiten. (Vgl. Heyer 1997: 1; Höhne 2002: 51; Bakonyi 2011: 14) Zwischen den verschiedenen USC-Fraktionen30 (maßgeblich zwischen Ali Mahdi, der dem Abgal-Subclan angehörte, und Mohammed Aideed, der dem Habr Gidir-Subclan angehörte) entbrannte ein Kampf um Mogadischu, der die Stadt vollständig verwüstete. Die gesamte Region um die Hauptstadt wurde in Not und Chaos gestürzt. Die Kämpfe hinterließen das fruchtbare Hinterland, das Mogadischu besaß, zerstört und verwüstet, damit wurde die Bevölkerung in eine schwere Hungersnot31 gestürzt (vgl. Heyer 1997: 1). Die Region zwischen Mogadischu, Baido und Kismayo führte den Namen „Todesdreieck“, da diese Region massiv umkämpft war und immer wieder erneut von rivalisierenden und plündernden somalischen Kriegsparteien und Banden32 heimgesucht wurde, was letztendlich (maßgeblich) zur Hungersnot von 1992 beitrug (vgl. Matthies 1997: 52f.). Diese ganzen Umstände führten 1991 dazu, dass der alte, von 1960 an bestehende, Staat Somalia (wieder) in seine ehemals kolonialen Bestandteile zerfiel: die Regi29 Näheres zur Warlord-Figuration wird noch in Kap. 6.1. sowie in Kap. 6.3. ausgeführt werden. 30 Siehe zum USC: Kap. 6.1. 31 Dabei sind Hungersnöte zu verstehen als „soziale Katastophen, deren Ursachen im komplexen Geflecht zwischen Mensch und Natur, Ökonomie, Gesellschaft und Politik angesiedelt sind“ (Matthies 1997: 53). 32 Eine Unterscheidung zwischen einer somalischen Kriegspartei und einer Bande zu treffen, ist in erster Linie, meines Erachtens nach, wohl nur als ein sophistisches Unterfangen zu ver stehen – verschwimmt doch nicht nur ein Unterschied vollends, sondern ist bereits keiner vorhanden.
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on im Nordwesten Somalias, ehemals die britische Kolonie Britisch-Somaliland, erklärte sich zur unabhängigen Republik „Somaliland“33 – Clans des Nordens trieben seit dem Zerfall des somalischen Staates dessen Etablierung voran (vgl. Heyer 1997: 2; Matthies 1997: 110). Allein hier gelang aber der Wiederaufbau von staatlichen der zumindest staatsähnlichen Strukturen (vgl. Bakonyi 2011: 14). Die verfeindeten Clans traten sich erstmalig wieder bei einer Friedenskonferenz am 3.Januar 1993 in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba gegenüber. Die äthiopische Hauptstadt wurde u.a. deswegen als Austragungsort gewählt, da man sich von Äthiopien (politische) Unterstützung versprach. Dies lag vor allem darin begründet, dass dort mittlerweile die Tigray Peoples Liberation Front (TPLF) zur Herrschaft gelangt, und dadurch Meles Zenawi Ministerpräsident geworden war. Sowohl Meles Zenawi als auch die TPLF waren in ihrem Kampf gegen Mengistu von Somalia jahrelang gefördert worden. So fanden Zenawi und seine Mitstreiter in Mogadischu nicht nur eine Möglichkeit des Exils, wo sie von Somalia mit diplomatischen Pässen und Villen ausgestattet wurden, sondern so diente Somalia auch als (Ausgangs-)Basis für Aktionen gegen die damaligen äthiopischen Machthaber. Diese Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht – vielmehr wirkte Äthiopien destabilisierend, indem es mit einzelnen ausgewählten Clans gesondert Verhandlungen führte. Die Konferenz wurde dann auch baldigst am 5. Januar ohne jedwede Ergebnisse beendet. (Vgl. Sheikh / Weber 2010, 94f.) Ein paar Wochen später – vom 11. März bis zum 13. März – fand ebenfalls wieder in Addis Abeba – erneut eine Friedenskonferenz, mit über 1000 Somalis als Teilnehmern, statt. Diesmal unterstützte Äthiopien gleich öffentlich den Clan von Aideed – was bei den anderen Clans ein Gefühl von Benachteiligung hervorrief. Ebenso kam es von äthiopischer Seite wohl zu Versprechungen von Waffen und Geld für einzelne Clans34, angeblich auch gerade mit dem Ziel, eine Einigung zwischen den Clans (bewusst) zu verhindern. Auch diese Konferenz wurde wieder ergebnislos beendet. In Folge dieser gescheiterten Konferenz lud die äthiopische Regierung schließlich alle Clan-Anführer, die sich pro-äthiopisch ausrichteten, ein – um mit ihnen gemeinsam eine Strategie gegen die anderen Clans zu erörtern. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 95f.) Am 29. November 1993 fand schließlich eine weitere – die dritte – Friedenskonferenz in Addis Abeba statt. Da mittlerweile bekannt war, dass die äthiopische Regierung bestimmten Clans den Vorzug gab und sie in bestimmter Weise unterstützte, war diese Konferenz von einem hohen Maß an (gegenseitigem) Misstrauen bestimmt. Auch diese Konferenz endete wieder ergebnislos bereits nach einigen Tagen – am 3. Dezember – im reinen Chaos und hinterließ die Clans zerstrittener denn je zuvor. Sheikh und Weber ziehen das Resümee, dass der Ablauf dieser drei Konferenzen deutlich gemacht habe, dass Äthiopiens Machthaber kein Interesse daran besäßen, dass sich die Clans einigen, sondern dass sie an einem destabilisierenden Einfluss interessiert waren, in dem sie den Konflikt durch das 33 Näheres zu Somaliland wird in Kap. 6.7. ausgeführt. 34 Die Treffen auf denen diese Versprechen gegeben worden sein sollten, fanden im Geheimen statt, so dass andere Warlords, die UN und Vertreter der westlichen Staaten dies nicht mitbekommen hätten (vgl. Sheikh / Weber 2010: 95).
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Taktieren mit den Clans (noch zusätzlich) anheizten. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 96) Die nächste (große) Friedenskonferenz fand erst wieder im Sommer 2000 in Djibouti statt; finanziert wurde sie von Saudi-Arabien, den Vereinigten Emiraten und Italien. Der Unterschied zu den vorigen Konferenzen war, dass nicht nur Personen, die ihre Funktion darin sahen, ihren Clan zu repräsentieren, geladen waren, sondern auch Vertreter ziviler Organisationen und auch Somalis, die im Ausland lebten35. Dabei einigte man sich auf die Bildung eines Übergangsparlaments – die Mehrheit der Sitze (176) wurden den vier größten Clans zugesprochen, 25 Sitze den Frauen, 24 den verschiedenen Minderheiten und 20 für die Opposition, die nicht an dieser Konferenz teilnahm. Dieses Parlament wählte Abdiqasim Salad Hassan36 zum (Interims-)Präsidenten (für drei Jahre) – der wiederum Ali Khalif Galayd zum Ministerpräsidenten ernannte. Dies war die erste Regierung, die nach dem Sturz Barres, seitens der UN anerkannt wurde. Für den Aufbau der staatlichen Infrastruktur – in nahezu allen Belangen – wurde dringend Geld und andere Unterstützung benötigt. Von Seitens der westlichen Staaten kam diesbezüglich recht wenig, weshalb sich Präsident Hassan an die muslimischen Staaten wandte: Saudi-Arabien ließ daraufhin Somalia eine Finanzhilfe von 65 Millionen Dollar zukommen, der jemenitische Präsident versprach militärische Hilfe und forderte Ägypten und Libyen auf, ihm dabei zu folgen. Dies löste bei Äthiopien großes Unbehagen aus, konkret: die Befürchtung einer islamistischen Bedrohung. Aufgrund dessen und um Unternehmungen bezüglich eines „Greater Somalia“ im Voraus zu unterbinden, unterstützte Äthiopien schließlich die Machthaber von Somaliland und Puntland, die als ausgemachte Gegner der amtierenden somalischen Regierung galten. Dies führte dazu, dass am 2. März 2001 in der äthiopischen Hauptstadt das „Somalia Reconciliation and Restoration Council“ (SRRC) gegründet wurde – eine Sammlung aller Gegner der damals gegenwärtig amtierenden Regierung. So waren nicht nur die Machthaber Puntlands und Somalilands darin vertreten, sondern auch die Warlords Adan Gebjow und Osman Hassan Ali Ato. Die amtierende Regierung unter Hassan vermochte nicht das Land zu befrieden und unter ihre Kontrolle zu bringen, nicht einmal in Mogadischu vermochten sie dies; Einfluss konnte nur in den Stadtvierteln geltend gemacht werden, in denen die Warlords die Kontrolle ausübten, die der Regierung ihre Unterstützung zugesagt hatten. Die Regierung war somit nicht handlungsfähig – (staatliche) Souveränität somit nicht hergestellt. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 96ff.) So wurde in Nairobi, der Hauptstadt Kenias, schließlich erneut von Oktober 2002 an, zwei Jahre lang, verhandelt. Am Ende dieser Verhandlungen wurde der ehemalige Präsident Puntlands Abdullahi Yussuf (der Darood-Clanfamilie zugehörig) zum neuen Präsidenten gewählt – damit wurde auf einen Warlord gesetzt, der bereits seit 1977 aktiv an den (gewaltsamen) Auseinandersetzungen in Somalia 35 Es kamen keine Vertreter Puntlands oder Somalilands zu dieser Konferenz, in Somaliland wurde eine Teilnahme an dieser Konferenz von seitens des Parlaments gar als Hochverrat deklariert (vgl. Sheikh / Weber 2010: 97). 36 Dieser lebte zu diesem Zeitpunkt im Exil und war einstmals unter Barre Innenminister (vgl. Sheikh / Weber 2010: 97).
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beteiligt war. Die Parlamentssitze wurden wieder anhand der Clangrenzen verteilt: Darood, Hawiyee, Dir und Digle-Mirfile, die zu je gleichen Anteilen Sitze bekamen – die Hälfte der Sitze der Großclans gingen wiederum an die kleineren Subclans. Um auch in der Regierung alle Clans so zu integrieren, dass sich keiner benachteiligt fühlte, kam es letztendlich zu einem Regierungskabinett mit 91 Mitgliedern – diese hohe Anzahl wirkte sich entsprechend negativ auf die Handlungsfähigkeit der Regierung aus. Trotz dieser hohen Anzahl kam es zu Spannungen: da die Daroods den Großteil der bedeutenden Ministerposten unter sich aufteilten, fühlten sich die Hawiyee ob dessen benachteiligt, unter den Daroods kam es wiederum zu Spannungen, da der Subclan der Majerten mehr wichtige Posten zugeschlagen bekam als die anderen Subclans der Daroods, wie beispielsweise die Ogaden, Dulbahante usw. Trotz der ‚Breite‘ dieser Regierung verfügte sie über keine Machtbasis – dies zeigt sich auch darin, dass sie von Kenia aus versuchte Somalia zu regieren; erst nachdem Kenia 2005 massiv Druck ausübte, siedelten die Regierung und Teile des Parlaments nach Somalia über. Doch nicht nach Mogadischu, sondern zunächst nach Jawhar und dann nach Baidoa. Auch dieser Regierung gelang es nicht, Souveränität zu produzieren und (damit) einen Staatsapparat aufzubauen, und somit auch nicht das Land unter ihre Kontrolle oder Macht zu bringen. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 99f.) 2006 gelang es schließlich der Union Islamischer Gerichtshöfe 37, zunächst die Hauptstadt Mogadischu und schließlich weitere Teile von Zentral- und Südsomalia unter ihre Herrschaft zu bringen. Dass sie die Hauptstadt komplett einnehmen, und dabei alle Clan-Milizen in Schach halten konnten, war eine Überraschung für viele Beobachter – war dies doch seit 15 Jahren niemandem mehr gelungen. Es entwickelte sich erstmalig nach dem Sturz Barres wieder ein gewisses (Mindest-)Maß an Stabilität, die Clan-Milizen konnten erfolgreich bekämpft werden, die zahlreichen Straßensperren, an denen Wegzoll abgepresst wurde, verschwanden, in Mogadischu wurden Flughafen und Hafen wieder (erneut) in Betrieb genommen und es entspann sich wieder eine gewisse Art von Normalität im alltäglichen Leben, da die Gefahr eines plötzlichen gewaltsamen Todes auf den Straßen Mogadischus sich minimiert hatte. Im Herbst 2006 schätzten Beobachter die Lage in Somalia so ein, dass es der Union Islamischer Gerichtshöfe gelingen könnte, einen (Wieder-)Aufbau (quasi-)staatlicher Strukturen in Somalia zu leisten. Daran war dem Westen im Zuge des war on terror 38 nicht gelegen und er begann diejenigen Milizen zu unterstützen, die gegen die Union der Islamischen Gerichtshöfe und ihre Herrschaft bzw. ihren weiteren Vormarsch (an-)kämpften. Ende des Jahres 2006 marschierte letztendlich Äthiopien, das als der engste Verbündete des Westens im östlichen Afrika gelten kann, mit seiner Armee in Soma37 Näheres zur Union der Islamischen Gerichtshöfe, siehe im Kap. 6.5.1.2. 38 Für Engelhardt gilt es als ausgemacht, dass im Zuge des war on terror verdeckte Einheiten der us-amerikanischen Armee in Somalia verblieben und dort operierten (vgl. Engelhardt 2012: 137). Inwieweit verdeckte Einheiten dort verblieben sind oder nicht ist natürlich schwer auszumachen – dass die us-amerikanische Armee dort aber (zumindest unbemannte oder temporäre) Aktionen durchführt ist weitestgehend offensichtlich (siehe dazu beispielsweise den Tod Ayros (s.u.) – vgl. dazu ebenso Sheikh / Weber 2010: 107f.).
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lia ein, zerschlug die Herrschaft der Union der Islamischen Gerichtshöfe und unterband somit die deren angehende Etablierung. Die damalige somalische Übergangsregierung begrüßte die Intervention seitens Äthiopiens39; die Islamisten sahen die Intervention des christlich geprägten Äthiopiens als „Heiligen Krieg“ an, erklärten den Djihad gegen Äthiopien und riefen international Djihadisten zur Hilfe. Sharif Sheik Ahmed, der Anführer der Union Islamischer Gerichtshöfe, trat die Flucht an. Schwere Kämpfe zwischen somalischen Regierungssoldaten im Verbund mit der äthiopischen Armee und schwer bewaffneten Milizen erschüttern Mogadischu Ende Februar 2007; nicht nur die Union Islamischer Gerichtshöfe kämpfte dort, sondern auch zahlreiche andere Gruppierungen/ Milizen, die sich Vorteile oder ein Stück Macht im Zuge dieser Kämpfe erhofften 40. Diese Ungewissheit, um wen es sich in diesem Moment als Angreifer überhaupt handelt, zehrt an den Kräften der somalischen Übergangsregierung. Es zeigt sich auch, wie gut die Islamisten in der Lage sind – aus dem Untergrund heraus – eine destabilisierende Wirkkraft zu entfalten. Spätestens mit diesem Einmarsch wurde Äthiopien somit selbst zu einer Partei in diesem Bürgerkrieg. ‚Spielregeln‘ die ab und an ein Krieg kennen mag, sind in dieser Situation schon längst allesamt außer Kraft gesetzt. Im Rahmen des AMISOM-Blauhelm-Einsatzes wurden Anfang März 2007 die ersten ugandischen Soldaten in Mogadischu stationiert; für die Islamisten waren diese nur eine weitere Gruppe von ausländischen Besatzern. Den Krieg gegen die (radikalisierten) Islamisten (im speziellen Al-Shabaab) führten die äthiopischen Truppen, dabei wurden sie von den US-amerikanischen Einheiten unterstützt. Die Al-Shabaab-Kämpfer agierten ähnlich den islamistischen Kräften im Irak: Sprengsätze am Straßenrand, blitzartige Attacken und vor allen Dingen suicide attacks. Nach Verlautbarungen des US State Departments stellt AlShabaab zusammen mit Al-Qaida in Ostafrika die größte Bedrohung US-amerikanischer Interessen in dieser Region dar. Denn nach nicht einmal zwei Jahren nach dem Eingreifen der äthiopischen Armee in Somalia und der Zerschlagung der Herrschaft der Union Islamischer Gerichte durch selbige, beherrschen Al-Shabaab und die mit ihnen verbündeten islamistischen Gruppierungen nahezu das gesamte Somalia. Doch bald wandten sich manche Milizen auch gegen Al-Shabaab und eroberten beispielsweise Dörfer, die bis dato von Al-Shabaab kontrolliert wurden. Die äthiopische Armee zog sich schließlich im Januar 2009 aus Somalia zurück – eine maßgebliche Folge davon war, dass sich die bereits äußerst prekäre und gefährliche Lage der Gesetzlosigkeit in Mogadischu noch weiter verschärfte. Im Oktober 2011 marschierten im Süden Somalias kenianische Soldaten ein. (Vgl. 39 Die Zusammenarbeit der somalischen Übergangsregierung mit Äthiopien sorgte für große Verärgerung bei vielen Somalis, da sie Äthiopien als den Erzfeind betrachten und viele Somalis auch Angehörige und/ oder Freunde im Ogaden-Krieg gegen Äthiopien verloren hatten (vgl. Sheikh / Weber 2010: 103f.). 40 Mit dem Sturz der Union Islamischer Gerichtshöfe und der Flucht selbiger flammten die Kämpfe zwischen den einzelnen Clan-Milizen erneut auf. Die ‚altneuen‘ Warlords schickten sich an, das Machtvakuum, welches die Islamisten hinterlassen haben, zu ihren Gunsten zu nutzen, dazu plünderten sie auch die Waffenlager, die die Islamisten zurückließen. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 105)
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Kronauer 2013: 20; Engelhardt 2012: 120ff., 131ff., 233; Sheikh / Weber 2010: 101ff.)
3. DER STAAT – EINE HISTORISCH-GENEALOGISCHE HINFÜHRUNG „Irgendwo gibt es noch Völker und Herden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da gibt es Staaten. […] Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer.“ (Nietzsche 1930: 51). Das gesamte westliche politische Denken der Neuzeit – und damit im Unterschied zur Antike, dem Mittelalter und den nicht-westlichen Kulturen – hat unmittelbar den Begriff des Staates als Grundlage und kreist um selbigen in beständiger Permanenz. Im Staatsbegriff selbst verdichtete sich das (neuzeitliche) Ordnungsdenken und wurde zur Leitidee der Politik in der Neuzeit (vgl. Roth 2003: 9, 15). Der Staat ist zentrale Bezugs- und Ordnungsgröße gesellschaftlichen, sozialen und eben politischen Denkens und vor allem Handelns; bei allen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Anliegen wird der Staat stets mitgedacht, er ist der referentielle Ausgangspunkt, zugleich aber das Ziel. Am Staat kommt niemand vorbei. Und doch oder gerade deswegen findet in jüngster Zeit ein Abgesang auf Staat und Staatlichkeit statt. Carl Schmitt schrieb bereits 1963 anlässlich der Neuausgabe seines Werks „Der Begriff des Politischen“: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren. Mit ihr geht der ganze Überbau staatsbezogener Begriffe zu Ende, den eine europa-zentrische Staats- und Völkerrechtswissenschaft in vierhundertjähriger Gedankenarbeit errichtet hat. Der Staat als das Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, dieses Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus wird entthront.“ (Schmitt 2009: 10).
In jüngster Vergangenheit wird im Zuge der Diskussion über Globalisierung beständig ein Bedeutungsverlust von Staat und Staatlichkeit konstatiert – der Staat nunmehr nur noch als ein hilfloses Objekt im Weltgeschehen, beraubt jeder Möglichkeit der (eigenen) Gestaltung, der eigenen Macht; nur noch ein ‚Zombie‘, der willfährig und ohnmächtig die Wünsche und den Willen der Konzernchefs und Fondsmanager ausführt: „Der Eindruck verstetigt und verfestigt sich, er habe sich in einen Reparaturbetrieb verwandelt, der nur noch reaktiv auf Störungen der Kapitalzirkulation und der gesellschaftlichen Reproduktion antwortet“ (Roth 2003: 13)1. Jedoch ist es auch ein unwiderlegbares Faktum, dass (auch) in unseren Tagen Staatlichkeit, und damit auch der Staat selbst, massiv von einer Erosion betroffen 1
Doch spätestens die letzte Finanzkrise (und zum Teil auch die daran anschließende Wirtschaftskrise), die 2007 begann, zeigte m.E. auf, inwieweit der Staat weiterhin ein wichtiger und mächtiger Akteur ist, der Entscheidungen auch gegen die Wünsche und den Willen der Konzernchefs und Fondsmanager trifft und entscheidende Eingriffe in die ökonomische Sphäre vornimmt.
Der Staat – eine historisch-genealogische Hinführung
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ist; dass Staaten eben keine unzerstörbaren Felsen in der Brandung sind, wie ich im Laufe der Arbeit versuchen werde deutlich zu machen. Dabei herrscht die Meinung vor, dass „[v]iele der in der Dritten Welt nach europäischem Vorbild konstituierten Staaten [...] heute in sich zusammen[fallen] wie Kartenhäuser, da sie auf ethnischen Grundlagen errichtet wurden, die keinen Staat zu tragen vermögen.“ (Roth 2003: 12f.) – dass die hier benannte Ursache, nicht oder zumindest nicht immer die Ursache für Staatszerfall (in Afrika) ist, werde ich ebenso in der folgenden Arbeit versuchen aufzuzeigen. Es lässt sich jedoch auf alle Fälle festhalten, dass Staatszerfall, d.h. failed states, aber auch failing states und weak states und das damit einhergehende Machtvakuum heutzutage ein massives Problem darstellen. Nicht nur wie im Falle Somalias, aber auch bzgl. etlicher anderer Länder in Afrika, in Lateinamerika und dem Kaukasus. Auch in Europa selbst, wie man es an dem Zerfallsprozess des einstmals existierenden Staates Jugoslawien beobachten konnte oder gegenwärtig in der Ukraine, wo sich derzeit ähnliche Tendenzen bemerkbar machen, ist Staatszerfall eine existierende reale Problematik. Im Folgenden soll zunächst einmal eine nähere Betrachtung des Staates, seiner Genealogie, seiner ihm innewohnenden Dialektik und seinen zentralen Voraussetzungen, Bedingungen und der damit einhergehenden Zusammenhängen, stattfinden. Dabei kann der Staat jedoch nicht als Isoliertes, nicht isoliert betrachtet werden – der Staat steht nicht für sich alleine und kann auch nicht für sich alleine (be-)stehen. Der Staat befindet sich stets in einem doppelten Verhältnis: nach außen und nach innen, d.h. zu anderen Staaten und zur Gesellschaft; auch der Souveränitätsbegriff ist damit ein doppelter: sowohl innerstaatlich wie auch zwischenstaatlich (vgl. Voigt 2010: 127). 3.1. GESCHICHTE DES STAATES – SEINE VORAUSSETZUNGEN UND BEDINGUNGEN Es hat nicht immer einen Staat gegeben – es hat auch eine Zeit gegeben, in der kein Staat existierte (vgl. Lenin 1919: 60). Die Idee des Staates, der Drang zum Staat resultierte erst aus dem Scheitern der katholischen Erwartung heraus, dass es ein harmonisches Mit- und Gegeneinander von Papst und Kaiser, von Imperium und Sacerdotium gäbe, in dessen Gefolge es auch zu einer Bekehrung der ganzen Menschheit zum christlichen Glauben käme. Diese Vorstellung zerbrach und entpuppte sich als Illusion mit der Papstrevolution2 (vgl. Roth 2003: 384): „Die Morgendämmerung des Staates beginnt mit der Papstrevolution des späten 11. Jahrhunderts.“ (Roth 2003: 383); der Geburtshelfer, die Hebamme des modernen Staates war somit – wenn auch wider Willen – das Reformpapsttum. So entstand 2
Das, was bei Klaus Roth unter „Papstrevolution“ firmiert, wird gemeinhin als Investiturstreit bezeichnet – Papst Gregor VII. zerstörte den sakral-imperialen Herrschaftsanspruch und die Herrschaftsidee des salischen Kaiserhauses (vgl. Münkler 2004: 31).
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das Staatensystem Europas zwischen dem 11. und 17. Jahrhundert 3 (vgl. Roth 2010: 22), Francis Fukuyama nimmt als Fixpunkt für die Entwicklung des Staates die Festigung der Monarchien Frankreichs und Spaniens und kommt dadurch auf vier- bis fünfhundert Jahre; in China jedoch gäbe es bereits seit Jahrtausenden einen Staat (vgl. Fukuyama 2006: 13). Das Staatensystem Europas entstand durch die „Ausgrenzung der einzelnen Territorien aus dem übergeordneten Bezugssystem des mittelalterlichen Reiches (sacrum imperium), durch Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt in Händen von absoluten Monarchen und/ oder Parlamenten, die alle Machtmittel monopolisierten und so die Freisetzung der unpolitischen bürgerlichen Gesellschaft durch Entmachtung der alten Herrschaftsträger bewirkten“ (Roth 2010: 23).
Der Staat muss(-te) seine Souveränität gegen lokale oder partikulare Gewalten wie bspw. die Kirche durchsetzen und eine einheitliche Verwaltung und Rechtsprechung aufbauen (vgl. Salzborn 2010b: 66). Die Idee des souveränen Staates resultiert somit letztendlich aus dem Zerfall der überkommenen Reichsidee. Diese Idee hat das christliche Denken von Politik seit der Spätantike geleitet, denn die Reichsidee verlor mit dem Rückzug der Kirche aus dem umfassenden Herrschaftsverband ihre Legitimität, dadurch konnte die neuzeitliche Staatsidee angestoßen werden – und wurde damit auch (vgl. Roth 2010: 23f.). Die Vorläufer des Staates waren somit auch: Polis, Reich und Ekklesia (vgl. Salzborn 2010a: 4). Die Ursprünge von Staatlichkeit reichen dabei – laut Fukuyama – auch rund 10000 Jahre zurück, nämlich in die Zeit der ersten Agrargesellschaften in Mesopotamien (vgl. Fukuyama 2006: 13). Nach Georg Jellinek, einem der bedeutendsten Repräsentanten der deutschen Staatslehre, zeichnet sich der Staat primär durch das Monopol der Herrschermacht, d.h. Souveränität, aus, Herrschaft ist das wesentliche Merkmal der Staatsgewalt; laut Jellineks Drei-Elemente-Lehre ist, neben Staatsvolk und Staatsgebiet, die Staatsgewalt das Kriterium, welches für die Existenz eines Staates die unabdingbare Voraussetzung bildet (vgl. Anter 2010: 195f.). Der „Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ (Weber 1976: 822).
Jellinek definiert dabei die Entstehung des Staates als einen einzigen großen Enteignungsprozess, in dessen Verlauf eine Monopolisierung aller Herrschaftsrechte stattfand (vgl. Anter 2010: 196) – „Kern von Staatlichkeit ist die Fähigkeit zur Vollstreckung: jemanden in einer Uniform und mit einer Waffe loszuschicken, damit er Leute dazu bringt, die Gesetze einzuhalten.“ (Fukuyama 2006: 20). Der Staat begründet sich somit auf eine Herrschaftsordnung, die territorial klar umrissen ist, die mit einer monopolistischen Zentralgewalt versehen ist und zudem auf einer Staatsbevölkerung basiert, die auf Kontinuität und Dauer hin angelegt ist (vgl. Salzborn 2010a: 4). 3
Im deutschen Sprachraum erlangte der Begriff „Staat“ (in Ableitung vom italienischen „stato“) zunehmend erst im 17. Jahrhundert Bedeutung (vgl. Salzborn 2010a: 4).
Herausbildung und Genealogie von Souveränität
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3.2. HERAUSBILDUNG UND GENEALOGIE VON SOUVERÄNITÄT Souveränität wurde zur Schlüsselnorm der Moderne; es ist die Souveränität – so Hobbes –, die dem Leviathan, d.h. dem Staat, Leben und Bewegung gibt, die dessen künstliche Seele bildet, die Frieden und Einheit stiftet (vgl. Salzborn 2010b: 62; Hobbes 1966: 5; Opitz-Belakhal 2010: 46). „Der Begriff der Souveränität beinhaltet die absolute und dauernde Gewalt eines Staates […] Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt.“ (Bodin 1976: 19) – sie ist nach Bodin das herausragende Kennzeichen des Staates (vgl. Opitz-Belakhal 2010: 46); „[o]hne diese absolute Gewalt ist eine dauerhafte Ordnung des Gemeinwesens undenkbar.“ (ebd.). Was die Souveränität ausmacht, ist das Recht bzw. das Vermögen zur Letztentscheidung – und das sowohl nach innen wie auch nach außen (vgl. Voigt 2010: 127). Die Vorstellung des Staates, der nach innen und nach außen souverän ist, fand ihre theoretische Begründung zwar erst in der frühen Neuzeit mit Bodin und Hobbes, d.h. 1576 und 1651; die ‚praktische‘ Vorbereitung fand jedoch in den Kämpfen im Hoch- und Spätmittelalter zwischen einerseits weltlicher und andererseits geistlicher Gewalt statt sowie innerhalb dieser beiden Machtkreise zwischen den dort jeweils rivalisierenden Kräften (vgl. Roth 2010: 23); d.h. „Bodin ist zwar nicht der Erfinder, wohl aber der Verkünder der Souveränität.“ (Voigt 2007: 154). Der Staat, d.h. Staatsbildung, hat dabei einen emanzipatorischen und progressiven Charakter oder schafft zumindest die Voraussetzung dafür; im und mit dem Staat wurde eine Vorstellung vom Individuum, wie sie heute in der politischen Theorie, in der philosophischen Ethik als Basis und Fundament, hinter dessen es kein Zurück mehr geben kann und vor allem darf, gilt, überhaupt erst (er-)möglich(-t): „Menschliche Freiheit, die philosophisch allen ethischen und moralischen Gerechtigkeitsund Menschenrechtsvorstellungen implizit oder explizit zu Grunde liegt, hat in der Geschichte der Menschheit bisher nur einen Ort gefunden, der ihre Verwirklichung zumindest hypothetisch hat denkbar und praktisch wenigstens partiell hat Wirklichkeit werden lassen: den souveränen Staat.“ (Salzborn 2010b: 63).
Die bürgerliche Gesellschaft von heute hat ihren Ursprung in den gewaltförmig verlaufenen Revolutionen von einst – mit all ihren Schrecken, ihrer Gewalt und ihrem Terror. Jenes Gewaltmonopol, das heute Recht zu setzen in der Lage ist, ging selbst aus der Herrschaft der (konkurrierenden) Rackets 4 und der ihnen immanenten terroristischen Gewalt hervor5 (vgl. Scheit 2007b: 127). Der Staat entstand dabei aus den Kämpfen der konkurrierenden Rackets – in einer unintendier4
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So ist das Racket überhaupt die Grundform der Herrschaft; die allgemeinste Kategorie von Funktionen, die es ausübt, ist die des Schutzes (vgl. Horkheimer 1985: S. 287f.). Jedoch „[w]enn eine Organisation so mächtig ist, daß sie ihren Willen auf einem geographischen Gebiet als dauernde Regel des Verhaltens für alle Bewohner aufrechterhalten kann, so nimmt die Herrschaft der Personen die Form des Gesetzes an. Dieses fixiert die relativen Machtverhältnisse. Als fixiertes Medium gewinnt das Recht, wie andere Vermittlungen, eigene Natur und Resistenzkraft.“ (ebd.: 289). „Alle Gewalt ist entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Wenn sie auf keines dieser beiden Prädikate Anspruch erhebt, so verzichtet sie damit selbst auf jede Geltung.“ (Benjamin 1965: 45).
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Der Staat – eine historisch-genealogische Hinführung
ten Weise, wie es Norbert Elias und Charles Tilly beschrieben (vgl. Bakonyi 2011: 239). So ist auch noch der Terror Voraussetzung des bürgerlichen Staates, wie auch Hegel ihn bestimmt (vgl. Scheit 2006: 63; Hegel 1986: 50) – wobei Hegel diese „Resultante des Bandenkriegs natürlich als negativen Willen des Geistes faßt“ (Scheit 2006: 63). Dies zeigte sich in aller Deutlichkeit in der Französischen Revolution: „La Terreur begann mit dem Sturm auf die Bastille: mit der Aufhebung des Gewaltmonopols wie der Trennung von Militär und Zivilbevölkerung durch die Bewaffnung der Massen, woraus dann die verschiedenen Terrorgruppen entstanden“ (Scheit 2006: 63).
Bei Hegel ist diese Schreckenszeit – wie sie sich gerade in der Französischen Revolution offenbarte – ein notwendiges Stadium des Geistes, in der Überwindung verwirklicht sich die wahre Idee: das bürgerliche Recht; die Überwindung ist zwangsläufig, sie ist bereits im Begriff6 selbst angelegt (vgl. Scheit 2007b: 129). Die bürgerliche Gesellschaft und damit einhergehend der Staat verleugnet jedoch ihren eigenen Ursprung und muss ihn auch notwendigerweise verdrängen, ob der Aufrechterhaltung der eigenen Souveränität (und damit verbunden dem Gewaltmonopol) und dem Anspruch darauf (vgl. Scheit 2006: 63). Es bleibt jedoch schlichtweg zu konstatieren: „[j]eder Staat wird auf Gewalt gegründet“ (Trotzki zit. n. Weber 1976: 822). Der Staat hat jedenfalls bis heute nicht seine Position als die politische Ordnungsmacht, als derjenige, der menschliches Zusammenleben organisiert und koordiniert, und als zentraler Referenzpunkt politischen Denken und Handelns, eingebüßt. Gerade darin mag begründet liegen, dass „die Frage des Staates […] eine der verwickeltsten und schwierigsten Fragen“ (Lenin 1919: 55) ist.
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Doch auch dies ist wiederum dialektisch zu betrachten: So hat Hegel zugleich auch aufgezeigt, „daß die terroristische Durchsetzung bürgerlicher Ordnung bereits das Potential in sich trägt, das Vernichtung um ihrer selbst willen bedeutet.“ (Scheit 2007b: 131).
4. ZWISCHEN STAATSAUFBAU UND STAATSZERFALL – EINE BETRACHTUNG Staat und Staatlichkeit sind, wie bereits (mehrfach) erwähnt wurde, keine Selbstverständlichkeit (vgl. Bakonyi 2011: 10). Dadurch, dass Staat und Staatlichkeit eben von Menschen erdacht und errichtet wurden, können sie auch von Menschenhand wieder niedergerissen werden oder zerfallen, wenn ihnen keine Pflege, keine Anstrengung zu ihrer Aufrechterhaltung zukommt; denn Staat und Staatlichkeit sind vielmehr von äußerster Fragilität gekennzeichnet. Denn das „Monopol der Entscheidung und Gewalt ist auf Legitimität angewiesen – der Staat braucht die Zustimmung und Loyalität derer, über die er bestimmt.“ 1 (Bürger 2007: 15). Staat und Staatlichkeit können unterminiert respektive ausgehöhlt2 werden – denn „[d]er Einzelne darf sich somit nicht nur den verschiedenen ethnischen oder sozialen Gruppen zugehörig fühlen, sondern vor allem auch dem Staat.“ (ebd.). Rudolf Smend, Staats- und Kirchenrechtler (vgl. Notthoff 2010: 376), bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „So ist insbesondere der Staat nicht ein ruhendes Ganzes, […]. Er lebt und ist da nur in diesem Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens; er lebt, um Renans berühmte Charakterisierung der Nation auch hier anzuwenden, von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt.“ (Smend 1928: 18).
Erst seit der Jahrtausendwende rückte das Phänomen des Staatszerfalls verstärkt in den Fokus des (wissenschaftlichen) Interesses, dabei ist Staatszerfall selbstverständlich kein Phänomen, das erst in dieser Zeit aufkam, auch wenn es (seit) Anfang der 1990er Jahre massiv zunahm (vgl. Straßer / Klein 2007: 9; Bürger 2007: 13). Vielmehr ist die Fragilität und die Erosion von Staatlichkeit ein steter Begleiter (und sei es auch nur in seiner potentiellen Möglichkeit) des Staatsaufbaus und letztendlich von Staatlichkeit an sich. Der Zerfall von Staatlichkeit, sein Prozess, sein Resultat und nicht zuletzt die Ebene seiner Erscheinung drückt sich in verschiedenen Begrifflichkeiten aus: weak, failing, failed und auch collapsed state3. Dabei ist m.E. der zentrale Begriff der des failed state4; nämlich als Fix- und Endpunkt5. Dieser Begriff bildet das Schlagwort, um den herum sich letztendlich eine ganze Begriffsgruppe (aus-)ge1 2 3 4
Dabei sollte der Staat an sich nicht mit der (amtierenden) Regierung und deren Politik verwechselt werden. Wie ich en détail später noch aufzeigen werde. Während bspw. Schneckener die Typologie von weak, failing und failed (was bedeutungsgleich mit collapsed state ist) state macht (Schneckener 2004 :16) – führt bspw. Richter die Trias von failing-, failed- und collapsed state auf (vgl. Richter 2011: 89). Auch wenn der End- und damit auch der Fixpunkt bspw. bei Richter der collapsed state einnimmt (vgl. Richter 2011: 92) – im Großteil der Literatur ist jedoch zu beobachten, dass der failed state normalerweise den Fix- bzw. Endpunkt einnimmt.
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bildet hat (vgl. Richter 2011: 16). Der Begriff des „failed state“ wurde 1993 mittels eines Aufsatzes von Helman und Ratner, der in der Zeitschrift „Foreign Policy“ mit dem Titel „Saving failed states“ (Helman / Ratner 1993) erschien, in die Debatte6 eingeführt. Helman und Ratner sehen dieses Phänomen, in ihren Augen „a disturbing new phenomenon“ (Helman / Ratner 1993: 3), Anfang der 1990er-Jahre weltweit aufziehen, sei es in der amerikanischen Hemisphäre mit Haiti, sei es in Europa mit (Ex-)Jugoslawien, in Asien mit Kambodscha oder auf dem afrikanischen Kontinent mit dem Sudan, Liberia oder eben dem Gegenstand der hier vorliegenden Arbeit: Somalia. In den Phänomenen, die sie in den zusammengebrochenen Staaten ausmachen, nämlich: Bürgerkrieg, Zusammenbruch der Regierung(-sgewalt) und der ökonomischen Sphäre (mit all seinen Resultaten, die letztendlich im Mangel an Gütern jedweder Art mündeten) – erkennen sie als Resultat all dessen das Aufkommen des modernen Debellatio7. Nicht nur ist es unmöglich, dass eine solche Entität8 noch in irgendeiner Weise einen Platz in der internationalen Gemeinschaft findet, da sie sich ja überhaupt nicht mehr gegenüber Staaten verhalten kann (und die internationale Staatengemeinschaft ist nun einmal als Staatenwelt, die sich aufeinander in der Form des Staates bezieht, zu verstehen) – auch wirkt ein failed state sich destabilisierend9 auf seine Nachbarn aus, sei es durch Scharmützel an der Grenze, unkontrollierte Flüchtlingsströme, Übergriffe oder Verlagerung von Kampfgeschehen in das Staatsgebiet der Nachbarn usw. 10. Dies und der Umstand, dass in den failed states selbst folglich alle (Menschen-)Rechte suspendiert wurden, inklusive dem absolut grundlegendsten Recht des Menschen, dem Recht auf Leben, sind für Helman und Ratner Gründe genug um einzufordern, dass diesbezüglich endlich etwas getan werden müsste. (Vgl. Helman / Ratner 1993: 3) Die Wurzeln für den Kollaps etlicher Staaten Anfang der 1990er-Jahre sehen Helman und Ratner in der unglaublichen Vermehrung von Staaten (vor allem im afrikanischen und asiatischen Raum), seit Ende des Zweiten Weltkriegs, angelegt. Helman und Ratner führen dabei auch an, dass das „Selbstbestimmungsrecht der 5
Richter merkt an, dass die Frage nach dem Endpunkt von Staatszerfall in der Debatte bisher weitestgehend faktisch ausgeklammert wurde – da bisher keine allgemeingültige Aussage darüber getroffen werden kann, wann ein Staat endgültig als gescheitert zu gelten hat, und damit die Funktionsfähigkeit seiner auch nicht mehr (wieder-)hergestellt werden kann. Dieser Frage bzw. (dem Versuch) der Bestimmung dessen versucht Richter dann auch in seinem Werk nachzugehen. (Vgl. Richter 2011: 17f.) 6 Der Hintergrund dafür waren die Ereignisse in Haiti, Jugoslawien, Somalia, Sudan, Liberia und Kambodscha, auf die sie zu Beginn ihres Aufsatzes hinweisen (vgl. Helman / Ratner 1993: 3). 7 Dies bedeutet gemeinhin, dass ein Krieg durch die völlige und umfassende Vernichtung des feindlichen Staates beendet wird (vgl. Duden 2005: 204). Nur – so müsste man in diesem Falle ergänzen – ohne, dass es dabei einen Sieger gäbe. 8 Wobei in diesem Zusammenhang auch kaum mehr überhaupt von so etwas wie einer Entität gesprochen werden kann. 9 Zu den in diesem Zusammenhang zu nennenden spill-over-Effekten siehe untenstehend Weiteres. 10 Etliche dieser Phänomene werden – wie ich im Folgenden aufzeigen werde – auch im Falle von Somalia zum Tragen kommen.
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Völker“, das auch in der UN-Charta angeführt wird, von der UN und ihren Mitgliedsstaaten zum hauptsächlichen Ziel gemacht wurde11. Es wurde als wichtiger und dringlicher eingestuft als eine Stabilität über einen langen Zeitraum. (Vgl. Helman / Ratner 1993: 3) Der sogenannte Kalte Krieg, die Blockkonfrontation zwischen den beiden Staaten USA und UdSSR und der mit ihnen jeweils verbündeten Staaten 12, brachte zwar eine nahezu permanente (An-)Spannung in der Staatenwelt 13 mit sich, aber zugleich auch eine Starre, die Stabilität bedeutete und (er-)zeugte 14. Der Kalte Krieg wirkte somit lebensverlängernd15 für diejenigen Staaten, deren Zusammenbruch nach seiner Beendigung einsetzen sollte. So wurden nach Ende des Kalten Krieges, d.h. nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, failing states – laut Straßner und Klein – geradezu zu einem Kennzeichen der neuen, daran anschließenden Ära16. (Vgl. Straßner / Klein 2007: 7; Bürger 2007: 13; Helman / Ratner 1993: 4). „Das Ende des Kalten Krieges hinterließ eine Reihe gescheiterter und schwacher Staaten vom Balkan über den Kaukasus, den Nahen Osten und Zentralasien bis hin nach Südasien.“ (Fukuyama 2006: 9). Eine Zunahme von staatlichen Zerfallsprozessen lässt sich daher gehend seit dem Beginn der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts beobachten: Mit dem Zerfallsprozess des jugoslawischen Staates auch inmitten von Europa, danach nur noch in der Peripherie Europas, d.h. in den sogenannten Schwellen- und/ oder Entwicklungsländern. Zu humanitären und Menschenrechtskatastrophen kam es bereits während der Neunzigerjahre in Somalia, Haiti, Kambodscha, Bosnien sowie im Kosovo und Osttimor. Dadurch, dass die Zerfallsprozesse zunächst hauptsächlich in der (aus europäischer Perspektive) Peripherie stattfanden, schien 11 12
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Zur Problematik des dahinterstehenden Konzepts von Völkern und Volksgruppen, siehe: Salzborn / Schiedel 2003: 1214. Dies betraf einen Großteil der Staatenwelt – auch wenn sie nicht unmittelbar in eines der beiden militärischen Bündnisse (NATO bzw. Warschauer Pakt) eingebunden waren, so waren sie doch oftmals zumindest mittelbar, bspw. ökonomisch, mit einem der beiden Blöcke verbunden. In den Staaten und für die Staaten gab es in dieser Konstellation, in diesem Zeitalter, quasi keine rein internen Konflikte – sondern diese nahmen fast immer und zumeist unmittelbar eine internationale Dimension an. Ein Bürgerkrieg war nicht länger ein Bürgerkrieg im althergebrachten, ‚klassischen‘ Sinne, sondern zugleich ein Konflikt zwischen anderen – außenstehenden – Staaten. Die (einzelnen) Konfliktparteien waren eingebettet in ein Koordinatensystem, das über den Horizont ihres eigenen Gebietes weit hinausging und eine internationale, nahezu globale Dimension einnahm. Innerhalb dieses Koordinatensystems wurden dann Konflikte auch gezielt geschürt und instrumentalisiert. (Vgl. Enzensberger 1996: 14) Insbesondere für die Staaten in der sogenannten Dritten Welt (vgl. Straßner / Klein 2007: 7). Dies ganz konkret dadurch, dass die Sowjetunion bzw. die USA (aber auch die ehemaligen europäischen Kolonialmächte) Unmengen an Geld und andere Formen der Hilfe diesen Staaten zuteil werden ließen (vgl. Helman / Rattner 1993: 4). Für Straßner und Klein liegt dies u.a. darin begründet, dass Staaten, die bereits eine gewisse Fragilität aufweisen, durch das Ende der Blockbindung, sich nun alleine mit den Auswirkungen des Globalisierungsdrucks konfrontiert sehen und dadurch die Auswirkungen sie mit voller Wucht treffen; daran scheitern viele der bereits fragilen Staaten (vgl. Straßner / Klein 2007: 8).
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die Brisanz und Wichtigkeit für Europa verloren gegangen zu sein. Aber nicht nur, dass europäische Staaten eben auch nicht gegen Zerfallsprozesse immun wären (wie die (eigene) Vergangenheit und die Erfahrung in/ durch Jugoslawien mehr als deutlich machen sollte), sondern auch, dass die Auswirkungen 17 solcher Zerfallsprozesse, wie internationaler Terrorismus und/ oder Waffen-/ Drogen-/ Menschenschmuggel, durchaus auch einen massiven Einfluss auf Europa haben, spricht gegen ein Desinteresse Europas an dem Phänomen des Staatszerfalls. Dies wurde auch in Europa erkannt und fand seinen Niederschlag in der europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 (Europäische Sicherheitsstrategie 2003). Dort wurden im Staatszerfall und den damit verbundenen bzw. daraus resultierenden sogenannten spill-over-Effekten18 eine der Hauptbedrohungen für Europa im neuen, gerade angebrochenen, Jahrtausends ausgemacht. (Vgl. Straßner / Klein 2007: 7; Bürger 2007: 13; Fukuyama 2006: 9) In dem Papier zur europäischen Sicherheitsstrategie wurden neben zivilen Konflikten schlechte Staatsführung als Ursache dafür, dass der Staat von Innen heraus zersetzt wird, ausgemacht; dies führt hin bis zu einem (totalen) Zusammenbruch der staatlichen Institutionen. Schlechte Staatsführung zeigt sich in Korruption, Machtmissbrauch, schwachen Institutionen und mangelnder Rechenschaftspflicht. Als Beispiele der jüngsten Vergangenheit werden in dem Papier zur europäischen Sicherheitsstrategie diesbezüglich Liberia, Afghanistan unter den Taliban und eben auch Somalia angeführt. (Vgl. Europäische Sicherheitsstrategie 2003: 4) „Das Scheitern eines Staates kann auf offensichtliche Bedrohungen, wie organisierte Kriminalität oder Terrorismus zurückzuführen sein und ist ein alarmierendes Phänomen, das die globale Politikgestaltung untergräbt und die regionale Instabilität vergrößert.“ (ebd.). In dem Papier findet in der Diskussion von Staatszerfall eine Engführung mit der organisierten Kriminalität (die dabei bis hin zu terroristischen Bestrebungen reicht) statt19. Ähnliches wie auch die Europäische Sicherheitsstrategie – nur noch einmal wesentlich ausdrücklicher und expliziter – konstatiert und diskutiert auch die na17 Dies bedeutet nicht, dass Staatszerfall diese Phänomene evoziert (und auch nicht umgekehrt) – dennoch steht Staatszerfall in einer Wechselwirkung mit eben diesen Phänomenen. Siehe hierzu auch Hofmann / Nerb 2007: 118, die dies am Beispiel Kolumbiens (und der dortigen Drogenökonomie) aufzeigen. 18 Der Spill-Over-Effekt drückt sich durch „die räumliche Ausweitung von Zerfallsprozessen [aus]: Es läßt sich beobachten, daß die Probleme gefährdeter oder zerfallender Staatlichkeit von einem Land in ein benachbartes exportiert werden und sich parallel stattfindende Prozesse gegenseitig verstärken, so daß letztlich fast alle Staaten einer Subregion betroffen sind. Dieser Spill-over-Effekt stellt sich nicht zuletzt durch massive Flüchtlingsströme, die Proliferation von Waffen und anderem Kriegsmaterial, den Export von Kriminalität sowie den Wegfall von Märkten und den Rückgang von Handelsbeziehungen ein.“ (Schneckner 2004: 7). Transnationale Terrororganisationen, wie bspw. Al Qaida, sind ein entscheidender Faktor für den spill-over von Staatszerfall (vgl. Troy 2007: 83); siehe dazu auch Weltbank 2003: 239. 19 „Diese Formen der Kriminalität [Drogen-, Frauen-, Waffenhandel sowie die Aktivitäten sogenannter Schleuserbanden – Anm. T.S.] hängen oft mit der Schwäche oder dem Versagen des Staates zusammen.“ (Europäische Sicherheitsstrategie 2003: 4). Darauf, dass dies kein einseitiger (aufzulösender) Prozess ist, sondern vielmehr ein sich gegenseitig bedingender, sei an dieser Stelle, wie oben bereits ausführlicher dargestellt, nochmals hingewiesen.
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tionale Sicherheitsstrategie der USA (National Security Strategy 2002), die bereits im Jahr zuvor veröffentlicht wurde. Beide Papiere, insbesondere das US-amerikanische, wurden unter dem Eindruck der Anschläge von 9-11 verfasst. Denn diese Anschläge nötigten den Westen, sich über die Problematik des Staatszerfalls Gedanken zu machen: „Das Problem schwacher Staaten und die Notwendigkeit des Staatenaufbau gibt es also seit vielen Jahren, aber die Angriffe vom 11. September machten die Dringlichkeit deutlich.“ (Fukuyama 2006: 14). 4.1. EROSION VON SOUVERÄNITÄT 4.1.1. Failed States – Annäherungen an einen Begriff Die Auswirkungen der Erosion von Souveränität zeigt sich in dem Phänomen der failed states – der gescheiterten/ zerfallenen Staaten. „Das Ende des Kalten Krieges hinterließ eine Reihe gescheiterter und schwacher Staaten vom Balkan über den Kaukasus, den Nahen Osten und Zentralasien bis hin nach Südasien.“ (Fukuyama 2006: 9). Zu humanitären und Menschenrechtskatastrophen kam es bereits während der Neunziger Jahre in Haiti, Kambodscha, Bosnien, Osttimor, im Kosovo und vor allem in Somalia (vgl. ebd.). Der Großteil der Literatur, die in den letzten Jahren zum Staatszerfall und damit den failing und failed states erschienen ist, beginnt mit einem Verweis auf 911, dem Angriff von Al-Qaida auf das World Trade Center in New York. Nach diesem Angriff wurde das Problem des Staatszerfalls (auch) als ein Problem der internationalen Sicherheit diskutiert – und nicht mehr nur als ein Problem der Peripherie, wie dies zuvor (zumindest teilweise) der Fall gewesen ist. (Vgl. Seidl 2007: 31; Engin 2013: 24) Während die failing states sich dadurch auszeichnen, dass sie noch irgendeine Art von Institutionsgefüge besitzen, das zwar mangelhaft ist, aber dennoch in irgendeiner (zwar defizitären) Art und Weise funktioniert, sind die failed states durch die Dysfunktionalität jedweder staatlicher Institution gekennzeichnet. (Vgl. Engin 2013: 26)
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In der Debatte um weak, failing und failed state bleibt der Staat Angel- und Fixpunkt, Staat und Staatlichkeit bilden die zentrale (Analyse-)Kategorie 20 (vgl. Bakonyi 2011: 11). War das größte Sicherheitsrisiko in den vergangenen Jahrhunderten stets das Szenario eines Krieges zwischen Großmächten, ist dieses Szenario heute (nahezu) passé21. Die größte Gefahr für die Sicherheit der westlichen Welt, allen voran der Vereinigten Staaten, der ihr eigenen politischen Kultur und damit verbunden der Stabilität der derzeitigen Weltordnung sind bzw. geht aus von schlecht regierten, schwachen und zerfallen(d)en Staaten. (Vgl. Krasner 2010: 17) Schwache oder gar gescheiterte Staaten bilden immer auch ein Sicherheitsrisiko für andere Staaten, für Demokratie und die (Welt-) Ordnung des freien Marktes, dadurch, dass sie zumeist Ausgangspunkt22 von terroristischen Attacken sind – wie es, wie bereits erwähnt, die Anschläge von 9-11 dem Westen drastisch vor Augen führten23 – oder wie bspw. die Piraterie 24 vor der Küste Somalias; aber auch Armut, die ungebremste Verbreitung von Aids und Drogen haben – laut Fukuyama – schwache oder gescheiterte Staaten als (mittelbare) Ursache (vgl. Traub 2010: 81f., Fukuyama 2006: 7 u. 9). „Die Schwäche von Staaten ist daher ein nationales wie ein internationales Problem ersten Ranges.“ (Fukuyama 2006: 9). Letztendlich sind die Voraussetzung für Wohlstand und inner- und zwischenstaatlichen Frieden stabil geführte Staaten (vgl. Krasner 2010: 17), denn 20 Jutta Bakonyi sieht diesen Umstand als einen Punkt an, der in die Irre führen würde (vgl. Bakonyi 2011: 11), ich sehe dies anders, im Gegenteil: bleibt dadurch doch die Hoffnung auf die Erlangung von (menschlicher) Freiheit überhaupt noch erhalten, denn diese hat, wie bereits ausgeführt, „in der Geschichte der Menschheit bisher nur einen Ort gefunden, der ihre Verwirklichung zumindest hypothetisch hat denkbar und praktisch wenigstens partiell hat Wirklichkeit werden lassen: den souveränen Staat.“ (Salzborn 2010b: 63) . Somit bilden Freiheit und Souveränität und damit Staatlichkeit eine dialektische Einheit, die zu keiner Seite hin einseitig positiv auflösbar scheint (vgl. Salzborn 2009: 16f.). Bakonyi hat aber meines Erachtens dennoch insoweit recht, dass sie in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass eben oftmals dort, wo Zerfallsprozesse von Staat und Staatlichkeit ausgemacht werden, „bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftungsformen unvollständig durchgesetzt oder vielfach gebrochen entfaltet sind.“ (Bakonyi 2011: 12). Auf den Zusammenhang von bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung und Staat(-lichkeit) werde ich untenstehend noch ausführlicher eingehen. 21 Auch wenn dieses Szenario derzeit – aufgrund der „Ukraine-Krise“ – wohl wieder eine gewisse Renaissance zu erfahren scheint. 22 So sind neben Somalia auch Pakistan und der Jemen durchaus als sichere Häfen für Terroristen anzusehen (vgl. Krasner 2010: 18). 23 Auch Georg W. Bush zog in der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2002 als Lehre aus den Angriffen von 9-11, dass schwache Staaten eine ebenso sehr bedrohende Situation für die nationale Sicherheit und damit das nationale Interesse darstellen können wie starke Staaten (vgl. Krasner 2010: 16). Starke Staaten bildeten im 20. Jahrhundert ein großes Problem: viele Staaten waren zu mächtig und tyrannisierten sowohl ihre eigene Bevölkerung als auch die umliegenden Staaten, gegen die sie aggressiv vorgingen (vgl. Fukuyama 2006: 167). Für das 21. Jahrhundert scheinen jedoch eher die failing und failed states die Gefährdung von Frieden und Sicherheit zu sein. 24 Näheres diesbezüglich wird in Kap. 6.1.1.1.2. ausgeführt werden.
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„[n]ur wenn einzelne Staaten imstande sind, ihre Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen, ist auch auf internationaler Ebene mehr Ordnung und Gerechtigkeit möglich – sowohl durch ein funktionierendes Gewaltmonopol innerhalb dieser Staaten als auch als Garant für die Einhaltung zwischenstaatlicher Abkommen.“ (ebd.).
Sind die failing states gekennzeichnet durch eine Erosion von Souveränität, sind die failed states gekennzeichnet durch eine Zerstörung und damit der Abwesenheit von Souveränität – wie es gerade auch in Somalia deutlich wird. In dem diese Arbeit abschließenden Kapitel 6 wird Souveränität und ihre (mögliche) Erosion einer näheren Auseinandersetzung im Hinblick auf Somalia unterzogen werden. 4.1.2. Souveränität – ihre Dialektik und Auflösung Wie ich in meinen bisherigen Ausführungen bereits aufgezeigt habe, und im kommenden auch noch weiter ausführen werde, ist der Kern von Staat und Staatlichkeit die Souveränität – „[d]ie Souveränität ist die Seele des Staates“ (Hobbes 1966: 197). Aufgrund dessen steht auch die Souveränität im Mittelpunkt meiner Betrachtungen zu dem Prozess des Staatszerfalls in Somalia – im Folgenden soll es daher erst um eine nähere Betrachtung der Souveränität gehen, in Kapitel 6 soll – wie bereits obenstehend angekündigt – die Erosion von Souveränität in Somalia dann anhand der Geschehnisse und Entwicklungen in Somalia herausgearbeitet werden. „Staat und Staatlichkeit sind ohne den Bezug zu Ordnung und Herrschaft nicht denkbar.“ (Voigt 2007: 27). Es ist schließlich das Ordnungsdenken, das seine Verdichtung im Staatsbegriff fand und welches sich zu einer Leitidee der neuzeitlichen Politik und dem Denken der selbigen entwickelt hat (vgl. Roth 2003: 15). Die Monopolisierung von Gewaltausübung, d.h. das Gewaltmonopol und Staatlichkeit hängen untrennbar miteinander zusammen. Das Gewaltmonopol, die Existenz dessen wird zum Schibboleth für Staatlichkeit an sich; existiert kein Gewaltmonopol, existiert auch kein Staat, sondern es herrscht Anarchie oder ein sonstiger (nichtstaatlicher) Herrschaftsverband (oder in diesem Falle vermutlich Herrschaftsverbände, d.h. eine Herrschaft der Rackets). Die (potenzielle) Gewaltanwendung, d.h. die Berechtigung zur Anwendung von Gewalt, ist jedem Herrschaftsverband inne, für den Staat jedoch entscheidend ist die Monopolisierung dieser Berechtigung (und des Vollzugs ggf.). (Vgl. Grimm 2006: 20f.) Der Staat muss, um die/ seine Souveränität zu erlangen und zu bewahren, in der Lage sein die Gewalt zu monopolisieren. Aber er muss nicht nur in der Lage sein, die Gewalt zu monopolisieren, sondern er muss diese Monopolisierung aktiv betreiben, er muss aktiv das Gewaltmonopol herstellen respektive verteidigen und zwar muss er dies praktisch tun und nicht nur in der Theorie dazu fähig sein. Denn ist der Staat „nicht in der Lage, das Gewaltmonopol herzustellen, können andere, halb- oder nicht-staatliche Machteliten diese Sicherheitslücke ausnutzen“ (Bürger 2007: 18). Einzelpersonen oder anderen Verbänden kann man Gewalt(-samkeit) nur zuschreiben, sofern der Staat es von seiner Seite aus zulässt und vor allem nur solan-
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ge es der Staat zulässt; dies ist ein Spezifikum der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit (vgl. Weber 1976: 822). Doch auch das Gewaltmonopol selbst ist – wie die Durchsetzung bürgerlicher Ordnung – dialektisch zu betrachten: so ist es dasselbe Gewaltmonopol, das einerseits den Schutz von Eigentumsrechten erlaubt und es ermöglicht, die öffentliche Ordnung zu (be-)wahren, gleichzeitig erlaubt/ ermöglicht dieses Gewaltmonopol jedoch auch, Privatbesitz zu beschlagnahmen, d.h. Enteignungen durchzuführen, und die Rechte der Bürger zu missbrauchen. (Vgl. Fukuyama 2006: 13) Konnten einst auf einem abgegrenzten Territorium noch durchaus verschiedene Träger mit der Berechtigung zur Gewaltanwendung nebeneinander existieren, so kann es mit der Existenz des Staates nur noch einen einzigen Träger geben 25 (vgl. Grimm 2006: 20f.). Mit der Französischen Revolution und den darauf folgenden ausgearbeiteten Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfen wurde die Anstrengung unternommen, Souveränität zu verrechtlichen, d.h. die Souveränität sollte vollständig im Recht aufgehen (vgl. Scheit 2004: 170) 26. Dass dies nicht der Fall war und es auch nicht der Fall sein konnte und kann, dass der Souverän vollständig im Recht aufgeht, wird spätestens in und mit den Ausführungen von Carl Schmitt zu Souveränität und Ausnahmezustand, und zum Verhältnis derselbigen, deutlich (vgl. Schmitt 1979). Schmitt brachte dies auf die – heute oftmals zitierte – Formel, mit der er auch sein Werk „Politische Theologie“ beginnen lässt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (Schmitt 1979: 11). Doch – sowohl auf einer theoretischen, wie auch auf einer praktischen Ebene – gibt es Versuche/ Bestrebungen diesen Kern von Staatlichkeit: die Souveränität, zu verdrängen. Darum soll es in den beiden untenstehenden Exkursen gehen: In Exkurs I um den Versuch auf theoretischer Ebene Staat und Staatlichkeit ohne Souveränität zu denken, d.h. den Kern von Staatlichkeit zu leugnen 27. Dies geschieht maßgeblich innerhalb des Poststrukturalismus. In Exkurs II geht es um die praktische Verdrängung bzw. Tilgung von Souveränität, bei der gleichzeitigen Aufrechterhaltung eines Scheins von Staat und Staatlichkeit; dieses Phänomen ist vom ‚klassischen‘ Staatszerfall zu unterscheiden und firmiert unter der Bezeichnung „Behemoth“. Dieses zeigte sich historisch am nationalsozialistischen Deutschland, an dem auch Franz L. Neumann seine gleichnamige Untersuchung exemplifizierte und aktuell an der Islamischen Republik Iran. Zunächst werde ich jedoch in einer Theorie des Irregulären Gruppierungen betrachten, die eine Unterminierung der Souveränität betreiben, indem sie das Gewaltmonopol herausfordern und bekämpfen. Ihren Kulminationspunkt findet dies im Bürgerkrieg, den ich daran anschließend betrachten werde.
25 Es verhält sich wie das Erste der, von Moses überbrachten, Zehn Gebote: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ (Dt 5:6). 26 Entsprechend lautet es in der französischen Verfassung von 1791: „Es gibt in Frankreich überhaupt nichts, das der Autorität des Gesetzes übergeordnet wäre.“ (zit n. Scheit 2004: 170). 27 Bzw. dass es überhaupt einen Kern von Staatlichkeit gibt.
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4.1.2.1. Theorie des Irregulären „Warlords, Rebellen, Drogenbarone, „Sobels“ (soldier by day, rebels by night), Kindersoldaten, Milizionäre, Gewaltunternehmer – die Liste der Gewaltakteure in den innerstaatlichen Konflikten der Gegenwart ist in den vergangenen Jahren immer länger geworden.“ (Jakobeit 2006: 7). Ebenso die Erklärungsversuche dessen – diese zeichnen sich jedoch meist dadurch aus, dass sie oftmals den Fokus nur auf einzelne Phänomene der Gewalt legen oder das als neu(-artig) betrachten, was letztendlich überhaupt nicht neu ist, sondern bereits seit Ewigkeiten, vielleicht nicht in dieser Erscheinung, aber zumindest dem Wesen nach, existiert (vgl. ebd.). „In Zeiten der Verarmung und wirtschaftlicher Krisen wird eine Tendenz zur epidemischen Vermehrung des Banditentums sichtbar.“ (Hobsbawm 1972: 17). In diesen Zeiten scheint es das Bedürfnis nach Helden, nach heroischen Beschützern, Kämpfern usw. zu geben, es scheint so groß zu sein, dass, wenn die ‚echten Helden‘ fehlen, auch Kandidaten, die eigentlich unpassend dafür sind, in diese Rollen (ein-)gerückt werden. Dies resultiert auch aus der lethargischen Grundstimmung, die in der Masse der Armen vorherrscht. Die Banditen sind die Ausnahme, sie sind diejenigen, die es schaffen, aus der Lethargie auszubrechen – dabei werden sie als Vertreter von Gerechtigkeit, einer wiederherzustellenden Moral oder ähnlichem gesehen. In jedweder Formierung von Gesellschaft, die sich in der Phase des Umbruchs zwischen primitiver Sippen- und Stammesorganisation auf der einen Seite, und Kapitalismus und Industriegesellschaft auf der anderen Seite befindet, tauchen Typen von Sozialbanditentum auf, begleiten diese sozusagen. Diese Phase des Umbruchs ist eine Phase, die die Auflösung der (althergebrachten) Gesellschaft auf Basis von verwandtschaftlichen Beziehungen (mit-)einschließt, ebenso wie den Übergang zum Agrarkapitalismus. Ähnlich zu dem, was Eric J. Hobsbawm über das (historische) Banditentum und die Banditen schreibt, könnte man auch eine Analogie zu den Piraten(-banden) und dem Piratentum in Somalia ziehen, wie ich untenstehend noch versuchen werde weiter aufzuzeigen. Anders verhält es sich mit dem „Gewaltspezialist“, der stärker in Partisanen-, Guerillaorganisationen o.ä. anzutreffen ist. Bei den somalischen Piratenbanden kommt es meines Erachtens zu einer Melange von Beiden. (Vgl. Hobsbawm 1972: 12, 17, 41, 49, 52) Außerhalb der staatlichen Souveränität stehend (und selbige bekämpfend) befinden sich der Terrorist und der Partisan. Die Unterscheidung zwischen Terrorist und Partisan ist letztendlich eine politische; trotz der fehlenden staatlichen Anbindung agiert der Partisan in einem politischen Raum, d.h. er genießt Unterstützung in der Bevölkerung, so dass es den staatlichen Behörden und dem Führungspersonal des Staates nicht umstandslos möglich ist ihn zu kriminalisieren und damit als ein rein polizeiliches Problem darstellen und behandeln zu können (vgl. Dahlmann 2006: 240). „Der Partisan ist, um diese Kriminalisierungsstrategie kontern zu können, gezwungen – dem irregulären Charakter seiner Aktionen eigentlich zuwider –, auf staatliche Regularität, auf eine zumindest potentielle Legalisierung dennoch bezogen zu bleiben. Seine nicht-staatlichen, irregulären Aktionen zielen deshalb auf eine zukünftige Verstaatlichung der von ihm verfolg-
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Zwischen Staatsaufbau und Staatszerfall – eine Betrachtung ten Politik, sie erstreben die Überwindung, Ersetzung oder Übernahme der aktuellen Staatlichkeit, bleiben auf diese jedenfalls fixiert. Anders als der politisch nicht anerkannte ‚Terrorist‘ handelt der Partisan als politisches Subjekt – ohne diese Anerkennung besäße er keine Legitimität, wäre er ein Krimineller wie jeder gewöhnliche Raubmörder, Geiselnehmer, Taschendieb.“ (ebd.).
Bakonyi hält fest: „Der Gewaltspezialist wurde in der Anwendung von Gewalt ausgebildet und verfügt daher über das entsprechende ‚kulturelle Kapital‘ zur Organisation der Gewaltfähigkeit einer Gruppe.“ (Bakonyi 2011: 64). Der „Gewaltspezialist“, wie Jutta Bakonyi ihn (be-)nennt, trainiert andere Mitglieder der Gruppe und ist für die Planung und Durchführung (quasi-)militärischer Operationen sowie deren Koordination zuständig. Bei den Gewaltspezialisten handelt es sich daher gehend in häufigen Fällen um ehemalige Mitglieder staatlicher Sicherheitsorgane/-dienste; im Weiteren sind es zumeist Personen, die zwar aus dem nichtstaatlichen Bereich kommen, dort aber auch bereits Gewalterfahrungen gesammelt haben: Banditen, kriegerische Nomaden, Söldner und letztendlich auch Piraten. Oftmals ist dabei zu beobachten, dass Gewaltorganisationen die Gefahr bergen, das sie sich verselbstständigen, das politische Vorgaben, Ziele und Regeln außer Kraft gesetzt bzw. (bewusst) ignoriert werden. (Vgl. Bakonyi 2011: 65f.) „[I]hre überlegene Gewaltfähigkeit [verleitet] die Gewaltspezialisten zur Kultivierung von Sonderrechten und zum willkürlichen Einsatz ihrer Gewalt auch gegen diejenigen Menschen und Gruppen, zu deren Verteidigung oder Schutz sie ursprünglich angetreten sind. Zum anderen entwickelt sich innerhalb der Gewaltorganisation oft ein berufsständisches Eigenethos. Ohne entsprechende zivile Kontrolle und Eindämmung tendiert das Militär oder der militärische Flügel daher zur Expansion über den gesellschaftlichen Raum und zur Usurpation des Politischen.“28 (Bakonyi 2011: 66). Dies ist natürlich nicht nur einseitig, in eine Richtung, zu denken – so können auch umgekehrt politische Akteure in den Gewaltorganisationen Wirkung entfalten und dort wiederum (soziale) Grenzverläufe aktivieren, forcieren und somit Inklusions-/ Exklusionsmechanismen innerhalb der Organisation freisetzen, was letztendlich ein Konkurrenzverhältnis innerhalb der Organisation zur Folge hat bzw. haben kann. Dies kann wiederum dazu führen, dass sich Teile der Gewaltorganisation abspalten und in offene, zum Teil durchaus gewalttätige, Konkurrenz zu der einstigen Organisation treten und vice versa. (Vgl. ebd.: 66f.) Die Struktur der Gewaltorganisation prägt den Kriegsverlauf ebenso wie der Kriegsverlauf selbst wieder auf die Organisationsstruktur der Gewaltorganisation selbst zurückwirkt. Bei der Struktur der Gewaltorganisation ist zu beachten, dass sie sich in der (direkten) Konfrontation mit einem Gegner konstituiert und formiert und da es sich in den meisten Fällen des Gegners um einen bzw. den Staat handelt, einem in der Regel sehr gut organisierten Gegner. Dies ist nämlich auch 28 So sei nur als ergänzendes Beispiel das Beispiel Ruanda genannt (man könnte auch andere Länder als Beispiel nennen und dies nicht zu knapp), wo die Armee selbst eine Gefährdung der Inneren Sicherheit darstellte und zudem war sie nicht willens – wie andere Sicherheitsorgane in diesem Lande auch – Gewalttäter zu verfolgen und entsprechende Maßnahmen gegen sie einzuleiten (vgl. Hilz / Rübenach 2007: 67).
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das (langfristige) Anliegen dieses Gewaltakteurs: den Staat herauszufordern und (dadurch) sichtbar zu werden. Genau darin liegt der Gegensatz zu einer (gewöhnlichen) kriminellen Verbrecherbande, der es nämlich darum geht, sich (möglichst unbehelligt) zu bereichern; dies soweit wie möglich klandestin, unter weitgehender Umgehung und Distanz von bzw. zu staatlichen Strukturen und Organisationen. Dies hat auch wiederum (seine) Rückwirkung auf die interne Struktur der Gewaltorganisation; hat die kriminelle Verbrecherbande ein Interesse daran, dass sie soweit wie möglich klein bleibt, das bedeutet, dass sie soweit wie möglich nur wenige Mitglieder umfasst, hat eine Gewaltorganisation, die den Staat herausfordern möchte, dagegen jedoch ein Interesse daran, dass sie möglichst viele Mitglieder, Sympathisanten usw. umfasst. Dabei ist jedoch natürlich klar, dass, je größer die Gruppe und ihr Umfeld wird, um so mehr werden allein für die Aufrechterhaltung und Organisation der Gruppe Kräfte und Ressourcen in Anspruch genommen. Es bildet sich somit ab einer bestimmten Größe so etwas wie eine Verwaltung heraus, ebenso findet eine Art Differenzierung statt, die sich in Arbeitsteilung und (damit verbunden) Spezialisierung ausagiert. Ist die Gewaltorganisation jedoch patrimonial aufgestellt, findet keine (Ab-)Trennung der Verwaltung von der politischen (Führungs-)Ebene statt, sondern die Bindungen sind – im Gegenteil – recht eng geknüpft. (Vgl. Bakonyi 2011: 78ff.) „Herrschaft sowohl im Inneren als auch nach außen konstituiert sich im Alltag primär als Verwaltung“ (Bakonyi 2011: 86). Ebenso ist die interne Strukturierung von Gewaltgruppen von Interesse, da „[d]ie Beziehungen der Mitglieder des Führungsstabes zueinander […] Aufbau und Ausgestaltung der Gewaltgruppe [beeinflussen] und […] auf ihre Mobilisierungsfähigkeit [wirken], da die gegenseitige Anerkennung und Solidarität der Privilegierten als erster Schritt zur Verankerung einer neuen Ordnungsvorstellung fungiert.“ (Bakonyi 2011: 80).
Diese Machtbildung von Gewaltgruppierungen, die sich jenseits von Staat und Staatlichkeit vollzieht, kann verortet werden zwischen den (idealtypischen) äußeren Punkten Warlordfiguration29 und Quasi-Staat (vgl. ebd.: 86). Anhand der Erfahrungen, die im Guerillakampf gesammelt wurden, zeigt sich, dass eine dezentrale Organisation der Gewaltorganisationen, und damit verbunden die Eigenverantwortlichkeit und Möglichkeit zu eigenständigen Entscheidungen, sowohl der administrativen als auch der militärischen Einheiten, von Vorteil ist und oftmals Erfolge mit sich bringt. Jedoch besteht dabei die Gefahr, dass damit zentrifugal wirkende Kräfte in Erscheinung treten können bzw. massiv verstärkt werden können, das bedeutet, dass die dezentral organisierten militärischen Einheiten, die Kampfeinheiten – wie obenstehend beschrieben – sich in konkurrierende Gewaltgruppen transformieren; und dadurch selbst wieder zur Gefahr für die einstige Gewaltorganisation werden (können). Mit der Stabilität der Gewaltorganisationen und damit deren inneren Legitimation 30 verhält es sich daher gehend 29 Zu der Thematik des Warlords wird untenstehend Weiteres ausgeführt werden. 30 Bakonyi verweist hierbei auf Max Weber und dessen Untersuchungen zu Herrschaft. Weber unterscheidet dabei idealtypisch drei Prinzipien von Herrschaftslegitimation: die formalrationale, die traditionale und die charismatische Herrschaft. (Vgl. Bakonyi 2011: 81)
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so ähnlich wie mit der Souveränität, ein wesentlicher Bestandteil ist der Glaube daran. So lässt man den Mitgliedern der Gewaltorganisation – nebst der militärischen Ausbildung – auch eine ideologische Schulung angedeihen; denn der Glaube an einen missionarischen Auftrag, die Vorstellung des Auserwähltseins, erhöht die Bereitschaft der Mitglieder der Gewaltorganisation auch noch das Letzte zu geben – und sei es sich selbst zu opfern31. (Vgl. Bakonyi 2011, 81f.) 4.1.2.2. Bürgerkrieg Der Bürgerkrieg ist die eigentliche, die Primärform aller (kriegerischer) Konflikte, die kollektiv geführt wurden, davon legt schon der Peloponnesische Krieg Zeugnis ab. Der gehegte Krieg zwischen (souveränen) Staaten, das bedeutet gegen einen äußeren, klar definierten Feindstaat, so wie wir ihn kennen oder wie er zumindest beständig angemahnt wird, ist eine vergleichsweise späte Entwicklung. Trotz dessen – oder vielleicht auch gerade deswegen – erscheint der Bürgerkrieg, in und mit den Augen der Haager Landkriegsordnung, mit der eine Hegung des Krieges vollzogen/ versucht wurde, betrachtet, als eine Ausnahme von der Regel, die in der Haager Landkriegsordnung ‚festgeschrieben‘ wurde, und somit quasi als eine irreguläre Form des Konfliktes. Auch bei Clausewitz – der gemeinhin als der Theoretiker des Krieges schlechthin betrachtet wird – findet der Bürgerkrieg keine Erwähnung. „Die wirre Realität sprengt nicht nur die formalen Definitionen der Juristen.“ (Enzensberger 1996: 10). So liegt laut Hans Magnus Enzensberger bis zum heutigen Tag keine brauchbare Theorie des Bürgerkriegs vor. (Vgl. ebd.: 9f.) Unabdingbar mit der Dynamik des Bürgerkriegs verbunden ist die Spirale der Bewaffnung – denn dort, wo der Staat sein Gewaltmonopol eingebüßt hat, Souveränität nicht mehr (länger) existiert, verteidigt ein jeder sich selbst; es ist der Urmythos bei Hobbes, der solange vergessen/ verdrängt wurde, der wieder fröhlich Urstände feiert – der Krieg eines jeden gegen jeden 32. (Vgl. Enzensberger 1996: 57) Doch findet auch im Bürgerkrieg in einem gewissen Maße die Organisierung und damit auch eine Hegung von Gewalt statt: „Gewalt, will sie über einen längeren Zeitraum fortbestehen, braucht ein Mindestmaß an Organisierung. Ohne sie entfaltet sie sich als spontane Erhebung oder Krawall und flaut ebenso schnell wieder ab, wie sie sich formiert.“ (Bakonyi 2011: 154). Dies zeigten auch Beispiele in Somalia – wo es zwar zu spontanen (Massen-)Aufständen gegen die Repression des Staates kam, diese aber jedoch auch schnell wieder abflauten. (Vgl. ebd.) „Der Formwandel kriegerischer Gewalt, das „Chamäleon“ Krieg, lässt sich […] nur als Ausdruck der widersprüchlichen Entwicklung der Moderne und der Ungleichzeitigkeit ihrer globalen Durchsetzung verstehen.“ (Jakobeit 2006: 7). Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass nicht jedwede Ordnung zusam31 Siehe hierzu auch: Scheit 2004: 433f. 32 Bei Hobbes ist die Beschreibung des Naturzustands polemisch gemeint und soll dadurch zur Aufgabe dessen motivieren (vgl. Strauss 1932: 223).
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menbricht sobald ein (Bürger-)Krieg ausbricht – vielmehr kann er selbst eine alternative soziale Ordnungsform darstellen; dabei zeichnet er sich durch Dynamik und Komplexität aus, er ist nicht statisch, sondern findet in einem/ als ein prozesshafter Vollzug seiner selbst statt (vgl. Bakonyi / Stuvøy 2006: 38). „Die Anwendung von Gewalt im Kontext innerstaatlicher Kriege und bewaffneter Konflikte ist nicht nur ein gesellschaftliches Phänomen, sondern entfaltet auch eine eigene soziale Dynamik, die auf alle gesellschaftlichen Ebenen übergreift.“ (ebd.: 38f.). In diesem Zusammenhang werden auch die Regeln, die gemeinhin in den Zeiten Geltungskraft besitzen, in denen kein Krieg stattfindet, d.h. in Zeiten des Friedens, außer Kraft gesetzt – sei es ob sie ökonomische, soziale oder auch symbolische Funktionen erfüllen und damit Herrschaftsverhältnisse grundieren. Jedoch ist dieser Prozess nicht nur ein Prozess, der zerstört – sondern durch und mit ihm geht auch eine Transformierung von neuen sozialen Formen einher, die letztendlich in der Etablierung selbiger enden (können). Dieses Ergebnis, die soziale Ordnung, die sich unter der Bedingung und dem Einfluss von beständiger und kontinuierlicher Ausübung von Gewalt herausbildet, versuchen Jutta Bakonyi und Kirsti Stuvøy mit der Begrifflichkeit „Gewaltordnung“ einzufangen. Dabei ist Gewalt als dynamisch zu verstehen: „Als Massengewalt wirkt sie auf die soziale Komposition einer Gesellschaft, transformiert bestehende Beziehungen und Machtbalancen und verändert nicht zuletzt auch die Wahrnehmung und Interpretation von Geschehnissen.“ (Bakonyi 2011: 170). Die Richtung, in die die Gewaltdynamik verläuft und auch wohin sich die Gewalt entlädt, ist im Falle Somalias bestimmt und eingebettet durch und in das Denken in den Kategorien, die das Clansystem 33 vorgibt. (Vgl. Bakonyi / Stuvøy 2006: 39; Bakonyi 2011: 170) Wird eine Gewaltorganisation aufgebaut und werden hierfür Kombattanten, Ressourcen und Sympathisanten mobilisiert, werden die Voraussetzungen für einen (Bürger-)Krieg geschaffen und zugleich auch die Modalitäten für den Übergang zwischen Konflikt und Krieg festgelegt. Krieg kann aufgrund seiner Erschöpfbarkeit von Mensch und Material sich nicht als Gewaltexzess verstetigen 34. Dahergehend lässt sich in allen länger andauernden Kriegen beobachten, wie verschiedene Phasen sich ablösen – Phasen der Eskalation mit Phasen der Deeskalation und einer gewissen Ruhe. Die Phasen der Ruhe dienen hierbei zumeist zur Reorganisation und ggf. zum Ausbau der eigenen Gewaltorganisation und zur (Ver-)Festigung der Macht in den bereits beherrschten Territorien 35. Dabei ist jedoch zu beachten, dass den Gewaltgruppierungen auch in den Phasen der Deeskalation daran gelegen ist, weiterhin Freund-Feind-Schematas zu (re-)produzieren sowie die Mitglieder im Training und unter Waffen zu halten, da andernfalls die Gefahr bestünde, dass der Krieg langsam aber beständig ‚auslaufen‘ würde und der status quo auf unabsehbare Zeit beibehalten würde. (vgl. Bakonyi 2011: 84f.) Doch es gilt auch zu bedenken, dass 33 Näheres zum Clansystem in Kap. 6.6. 34 „Kriege kennen oft lang anhaltende Zeiten ohne Gewalt.“ (Bakonyi 2011: 85). 35 So hängt der Erfolg einer Gewaltorganisation entscheidend davon ab, inwieweit es von Erfolg gekrönt ist, ihre Ordnungsvorstellungen und Ideen in den Menschen in dem von ihnen kontrollierten Territorium zu implementieren und zu verfestigen (vgl. Bakonyi 2011: 85).
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Zwischen Staatsaufbau und Staatszerfall – eine Betrachtung „Gewaltorganisationen […] ja nicht die einzigen Akteure [sind], die den Krieg beeinflussen und auf ihn wirken. Lokale Autoritäten, lokale und internationale Firmen, internationale Organisationen, Händlernetzwerke, NGOs etc. interagieren auch im Krieg sowohl miteinander als auch mit den Gewaltgruppen.“ (Bakonyi 2011: 85).
4.1.2.3. Exkurs I: Verdrängung der Souveränität Wie ich obenstehend und auch in Kapitel 3 versucht habe aufzuzeigen, macht Souveränität den Kern von Staatlichkeit und damit dem Staat aus. Dies macht sich meines Erachtens auch gerade bei der Betrachtung der Geschichte Somalias, die unter diesem Fokus untenstehend geleistet werden soll – ex negativo – bemerkbar. Dennoch gibt es immer wieder – auch gerade in jüngster Zeit – Bestrebungen in der Theoriebildung, die Souveränität nicht als zentral und nicht als Kern von Staatlichkeit und für den Staat unabdingbar zu betrachten; dies soll im Folgenden kurz betrachtet werden. Hans Kelsen hält an einem Begriff von Souveränität nur noch als einem ausschließlich formalen Begriff fest, er wendet sich gegen die ideengeschichtliche Tradition von Souveränität und mag nur noch in der universellen Völkerrechtsordnung die einzige und wahre Souveränität erkennen (vgl. Voigt 2007: 262). Kelsen löst somit ebenfalls Souveränität in Recht auf bzw. versucht dies (Voigt 2010: 141f.). Es bedarf jedoch „eines souveränen Monopols von Gewaltsamkeit, das bei Suspendierung von demokratischen Rechten [oder beim Verstoß gegen (geltendes) Recht (Anm. von mir – T.S.)] in der Lage ist, diese Suspendierung zu sanktionieren und damit Freiheit zu sichern“ (Salzborn / Voigt 2010: 16).
Der der Strömung des Poststrukturalismus zugerechnete Philosoph Michel Foucault erklärt im zweiten Teil seiner 1978/79 am Collège de France gehaltenen Vorlesung zur Geschichte der Gouvernementalität „Die Geburt der Biopolitik“ (Foucault 2004) bzgl. des Staates und einer Theorie bzw. Analyse des Staates: „daß ich auf eine Staatstheorie verzichte, verzichten will und muß, wie man auf eine schwer verdauliche Speise verzichten kann und muß. […] Es geht nicht darum, diese ganze Gesamtheit von Praktiken von dem abzuleiten, was das Wesen des Staates an und für sich selbst wäre. Wir müssen zuallererst ganz einfach deshalb auf eine solche Analyse verzichten […] weil nämlich der Staat gar kein Wesen hat. Der Staat ist kein Universale, der Staat ist an sich keine autonome Machtquelle. Der Staat ist nichts anderes als die Wirkung, das Profil, der bewegliche Ausschnitt einer ständigen Staatsbildung oder ständiger Staatsbildungen, von endlosen Transaktionen, die die Finanzierungsquellen, die Investitionsmodalitäten, die Entscheidungszentren, die Formen und Arten von Kontrolle, die Beziehung zwischen den lokalen Mächten und der Zentralautorität usw. verändern, verschieben, umstürzen oder sich heimtückisch einschleichen lassen. Kurz, der Staat hat keine Innereien […] er hat keine Innereien in dem Sinne, daß er kein Inneres hat. Der Staat ist nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten [Herv. v. m. – T.S.].“ (Foucault 2004: 114f.).
Michel Foucault verkennt somit m.E. das, was den Staat ausmacht, und versucht es aufzulösen bzw. zu verdrängen. Denn das, was den Staat ausmacht, was sein In-
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nerstes ist und was letztendlich der Gehalt von Staatlichkeit ist, ist die Souveränität – wie eine lange Denktradition, deren Anfang man spätestens im Jahre 1576 mit dem Werk „Sechs Bücher über den Staat“ von Jean Bodin36 benennen kann, aufweist (vgl. Salzborn / Voigt 2010: 13). Foucault (und mit ihm auch andere dem Poststrukturalismus zugerechnete Philosophen wie bspw. Derrida, Deleuze oder Guattari) ist jedoch bestrebt – im Gefolge Hans Kelsens –, die Verdrängung von Souveränität einzufordern, da Souveränität in dieser Denkrichtung als die Wurzel allen Übels gilt (vgl. Voigt 2010: 141). Dahinter steht der Versuch der philosophischen Ablösung des (maßgeblich kontinentaleuropäischen) Denkens der Souveränität und Hierarchie (vgl. Hirsch 2007: 69f.), um damit gänzlich „die Vorstellung eines souveränen, von oben nach unten agierenden Zentrums der Macht“ (Heidenrich 2010: 124) zu verwerfen. Michel Foucaults Thema, und ihm folgend Gilles Deleuze und Felix Guattari37, ist entsprechend die Dezentrierung der Gesellschaft (vgl. Hirsch 2007: 69) – „[d]ie Gesellschaft erscheint hier als ein unendliches und unendlich komplexes „Immanenzfeld“, bestehend eher aus („Flucht“-)Linien als aus festen Punkten“ (ebd.). Bei Deleuze und Guattari ist damit dann der Staat auch kein (eigenständiger) Punkt mehr, der all die anderen Punkte auf sich zieht bzw. ziehen mag, sondern nur mehr eine Resonanzbox für alle Punkte insgesamt (vgl. ebd.: 71). 4.1.2.4. Exkurs II: Behemoth Thomas Hobbes analysiert in seinem Werk „Behemoth or the Long Parliament” die Ursachen des englischen Bürgerkriegs (vgl. Münkler 2001: 51). Sowohl die Figur des „Leviathan“ als auch die des „Behemoth“ entstammen der jüdischen Eschatologie babylonischen Ursprungs (vgl. Neumann 2004: 16), beide sind zudem untrennbar miteinander verbunden; dies gilt auch für die beiden Werke Hobbes‘, sie bilden eine dialektische Einheit. Steht der „Leviathan“ für Souveränität und Frieden, so steht der „Behemoth“ für die Auflösung von Souveränität, für Bürgerkrieg und den Rückfall in den Naturzustand (vgl. Herz 2008: 214). Den biblischen Texten zufolge existieren Leviathan und Behemoth als zwei Wesen, die Gott am Fünften Tage erschaffen hat – die dann jedoch voneinander getrennt wurden 38. Dem Leviathan wurde das Wasser als sein Revier zugewiesen, dem Behemoth das Land. In der messianischen Zeit wird Gott – und nur allein Gott ist in der Lage sie 36 Wie auch „Der Fürst“ von Macchiavelli und der „Leviathan“ Hobbes‘, der als Reaktion auf den englischen Bürgerkrieg entstand, ist das Werk Bodins ein Versuch der politischen Intervention (das Frankreich zu Zeiten Bodins stand vor einer politischen Zerreißprobe, hervorgerufen durch die konkurrierenden Kräfte, die im Verlaufe der Reformation entstanden) (vgl. Münkler 2001: 51; Opitz-Belakhal 2010: 43). 37 Aus aktueller Diskussion ließe sich hier noch Hardt und Negri mit ihrem Buch „Empire“ einfügen, sie übernehmen die Feststellungen von Foucault bzw. Deleuze und Guattari und stellen dabei eine Herrschaftsstruktur fest, die vollständig dezentriert und deterritorialisiert sei (vgl. Hirsch 2007: 70). 38 Im Talmud-Traktat „Bava Batra“ wird ausgeführt, dass solange der Leviathan existiert und am Leben bleibt, auch der Behemoth am Leben bleibt (vgl. Bava Batra: 74b).
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zu überwältigen – sie töten und den übriggebliebenen Frommen zur Speise geben. (Vgl. Batto 1999: 166) Während jedoch in der biblischen Mythologie Behemoth und Leviathan von Gott umgebracht werden, ist es in staatstheoretischer Hinsicht der Behemoth, der den Leviathan umbringt. In Umkehrung zu der Textstelle in Büchners „Dantons Tod“, bei der er Danton sagen lässt: „Ich weiß wohl, – die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eignen Kinder.“ (Büchner 2013: 23), ist es der Behemoth 39, der den Leviathan frisst; denn es war der Leviathan, der überhaupt erst die Möglichkeit zur Existenz des Behemoths geschaffen hat, denn er schuf die Hülle, in der der Behemoth entstehen und sich entwickeln konnte und die er letztlich zur Bemäntelung seiner selbst verwendet. Der Leviathan wird quasi von innen gefressen, bis nur noch die Hülle und damit der Schein stehen bleibt40. Es ist nurmehr die „entseelte Hülle“ (Pohrt)41, die zurückbleibt. 4.1.2.4.1. Das nationalsozialistische Deutschland Franz L. Neumann greift die Begrifflichkeit „Behemoth“ wieder auf, sein Anliegen ist es, mit seinem Werk „Behemoth – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944“ (Neumann 2004): „die Gesamtstruktur der nationalsozialistischen Gesellschaft darzustellen – die Verflechtung von Staat, Recht, Ökonomie, Politik und Kultur.“ (Neumann 2004: 272). Jedoch ist es nahezu unmöglich, eine politische Theorie des Nationalsozialismus zu definieren, da man sich keine der vorangegangen politischen Ideen zu eigen machen kann (vgl. Neumann 2004: 531) – dasselbe Problem, vor dem auch Ernst Fraenkel stand und was diesen zu der Begrifflichkeit des „Doppelstaat“ führte (vgl. Fraenkel 2001). Neumann wird – wie obenstehend bereits angeführt – bei Hobbes fündig: Wird mit dem allseits bekannten Leviathan ein Staat mit ausgeprägter Souveränität beschrieben, in welchem noch Reste der Herrschaft des Gesetzes und individueller Rechte bewahrt sind, wird mit dem Behemoth ein Unstaat voller Chaos, Gesetzlosigkeit und Aufruhr beschrieben; genau jenen erkennt Neumann im Nationalsozialismus, weswegen er dem nationalsozialistischen System den Namen „Behemoth“ verleiht (vgl. Neumann 2004: 16). Entlang der doppelten Ambivalenz, der der Differenzierung zwischen Souveränität und Freiheit, zwischen Macht und Gesetz organisiert sich der moderne Staat. Der Nationalsozialismus strebte jedoch an, den modernen Staat gerade in dieser, seiner ihm eigenen, Ambivalenz zu eliminieren und dem Unstaat, dem Behemoth zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. Salzborn 2010c: 325), „in dem Ambivalenz und Nicht-Identität zerstört und die Phantasie der völkischnarzisstischen Homogenität durch antisemitische Vernichtung realisiert ist“ (ebd.). 39 Der auch durch die Revolution geschaffen wurde – historisch die nationalsozialistische Revolution in Deutschland und die Islamische Revolution im Iran. 40 So gilt– mit den Worten Wolfgang Pohrts – wohl auch in diesem Fall: „Wenn die Sache untergeht, bleibt der Begriff von ihr zurück.“ (Pohrt 2000: 152). 41 Bei Wolfgang Pohrt findet der Begriff jedoch in einem etwas anderen Zusammenhang Verwendung: Er beschreibt damit die (bürgerlichen) Subjekte beim Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft zum Spätkapitalismus (vgl. Pohrt 2000: 152).
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Neumann stellt heraus, dass die herrschende Klasse im nationalsozialistischen Deutschland keineswegs homogen ist; was sie zusammenhält ist das Regiment des Terrors, die Furcht und der Umstand, dass sie darum wissen, dass der Zusammenbruch des Regimes der Untergang ihrer aller wäre (vgl. ebd.: 459). Eine Staatlichkeit, die sich eben durch die Einheit der von ihr ausgeübten Gewalt auszeichnet, ist im nationalsozialistischen Deutschland – Neumanns Erachten nach – nicht erkennbar; ebenso wenig ein Organ, bei dem das Monopol der politischen Macht läge (vgl. ebd.: 541f.). Vielmehr ist die Gesellschaft in vier festgefügten zentralisierten Gruppen organisiert (Armee, Partei, Industrie und Bürokratie), diese werden nicht von einer gemeinsamen Loyalität zusammen gehalten (vielmehr geht es jeder einzelnen um die Wahrung ihrer eigenen Interessen) sondern nur dadurch, dass sie sich gegenwärtig alle jeweils gegenseitig brauchen 42 (vgl. ebd.: 460), so einigen sie sich mittels informeller Absprachen auf eine bestimmte Politik. Jede einzelne operiert mittels des Führerprinzips und besitzt eine eigene legislative, administrative und judikative Gewalt, damit setzen sie die getroffenen Absprachen durch; somit existiert auch kein Bedürfnis nach einem Staat, der über allen Gruppen steht43. Entscheidungen, die angeblich der Führer gefällt hat, sind lediglich die Ergebnisse der zuvor erzielten Kompromisse dieser Gruppen, auch wenn es die charismatische Führergewalt ist, die diese vier Gewalten koordiniert und letztlich zusammenhält, da durch den Wegfall des Führers bzw. der Einbuße seiner scheinbaren Allmacht, diese Gruppen unweigerlich auseinanderdriften würden (vgl. ebd.: 460 u. 542f.). 4.1.2.4.2. Die Islamische Republik Iran Im Iran wurde das Problem der Souveränität mit der Islamischen Revolution von 1979 und damit einhergehend der Errichtung der Islamischen Republik Iran auf neue Art und Weise zugespitzt. „Die Grenzen zwischen souveränen Staaten und politischen Banden, regulären Armeen und terroristischen Gruppen sind nun wirklich fließend geworden – und nirgendwo sind sie so fließend wie im Fall der Islamischen Republik Iran.“ (Scheit 2008: 58).
Die Entwicklung im Iran seit der Revolution machte die Bildung von Souveränität rückgängig, und praktisch wurde damit Staatlichkeit letztendlich aufgehoben (vgl. Scheit 2010: 191). Die Islamische Revolution im Iran, die die heutige „Islamische Republik Iran“ hervorbrachte, ist in ihr selbst das Gegenteil von einer bürgerlichen Revolution, wie sie in der Französischen Revolution zutage trat. So hob die Französische Revolution – wie obenstehend bereits aufgezeigt – das Gewaltmonopol auf, und an dessen Stelle trat die unmittelbare Gewalt terroristischer Gruppierungen; jedoch entspringt daraus wieder das Recht, das vom neuen Gewaltmono42 Da aber keine gemeinsame Loyalität existiert, könnte es durchaus geschehen, dass eine Gruppe die andere oder alle anderen verschlingt (vgl. Neumann 2004: 544). 43 Ich würde dieses Argument noch weiter zuspitzen und sagen, dass nicht nur kein Bedürfnis besteht, sondern, dass ein solcher Staat überhaupt nicht existieren kann und darf, soll die bestehende (Un-)Ordnung weiter existieren.
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pol garantiert wird, dadurch wird auch der Rahmen einer kapitalistischen Ökonomie, d.h. der von Produktion und Verwertung, ermöglicht und gesichert. Im Falle der Islamischen Revolution im Iran jedoch, setzt sich der Terror ungebrochen in den Formen der Sharia und ihrer Anwendung weiter fort und wird dabei von den Renditen aus dem Erdölgeschäft gedeckt (vgl. Scheit 2007a: 23). Der Staat ist als „Einheit von abstrakter politischer Gleichheit und realer ökonomischer Ungleichheit zu bestimmen“ (ebd.); – es ist, wie Franz L. Neumann herausarbeitete, einerseits die Transformation der ökonomischen Machtverhältnisse in rechtliche Strukturen und damit eine Verschleierung der realen Herrschaftsverhältnisse, andererseits jedoch zugleich die Garantie eines Minimums an persönlicher und politischer Freiheit – auch und gerade für die subalterne Klasse (vgl. Salzborn 2009: 16f.). In der Islamischen Republik Iran wird genau jene Einheit auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlichen Formen durch unmittelbare Gewaltverhältnisse ersetzt. Durch die Gründungen von Organen und Organisationen nichtstaatlicher Verfasstheit und die Einsetzung von geistlichen Führern – den Mullahs, die als Instanzen zur Kontrolle des Staates dienen sollen – wird gezielt die Herausbildung eines Gewaltmonopols, das Voraussetzung und notwendige Bedingung für (staatliche) Souveränität ist, untergraben bzw. verhindert (vgl. ebd.). Exemplarisch stehen hierbei die Pasdaran (Revolutionsgarden) und die Bassidschi (Organisation der nationalen Mobilisierung, die Armen) (vgl. Scheit 2008: 64). Die Existenz der Revolutionsgarden und ihre Weigerung 44 sich der Armee zu unterstellen, sind der Garant dafür, dass es zu keiner Monopolisierung von Gewalt(-en) kommt – die Gewalt ausübenden Organisationen, die nur noch als Rackets zu begreifen sind, agieren somit nahezu autonom. In der Islamischen Republik „ist die Gewaltenteilung nur der Schein, hinter dem sich die reale Dissoziation des Gewaltmonopols verbirgt“45 (Scheit 2010: 194). Alles hängt davon ab, wie sich die unterschiedlichen Gruppierungen – die Rackets – miteinander arrangieren, und ob es ihnen überhaupt gelingt sich zu arrangieren. Somit steht in jeder noch so kleinen politischen Entscheidung im Alltag letztendlich die Herrschaft auf dem Spiel – es herrscht somit der Ausnahmezustand in Permanenz (vgl. ebd.). 4.1.2.5. Der Staat und seine Auflösung bei Carl Schmitt Da das Staatsverständnis Carl Schmitts und damit verbunden dessen Betonung der Souveränität als Kern von Staatlichkeit, in den bisherigen Ausführungen einen prominenten Platz eingenommen hat, soll an dieser Stelle kurz auf ihn, in Verbin44 Es ist jedoch nicht nur die Weigerung der Revolutionsgarden, es ist auch nicht gewünscht; galt und gilt doch die iranische Armee als für die islamistischen und z.T. djihadistischen Bestrebungen des Iran als unzuverlässig und als die letzte Bastion von Schahtreuen (vgl. Buchta 2004: 13). 45 Symptomatisch steht hierfür die Zersplitterung der Gerichtsbarkeit im Iran (vgl. Scheit 2010: 194); der Oberste Gerichtshof, Zivil- und Strafgerichte sind ausgehebelt durch sogenannte Sondergerichte: Militärgerichte, Revolutionsgerichte, Gerichtshof für die Gerechtigkeit der Bürokratie, Sondergericht für den Klerus, Pressegerichte (vgl. Scheit 2008: 63).
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dung zur Auflösung von Staatlichkeit im Nationalsozialismus, eingegangen werden. Schmitt versteht unter Staat gemeinhin den religiös neutralisierten und von der Kirche unterschiedenen neuzeitlichen Staat, so wie ihn auch Bodin und Hobbes in Anschlag brachten – durchaus kennt Schmitt auch andere Formen des politischen Ordnungsdenken: die antike Polis und das alte Reich; der Staat ist für Schmitt nur ein konkreter, an eine Epoche gebundener Begriff zur Organisierung des Politischen (vgl. Mehring 2001: 23). Zwar ist der Staat bei Carl Schmitt zentraler Begriff, um ihn kreist das Denken Schmitts wesentlich; dennoch setzt der Begriff des Staates – laut Schmitt – bereits den Begriff des Politischen voraus (vgl. Schmitt 2009: 19); entsprechend lautet auch der berühmte Eingangssatz des Textes von 1932 „Der Begriff des Politischen“ (Schmitt 2009): „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ (ebd.: 19). Doch auch der Begriff des Politischen ist selbst wiederum nicht voraussetzungslos; Heinrich Meier stellt in direkter Anknüpfung an Schmitts Aussage selbst heraus: „Carl Schmitts Begriff des Politischen setzt den Begriff des Feindes voraus.“ (Meier 1994: 51). Denn nach Schmitt ist die spezifisch politische Unterscheidung, auf der das Politische beruht, die Unterscheidung zwischen Freund und Feind; so wie es im Gebiet des Moralischen die letzte Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, im Ästhetischen zwischen Schön und Hässlich, ist das Politische in letzter Unterscheidung die Unterscheidung zwischen Freund und Feind (vgl. Schmitt 2009: 25). Der bzw. ein Staat zeichnet sich dadurch aus, dass er das Monopol des Politischen inne hat (vgl. ebd.: 22). Ebenso kreiste Schmitts Denken 46 stetig zentral um den Begriff der Souveränität und ebenso betonte er auch stets die Gefahr, die drohe, wenn Souveränität erodiert. Franz L. Neumann vermag – wie dargestellt – in dem nationalsozialistischen Deutschland nur noch den Behemoth erkennen, das sich durch seine Auflösung von Souveränität auszeichnet, das keinen Staat mehr darstellt, sondern nur mehr einen Unstaat. Schmitt muss von diesem Umstand selbst – ob bewusst47 oder unbewusst – Ahnung gehabt haben, wenn er in seiner Schrift „Staat, Bewegung, Volk“ von 1933 schreibt: „An diesem 30. Januar [1933, d.h. der Tag, an dem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, d.h. der Tag der Machtübergabe – Anm. T.S.] ist der Hegelische Beamtenstaat des 19. Jahrhundert […] durch eine andere Staatskonstruktion ersetzt worden. An diesem Tag ist demnach, so kann man sagen, „Hegel gestorben““ (Schmitt 1934: 31f.).
Dem Staat, bisher alleiniger Inhaber von Souveränität und des Monopols des Politischen, werden Bewegung und Volk zur Seite gestellt und geht dabei in diesem Dreiklang auf.
46 Zumindest bis zum Jahre 1933. 47 Im Jahre 1939 befand die Zürcher „Weltwoche“, dass Schmitt für die deutsche Revolution die Rolle spiele, die Rousseau für die französische spielte (vgl. Noack: 218). Nur war die Französische Revolution – die sich liberté, egalité und fraternité auf die Fahnen schrieb – eben eine gänzliche andere, denn die deutsche, die ihren Kulminationspunkt in Auschwitz fand.
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4.1.3. Sterblichkeit von Staatlichkeit Die Gründe dafür, dass der Staat nicht mehr in der Lage oder willens ist, seiner Ordnungsfunktion nachzukommen und durchzusetzen und somit letztlich den Rückzug antritt bzw. antreten muss, sind vielfältig und verschieden: So ist es einmal Feigheit bzw. taktisches Kalkül, wie es Enzensberger für die Weimarer Republik konstatiert. Oder auch weil er der Lage schlichtweg nicht mehr Herr wird, die Gefängnisse bereits überfüllt sind und (somit) nur Trainingslager für die Gegner des Staates darstellen. Eine weitere Ursache ist, dass die Staatsmacht ihre Legitimität und damit ihre eigene Grundlage verliert, wofür Enzensberger die Sowjetunion als Beispiel anführt. Aber es kann auch das Regime selbst sein, welches die Bandenbildung befördert, die letztendlich den ganzen Staat zum Zerfall bringt, wie es das Beispiel Jugoslawien vor Auge führte. (Vgl. Enzensberger 1996: 58) Bei failing und failed states ist oftmals zu beobachten, dass andere Ordnungskategorien eine Rolle spielen. Oftmals sind 48 diese auch daran beteiligt, staatliche Souveränität auszuhöhlen respektive zu unterminieren, so bspw.: Clans (Somalia49, Tschetschenien50), Stämme (Afghanistan51, Jemen), der Islam (Somalia52, Tschetschenien53 usw.), die Nation54 (Jugoslawien55, Habsburger Reich56). Im Laufe der vorliegenden Arbeit werde ich dies an den Punkten, die für Somalia gelten, herausarbeiten und exemplifizieren. Es ist jedoch – mit Straßner und Klein – zu betonen, dass der Erosion von Staatlichkeit kein Determinismus inhärent ist; so gibt es durchaus Beispiele, bei denen der Erosion von Staatlichkeit entgegengetreten werden konnte, allerdings kann es dabei auch immer wieder zu Rückschlägen kommen (vgl. Straßner / Klein 2007: 9). Um Staatszerfall aufzuhalten, umzukehren oder einen bereits zerfallenen Staat wieder aufzubauen ist state-building notwendig57. State-Building ist dabei von nation-building zu unterscheiden, auch wenn sie – ebenso wie Staat und Nation 58 – in einer dialektischen Beziehung miteinander stehen und auch wenn die Begriffe (fälschlicherweise) oftmals synonym verwendet werden (vgl. Bürger 2007: 13; Nuscheler 2004: 407; Stütz 2008: 20f.). Es gilt zunächst, ein bestimmtes territorial definiertes bzw. abgegrenztes Gebiet, auf dem die Herrschaft ausgeübt wird, nach außen hin abzusichern. Dies bedeutet in Folge natürlich ebenso, dass ein (staatliches) Gewaltmonopol nach innen 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Und waren zumeist bereits im Vorfeld massiv daran beteiligt. Siehe hierzu Kap. 6.6. dieser Arbeit. Siehe hierzu: Holzmeier / Mayer 2007. Siehe hierzu: Zeitler 2007 und auch Fukuyama 2006: 143. Siehe hierzu: Kap. 6.5. dieser Arbeit. Siehe hierzu: Holzmeier / Mayer 2007. Diese kann sowohl unterminierend, wie aber auch aufbauend/ stabilisierend wirken (vgl. Stich 2011: 36f.); untenstehend werde ich diesen (dialektischen) Aspekt weiter ausführen. Siehe hierzu: Plietsch 2007. Zum Zusammenbruch des Habsburger Reichs siehe: Wank 1997. Fukuyama teilt dieses in drei Phasen/ Aspekte ein (vgl. Fukuyama 2006: 142f.). Wie untenstehend noch aufgezeigt werden wird.
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existiert und eine politische Ordnung konkurrenzlos durchgesetzt und exekutiert werden kann. Praktisch bedeutet state building somit: die Errichtung und Bereitstellung von Institutionen, die auch eine entsprechende Leistungsfähigkeit aufweisen, daneben den Aufbau eines Verwaltungsapparats mit entsprechender Wirksamkeit, ebenso die Mobilisierung von öffentlichen Ressourcen, d.h. Steuern und Arbeitskraft und letztendlich natürlich die Schaffung eines Polizei- und Rechtssystems mit einer entsprechend Durchsetzungskraft. (Vgl. Bürger 2007: 14f.; Stütz 2008: 21) Im Staatszerfall zeigt sich die Sterblichkeit des Leviathans, wie Hobbes sie in der Rede vom „sterblichen Gott“ anmahnt (vgl. Hobbes 1966: 134). Und es verhält sich analog auch mit diesem „sterblichen Gott“ (Hobbes) so wie es Nietzsche in seiner „Die fröhliche Wissenschaft“ (Nietzsche 1988) es vom „tollen Menschen“ beschreiben lässt: „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder? […] Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! […] Und wir haben ihn getödtet! […] Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet […] Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“ (ebd.: 481).
Was Nietzsche den „tollen Menschen“ im Anschluss daran über die Kirchen sagen lässt, dies gilt auch für die (ehemals staatlichen) Institutionen, nachdem der Staat zerfallen ist: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ (ebd.: 482). 4.2. MILIEU DER STAATLICHKEIT Ist der Staat nicht in der Lage, das Gewalt- und damit das Machtmonopol herzustellen und (längerfristig) beizubehalten und damit ein Umfeld zu schaffen, in dem wirtschaftliche Entwicklung und Prosperität möglich ist, werden sich die Menschen vom Staat abwenden und es wird eine (erneute) Hinwendung zu Ordnungs- bzw. Bezugssystemen wie Familie, Clan, Stamm, aber auch Religion kommen59 (vgl. Bürger 2007: 13). Staatszerfall ist dabei kein Phänomen, das solitär und für sich steht. Es steht in Verbindung mit anderen Phänomen, dabei ist es jedoch nicht einseitig auflösbar, sondern steht in einer Wechselwirkung zu den jeweiligen Phänomenen. Gerade Staatszerfall und wirtschaftliche Entwicklung bzw. Prosperität in einem kapitalistischen Sinne stehen miteinander in einer engen und somit auch sich gegenseitig durchaus bedingenden und verstärkenden (wechselseitigen) Beziehung. Unmittelbarer Ausdruck der Erosion und des Zerfalls von Staatlichkeit ist, wie obenstehend aufgezeigt, der Bürgerkrieg. 59 Wie ich im Kommenden aufzeigen werde, kann Somalia in dieser Hinsicht als Paradebeispiel gelten. Aber auch in Ländern wie bspw. dem Jemen oder Tschetschenien lässt sich dies in aller Deutlichkeit beobachten.
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Länder, in denen Bürgerkrieg herrscht, werfen (zumindest nicht auf Dauer) keine Rendite ab, Investoren ziehen daher gemeinhin ihre Investitionen ab oder investieren erst gar nicht; auch Länder, in denen der Bürgerkrieg droht, sind gemeinhin kein Ziel von Investitionen60. Noch bevor der Bürgerkrieg das Land selbst vielleicht in eine Trümmerwüste oder dergleichen verwandelt hat, hat er es zuvor in eine ökonomische Wüste verwandelt. (Vgl. Enzensberger 1996: 16 u. 31) Das Phänomen Staatszerfall zeigt sich in seinen verschieden Auswirkungen, ob mittel- oder unmittelbar, in verschiedenen Bereichen, die – wenn auch nicht immer auf den ersten Blick erkennbar – mit Staat und Staatlichkeit zusammenhängen. In Kapitel 6 werde ich dies anhand von fünf Bereichen 61 am Beispiel Somalias untersuchen. Diese Bereiche sind: Recht, Ökonomie, Nation, Religion, Individuum bzw. Familie. Im Folgenden werde ich, diese einzelnen Bereiche darstellen und ihren jeweiligen Zusammenhang zu Staat und Staatlichkeit herausarbeiten. Anhand dieser Skizzierung und der Pointierung darauf, welche (zentrale) Rolle der Staat bzw. die Existenz von Staatlichkeit dabei einnimmt, wird (ex negativo) deutlich, was die Abwesenheit von Staat und Staatlichkeit für diese Bereiche bedeutet bzw. bedeuten würde. 4.2.1. Recht Das Recht kann ohne den Staat oder unabhängig von ihm nicht existieren. Das Recht requiriert notwendigerweise auf den Staat, seine ihm innewohnende Souveränität und seine Institutionen. Es ist auf jenen Umstand angewiesen, den Francis Fukuyama als Kern von Staatlichkeit ausmacht: „jemanden in einer Uniform und mit einer Waffe loszuschicken, damit er Leute dazu bringt, die Gesetze einzuhalten.“ (Fukuyama 2006, 20). Erst durch das Aufkommen des Staates, der „als Wahrer von Ordnung, Sicherheit und Gesetzen sowie als Hüter der Eigentumsrechte“ (Fukuyama 2006: 13) fungierte, wurde die moderne Wirtschaftswelt, wie wir sie kennen, ermöglicht. Denn es benötigt einen (ausgeschlossenen) Dritten, der die Einhaltung von Verträgen überwacht und ggf. erzwingen kann (vgl. Scheit 2004: 45). Mit Marx ist festzuhalten, „daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln“ (Marx 1859: 335). Doch „[d]ie Frage des Souveräns, wie sie bei Machiavelli, Bodin und Hobbes gestellt wird, erlaubt keine einseitige Ableitung etwa des rechtlichen Überbaus aus der ökonomischen Basis, was immer darunter verstanden wird, geht doch die organisierte Gewalt des Staates weder in dieser noch in jenem auf.“ (Scheit 2010: 181). 60 Zum (notwendigen) Zusammenhang von Staatlichkeit, Recht und kapitalistischer Entwicklung respektive Prosperität siehe untenstehend Näheres. 61 Die sich entsprechend nicht trennscharf voneinander unterscheiden lassen, sondern sich selbst wiederum teilweise bedingen bzw. überschneiden o.ä.
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Die Realität des Rechts wird in und an den (ausführenden) Organen des Staates deutlich und ggf. spürbar. Im Recht wird vom Empirischen abgesehen, von seiner Erscheinung abstrahiert. (Vgl. Scheit 2004: 47f.) Überhaupt lehrt „[d]as Recht die Abstraktion – und in der Abstraktion die Vermittlung“ (Scheit 2004: 47). Das „souveräne Subjekt des Rechts muß […] nicht nur räumlich fixiert und mit einem bestimmten Territorium verwachsen sein, sondern hier vor Ort in personifizierter Form jederzeit einschreiten können.“62 (Scheit 2004: 54). Damit das Recht als Recht (weiterhin) existieren kann und damit Recht überhaupt als Recht fungieren und funktionieren kann, braucht es die (Möglichkeit zur) Sanktionierung, zur Bestrafung – sobald Recht gebrochen wird. Doch nicht nur die Sanktionierung, die Strafe verweist auf die Gewalt, auch die Rechtsetzung selbst verweist bereits auf Gewalt. Nicht unbedingt unmittelbar, aber zumindest in dem gewaltsamen Ursprung63, den die Macht hat, die das Recht zu garantieren vermag. (Vgl. Scheit 2004: 50f.) Dabei ist festzuhalten, dass: „Rechtsetzung […] Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt.“ (Benjamin 1965: 57) ist. In diesem Territorium, über das die Staatlichkeit fähig ist, ihre Macht auszuüben, herrschen (eine begrenzte Anzahl von) Rechtssätzen, in denen der Anspruch angelegt ist, dass alles gesellschaftliche Handeln und die (sich daraus ergebenden) Verhältnisse unter sie subsumierbar seien – sei es als konformes Handeln oder als Verstoß64. Sie fügen sich zu einem (widerspruchslosen und damit rationalen) scheinbar lückenlosen Zusammenhang von abstrakten Rechtssätzen. Die Vermittlung des konkreten Tatbestands mit dem abstrakten Rechtssatz, die Schaffung der Identität, ist die juristische Arbeit. (Vgl. Scheit 2004: 56ff.) 4.2.1.1. Recht und Warenförmigkeit Im Kapitalismus65, so wie ihn Marx beschreibt, wird alles zur Ware, auch die Arbeitskraft wird zur Ware und somit auch Gegenstand sachlicher Verhältnisse. Diese Versachlichung und Entpersonalisierung der Verhältnisse sowie der darauf aufbauenden Lebenssphären geht einher mit der Verrechtlichung dieser Verhältnisse. (Vgl. Heinrich 2004: 37; Claussen 1987: 16; Marx 1966: 91) Warenförmige Vergesellschaftung, d.h. eine kapitalistische sozioökonomische Struktur benötigt unabdingbar Recht, eine rechtliche Verfasstheit und damit auch einen Staat, ein (ein62 Es ist dies was bereits zu Beginn des Kapitels bei Fukuyama zitiert wurde, nämlich die Fähigkeit jemand in Uniform loszuschicken und mittels (der Androhung von) Waffengewalt die Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten (vgl. Fukuyama 2006, 20). 63 Kap. 2 gibt davon Zeugnis ab. 64 Die Grenzen dessen verweisen auf den Ausnahmezustand, „[d]enn eine generelle Norm, wie sie der normal geltende Rechtsatz darstellt, kann eine absolute Ausnahme niemals erfassen und daher auch die Entscheidung, daß ein echter Ausnahmefall gegeben ist, nicht restlos begründen.“ (Schmitt 1979: 11). Der Ausnahmezustand verweist somit als Grenzbegriff auf den Begriff der Souveränität – wie bereits im vorigen Kapitel dargelegt worden ist (vgl. ebd.). 65 Näheres zur sozioökonomischen Verfasstheit kapitalistischer Gesellschaften wird im Kapitel 4.2.2. dargelegt werden.
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hegendes) staatliches Gewaltmonopol. „Kein Warentausch ohne staatliche Marktordnung, kein Geld ohne Staatsbank, kein Akkumulationsprozeß ohne staatliche Garantie des Eigentums.“ (Gruber / Ofenbauer 2003: 7). Als eine unerlässliche, gar unvermeidliche Ergänzung der Ware tritt somit das Rechtssubjekt in seiner vollendeten Form auf (vgl. Paschukanis 2003: 40). Die „Durchsetzung der Ware Arbeitskraft heißt Universalisierung des Rechts – und vice versa.“ (Scheit 2004: 53). Nur in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, d.h. einer Gesellschaft, die durch und mittels der warenförmigen Vergesellschaftung formiert wird, werden all die Bedingungen geschaffen, die dafür notwendig sind, dass das juristische Moment zum bestimmenden Moment in den gesellschaftlichen Beziehungen gelangt und dort vollständige Bestimmtheit entfaltet (vgl. Paschukanis 2003: 56) – „für die Rechtsordnung [ist der] ‚Selbstzweck‘ nur die Warenzirkulation“ (ebd.: 100). Und es ist dies das dunkle Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft, wie es sich auch im Denken Kants über den Zusammenhang von Gesetzmäßigkeit und Freiheit manifestiert: „daß nämlich die formale Freiheit aller Rechtssubjekte gleichzeitig eben doch die Abhängigkeit aller von allen, also den Zwangscharakter der Gesellschaft, ihre Gesetzmäßigkeit, wenn Sie wollen, eigentlich begründet.“ (Adorno 1995: 88). Die Rechtsform ist das Verhältnis der (einzelnen) Warenbesitzer zueinander – ihren Höhepunkt erreicht ihre Entwicklung somit in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (vgl. Paschukanis 2003: 39 u. 81). „Die Rechtsform mit ihrem Aspekt subjektiver Berechtigung wird in einer Gesellschaft geboren, die aus isolierten Trägern privater egoistischer Interessen besteht“ (ebd.: 103). Paschukanis beschreibt das juristische Verhältnis, das zwischen den (einzelnen) Subjekten herrscht, nur als die Kehrseite des Verhältnisses zwischen den Arbeitsprodukten, die zu Waren geworden sind (vgl. Paschukanis 2003: 84): „Ähnlich wie der Reichtum der kapitalistischen Gesellschaft die Form einer ungeheuren Anhäufung von Waren annimmt, stellt sich die ganze Gesellschaft als eine unendliche Kette von Rechtsverhältnissen dar. […] Das juristische Verhältnis zwischen den Subjekten ist nur die Kehrseite des Verhältnisses zwischen den zur Ware gewordenen Arbeitsprodukten.“(ebd.).
Paschukanis beschreibt dabei den Staat nicht nur als eine ideologische Form, sondern stellt (auch) heraus, dass er zugleich auch eine Form des gesellschaftlichen Seins ist; so wie das Recht für die Menschen zugleich auch ein psychologisches Erlebnis ist. Zwar bringt die Staatsgewalt Klarheit und Beständigkeit in die Rechtsstruktur, jedoch erzeugt sie nicht die Voraussetzungen 66 für jene. Diese gründen nach Paschukanis in den materiellen Verhältnissen, d.h. den Produktionsverhältnissen. Da auf dem Markt keine zwei Tauschenden eigenmächtig das Tauschverhältnis regeln und/ oder dirigieren können, ist dabei eine dritte – diesem Prozess außenstehende – Partei notwendig. Diese verkörpert den einzelnen Wa66 Das „Böckenförde-Diktum“ gründet sich zwar nicht materialistisch aber stellt dabei doch – aus einer ganz anderen Theorietradition heraus – fest, dass der Staat selbst keine Letztbegründung, sondern selbst wiederum äußerst voraussetzungsvoll, ist: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Böckenförde 1967: 60).
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renbesitzern gegenüber die im Tauschprozess notwendig zu gewährende Garantie. (Vgl. Paschukanis 2003: 71, 73, 93, 149) Die staatlich garantierte Rechtsordnung unter der Ägide des Vertrages, und damit auch unweigerlich verbunden die für die Garantie selbiger notwendige Souveränität, „stellte […] eine unabdingbare Notwendigkeit für die Fortexistenz der Waren produzierenden Gesellschaft dar, weil nur die Form des Vertrags und seine verbindliche Absicherung durch Rechtsstaatlichkeit die Gewähr für die dauernde Sicherheit des Tauschhandels bot. Elemente der Willkür, wie sie noch charakteristisch für den vormodernen Herrschaftsverband waren, hätten Tausch wieder in Raub verwandelt und damit die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben.“ (Salzborn 2010b: 65).
Der moderne Staat ist somit zugleich die Bedingung für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft wie auch für deren Fortexistenz (vgl. Salzborn 2010a: 5). Die unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, die (politischen) Theoretikern wie Platon, Cicero und Aristoteles noch allgegenwärtig und damit auch selbstverständlich waren, werden durch die Gleichheit der Warenbesitzer zerstört und aufgelöst; ein Zustand, den der Leviathan Hobbes‘ reflektiert 67 (vgl. Scheit 2010: 182). 4.2.1.2. Recht und Sharia Staat und Religion stehen wie bereits öfters in dieser Arbeit angemerkt und beschrieben68 in einem sich (wechselseitig) beeinflussenden Verhältnis, nicht nur lediglich in historischer Hinsicht. Und so wie Staat und Religion und entsprechend staatliche und religiöse Institutionen in einem Spannungsverhältnis zueinander standen und stehen, so standen und stehen auch (staatliches) Recht und religiöses/ kirchliches ‚Recht‘ in einem Spannungsverhältnis. Im Folgenden wird dies am Beispiel der Sharia verdeutlicht werden, dies soll nicht implizieren, dass dieses Spannungsverhältnis nur im Islam und mit der Sharia existieren würde, diese Fokussierung auf den Islam und die Sharia ist jedoch dem hier zugrundliegenden Gegenstand – nämlich Somalia – geschuldet. Als Terminus aus dem Koran bedeutet der Begriff „Sharia“ soviel wie der „von Gott gebahnte Weg“ oder „der Weg zur Tränke“. In einem weit angelegten Verständnis von Sharia umfasst diese all die Normen und Vorschriften, die innerhalb des Islams existieren, seien es die religiösen, wie das Gebet, das Fasten, die Pilgerfahrt nach Mekka oder das Verbot von Schweinefleisch und Alkohol – aber ebenso auch Rechtsvorschriften bezüglich Verträge, Familie und Erbschaften. Überhaupt ist eine Trennung von rechtlicher Regelung und religiöser Verpflichtung dabei nicht möglich. Deswegen sind die Vorschriften der Sharia auch nicht mit der Rechtsform, wie sie in einem (bürgerlichen) Staat existiert, in eins zu setzen: 67 So ist der Hobbsche Leviathan selbst wiederum vertragstheoretisch begründet. 68 In Kap. 4.2.5. wird dieses Verhältnis noch weitergehend dargelegt werden.
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Hingegen zeichnen sich religiöse Vorschriften im bürgerlichen Staat dadurch aus, dass sie allenfalls durch sozialen Druck erzwungen werden können und ihre Übertretung oder Missachtung nur eine (gegebenenfalls stattfindende) Konsequenz im Jenseits nach sich zieht. Ein weitere Unterscheidung liegt darin, dass sich der Geltungsanspruch unterscheidet: ist das Recht heute weitgehend eines, das seine Geltung auf ein bestimmtes und benanntes Territorium bezieht, ist der Geltungsanspruch der religiösen Vorschriften personal verankert. (Vgl. Rohe 2011: 9f.) Jedoch schließen sich „Recht und Sharia […] einander aus, weil der Islam die einzelne Person als Rechtssubjekt nicht anerkennt.“ (Scheit 2009: 36). Denn die Sharia zielt darauf ab, die Gemeinschaft der Gläubigen zu schützen. Jedoch nicht als Schutz für den Einzelnen oder gar der Schutz des Einzelnen vor der Gemeinschaft, sondern der Schutz des Kollektivs vor den ‚Verfehlungen‘ des Einzelnen. Das Kollektiv darf keine Beschädigung, keinen Ehrverlust erfahren – eine Schädigung liegt auch dann vor, wenn es zu keinem konkreten Schaden kam, sondern auch dann, wenn das Kollektiv der Muslime geschädigt erscheint (das gleiche Prinzip wird auch auf der Ebene der Familie und der Verletzung der Familienehre angewandt). (Vgl. Scheit 2009: 36) 4.2.2. Ökonomie Es ist „die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen“ (Marx 1859, 335) – und nicht nur allein die Grundlegung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch die Grundlegung anderer Gesellschaftsformationen, ist darin zu suchen, wie Produktion organisiert wird (vgl. Marx 1859: 335f.). Ist doch – neben der Reproduktion69 – die Produktion „das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte“ (Engels 1892: 155) und diese bedingen auch die sozialen Institutionen und die gesellschaftliche Umgebung unter und in denen Menschen, innerhalb eines bestimmten Abschnitts der Geschichte, leben (vgl. ebd.: 155f.). (Bürgerlicher) Staat und Kapitalismus70 stehen dabei in einem dialektischen Verhältnis zueinander – für die kapitalistische Vergesellschaftung stellt er den Geburtshelfer (vgl. Bakonyi 2011: 52), zugleich ist jedoch der bürgerliche Staat ebenfalls auf die warenförmige Vergesellschaftung und dessen, was sie hervorbringt, angewiesen: dabei ist in erster Linie das bürgerliche Subjekt zu (be-)nennen. 69 Näheres zur menschlichen Reproduktion in Bezug auf die Familie, siehe Kap. 4.2.6. 70 Die kapitalistische Vergesellschaftung durchdringen zu wollen ohne dabei den Staat zu berücksichtigen – und vice versa – wäre somit unvollständig und voller Missverständnisse (vgl. Heinrich 2004: 10).
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„Der Kapitalismus mag sich aufgrund spezifischer Bedingungen in Europa entwickelt haben, in die soziale Konstitution der Wertfom ist jedoch seine Globalität bereits eingeschrieben.“ (Bakonyi 2011: 51). Die Welt ist nicht von einem zum anderen Tage plötzlich der kapitalistischen Vergesellschaftung anheimgefallen, sondern die kapitalistische Vergesellschaftung hat sich nach und nach durchgesetzt71 – „[d]ie kapitalistische Vergesellschaftung entfaltet sich als endlose und maßlose Bewegung […] Die kapitalistische Expansion wird begleitet von Friktionen, sozialen Verwerfungen und gewaltsamen Kämpfen.“72 (Bakonyi 2011: 51f.). Soweit sich der Kapitalismus ausdehnt und durchsetzt, an dieser Stelle, an der die warenförmige, d.h. die bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftung auf die noch bis dato bestehenden traditionalen Formen von Vergesellschaftung73 trifft, dort verläuft die zentrale Konfliktlinie der Moderne – die sich beständig (weiter) verschiebt. Begleitet wird der Siegeszug kapitalistischer Vergesellschaftung auf politischer Ebene mit der – wie obenstehend bereits ausführlicher beschriebenen – Entmachtung lokaler, horizontal aufgestellten Gewalten und der Etablierung einer zentralen, vertikal strukturierten Gewalt, d.h. staatlicher Herrschaft74. (Vgl. Bakonyi 2011: 52f.) Ist der kapitalistische Produktionsprozess (erst einmal) implementiert, erscheint er quasi als ‚Naturgesetz‘75, bricht seine Organisation jedweden Widerstand – es ist nunmehr der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“, der die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter besiegelt. Eine unmittelbare Anwendung von Gewalt findet nach wie vor statt, jedoch nur als Ausnahme. (Vgl. Marx 1966: 765) Marx beschreibt die kapitalistische Gesellschaft als einen Ort einer gigantischen Anhäufung von Waren: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine „ungeheure Warensammlung“, die einzelne Ware als seine Elementarform.“ (Marx 1966, 49), daher beginnt Marx seine Untersuchung mit der Analyse der Ware (vgl. ebd.). Nur in einer kapitalistischen Gesellschaft ist die Ware die typische Gestalt des Reichtums. Auch in vorkapitalistischen Gesellschaften gab es bereits Waren, jedoch nahmen sie in diesen nie eine solch dominierende Bedeutung ein; erst durch das dem Kapitalismus immanente Prinzip des Tausches (und damit auch für ihn konstitutiv) erlangte die Warenförmigkeit ihre aktuelle Bedeutung. In den vorkapitalistischen 71 Dies mittels und in einem durchaus leidbehafteten Prozess – der „in die Annalen der Mensch heit eingeschrieben [ist] mit Zügen von Blut und Feuer“ (Marx 1966: 743), siehe hierzu untenstehend. 72 G-W-G ist ein beständiger Kreislauf – der Tauschwert sein beständige Antrieb wie auch sein Zweck (vgl. Marx 1966: 164). 73 Der Blick auf vorkapitalistische Gesellschaftsformationen (und seiner (weiter-)fortexistierenden Reste) ist (zu-)meist eingetrübt, gerade wenn er sich außerhalb Europas bewegt. Oftmals leidet dieser Blick unter einem „Romantizismus-Paternalismus-Syndrom“ (Streck / Zitelmann 1979: 15). 74 Dort, wo Zivilisation zu wenig ausgeprägt ist oder die territoriale Ausdehnung zu groß, als dass sich freiwillige Assoziationen bilden können, ist das Eingreifen von einer zentralisierenden Staatsgewalt vonnöten (vgl. Marx 1853a: 129). 75 Siehe ergänzend dazu auch Marx' Ausführungen zum Fetischcharakter der Ware: Marx 1966: 85–98.
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Produktionsverhältnissen wurden die Produkte nur zum geringen Teil zum Zwecke des Tausches produziert, deswegen erschienen Produkte nur selten in Form der Ware. (Vgl. Heinrich 2004: 37) Selbst die Arbeitskraft wird im Kapitalismus zur Ware und damit ein Gegenstand sachlicher Verhältnisse (vgl. Claussen 1987: 16). Die Versachlichung und Entpersonalisierung der intersubjektiven Verhältnisse ist generell ein Merkmal der kapitalistischen Vergesellschaftung; demgegenüber waren gerade die vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen von der persönlichen Abhängigkeit im Produktionsverhältnis76 sowie der darauf aufbauenden Lebenssphären gekennzeichnet (vgl. Marx 1966: 91). 4.2.2.1. Abfolge (ökonomischer) Gesellschaftsformationen „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.“ (Marx 1859: 335f.). Alle Gesellschaften, die in der Menschheitsgeschichte bisher bekannt sind, sind Gesellschaften, die fragmentiert sind in unterschiedliche, voneinander zu (unter-)scheidende, Klassen. Zentraler (Fix-)Punkt ist hierbei die Ausbeutung; was zunächst einmal lediglich bedeutet, dass die Klasse, die beherrscht wird, nicht nur für sich selbst produziert, sondern auch den Lebensunterhalt für die herrschende Klasse bestreitet (bzw. dass sich gerade aus dem Umstand heraus überhaupt erst Herrschaft entwickelt). In den Gesellschaftsformationen, die vor dem Kapitalismus existierten, fand die Ausbeutung auf Grundlage von unvermittelten, personellen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen statt. (Vgl. Heinrich 2004: 13) „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (Marx / Engels 2003: 44).
Dabei werden die einzelnen Stadien nacheinander durchlaufen – es finden keine Sprünge77 oder Auslassungen statt. Ein neues Stadium bricht erst dann an, wenn. „[a]uf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung [...] die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen [geraten].“ (Marx 1859: 336). Denn 76 „Zur Zeit des Feudalismus erfaßte der Markt nur Bruchteile der gesamten Produktion, deshalb waren die gesellschaftlichen Verhältnisse noch durch persönliche Abhängigkeit charakterisiert. Die Arbeit und ihr Produkt drückten sich hauptsächlich in Naturaldiensten aus und nicht, wie in der Warenproduktion, in ihrer Allgemeinheit.“ (Woeldike 2001: 67). 77 Auch wenn es immer wieder zu Überlegungen/ Versuchen diesbezüglich kommt. So war z.B. Fidel Castro der Auffassung, dass Afrika dazu prädestiniert sei, einen direkten Übergang von der Stammesgemeinschaft zu einer sozialistischen Gemeinschaft zu vollziehen, ohne das Durchlaufen der anderen gesellschaftlichen Stadien, wie andernorts (vgl. Streck / Zitelmann 1979: 13).
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„[e]ine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (ebd).
So entsprang auch letztendlich aus der ökonomischen Gesellschaftsstruktur des Feudalismus die der kapitalistischen Vergesellschaftung (vgl. Marx 1966: 743). 4.2.2.1.1. Ursprüngliche Akkumulation Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation spielt für die politische Ökonomie eine solche Rolle wie in Bezug auf die Theologie der Sündenfall. Marx unterstellt der sich fortwährenden kapitalistischen Akkumulation einen Ausgangspunkt, die „ursprüngliche Akkumulation“ – aus der heraus sich die kapitalistische Produktionsweise entfaltete. (Vgl. Marx 1966: 741) „Geld und Ware sind nicht von vornherein Kapital, sowenig wie Produktions- und Lebensmittel. Sie bedürfen der Verwandlung in Kapital.“ (ebd.: 742). Wie obenstehend bereits beschrieben, ging die ökonomische Verfasstheit kapitalistischer Gesellschaft aus der ökonomischen Struktur des Feudalismus hervor; die Auflösung der ökonomischen Struktur des Feudalismus hat die Elemente der kapitalistischen Vergesellschaftung freigesetzt. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation ist hierbei also der historische Prozess, bei welchem Produzent und Produktionsmittel voneinander geschieden wurden. Dieser Prozess bildet somit die (notwendige) Vorgeschichte des Kapitals und damit der kapitalistischen Produktionsweise (vgl. ebd.: 742f.). Dabei ist dieser Prozess der Scheidung, bei dem der Einzelne seiner Produktionsmittel enteignet wird, eingeschrieben „in die Annalen der Menschheit […] mit Zügen von Blut und Feuer.“ (ebd.: 743); sein Resultat: das Kapital, kommt „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.“ (ebd.: 788) zur Welt. Entscheidend für die sogenannte ursprüngliche Akkumulation und damit die Grundlage des ganzen Prozesses ist, dass den Bauern, den ländlichen Produzenten die Verfügungsgewalt über Grund und Boden entzogen wurde; sie löste das Privateigentum, das auf eigener Arbeit beruhte auf – zugunsten des kapitalistischen Eigentums, das auf der Ausbeutung fremder Arbeit beruht. Voraussetzungen für die sogenannte ursprüngliche Akkumulation wurden in England Ende des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschaffen – als durch die Auflösung der feudalen Gesellschaften Heerscharen von (angehenden) Proletariern auf den Arbeitsmarkt befördert wurden. Die königliche Macht beschleunigte diesen Vorgang noch (gewaltsam), da dies ihr Streben nach (absoluter) Souveränität beförderte 78. Die Manufakturen, die unter anderem ein Kennzeichen der feudalistischen Ökonomie waren, konnten diese Heerscharen, unmöglich (so schnell) aufnehmen. Die so Freigesetzten wurden somit oftmals zu Bettlern, Räubern oder Vagabunden. Die Folge davon war, dass Gesetze gegen die Vagabundage erlassen wurden, die von einem hohen Maß an Grausamkeit geprägt waren. (Vgl. ebd.: 744ff., 761f., 789f.) „So 78 Und vice versa, wie ich ergänzen würde – zeigt sich hierbei doch schon die enge (dialekti sche) Verknüpfung von (Herstellung der) Souveränität und kapitalistischer Entwicklung.
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wurde das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert.“ (ebd.: 765). Um diesen Übergang von der feudalen hin zur kapitalistischen Produktionsweise zu fördern – Marx spricht dabei von einer treibhausmäßigen Förderungen – bzw. um diesen Übergang abzukürzen, wurde die Staatsmacht, in der die Gewalt der Gesellschaft konzentriert und organisiert war, in Anschlag gebracht (vgl. ebd.: 779). „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“ (ebd.). Der Teil des Landvolkes, der freigesetzt wurde, hinterließ auch seine früheren Nahrungsmittel, d.h. auch diese wurden ebenso freigesetzt – sie wurden zum stofflichen Element des variablen Kapitals. Ebenso verhielt es sich mit dem landwirtschaftlichen Rohmaterial, welches die Industrie benötigte – es wurde zu einem Element des konstanten Kapitals. (Vgl. Marx 1966: 774f.) Doch „[d]ie Expropriation und Verjagung eines Teils des Landvolks setzt mit den Arbeitern nicht nur ihre Lebensmittel und ihr Arbeitsmaterial für das industrielle Kapital frei, sie schafft den inneren Markt.“ (ebd.: 775). Dies bedeutet in Folge auch, dass die ländliche Nebenindustrie nicht mehr weiter (fort-)bestehen kann und dass Manufaktur und Landwirtschaft voneinander geschieden werden; und nur dies (er-)gibt dem inneren Markt die Möglichkeit zu einer solchen Ausdehnung, und festen Bestand, der von seitens der kapitalistischen Produktionsweise benötigt wird. (Vgl. ebd.: 776) Zusammenfassend kann man sagen, dass zu den Methoden der sogenannten ursprünglichen Akkumulation gehörten „[d]er Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräußerung der Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigentums [und] die usurpatorische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogne Verwandlung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigentum“ (Marx 1966, 760).
Einer ihrer Hauptmomente, die Marx sarkastisch zur „Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära“ zählt, ist, neben der Eroberung und Ausplünderung Amerikas und Ostindiens, „die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute.“ (ebd.: 779). 4.2.2.1.2. Kolonialismus und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen „Im Widerspruch zum kapitalistisch-modernistischen Absolutheitsanspruch behaupten sich auf der ganzen Welt stammes-, sippen- und dorfgemeinschaftliche Produktionsweisen, oft deformiert, fast immer abhängig von Zentren und Subzentren, doch gegen alle Gängelungs- Disziplinierungs- und Verwertungsversuche mit einer zähen Vitalität ausgestattet“ (Streck / Zitelmann 1979: 14). Auch hier kommt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen79 zum Tragen: Weltweit dominiert zwar 79 Verwiesen sei hierbei auf Ernst Bloch und sein Werk „Erbschaft dieser Zeit“ (Bloch 1985). Zu den Widersprüchen der Ungleichzeitigkeit führt er dort aus: „Man hat das Verhältnis der
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die kapitalistische Produktionsweise, aber sie verschränkt sich mit den nicht-kapitalistischen Produktionsweisen, so wie sie von diesen auch gestützt, aber auch behindert wird. Angesichts dessen stellen sich Streck und Zittelmann die Frage, ob es sich bei diesen nichtkapitalistischen Formen, die in der Gegenwart existieren, um Relikte handelt, die sich in den Nischen der Weltgeschichte (noch) gehalten haben, oder ob sie die Funktion der peripheren Lage einnehmen und damit Abfallprodukte der expandierenden Zentren darstellen?80 Marx und Engels ordneten den Kolonialismus und seine (notwendigen) Begleiterscheinungen in eine Einheit der Universalgeschichte der Menschheit ein bzw. unter – Westeuropa stellt somit den fortschrittlichsten Teil der geschichtlichen Entwicklung, die Speerspitze 81. (Vgl. ebd.: 14 u. 23) Bei Hegel hingegen zeichnet sich (speziell) Afrika durch seine Geschichtslosigkeit aus, der Weltgeist ist dort noch in der Natur ver-/ gefangen – keinerlei Bewegung und Entwicklung hat stattgefunden (vgl. Streck / Zitelmann 1979: 24). 4.2.2.1.3. Nachholende Modernisierung Viele der bzgl. der ursprünglichen Akkumulation aufgezeigten Elemente finden sich auch in der nachholende Modernisierung wieder, auch wenn sich die Rahmenbedingungen wesentlich voneinander unterscheiden. Aber es kommen auch neue (oder zumindest modifizierte) Elemente zum Tragen: – das Militär nimmt eine lenkende Rolle ein – die Verschärfung des Terrors durch den Staat – die Übernahme von ökonomischen Funktionen durch den Staat – eine ideologisch-legitimierende Argumentationen durch den Staat Ist die ursprüngliche Akkumulation ein Prozess, dem zwar ein Ziel innewohnt, der aber aus sich selbst heraus eine Dynamik entfaltet und entfesselt, die keiner mehr zu lenken vermag – ist die nachholende Modernisierung ein bewusst herbeigeführter, forcierter und zentral gelenkter Prozess. (Vgl. Borschel 2005: 137)
‚Irratio‘ innerhalb der unzulänglichen kapitalistischen ‚Ratio‘ allzu abstrakt ausgekreist, statt daß es von Fall zu Fall untersucht worden wäre und der eigene Widerspruch dieses Verhältnis gegebenenfalls konkret besetzt.“ (ebd.: 16). 80 Die Frage ist durchaus interessant, jedoch würde ich sie damit beantworten, dass es sich um Relikte handelt, die mit dem Fortschreiten der Geschichte nach und nach verdrängt werden. Denn bisher konnte beobachtet werden, dass der Kapitalismus nach und nach alles überformte und damit schließlich der Warenförmigkeit unterwarf, auch wenn es sich (zunächst) nichtkapitalistisch gerierte. 81 Marx schreibt 1853 in seinem Artikel für die „New-York Daily Tribune“ unter dem Titel „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“: „England hat in Indien eine doppelte Mission zu erfüllen: eine zerstörende und eine erneuernde – die Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und die Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen Gesellschaftsordnung in Asien.“ (Marx 1853b: 220).
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4.2.2.2. Warenförmigkeit Karl Marx analysiert die kapitalistische Vergesellschaftung als warenförmige Vergesellschaftung, d.h. konstituierend für die kapitalistische Vergesellschaftung ist die ihr immanente Warenförmigkeit. So ist die einzelne Ware82 die Elementarform der kapitalistischen Produktionsweise und Gesellschaften, in denen diese vorherrschend ist, erscheinen als ungeheure Warensammlungen. (Vgl. Marx 1966: 49) Die (einzelne) Ware besitzt einen – ihr immanenten – Doppelcharakter 83, der in Gebrauchs- und Tauschwert zerfällt (vgl. Haug 2005: 60). Es ist die Nützlichkeit eines Dinges, das es zum Gebrauchswert macht; dieser wird nur im Gebrauch oder der Konsumtion verwirklicht. Der stoffliche Inhalt des Reichtums wird durch die Gebrauchswerte gebildet, unabhängig der jeweiligen gesellschaftlichen Form – in der kapitalistischen Gesellschaftsform ist er somit zugleich der stoffliche Träger des Tauschwertes. Dieser wiederum ist eine gesellschaftliche Bestimmung, die aus der ökonomischen Form der Warenförmigkeit und damit verbunden dem Prozess des Tausches entsteht. Der Tauschwert reduziert Waren auf ein Gemeinsames; er macht sie vergleichbar – und macht sie damit gleich84. (Vgl. Marx 1966: 50ff.) „Überall, wo Waren getauscht werden, ist zwar der Bezug auf ein Drittes, eine Instanz, die den Tausch mit Gewalt absichert, notwendig. Nur dann aber kommt es zur eigentlichen Bildung von Wert, der sich selbst verwertet, d.h. zur realen Abstraktion von den konkreten Arbeiten, wenn diese Instanz der Souverän ist, der allein die Gleichheit der Warenbesitzer durchsetzt und garantiert. Die Verwertung des Werts bleibt aber aus, wenn es nur Familienbzw. Stammesoberhäupter bzw. Bandenchefs sind, die den Tausch absichern. Die Märkte wachsen dort nicht zu einem großen Markt zusammen, wo die Zentralgewalt über ihnen schwebt, statt in ihnen selber, durch jeden Tauschakt und jeden Vertrag hindurch, sich zu reproduzieren.“ (Scheit 2009: 37).
4.2.2.2.1. Ware Arbeitskraft „Der Warentausch schließt an und für sich keine andren Abhängigkeitsverhältnisse ein als die aus seiner eignen Natur entspringenden.“ (Marx 1966: 181f.). Somit wird auch die Arbeitskraft85 selbst zur Ware, sie erscheint – wie jede andere Ware 82 Nur in einer kapitalistischen Gesellschaft ist die Ware die typische Gestalt des Reichtums. Auch in vorkapitalistischen Gesellschaften gab es bereits Waren, jedoch nahmen sie in diesen nie eine solch dominierende Bedeutung ein; erst durch das dem Kapitalismus immanente Prinzip des Tausches (und damit auch für ihn konstitutiv), erlangte die Warenförmigkeit ihre aktuelle Bedeutung (vgl. Heinrich 2004: 37). 83 Im Übrigen eine Feststellung, die nicht genuin auf Marx zurückzuführen ist, sondern die bereits Aristoteles getroffen hatte – und die von Adam Smith ebenfalls aufgegriffen wurde (vgl. Heinrich 2008: 50). 84 „Die bürgerliche Gesellschaft steht universal unter dem Gesetz des Tauschs, des ‚Gleich um Gleich‘ von Rechnungen, die aufgehen, und bei denen eigentlich nichts zurückbleibt.“ (Adorno 1959: 13). 85 „Mit Arbeitskraft ist die Fähigkeit des Menschen gemeint, Arbeit zu verrichten, und unter den Bedingungen von Warenproduktion kann die Verausgabung von Arbeit zur Quelle von Wert werden. Verkaufe ich meine Arbeitskraft, dann überlasse ich diese Fähigkeit für einen be-
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auch – auf dem Markt, allerdings nur insofern, wie sie von der Person, die diese zu Verfügung stellen kann, auch auf dem Markt angeboten wird oder werden kann. Dies bedeutet, dass die Person, die die Arbeitskraft als Ware überhaupt feilbieten kann, über diese frei verfügen können muss, „also freier Eigentümer seines Arbeitsvermögens, seiner Person“ (ebd.). Damit einher geht in der kapitalistischen Vergesellschaftung eine juristische Dimension: „nur in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wo der Proletarier als über seine Arbeitskraft als Ware verfügendes Subjekt auftritt, wird das wirtschaftliche Verhältnis in der Ausbeutung juristisch in der Form eines Vertrags vermittelt.“ (Paschukanis 2003: 43). Dies unterscheidet die kapitalistische Vergesellschaftung von früheren Formationen der Vergesellschaftung: „Der Sklave wird unmittelbar ausgebeutet – seine Arbeit resultiert aus dem direkten Zwang. Verwertung des Werts und Verrechtlichung des Staates aber bedeuten fürs Individuum ebenso die Freiheit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen wie den stummen Zwang, das wirklich tun zu müssen, um zu überleben.“ (Scheit 2004: 51).
4.2.2.3. Postkoloniale Vergesellschaftung Auch in den Gebieten, die ehemals Kolonien waren, hat die kapitalistische Vergesellschaftung begonnen sich durchzusetzen und die Gesellschaft zu strukturieren. Die gesellschaftliche Umwälzungsprozesse, die dabei von der warenförmigen Vergesellschaftung in Gang gesetzt wurden, haben (noch) nicht die Tiefe und die Totalität erreicht, die sie dort erreicht haben, wo warenförmige Vergesellschaftung sich bereits seit Jahrhunderten86 Bahn bricht. So lässt sich für die postkolonialen Gebiete oftmals sagen, dass „Patriarchalismus und Patrimonialismus, Klientelbande, reziproker Gabentausch etc. […] trotz des Eindringens kapitalistischer Vergesellschaftung nicht aufgelöst [sind], sondern […] in vielfach gebrochener end [sic!] entstellter Form fort[bestehen].“87 (Bakonyi 2011: 52). Es ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die hierbei zum Ausdruck kommt. Dass Grund und Boden in die warenförmige Vergesellschaftung (mit-)einfließen, dass die Landwirtschaft ‚durchkapitalisiert‘ wird und dass die Warenförmigkeit und damit einhergehend der Warentausch, mittels monetärer Vermittlung umfassend und bestimmend wird, bewirkt die Zersetzung der Unmittelbarkeit der sozialen Bindungen, die in der (erweiterten) Familie88 wurzeln und die wiederum den Status des Einzelnen in den sozialen Bindungen unveränderlich bestimmt. Bei den Betroffestimmten Zeitraum einem anderen.“ (Heinrich 2004: 88). 86 Marx datiert die ersten Anfänge kapitalistischer Produktion in das 14./ 15. Jahrhundert, wo sie aber nur sporadisch auftrat (einige Städte am Mittelmeer), den eigentlichen Beginn der kapitalistischen Ära datiert er auf das 16. Jahrhundert (vgl. Marx 1966: 743). 87 Dabei ist natürlich ergänzend zu bemerken, dass auch dort, wo kapitalistische Vergesellschaftung sich weitgehend durchgesetzt hat – und dies auch bereits seit geraumer Zeit, ebensolche Phänomene dennoch auch weiterhin Bestand haben und vorkommen. Auch hierbei sei auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hingewiesen. Die Unterscheidung diesbzgl. ist eher die von Ausnahme/ Regel, Häufigkeit, Akzeptanz, Dominanz usw. 88 Siehe ausführlicher diesbezüglich: Kap. 4.2.5.
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nen – die ja aber auch zugleich die Akteure sind – findet eine Abwehr dagegen statt, die Umstände werden nicht als Fortschritt, sondern als Niedergang respektive Verfall empfunden. Dies beinhaltet ein Konfliktpotenzial von erheblichem Ausmaße und zudem/ dadurch eine Konfliktlinie, die – laut Jutta Bakonyi – beinahe alle postkolonialen Gesellschaften durchzieht, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und somit auch Vehemenz. (Vgl. ebd.: 53) 4.2.2.3.1. Rentierstaaten und Entwicklungshilfe Dort, wo die Ernährung der Menschen (und das, was darüber hinausgeht) durch den Verkauf von Bodenschätzen sichergestellt werden kann, ist von Rentierstaaten die Rede (vgl. Diner 2007: 56). Länder, die auf Entwicklungshilfe angewiesen sind, verfügen zumeist über keine nennenswerte Bodenschätze (zumindest keine, die irgendwie abgebaut werden könnten), dennoch lässt sich meines Erachtens ökonomisch gesehen eine Ähnlichkeit zu den Rentierstaaten feststellen – eine Wertschöpfung mittels Warenproduktion findet nicht statt, der Staat wird zum ökonomisch zentralen Akteur, der aber in beiden Fällen nur eine Vermittlerfunktion einnimmt und Verteilungsaufgaben erfüllt. In etlichen Fällen nutzen Staaten, die als Entwicklungsländer gelten, ihre Intermediärposition als Vermittler zwischen den Geberländern oder -organisationen und den Empfängern vor Ort; dadurch war es ihnen möglich, Renteneinnahmen abzuschöpfen und somit ihren Staatsapparat zu finanzieren (vgl. Bakonyi 2011: 307f.). Somalia – der Gegenstand der hier vorliegenden Arbeit – war (und ist es bis heute) in extrem hohen Maße auf externe Finanzierung und Entwicklungshilfe angewiesen (vgl. Matthies 1997: 121). In Kapitel 6.3. werde ich dies im Falle Somalias näher erörtern. 4.2.3. Nation Auch wenn Nation und Nationalität heute als eine nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit gelten, sind Nationen – wie auch der Staat – nicht von der Natur oder dergleichen gegeben, sondern sie sind, wie ein Blick auf die Geschichte deutlich macht, von Menschen geschaffen: „Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden einmal enden.“ (Renan 1996: 36). Nationen sind vielmehr sogar ein verhältnismäßig junges Phänomen. Auch fallen Staat und Nation nicht in eins, auch wenn man beide Phänomene heutzutage auch kaum noch zu unterscheiden vermag. Staat und Nation bilden eine dialektische Einheit, den modernen Nationalstaat. So liegt es auch nahe, dass Rudolf Smend, wie eingangs des Kapitels zitiert, auf Renans berühmte Charakterisierung der Nation zu sprechen kommt, wenn er selbst wiederum vom Staat spricht: „Das Dasein einer Nation ist […] ein Plebiszit Tag für Tag“ (Renan 1996: 35).
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Nation und Nationalismus sind Phänomene, die die Theoretiker vor ein Rätsel stellen, sie sind äußerst mächtig, so mächtig dass Menschen sich für ‚ihre‘ Nation in den Tod stürzen – sie sind jedoch ohne jedwede greifbare oder gar rationale Theorie (vgl. Hobsbawm 1978: 45). Als eine gesellschaftliche Einheit existiert die Nation nur insofern, als dass sie sich auf den modernen Territorialstaat in einer bestimmten Form bezieht (den Nationalstaat), es wäre sinnlos von Nationalität zu sprechen, sofern diese Beziehung nicht mit einbegriffen ist. Auch entstehen Nationen nicht im und aus dem luftleeren Raum heraus, ein wesentlicher Bestandteil – neben dem obenstehend beschriebenen Protonationalismus – sind nationale Mythen. Ebenfalls gerade für die Nation von besonderer Wichtigkeit ist der Rückgriff, das Rekurrieren auf die – nach Hobsbawm – „erfundenen Traditionen“ (engl. „invented traditions“) 89. Es sind letztendlich – so Hobsbawm – die Staaten und die Nationalismen, die überhaupt erst die Nationen hervorbringen und nicht umgekehrt. Legitimierendes Element ist dabei die Vergangenheit, sie bietet der (trostlosen) Gegenwart einen (scheinbar) strahlenden Hintergrund90. Die Mythen, die dadurch und damit ge-/ erschaffen werden, sind bedeutsam für die Kollektividentitäten. Dadurch, dass die Einzelnen sich gemeinsam als unterschiedlich (und damit besser) zu ‚den‘ Anderen definieren, finden sie Halt in einer für sie unsicheren Welt. (Vgl. Hobsbawm 1998a: 114; Hobsbawm 1998b: 18 u. 21; Hobsbawm 2005: 13, 20f., 59) 4.2.4. Religion Wie auch schon eingangs bzgl. der Ausführung zu Recht und Sharia angemerkt, sollen die folgenden Ausführungen keineswegs implizieren, dass allein dem Islam und seinen (politischen) Ausformungen ein antistaatlicher Impetus innewohnt. In welchem (fragilen) Spannungsverhältnis, das auch gewalttätige Ausformungen annehmen konnte, der Staat bzw. Staatlichkeit und christliche Religion in Form ihrer Institutionalisierung(-en) standen, haben bereits die historischen Ausführungen zur Entwicklung des Staates deutlich gemacht. Im Folgenden soll der Islam bzw. der Islamismus im Zentrum der Betrachtung stehen, da dieser von zentraler Bedeutung für Somalia ist. Zudem lässt sich gerade am Islamismus, auch und gerade heutzutage, gut erkennen, welch antistaatliche (und auch antinationale) Kraft diesem innewohnt. Der Islamismus91, insbesondere nach arabisch-sunnitischer Prägung, begehrt gegen die bestehende nationalstaatliche Ordnung der Welt auf, sein Ziel ist die Zerstörung der säkularen Nationalstaaten als Ordnungseinheit, es wird die Einheit von Religion und Staat(-lichkeit) angestrebt (vgl. Kurth 2014: 353f.; Tibi 2003: 89 Gerade dieser Umstand ist in Somalia von besonderer Bedeutung, wie ich noch konkret aufzeigen werde. 90 Dabei existiert keine Nation – so Renan – ohne die Fälschung der eigenen Geschichte (vgl. Renan 1996: 14). 91 Islamischer Fundamentalismus, Islamismus, politischer Islam (oder auch noch andere Begriffe) werden zumeist synonym gebraucht, die Bedeutung variiert höchstens geringfügig (vgl. Schmidinger 2008: 24ff.).
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25f.). Er „ist eine autoritäre, antidemokratische und antiemanzipatorische Ideologie“ (Biskamp / Hößl 2013: 7). Nach den Vorstellungen des Islamismus kann der Mensch durch Vernunft kein Wissen erlangen und ist somit nicht in der Lage, sein Schicksal selbst zu bestimmen und sein (eigenes) Leben nach seinen Wünschen und Vorstellungen einzurichten. Dabei nimmt der Islamismus den Islam in seiner wörtlichen Übersetzung (Islam bedeutet in der deutschen Sprache: Unterwerfung) beim Wort – nur Gott allein kann regieren, ihm gilt es sich (vollständig) zu unterwerfen. „Während die Macht der katholischen Kirche zurückgedrängt werden musste, damit das säkulare Gewaltmonopol entstehen und die Familien- und Stammesverbände entmachtet werden konnten, verhinderte die Sakralisierung der Gewalt, die Kalifen und ulama als ihre eigenste Sache betrieben, die Entstehung des säkularen Gewaltmonopols und konservierte die Existenz der Clan- und Familienordnung.“ (Scheit 2009: 35).
Der Souverän ist somit Gott – sein Stellvertreter auf Erden ist der Kalif, die Etablierung seiner Herrschaft ist unumstößlicher Grundsatz für die Islamisten. (Vgl. Küntzel 2003: 78) Zentral für die Entwicklung des Staates war in der westlichen Welt – wie bereits obenstehend dargestellt – der Konflikt zwischen Papst und Kaiser, Kirche und Reich. „Während im Christentum die massenpsychologische Identifikation gebrochen wird durch das Nebeneinander von Gott und Kaiser, Jesus Christus und politischem Herrscher, und also stets der Vermittlung bedarf, ist sie im Islam auf neue Weise hergestellt und jede Vermittlung überflüssig.“ (Scheit 2009: 35).
Die westliche Kultur wird durchzogen von dieser grundlegenden institutionellen Spannung zwischen Staat und Kirche92. Aus diesem Grundkonflikt heraus lässt sich auch die Individualität und Freiheit, die für den Westen ausgesprochen signifikant ist, ableiten – „die Geburt der Freiheit [ist] Ausdruck eines tiefen inneren Zerwürfnisses.“ (Diner 2007: 98) – da der Einzelne sich entscheiden muss, wem er seine Gefolgschaft andient. In diesem Zweifel und in diesem Konflikt (in dem der Einzelne allein gelassen wird), kommt die Freiheit, die Freiheit des Einzelnen, zu sich selbst. Im Islam ist dagegen die Einheit vorgesehen – Religion und Herrschaft sind keiner Trennung unterworfen, sondern sie bilden eine Einheit; transzendiert in Gott, auf Erden vertreten durch den Kalifen. (Vgl. ebd.). 4.2.5. Individuum und Familie Wie ich in meinen bisherigen Ausführungen, obenstehend, und vor allem auch in den Ausführungen zu Recht und Ökonomie 93, versucht habe aufzuzeigen, ist eine notwendige Voraussetzung für Staat(-lichkeit) und Kapitalismus die Existenz des Individuums. Das Individuum ist Grundlage des Vollzugs von Staatlichkeit und 92 Einen Umstand, den auch Sayyid Qutb – der als Vordenker der Muslimbruderschaft zu gelten hat – in seiner Kritik am Westen ausmacht (vgl. Diner 2007: 98). 93 Das heißt maßgeblich in den Kap. 4.2.1. und 4.2.2.
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somit für den Staat selbst94, der Zerfall von Staatlichkeit kann sich dahergehend in der Vorstellung oder Praxis von kollektivierenden Ordnungseinheiten ausdrücken bzw. die (durch die Praxis vollzogene) Existenz von kollektivierenden Ordnungssystemen kann den Zerfall von Staatlichkeit und Staat bewirken. Wie bereits einleitend in Kapitel 4.2.2. dargestellt, bewirkt(e) die Durchsetzung der Warenförmigkeit und damit die kapitalistischen Umwälzungsprozesse, was (auch) die Warenförmigkeit von Grund und Boden, das Primat der Warenförmigkeit in der Landwirtschaft und die Durchsetzung des monetären, d.h. über den allgemeingültigen Äquivalenten Geld vermittelten, Warentausch einschließt, „die Zersetzung der unmittelbaren, in der erweiterten Familie wurzelnden und über askriptive Statusunterschiede regulierten sozialen Bindungen.“ (Bakonyi 2011: 53). Wobei dabei zu beachten ist, dass „[d]ie gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, […] durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andererseits der Familie“ 95 (Engels 1892: 156)
bedingt werden. Dies bedeutet: das bestimmende Moment der Geschichte ist sowohl die Produktion als auch die Reproduktion. Der Part der Reproduktion ist dabei in zwei Bereiche aufgeteilt: der Teil, der die Reproduktion des Einzelnen betrifft, dies bedeutet: Nahrungsmittel, Kleidung, Wohnung usw. und auf der anderen Seite die Reproduktion des Menschengeschlechts selbst. Desto weniger die Produktion, d.h. die Arbeit in ihrer Organisation entwickelt ist und somit auch die Produktivität beschränkt, was sich eben entsprechend auch auf den Reichtum der Gesellschaft auswirkt, desto stärker gründet die Ordnung der Gesellschaft auf Abstammungsgemeinschaften. Doch auch wie bereits in Kapitel 4.2.2. über die Ökonomie beschrieben, geraten die Produktivkräfte an die Grenzen der Produktionsverhältnisse, sie sind (in diesem Rahmen) nicht mehr länger miteinander vereinbar. (Vgl. Engels 1892: 155f.) „[D]ie Unvereinbarkeit beider [führt] eine vollständige Umwälzung herbei[...]. Die alte, auf Geschlechtsverbänden beruhende Gesellschaft wird gesprengt im Zusammenstoß der neu entwickelten gesellschaftlichen Klassen; an ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, zusammengefasst im Staat, dessen Untereinheiten nicht mehr Geschlechtsverbände, sondern Ortsverbände sind, eine Gesellschaft, in der die Familienordnung ganz von der Eigentumsordnung beherrscht wird“ (Engels 1894: 156).
In der warenförmigen Vergesellschaftung „verhält sich [die Familie] zum Staat wie die einfache Warenproduktion zum Kapital. Sie ist einerseits ideologischer Inhalt – soweit sie suggeriert, gesellschaftliches Leben könne in ihr unabhängig vom übergeordneten Gewaltmonopol verlaufen; sie bezeichnet andererseits eine reale Form – aber nur, wenn sie nicht isoliert vom Staat betrachtet wird.“ (Scheit 2004: 94 Ebenso (re-)produziert der Staat das Individuum. 95 Auch die Familie als gesellschaftliche Form und soziale Institution wurde und wird – wie auch Nation, Staat, Warenförmigkeit – (lange Zeit) fetischisiert; so wurde/ wird die Familienform, die in den Büchern Moses beschrieben wurde, mit der bürgerlichen Familie von heute identifiziert – aus und mit dieser Sicht hat die Familie keine geschichtliche Entwicklung durchgemacht (vgl. Engels 1892, 158).
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95). Betrachtet man die Familie (gerade) unter dem Blickpunkt des Verhältnisses von Eltern und Kind(-ern), wird ersichtlich, dass in dem Verhältnis, das erst einmal unvermittelt und unmittelbar erscheint, trotzdem der Staat (mit-)anwesend ist (vgl. ebd.). Adorno beschreibt die Familie als eine Institution, die das Individuum zwar unterdrückt, aber zugleich auch stärkt – wenn nicht gar hervorbrachte96 (vgl. Adorno 2001: 23). Es sind jedoch letztendlich die modernen Formen der (sozialen) Organisation, so wie sie in Staat und Gesellschaft ihren Ausdruck finden, die dem (einzelnen) Subjekt Freiheit ermöglichen, wenn auch keine Freiheit in Gänze (vgl. Salzborn 2013: 119). „Obgleich Staat und Gesellschaft für soziale und politische Ordnungen regulierende und strukturierende Funktionen erfüllen, liegt in beiden – im Unterschied zu Kategorien wie Polis, Ekklesia oder Reich auf der einen […] und Gemeinschaft, Stamm oder Sippe auf der anderen Seite […] – ein individuelles Freiheitspotenzial, das sich durch die Schaffung eines subjektiven Handlungsspielraums jenseits von Kontrolle und Reglementierung durch formelle oder informelle Macht- und Herrschaftsbeziehungen in einem privaten Raum auszeichnet. […] [I]m Gemeinschaftsverständnis ist [das Individuum] letztlich im Kollektiv aufgehoben und damit faktisch suspendiert.“ (ebd.).
96 Adorno hatte hierbei – mit Freud – die bürgerliche (Klein-)Familie vor dem Auge; in Somalia stellt sich die (familiäre) Situation – wie ich in Kapitel 6.6. aufzuzeigen werde – wesentlich anders da.
5. (PROTO-)STAATLICHKEIT IN AFRIKA 5.1. SOZIALE FORMIERUNGEN IN AFRIKA – JENSEITS DES STAATES Vieles, was als jahrhundertelange Tradition gilt und ausgegeben wird, wird meist nur als Tradition dargestellt, um somit bestimmte (politische) Zwecke zu forcieren und letztendlich damit zu legitimieren – im Laufe der Zeit wird dies jedoch zu einem ‚Selbstläufer‘, sie werden ‚Realität‘ und niemandem ist mehr bekannt oder bewusst, dass diese Traditionen eben keine wirklichen Traditionen sind – sondern nur „erfundene Traditionen“ (vgl. Hobsbawm 1998a). Dies gilt nicht nur allein für die europäische, sondern auch für die afrikanische Geschichte (vgl. Ranger 1983: 211). „The invented traditions of African societies – whether invented by the Europeans or by Africans themselves in response – distorted the past but became in themselves realities through which a good deal of colonial encounter was expressed.“ (ebd.: 212).
Über die (vor-)antike/ frühe Geschichte auf dem afrikanischen Kontinent, vor allem dessen subsaharischen Teil, ist wenig bekannt – meist nur punktuell und in Bruchstücken; auch die Belege über politische Organisationsformen, wie sie in Afrika – während des Zeitraums der europäischen Antike – existierten, eröffnen nur wenige Einblicke. Im Mittelpunkt stehen hierbei, da zumindest noch anhand von einigen schriftlichen Quellen nachweisbar, Ägypten und Abessinien. Erst im Verlauf des 1. Jahrtausends n. Chr. lässt sich eine Geschichte Afrikas im (annäherungsweise) Gesamten rekonstruieren, da nun genügend Informationen in genügend hoher Dichte vorliegen. Dadurch lassen sich auch – zumindest in groben Zügen – politische Landkarten aufzeigen, auf denen allerdings auch noch viele unbekannte, nicht erforschte Gebiete liegen; es bilden sich dadurch erkennbare Großräume aus. Die erkennbaren Großräume werden in erster Linie auf der Ebene von Sprachräumen unterschieden – vier verschiedene an der Zahl 1. Jedoch vermutet man für das vorkoloniale Afrika weit über 2000 Sprachen. Der Schluss, der aus diesem Umstand hauptsächlich gezogen wird, ist, dass der Kontinent kleinteilig und seine Bewohner zersplittert waren; aufgrund der (engen) Verwandtschaft der Sprachen kann man jedoch auch auf (verbindende) Gemeinsamkeiten Rückschlüsse ziehen. In den letzten Jahrhunderten des 1. Jahrtausends n. Chr. kam es zur Formierung einer erkennbaren Raumstruktur, die auch politische Herrschaftszonen erkennbar werden lässt – diese werden in der Forschung als Hegemonien, Reiche oder Staaten bezeichnet. Sie werden greifbar sowohl durch (archäologische) Fun1
Sowohl die Abgrenzung der Räume als auch der Sprachen ist in der linguistischen Forschung jedoch immer umstritten (geblieben) und immer wieder neu gezogen worden (vgl. Speitkamp 2010: 26f.).
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(Proto-)Staatlichkeit in Afrika
de und Überreste der dort jeweils existierenden (materiellen) Kultur als auch durch überlieferte Mythen und Reiseberichte. Doch dies umfasste nur einen kleinen Teil Afrikas – vorherrschend waren Ordnungsformationen, die mit Begriffen wie „akephale Systeme“, „Anarchien“ oder „segmentäre Gesellschaften“ zu (be-)greifen versucht wurden. Wurde zunächst davon ausgegangen, dass diese Gemeinschaften ohne eine politische Herrschaft existierten, ist man heute zu der Überzeugung gelangt, dass auch in diesen Formationen Herrschaft und (damit verbunden) Autorität existierten – dabei wurden sie jedoch unter einer funktionalen Aufteilung dezentral organisiert oder mittels Kontrollmechanismen beschränkt. Dabei erinnern viele Grundstrukturen an vormoderne Lebensformen, wie sie auch in Europa (vor-)herrschend waren – auch wenn sich zugleich politische, soziale und kulturell-religiöse Autoritäten anderweitig voneinander schieden, als dies in Europa der Fall gewesen ist. (Vgl. Speitkamp 2010: 24ff.) „Die gesellschaftlich-politischen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaften des vorkolonialen Afrikas konnten jedenfalls auf mehrfache Weise und auf mehreren Ebenen vermittelt sein: durch Abstammung und Verwandtschaft, durch Territorium und Siedlungsraum, durch Generation und Geschlecht, durch Kultur und Religion, schließlich durch ökonomische Betätigung und Stellung.“ (Speitkamp 2010: 29).
Hierdurch und hiermit wurde auch die Raumstruktur geordnet. Es sind die Abstammungsgemeinschaften, die die Kultur in Afrika zu dominieren scheinen: dabei sind sie jedoch schwer voneinander zu (unter-)scheiden, höchstens mittels und durch eine quantitative Ansicht können die verschiedenen (Groß-)Gruppen voneinander ge- und unterschieden werden, wie zum Beispiel „Ethnien“ oder „Stämme“. Gerade im Hinblick auf „Stämme“ und deren Oberhäupter lässt sich nachweisen, dass dies eine Erfindung respektive eine Vorstellung seitens der Kolonialverwaltung o.ä. war, um so dem Bedürfnis einen Ansprechpartner zu haben, Genüge zu tun. Dadurch kam es auch, dass beispielsweise Gruppen, die zuvor und historisch gesehen gar keinen Zusammenhalt besessen hatten, sich unter dem – ihnen von seitens der Kolonisatoren angehefteten – Label „Stamm“ wiederfanden. Doch blieb es nicht nur dabei, dass seitens der Kolonialverwaltung Stämme und (damit verbunden) Stammesautoritäten erschaffen wurden, um ihrem Bedürfnis nach klaren Hierarchien und Autoritätspersonen wie einem „Häuptling“, der ihnen als Agent ihrer Herrschaft dienen konnte, Rechnung zu tragen; denn dieses Bedürfnis wurde von seitens der einheimischen Bevölkerung erkannt, und so haben sie sich die erfundenen Stammesstrukturen und was damit zusammenhing angeeignet, um ihrerseits wiederum eigene Interessen in den sie umgebenden kolonialen Umständen zu vertreten und/ oder wahrzunehmen. Postkolonialistisch wurden diese Strukturen dann genutzt, um autoritäre Herrschaftsstrukturen und -ansprüche abzusichern; soziale Konflikte wurden somit tribalistisch überlagert und als ethnische ausgemacht (in diesem Falle hieß dies: definiert). „Ethnien“ oder „Stämme“ – die durchaus mehr denn zehntausend Angehörige fassen konnten, waren mögliche vorkoloniale Ordnungen, jedoch nicht die einzigen oder wichtigsten. Von weitaus größerer Bedeutsamkeit waren die kleinteiligen Verbände, wie Clans und/ oder Lineages. Diesen Begriffen, die (auch) in der Wissen-
Soziale Formierungen in Afrika – jenseits des Staates
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schaft gebräuchlich sind, ist jedoch keine Trennschärfe immanent, auch weitere begriffliche Ergänzungen, wie beispielsweise „Subclan“, helfen dabei nicht weiter2. Auch das Einpassen dieser Begriffe in eine (bluts-)verwandschaftlich-genealogische Hierarchie (von der Familie über den Clan bis zur Ethnie) schlägt fehl, so können Clans beispielsweise auch Angehörige verschiedener Ethnien haben. „Einer strengen Schematisierung widersetzt sich also die historische Vielfalt“ (Speitkamp 2010: 31). So wird vielmehr angenommen, dass die Lineages und Clans erst unter dem Druck und den Herausforderungen, den die äußeren Bedingungen (her-)stellten, entstanden, und dass die gemeinsame Abstammungslinie erst im Nachhinein konstruiert wurde 3. Dadurch wurde es natürlich schwer, ‚reale‘ von konstruierten Gemeinschaften zu trennen – vor allem, da im subsaharischen Afrika Verwandtschaftsverbände, die normalerweise einige hunderte, aber durchaus ein paar tausend Personen umfassen konnten, eine gewichtige Rolle für das kollektive Selbstverständnis und damit auch für das gesellschaftlichen Ordnungsdenken darstellten4. (Vgl. Speitkamp 2010: 29ff.) Auch wenn in weiten Teilen Afrikas Dörfer (bzw. Nachbarschaft) sich als (alltägliche) Verbände verstanden – die territorial bestimmt waren –, waren diese keine „verfassungsgeschichtlich fassbaren Konstanten wie Altersklassen und Bünde, aber sie waren auch keine herrschaftsfreie Zonen, sondern je nach Größe und sozialer Differenzierung hierarchisch strukturiert.“ (Speitkamp 2010: 35). Bestimmte, klar definierte Autoritäten, wie es sich die Kolonialmächte vorstellten, respektive wünschten, gab es jedoch nicht. Zudem gab es zwischen Dorf und Stadt keine feststehende Trennlinie, zumal etwas wie Stadtrecht und daraus resultierende Privilegien oder dergleichen, wie man es aus Europa kannte, nicht existierten. Machtstrukturen verliefen zumeist immanent – Regeln, Riten und Räte waren bestimmend für das gemeinschaftliche Zusammenleben und strukturierten es. Ebenso sorgten diese für den Zusammenhalt, und sie gaben die Garantie dafür, dass die Handlungsfähigkeit selbst im Konfliktfall gegeben war. (Vgl. ebd.) 2
3
4
Diese Situation wird um ein weiteres verschärft, dass – zumindest in der Literatur zu/ über Somalia – die Begriffe von unterschiedlichen Autoren unterschiedlich verwendet werden: Was von einem Autor mit dem Terminus „Clanfamilie“ bezeichnet wird, wird von einem anderen Autor als „Clan“ bezeichnet; was einmal „Clan“ ist, ist das andere mal „Subclan“ usw. Ich habe versucht dies, wenn vom Clanystem die Rede ist, so weit es mir möglich war, anzugleichen und zu vereinheitlichen. Eine Parallele kann hierbei zu der (nachträglichen) Konstruktion von Nationalgeschichte, nationalen Mythen o.ä. in Europa gezogen werden – es sind die „invented traditions“, die dabei zum Tragen kommen, wie es Hobsbawm (ähnlich wie es Benedict Anderson mit den „imagined communities“ (vgl. Anderson 2005) herausstellt) aufzeigt (vgl. Hobsbawm 1998a: 97: 114ff.). Diese erfundenen Mythen und Geschichten sind bedeutsam für die Entwicklung von Gruppenidentitäten, die die Menschen annehmen, aufgrund derer sie eine gewisse Sicherheit in einer für sie unsicher und wankend wirkenden Welt finden wollen. Sie versuchen dies dadurch zu erreichen, dass sie sich (gemeinsam) als unterschiedlich (und damit besser) als „die Anderen“ definieren (vgl. Hobsbawm 1998b: 21). Zu den „invented traditions“ bei Hobsbawm siehe Kap. 4.2.3.und 6.4. Davon getrennt sind die Bünde zu betrachten, formal freiwillige Zusammenschlüsse, mit Mitgliedern unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunft; diese waren allerdings eher im Westen Afrikas und in Zentralafrika anzutreffen (vgl. Speitkamp 2010: 31f.).
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(Proto-)Staatlichkeit in Afrika „Was indes fehlte, war das, was Staatlichkeit nach westlichem Modell ausmachte: die Ausbildung territorialer und institutioneller statt personaler Macht, die funktionale Zuteilung der Gewalten im Gemeinwesen und die Zentralisierung normsetzender und exekutiver Funktionen im Sinne eines Gewaltmonopols.“ (ebd.).
5.2. POSTKOLONIALE STAATLICHKEIT Es war die europäische Kolonisierung, die (nicht nur in Afrika, sondern weltweit) die Grundfesten von Staatlichkeit legte – die Durchdringung der kolonisierten Gesellschaften war hierbei unterschiedlich (stark) ausgeprägt (vgl. Bakonyi 2011: 53f.). „Insgesamt aber blieb die (meist äußert gewaltsame) Entmachtung lokaler Herrscher und die Auflösung traditionaler Herrschaftsstrukturen nicht nur unvollständig, sondern traditionale Herrschaftsformen wurden im Prozess ihrer Integration in die kolonialen Verwaltungsstrukturen selektiv rekonstruiert“ (Bakonyi 2011: 54).
In den postkolonialen Staaten existiert oftmals eine Verteilungsstruktur von verschiedenen Gewalten, die sich zudem, mitsamt den von ihnen aufgestellten Regelungen untereinander, widersprechen; dies zeigt sich unter anderem auch in dem dualen Rechtssystem, das für viele postkoloniale Staaten charakteristisch ist (vgl. ebd.). „Auf nationaler Ebene existiert ein modernes gesatztes und durch bürokratische Institutionen gewährleistetes allgemeines Recht, während im Lokalen weiterhin partikulare, durch Gewohnheit regulierte Rechtsformen praktiziert werden oder sich beide Rechtsformen vermischen.“ (ebd.).
Bewegungen, die sich der Befreiung aus der kolonialistischen Herrschaft verschrieben haben, unterlagen immer wieder verschiedenen ‚Moden‘: waren es in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Nationalismus und die nationale Selbstbestimmung, so waren es in den siebziger Jahren sozialistische und sozialrevolutionäre Bestrebungen und in den Achtzigern gewannen schließlich ethnizistische und kulturalistische Ideen die Oberhand – dies setzt sich bis heute fort. Diese ‚Moden‘ sind freilich nicht von globalen Entwicklungen gänzlich abgekoppelt, so ließ sich in den siebziger Jahren generell ein massiver Zuspruch zu (vermeintlich) sozialistischen und sozialrevolutionären Ideen, Bewegungen etc. ausmachen5 – so, wie auch in heutigen Zeiten eine Kulturalisierung und Ethnisierung des Politischen zu beobachten ist6. Sowohl in der Kulturalisierung als auch vor allem in der Ethnisierung wird ein enormer Exklusions- und damit auch In-
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Was sicherlich auch in einem Zusammenhang mit der damaligen Blockkonfrontation zu sehen wäre – da eine Entscheidung für einen Machtblock im Kalten Krieg auch oftmals eine entsprechende ökonomische und/ oder militärische Unterstützung bedeutete. Siehe zu dieser Kulturalisierung des Politischen: Huntington 1993 und ausgeführt Huntington 1998.
Postkoloniale Staatlichkeit
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klusionsdruck aufgebaut7 – eine klare Unterscheidung von Freund und Feind8 – und damit verbunden der Aufbau eines enormen Gewaltpotenzials. Die Kulturalisierung des Politischen findet gegenwärtig vor allen Dingen im Islamismus ihren Ausdruck, und dies in einer prägnanten und oftmals äußerst gewalttätigen Vehemenz. (Vgl. Bakonyi 2011: 55f.) In den postkolonialen Staaten lässt sich beobachten, dass eine eine fehlende Trennung von privat und öffentlich existiert, und, dass dies ein Strukturmerkmal dieser Staaten darstellt; dies bedeutet, dass die Trennung von Staat und Gesellschaft letztendlich (höchstens) nur partiell verwirklicht wurde, und dass damit eine Vermischung der Handlungsformen von öffentlicher und privater Art ein strukturelles Moment des Politischen darstellt (vgl. Bakonyi 2011: 33). Neben der fehlenden Trennung von öffentlich und privat lassen sich auch eine starke Personalisierung der Politik sowie eine in Form der Verankerung des Staates in der Gesellschaft, die auf klientelhaften Netzwerken basiert, die wiederum durch zugeschriebene und unveränderlich bestehende Verhältnisse bestimmt und organisiert sind. Diese Vermischung von einerseits traditionalen als andererseits auch modernen Herrschaftsmechanismen, die sich darin ausagieren, wird mit dem Begriff des „Neopatrimonalismus“ belegt. Dem Staat gelingt es hierbei nicht sich als übergeordnete, bestimmende Instanz zu etablieren oder zu behaupten; er befindet sich in der (ständigen) Konkurrenz zu und mit anderen (sozialen) Instanzen. Ebenso gelingt es nicht die Gewalt in einem Punkt (in diesem Falle im Staat) zu konzentrieren, d.h. zu monopolisieren – und so oszilliert sie um die Durchsetzung von staatlicher Herrschaft. (Vgl. Bakonyi 2011: 54f.) Doch es ist nicht nur allein die Monopolisierung von Gewalt9, die die Verankerung des Staates in der Gesellschaft ausmacht, sondern zudem auch die Monopolisierung und Unifizierung von grundierenden ‚Erzählungen‘, wie sie in Form von der ‚Erzählung‘ von Nation und Volk beispielsweise stattfindet. Jutta Bakonyi bezeichnet diese als die erfolgreichste Basiserzählung, die in Europa als Leitidee des Staates 10 gilt und von dort in andere Weltregionen exportiert wurde. Diese Monopolisierung und Unifizierung von ‚Erzählungen‘ hat in den postkolonialen Staaten, die nur gebrochen ver-
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Zur In- und Exklusion basierend auf kultureller Unterscheidung, die bis zur Feindschaft reicht, siehe: Huntington 1998: 21. 8 Siehe zur Grundlage der Unterscheidung von Freund und Feind sowie der Wirkmächtigkeit und den Folgen dieser Unterscheidung: Schmitt 2009: 25ff. u. 31. 9 Wobei dies meines Erachtens nach das essentielle und zentrale Punkt dabei ist, siehe hierzu auch die Ausführungen in Kap. 3. 10 Dabei ist jedoch hinzuweisen, dass gerade der Begriff der Nation unterschiedlich besetzt ist. Grundlegend ist idealtypisch zwischen der civic nation, die einem republikanischen Verständnis von Nation, das in der freien Selbstbestimmung des Individuum zur oder gegen die Nation gründet, folgt, und der ethnic nation, die einem völkischen Verständnis von Nation, das in der Vorstellung von Volk als durch ‚Blut‘ bestimmt, folgt, zu unterscheiden. Auch wenn diese beiden Vorstellungen grundlegend unterschiedlich sind, zeichnen sich doch beide durch Inklusions- und Exklusionsmechanismen aus (auch wenn diese – wie gerade aufgezeigt – sich grundlegend voneinander unterscheiden und dies für die Betroffenen auch den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten kann). (Vgl. Salzborn 2011a: 10)
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(Proto-)Staatlichkeit in Afrika
gesellschaftet sind, nicht stattgefunden – so existieren dort mehrere grundierende Erzählungen parallel zueinander. (Vgl. Bakonyi 2011: 62) „Ungleichzeitigkeiten [...] bilden das strukturelle, den gegenwärtigen Kriegen in postkolonialen Staaten zugrunde liegende Ursachengefüge. Dennoch münden diese Spannungen und Konflikte nicht zwangsläufig in Gewalt. Nicht Strukturen, sondern Menschen führen Kriege und strukturelle Konfliktursachen müssen sich daher in aktives Handeln übersetzen.“ (Bakonyi 2011: 56).
6. STAAT UND STAATLICHKEIT MIT BEZUGNAHME AUF SOMALIA 6.1. SOMALIA: „THE ORIGINAL FAILED STATE“ Somalia gilt heute als das prägnanteste Beispiel für einen solchen failed state, vielmehr gilt es sogar als Prototyp eines failed states (vgl. Bakonyi 2011: 14). James Traub, der Somalia auch als „[t]he original failed state“ (Traub 2010: 80) bezeichnet, skizzierte diesen Umstand 2010 folgendermaßen: „Somalia has a raging Islamist insurgency, a government that controls a few city blocks, and African Union peacekeepers with no peace to keep.” (Traub 2010: 81). Jahr für Jahr steht Somalia daher wieder an der Spitze des „Failed State Index”, den die Zeitschrift „Foreign Policy” und der „Fund of Peace” ermittelt (vgl. ebd.) – „a testament to the persistence of state pathology and the weakness of the powers the world community can bring to bear“ (ebd.). 6.1.1. Souveränität und ihre Erosion in Somalia Während der kolonialen Herrschaft wurde von seitens der Kolonialmächte immer wieder auf Methoden von indirekter Herrschaft zurückgegriffen, was dafür sorgte, dass sich koloniale und traditionale Formen von Herrschaft sich ineinander verschränkten, was zu einer hybriden Form von Staatlichkeit führte. Für die Ältesten bedeutete dies – nebst einem regelmäßigen Gehalt – auch einen bemerkbaren Zuwachs an Macht; ebenso wurden einzelne Clangruppen bewaffnet. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen konnten die Kolonialmächte ihre Machtposition und ihre Vorstellungen nur schwer durchsetzen. Dies versuchte Italien – in seiner faschistischen Ära – zu ändern: sie bauten den Polizeiapparat aus und versuchten (dadurch) die indirekte, vermittelte Herrschaft durch eine direkte, unmittelbare zu ersetzen – was zu ersten Schritten einer Monopolisierung von Gewalt führte; die Maßnahmen waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Aus diesen Bemühung heraus entstand bei den jungen Somalis die Ablehnung der Dominanz der Ältesten – Urbanisierung und Monetarisierung waren die Folge. Für die jungen (gebildeten) Somalis war der Staat der attraktivste Arbeitgeber. (Vgl. Bakonyi 2011: 106f.) Jutta Bakonyi kommt aufgrund dessen zu dem Schluss: „Im Kolonialismus wurden so die Fundamente für den Aufstieg einer urbanen, um den Staat zentrierten Elite gelegt, die später im Wettstreit um staatliche Ämter zum Scheitern des postkolonialen Staates beitrug.“ (ebd.: 108).
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Staat und Staatlichkeit mit Bezugnahme auf Somalia
Dieses beschriebene System intermediärer Herrschaft, dass die Kolonialmächte verwendeten, wurde nach der Unabhängigkeit Somalias auch von der darauffolgenden demokratischen Regierung übernommen, mit der Machtübernahme durch Siad Barre änderte sich dies: die Clans und mit ihnen das ganze System der Clanvereinbarungen usw. galten fortan als rückständig, und etliche Praktiken die daraus resultierten, wurden verboten, wie z.B.: das Prinzip der Blutrache und die Blutgeldzahlungen. (Vgl. Bakonyi 2011: 110) Nachdem Barre während der Etablierung seiner Macht das traditionelle System der Ältestenräte abschaffen ließ, wurde zugleich ein das ganze Territorium Somalias umfassender und mit zentraler Lenkung versehener Verwaltungsapparat eingeführt und etabliert – dies geschah mittels des Aufbaus von Regional-, Distrikt- und Dorfkomitees. Eine Verstaatlichung der Gesellschaft wurde durch den Aufbau von politischen Orientierungszentren, die der ideologischen Schulung der Bevölkerung dienten, vorangetrieben. Es fand parallel dazu eine Verbesserung der sozialen Infrastruktur sowie eine groß angelegte Kampagne zur Alphabetisierung statt. Ebenso wurde der staatliche Gewalt- und Kontrollapparat erweitert und ausgebaut. Zentral war hierfür – wie auch für den ganzen Staat – das Militär 1. „Die für den patrimonialen Staat charakteristische Personalisierung der Politik erfasste auch das zuvor als Verkörperung der somalischen Nation gefeierte Militär.“ (Bakonyi 2011: 110). Doch weder durch die aufgebauten Gewalt- und Überwachungsapparate, noch durch die sozialistische Rhetorik, die Barre an den Tag legte, konnte er seine zentrale Machtposition (dauerhaft) abstützen und so war auch Barre auf die Zusammenarbeit mit den Ältesten und traditionellen Strukturen angewiesen. Nichtsdestotrotz wurden die Ältesten sowie das ganze System der Clans und dessen Ausformungen durch die verschiedenen Verbote und Anordnungen und nicht zuletzt durch die Konsolidierung des Gewaltmonopols erheblich geschwächt. Trotz allem waren es letztendlich die Clanlinien, anhand derer die Zentralisierung des Staatsapparats voranschritt, und vor allem anhand derer es dem Staat gelang, sich in die Gesellschaft hinein auszudehnen. Die Loyalität, die das Clanwesen bereit hielt diente als Kitt für den (Aufbau des) Staates – letztendlich trug dies aber auch bereits den Keim für den Untergang des somalischen Staates oder zumindest des Untergangs der Herrschaft Barres, in sich. „Das mit der flächendeckenden Ausdehnung des Staatsapparates etablierte formal-bürokratische Handlungsfeld wurde personalisiert und der Staat als ein um Ämter zentriertes, durch klanbasierte Klientelbeziehungen strukturiertes Netzwerk in der Gesellschaft verankert.“ (ebd.: 111).
Dies hat vor allem damit zu tun, dass Nepotismus und Korruption in Somalia ein Grundprinzip der staatlichen Legitimation bildeten – dies ist nicht nur in Somalia der Fall, jedoch wurde die Möglichkeit von Korruption und Nepotismus auf die Mitglieder einiger wenigen Clans beschränkt, so dass diejenigen, die aus dieser
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Die somalische Armee war eine der größten Armeen Afrikas, vor allem aufgrund der Hilfe der Sowjetunion; in den Unterhalt dieser Armee flossen rund 40 Prozent der somalischen Staatsausgaben – mit Abstand der größte Punkt im Haushalt (vgl. Bakonyi 2011: 113).
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Teilhabe ausgeschlossen waren, dies als Anlass sahen sich in den Oppositionsbewegungen zu organisieren. (Vgl. ebd.: 109ff. u. 113) Sonja Heyer macht als Ursache für den endgültigen Zusammenbruch des somalischen Staates im Jahre 19912 aus, dass der somalische Staat durch die Abwesenheit eines äußeren Feindes und/ oder eines Alliierten (oder mehrerer Alliierter) seine Funktion verloren3 habe (vgl. Heyer 1997: 1). Dieser Umstand kommt bereits 1969 – vor dem Putsch durch Barre und das Militär – zum Tragen: Durch die von der somalischen Regierung forcierte Entspannungspolitik mit Kenia und Äthiopien lässt der außenpolitische Druck nach – was zu einer zunehmenden Mobilisierung von Clans, die in den Grenzregionen leben, führt. Da die Regierungskräfte des somalischen Staates, die der Darood-Clanfamilie angehören, eine andere Politik verfolgen als die Oberhäupter der Clanfamilien in den Grenzgebieten, führt dies zu einer Spaltung innerhalb der Regierungskräfte. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 27) 6.1.1.1. Praxis des Irregulären in Somalia 6.1.1.1.1. Bewaffnete Aufstandsgruppierungen in Somalia „Der erste Anstoß für die Organisation von Gewalt gegen den Staat kam aus der zentralen Institution des Staats selbst, dem Militär.“ (Bakonyi 2011: 113). Katalysator war der gegen Äthiopien verlorene Ogaden-Krieg, dessen Verlauf und Ausgang bei vielen Militärs für Verärgerung und Unzufriedenheit sorgte. Die beiden ersten Aufstandsgruppierungen waren die Somali Salvation Democratic Front (SSDF) und das Somali National Movement (SNM). (Vgl. ebd.)
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Weltgeschichtlich war diese Zeit ein wichtiger Zeit-/ Wendepunkt, der jahrzehntelang andauernde „Kalte Krieg“, die Blockkonfrontation zwischen den westlichen Staaten (unter Führung der USA) und den Staaten des real existierenden Sozialismus (unter Führung der Sowjetunion), die jeweils weltweit um die Gunst der (restlichen) Staaten buhlten und diese Gefolg schaft auch entsprechend durch finanzielle oder militärische Hilfe zu fördern wussten, wenn nicht gar (gewaltsam) zu erzwingen versuchte, war an ihr Ende gekommen. Francis Fukuyama mochte im Ende dieser bipolaren Weltordnung auch das „Ende der Geschichte“ erkennen (vgl. Fukuyama 1992). Der einzelne Staat braucht eine(n) Feind(-erklärung) zum Aufbau und Aufrechterhaltung seiner Existenz. So lautet der berühmte Eingangssatz des Textes von 1932 „Der Begriff des Politischen“ (Schmitt 2009) von Carl Schmitt: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ (Schmitt 2009: 19). Doch auch der Begriff des Politischen ist selbst wiederum nicht voraussetzungslos; Heinrich Meier stellt in direkter Anknüpfung an Schmitts Aussage selbst heraus: „Carl Schmitts Begriff des Politischen setzt den Begriff des Feindes voraus.“ (Meier 1994: 51). Denn nach Schmitt ist die spezifisch politische Unterscheidung, auf der das Politische beruht, die Unterscheidung zwischen Freund und Feind; so wie es im Gebiet des Moralischen die letzte Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, im Ästhetischen die zwischen Schön und Hässlich, ist das Politische in letzter Unterscheidung die Un terscheidung zwischen Freund und Feind. Der bzw. ein Staat zeichnet sich dadurch aus, dass er das Monopol des Politischen inne hat. (Vgl. Schmitt 2009: 22 u. 25)
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Die folgende Betrachtung ist als unvollständig anzusehen, da sie nicht alle Gewaltgruppierungen, die in Somalia (jemals) existier(t)en, umfassen und beschreiben kann – es werden im Folgenden die zentralen Akteure herausgegriffen. Die Anzahl der Gewaltorganisationen in Somalia mitsamt ihren Abspaltungen, Fraktionierungen usw. ist weitgehend unübersichtlich. Somali Salvation Democratic Front (SSDF) Im April 1979 ging aus einem Zusammenschluss aus desertierten Militärs und der Somali Democratic Action Front, die 1976 von somalischen Intellektuellen und ehemaligen Staatsbeamten gegründet wurde, die Somali Salvation Front (SSF) hervor. Vorsitzender war Cabdillaahi Yussuf, ein langjähriger Militärangehöriger und (somit) Gewaltspezialist. Die SSF zeichnete sich durch eine hohe Homogenität bezüglich der Clanzugehörigkeit seiner Mitglieder aus, und Yussuf setzte auch von Anbeginn an auf die Mobilisierung(-skraft) der Clanzugehörigkeiten. Sie wurde massiv von Äthiopien unterstützt und half Äthiopien auch als Hilfsgruppe im Kampf gegen die weiterhin aktiven somalischen Widerständler in der OgadenRegion. Ebenso verübten sie Anschläge auf staatliche Einrichtungen in Somalia, in erster Linie in den Regionen, in denen Angehörige ihrer Clanzugehörigkeit sesshaft waren, da sie dort über potenzielle Sympathisanten verfügten, bei denen durch solche Aktionen eine Mobilisierung erreicht werden sollte. Auch betrieb die SSF mittels eines von Äthiopien bereitgestellten Radiosenders einen ‚Propagandafeldzug‘ gegen die somalische Regierung. Schließlich schloss sich die SSF im Oktober 1981 mit den beiden radikal-marxistischen orientierten Gruppierungen der Somali Workers Party (SWP) und Somali Democratic Liberation Front (SDLF), die beide im Südjemen ansässig waren, zur SSDF zusammen. Durch diesen Zusammenschluss erweiterte sich auch die Clanbasis4. Viele ihre Mitglieder waren in den realsozialistischen Staaten ausgebildet wurden und kritisierten Barre für seine Annäherung an den Westen. Unterstützt wurde die SSDF auch von Libyen – so dass die SSDF gut ausgerüstete Kampfeinheiten aufbauen konnte. Im Juni 1982 startete sie eine großangelegte militärische Offensive gegen den somalischen Staat, dabei wurde sie von äthiopischen Truppen unterstützt, die sich jedoch bald wieder, vermutlich aufgrund von Anweisungen aus der Sowjetunion, zurückzogen. Die somalische Armee, die nach dem Ogaden-Krieg noch immer sehr geschwächt war, konnte gegen diese Offensive kaum Widerstand leisten. Durch den autoritären und repressiven Führungsstil Cabdillahi Yuusufs und durch die Bevorzugung seiner Clanmitglieder kam es schon bald zu internen Kämpfen. Neben diesen Kämpfen machten sich auch die programmatische Schwäche der SSDF, die mangelnde Verankerung in Somalia selbst und die Fixierung auf den MajeertenClan als Schwächen der SSDF bemerkbar. Auch vergällte die SSDF viele (potenzielle) Sympathisanten durch ihre nahe Anbindung an Äthiopien – was die Propa4
Doch gerade bei der Verteilung von Ämtern kam es zu Bevorzugung von denjenigen, die dem selben Clan wie Yuusuf zugehörig waren (vgl. Bakonyi 2011: 119). Auch „Kombattanten wurden eher auf Basis ihrer verwandschaftlichen Zugehörigkeiten als aufgrund von politischen Zielsetzungen rekrutiert und durch persönliche Loyalität an die Führung gebunden.“ (ebd.).
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ganda der amtierenden somalischen Regierung begierig aufgriff. Auch die Bekämpfung der SSDF durch die Regierung verlief innerhalb der Clanlogik – so wurden Mitglieder des Majerteen-Clans Opfer der staatlichen Repression, unabhängig von ihrem Verhältnis zur SSDF. Aufgrund der internen Kämpfe in der SSDF wandelte sich jedoch diese Politik und es wurde zur Einheit aller Darood 5 gegen Äthiopien aufgerufen, das die Somalis zum Kampf gegen ihre eigene Nation ‚verführt‘ hätte – für diejenigen, die sich jetzt von der SSDF abwendeten, bot Barre eine Amnestie an. Dieser Politikwandel wirkte sich als Katalysator auf den Zerfallsprozess der SSDF aus. Auch Äthiopien selbst machte nun gegen die SSDF mobil – es kam zu Verhaftungen und zur Gewalteskalation. So kam es, dass etliche der Mitglieder der SSDF entweder die angebotene Amnestie annahmen, ins Ausland flohen oder zur SNM überliefen. Schließlich stellte auch Libyen 1985 seine Unterstützung ein, damit wurde die SSDF politisch und militärisch bedeutungslos. Erst 1991 wurde sie reorganisiert, brachte dann aber in einer kurzen Zeitspanne den Nordosten Somalias unter ihre Kontrolle6. (Vgl. Bakonyi 2011: 116ff.) Somali National Movement (SNM) Das SNM wurde am 6. April 1981 auf einer Konferenz in London, von Somalis, die in England oder Saudi-Arabien lebten, gegründet. Ihre Mitglieder bestanden in erster Linie aus Angehörigen der Isaaq-Clanfamilie, dennoch verstand sich das SNM nicht als eine Clanbewegung, sondern als Sammelbewegung für somalische Regimegegner – Ziel war der Aufbau einer nationalen Oppositionsbewegung, in der auch Mitglieder anderer Clans integriert werden sollten, was anfangs auch ansatzweise gelang, auch wenn Angehörige der Isaaqs immer die überwältigende Mehrheit sowohl in Führungspositionen als auch unter den Kombattanten inne hatten. 1981 wurde auf dem ersten Kongress des SNM in London beschlossen, dass der bewaffnete Kampf aufgenommen werde. Ehemals hochrangige Militärs, die hoch qualifiziert waren, leiteten den militärischen Arm des SNM. Das Ziel, Barres Herrschaft zu stürzen, und die Überzeugung, dass dies nur auf dem Weg und mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes erreicht werden könnte, waren das einigende Band, welches das SNM zusammenhielt – die Programmatik war vage, und die in dem SNM vertretenen Überzeugungen zeichneten sich durch eine hehre Vielfalt aus, die von kommunistischen über tribalistische bis hin zu religiös-fundamentalistischen Fraktionen reichte. So schwelten im SNM auch beständig Konflikte zwischen tribalistischen Kräften, die eine Neuordnung des somalischen Staates auf der Grundlage eines auf der Clanbasis föderalen Systems anstrebten und nationalistischen Kräften, die das Clansystem als rückständig ablehnten; eine andere Konfliktlinie war die zwischen religiösen und säkularen Kräften. Zwischenzeitlich wurde auch die Sharia als rechtlich-moralische Grundlage für das 5 6
Die Majerteen gehören der Clan-Familie der Daroods an, Näheres zur Strukturierung und zum Aufbau des Clansystems in Somalia ist in Kap. 6.6.2. ausgeführt. Weiteres diesbezüglich wird in Kap 6.7. thematisiert werden.
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SNM eingeführt; auf den vorhandenen Einfluss der religiösen Kräfte im SNM ist wohl auch zurückzuführen, dass das SNM weitestgehend keine Unterstützung seitens Äthiopiens zukam. Wie die SSDF auch – und teilweise auch in Zusammenarbeit mit ihr – verübte das SNM Anschläge auf staatliche Einrichtungen in Somalia, zudem kam es zu kleineren Scharmützeln mit der somalischen Armee oder der WSLF. Von der Struktur der Organisierung war das SNM wesentlich ausdifferenzierter denn die SSDF – auch wurde eine Personalisierung und Zentralisierung der Macht in einer Person vermieden; neben Fragen der Clanzugehörigkeit spielten bei der Besetzung hoher Ämter auch politische Überlegungen und die Qualifikation einer Person eine (gewichtige) Rolle. „Die formale Organisationsstruktur der SNM kann durch ihre demokratischen Verfahrensformen charakterisiert werden. Mit der Ausdifferenzierung von Ämtern und der Festlegung von Verfahrensregeln näherte sich die SNM dem Idealtypus der formal-rationalen Herrschaft an.“ (Bakonyi 2011: 130).
Nichtsdestotrotz war die Wirklichkeit im SNM ebenso durch personale Machtkämpfe, die auf der Clanbasis ausgetragen wurden, gekennzeichnet. Das SNM profitierte von oben beschriebenen Auflösungstendenzen der SSDF, die bewirkten, dass etliche derer Kombattanten zum SNM wechselten. (Vgl. ebd.: 124ff., 134f.) Wie bereits erwähnt war die Unterstützung seitens von Äthiopien für das SNM gering – dennoch erhielt es zumindest in den Anfangsjahren auf militärischer Ebene Unterstützung seitens Äthiopien (zudem von Libyen und dem Südjemen). Äthiopien beschränkte später dann seine Hilfe auf die logistische und infrastrukturelle Ebene, wie (Rückzugs-)Territorium, Trainingscamps, Fahrzeuge und ähnliches. Das SNM musste sich um seine ökonomische und militärische Reproduktion jedoch weitestgehend selbst kümmern – dabei ist unklar, ob sie dies bewusst angestrebt hatten oder ob sie gegenüber der SSDF die ‚schlechteren Karten‘ bei (potenziellen) Geldgebern hatten. Das SNM bestritt den Hauptteil seiner ökonomischen Reproduktion durch die Unterstützung von in Somalia oder im Ausland lebenden Mitgliedern des Isaaq-Clans – dabei appellierten sie an deren in Somalia als Qaaraan7 bekannte (freiwillige) Verpflichtung zur gegenseitigen ökonomischen Unterstützung von Clan-Mitgliedern. Um diese Spenden einzusammeln – die sowohl aus dem In- als auch aus dem Ausland, wie aus der Stadt als auch vom Land stammten –, benötigte das SNM ein großes Netzwerk. Bezugspunkt für dieses Netzwerk war der Isaaq-Clan, eine wichtige Funktion innerhalb dieses Netzwerkes nahmen die Clan-Ältesten ein. So übernahmen die Clan-Ältesten die Funktion der Vermittlung zwischen SNM und der Bevölkerung vor Ort, sammelten die Spenden ein, führten Verhandlung darüber, ob das Qaaraan rechtmäßig sei und welche Höhe es betragen sollte, und riefen gegebenenfalls Shirs 8 ein. Wenn der Clan-Älteste sich zur Unterstützung der SNM entschied, konnten 7
„Als Qaaraan wird eine aus der pastoralen Tradition und Ethik entstammende Institution zur Transformation von sozialem in ökonomisches Kapital, also die Nutzung sozialer Beziehungen für ökonomische Unterstützung, bezeichnet.“ (Bakonyi 2011: 131). Ursprünglich entstammte dieses Prinzip aus dem nomadischen Milieu, doch wurde es im Zuge der Verstädterung weiter beibehalten (vgl. ebd.).
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sich die Mitglieder des entsprechenden Clansegments kaum einer Unterstützung der SNM entziehen – obwohl das SNM immer wieder betonte, dass die Unterstützung auf einer freiwilligen Basis erfolgte. Taten sie es dennoch, reichten die Bestrafungen des jeweiligen Clansegments bis hin zur offenen Gewalt. Auch wenn es nicht immer zur unmittelbaren Gewalt kam, denn „[o]hne formelle Erzwingungsinstanzen wird in moralischen Ökonomien das Verhalten der Mitglieder vor allem über die Zuweisung von Prestige und Schande reguliert.[... Denn w]ie jede Form der Moralökonomie ist auch das somalische Qaaraan in einen öffentlichen Diskurs eingebettet, in dem an Rechte und Pflichten von Klanmitgliedern erinnert und gleichzeitig der aus der Verweigerung der Solidarität resultierende Reputationsverlust hervorgehoben wurde.“ (Bakonyi 2011: 132f.).
Als das SNM im Mai 1988 große Verluste durch die somalische Armee erlitt, nahmen die Clan-Ältesten eine Schlüsselstellung für das SNM ein. Auf einer Ältestenversammlung, die die Clan-Ältesten einberiefen, beschlossen sie, dem SNM bei der Rekrutierung von Kombattanten zu helfen und es bei der Logistik zu unterstützen – die Ältesten nutzen dafür ihr soziales und kulturelles Kapital. Die Rekrutierung und die kriegerische Mobilisierung fand nun anhand von Grenzen, die die Clanstruktur vorgab, statt. Auch die (militärischen) Einheiten wurden anhand dieser Größen gebildet, so dass schließlich von jedem Isaaq-Subclan eine bewaffnete Einheit gestellt wurde. „Die Klanzugehörigkeit war damit von einem Mittel zur Mobilisierung von Unterstützung zum zentralen Prinzip der Organisierung der Gewalt avanciert.“ (Bakonyi 2011: 143). Dies hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Strukturierung des SNM, so war es nicht nur eine Massenbewegung nach 1988, sondern auch eine Föderation von verschiedenen Clan-Milizen, während es zuvor noch eine Gewaltorganisation mit einer Kommandostruktur war. Diese Clan-Milizen bewaffneten sich selbst durch Plünderungen in Waffenlagern der somalischen Armee und Polizei. Aber auch schon in den Jahren zuvor waren große Teile der militärischen Ausrüstung des SNM durch Überfälle oder bei Kämpfen von den somalischen Sicherheitskräfte erbeutet worden. Die Notwendigkeit zur Selbstversorgung, die beim SNM bestand, beförderte zugleich auch dessen Dezentralisierung. Diese Dezentralisierung stellte einerseits einen Vorteil bei der asymmetrischen Kriegsführung dar, bedeutete aber anderseits auch, dass die militärische Führung einen Großteil ihrer Kontrolle über die einzelnen Gruppierungen verlor. Dies wurde von Einigen ausgenutzt, um die eigene Clangruppe zu übervorteilen. Indem eine stetig weitere Militarisierung der Zivilbevölkerung stattfand, verlor die Führung des SNM letztendlich gänzlich die Kontrolle über ihre Kombattanten – jedoch wurde trotzdem oder gerade deswegen die somalische Armee im Nordwesten Somalias von allen Seiten angegriffen und letztlich komplett aufgerieben. Durch die Praxis der ökonomischen Reproduktion, die dem SNM zugrunde lag, gelang es ihm auch, die eigene soziale Basis beständig auszudehnen – reziprok strukturierte Netzwerke entstanden somit. Dies hatte aber jedoch auch zur Folge, da solche Netzwerke zur (Ein-)Schließung tendieren, dass sich die so8
Shirs sind Versammlungen, die im Bedarfsfall zur Beratung und zum Fällen von Entscheidungen einberufen werden können. Näheres diesbezüglich ist im Kap. 6.6. angeführt.
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ziale Praxis des SNM zunehmend auf den eigenen Clan verengte 9, obwohl es dem Anspruch nach als eine nationale Befreiungsbewegung antrat. (Vgl. ebd.: 130ff., 135, 138, 143f.) Auch wenn das SNM nach 1984 den bewaffneten (militärischen) Kampf durchaus intensivierte, dem weite Teile der nordsomalischen Bevölkerung sympathisierend gegenüberstanden, und den Ausbau des Netzwerkes an Unterstützern vorantrieb, war dies trotz allem noch keine wirklich ernste Bedrohung für den somalischen Staat. Es lag weniger an der Mobilisierungsfähigkeit des SNM, denn an der repressiven Politik des somalischen Staates, dass dem SNM sich beständig weitere aktive Mitglieder anschlossen, vor allem da das somalische Regime jedweder Form sozialer Organisierung mit (gewaltsamer) Repression begegnete 10. (Vgl. Bakonyi 2011: 139) Im Jahr 1987 nahmen die internen Konflikte innerhalb des SNM stark zu – es schien, dass dem SNM ein ähnliches Schicksal wie der SSDF drohen könnte. Dies wurde noch dadurch verschärft, dass sich Äthiopien und Somalia politisch annäherten und vereinbarten, dass sie jeweils die Unterstützung für Oppositionsgruppen des jeweilig anderen Landes einstellen werden. Damit drohte das SNM seinen Rückzugsraum in Äthiopien zu verlieren. So bedrängt entschied sich das SNM zum breit angelegten Großangriff gegen Somalia, es rückte an mehreren Stellen in Somalia ein und eroberte die größten Städte im Nordwesten. Dies kann als der Beginn des offen ausgebrochenen Bürgerkriegs in Somalia angesehen werden. (Vgl. Bakonyi 2011: 136) Während des Bürgerkriegs war das SNM weder an der Schlacht um Mogadischu noch an den darauffolgende Kämpfen um die Macht im Süden Somalias beteiligt. Es kontrollierte die (größten) Städte im Nordwesten, in denen auch hauptsächlich Isaaqs lebten. Die Eroberung der Territorien im Nordosten, die nicht hauptsächlich von Isaaqs oder von Clans, die sich dem Kampf des SNM angeschlossen hatten, gestaltete sich allerdings schwierig, da die dort lebenden Clans (Gadabursi, Dhulbahante und Warsangeli) von Barre mit Waffen ausgestattet und gegen das SNM mobilisiert wurden. Im Nordwesten kam es zu heftigen Gefechten mit der vom Cissa-Clan gebildeten USF (s.u.). Auch andernorts kam es immer wieder zu Gefechten mit lokalen Clan-Milizen, viele Bewohner dieser Regionen flohen aus Angst vor dem SNM und dessen (möglicher) Vergeltung nach Äthiopien. Allerdings lässt sich wohl festhalten, dass es nicht zu einer solchen Entfaltung der Gewaltdynamik kam, wie es im Süden und vor allem in Mogadischu der Fall war. Nach der Proklamation der Unabhängigkeit Somalilands 11, galt es dort einen Staat aufzubauen und den Frieden zu sichern. Beides gelang nicht: „Als Haupthin9
Ebenso vice versa: Das somalische Regime blockierte die Aufstiegschancen derjenigen, die zu den Angehörige der Isaaqs zählten (vgl. Bakonyi 2011: 141). 10 Auch wenn es keinen direkten Zusammenhang zum SNM gibt, gelten die Schülerdemonstrationen, die 1982, aufgrund der Verhaftung und Verurteilung zum Tode von Mitgliedern einer Hilfsorganisation, stattfanden und die darauf stattfindenden Krawalle, da diese Demonstrationen blutig niedergeschlagen wurden, als Anfangspunkt des Aufstandes gegen die Herrschaft Barres (vgl. Bakonyi 2011: 139f.). 11 Siehe diesbezüglich: Kap. 6.7.1.
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dernis erwies sich die SNM selbst, deren Transformation von einer Gewaltorganisation in eine zentrale politische Partei nicht gelang.“ (Bakonyi 2011: 169). In Folge dessen kam es auch bei Führungskonflikten zu bewaffneten Auseinandersetzungen, ganz ähnlich zu den Ereignissen im Süden Somalias. (Vgl. ebd.: 166ff.) SSDF und SNM – im direkten Vergleich Jutta Bakonyi arbeitet heraus, dass die SSDF und das SNM zwei voneinander zu unterscheidenden – für patrimoniale Staaten jedoch beide Male charakteristische Mustern – folgten. Während sich die SSDF, die wie erwähnt im (somalischen) Militär eine Keimzelle besaß, als ein alternativer Klientelverband formierte – dem es in erster Linie weniger auf eine Veränderung der politischen Herrschaft als vielmehr um eine Neuverteilung der Pfründe und der (staatlichen) Macht zu ihren Gunsten ging – sammelten sich im SNM hingegen zunächst einmal diejenigen, die aus den staatlichen Klientelketten ausgeschlossen und dadurch bei der Verteilung von Gütern benachteiligt waren (oder zumindest sich als benachteiligt sahen). So liegt es auch nur in der Logik der Sache selbst begründet, dass die Strategien der SSDF zum Aufbau einer Gewaltorganisation, denen des somalischen Staates glichen – der Versuch der Antizipation des (Gegen-)Souveräns in der Imitation des Souveräns. Hierfür baute Cabdillahi Yuusuf ein Herrschaftssystem auf, dass um seine Person zentriert war, dazu gehörte auch die Besetzung hoher Ämter mit den Angehörigen seines eigenen Subclans. Dies entspricht dem Idealtyp von traditionaler Herrschaft12. Politische Ziele des SSDF wurden durch die Betonung der persönlichen Loyalitäten auch in steigendem Maße in den Hintergrund gedrängt. Während in der SSDF somit eine Monopolisierung der Macht und damit (bzw. daher) der Gewalt(-mittel) in einer personalisierten Form, nämlich in Gestalt des Vorsitzenden Yuusuf gegeben war, gelang es im SNM keiner Fraktion die Macht zu monopolisieren und für sich einzunehmen. Die Gründe hierfür lagen vor allem auch in den obenstehend beschriebenen Möglichkeiten der ökonomischen Reproduktion, die dem SNM (lediglich) zur Verfügung standen. (Vgl. Bakonyi 2011: 136ff.) Weitere Gewaltgruppierungen im Bürgerkrieg Wie obenstehend bereits angeführt, entschloss sich das SNM, das sich zunehmend in die Enge getrieben sah, zur breit angelegten Großoffensive, in der es bald Erfolge erringen konnte. Der Übergang vom bewaffneten Konflikt zum Krieg vollzog sich, laut Bakonyi, 1988 im Nordwesten Somalias. Innerhalb weniger Wochen 12 Bakonyi merkt diesbezüglich an: „Die Zentralisierung der Macht findet allerdings in dem traditionalen, durch egalitäre Strukturen gekennzeichneten Klansystem Somalias keine Entsprechung.“ (Bakonyi 2011: 137). Dies bedeutet, dass für Yuussuf keine Möglichkeit bestand eine Legitimation für seine Aspirationen mittels eines Verweis oder eines Rückgriffs auf traditionale Regeln und/ oder Gewohnheiten zu erhalten (vgl. ebd.).
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entwickelte sich das SNM zu einer Massenbewegung – nach seinem Vorbild entwickelten sich sowohl in Zentral- als auch Südsomalia weitere Aufstandsgruppierungen. In diesem Zusammenhang sind auf alle Fälle der United Somali Congress (USC) und das Somali Patriotic Movement (SPM) zu (be-)nennen. Diese versuchten sich erst gar nicht mehr an einer Überwindung ihrer (eigenen) Clanbasis, die Mobilisierung erfolgte anhand der dadurch vorgegebenen Linien. (Vgl. Bakonyi 2011: 139 u. 144) Die Rekrutierung der Kombattanten der Gewaltorganisationen erfolgte zwar entlang der Clanzugehörigkeit und damit auf Basis des Clansystems – allerdings lag darin nicht die Macht des Führungsstabes der jeweiligen Gewaltorganisation begründet. Bei den Anführern der Gewaltorganisationen handelte es sich typischerweise um klassische Big-Men13. (Vgl. Bakonyi 2011: 190) United Somali Congress (USC) Der USC wurde wie die SNM auch im europäischen Exil, in diesem Fall in Rom14, gegründet – von Mitgliedern der Hawiyee-Clanfamilie. Vorsitzender wurde Cali Maxamad Cosoble Wardhigley. Dieser kämpfte seit Beginn der Achtziger gegen den somalischen Staat und das amtierende Regime – zunächst mit der SSDF, dann mit dem SNM, das er mit weiteren Kommandanten, die dem Hawiyee-Clan entstammten, verließ, um im italienischen Exil eine HawiyeeGewaltorganisation aufzubauen. Die anderen Hawiyee-Kommandanten setzen ihre Kämpfe in Zentralsomalia, in der Mudug-Region, fort. Dort bekamen sie Unterstützung von (desertierten) Soldaten aus dem Hawiyee-Clan, die sich dazu entschlossen, weil sie entweder in der vom Darood- und Mareexaan-Clan dominierten Armee keine Aufstiegsmöglichkeiten hatten/ sahen oder weil sie gegen die Händler des Mareexan-Clans kämpfen wollten, die versuchten, den Tierhandel – auf Kosten der Hawiyee – zu monopolisieren. Auch gelang es dem USC – ähnlich dem SNM bezüglich der Isaaq – die Hawiyee, die außerhalb Somalias lebten, zu Spendenzahlungen zu bewegen. Die bewaffnete Einheit des USC wurde von General Maxamed Faarax Hassan Cayiid angeführt, der während der Kolonialzeit u.a. mit Barre und Yuusuf in Italien militärisch ausgebildet worden war; ihr harter 13 „Der Big-Man ist ein Herrschertyp, der seine Stellung weder primär der Tradition noch einem Amt, sondern seiner Person und seinen personalen Fähigkeiten verdankt, in Somalia vor allem der Fähigkeit zur Kriegsführung und Organisation von Gewalt.“ (Bakonyi 2011: 190f.). Darin ist bereits die Fragmentierung der Organisation angelegt, da „[i]n personalisierten Machtverbänden […] Rivalitäten und zentrifugale Tendenzen strukturell angelegt“ (ebd.: 191) sind – so kam es zur Konkurrenzsituation unter den Big Men in den Führungsstäben der Ge waltorganisationen, die zumeist durch eine (Auf-)Spaltung (temporär) aufgelöst wurden (vgl. ebd.). 14 Bakonyi weist auf die Orte der Gründung von USC und SNM hin: Rom und London, die Hauptstädte der beiden ehemaligen Kolonialmächte Italien und Großbritannien. Dies unterstreicht die „longue durée“ der sozialen Strukturen – denn die Kolonialgeschichte prägte schließlich sowohl die Migrationsbewegungen als auch die postkolonialen Zugehörigkeiten. (Vgl. Bakonyi 2011: 144)
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Kern wurde von ehemaligen, desertierten Armeeangehörigen des Hawiyee-Clans gebildet. Äthiopien stellte auch dem USC einen Rückzugsraum bereit und stattete ihn mit Waffen aus. Drei Machtzentren entstanden im USC: das Exekutivkomitee in Mogadischu, das Hauptquartier in Rom und der militärische Flügel, der von Äthiopien aus operierte. Sie waren damit nicht nur räumlich getrennt, sondern ergänzten sich auch nur bedingt, und so konkurrierten alsbald der militärische und der politische Flügel um die Macht. Der somalische Staat reagierte auf die Bestrebungen des USC mit zunehmender Repression gegen die (Zivil-)Bevölkerung des Hawiyee-Clans. Dies erleichterte – neben der sichtbaren Schwäche des Staates und den eigenen vorzeigbaren Erfolgen – dem USC die Rekrutierung und Mobilisierung von Kämpfern. Auf dem Vormarsch der USC-Milizen auf Mogadischu wurden von Seiten des USC die jeweiligen lokal vorherrschenden Hawiyee-Subclans mobilisiert. Auch hier – ähnlich dem SNM – spielten die Ältesten eine (ge-)wichtige Rolle, sie mobilisierten und rekrutierten Kämpfer für den USC, auch dann, wenn sie selbst über gar keine organisatorische Verbindungen zum USC verfügten. Der USC konnte den ganzen Kämpfern, die sich ihm anschlossen, alsbald nicht mehr gerecht werden und sie entsprechend in die Organisationsstruktur einbinden oder sie schlichtweg auch einfach nur materiell versorgen. Dies führte dazu, dass sich (Clan-)Milizen bildeten, die autonom agierten und operierten, auch wenn sie nominell dem USC angehörten. Um ihre materielle Reproduktion zu sichern, griffen sie unter anderen – nebst Spenden – auch auf Plünderungen zurück. (Vgl. Bakonyi 2011: 144ff.) In der Folge entfalteten sich dann auch innerhalb des USC Gewaltdynamiken, da sich die Machtkonflikte immer weiter verschärften – die daraus resultierenden Kämpfe, die sich die einzelnen Splittergruppen des USC miteinander lieferten, dehnten sich dabei von Mogadischu auf den Süden und Westen Somalias aus. Die einzelnen Splittergruppen suchten sich dabei neue Bündnispartner und schmiedeten neue Allianzen, wobei sich daraus jedoch wieder neue Fraktionierungen entwickelten. Zentral war dabei der Konflikt zwischen den USC-Fraktionen von Cali Mahdi und General Caydiid. Die Mobilisierung beider Fraktionen verlief auch wieder anhand der Clangrenzen. Wie fragmentiert sich diese ausagieren kann, wird darin offensichtlich, dass, da beide der Hawiyee-Clanfamilie angehörten, die Mobilisierung auf der Ebene der Clans stattfand: Mahdis Mobilisierung zielte dabei auf den Abgaal-Clan, die Caydiids auf den Habir-Gedir-Clan. Dies ist insofern von gesteigerter Bedeutung, als dass im Kampf gegen Barre immer die Clansolidarität in den Vordergrund gerückt wurde und ein gemeinsamer Kampf aller Hawiyee gegen die Daroods beschworen wurde. Dabei wurden neue (zusätzliche) Attribuierungen angeführt: So wurde seitens der USC-Gruppierung um Mahdi ‚gewarnt‘, dass man es nicht zulassen dürfe, dass die pastoral-nomadischen Clans, wie der Habir-Gedir-Clan, mit ihrer „nomadischen Mentalität“ Mogadischu in Besitz nähmen. Auf diese „nomadische Mentalität“ wurde auch der Staatszerfall und die (anhaltende) Krise von Staatlichkeit in Somalia zurückgeführt – dieser wurde die „zivilisierte Mentalität“ der städtischen Clans, wie dem Abgaal-Clan (der traditionell in Mogadischu ansässig war) gegenübergestellt; sie wurden zu eingeschriebenen Charakteristika der jeweiligen Clangruppen gemacht.
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Staat und Staatlichkeit mit Bezugnahme auf Somalia „Die Essenzialisierung der nomadischen Anderen wurde in Somalia umso wirksamer, als sie auf eine noch vor die Kolonialzeit reichende Narrationstradition zurückgreifen konnte, die im kolonialen wie postkolonialen Staat gefestigt wurde.“ (Bakonyi 2011: 177).
Das Repertoire, dessen sich diesbezüglich bedient wurde, verweist auf eine lange Tradition und Kontinuität der binären Aufteilung und Gegenüberstellung von ‚Busch‘ und Stadt15. Letztendlich kam es zu einer Zweiteilung Mogadischus anhand der „Green Line“ – den maßgeblich von Abgaals bewohnten Norden übernahm dabei die Gruppierung um Mahdi, und den mit Hafen und Flughafen infrastrukturell besser ausgestatteten Süden übernahm Caydiid – jedoch war der Süden von etlichen unterschiedlichen Clans bewohnt. Auf dem Gebiet der „Green Linie“ – einer Art Niemandsland – trieben Banden ihr Unwesen. Jedoch fanden weiterhin Scharmützel zwischen verschiedenen USC-Milizen statt, vor allem um die Kontrolle des Flughafens. (Vgl. ebd.: 172 u. 174ff.) Somali Patriotic Movement (SPM) Wie bereits erwähnt ist neben dem USC auch noch das SPM zu (be-)nennen. Aktiv war es ab Mitte 1989 in den südlichen Jubba-Regionen. Es fungierte als Gewaltvertretung der Ogaden, was insofern interessant ist, als dass diese – neben Mareexan und Dhulbahante – der Clanfamilie der Daroods zugerechnet werden, die wiederum die Machtbasis von Barre darstellten. Auslöser war, wie auch bereits in anderen Fällen, der Ogaden-Krieg. Barre unterstützte zwar auch noch nach dem Krieg Gruppen, die gegen Äthiopien agierten und die Loslösung der OgadenRegion von Äthiopien anstrebten, sowohl mit Trainingslagern als auch mit Waffen, doch er misstraute der Machtposition der Ogaden, die diese sich im Militär geschaffen hatten und versuchte diese – mittels der Einsetzung von MareexanMitgliedern (dem Clan, dem er angehörte) – zu brechen. Dies hatte zur Folge, dass viele Angehörige des Ogaden-Clans aus dem Militärdienst entlassen wurden. Das Freundschaftsabkommen mit Äthiopien, bei dem auf Ansprüche auf die Ogaden-Region verzichtet wurde, sahen viele Ogaden als Verrat an. Das SPM hatte kein politisches Programm – welches über die Forderung nach dem Sturz Barres hinausgegangen wäre – das Hauptquartier wurde in der Unteren JubbaRegion installiert. Das SPM war die einzige damals existierende Aufstandsbewegung, die in Somalia selbst gegründet wurde und über keine nennenswerte Verbindungen zu Somalis im Exil verfügten; so war es auch auf internationaler Ebene wenig eingebunden, was auch zu Folge hatte, dass es kaum Unterstützung aus dem Ausland bekam. Den Kern bildeten hoch qualifizierte Soldaten und Offiziere – das SPM verfügte daher über ein Gros an Gewaltspezialisten. Da es bereits Mitte und Ende der Achtziger Jahren zu gewaltsamen, bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Mareexan und Ogaden um Weideflächen kam, und da die Mareexan dabei den Schutz des Staates genossen, war auch aufgrund dessen ein (weiteres) Rekrutierungsfeld vorhanden; eine ganz ähnliche Situation 16, die auch dem USC regen Zulauf bescherte. Allerdings ist damit auch zugleich festzuhalten, 15 Weitere Ausführungen hierzu finden sich unter: Bakonyi 2011: 177ff.
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dass „[d]er Kampf der SPM [...] daher bereits durch lokale Machtkämpfe überlagert“ (Bakonyi 2011: 149) wurde. Nach dem (endgültigen) Zerfall des somalischen Staates erlebte eine neue Generation von Gewaltgruppierungen ihren Aufstieg. Mit dem Fehlen von ausdifferenzierter Organisationsstruktur und politischer Programmatik kann das SPM fast als Vorläufer dieser Gruppierungen gelten – jedoch verfügte das SPM im Gegensatz zu dieser neuen Generation von Gewaltgruppierungen zumindest über ein klares militärisches Ziel und zumindest einen gewissen Grad an Organisierung, der in diesem Vergleich sogar noch als hoch anzusehen ist. (Vgl. Bakonyi 2011: 148f., 155) Somali Democratic Movement (SDM) Das Somali Democratic Movement (SDM) wurde 1987 von den Digil- und Mirifle-Clans in ihrem angestammten Gebiet zwischen den Flüssen Jubba und Shabeelle gegründet. Der Digil- und der Mirifle-Clan gelten als agropastorale Clans. Das SDM verfügte über kaum Gewaltspezialisten, auch hatten sie keinen Zugang zu (geeigneten) Waffen. (Vgl. Bakonyi 2011: 150) Clan-Milizen im Nordwesten Im Nordwesten dominierten die Isaaq und im Verlaufe des Bürgerkriegs (somit) das SNM (siehe oben). Clans, die nicht den Isaaq zugehörig waren, gründeten (eigene) Milizen um damit dem SNM und einer Machtakkumulation in dessen Händen entgegentreten zu können. In diesem Unterfangen wurden sie auch von Seiten des somalischen Staates unterstützt – auch und gerade mittels Waffen. (Vgl. Bakonyi 2011: 150) Somali Democratic Alliance (SDA) Die Somali Democratic Alliance (SDA) wurde 1988/89 gegründet. Die Gründung fand im Exil im arabischen Raum statt. Sie wurde von Mitgliedern des GadabursiClans, der der Dir-Clanfamilie zugehört und in der Awdal-Region residierten, gegründet. Durch ihre Gründung sollte der Schutz der Awdal-Region mitsamt der in ihr lebenden Bewohnern gewährleistet werden. Dabei sollen sich Älteste vom Gadabursi-Clan bereits Ende 1988 mit Vertretern der somalischen Regierung getroffen haben – um eine Verteidigung gegen „bewaffnete Banditen“, wie im Sprech der somalischen Regierung das SNM bezeichnet wurde, zu organisieren. Vor allem Händler und Pastoralisten sollen dies vorangetrieben haben, da sie sich wohl offenbar davon erhofften ökonomisch zu profitieren. Es gelang jedoch nicht eine funktionierende Gewaltorganisation aufzubauen – erst 1990 wurde spontan 16 Wie obenstehend beschrieben versuchten die Mareexan, mit staatlicher Protegierung, den Hawiyee den Handel mit Tieren streitig zu machen.
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ein bewaffneter Arm aufgebaut; auch konnte eine Verankerung im Gadabursi-Clan nicht erreicht werden. (Vgl. Bakonyi 2011: 150f.) United Somali Front (USF) Die United Somali Front (USF) wurde von den den Cissa, die im äußersten Nordwesten Somalias siedelten und der Dir-Clanfamilie zugehörig sind, gegründet. Auch diese Clan-Miliz verfügte nicht über die notwendigen und entsprechenden Ressourcen um eine Gewaltorganisation aufzubauen, die vergleichbar mit dem SNM gewesen wäre. (Vgl. Bakonyi 2011: 151) United Somali Parti (USP) Die United Somali Parti (USP) wurde von den Darood-Harti-Clans, die östlich von den Isaaq lebten, gegründet. Auch diese Clan-Miliz verfügte nicht über die militärischen und organisatorische Ressourcen um eine schlagkräftige Gewaltorganisation aufzubauen. (Vgl. Bakonyi 2011: 151) 6.1.1.1.2. Der Bürgerkrieg in Somalia Als sich Ende 1989 abzeichnete, dass das Regime Barres dem Untergang geweiht war, entschieden sich diejenigen Ältesten und diejenigen, die der politischen Elite angehörten, selbst eigene Gewaltorganisationen aufzubauen. Die (formierte) Gewalt verstärkte und verbreitete sich – eine Dynamik der Gewaltorganisation trat ein. Dies hat in erster Linie mit den Auflösungstendenzen oder der partiell bereits vollzogenen Auflösung von Staatlichkeit zu tun – diese induzierten ein Sicherheitsdilemma. Der Hobbessche Leviathan war tot beziehungsweise lag er im Sterben – der Hobbessche Naturzustand war im Begriff, zu seiner Resurrektion zu gelangen. Nicht jeder für sich einzeln, sondern zusammengerottet in Banden und Rackets17 – die in diesem Falle in der Form des Clans ihren Ausdruck fanden. So „sollte die Organisierung eigener Klanmilizen den Schutz der Klanmitglieder vor anderen Gewaltorganisationen gewährleisten.“ (Bakonyi 2011: 150). Im Falle, dass der Staat doch übernommen werden würde, würde damit zugleich auch die (Verhandlungs-)Macht des jeweiligen Clans erhöht. Bakonyi stellt dabei einen „mimetischen Isomorphismus“ (ebd.) heraus – so wurde die Organisationsstruktur 17 Hobbes skizziert auch für den Naturzustand bereits den (temporären) Zusammenschluss – der in diesem Fall auch an die Funktion der Rackets und Banden erinnert (vgl. Hobbes 1966: 94). Jutta Bakonyi formuliert zwar: „Im Gegensatz zum Hobbes'schen Naturzustand traten in Somalia nicht Individuen, sondern soziale Gruppen gegeneinander an, deren interne Regeln und Normen die Richtung und Dynamik der Gewalt prägten.“ (Bakonyi 2011: 158). Doch ist diese Möglichkeit bei Hobbes selbst auch bereits – zumindest partiell – aufgehoben: „Denn was die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten – entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er selbst befinden.“ (Hobbes 1966: 94; Herv. v. mir – T.S.).
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der ersten (erfolgreichen) Aufstandsbewegung, da dies sich offenbar bewährte, kopiert. Viele Clans orientierten sich am Aufbau ihr jeweils eigenen Gewaltorganisation am Vorbild des SNM, ohne dabei jedoch ebenfalls über Gewaltspezialisten verfügen zu können und ohne (geeigneten) Zugang zu Waffen zu haben. Ebenso verfügten sie auch nicht über die nötigen und entsprechenden Kompetenzen auf dem militärischen wie auch dem organisatorischen Feld. (Vgl. Bakonyi 2011: 150) Gegen Ende des Jahres 1990 kontrollierte das SNM fast den kompletten Nordwesten Somalias, das SPM weite Teile der ländlichen Gebiete im Süden sowie im Folgenden dann auch Gebiete in der Bay-Region und vor allem die Hafenstadt Kismaayo; die Kämpfe wurden in Richtung Mogadischu ausgedehnt. Der USC und die mit ihm liierten lokalen (Clan-)Milizen hatten die Regionen Mudug, Galgadud und Hiraan eroberte. Der Staat war immer weiter in seiner Zersetzung begriffen: die staatlichen Institutionen und Gewaltverbände lösten sich auf und ihre Mitglieder liefen zu den aufständischen Gewaltorganisationen über. USC, SNM und SPM, die drei damals aktiven Gewaltgruppen, vereinbarten im August 1990 ihre militärischen Aktivitäten nun zu koordinieren sowie bei einer personellen Neubesetzung der staatlichen Institutionen und Ämter zusammenzuarbeiten. In Folge dessen konnte auch die Sicherheit in der Hauptstadt Mogadischu nicht mehr aufrechterhalten werden – „dem ausufernden Banditentum trugen mittellose Flüchtlinge, die sich bewaffneten Banden anschlossen, ebenso bei wie die desintegrierten Streitkräfte, von denen viele ihre Waffen für raubkriminelle Aktivitäten nutzen.“ (Bakonyi 2011: 152). Mogadischu litt außerdem unter einer Lebensmittelknappheit, da die Zufahrtswege durch Kämpfe blockiert waren, wodurch die Versorgung der Stadt nicht gewährleistet werden konnte. Dies sorgte unter anderem dafür, dass es auf den Straßen Mogadischus zu (offenen) Protesten gegen die Regierung kam; dies steigerte sich im Verlauf – bis hin zu mehrtägigen Krawallen. Einheiten des USC sickerten in die Stadt ein und verübten Anschläge. Schließlich kam es zum Jahreswechsel 1990/91 zur Massenerhebung in Mogadischu. Konkreter Auslöser hierfür war ein Überfall einer bewaffneten Bande auf einen Ladenbesitzer, der dabei ermordet wurde – dabei sollen staatliche Sicherheitskräfte involviert gewesen sein. Deutlich wird hierbei jedoch, dass der Staat, der Leviathan, es nicht (mehr) schafft, seine Gründungszusage, den (physischen) Schutz des Einzelnen gegen eine gewaltsame Beendigung seines Lebens, zu gewährleisten18. Die Erkenntnis dessen lässt die Menschen offensichtlich gegen ihn aufbegehren. Zwar wurde die Organisation des Aufstandes in der Retrospektive dem USC zugeschrieben – allerdings war dieser davon genauso überrascht wie die staatlichen Behörden. Der Staat bzw. das was noch von ihm übrig geblieben war, setzte die Armee gegen die Protestierenden ein, dies führte aber lediglich dazu, 18 Dadurch erlischt auch die Verpflichtung des Einzelnen, die mit dem Leviathan generiert werden: „Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Men schen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anders dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden.“ (Hobbes 1966: 171). Darin ist eben auch schon eine Dynamisierung und Verstetigung der Gewalt angelegt.
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dass sich die Aufstände weiter ausweiteten. Eine Gewaltdynamik trat in Kraft, die nicht mehr zentral zu lenken war. Aber sowohl in den Gewaltorganisationen selbst, wie im Falle des USC, als auch zwischen den verschiedenen Gewaltorganisationen, war eine zentrale Lenkung nicht mehr möglich. So begannen nach der Flucht Barres aus Mogadischu am 26. Januar 1991, die Gewaltorganisationen untereinander um die Errichtung und Etablierung einer staatlichen Macht zu konkurrieren. Dazu kamen die fehlende Kontrolle des SNM und vor allem des USC über ihre bewaffneten Kombattanten. Waren die Kombattanten des SNM aber zumindest noch in der sozialen Kontrolle der Clanstruktur eingebunden und damit auch unter der Kontrolle der Ältesten, entzogen sich die Milizen des USC dieser. Nichtsdestotrotz entfalteten sich sowohl im Herrschaftsgebiet des SNM als auch in dem des USC „die zentrifugalen Kräfte der segmentären Organisierung“ (Bakonyi 2011: 155). Im Herrschaftsgebiet des SNM konnten jedoch zumindest – durch die oben beschriebene weitestgehend intakte soziale Kontrolle – unkontrollierte Gewaltexzesse weitestgehend vermieden werden; im Gegensatz zu Mogadischu. (Vgl. ebd.: 151f. u. 155) Die verschiedenen Aufstandsorganisation hatten letztendlich ihr (primäres) Ziel – den Sturz Barres – erreicht. Mit dem Sturz Barres und seines Regime endete auch zugleich Staatlichkeit in Somalia – unter anderem, weil die Aufstandsorganisationen offenbar weder programmatisch noch organisatorisch darauf vorbereitet waren, die Staatsmacht zu übernehmen, zumal sie untereinander und zusätzlich zum Teil auch noch intern zerstritten waren. Zwar beanspruchte das USCBüro mit Cali Mahdi an der Spitze die Regierungsgewalt, dieses hatte aber keine Kontrolle über die umherschweifenden Milizen und die militanten Massen in den Städten, die vor allem in Mogadischu aktiv waren. Eine Entfesselung der Gewalt brach sich Bahn: Hunderttausende Menschen starben, über eine Million wurden zu Flüchtlingen. „Fast scheint es, als hätte Somalia dem Hobbes'schen Naturzustand des bellum omnium contra omnes zu dramatischer Realität verholfen.“ (Bakonyi 2011: 157). Die Jahre nach dem unmittelbaren Zusammenbruch des somalischen Staates werden als eine Periode voller Chaos und bar jedweder sozialen Regulierungen beschrieben, in der es zu Überfällen und Plünderungen kam; auch Kampfhandlungen waren an der Tagesordnung. Dies wurde zumeist als nahezu automatische Reaktion auf den Wegfall von Staatlichkeit interpretiert. Die aufständischen Massen, die gegen Barre aufbegehrt hatten, zerfielen nach dessen Sturz in Clan-Milizen, Gangs und Banden. Auch desertierte Polizisten und Soldaten fanden sich in ihnen wieder. Es gab einen regen Zustrom von bewaffneten Kombattanten in die Hauptstadt Mogadischu, die sich den dortigen (gewalttätigen) Massen anschlossen. Den Sieg über Barre ‚feierten‘ sie mit Überfällen und Plünderungen: „Die Gewalt der Masse war zwar kaum organisiert, aber dennoch nicht willkürlich. Gewalt richtete sich auch weiterhin vor allem gegen die materiellen Ausdrucksformen und Insignien der verhassten Staatsgewalt: Regierungsgebäude, Kasernen, Polizeistationen und andere öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser.“19 (ebd.: 160). 19 Dabei stellt sich meines Erachtens unweigerlich die Frage warum (auch) Schulen und vor allem Krankenhäuser als Insignien der verhassten Staatsgewalt betrachtet wurden. Bakonyi be-
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Dabei blieb die Entladung der Zerstörungswut in vielen Fällen der Clanlogik verhaftet – so wurde der Marexaan-Clan, dem Barre entstammte, kollektiv für dessen Politik verantwortlich gemacht und ‚bestraft‘. Dies weitete sich bald auch auf die gesamte – ihnen segmentär übergeordnete – Clanfamilie der Darood aus20, begründet wurde dies mit Gerüchten über eine (geplante) Kooperation aller DaroodClans21 mit dem Regime Barres – zudem wurde auf eine immerwährende Dominanz der Daroods in der somalischen Geschichte seit der Unabhängigkeit verwiesen. Mit dem Ziel der Verfolgung von Daroods zogen Mobs, Banden und USCMilizen plündernd und mordend durch die Straßen Mogadischus. Im Verlauf dessen wurde „eine soziale Grenzziehung verfestigt, die den Klan für alle Belange des sozialen Lebens zentral setzte. Die Identifizierung als Mitglied dieser oder jener Klangruppe konnte nun über Leben und Tod eines Menschen entscheiden.“ (ebd.: 163). Als Reaktion darauf ergriffen viele Darood die Flucht, aus Mogadischu in den Süden oder auch nach Kenia, die USC-Milizen weiteten daraufhin ihre Verfolgung auch auf andere Städte aus. Diese (gemeinsame) Erfahrung der Verfolgung und Flucht „verschaffte dem Kollektiv der Darood eine neue Faktizität.“ (ebd.). Aus diesem Gefühl der Gemeinschaft heraus verbanden sich die Darood-Clanmilizen und transformierten es (auch) in ein gemeinschaftliches Handeln. (Vgl. ebd.: 157ff.) Die Plünderungen und die Gewalt breiteten sich auf die Landesteile außerhalb Mogadischus aus. Da die Ressourcen, die (leicht) zu plündern sind, nicht unendlich sind und da die Wut der Massen auch allmählich abflaute, fand eine (freiwillige) Demobilisierung statt. Schlussendlich kehrten die meisten in ihre Herkunftsregionen, zu den von ihnen zuvor ausgeführten Tätigkeiten, zurück. Die Milizen verringerten sich jedoch trotzdem nicht, da viele Clangruppierungen nun begannen, die jungen Männer unter ihren Angehörigen mit Waffen auszustatten, um sich so vor eventuellen Gewaltübergriffen zu schützen. „Die kriegerische Massenbewegung […] löste sich nicht vollständig auf, sondern hinterließ kleinere Klanmilizen und bewaffnete Banden, die ihr Überleben weiter mit der Waffe sicherten.“ (Bakonyi 2011: 164). Dies war in allen Regionen Somalias, die von kriegerischen Handlungen tangiert waren, der Fall – erreichte aber in Mogadischu seinen Höhepunkt. Dennoch entstammten etliche der Bandenmitglieder dem ländlichen Raum, die sich damit der Lebensweise dort und der (daraus resultierenden) strikten sozialen Kontrolle entziehen wollten. Daneben rekrutierten sie sich auch aus den ärmeren Schichten der Städte. Diese Bandenmitglieder
richtet zudem, dass die zielgerichtete Zerstörungs- und Aneignungswut nicht nur die Gebäude in den Regierungsvierteln traf, sondern auch die Vergnügungsviertel in Ruinen hinterließen – auch hier wäre meines Erachtens die Frage zu stellen, warum die Vergnügungsviertel Ziele der rasenden Wut der Massen wurden (vgl. Bakonyi 2011: 160). 20 Siehe zu näheren Erläuterungen diesbezüglich: Kap. 6.6.2. 21 Auch die Tatsache, dass die beiden Aufstandsgruppierungen SSDF und SPM, die jahrelang gegen Barre kämpften, den Majeerteen bzw. den Ogaden zugehörig waren, die ebenfalls beide der Darood-Clanfamilie zugehörig sind, konnte an der Verbreitung und an dem Glauben an dieses Gerücht nichts ändern (vgl. Bakonyi 2011: 162).
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Staat und Staatlichkeit mit Bezugnahme auf Somalia „zeichneten sich durch ihre konsequente Nichtbeachtung eingelebter Sozialregeln aus. Manche lebten mit ihren Freundinnen in besetzten Häusern, Männer wie Frauen konsumierten relativ offen verschiedenste Drogen, darunter neben Khat auch Haschisch, Pharmazeutika oder Alkohol. Vor allem aber waren Banden ständig auf der Suche nach Plünderungsmöglichkeiten und der Beschaffung für den Handel geeigneter Güter.“ (ebd.: 165).
Nichtsdestotrotz spielte die Clanzugehörigkeit doch auch weiterhin eine (ge-)wichtige Rolle. Es wurde sich an die Regel gehalten, dass kein Mitglied des eigenen Clansegments Ziel/ Opfer eines Überfalls werde. (Vgl. ebd.: 164ff.) Warlords „Die Warlordfiguration zeichnet sich durch ihren instabilen und kleinräumigen Charakter aus.“ (Bakonyi 2011, 86). Eine Verankerung in den lokalen Begebenheiten und Umständen ist zwar aufgrund von traditionellen Gegebenheiten, oder auch, weil sie zumindest für ein Mindestmaß an Sicherheit und Ordnung für die Bevölkerung sorgen22, vorhanden, dennoch ist ihre Legitimität eine sehr brüchige. Diese Gewaltgruppierungen zeichnen sich meistens durch eine nur lose Organisation (zumeist auf Clanbasis), d.h. einem niedrigen Grad an Organisierung und einer hohen Personenzentrierung aus – nämlich: dem Warlord. Entsprechend häufig kommt es in diesen Fällen zu (Ab-)Spaltungen innerhalb einer solchen Gewaltgruppierung23 – dies bedeutet, dass die Milizen einer hohen Fraktionierungsdynamik unterliegen. Der Aufbau einer (stabilen) Legitimitätsbasis und eine dauerhafte Institutionalisierung sowie der Aufbau/ die Etablierung einer Herrschaft auf einem abgrenzten Territorium gelingt ihnen zumeist nicht. Die Zonen ihrer Herrschaft sind territorial kaum voneinander abzutrennen und durchziehen das Land. (Vgl. Bakonyi 2006: 98; Bakonyi 2011: 86) Höhne ist der Auffassung, dass der unbedingte Machtanspruch, den die Warlords (jeweils) für sich reklamieren, den egalitären soziopolitischen Traditionen, die die Somali besäßen, entgegenstünden – er muss jedoch zumindest einräumen, dass die Plünderungs-Trupps der Warlords sich zumindest der traditionellen Struktur bedienen, um Mitglieder zu rekrutieren (vgl. Höhne 2002, 108). Es lässt sich auf alle Fälle festhalten, dass – wie beschrieben – die Rekrutierung und Mobilisierung auf Clanbasis und anhand der Clanzugehörigkeit stattfindet, so wie es auch immer wieder zu einem Rückgriff auf die traditionelle Legitimationsmuster oder dergleichen kommt, dass jedoch die Führungsposition selbst „in der Tradition und im Klansystem weder Vorläufer noch Entsprechung“ (Bakonyi 2011: 273) fand. Waren es anfangs die Gewaltspezialisten, die diese Position einnahmen, wurden sie später von den Big Men, die ökonomisch erfolgreich waren, verdrängt. Darin ist schon angelegt, dass es der Warlord-Figuration trotz ihres instabilen Charakters, der ihr innewohnenden zentrifugalen und fragmentierenden 22 Dies unterscheidet sie auch von den ‚gewöhnlichen‘ Banden (vgl. Bakonyi 2011: 86). 23 In Mogadischu kämpften im Jahr 2006 mindestens sechs Gewaltorganisationen um die Vorherrschaft, alle sechs sind Abspaltungen, die aus dem USC hervorgingen, das Barre stürzte (vgl. Bakonyi 2006: 98).
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Kräfte und der beständigen anhaltenden Gewalt, gelang, den Handel 24 wiederzubeleben. (Vgl. ebd.: 273 u. 275) Piraten Wie obenstehend bereits angeführt liegt Somalia – spätestens mit der Eröffnung des Suezkanals – geostrategisch interessant. Es liegt am Golf von Aden, durch diesen verlaufen die Routen der Handelsschifffahrt, die Europa und Asien verbindet. Die Schiffe müssen die Meeresenge zwischen Somalia auf dem afrikanischen Kontinent und Jemen auf der arabischen Halbinsel passieren, um zum Suezkanal, der die Verbindung zwischen Mittelmeer und Indischen Ozean darstellt, zu gelangen. Dabei passieren in einem Jahr mehr als 20000 Handelsschiffe diese Passage, sie gehört damit zu den weltweit meistbefahrenen Routen – transportiert werden hierbei neben der Handelsware, die in Asien gefertigt wurde, auch eine nicht unerhebliche Menge an Erdöl (ca. vier Prozent der täglichen Förderungsmenge). Diese geostrategisch interessante Lage ist zugleich eine äußerst günstige geografische Ausgangslage für Piraterieunternehmungen. Übergriffe dieser Art sind seit 2006 verstärkt zu verzeichnen – die somalische Küste, die über eine beachtliche Länge verfügt25, bietet dabei eine Vielzahl von Möglichkeiten. Dabei entstehen Kosten in Millionenhöhe für die Reeder und andere Beteiligte am Schifffahrtswarenhandel; einmal dadurch, wenn die Piraten erfolgreich sind und daher gehend Lösegeld bezahlt werden muss, ein anderes Mal dadurch, dass Überfälle bereits im Vorfeld verhindert werden sollen und aufgrund dessen längere Routen zur Umfahrung26 ausgewählt werden. Durch diese Vorfälle rückte Somalia in den letzten Jahren wieder stärker und deutlicher in den Fokus der Weltöffentlichkeit oder zumindest in den Fokus der westlichen Öffentlichkeit. Daraus resultierten auch militärische Maßnahmen seitens der internationalen Staatengemeinschaft. So wurden an die 50 Kriegsschiffe in die Region verlegt, im Auftrag der NATO, der EU oder einzelner Staaten, wie den USA, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Dänemark, Norwegen, Japan, Indien, Malaysia, Russland, China, Iran und auch noch weiterer Staaten. Die Piratenangriffe fanden trotzdem weiterhin (weitestgehend) erfolgreich statt27. Dies lag auch im unkoordinierten Vorgehen der maritimem Einsatzkräfte. Zudem spielten auch völkerrechtliche 28 Unklarheiten, die gerade auch aus dem unklaren Statut von Staatlichkeit in Somalia ent24 Näheres speziell zur Ökonomie der Warlord-Figuration ist in Kap. 6.3. angeführt. 25 Egal ob dabei die somalische Küste 1800km umfasst oder 3000km – was in den Quellen wi dersprüchlich angegeben wird, wie ich bereits in Kap. 2 ausführte. 26 So kann die längere Strecke um das Kap der guten Hoffnung gewählt werden, diese ist unge fähr 4500 Seemeilen länger; für die Hin- und Rückfahrt eines Tankers beispielsweise fallen somit höhere Kosten von ungefähr einer Million Dollar und mehr an. Zudem liegt auf der Route über das „Kap der guten Hoffnung“ der Agulhas-Strom, der als sehr gefährlich gilt und schon viele große (Fracht-)Schiffe schwer beschädigt hat. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 141f.) 27 Auch wenn vor allem französische Eliteeinheiten oder auch US-amerikanische Streitkräfte immer wieder spektakuläre Befreiungsaktionen oder Verhaftungs-/ Abschreckungsaktionen durchführten (vgl. Becker 2009: 15).
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sprang, immer wieder eine Rolle – diese Situation war für manche Staaten bedeutsamer, für manche aber auch weniger29. Zunächst soll im Folgenden die (Ursachen der) Entstehung bzw. dem Boom der somalischen Piraterie nachgegangen werden. (Vgl. Sheik / Weber 2010: 141f.; Bakonyi 2011: 14; Becker 2009: 15f.) Mit und durch den Zusammenbruch des somalischen Staates bedingt, gewann es in den Neunziger Jahren für in erster Linie asiatische und europäische Fangflotten an Attraktivität, vor der Küste Somalias ihre Netze auszuwerfen. Ohne jedwede staatliche Regulierung(-smaßnahmen), ohne eine Küstenwache, denn diese brach zugleich mit der Zentralgewalt zusammen, fischten sie (ohne Lizenz) in den Hoheitsgewässern Somalias die dortigen Fischbestände leer – diese zählten einstmals zu den größten Ostafrikas30. Des Weiteren wurde das Fehlen staatlicher Strukturen und damit auch das von Institutionen wie Polizei und Küstenwache, dazu genutzt, tonnenweise gefährlichen Giftmüll31 an der Küste Somalias zu verklappen32. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 142ff.; Becker 2009: 13) Die somalischen Fischer begannen daraufhin, die Boote der (ausländischen) Fischereiflotten anzugreifen und forderten dabei ‚Steuern‘ und ‚Strafzölle‘ ein 33. Alsbald setzte sich die Erkenntnis durch, dass es ein Einfaches ist, diese Schiffe zu kapern und mit ihnen hohe Lösegeldforderungen zu erpressen, dadurch begann sich auch die organisierte Kriminalität dafür zu interessieren. Die Überfälle 34 wur28 Darin zeigt sich meines Erachtens auch wieder einmal mehr, dass „als Recht […] das Völkerrecht nicht [existiert]“ (Scheit 2004: 63). Hegel führt dazu in §333 in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (Hegel 1986) aus: „Der Grundsatz des Völkerrechts, als des allgemeinen, an und für sich zwischen den Staaten gelten sollenden Rechts, zum Unterschiede von dem besonderen Inhalt der positiven Traktate ist, daß die Traktate, als auf welchen die Verbindlichkeiten der Staaten gegeneinander beruhen, gehalten werden sollen. Weil aber deren Verhältnis ihre Souveränität zum Prinzip hat, so sind sie insofern im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit. Jene allgemeine Bestimmung bleibt daher beim Sollen“ (ebd.: 499f.). 29 So operierte zum Beispiel Frankreich auch auf dem somalischem Festland militärisch mit Eliteeinheiten und Hubschraubereinsätzen – bei denen es auch zu Schusswechseln und daraus resultierenden Todesopfern kam (vgl. Becker 2009: 15). 30 Vor allem Thunfisch – der sowohl in Asien als auch in Europa stark begehrt ist – gab es hier einstmals in Massen (vgl. Sheikh / Weber 2010: 143). 31 Verschiedenen Berichten zufolge, soll auch die (italienische) Mafia daran beteiligt gewesen sein.Vor einigen Jahren wurde eine italienische Journalistin, mitsamt ihrem Kameramann, die diesen Mutmaßungen näher nachgehen wollte, in Somalia ermordet aufgefunden – seitdem hat es niemand mehr gewagt, diesbezüglich Nachforschungen anzustellen. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 145). 32 Sichtbar wurde dies spätestens durch den Tsunami im Jahr 2004, als dieser Fässer mit Giftund Atommüll aus dem Meer an Land beförderte. Etliche Küstenanwohner Somalias erkrankten dadurch schwer. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 144; Becker 2009: 13) 33 Wohl auch in Erinnerung bzw. aufgrund dessen nennen sich heute noch manche Piratenbanden in Somalia: „The National Volunteer Coast Guard“ oder „Somali Marines“ (vgl. Becker 2009: 14). 34 Nahezu alles wird gekapert, was sich in irgendeiner Weise als lohnenswert in den Augen der Piraten darstellt. So wurde – mehr als 300 Seemeilen von der somalischen Küste entfernt – der Lebensmittelfrachter „Maersk Alabama“ gekapert, der unter anderem über 5000 Tonnen
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den immer weiter professionalisiert35, der Radius immer weiter ausgedehnt36 – weit bis ins offene Meer hinaus, bis kurz vor die jemenitische Küste und die Seychellen. Eine Professionalisierung fand auch deswegen statt, weil die ehemalige Mitglieder der Küstenwache, die einstmals in Puntland 37 aufgebaut worden war, sich nun Piraterieunternehmungen widmeten38. Die Küstenwache wurde angeleitet und trainiert von privaten Sicherheitsfirmen – als die Küstenwache nicht mehr (weiter) bezahlt wurde, begannen ihre exzellent ausgebildeten Mitglieder mit Piraterieunternehmungen. Bis heute handelt es sich bei den Piraten um Banden die aus der Mitte der Gesellschaft kommen und – wie untenstehend noch aufgezeigt werden wird – an deren Unternehmungen und Erfolgen auch große Teile der Bevölkerung und die Region, in der sie agieren, partizipieren. Aufgrund dessen, dass die Piraterie quasi mit dem Widerstand gegen die ausländischen Fischer, die vor der Küste ihr Unwesen trieben, begann, haben sie ein positives Image innerhalb der Bevölkerung39, denn nicht nur sehen sich die Piraten in ihren Aktionen dadurch moralisch legitimiert bzw. propagieren das zumindest, sondern auch Teile der Bevölkerung lassen ihnen aufgrund dessen ihren Zuspruch angedeihen 40. Für die Unternehmungen der Piraten ist natürlich nicht nur das Meer von Bedeutung, sondern auch das Land. Denn in der Regel wird ein Schiff nach dessen Kaperung an die somalische Küste verbracht, dann beginnen die Lösegeldverhandlungen,
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Hilfsgüter in Form von Nahrungsmitteln des Welternährungsprogramms WFP an Bord hatte (vgl. Richards 2013: 33 u. 133). Diese Professionalisierung hat weitreichende Folgen: So wurde am 25. September 2005 ein Frachter aus der Ukraine, beladen mit 33 Kampfpanzern, Raketenwerfern, Flugabwehrgeschützen und weiterem Kriegsmaterial, gekapert. In den USA löste diese Schiffsentführung große Besorgnis aus, da die Angst bestand, dass diese Waffen in die Hände von islamistischen Terroristen geraten könnten. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 147) Dies war unter anderem dadurch möglich, dass große ‚Mutterschiffe‘ eingesetzt wurden, die die kleinen wendigen Schnellboote auf das offene Meer hinaus brachten. Ebenso wurde technische Gerätschaften wie Radar oder GPS genutzt. Informanten aus beispielsweise Dubai oder London lieferten Informationen über Hafentermine, Ladung, Routen etc., so dass gezielt Schiffe überfallen werden konnten. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 146) Nähere Ausführungen zu Puntland, siehe in Kap. 6.7.2. Dadurch, dass diese Akteure exzellent ausgebildet waren, mit diesem Wissen die anderen Piraten anleiten und dies auch weiter vermitteln konnten, kann im Zusammenhang mit diesen Piraten meines Erachtens auch von den oben benannten Gewaltspezialisten gesprochen werden. Durch diese ergibt sich bei den somalischen Piratenbanden auch die obenstehend beschriebene Melange aus Banditentum und Gewaltspezialisten. Diese benannten Umstände machen sie meines Erachtens daher auch vergleichbar mit den obenstehend von Hobsbawm beschriebenen (Sozial-)Banditen. Dass durch die Überfischung der somalischen Küste die alteingesessenen Fischer mit immer weniger Fischen nach Hause zurückkehren, sorgt neben der moralischen Empörung auch dafür, dass sie dadurch ihre Lebensgrundlage verlieren. Dies stürzt sie in eine verzweifelte Lage; zudem haben die meisten (jungen) Leute keine Ausbildung und auch keine Zukunftsaussichten, und sie kennen nichts anderes als den (Bürger-)Krieg. Diese Melange ist ein idealer Nährboden (nicht nur) für die Piraterie. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 167)
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die zumeist immer nach dem gleichen Muster und mit den gleichen Akteuren 41 ablaufen. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 145ff.; Engelhardt 2012: 157, 167) Die Ortschaft Eyl in Puntland, einstmals ein Fischerdorf, hat sich zum Zentrum der Piraterie entwickelt. Etliche der gekaperten Schiffe werden an die dortige Küste verbracht. In Eyl selbst ist der Reichtum, welchen die Piraterie mit sich brachte, auch direkt zu sehen. Auch in Bosaso, ebenfalls in Puntland, ist der Reichtum direkt auszumachen – auch diese Stadt gilt als eine Hochburg der Piraten. Des weiteren werden Hobyo, das ebenfalls in Puntland liegt, und Haradere42, dies liegt nicht in Puntland, sondern in der Region Galguduud, die aber auch Autonomie für sich beansprucht, zu den Ortschaften gezählt, wo sich in größerer Anzahl Piraten niedergelassen haben und die als Ausgangspunkt ihrer Unternehmungen dienen. 1500 Mann sollen die verschiedenen Piratenbanden, die es gibt (mehrere Dutzend sollen es sein), zählen. Die Piratenbanden haben dabei ein Netzwerk aus Familienangehörigen, Geschäftsleuten o.ä. im Rücken, die in sie und ihre Unternehmungen – mit der Hoffnung auf einen lukrativen Gewinn – investieren; es gibt mittlerweile sogar eine Art von ‚Crowdfunding‘ diesbezüglich. Das eingesammelte Geld wird in Waffen, (Schiffs-)Technik, Verpflegung usw. investiert. Nach einer erfolgreichen Aktion bekommen die ‚Anleger‘ eine außergewöhnlich hohe Rendite für ihr Engagement. Ebenso profitiert die Bevölkerung in der Region davon: Es benötigt Wächter für die Geiseln, Restaurant-Besitzer übernehmen die Verpflegung der Geiseln und ihrer Kidnapper, Schiffsbauer bauen und reparieren die (Schnell-)Boote, die für die Kaperfahrten benötigt werden. Eine Entlohnung all dieser findet statt, sobald das Lösegeld angekommen ist. Für viele stellt dies die einzige Einnahmequelle dar; sie ist (in Puntland) regelrecht zu einem Geschäftszweig geworden, der vom Umsatz her den Haushalt der puntländischen Regierung übertrifft. Für diejenigen, die nicht unmittelbar aus (den Gewinnen) der Piraterie profitieren – ist das Leben noch schwieriger geworden, denn sie leiden unter den steigenden Preisen für Lebensmittel und Medikamente; nur die wenigsten Frachter wagen es noch einen somalischen Hafen anzulaufen. Auch die Hilfsorganisationen können eine Versorgung der Hungerenden in Kenia, Somalia und Uganda kaum noch aufrechterhalten, da auch Schiffe mit Hilfsgütern in der Vergangenheit von den Piraten angegriffen und mit Lösegeldforderungen belegt wurden. Die Gewinne aus den Piraterieunternehmungen werden in neue 41 Es gibt eine Reihe von Anwaltskanzleien in London, die auf Seerecht spezialisiert sind; diese werden von Seiten der Reedereien beauftragt. Ebenso sitzen in London Mittelsmänner der Entführer (diese stammen aus dem gleichen Clan wie die Entführer), diese schalten auch wiederum eigene Anwälte ein. Diese führen dann die Verhandlungen mit den von den Reedern beauftragten Anwälten, und sobald sich geeinigt wurde, wird das Lösegeld, das von den (Schiffs-)Versicherungen bezahlt wird, in Form von Bargeld im Flugzeug nach Somalia verbracht. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 148f.) 42 Als im Jahr 2006 die Union Islamischer Gerichtshöfe die Kontrolle über Mogadischu und weite Teile Somalias übernahm, stürmten sie auch Haradere und brachten die Stadt unter ihre Kontrolle. Scheich Hassan Aweys – auf den später noch expliziter eingegangen wird – kündigte an, dass die Piraterie bekämpft werden soll. Dass sich das Verhältnis der Islamisten zur Piraterie jedoch durchaus ambivalenter darstellt, darauf wird ebenfalls später noch näher eingegangen. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 101)
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Häuser, Bars, Cafés und Restaurants in Puntland selbst investiert – andere Teile der Gewinne fließen ins Ausland, vor allen Dingen in das benachbarte Kenia, in dem viele Somalis wohnen, wo sie in manchen Gegenden gar die Bevölkerungsmehrheit stellen und zumeist noch über sehr enge Verbindungen zu ihren Clans verfügen. Das Geld wird vorwiegend in Immobilien investiert, ganze Straßenzüge werden dabei aufgekauft, um das Geld zu waschen. Die Gewinne aus diesen Investments fließen wieder zurück nach Somalia – über ein System aus Mittelsmännern43 statt mittels Banküberweisung, so dass die Geldströme keine Spuren hinterlassen. Auch und gerade die politischen Kräfte in Somalia profitieren von den Unternehmungen der Piraten und den von ihnen erzielten Lösegeldern: seien es islamistische Gruppierungen44, Clan-Milizen, Gruppen, die der Übergangsregierung nahestehen, oder auch die sich als offiziell gerierenden Stellen der puntländischen Regierung. Es ist jedoch klar, dass die Sicherheitskräfte gegen die exzellent ausgerüsteten, schwer bewaffneten Piraten im Falle einer Konfrontation wohl kaum eine Chance hätten. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 149ff.; Becker 2009: 15) Die Clans, die in Puntland herrschen und daher eng mit den Piraten und der Piraterie verbunden sind, sind dieselben Clans, deren Milizen im Süden lange Zeit ein militärisches Gegengewicht zu den dortigen islamistischen Milizen bildeten – ein militärisches Vorgehen der internationalen Gemeinschaft oder einzelner Akteure zu Land in Puntland hätte somit auch eine Störung dieses Gleichgewichts zugunsten der Islamisten zu Folge gehabt, was zumindest der westlichen Staatengemeinschaft nicht gelegen gekommen wäre (vgl. Becker 2009: 17). Auch wenn – wie oben aufgezeigt – islamistische Banden teilweise von der Piraterie profitier(t)en und wenn auch bei den Piraten sicherlich Versatzstücke des diesbezüglich korrespondierenden Denkens existieren – für die Islamisten ist (zumindest offiziell) die Piraterie ein unislamischer Akt. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass die Beute der Piraten von diesen dazu genutzt wurde, sich Luxusgüter anzuschaffen: schicke Autos, schöne Villen – die als Insignien einer westlichen Lebensweise und (irdischer) Wollust gelten. Zumal konsumierten sie in hohem Maße Alkohol und Tabak und auch ihre Frauen zeigten sich unverschleiert. Zur Eskalation zwischen den Piraten und den Islamisten kam es schließlich, als die Piraten 2006 ein Schiff eines Reeders aus den Vereinigten Arabischen Emiraten kaperten und verschleppten. UIC-Milizen45 umstellten und erstürmten das in einen somalischen Hafen verschleppte Schiff, das Schiff wurde inklusive 43 Zu diesem System, das Xawilaad oder Franko Valuta-System genannt wird, wird Näheres in Kap. 6.3. ausgeführt. 44 Aussagen einzelner Piraten zufolge soll Al-Shabaab zu den größten Nutznießern der Piraterie gehören. Dass die Islamisten ggf. Fuß unter den Piraten gefasst haben könnten wird auch durch die zunächst amüsant anklingende Information, die Ende 2013 die Runde machte, illustriert: Die britische Marine setzt zur Abwehr somalischer Piraten Musik von Britney Spears ein – sobald die Piraten diese Musik hören würden, würden sie den Rückzug antreten. (Vgl. Sheik / Weber 2010: 152; ts 2013: 9) 45 Näheres zur UIC im Speziellen und zu den islamistischen Kräften in Somalia im Allgemeinen wird in Kap. 6.5.1. ausgeführt werden.
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der Besatzung freigelassen und die gefangengenommen Piraten vor ein islamisches Gericht gebracht. (Vgl. Becker 2009: 14f.) Rackets46 Wie bereits in Kapitel 3.2. beschrieben wurde ist das Racket die Grundform der Herrschaft. Eine Möglichkeit Zugang ins Racket zu finden ist die Abstammung – in Somalia findet diese von Horkheimer getroffene und formulierte Feststellung beständig ihre Bestätigung. (Vgl. Horkheimer 1985: 287f.) Im Süden Somalias, wo jedwede staatliche Struktur abhanden gekommen ist, arbeiteten in verschiedenen Konstellationen und Machtverteilungen Milizen, Geschäftsleute, Älteste, religiöse Autoritäten und die Sharia-Gerichte zusammen und überzogen damit den Süden Somalias mit einer Art Patchwork von kleinräumigen und zudem nur rudimentär institutionalisierten Machtstrukturen (vgl. Bakonyi 2011, 24). „Mit den Rackets wurde ein Prozess der Institutionalisierung der vormals nahezu ausschließlich auf Gewalt basierenden Macht der Gewaltgruppen eingeleitet, die später den lokalen Aufbau von Verwaltungsstrukturen erleichterten.“47 (ebd.).
Die Rackets nahmen eine wichtige ökonomische Funktion ein, dabei wandelten sie sich von Schutzrackets, die ihre Dienste den internationalen Hilfsorganisationen anboten oder vielmehr aufzwangen, zu Mittlerrackets, die sich der UN andienten48. „Der Unterschied zwischen der Gewalt der bewaffneten Banden und Milizen und der Gewalt der Rackets ist fundamental. Während die Bandengewalt als unberechenbar und chaotisch wahrgenommen wurde, boten Schutzrackets die Eindämmung des Bandenwesens und damit die Beseitigung des Chaos an. Als ordnungsschaffende Instanzen konnten sie das grundsätzliche menschliche Verlangen nach Ordnung bedienen. Dies aber verhalf dem Racket zur Legitimität, die sich zunächst allein durch die Erfahrung und Anerkennung des ‚Ordnungswert der Ordnung‘ und damit als Basislegitimität Geltung verschafft. Mit dem Übergang von der Bandengewalt zu den Rackets veränderten sich daher nicht allein die ökonomischen Arrangements, sondern auch die daran gebundenen Machtverhältnisse und Legitimitätsformen.“ (ebd.: 239).
46 Nähere Ausführungen zu Rackets – vor allem in Bezug auf deren ökonomischer Funktion – finden sich im Kap. 4.2.2. 47 Von einem Umschlag der Herrschaft der Rackets in die Herrschaft des Gesetzes, wie ihn Horkheimer (theoretisch) beschreibt, ist die Situation in Somalia meines Erachtens jedoch noch weit entfernt: „Wenn eine Organisation so mächtig ist, daß sie ihren Willen auf einem geographischen Gebiet als dauernde Regel des Verhaltens für alle Bewohner aufrechterhalten kann, so nimmt die Herrschaft der Personen die Herrschaft des Gesetzes an. Dieses fixiert die relativen Machtverhältnisse. Als fixiertes Medium gewinnt das Recht, wie andere Vermittlungen, eigene Natur und Resistenzkraft.“ (Horkheimer 1985: 289). 48 Nähere Ausführungen zu der Funktion als Schutzracket, wie auch Mittlerracket sowie zur Transformation derer finden sich in Kap. 6.3.
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6.2. RECHT Wie bereits in 4.2.1.2. dargelegt ist für Somalia insbesondere die Sharia von Bedeutung, allgemeine Betrachtung über die Sharia selbst und über das Verhältnis bzw. den Zusammenhang von Recht und Sharia wurde bereits ebendort geleistet, so dass sich an dieser Stelle auf die Etablierung und Wirkung der Sharia (und der daraus hervorgehenden bzw. damit zusammenhängenden Institutionen) in Somalia konzentriert werden soll. Doch die Sharia steht nicht allein in Somalia: es existiert(-e) ebenso das sogenannte Xeer – eine Art (mündliches) Kollektivrecht, das zunächst und dann auch in seinem Zusammenhang mit der Sharia, der Betrachtung unterzogen werden soll. 6.2.1. Xeer In der vorkolonialen Zeit Somalias kam es in erster Linie aufgrund des Zugangs zu Wasser oder anderen knappen (natürlichen) Ressourcen zu Konflikten; diese Konflikte wurde zumeist über einen langen Zeitrahmen – über mehrere Generationen – aufrechterhalten und eskalierten in regelmäßigen Abständen in der Anwendung von Gewalt. Aufgrund des Mangels an (verfügbaren) Kriegern und Ressourcen entspannten sich die Situation zumeist schnell wieder (zumindest für einen temporären Zeitraum). Diese Konflikte wurden reguliert durch ein mündliches Vertragssystem, das über Jahrhunderte sich entwickelt hat: dem Xeer. Das Xeer ist als Kollektivrecht zu verstehen – das Individuum verschwindet darin hinter dem Kollektiv, das Wohlergehen des Clans ist wichtiger denn die Belange des Einzelnen, es wird diesem voll und ganz untergeordnet. Damit entspringt es der genealogischen Ordnung so wie sie es zugleich (weiter) stärkt. Wird gegen Regeln oder Vereinbarungen verstoßen wird nicht der einzelne Täter, der sich dies zu Schulden kommen ließ, zur Verantwortung gezogen – sondern die gesamte diyapaying-group49 ist das Ziel von Racheakten als auch (Entschädigungs-)Forderungen. Das Xeer beinhaltete einige Konventionen, die nicht veränderbar waren, diese betrafen unter anderem die Kriegsführung. Hauptsächlich bestanden sie jedoch aus (bilateralen) Vereinbarungen zu Weideland, Wasser und dergleichen 50. Die Vereinbarungen wurden von den Clan-Ältesten ausgehandelt und hatten bis zu neuen Aushandlungen Bestand. Ebenso waren im Xeer Verfahrensregeln festgelegt was die Streitschlichtung und Verhandlung vor einem Gericht anging. Die Ältesten fungierten als Wächter und Hüter des Xeer, sie blieben jedoch darauf angewiesen, dass die Clanmitglieder ihren Anordnung gehorchen ‚wollen‘, da sie über keine unmittelbare Gewaltmaßnahme zur Sanktionierung verfügten. Die Ältesten hatten somit zugleich eine legislative, judikative und exekutive Funktion
49 Näheres zur (Verortung der) diya-paying-group ist dem Kap. 6.6. zu entnehmen. 50 Auch wenn dies zunächst einmal auf die pastoral-nomadische Lebensumstände abzielte, fand auch in den Ansiedlungen der Agropastoralisten das Xeer seine Anwendung (vgl. Bakonyi 2011: 105).
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inne. Im Laufe der Zeit wurde das Xeer durch die Sharia ergänzt, aber auch überformt. (Vgl. Bakonyi 2011: 103ff.) 6.2.2. Recht während der Republik Somalia In der Verfassung, die sich die Republik Somalia gab, war eine Trennung von Judikative, Exekutive und Legislative vorgesehen – die Rechtsprechung stellte eine Mischung aus dem britischen und dem italienischen Rechtssystem sowie der Sharia, dar (vgl. Sheikh / Weber 2010: 24). Unter der Herrschaft Barres wurde die Macht der Clans und der Ältesten sowie das Clansystem im Ganzen, wie bereits dargestellt, erheblich eingeschränkt. Neben der bereits erwähnten Konsolidierung des Gewaltmonopols seitens des Staates ist auch die fortschreitende Ausdehnung des formalen Gerichtswesens hierfür verantwortlich (vgl. Bakonyi 2011: 110). Neben dem Clansystem ist auch das Nomadentum ein wichtiger Faktor in Somalia, „die Mehrheit der Landbevölkerung im Nordwesten, verfüten [sic!], trotz ihres Images als Krieger und Kämpfer, über eingelebte und erprobte Strategien der Meidung der Staatsgewalt, ignorierten häufig staatliche Grenzen und entzogen sich staatlicher Registrierung und Besteuerung.“ (ebd.:142)51.
In Folge der – bereits angeführten – Schülerdemonstrationen und den daran anschließenden Krawallen 1982 wurde der Sicherheitsapparat weiter ausgebaut. Es wurden mobile Militärgerichte (MMC) eingerichtet, ebenso wurden die Militärgerichte und auch die Militärpolizei selbst mit weitreichenden rechtsprechenden und exekutiven Kompetenzen versehen. In der Konsequenz führte dies dazu, dass oftmals die Todesstrafe verhängt wurde und dass brutale Verhörmethoden angewendet wurden. Massenverhaftungen und Massenexekutionen wurden zu Antworten auf (militärische) Offensiven des SNM, aber auch sonst waren Massenverhaftungen, Hausdurchsuchungen und (nächtliche) Ausgangssperren an der Tagesordnung – zumindest im Nordwesten Somalias der Achtziger Jahre. (Vgl. Bakonyi 2011: 140) 6.2.3. Islamische Gerichte Neben der Errichtung und Finanzierung von privaten Milizen hatten die somalischen Geschäftsleute auch ein verstärktes Interesse an dem Auf- und Ausbau von Sharia-Gerichten, inklusive deren (eigene) Milizen, und unterstützten diese dementsprechend finanziell. Mit der Finanzierung und Unterstützung dieser, beförderten die Geschäftsleute (ob bewusst oder unbewusst) die Expansion und den Zuwachs von islamistischen Bewegungen und Milizen, deren Ziel die Errichtung eines Gottesstaates war. (Vgl. Bakonyi 2011: 247) 51 Überhaupt sind nomadische Gruppierungen schwer unter Kontrolle zu bringen oder gar zu verwalten, weswegen ihnen weltweit – so Jutta Bakonyi – der Staat mit Skepsis entgegentritt (vgl. Bakonyi 2011: 142).
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„Das wesentliche Einfallstor für die Verbreitung radikaler Islaminterpretationen […] bildeten Gerichte, die nach 1995 überall in Somalia aufgebaut wurden.“ (Bakonyi 2011: 190). Von den Gewaltgruppierungen war es zuerst Cali Mahdi der die islamischen Gerichte in seinem Herrschaftsbereich förderte. Der Hintergrund dafür war, dass Mahdi und seine USC-Fraktion (USC-SSA) von Fragmentierungs- und internen Machtkämpfen geschwächt und daher gehend auf der Suche nach (neuen) Bündnispartnern waren – zudem sollte die Legitimationsbasis seiner Herrschaft erweitert werden. So wurde 1994 der erste islamische Gerichtshof im Norden Mogadischus installiert und in die Verwaltung integriert. Bald wurden der Gerichtsbarkeit eigene Milizen unterstellt – diese wurden auf der Basis von Clanzugehörigkeit rekrutiert, finanziert wurden sie von Geschäftsleuten; die Clan-Ältesten unterstützten diese Unternehmung. „Die Gerichtsmilizen blieben so Teil der klanbasierten Machtfiguration Mogadischus.“ (Bakonyi 2011: 248). Allerdings erhielten die Gerichtsmilizen ideologische Schulungen. Bald schon wurde in Nordmogadischu – dank des islamischen Gerichts – das Banditentum mit Erfolg bekämpft. Unter anderem aufgrund dessen stieß die islamische Gerichtsbarkeit bei der Bevölkerung Nordmogadischus auf großen Zuspruch 52, während sie bei westlichen Beobachtern, ob der drakonischen Strafen wie auch der Praxis von Massenverhaftungen und Massenverurteilungen, auf Kritik stieß. Zwar waren die islamischen Gerichte in die Verwaltungsstruktur der USC-SSA eingebunden, entwickelten jedoch, da sie auch von Geschäftsleuten Unterstützung erfuhren, eine Eigendynamik, die auch einen Machtzuwachs und eine Verselbstständigung mit sich brachte. So kam es 1996 auch zum gewaltsamen und bewaffneten Zusammenstoß zwischen der USC-SSA und den Gerichtsmilizen, in Folge dessen kam es zu weiteren (zentrifugalen) Konflikten und Spaltungen. Ebenso nahmen die Gewalt und auch die Überfälle (wieder) zu. In Südmogadischu, wo General Aideed und seine USC-Fraktion (USC-SNA) herrschte, wurde 1995 auch ein islamisches Gericht etabliert, obwohl Aideed ein ausgemachter Gegner der islamischen Gerichte und der islamistischen Bewegung war. Nach seinem Tod 1998 etablierten sich weitere Gerichte. Die Gerichte waren stärker als die Gerichte im Norden Mogadischus mit der islamistischen Bewegung gekoppelt. Auch die islamistische Gruppierung Al-Ittihad53 war bei der Etablierung dieser Gerichte beteiligt. „Die Gerichte in Südmogadischu agierten auf der Basis von Klanzugehörigkeiten, was ihre Reichweite auf jeweils eine begrenzte Zahl von Stadtteilen einschränkte.“ (ebd.: 250). Im Jahr 1998 wurde von ihnen ein Koordinationskomitee gegründet. Auch in den Süden Somalias dehnten die Gerichte ihren Einfluss schließlich aus. In den verschieden Gruppierungen der USC sorgte dies für Skepsis, schließlich bedeutete dies politische Konkurrenz; zudem in der eigenen Clangruppierung. Die Gerichte schufen im Oktober 2000 einen gemein52 Im Laufe der Zeit wurde jedoch auch Kritik an der (Praxis der) islamischen Gerichtsbarkeit laut – dies lag weniger an den drakonischen Strafen, Verletzungen der Menschenrechte oder dergleichen, die die Gerichte zu verantworten hatten, sondern an dem Vorwurf, dass die Richter parteilich seien und ihre Subclangruppen oder reiche Geschäftsmänner begünstigen würden (vgl. Bakonyi 2011: 248). 53 Näheres zu Al-Ittihad wird in Kap. 6.5.1.1. ausgeführt werden.
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samen Rat für Mogadischu, er wurde somit zur militärisch stärksten Fraktion in der Stadt. Auch wenn der Rat (offiziell) in die Übergangsregierung 2000 eingegliedert wurde, hatte diese keinen Bestand – und nach dem (offiziellen) Scheitern der Übergangsregierung gewannen die islamische Gerichte wieder erneut an Bedeutung. „Mogadischu war Ende 2005 weit von einer Gewaltmonopolisierung entfernt. Stattdessen konkurrierten Klanmilizen, islamische Gerichte und deren Milizen, Privatmilizen der Geschäftsleute, Milizen der neuen Regierung miteinander um die Kontrolle einzelner Stadtteile. Auch Bandengewalt blieb in dieser Situation endemisch.“ (ebd.: 251).
Nichtsdestotrotz lässt sich ob dessen dennoch festhalten, dass die Sicherheitslage gegenüber den neunziger Jahren für die Bevölkerung eine positive Veränderung erfahren hat. (Vgl. ebd.: 248ff.) Nahezu in allen größeren Städten Somalias fanden sich Mitte der neunziger Jahre islamische Gerichte, wobei ihre Macht und ihre ideologische Ausrichtung sich je nach Region unterschieden. Die Rechtsprechung in kleineren Städten übernahmen islamische Geistliche. Es kam dabei zu einer engen Zusammenarbeit mit den Clan-Ältesten. Dabei kann festgestellt werden, „dass die islamische Rechtsprechung Sharia eher in Städten angewandt wurde, während in den ländlichen Regionen das traditionelle Gewohnheitsrecht Xeer dominierte.“ (Bakonyi 2011: 262). Oftmals verschwammen diese beiden auch und eine Melange beider kam zur Anwendung, oder es wurde zwischen beiden changiert; überhaupt lassen sich beide nicht trennscharf voneinander scheiden, da eine jahrhundertelange Ver-/ Durchmischung beider stattgefunden hat. Dabei ist jedoch von Bedeutung, dass „[d]ie im Xeer tradierte Kollektivbestrafung […] in der Sharia durch die individuelle Bestrafung des Täters abgelöst [wird]. Setzt sich eine solche Verschiebung wirklich durch, und im städtischen Raum scheint dies der Fall zu sein, untergräbt dies die Basis des Xeer, die ja auf der kollektiven Haftbarkeit und daher engen Gemeinschaftlichkeit der Blutzollgruppe beruht.“ (Bakonyi 2011: 263).
Mit der Etablierung der islamischen Gerichte in den großen Städten ging eine Ausbreitung einer neuen Interpretation des Islams einher, diese breitete sich auch in den ländlichen Regionen aus und gewann vor allem bei jüngeren Männern und Frauen an Attraktivität. (Vgl. ebd.: 250 u. 261f.) Der Fischer Weltalmanach 2014 führt an, dass die gegenwärtig (zumindest offiziell) geltende Rechtsprechung in Somalia die Sharia ist, bzw. dass sie sich (zumindest) an der Sharia orientiert (vgl. Fischer Weltalmanach 2013: 425). Dabei sind die Vorschriften die durch die Sharia in Somalia aufgestellt und begründet werden, zudem als äußerst streng anzusehen, so droht Dieben die Strafe des Hand abhackens und Vergewaltigern droht die Steinigung – durch diese drakonischen Strafen sollen (potentielle) Täter in spürbarer Weise abgeschreckt werden (vgl. Sheikh / Weber 2010: 102).
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6.2.4. Zwischenanmerkung Das Recht produziert die Rechtsverhältnisse, die den ausgeschlossenen Dritten benötigen, der ihre Einhaltung sicherstellt. Dies kann nur sichergestellt werden, wenn dieser ausgeschlossene Dritte die Möglichkeit zur Sanktionierung besitzt – dafür benötigt er das Gewaltmonopol. Wie in Kapitel 6.1. aufgezeigt, ist das Gewaltmonopol in Somalia jedoch erodiert. Wie Hegel es bezüglich des Völkerrechts anmerkte, sind auch in diesem Fall die geschlossenen Verträge nichts weiter als „Traktate, [die] gehalten werden sollen.“ (Hegel, 1986, 499). Sie finden somit „in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit. Jene allgemeine Bestimmung bleibt daher beim Sollen“ (Hegel 1986, 500). Voraussetzungen, unter denen sich eine warenförmige Vergesellschaftung nicht entfalten kann. Während das Recht auf das Individuum als Subjekt zielt und es auch als Subjekt und Individuum (auch und gerade in der ökonomischen Sphäre) (ein-)setzt, sind sowohl das Xeer als auch die Sharia, die beide (parallel) in Somalia vorherrschen, durch den Gedanken des Kollektivs geprägt. In beiden Fällen geht es um die Bewahrung des Kollektivs. Während die Sharia noch den Einzelnen vor Augen hat, den es zu bestrafen gilt, wenn er das Kollektiv geschädigt oder zumindest vermeintlich geschädigt hat, zielt das Xeer auch dabei auf das Kollektiv, auf all diejenigen, die dem gleichen Kollektiv, wie der Einzelne, der die Verfehlung begangen hat, angehören/ zugeordnet werde – sie alle müssen für den vom ihm verursachten Schaden einstehen und Wiedergutmachung leisten. Der Einzelne ist (dabei) nur noch ein Bestandteil des Kollektivs und geht in selbigem unter. Darin liegt (aber nicht ausschließlich) die Differenz begründet, die sich zwischen Recht und Xeer/ Sharia auftut. 6.3. ÖKONOMIE Wie einleitend bereits angemerkt, gehört Somalia auch ökonomisch zu den ärmsten und rückständigsten Ländern der Welt. Vorherrschend war und ist (wieder) in Somalia die Subsistenzökonomie, das bedeutet die bäuerliche und nomadische Selbstversorgungswirtschaft, die auf Erhalt von Gemeinschaft bezogen ist und mittels der Gemeinschaft organisiert ist. Eine Orientierung am Markt lässt bei ihr kaum ausmachen, da sie weithin selbstgenügsam ist 54; dies resultiert im Fehlen von Markt- und Austauschbeziehungen, ist doch der Austausch am (freien) Markt geprägt durch die Konkurrenzförmigkeit – welche im Gegensatz zum Gemeinschaftserhalt steht. Die Folge (nicht nur) davon ist ein Nahrungsmitteldefizit – wodurch der Import von Nahrungsmitteln notwendig ist, was bedeutet, dass Somalia weitgehend auf die Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft angewiesen ist. So kann eine allgemeine Rückständigkeit der kleinbäuerlichen Selbstversorgungswirtschaft konstatiert werden, die nicht in der Lage war und ist die 54 Trotz der Vorherrschaft der Subsistenzökonomie, kam es bereits früh zu Lokal- und Regionalmärkten sowie dazu, dass die Region in weltwirtschaftliche Zusammenhänge miteinbezogen wurde (vgl. Matthies 1997: 52).
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Menschen flächendeckend zu ernähren. Die Ursache des Nahrungsmitteldefizits ist jedoch nicht alleinig in der Existenz der Subsistenzökonomie und der daraus resultierenden fehlenden Warenförmigkeit der gesellschaftlichen Vermittlung bzw. besser gesagt, dass Vermittlung in diesem Punkt und zu diesem Zwecke nicht stattfindet, zu suchen, sondern auch aus folgenden Gründen: – die Kriegsführung, wie sie im somalischen Bürgerkrieg praktiziert wurde und wird, sich systematisch und in gezielter Art und Weise des Hungers bedient. – die bürokratisch und dirigistische Staatswirtschaft, wie sie unter der Herrschaft Barres praktiziert wurde, die Aufgaben nicht bewältigen konnte bzw. ihnen gegenüber offensichtlich unangemessen war. (Vgl. Matthies 1997, 51f.; Bakonyi 2011: 53) Seit der Unabhängigkeit Somalias gab es vermehrt Versuche eine ökonomisch solide Basis zu schaffen – einerseits durch den Aufbau eines Agrarsektors, der auch international wettbewerbsfähig ist, wie auch eines Zweigs der (eigenständigen) Industrieproduktion. „Die staatlich induzierte Modernisierung der Wirtschaft war nur bedingt erfolgreich und führte allenfalls zur Etablierung weniger moderner Sektoren in einer weiterhin in genealogisch Bindungen eingebetteten, kleinbäuerlichen Reproduktionsstruktur.“ (Bakonyi 2011: 111f.).
Das wirtschaftliche Scheitern ließ den Staat immer weiter in das Zentrum auch von ökonomischen Aktivitäten rücken. (Vgl. Bakonyi 2011: 111f.) Die Plünderungen und Überfälle, die während und in den Ausläufern des Bürgerkriegs von Banden und Gangs verübt wurden, wurden von den Führungsriegen der am Bürgerkrieg beteiligten Gewaltorganisationen begrüßt oder zumindest toleriert, da sie selbst davon profitierten. Durch und mit dem Zusammenbruch des Staates in Somalia erfolgte ebenso auch der Zusammenbruch der staatlichen Einrichtungen (wie Banken, Schulen, Krankenhäuser, das Kommunikations- und Elektrizitätswesen) – doch seit Mitte der Neunziger Jahre werden diese Aufgaben vermehrt von privaten Unternehmern übernommen. Zudem ist bei alldem jedoch auch bemerkenswert, dass es Ende der Neunziger Jahre und Anfang des neuen Jahrhunderts es zu einem erstaunlichen wirtschaftlichen Aufschwung in Somalia kam; der Importhandel verdoppelte sich und die Indikatoren, die die Wirtschaft betreffen, lagen nicht unter den Werten, die in der Zeit vor dem Krieg und damit dem Kollaps des Staates, eruiert wurden. Der (anhaltende) Bürgerkrieg bewirkte eine radikale Strukturanpassung. Eine Einbeziehung in den Weltmarkt, was in erster Linie die Bauern und diejenigen, die ein pastorales Wirtschaften in Somalia betrieben, betrifft, war ein sich nur langsam vollziehender Prozess. (Vgl. Bakonyi 2006: 99; Bakonyi 2011: 14, 90, 166) 6.3.1. (Pastoraler) Nomadismus Durch die kargen Umweltbedingungen, die in Somalia herrschten und herrschen, entstand eine nicht-sesshafte Lebensweise, in der Viehzucht betrieben wurde bzw. wird. Somit war Somalia (und ist es bis heute immer noch) eine Nomadengesell-
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schaft, auch trotz der groß angelegten Reformpläne – angelehnt an die Entwicklungspläne sowjetischer oder anderer realsozialistischer Provenienz – Barres in den siebziger Jahren. Im Jahre 2001 wurde mittels Stichprobenerhebung ermittelt, dass 69 Prozent der Bevölkerung (weiterhin) pastoral-nomadisch wirtschaften und leben oder zumindest eine Mischung aus Wanderwirtschaft und Ackerbau betreiben (Agropastoralismus), nur 17 Prozent leben vom sesshaften Feldanbau. Dieser findet vor allem an den Flüssen Jubba und Shabeele im Süden statt, wo vor dem Krieg auch größere Exportplantagen betrieben wurden. (Vgl. Matthies 1997: 121f., Bakonyi 2011: 91f.) Der Nomadismus prägte die Somalis einerseits als Wirtschaftsweise im besonderen Maße, aber andererseits auch als Lebensform. Zeichnete sich die Wirtschaftsweise dadurch aus, dass sie sich den ökologischen Bedingungen anpasste (die man in Somalia durchaus als extrem bezeichnen kann), so zeichnete sich der Nomadismus als Lebensform durch seine Freiheit und Ungebundenheit55 aus. Unter der „Entwicklungsdiktatur“ oder zumindest dem Versuch davon, wie es unter Barre der Fall war, wurde seit den siebziger Jahren der Identität und Eigentümlichkeit, welche den nomadischen Gesellschaften in den Feldern von Gesellschaft, Kultur und Ökonomie zu eigen war, durch ein zunehmendes Maß an ökologischer Deprivation, Kommerzialisierung, Sesshaftwerdung, Urbanisierung sowie einer sozialen Differenzierung in wachsendem Maße, entgegengewirkt. Der massive Umzug in die Städte und dabei in erster Linie nach Mogadischu, führte dazu, dass sich in deren Randbereichen Slums bildeten, die beständig wuchsen. Der Umzug in die Stadt riss die Nomaden in den Strudel des ihnen unbekannten Stadtlebens, dies entwurzelte sie vollends.(Vgl. Matthies 1997: 121f.) Umstände, die durchaus an die von Marx beschriebenen Umstände der obenstehend ausgeführten sogenannten ursprünglichen Akkumulation erinnern. 6.3.2. Entwicklungshilfe Bereits seit seiner Unabhängigkeit war Somalia von internationaler Entwicklungshilfe abhängig, die im Rahmen des Kalten Krieges auch recht reichlich war. Später nahm die Entwicklungshilfe zugunsten der humanitären Nothilfe ab. Die internationalen Spenden an Nahrungsmitteln wurden zu einem wichtigen Faktor sowohl für das politische wie auch das ökonomische Leben in Somalia. Dies wuchs so stark an, dass 1987 die Weltbank feststellen musste, dass die Hilfe, die Somalia angediehen wurde, das überstieg, zu was der somalische Staat in der Lage gewesen wäre zu handhaben56. Da gerade die Hilfe, die den Flüchtlingen in den Flücht55 Es stellt sich hierbei natürlich die Frage, inwiefern diese Annahme nicht (nur oder zumindest in erster Linie) eine romantische Verklärung darstellt. 56 In den achtziger Jahren gingen bereits (bis zu) 75% der Hilfsgüter nicht mehr an diejenigen, die dafür vorgesehen waren. Einige der Hilfslieferungen ‚verschwanden‘ beim Transport der Hilfsgüter durch lokale Transportunternehmer – sie wurden von diesen an ihre Familien, Bekannte usw. weitergereicht. Auch die mit der Verteilung und Verwaltung der Hilfsgütern betraute Beamten taten sich an ihnen gütlich. Der Hauptteil kam jedoch der Armee und ihren Angehörigen zu Gute. (Vgl. Bakonyi 2011: 224f.)
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lingslagern dienen sollte, oftmals andere Wege fand als die von den Gebern intendierten, wurden Flüchtlingslager zu Marktplätzen und Handelszentren erheblichen Ausmaßes – über die auch eine Integration in die internationale Handels- und Finanzmärkte stattfand. „Im Lager verband sich auch die internationale Nothilfeökonomie mit der Plünderungsökonomie des Krieges.“ (Bakonyi 2011: 230). Hilfsgüter wurden gegen Güter aus Plünderungen getauscht. Letztlich wurden die Flüchtlingslager in Äthiopien für Somaliland, nach dessen Proklamation der Unabhängigkeit, zu einer tragenden Säule für den (Wieder-)Aufbau von ökonomischen und staatlichen Strukturen. (Vgl. ebd.: 214, 217f., 230) Erstmalig wurde Somalia im Zuge der Dürre 1974–75 zum Empfänger von humanitärer Hilfe. Die Pastoralisten, vor allem im Norden Somalias, verloren aufgrund dieser Dürre große Teile ihres Viehs – der somalische Staat organisierte Hilfe, bei der internationale Lieferungen von Lebensmitteln Verwendung fanden; dadurch konnten der schlimmste Hunger gelindert werden. In Folge dessen gab es Programme zur Umschulung der pastoralistischen Nomaden: sie sollten sesshaft und zu Bauern und Fischern werden. Die Kooperativen, die aus diesem Unterfangen heraus entstanden, konnten sich nicht selbst ernähren und waren, solange sie bestanden, auf die Unterstützung durch internationale Lebensmittellieferungen angewiesen. Ein Umstand mit dem die dort Lebenden dann auch fest rechneten und den sie in ihre (ökonomischen) Planungen miteinbezogen. (Vgl. Bakonyi 2011: 215) 6.3.3. Plünderungsökonomie Bereits in den Achtziger Jahren, als Staatlichkeit in Somalia noch existent war, kam es zum Aufbau einer Plünderungsökonomie. Die gewaltsam vollzogene Praxis der (unmittelbaren) Aneignung durch die verschiedenen Gewaltakteure fand damals vor allem noch von Seiten staatlicher Sicherheitsdienste statt – diese Praxis intensivierte sich mit der Entfaltung und letztendlich Eskalation der Gewaltdynamik in Somalia. Jutta Bakonyi unterscheidet dabei fünf Typen von Plünderungen: strategische Plünderungen (in einem politisch-ideologischen Rahmen), Protestplünderungen, nivellierende Plünderungen, Armutsplünderungen und organisierte Plünderungen. So ließ sich beobachten, dass die Plünderungen, die von Seiten der staatlichen Sicherheitsbehörden durchgeführt wurde, maßgeblich im Nordwesten Somalias stattfanden und dass die Betroffenen maßgeblich dem Isaaq-Clan angehörten. Auch gehörte es zur Praxis der Plünderungen, dass die Gegenstände, die nicht direkt benutzt/ konsumiert werden konnten oder nicht transportabel waren, zerstört wurden. Dieser Umstand, dass es bei den Plünderungen offensichtlich nicht nur um die eigene Bereicherung ging, drängt unmittelbar die Schlussfolgerung auf, dass: „gewaltsame Aneignungen strategisch als Mittel zur Schwächung, Demütigung oder auch Bestrafung der als feindlich wahrgenommen Bevölkerungsgruppe eingesetzt“ (Bakonyi 2011: 193) wurden. Diese erreichten mit dem Einmarsch von somalischen Militärs und paramilitärischen Verbänden (Einheiten der Ogaden) in den Nordwesten Somalias einen Höhepunkt – mit den
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Gegenständen, die militärische wie paramilitärische Einheiten erbeuteten, wurde alsbald ein reger Handel betrieben, in dem sowohl das Militär als auch das Paramilitär als ein gewichtiger Akteur auftraten. (Vgl. ebd.: 192f.) Sicherten die (ersten) Aufstandsorganisationen anfangs noch ihre materielle Reproduktion durch die freiwillige57 Unterstützung der Bevölkerung, gingen sie im Verlauf des Bürgerkriegs dazu über ihren Bedarf an Ressourcen durch Plünderungen zu decken. Auch Rache und Vergeltung spielten dabei eine große Rolle – so wurde von sich zurückziehenden SNF-Einheiten Nahrungsmittel einfach vernichtet, das sollte einerseits den nachrückenden USC-Einheiten die Versorgung erschweren/ verunmöglichen, aber es sollte zugleich eine kollektive Bestrafung für die dort ansässigen Digil- und Mirifle-Clans sein (von denen sich viele den Aufständischen angeschlossen hatten). Dies zeigt, dass Plünderungen gezielt gegen bestimmte Gruppen, die als feindlich wahrgenommen/ eingestuft wurden, (vorsätzlich) eingesetzt wurden. „Sie werden im Krieg zu einem strategischen Mittel, das auf die Schädigung der feindlichen Gruppe zielt.“ (Bakonyi 2011: 195). Dies wird – wie bereits erwähnt – unterstrichen und dadurch deutlich, dass die Plünderungen nur zum Teil zur eigenen Bereicherung und/ oder der (grundlegenden) Versorgung (der Kombattanten) mit Ressourcen dienen und das sie (oftmals) nicht willkürlich stattfanden. (Vgl. ebd.: 192 u. 194) Im Verlauf der Aufstände 1990/91 kam es in Mogadischu ebenfalls zu Plünderungen. Sie wurden ebenso von staatlichen Sicherheitskräften angeführt – folgten jedoch einem anderen Muster: Ziele waren in erster Linie, aber nicht nur, öffentliche Einrichtungen. „Die Nutzung öffentlicher Mittel für private Zwecke wurde in Somalia ebenso wie in vielen anderen afrikanischen Staaten als Handlungsprinzip verallgemeinert und durchdrang alle staatlichen Apparate.“ (Bakonyi 2011: 195). So soll sich auch Barre selbst, nebst seinen Vertrauten, unmittelbar vor seiner Flucht an Staatseigentum gütlich getan haben. Die Gerüchte darüber trugen auch zur ersten Welle von massiven Plünderungen an staatlichem Eigentum (dabei auch nicht nur das staatliche Eigentum Somalias, sondern auch das anderer Staaten) bei. Dies fand auch weit über die Grenzen Mogadischus hinaus statt. Von den Aufstandsorganisationen wurde dies als ein „Akt der Wiederaneignung“ dargestellt. (Vgl. ebd.: 195ff.) Wie bereits angeführt waren Plünderungen auch Bestandteil der ‚Siegesfeiern‘ der Aufständischen, zugleich demonstrierten sie dabei natürlich ihre neu gewonnene Macht. Diese richteten sich – neben den Plünderungen von staatlichen Einrichtungen – gegen die vermeintlich Überpriviligierten (zumeist wurden diese, aufgrund der (zugeschriebenen) clanspezifischen Konnotationen, in den Daroods erblickt). (Vgl. Bakonyi 2011: 197f.) Durch die anhaltende Gewalt im Süden und die daraus resultierende verstetigte Gewaltdynamik wurde auch die Gewaltorganisierung ausgebaut. Die Gewaltgruppierungen rekrutierten weiterhin neue Mitglieder, konnten aber deren Versorgung nicht sicherstellen bzw. leisten. So wurden die Kombattanten auch gezielt zu 57 Zu der Thematik der Freiwilligkeit von Spendenzuwendungen und inwieweit (sozialer) Druck dafür maßgeblich war, siehe Kap. 6.1.1.1.2.
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Plünderungen ‚angeregt‘, wenn nicht gar genötigt, um überhaupt ihre eigene Versorgung gewährleisten zu können. Im Folgenden ging dies jedoch über den Status der reinen Selbstversorgung der Milizionäre hinaus und die Plünderungen wurden genutzt, um den Wohlstand der Führung der Gewaltgruppierung zu vermehren und die gesamte Gewaltgruppierung zu finanzieren. Darüber hinaus profitierten auch die den Gewaltgruppierungen nahestehenden Geschäftsleute davon – da der Teil der Plünderungsbeute, der nicht (unmittelbar) selbst benutzt/ konsumiert werden konnte in den (internationalen) Handel gelangte 58. Dabei wurden im großflächigen Stil komplette Fabriken, landwirtschaftliche Betriebe und ähnliches in Gänze ausgeplündert und (ins Ausland) verkauft. Der Logik der Sache nach kam dies irgendwann zu seinem Ende. Das neue Objekt der Begierde wurde: Nahrungsmittel59. Durch den Bürgerkrieg war eine (flächendeckende) Versorgung mit Nahrungsmitteln zusammengebrochen – Hunger war die Folge, dem auch – aufgrund der Sicherheitslage – die internationalen Hilfsorganisationen nicht (effektiv) begegnen vermochten. Dadurch stiegen die Preise – vor allem in den Städten – für Lebensmittel in extreme Höhen. Die (landwirtschaftlichen) Produkte der Agropastoralisten wurden zu einem begehrten Raubgut. „Die wechselseitige Verstärkung der Banden- und Plünderungsökonomie verdichtete sich zusammen mit der Flucht und Vertreibung großer Bevölkerungsgruppen aus den Farmregionen bis Mitte 1991 zu einer Hungersnot vormals unbekannten Ausmaßes.“ (Bakonyi 2011: 201).
Die Bauern waren beständiger Plünderung und Gewalttätigkeiten ausgesetzt – zudem wurde oftmals selbst das Saatgut geplündert, wodurch die Bauern sich nicht mehr in der Lage sahen, ihre Felder zu bestellen. Dies führte dazu, dass viele Bauern in die Städte abwanderten, auf der Suche nach neuen Möglichkeiten des Verdienstes. Dies verschärfte die bereits extrem angespannte Situation dort noch zusehends. Der Tod aufgrund Unterernährung war omnipräsent. Der Hunger und die Vertreibungen heizten die Bildung des Bandenwesens und die daraus resultierende Gewalt nur noch weiter an. ‚Plünderungsexpeditionen‘ in die ländlichen Regionen gehörten zur Tagesordnung – begleitet von Gewalttätigkeiten, Vergewaltigungen, Morden usw.60 Auch Formen der Versklavung fanden dabei statt: So zwangen die USC-Milizen die Bantu – ebenso wie einst die italienischen Kolonialherren – zur Zwangsarbeit. (Vgl.: ebd.198ff., 269) Jedoch ist durchaus festzuhalten, dass, egal aus welcher Motivation und mit welcher Intention die Plünderungen stattfanden, „Plünderungen [...] Aktionen der 58 Sehr lukrativ war Altmetall (vgl. Bakonyi 2011: 199). 59 „Lebensmittel wurden […] zu einem wichtigen Bestandteil der südsomalischen Kriegsökonomie. Gewaltorganisationen versorgten mit Lebensmittelspenden ihre Kombattanten, realisierten zum Teil beträchtliche Gewinne und bauten ihre Machtposition im lokalen Gefüge aus.“ (Bakonyi 2011: 221) 60 Im Bewusstsein vieler Somali gelten all diejenigen, die nicht pastoral-nomadischen Clangruppierungen angehören als sozial minderwertig, die Bantu (siehe dazu Kap. 6.4.), die maßgeblich in den ländlichen Regionen leben und arbeiten, werden sogar als rassisch minderwertig angesehen – dies wird eine Rolle in der Eskalation der Gewalt gegenüber diesen Gruppen gespielt haben.
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Machtlosigkeit [sind]. […] Plünderungen sind kurzfristige Handlungen der Gegenwart.“ (Bakonyi 2011: 335). Auch die vor allem in Mogadischu allgegenwärtigen Straßensperren – im Falle von Banden mobil eingerichtete Sperren oder von den Gewaltorganisationen dauerhaft installierte Sperren – wurden zu einer wichtigen Einnahmequelle für die Gewaltgruppierungen. Dabei wurde Wegzoll eingefordert oder auch einfach die Durchfahrt begehrenden Transporte ausgeraubt. „Straßensperren dienen außerdem der Markierung des territorialen Herrschaftsanspruch von Gewaltgruppen und indizieren die beginnende Transformation der Macht von Gewaltgruppen in Herrschaft.“ (Bakonyi 2011: 204). So dienten die Straßensperren auch dazu, die Bewegungen in und aus dem kontrollierten Territorium zu kontrollieren und in diesem Zusammenhang diejenigen auszusortieren (und dann ggf. auszurauben, zu demütigen und oftmals zu ermorden), die einem feindlichen Clan angehörten. Gerade Hilfslieferungen der internationalen Hilfsorganisationen werteten die Straßensperren außerordentlich auf, neben einem Wegzoll mussten sie auch Teile der Fracht an den Sperren abgeben. „Für Gewaltgruppen ohne Zugang zu Häfen wurden solche Straßensperren zu einem bedeutenden Teil ihrer materiellen Reproduktion. Außerdem versuchten Gewaltorganisationen hier, die Richtung der Hilfslieferungen zu beeinflussen und die Auslieferung von Lebensmitteln in die von Gegnern kontrollierten Regionen zu verhindern.“ (ebd.: 233).
Daneben boten Straßensperren auch noch einen weiteren unschätzbaren Vorteil: die Einnahmen hieraus waren – gerade im Vergleich zu den anderen Einnahmequellen – relativ gut planbar, so dass die Führungsriegen der Gewaltorganisationen sie für ihre Finanzplanung verwenden konnten. Die Straßensperren wurden oftmals nicht direkt von den Gewaltorganisationen betrieben, sondern an lokale Banden ‚outgesourct‘. Die Einnahmen, die diese Banden machten, wurden an die Gewaltorganisation abgeliefert, im Gegenzug wurden sie regelmäßig mit Nahrungsmitteln, Khat, Zigaretten usw. versorgt. Zudem standen sie unter dem Schutz der entsprechenden Gewaltorganisation – auch dann, wenn sie selbst weder der Gewaltorganisation noch dem entsprechenden Clan angehörten. Bakonyi kommt dabei zu dem Schluss, „dass mit solchen Straßensperren das Prinzip der Selbstversorgung der Milizen durchbrochen und in ein System redistributiver Tauschbeziehungen umgewandelt wurde. […] Im Mittelpunkt redistributiver Tauschbeziehungen steht ein institutionalisiertes Machtzentrum, das eine Gemeinschaft repräsentiert. Redistributive Beziehungen funktionieren nach dem Grundprinzip der gemeinschaftlichen Sammlung von Gütern und Leistungen, die dem Zentrum übergeben und von diesem zeitverzögert (und zumindest teilweise) an die Gemeinschaft rückverteilt werden.“ (ebd.: 207).
Dabei ist es nicht entscheidend, ob die eingesammelten Güter und Leistungen freiwillig abgegeben werden, von seitens des Zentrums eingefordert werden oder es eine Selbstverständlichkeit der Praxis darstellt. Das Zentrum ist somit die zentrale (ökonomische) Empfangs- und Verteilungsinstanz. Damit setzt zugleich ein Prozess der zentralen Organisierung ein:
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In der Folge spielten daher gehend die Straßensperren und die daraus resultierenden Grenzziehungen eine tragende Rolle beim Aufbau von (lokalen) Verwaltungsstrukturen. Bakonyi sieht daher auch in den Straßensperren einen Prozess von Machtkonsolidierung gegeben – und hebt somit die Straßensperren aus dem Schema der (restlichen) Plünderungsökonomie heraus. Die Kontrolle über eine Straßensperre bzw. überhaupt erst die Errichtung einer Straßensperre resultiert nicht aus irgendwelchen abstrakten Prinzipien, sondern aus der Macht des Faktischen, d.h. aus der Gewaltpräsenz einer Gewaltgruppe. (Vgl. ebd. 203ff., 211, 233) Die wirtschaftliche Aktivitäten in dieser Kriegsökonomie dienten in erster Linie dem Überleben der dortigen Menschen – sie können somit als eine „Ökonomie des Elends“ bezeichnet werden. Da seitens des Staates keine Verwaltung des Elends mehr geleistet werden konnte, da er nicht mehr existent war, übernahmen diese Aufgabe zunehmend internationale Organisationen – sowohl in regulativer wie administrativer Hinsicht. (Vgl. Bakonyi 2011: 213) In Somalia entstand auch eine (weitere) Ausprägung von Plünderungsökonomie, die darauf basierte, dass Hilfsgüter geplündert wurden. Diese Plünderungsökonomie verschärfte die Konflikte nur noch zusätzlich, wirkte gewaltstimulierend und somit kriegsverlängernd. Oftmals wurde auch dies gezielt eingesetzt – so wurden Lebensmittellieferungen in Regionen, die von der feindlichen Gruppe/ Miliz kontrolliert wurde, gezielt verhindert – wobei man das Sterben tausender Menschen nicht nur (billigend) in Kauf nahm, sondern bewusst evozierte. (Vgl. Höhne 2002: 75; Bakonyi 2011: 195) „Ein Teil der in den achtziger Jahren nach Somalia gelieferten Lebensmittel wurde nicht nur an andere als die von den Gebern intendierten Zielgruppen umgeleitet, sondern im Prozess der Diversion kommodifiziert, also in Waren umgewandelt.“ (Bakonyi 2011: 227).
Lebensmittel, die 1991/92 als Hilfsgüter nach Somalia kamen, wurden zum Großteil von Banden entweder gleich direkt aus dem Hafen oder auf den Transportbzw. Verteilungswegen geplündert. In Folge dessen ist durchaus zu konstatieren, dass die humanitäre Hilfe, die die internationale Staatengemeinschaft Somalia angedeihen ließ, die Dynamisierung und Verstetigung von Gewaltausübung – zumindest im Süden Somalias – befördert hat. „Sie hat aber auch einen Übergang von der Plünderungsökonomie zum Racketeering stimuliert und damit einen ersten Anstoß für die Überleitung von gewaltgestützten Machtverhältnissen in Herrschaft gegeben.“ (ebd.)61. (Vgl. Bakonyi 2011: 23, 226)
61 „Die Grundform der Herrschaft ist das Racket.“ (Horkheimer 1985: 287).
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6.3.4. Racketeering „In den südsomalischen Kriegsgebieten wurden Praktiken der Diversion und Kommodifizierung internationaler Gaben durch den Aufbau von Schutzrackets in neue Organisationsstrukturen eingebunden.“ (Bakonyi 2011: 231). Für die internationalen Hilfsorganisationen war es neu und ungewohnt, in einer Umgebung zu operieren, die bestimmt war durch die Auswirkungen des Staatszerfalls. Dies trug mit dazu bei, dass die Hilfsorganisationen (oft erstmalig) auf bewaffnetes Wachpersonal zurückgriffen. Zudem zahlten die Hilfsorganisationen immense Summen an Schutzgeldern an die jeweiligen Gewaltorganisationen bzw. Warlords. Durch den Bedeutungszuwachs von (Schutz-)Rackets mehrte sich auch wieder die Bedeutung von traditionellen und religiösen Autoritäten. Eine Unterscheidung von zivilen und (quasi-)militärischen Akteuren war nahezu unmöglich und mehr eine sophistische denn eine real bedeutsame. Es waren die „internationale[n] Organisation [die] die Bildung von Schutzrackets anregten und ökonomisch unterfütterten. Die Rackets bildeten sich in der Zusammenarbeit der Gewaltorganisationen mit Geschäftsleuten und lokalen Autoritäten.“ (ebd.: 235). Nachdem die UN-Truppen die Bewachung der Hilfslieferungen übernahmen, brach für die Rackets ein gewichtiger Teil ihrer Einnahmemöglichkeiten weg. Diesen neuen Umständen sich anpassend, wandelten sich die Schutzrackets bald in Mittlerrackets, das Buhlen um Anstellungen oder Aufträge von der UN schlug in Mogadischu oftmals in Gewalt um. So wirkte die UN-Intervention (indirekt) als ein Beschäftigungsprogramm, was zur Demobilisierung Tausender beitrug. (Vgl. ebd.: 232ff.) Mussten die Geschäftsleute des Bakaaraha-Marktes, dem größten Markt in Somalia und ökonomisches Zentrum in Mogadischu, anfangs noch den USC-Milizen Schutzgeld zahlen, um Plünderungen zu verhindern, organisierten sie später selbst Privatmilizen, die den Markt verteidigten und damit die Schutzgelderpressungen des USC unterbanden. Dieses Vorgehen wurde auch in anderen Städten Somalias ‚kopiert‘. (Vgl. Bakonyi 2011: 246) 6.3.5. Warlord-Ökonomie Die obenstehend ausgeführte Plünderungsökonomie ist zentral für die WarlordÖkonomie. „Der Aufbau von Gewaltorganisationen und die Aufrechterhaltung ihrer Kämpfe benötigen ökonomische Ressourcen.“ (Bakonyi 2011: 67). Die Finanzierungsmöglichkeiten variieren dabei: internationale Finanzierungsquellen, Verhältnis zur Zivilbevölkerung, existierende Produktions- und Handelsformen usw. Mit Bezugnahme auf Weber unterteilt Bakonyi vier idealtypisch voneinander zu unterscheidende Bereich der Finanzierung: – freiwillige Spenden – erpresste Abgaben (Raub, Überfälle, (Wege-)Zölle, Schutzgelder etc.)62 62 Diese Phänomene wurden lange Zeit als selbstverständliche Begleiterscheinungen von Kriegen erachtet. Mit dem Aufkommen und der Popularisierung der Theorie von den Neuen Krie-
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– geregelte Abgaben (Steuern, Nutzungsgebühren) – eigenwirtschaftliche Tätigkeiten (Produktion und Handel) Wie daraus ersichtlich wird, ist ein Teil der Finanzierung unstet und der andere stetig gegeben. Die Erhöhung des Organisationsgrads der Gewaltgruppierung geht gemeinhin einher mit dem Ausbau bzw. der Möglichkeit des Ausbaus der stetigen Finanzierungsmöglichkeiten. Nichtsdestotrotz sind Spenden zumeist ein wichtiger Bestandteil dieser Gewaltorganisationen – und so ist die Suche nach Spendern oder Mäzenen ein wichtiger Bestandteil der (politischen) Arbeit, vor allem aus der Diaspora63. Bei einem/ dem Finanzier der Gewaltgruppe kann es sich jedoch auch durchaus um (andere) Staaten handeln64. (Vgl. Bakonyi 2011: 67ff.) Die Warlord-Ökonomie lässt sich in drei große Felder einteilen: – Finanzökonomie – Khat-Handel – Internationale Entwicklungshilfe Daraus wird auch schon ersichtlich, dass die Warlord-Ökonomie somit mittels internationaler Handels- und Währungsnetzwerke, wie auch durch die Bedingungen und Umstände, die die Entwicklungshilfe mit sich bringt, sowohl in den Weltmarkt als auch in die internationale Staatenwelt eingebunden und verflochten ist. Auch wenn die Warlord-Figuration, wie bereits beschrieben, eher kleinräumig und lokal ist, bewegt sie sich ökonomisch durchaus (auch) auf regionaler und internationaler Ebene. (Vgl. Bakonyi 2011: 24 u. 276) Die Finanzökonomie basiert auf den Zuwendungen der Somalis, die außerhalb von Somalia leben – über das informelle Transfersystem Xawilaad 65. Dieses war nahezu überall in Somalia erreichbar und schloss vierzig Länder mit ein, seinen Vorläufer hatte es im Franko Valuta-Transfersystem. Zwar funktionierte dieses auch bereits außerhalb der (somalischen) Staatlichkeit, erfuhr aber zumindest seitens des Staates eine indirekte Unterstützung, schließlich verhinderte es den (endgültigen) Kollaps der somalischen Ökonomie und die entsprechenden Folgen. Ist der Staat als Garant von Recht und damit von rechtlichen Ansprüchen – wie oben aufgezeigt – für die ökonomische Sphäre eigentlich unabdingbar, übernahmen in Somalia die Clans Teile dieser Aufgabe, was das Clansystem weiter bestärkte. „Das Vertrauen und die soziale Kontrolle innerhalb des Klans fungierten als Substitut für fehlende staatliche Rechtsgarantien.“ (Bakonyi 2011: 278). Dagen jedoch, rückten diese Phänomen stärker in den Fokus und wurden als Beleg für die schwindende Macht des Staates und die Ökonomisierung des Krieges interpretiert. (Vgl. Bakonyi 2011: 77) 63 Aber auch in der Diaspora kann es zu einem gewaltsamen Abpressen von Geldern kommen, vermag derjenige dort nicht einer freiwilligen Spende nachkommen; wobei natürlich dort die Gewaltorganisation wesentlich subtiler vorgehen muss denn in der Konfliktregion selbst – dort kann sie nämlich durch Raubüberfälle, Plünderungen und Straßensperren Gelder gewaltsam abpressen, ohne (weitreichende) Konsequenzen befürchten zu müssen (vgl. Bakonyi 2011: 71). 64 Wie im Laufe der Arbeit bereits mehrfach herausgestellt nahm diese Funktion im Falle Somalias in erster Linie Äthiopien ein – und vice versa. 65 Al-Baraakat war Bestandteil dessen (vgl. Bakonyi 2011: 277). Weiteres zu Al-Baraakat siehe Kap. 6.7.1.
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durch konnte sich das Franko Valuta-System auch den Bedingungen von Krieg und Staatszerfall anpassen. Da die Clangrenzen, auf denen das Transfersystem letztendlich basierte, sich auch oftmals als hinderlich erwiesen, bot sich eine Vernetzung auf einer religiösen Basis an. Dies ermöglichte es auch, über die Clangrenzen hinweg zu agieren und schuf vor allem gute Voraussetzungen, um den Handel mit dem – für Somalia immens wichtigen – arabischen Raum zu intensivieren. „Ebenso wie der Klan bot die Religion ein gemeinsames Bezugs- und Wertesystem, über das Vertrauen zwischen Geschäftspartnern und Kunden auch ohne staatliche Rechtsgarantien hergestellt werden konnte. Im Geschäftsleben wurde daher das Idiom der Verwandtschaft zunehmend durch das der Religion überlagert und begünstigte den Erfolg islamistischer Bewegungen.“ (Bakonyi 2011: 282).
Dies bedeutete, dass die finanzielle Praxis zwar die Clanisierung (zunächst) beförderte und untermauerte, dass aber (dann) auch die wirtschaftliche Praxis auch die Clangrenzen transzendierte. Das Transfersystem war von Übergriffen oder Forderungen durch Milizen oder Banditen verschont – Bakonyi stellt die Vermutung an, dass der Aspekt der Nützlichkeit des Systems für alle in Somalia Lebenden, gerade auch für die Gewaltfraktionen, überwog und somit stärker war als der (An-)Reiz für Überfälle. (Vgl. ebd.: 276ff. u. 286) Da hinter der lokalen Währung, dem Somali Shilling, keine Staatlichkeit mehr stand, die regulierend o.ä. hätte eingreifen können, wurde sein Kurswert selbst dem freien Markt überlassen und wurde täglich von Hunderten Händlern neu ausgehandelt – dabei gaben die großen Märkte in Mogadischu und Bosaso, für den Süden bzw. den Norden Somalias eine Leitvorstellung vor. Merkwürdigerweise blieb er trotz allem lange Zeit relativ stabil, obwohl verschiedene Gewaltfraktionen (mindestens sechs) versuchten, durch das Drucken von Geld sich ökonomisch besser aufzustellen. Im Jahr 2000 brach die somalische Währung jedoch dann zusammen. (Vgl. Bakonyi 2011: 284f.) Eine immense Bedeutung für Somalia hatte und hat der Handel mit Khat – die Mehrzahl der männlichen Somalis konsumiert es. Nach Zucker steht es an der Spitze der somalischen Importe und im Gegensatz zu allem anderen (selbst Lebensmittel), war sein Nachschub auch während des Krieges beständig gewährleistet. Dies steht natürlich auch in dem Zusammenhang, dass sich die Gewaltorganisationen maßgeblich durch und mit Khat finanziert haben. Ebenso banden sie die Kombattanten durch die Vergabe von Khat an sich und förderten damit deren Loyalität und das Gemeinschaftsgefühl unter ihnen. Khat ist ein Rauschmittel, das anregend wirkt und somit Müdigkeit vertreibt, aber auch den Hunger, ebenso soll es die Libido und das Selbstbewusstsein stärken. Im Islam war und ist der Konsum von Khat umstritten – die (heutigen) Islamisten lehnen ihn jedoch strikt ab und bekämpfen ihn. Da zwischen Ernte und Konsum jedoch höchstens 48 Stunden vergehen dürfen, da es ansonsten seine Wirkung verliert, ist ein schneller Transport vonnöten, oftmals werden dafür Flugzeuge eingesetzt (Khat wird über-
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wiegend in Äthiopien und in Kenia angebaut66). In Kenia verläuft der Anbau und Handel mit Khat entlang ethnischer Grenzen, in Somalia anhand von Clangrenzen. Der Transport auf dem Landweg – der über die territoriale Grenzen verschiedener Clans verlief, machte auch eine Organisation über die Clangrenzen hinweg vonnöten. Die Transporte standen unter dem besonderen Schutz der jeweiligen Clans. Die Transporte wurden auch kaum überfallen. Dies mag auch daran liegen, dass es bei Überfällen zu Kompensationsverhandlungen zwischen den Clans kam bzw. die Clan-Milizen des geschädigten Clans auch oftmals direkt Rache übten und sich selbst kompensierten. Bakonyi bezeichnet dies als einen „Versicherungsschutz“ und konstatiert, dass dieser erstaunlich gut funktionierte. Durch den Handel mit Khat kam es auch zum Aufbau von Flugfeldern in Südsomalia. Diese Flughäfen wurden selbst wieder zu ökonomisch bedeutsamen und interessanten Faktoren, da für ihre Nutzung Gebühren erhoben werden konnten. (Vgl. Bakonyi 2011: 287ff., 295, 300f., 303ff., 306f.) Wie bereits obenstehend ausgeführt, ist für Somalia die Entwicklungshilfe ein wichtiger ökonomischer Faktor. Da vermieden werden sollte, dass sich die Staatsapparate der Entwicklungsländer – als Rentierstaaten – aus der Entwicklungshilfe finanzieren, wurde die Entwicklungshilfe ab Mitte der Achtziger Jahre neu strukturiert und ausgerichtet – hin in Richtung Dezentralisierung und Entstaatlichung. „In Somalia traf die entstaatlichte und dezentralisierte Hilfe auf eine gleichermaßen entstaatlichte und durch dezentralisierte Machtstrukturen charakterisierte Gesellschaft.“ (Bakonyi 2011: 308). Bei Projekten in Somalia galt den Hilfsorganisationen das Hauptaugenmerk der eigenen Sicherheit. Zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit wurden auf lokale Sicherheitskräfte zurückgegriffen. Diese rekrutierten sich jedoch maßgeblich aus den Milizen der (jeweils lokal dominierenden) Gewaltorganisationen, womit die Hilfsorganisationen quasi die Milizen (mit-)finanzierten. Zudem übten sie auch einen Einfluss auf die Verteilung der Hilfsgüter aus. „Das verwaltete Racket, das ja über ein lokal (mehr oder weniger) durchgesetztes Gewaltmonopol verfügt, übernahm damit auf der lokalen Ebene die frühere Rolle der staatlichen Eliten, positionierte sich selbst an der Schnittstelle zwischen Geber und Empfänger der Hilfe, kontrollierte die Verteilung und behielt einen Teil der Gelder als Renten ein.“ (ebd.: 316).
In den Flüchtlingscamps mussten die dort lebenden Flüchtlinge einen Teil ihrer Hilfsrationen an die lokal herrschende Gewaltorganisation abgeben. Dennoch waren die Renteneinnahmen, die auf diesem Wege erzielt wurden, oftmals relativ gering im Vergleich zu den anderen ökonomischen Feldern, die die Gewaltorganisationen kontrollierten/ bestritten. Es kam zu gewalttätigen Übergriffen gegen die internationalen Hilfsorganisationen seitens der Clans und ihren Milizen. Die Ursache dafür lag zumeist in deren Personalpolitik, die auf Unmut bei den Clans stießen. (Vgl. ebd.: 308, 315f.) 66 In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts versuchten sich auch somalische Agropastoralisten am Anbau von Khat – dies bedeutete zugleich auch einen Übergang von einer subsistenzwirtschaftlichen Produktionsweise hin zu einer marktwirtschaftlich orientierten (vgl. Bakonyi 2011: 290).
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Die Hilfstransporte unterlagen einer hohen Gefährdung durch Überfälle: „Milizen und Banden schienen schon fast habituell internationale Lebensmitteltransporte zu überfallen. Hilfsgüter wurden als öffentliche Güter betrachtet und die Konkurrenz um sie nicht allein durch den Bedarf, sondern auch durch einen entlang von Machtpotenzialen ausdifferenzierten Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit bestimmt.“ (Bakonyi 2011: 324).
6.3.6. Zwischenanmerkung So sieht Marc Engelhardt schlussendlich trotz allem in Somalia einen „rohen Kapitalismus“ walten (vgl. Engelhardt 2012: 8). Diesem muss meines Erachtens in etlichen Punkten widersprochen werden. Während der Siegeszug warenförmiger Vergesellschaftung mit der Entmachtung der partikularen Gewalten einherging (und diese auch zur Bedingung hat, wie in Kapitel 4.2.1. aufgezeigt), herrschen in Somalia die partikularen Gewalten. Es ist der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx 1966: 765) der vermittelte und entpersonalisierte Gewalt ausübt, während in Somalia die (personelle) unmittelbare Gewalt regiert. Diesem „stumme Zwang“ ist geschuldet, dass die Menschen, sofern sie nicht über Produktionsmittel verfügen, ihre Arbeitskraft verkaufen müssen – dies macht aber auch ihre doppelte Freiheit aus. In Somalia hingegen wird nach wie vor – wie das Beispiel der Bantus zeigt – unmittelbarer Zwang zur Verrichtung von Arbeit ausgeübt. Die kapitalistische Entwicklung ist gekennzeichnet durch die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, wie sie obenstehend beschrieben ist – sie ist der Anfangspunkt der gesellschaftlichen Durchsetzung kapitalistischer Entwicklung. Trotz der Bemühungen in Somalia in Form von „Entwicklungsdiktatur“ und/ bzw. nachholender Modernisierung ist nach wie vor die pastoral-nomadische Lebensweise in Somalia vorherrschend. Kontrastiert man die pastoral-nomadische Lebensweise mit den Vorgängen, wie sie die sogenannte ursprüngliche Akkumulation hervorbrachte, wird deutlich, dass es eine solche in Somalia nicht gegeben haben kann. Die warenförmige Vergesellschaftung ist dadurch gekennzeichnet, dass die hergestellten Produkte in überwiegendem Maße für den (Aus-)Tausch produziert werden. In der Subsistenzökonomie, so wie sie auch in Somalia vorherrschend ist, werden die Produkte hauptsächlich zur eigenen Bedürfnisbefriedigung und damit zur Selbstkonsumtion hergestellt, eine Tauschbeziehung findet daher gehend nicht statt. Auch die unmittelbare Aneignung, die in Somalia in der Plünderungs- und Warlordökonomie fröhlich Urständ feiert, steht diametral zur reziproken Tauschbeziehung und somit zur warenförmigen Vergesellschaftung. Daher bliebe mit Dan Diner festzuhalten: „[D]as Kapital [scheut] politisch als problematisch geltende Gemeinwesen. Sie vermögen keine Stabilität zu garantieren. Und dabei ist es politische Stabilität, die Fortschritt und Wachstum gerade im Bereich von Forschung und Entwicklung verheißen.“ (Diner 2007, 50).
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6.4. NATION Grundlage für die Nationenbildung – und gerade dieser Umstand kam auch in Somalia zum Tragen, wie im Folgenden noch ausgeführt werden wird – war67, dass: „in vielen Teilen der Welt Staaten und nationale Bewegungen bestimmte Spielarten kollektiver Zugehörigkeitsgefühle mobilisieren konnten, die bereits existierten und gleichsam potentiell in jenem makropolitischen Maßstab wirksam werden konnten, der zu den modernen Staaten und Nationen paßte“ (Hobsbawm 2005: 59).
Neben diesen protonationalistischen Aspekten spielt auch der Begriff der „erfundenen Tradition“ als Fundierung für die Nation(-sbildung) in der Nationalismustheorie Hobsbawms eine wichtige Rolle: „Diese ‚Traditionen‘, die alt erscheinen oder vorgeben, alt zu sein, haben sehr oft eine junge Vergangenheit und sind manchmal erfunden.“ (Hobsbawm 1998a: 97). Denn „Nationen bedürfen der Legitimation, durch sich selbst und durch andere, um in der politischen Wirklichkeit institutionell und funktionell prägend wirken zu können.“ (Salzborn 2011b: 149). Auch wenn es mit Hobsbawm nicht 1:1 aufgehen mag, ist es meines Erachtens jedoch trotzdem in diesem Zusammenhang von Interesse, den Verweis auf Somalia zu erbringen: So bezieht das Clansystem 68 seine Legitimation daraus, dass es beständig auf eine Abstammungsfolge, nicht nur von den Arabern, sondern im Speziellen auf eine Abstammung direkt vom Propheten Mohammed hinweist und daraus seine Legitimation (be-)zieht (vgl. Fisher 1970: 385; Engelhardt 2012: 17; Matthies 1997: 111). Die Wiege des Nationalismus liegt in Europa – so fällt es schwer, außerhalb Europas überhaupt von Nationalismus zu sprechen, allenfalls als Ergebnis westlichen Einflusses; der ja aber in den (ehemaligen) Kolonien deutlich gegeben war und auch immer noch vorhanden ist. Wie bereits erwähnt sind Nationen keineswegs so alt wie Geschichte selbst, vielmehr gehört die Nation einer historisch jungen Epoche an, sie existiert im Kontext einer bestimmten Phase von wirtschaftlicher und technischer Entwicklung. (Vgl. Hobsbawm 2005: X; Hobsbawm 2004: 282, 286) Vorstellungen dieser Art wurden und werden auf andere Teile der Welt übergestülpt und vor allem in Afrika sieht man viele der dortigen Probleme darin begründet, dass Staatsgrenzen ‚willkürlich‘ von Seiten der Kolonialmächte gezogen wurden und damit Menschen ‚zusammengewürfelt‘ wurden, die über keine (gemeinsame) Nationalität verfügen würden69. Mag es auch sein, dass in vielen Staaten Afrikas die dort gemeinsam lebenden Menschen sich nicht als eine Nation verstehen – auch wenn das meines Erachtens nicht die Ursache der dort auftretenden Probleme ist, sondern wenn dann höchstens deren Erscheinung – ist die (Ausgangs-)Lage in Somalia doch eine andere.
67 Dies wurde bereits in Kap. 2 unter dem Stichwort Protonationalismus kurz angerissen. 68 Zum Clansystem siehe Kap. 6.6.2. 69 Dass Staatsgrenzen immer ein Moment der Willkür beinhalten und dass Nationalität immer ein konstruiertes Element voraussetzt und impliziert, wird bei solchen Äußerungen nicht wahrgenommen.
Nation
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6.4.1. Ethnisch-kulturelle Homogenität Denn der 1960 entstandene Staat Somalia galt als ethnisch-kulturell homogen 70. Doch der Staat umfasste nicht alle sich als Volk der Somali Verstehenden, so gab es auch in den Nachbarstaaten Gebiete, in denen Angehörige der verschiedenen Somali-Clans siedelten. Damit einher ging der Wunsch nach (staatlichem) Zusammenschluss aller, die sich dem Volk der Somalis zurechneten bzw. zugerechnet wurden (das betrifft vor allem die Gebiete im Norden Kenias und die Ogaden-Region im Südosten Äthiopiens, aber auch Gebiete im heutigen Djibouti). Symbol dafür ist der fünfzackige Stern auf der Flagge Somalias, der den Zusammenschluss aller fünf – in der Kolonialzeit (auf-)getrennten – Gebiete der Somalis (re-)präsentieren soll. (vgl. Matthies 1997: 18; Höhne 2002: 10 u. 35; Engelhardt 2012: 13) „Anders als in allen anderen afrikanischen Staaten war das wichtigste Ziel Somalias nach Ende der Kolonialherrschaft nicht die Schaffung einer “Nationˮ, da die Somali in ihrer eigenen (kolonial geprägten) politischen Ideologie schon eine nationale Gemeinschaft, basierend auf Abstammung, Kultur etc., bildeten. Das wichtigste Ziel war vielmehr die “Etatisierungˮ dieser Somali-Gemeinschaft und damit die Sicherung einer gemeinsamen politischen und ökonomischen Zukunft.“ (Höhne 2002: 35).
Deswegen galt Somalia hinsichtlich des Aufbaus von staatlichen Strukturen und deren Konsolidierung auch als einer der aussichtsreichsten Kandidaten in Afrika; da eine Homogenität auf religiöser, sprachlicher und ethnischer Ebene bereits existierte71. So spricht Volker Matthies von einer „Nation ohne Staat“, sowohl in der Zeit vor der Unabhängigkeit Somalias, als auch heute – nach dem Zerfall des Staates – wieder72 (vgl. Matthies 1997: 109f.). Die sich als Somalis Verstehenden zeichnen sich in ihrem Verständnis als Volk im Gegensatz zu anderen am Horn von Afrika ansässigen, als Völker Bezeichneten durch ein besonders stark ausgeprägtes ethnisch-kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl aus, dies drückt sich aus durch: eine gemeinsame Sprache, die Genealogie, die Elemente der Sozialstruktur, das Bekenntnis zum Islam und die gemeinsame historische Tradition. Dieser Bezug wird auch nicht durch den Umstand, dass auch soziale und ethnische Minderheiten in Somalia leben, in Frage gestellt, sondern dient vielmehr der Distinktion und damit der eigenen Identitätsbildung und deren Reproduktion. Im Süden von Somalia leben die „Bantu“ 73, die 70 Inwiefern diese oftmals angenommene und unterstellte ethnische Homogenität der somalischen Gesellschaft überhaupt wirklich bestand, wird angezweifelt (vgl. Höhne 2002: 12). Generell ist dieses Konzept von Ethnizität in Frage zu stellen und zu kritisieren (siehe hierzu Salzborn 2011b) – aber es erlangte dennoch seine Wirkmächtigkeit, weil die Menschen daran glauben (vgl. ebd.: 149). 71 Und diese offensichtlich als Prädikate für ein gelingendes Staatswesen gelten. 72 Auch die Zeit zwischen der Unabhängigkeit und dem Zerfall des Staates müsste man diesbezüglich einschränken, da ja in dieser Zeit die „Greater Somalia“-Politik weiterhin eine (ge-)wichtige Rolle spielte. 73 Wie so oft ist dies eine externe Zuschreibung von gemeinsamer ethnischer Zugehörigkeit – diese Zugehörigkeit bildete sich jedoch nur als Resultat von (gemeinsam erfahrener) gewaltsamer Diskriminierung heraus. Ebenso daran beteiligt ist das Agieren und Verhalten seitens
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tatsächlich oder vermeintlich von Sklaven abstammen74 – diese sind aufgrund dessen und aufgrund (abweichender) physischer Merkmale, die ihnen zugeschrieben werden, rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. In ähnlicher Weise betroffen sind die „Bajunis“ – sie leben in Fischerdörfern an der Südküste Somalias und sprechen nicht das in Somalia übliche Af-Somaali, sondern Swahili. Als weitere Minderheit gelten die „Gilibcad“75, die sich nochmal in „Reer Xamar“, „Banaadiri“ und „Reer Baraawa“ aufgliedern – allerdings benennen diese Namen nur die Wohnorte (Mogadischu, der Küstenstreifen zwischen Mogadischu und Merka und Baraawe). Die Vorfahren der Gilibcad sind vermutlich aus Arabien, Persien, Pakistan und Portugal auf die somalische Halbinsel eingewandert. Ebenso wird eine soziale Distinktion betrieben, indem Berufskasten, die zwar ethnisch als somalisch gelten, mit einem Exogamieverbot belegt werden, was sie (dauerhaft) von der somalischen Mehrheitsgesellschaft (ab-)trennt (vgl. Matthies 1997: 20; Bakonyi 2011: 91). Wie in dem historischen Abriss zu Somalia bereits eingangs erwähnt, entfaltete sich ein moderner Somali-Nationalismus in Reaktion auf die Herausforderung, die der Kolonialismus für die somalische Gesellschaft bedeutete. Dieser entfaltete sich auf der Grundlage der überkommenen ethnisch-kulturellen Homogenität der Somalis und forderte eine Unabhängigkeit der Somalis sowie eine politisch-staatliche Wiedervereinigung in einem eigenen Staatswesen von allen am Horn von Afrika lebenden Somalis ein. Der moderne Somali-Nationalismus war davon gekennzeichnet, dass ihm die Tendenz zu einer rigorosen Bekämpfung desintegrativer Clan- und Sekten-Interessen innewohnt. Damit geht eine intensive Betonung der Einheit aller Somalis76 einher – dies vor allem unter Bezugnahme auf die gemeinsame Religion77: den Islam. (Vgl. ebd.: 111ff.) Dies wird/ wurde begleitet von einem „stark fremdenfeindlichen und auf politische Unabhängigkeit drängenden Impetus“ (Matthies 1997: 112).
der internationalen Organisationen. (Vgl. Bakonyi 2011: 91) 74 Während der Kolonialzeit verblieb Italien in dieser ‚Tradition‘ und setzte die Bantu als Zwangsarbeiter ein; nach dem Zerfall des somalischen Staates zwangen USC-Milizen die Bantu ebenfalls zur Zwangsarbeit (vgl. Höhne 2002: 110; Bakonyi 2011: 269). 75 Dies bedeutet: weiße Haut (vgl. Bakonyi 2011: 91). 76 Dieser wurde – wie auch schon in Kap. 2 angedeutet – hauptsächlich vor der Unabhängigkeit Somalias und während der Existenz der Republik Somalia vertreten. Mit dem Kampf gegen das Barre-Regime und dem sich abzeichnenden Ende dessen sowie letztendlich mit dem Zerfall des Staates war es mit dem Anspruch der nationalen Einheit der Somalis nicht mehr weit her: Sezessionsbestrebungen kamen auf (siehe Kap. 6.7.) und die Clanzugehörigkeit war (wieder) die maßgebliche Bezugsgröße von Identität(-sbildung) (siehe Kap. 2, 6.1.1. und 6.6.2.). 77 Darin ist jedoch bereits eigentlich ein gewisser (nicht einseitig auflösbarer) Grundkonflikt oder zumindest eine Spannung angelegt – ist doch der Islam durchaus als ein antinationales Projekt anzusehen (dies wird untenstehend noch weiter ausgeführt).
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6.4.2. Expansiver Nationalismus Die während der Kolonialzeit abgeschlossenen Grenzverträge erachtete die somalische Regierung allesamt als ungültig und pochte auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. So forcierte – wie bereits erwähnt – der somalische Staat, solange er existierte, die Politik eines „Greater Somalias“, so auch bzgl. der nordöstlichen Region Kenias, die eben in der Vorstellung der Somalis untrennbarer Bestandteil Somalias ist. Diese Region wird überwiegend von Menschen bewohnt, die Somali sprechen und oftmals über Clanverbindungen nach Somalia verfügen. Als Kenia 1963 seine Unabhängigkeit erlangte, drangen starke Kräfte auf den Anschluss der Nordostregion an Somalia; die Folge davon waren vier Jahre kriegerische Auseinandersetzungen mit der kenianischen Armee. Der über diese Region verhängte Ausnahmezustand wurde auch erst im Jahre 1991, dem Jahr, in dem der somalische Staat zusammenbrach, aufgehoben. (Vgl. Kronauer 2013: 21) Ähnliches gilt für die Ogaden-Region in Äthiopien78, bezüglich derer es auch immer wieder Bestrebungen gab, sie (gewaltsam) in das somalische Staatsgebiet zu integrieren – was letztendlich zum Ogaden-Krieg führte. 6.4.3. Islamistische Bestrebungen und Nationalismus Auch wenn islamistische Bestrebungen und Nationalismus sich in der Theorie erst einmal zu widersprechen scheinen79: Während der Herrschaft der Union Islamischer Gerichtshöfe erklärten ihre Anführer öffentlich, dass sie ein ‚Großsomalia‘ anstrebten, zu dem eben auch die in diesem Rahmen beanspruchten und als somalisch geltenden Gebiete in Äthiopien, Kenia, Djibouti und im Norden Somalias (also das sich als eigenständig verstehende Somaliland bzw. Puntland) dazugehören. All diese Gebiete soll(t)en in einem ‚Großsomalia‘ vereinigt werden, entsprechend sah Äthiopien dies als Gefährdung für seine politisch-staatliche Integrität und somit Souveränität, wie auch als Bedrohung seiner Grenzen 80. Letztendlich führte dies auch dazu, dass Äthiopien der Herrschaft der Union Islamischer Gerichtshöfe ein Ende bereitete. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 106f.) 6.4.4. Zwischenanmerkung Während andernorts (wie beispielsweise in (Ex-)Jugoslawien) zumeist verschiedene, in einem Staat lebende, Nationalitäten als Ursache von Staatszerfall gesehen werden – trat in Somalia das Gegenteil ein: der Staat zerfiel trotz der ge78 Da dies schon relativ ausführlich in Kap. 2 dargelegt wurde, bleibt es an dieser Stelle bei einer kurzen Erwähnung. 79 Dies widerspricht sich zunächst einmal deswegen, da die Bestrebungen des Islamismus auf die Herstellung und Einheit der Umma – der Gemeinschaft aller Gläubigen – ausgerichtet ist. Nationale wie staatliche Grenzziehungen und Unterschiede sind dabei nicht von Belang bzw. werden bekämpft. (vgl. Scheit 2004: 451; Tibi 2003: 25f.). 80 Was Äthiopien bezüglich der Ogaden schon mehrmals erleben musste (siehe obenstehend).
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meinsamen Nationalität, die gerade im afrikanischen Kontext immer wieder betont wurde. Dies mag einerseits seine Ursache darin haben, dass die Annahme, dass eine gemeinsame nationale Identität Voraussetzung für einen stabilen Staat sei, nicht zureichend ist – andererseits darin, dass protonationale (Identitäts-)Kategorien in Somalia nie wirklich überwunden wurden, was sich anhand des Clansystems zeigt und zudem einen (erneuten) Aufschwung erfahren haben sowie das vorhandene und ebenfalls im Aufschwung begriffene antinationale Denken in Form des Islamismus. 6.5. ISLAM, ISLAMISMUS UND STAATLICHKEIT Die Geschichte der Region des Horns von Afrika ist geprägt durch den Kampf zwischen Muslimen und Christen; die (muslimischen) Sultanate am Horn grenzten „on an acient and powerful Christian Ethiopian civilization“ 81 (Lapidus 1991: 532). Die Somalis sehen sich nicht nur als von den Arabern abstammend an, sondern sehen sich auch in einer direkten Verwandtschaftslinie zu der Familie des Propheten Mohammed. Spätestens im 16. Jahrhundert n. Chr. wird überdeutlich klar, dass die somalischen Nomaden eine vornehmlich muslimische Kraft am Horn von Afrika sind. (Vgl. Fisher 1970: 385) Wie ich im Folgenden noch aufzeigen werde, konnten sich in Somalia islamistische Gruppierungen etablieren – die selbst Terroranschläge durchführten, aber auch eine Basis für den international agierenden islamistischen Terrorismus boten, so z.B. Gruppen wie Al-Qaida. Engelhardt stellt zwar – unter Bezugnahme auf Menkhaus – heraus, dass in einem Land ohne jedwede Regierung und damit auch ohne Staat(-sgewalt) Terroristen wesentlich leichter, als in einem existierenden (zumindest Quasi-)Staat, das Ziel von Anti-Terror-Operationen 82 werden (können). Denn zerfallene Staaten sind auch und gerade für ausländische Terroristen unwirtlich und gefährlich – deswegen wären internationale Terrorgruppen in einem Quasistaat, der zumindest formal über eine Regierung verfügt, besser aufgehoben als in einem failed state. Nichtsdestotrotz etablierten sich islamistische Terrorstrukturen in Somalia. Dies entfaltete eine Attraktivität für ausländische Terroristen und ihre Netzwerke, und Somalia wurde zu einem wichtigen Ausgangspunkt sowie Trainings- und Logistikzentrum83 für den internationalen islamistischen Terrorismus. Auch genießen die Islamisten Rückhalt in der Bevölkerung Somalias, was sich nicht nur an der Zustimmung und dem Zulauf zu der Union Islamischer Gerichtshöfe und Al-Shabaab zeigte, sondern auch beispielsweise 81 Zum Problem des Begriffes der „Zivilisation“ und/ oder der „Kultur“ als Entsprechung zum englischen „civilization“ siehe (aufgeworfen durch Huntington und dessen Übersetzung ins Deutsche): Salzborn / Stich 2013: 170f. 82 Was durchaus nicht unzutreffend ist, siehe dazu, unterstehend ausführlicher geschildert, die Operation gegen Adan Haschi Ayro. 83 So wurden beispielsweise Teile der Logistik für einen Anschlag auf ein Hotel in Mombasa in Kenia, das vorrangig von Israelis besucht wird sowie für einen (fehlgeschlagenen) Abschuss eines israelischen Ferienfliegers über Somalia abgewickelt (vgl. Engelhardt 2012: 144).
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an Demonstrationen für Bin Laden nach 9-11 (so zum Beispiel in Mogadischu, Somaliland bildete hierbei wohl eine Ausnahme – aber auch von dort gab es Berichte, dass Vorbeter in Moscheen Werbung für Al-Qaida machten). (Vgl. Engelhardt 2012: 143f.; Sheikh / Weber 2010: 89) Nach 9-11, der den Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen, aus dem Urlaub von der Geschichte hochschrecken ließen, wie es US-amerikanische Neocons rückblickend ausdrückten, folgte mit dem „war on terror“ ein Paradigmenwechsel in der US-amerikanischen Außenpolitik (vgl. Keller 2008: 176). In Folge dessen rückte auch Somalia wieder in den Fokus, da die Befürchtung nahelag, dass Somalia als Rückzugsmöglichkeit für Al-Qaida-Kämpfer dienen könne. Ebenso brachte man die somalischen Gruppierungen Al-Ittihad, Teile der Union Islamischer Gerichtshöfe und später Al-Shabaab mit Al-Qaida in Verbindung 84; durchaus zurecht, wie ich im Kommenden noch aufzeigen werde. Die Anzahl der (internationalen) Djihadisten wächst in Somalia beständig – die Waffen hierfür stammen zumeist aus dem Iran oder auch Qatar; sie werden über den Jemen und/ oder Eritrea nach Somalia geschmuggelt. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 123) Was in den Kapiteln 4.1.2.1. und 6.1.1.1. bezüglich der Gewaltgruppen dargestellt wurde, lässt sich auch im Folgenden über die betreffenden islamistischen Gewaltgruppen aussagen. Jutta Bakonyi beleuchtete dabei – mit Rückgriff auf Max Webers idealtypische Unterscheidungen von Herrschaft: formal-rational, traditional und charismatisch – die Legitimitätsgeltung von Herrschaft innerhalb der Gewaltgruppierung. Für religiöse Gewaltgruppen stellt Bakonyi heraus, dass diese die in ihren (religiösen) Doktrinen vorgegebenen Verhaltensvorgaben integrieren und dann die (daraus) entsprechenden Autoritätsstrukturen etablieren. Wie ebenfalls bereits beschrieben, werden die Mitglieder der Gewaltgruppen neben der militärischen Ausbildung häufig auch noch ideologisch geschult, dies dürfte insbesondere in religiösen Gewaltgruppen der Fall sein. (Vgl. Bakonyi 2011: 81f.) Bakonyi führt als Begründung für die ideologische Schulung an, dass „ein Glaube an das eigne Auserwähltsein, ein Sendungsbewusstsein oder auch eine missionarische Verpflichtung die Bereitschaft der Kombattanten, ihr eigenes Leben ‚für die Sache‘ zu opfern.“ (Bakonyi 2011: 83) unterstützt. Diese Bereitschaft zum (Selbst-)Opfer findet ihren Höhepunkt im suicide attack 85, eine Methode, durch die sich nicht nur, aber vor allem islamistische Gewaltgruppierungen auszeichnen – auch und gerade im Falle Al-Shabaabs, auf die untenstehend noch weiter eingegangen werden wird. Eine der bedeutendsten – vor allem als Leitbild86 für darauf folgende Gruppierungen – islamistischen Gruppierungen des 20. Jahrhunderts und auch im 21. 84 So lässt sich im Vorgehen von Al-Shabaab in Somalia sich auch die Handschrift Al-Qaidas (wieder-)erkennen (vgl. Engelhardt 2012: 145). 85 Siehe zum Phänomen des suicide attack: Scheit 2004: 426ff. 86 „Die Muslimbrüder sind für den gegenwärtig weltweit agierenden Islamismus das, was die Bolschewiki für die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts waren: der ideologische Bezugspunkt und der organisatorische Kern, der alle nachfolgenden Tendenzen maßgeblich inspirierte und bis heute inspiriert.“ (Küntzel 2003: 16).
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Staat und Staatlichkeit mit Bezugnahme auf Somalia
Jahrhundert, die nach wie vor (wieder) aktiv ist, sind die Muslimbrüder; aufgrund dessen sollen sie im Folgenden näher beleuchtet werden. Im Kontext der Weltwirtschaftskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten die Muslimbrüder (für sich) erneut die Idee des (kriegerischen) Djihads – der Djihad ist das zentrale Motiv für die Muslimbruderschaft – und das Leitideal für den Märtyrer: die Todessehnsucht. Die Vernunft galt dabei als Verrat, der Zweifel als Todsünde. Ausgerichtet wurde und wird sich (dabei) an einer „diktatorisch-gleichmacherischen Utopie“ – die destruktive Energie, die sie dabei entfalten, wird dadurch potenziert, dass sich Wahnvorstellungen diesseits mit Heilserwartung im/ für das Jenseits kombinieren. (vgl. Küntzel 2003: 7, 9, 13, 46) „[D]er Djihadismus ist ein Programm, das der zerstörerischen Wirkung des Kapitalismus etwas noch Schlimmeres, nämlich ein Konzept der Vernichtung, entgegensetzt und doch als Weltanschauung den Widersprüchen eben dieser Gesellschaftsordnung entspringt.“ (Küntzel 2003: 12).
Die derzeit (wirk-)mächtigste und sicherlich auch bekannteste islamistische Gruppierung in Somalia ist Al-Shabaab – auf die untenstehend noch weiter eingegangen werden wird, diese berufen sich auf den Salafismus, auf den deshalb an dieser Stelle näher eingegangen wird. Der Salafismus ist eine strikte und strenge Glaubensrichtung innerhalb des sunnitischen Islam – dem wie angeführt die überwiegende Mehrheit der Somalis angehören. Er orientiert sich strikt am Propheten Mohammed sowie den ersten drei Generationen der Muslime, da nur diese allein gemäß des „wahren Islam“ gelebt hätten. Weltliche Vergnügungen wie Tanz und Musik werden strikt abgelehnt – sie gelten ebenso wie bildliche Darstellung als „unislamisch“. Andersgläubige, auch die nicht-salafistischen Muslime, die nach Meinung der Salafisten nicht richtig beten und (damit) gegen islamische Gebote verstoßen, werden schroff abgelehnt und bekämpft; dabei ist (auch) Gewalt ein Mittel zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen. Der Koran wird streng und orthodox ausgelegt, auch was den Alltag angeht – dies hat der Salafismus mit dem Wahabismus87 gemein, zu dem Al-Qaida eine Nähe inne hat. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 136) Mit den Beschreibungen Bassam Tibis in seinem Werk „Die fundamentalistische Herausforderung“ kann auch in Bezug auf Somalia festgehalten werden: „[I]nsgesamt [kann] von einer Desintegration und Krise der Nationalstaaten, in denen tribale Identitäten und Beziehungen nach wie vor groß geschrieben werden, gesprochen werden […]. Der islamische Fundamentalismus profitiere von diesem Desintegrationsprozess und befördere ihn mit dem Ziel ein islamisches, totalitäres Regierungssystem, ein Schari'a-Staat als Alternativen zu den existierenden politischen Systemen in den islamischen Staaten und zur westlichen Demokratie zu errichten.“ (Kurth 2014: 355). Nur dass im Falle Somalias die Krise des Nationalstaats schon lange keine Krise des Nationalstaats mehr ist, sondern der Staat schon lange nicht mehr existent ist. 87 Siehe zum Salafismus allgemein und auch zu seinem Verhältnis zum Wahabismus: Faschid 2013 (insbesondere: 43f.).
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6.5.1. Islamistische Bestrebungen in Somalia „Im Schatten des Krieges stieg in Somalia ein neuer Gewaltakteur auf: islamistische Milizen. Diese versuchten das staatliche Vakuum für die Ausdehnung zu nutzen, konnten sich militärisch jedoch [zunächst 88] nicht gegen die die Klanmilizen behaupten.“ (Bakonyi 2011: 185). Islamistische Gruppierungen und ihr Denken konsolidierten sich in Somalia bereits in den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – unter dem Regime Barres wurden sie jedoch (erfolgreich) bekämpft. Wie Bakonyi zurecht herausstellt ist das Aufkommen des Islamismus in Somalia keineswegs isoliert zu betrachten, sondern es ist weltweit (maßgeblich in den postkolonialen Ländern) eine Ablösung von den bis dato sozialrevolutionären (oftmals mit starken nationalistischen Elementen versehenen) Leitideen hin zu religiös (oder ethnisch) grundierten Leitideen, zu beobachten – zumindest in der Rhetorik der Akteure89. „In den siebziger und beginnenden achtziger Jahren besaßen die Ideen des somalischen Nationalismus und die somalische Variante des Sozialismus weitaus größere Mobilisierungskraft als religiöse Ideen.“ (ebd.). Dies änderte sich Ende der achtziger Jahre und verstärkt noch einmal im Zuge des Staatszerfalls. (Vgl. ebd.: 185) Wie auch im Falle der Gewaltgruppierungen in Kapitel 6.1.1.1.1. werden auch im Folgenden nicht alle islamistischen Gruppierungen, die in Somalia existier(t)en behandelt – sondern zentrale Akteure beleuchtet. 6.5.1.1. Al-Ittihad Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts verließen viele junge Leute Somalia, ein Teil aus wirtschaftlichen Gründen (nach dem Ogaden-Krieg verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage in Somalia), ein anderer Teil, um ihren muslimischen Glaubensbrüder im Kampf gegen die „Ungläubigen“ ihre Unterstützung zu gewähren. Die Erstgenannten zog es in die arabischen Golfstaaten, die aufgrund des Ölbooms wirtschaftlich florierten, den anderen Teil nach Afghanistan. Nachdem die Mudjahedin in Afghanistan erfolgreich waren und die Sowjets abzogen, schrieben sich viele der ehemaligen Kämpfer, die aus Somalia stammten, in islamischen Universitäten ein, finanziell abgesichert durch Gelder von Geschäftsleuten aus den Golfstaaten. In den Jahren 1989/90, als das Regime Barres mehr und mehr erodierte, kam es zu einer weiteren Welle der Emigration – ebenfalls in die arabischen Staaten. In den arabischen Staaten kamen die somalischen Emigranten mit einer Auslegung des Islam in Berührung, den sie aus Somalia selbst in dieser Weise nicht kannten: dem Wahabismus. Dieser wird in den Koranschulen und Universitäten in Saudi88 Auch wenn Bakonyis Untersuchungen erst 2011 erschienen sind, berücksichtigt sie in ihrer Arbeit, nach eigenen Angaben, in erster Linie nur die Geschehnisse, die bis zum Jahr 2006 stattfanden – jedoch konnten islamistische Gewaltgruppierungen nach diesem Zeitraum enorme Erfolge verbuchen, wie ich untenstehend aufzeigen werde (vgl. Bakonyi 2011: 185). 89 Beispielhaft sei hierbei auf die palästinensischen Gewaltorganisationen verwiesen.
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Arabien (und nicht nur dort) gelehrt. Zurückgekehrt nach Somalia begannen sie mit dem Aufbau einer wahabistischen 90 Gruppierung91, zusammen mit jungen Somalis, die aus Ägypten von den dortigen Universitäten zurückkehrten, und ehemaligen Afghanistan-Kämpfern gründeten sie Al-Ittihad. Diese in den achtziger Jahren gegründete Gruppierung war eine der ersten islamistischen Gruppierungen in Somalia. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 123ff.; Kronauer 2013: 20) Solange das Regime von Siad Barre noch Bestand hatte, agierten sie konspirativ, jedoch bekamen sie immer mehr Zulauf, da viele vor allem junge Menschen mit dem Regime Barres unzufrieden waren und sich aus Protest dem Islam zuwandten. Zentral und entscheidend waren bei Al-Ittihad die (politisch-)religiösen Vorstellungen und nicht, wie sonst gemeinhin üblich in Somalia, die Clanzugehörigkeit92 – daher gehend funktionierte Al-Ittihad auch über alle Clangrenzen hinweg. Mit dem Zusammenbruch des somalischen Staates im Jahr 1991 sah AlIttihad ihre Chance, an Macht zu gelangen. Es gelang ihnen, sich der Hafenstadt Kismayo zu bemächtigen, von dort wurden sie jedoch recht bald von den Truppen Aideeds wieder vertrieben. In der Hafenstadt Bosaso konnte sich Al-Ittihad jedoch (zunächst) festsetzen und die dortige Verwaltung übernehmen. In der dortigen Bevölkerung genossen sie Anerkennung, da sie zumindest ein gewisses Maß an Ordnung (wieder-)herstellen konnten. Nach geraumer Zeit jedoch griff Oberst Yussuf mit seinen Truppen die Stadt an und vertrieb Al-Ittihad in die nordöstlich in Somalia gelegenen Golis-Berge. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 127ff.; Bakonyi 2011: 186) In den von Al-Ittihad kontrollierten Gebieten bemächtigten sie sich nicht nur der Kontrolle über das öffentliche Leben, sondern griffen auch massiv in das private Leben93 ein: (Gesichts-)Verschleierung für Frauen in der Öffentlichkeit, das Tragen von Bärten bei Männern, das Verbot des Konsums von Khat, Tabak und weltlichen Vergnügungen. Durch die Bildungen von Polizeieinheiten aus den Clanmilizen heraus blieben jedoch Plünderungen und Überfälle weitestgehend aus, Straftaten wurden verfolgt und geahndet, die vermeintlichen Straftäter islamischen Gerichten überstellt. (Vgl. Bakonyi 2011: 188)
90 Bakonyi ordnet Al-Ittihad ideologisch dem Neo-Wahabismus zu. Zumal sich die Mitglieder auch versuchten, sich unter Bezugnahme auf den Salafismus vom Wahabismus, der als arabisch konnotiert galt, abzugrenzen. (Vgl. Bakonyi 2011: 186) 91 Auch unter dem Eindruck, dass das Regime von Siad Barre noch autoritärer geworden war und dass Korruption und Gewalt immer stärker wurden und immer mehr Ausbreitung fand (vgl. Sheikh / Weber 2010: 127). 92 Nichtsdestotrotz entstammten viele ihrer Kämpfer der Hawiyee-Clanfamilie und wurden von seitens der somalischen Bevölkerung auch so wahrgenommen (vgl. Bakonyi 2011: 187). 93 Damit soll nicht gesagt werden, dass es eine strikte, immerwährend gleichbleibende, unüberschreitbare Grenze zwischen privat und öffentlich in anderen Herrschaftszusammenhängen gibt. Im Gegenteil: Herrschaft bedeutet auch immer einen Eingriff in das Private. Wo aber die Grenze gezogen wird, wie stark der Eingriff sein kann (ohne massive Gegenwehr zu provozieren), ist ein Resultat von Kämpfen und Aushandlungen und kann sehr unterschiedlich ausfallen.
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Presseberichten zufolge soll Al-Ittihad von Anfang an eine Unterstützung von Seiten Al-Qaidas erfahren haben94. Ebenso soll Al-Ittihad in Somalia auch vier Trainingscamps, in denen Al-Qaida Kämpfer ausbildete, aufgebaut haben – über Bosaso wurden diese nach Afghanistan gebracht; Bin Laden selbst besuchte wohl im Jahre 1994 ein militärisches Ausbildungscamp von Al-Ittihad. Ebenso sollen die Stinger-Raketen, die zum Abschuss der amerikanischen Hubschrauber während der UNO-Mission benutzt wurden, aus den Arsenalen Al-Qaidas (ent-)stammen95. Auch bei den Attacken auf die US-amerikanische Botschaften in Kenia und Tansania sollen Al-Ittihad und Al-Qaida zusammengearbeitet haben. Konkrete Beweise für eine Zusammenarbeit fehlen jedoch in allen Fällen. Die Gemeinsamkeit in ihrem Agieren ist, neben der ideologischen Fundamentierung, dass beide Gruppierungen auf terroristische Gewalt als Mittel oder gar als (Selbst-)Zweck setzen; der Unterschied liegt darin, dass Al-Qaida gänzlich supranational agiert, während Al-Ittihad sich national ausrichtete (und auch nationalistische Interessen bedient, wie beispielsweise bezüglich der Ogaden gegenüber Äthiopien). 96 (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 133f.; Höhne 2002: 123, 125) Wie obenstehend bereits beschrieben, war das Horn von Afrika auch immer wieder Austragungsort von religiösen Spannungen und Feindschaften, so kam es immer wieder zu religiös aufgeladenen Spannungen und Konflikten zwischen (dem christlichen) Äthiopien und (muslimischen) Somalis. So wurde (auch) Äthiopien das Ziel der Attacken von Al-Ittihad, 1993 wurden Stellungen der äthiopischen Armee in der Ogaden-Region angegriffen. 1995 begann Al-Ittihad mit offenen Kampfhandlungen, statt nur (Bomben-)Anschläge zu verüben; parallel dazu wurden weiterhin Anschläge auf hochrangige äthiopische Militärs und Politiker verübt bzw. versucht/ geplant. Als Reaktion darauf marschierte die äthiopische Armee in die somalische Gedo-Region ein, wo sie 1996 zusammen mit Clan-Milizen97 die Basis der Al-Ittihad in Luuq ausschalteten. In Luuq hatte Al-Ittihad, nachdem sie aus Marka vertrieben wurden, ein islamisches Ordnungssystem aufgebaut. Dabei wurde festgestellt, dass sich auch etliche islamische Kämpfer, die von außerhalb Somalias stammten, dort aufhielten – die äthiopische Armee zerstörte ihre Lager und vertrieb alle Al-Ittihad-Kämpfer. Diese militärischen Niederlagen brachte Al-Ittihad dazu, ihre Strategie zu ändern. In der Folge wurde darauf verzichtet, Gebiete militärisch und gewaltsam zu erobern, um anschließend dort eine direkte Macht auszuüben. Es wurde stattdessen ein Konzept entwickelt, die Bevölkerung indirekt zu beeinflussen. Dies hatte zum Ziel, langfristig eine Grund-
94 Neben der Al-Ittihad galt auch das Finanzinstitut Al-Baraakat als Verbündeter Bin Ladens in Somalia (vgl. Höhne 2002: 123). 95 Es gibt vage gehaltene Äußerungen von Bin Laden aus dem Jahre 1997, dass Al-Qaida an den Kämpfen in Mogadischu am 3. Oktober 1993 direkt beteiligt gewesen sei (vgl. Höhne 2002: 124). 96 Zum Verhältnis von Nation und Islamismus und wie sich dies im Falle Somalias ausagiert, siehe: voriges Kapitel. 97 Äthiopien rüstete auch noch in der Folgezeit die ihnen nahestehenden Clan-Milizen mit Waffen aus (vgl. Sheikh / Weber 2010: 132).
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lage für einen islamischen Gottesstaat zu schaffen98. Daher gehend engagierte sie sich, ähnlich wie beispielsweise die Hamas oder die Hisbollah, im sozialen Sektor – dies bedeutete, dass sie Waisenhäuser und Koranschulen sowie Sharia-Gerichte gründete, für die Gesundheit der Menschen Sorge trug sowie für Trinkwasser und Lebensmittel sorgte. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 128ff.; Höhne 2002: 125; Bakonyi 2011: 189) Die Organisation von Al-Ittihad wurde immer stärker dezentral, ihre Anhänger engagierten sich immer mehr innerhalb ihrer (eigenen) Clans. Als gemeinsamer Nenner, der über die Clan-Grenzen hinweg funktioniert, verlor Al-Ittihad immer stärker an Bedeutung, sowohl ihre politischen Strukturen als auch ihre (gemeinsame) Koordination erodierten zusehends. Heute sind viele ehemalige Mitglieder von Al-Ittihad erfolgreiche Geschäftsleute. Wieder andere, (re-)organisierten sich nach der Auflösung/ Zerschlagung von Al-Ittihad in islamistischen Gruppierungen wie der Union Islamischer Gerichtshöfe oder Al-Shabaab, auf die beide im Folgenden eingegangen werden soll. (Vgl. Sheikh /Weber 2010: 128f.) 6.5.1.2. Union Islamischer Gerichtshöfe Das Jahr 2006 war das entscheidende Jahr für die Union Islamischer Gerichtshöfe, so gelang es ihnen, zunächst die Hauptstadt Mogadischu und schließlich weitere Teile von Zentral- und Südsomalia unter ihre Herrschaft zu bringen. Dies geschah maßgeblich auf Grundlage99 eines rigiden Regimes, das sich nach den Regeln der Sharia ausrichtete, was sich jedoch regional durchaus unterschiedlich ausagierte; dies konnte sich offenbar auf den Zuspruch bei weiten Teilen der somalischen Bevölkerung stützen. Doch nicht nur ausschließlich, so wurden auch Stimmen laut, die sich gegen die Union Islamischer Gerichtshöfe wendeten – kurz nach der Machtübernahme der Union Islamischer Gerichtshöfe demonstrierten schätzungsweise 2000 Anhänger des Abgal-Clans im Norden und Südwesten Mogadischus gegen deren Machtübernahme. Ebenso erklärte der Anführer des Abgal-Clans Hussein Scheich Ahmed gegenüber den Medien, dass der Abgal-Clan eine Einführung der Sharia auf seinem Gebiet nicht akzeptieren werde. Von Seiten der Islamisten der Union Islamischer Gerichtshöfe wurde die Erklärung abgegeben, dass jetzt eine Zeit ohne Warlords beginnen werde. Doch die Union Islamischer Gerichtshöfe strebte nicht nur den militärischen Erfolg an, sondern auch die kulturelle Hegemonie; so wurde die Sharia zur alleinigen Gesetzgebung erklärt. Gegen alles, was in ihren Augen als ‚unislamisch‘ galt, wurde zu Felde gezogen – seien es Kinos, Tanz- und Musikveranstaltungen, Videotheken oder auch die Übertragung von Fußballspielen100. Ebenso wurden Versuche unternommen gegen 98 Im Anschluss an Antonio Gramsci kann dies wohl als der Versuch einer Schaffung/ Etablierung von Hegemonie betrachtet werden (vgl. Gramsci 1992: 1567). 99 Wie bereits in Kap. 4.2.1.2. und 6.2. dargestellt. 100 Kinos, Musik- und Tanzveranstaltungen wurden, wenn sie denn stattfanden, mehrfach von islamistischen Milizen gestürmt und die Videotheken kurzerhand geschlossen (vgl. Sheikh / Weber 2010: 102).
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die in Somalia extrem beliebte und (dadurch) stark begehrte Droge Khat101 vorzugehen102 – nahezu alle Männer kauen diese Droge (ab) nachmittags (zu ihrem Tee). Nach der Darstellung von Sheik und Weber lehnten viele Bewohner Mogadischus diese strengen Regeln ab103 – sahen die Herrschaft der Islamisten jedoch als das ‚kleinere Übel‘ an und schätzten das (Mindest-)Maß an Frieden und Stabilität, das mit der Herrschaft der Union Islamischer Gerichte Einzug hielt. Im Herbst 2006 schätzen Beobachter die Lage in Somalia so ein, dass es der Union Islamischer Gerichtshöfe gelingen könnte, einen (Wieder-)Aufbau (quasi-)staatlicher Strukturen in Somalia zu leisten. Einen Umstand, an dem der Westen im Zuge des war on terror freilich kein Interesse hatte; er begann, diejenigen Milizen zu unterstützen, die gegen die Union der Islamischen Gerichtshöfe und ihre Herrschaft bzw. ihren weiteren Vormarsch (an-)kämpften. Ende des Jahres 2006 marschierte letztendlich Äthiopien, das als der engste Verbündete des Westens im östlichen Afrika gelten kann, mit seiner Armee in Somalia ein und zerschlug die Herrschaft der Union der Islamischen Gerichtshöfe und unterband somit die angehende Etablierung dieser. Sharif Sheik Ahmed, der Anführer der Union Islamischer Gerichtshöfe, trat die Flucht an. Mit dem Abzug der Union Islamischer Gerichtshöfe war die Unsicherheit in Mogadischu so groß wie schon lange nicht mehr104. Viele Somalis wandten sich gegen die äthiopischen Truppen 105 – dies lag nicht nur darin begründet, dass diese oftmals äußerst brutal vorgingen, jedoch wurde dies dadurch noch zusätzlich verschärft. Dieser Zeitpunkt und diese Umstände gelten als die Geburtsstunde von Al-Shabaab. (Vgl. Kronauer 2013: 20; Engelhardt 2012: 120, 132; Sheikh / Weber 2010: 101f.) 6.5.1.3. Al-Shabaab Für die jungen Somalis gehört Gewalt zum Alltag (dazu), die islamistischen Terroristen nutzen dies und die Situation, die in Somalia (vor-)herrscht, um eine ganze Generation von ‚Gotteskriegern‘ heranzuziehen. Entsprechend bedeutet das arabische „Al-Shabaab“ auch „die Jugend“. Al-Shabaab bekam durch den Einmarsch der äthiopischen Truppen und der daran anschließenden Besatzung einen 101 Zu Khat als ökonomischer Faktor, siehe Kap. 6.3. 102 Das Verhältnis islamistischer Gruppierungen zu Drogen ist durchaus als ambivalent zu betrachten – bekämpfen sie einerseits massiv die Konsumenten von Drogen (bzw. das was sie als Drogen ansehen/ definieren), profitieren anderseits etliche islamistische Gruppierung vom Drogenhandel – so z.B. die Hisbollah (vgl. Karmon 2010: 68). 103 Nach der Niederschlagung der Herrschaft der Union Islamischer Gerichtshöfe gehörte zu den ersten Maßnahmen, die die Übergangsregierung vollzog, dass die Verbote, die die Islamisten erließen wieder aufgehoben wurden: So wurde der Verkauf von Khat-Blättern wie auch das Hören von Unterhaltungsmusik gestatteten, ebenso durften Kinos wieder ihre Pforten öffnen (vgl. Sheikh / Weber 2010: 105). 104 Wieder einmal mehr ist Selbstverteidigung der einzige Trumpf in dieser Situation (vgl. Engelhardt 2012, 132). 105 Äthiopien gilt als der Erzfeind, religiöse Auseinandersetzungen spielen in dieser Region seit langer Zeit eine Rolle, hinzu kommt, dass viele somalische Familien Angehörige im Rahmen des Ogaden-Krieges verloren haben (vgl. Sheikh / Weber 2010: 103f.).
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regen Zulauf von jungen Kämpfern – quer durch alle Clans; auch in kenianischen Flüchtlingscamps wurde oftmals (erfolgreich) rekrutiert. Durch den Einmarsch des (christlich geprägten) Äthiopien in Somalia sahen die Islamisten sich genötigt den Djihad auszurufen und sich hierfür Guerillataktiken anzueignen. Sie konnten mittels der tiefsitzenden Ablehnung der Somalis gegen Äthiopien laut eigener Verlautbarungen Tausende von nationalistischen Freiwilligen mobilisieren. Zudem zahlte Al-Shabaab einen Sold aus, der oftmals die einzige Möglichkeit für diese jungen Somalis darstellte, überhaupt an Geld zu gelangen. Einstmals handelte es sich bei Al-Shabaab um eine Art Jugendmiliz der Union Islamischer Gerichtshöfe – gegründete 2006 von Adan Haschi Ayro 106, dem ehemaligen Verteidigungsminister der Union Islamischer Gerichtshöfe. Ayro und die Gruppe, die ihn umgab, vertraten einen radikalen Islam, ein Mittel hierbei war auch (Waffen-)Gewalt, insbesondere gegen (vermeintliche) Feinde (des Islam). Al-Shabaab stand auch von Anbeginn an in der Tradition der – obenstehend ausführlicher kommentierten – somalischen Gruppierung Al-Ittihad. Anfangs noch in den losen Verbund der Union Islamischer Gerichtshöfe integriert, kam es im Juli 2008 zum Bruch mit dem als gemäßigt geltenden Flügel der Union Islamischer Gerichtshöfe; denn während Al-Shabaab sich weiter radikalisierte und sich (damit) auch zunehmend isolierte, signalisierte jener die Bereitschaft, mit der Regierung einen Waffenstillstand einzugehen, um sich damit auch an einer neuen Regierung zu beteiligen. Ab diesem Zeitpunkt begann Al-Shabaab, auch die Union der Islamischen Gerichtshöfe zu bekämpfen. Im Folgenden konnte Al-Shabaab in den Jahren 2008 und 2009 ihre Position und damit ihre Macht immer weiter ausbauen und letztendlich weite Teile des Südens von Somalia und komplette Stadtviertel von Mogadischu unter ihre Kontrolle bringen. (vgl. Kronauer 2013: 20; Sheikh / Weber 2010: 135, 137; Engelhardt 2012: 118, 141f.) Ab 2008 verstanden sich zumindest Teile von Al-Shabaab als Teil eines globalen islamistischen Terrornetzwerkes und hielten daher auch Verbindungen zu Al-Qaida, im Februar 2012 verkündete der Anführer von Al-Shabaab, Sheik Ahmed Abdi Godane, schließlich, dass man sich erfolgreich in das Al-QaidaNetzwerk integriert habe. Wie auch bei Al-Ittihad ist bei Al-Shabaab ein Zustrom von Djihadisten, welche von außerhalb Somalia (ent-)stammen, auszumachen (so beispielsweise aus Pakistan, Afghanistan, Jemen). Für sie ist Somalia eine Station im „Heiligen Krieg“107; sie bringen (jahrelange) Kampferfahrung, finanzielle Mittel, taktisches Wissen und die entsprechende Ideologie mit – daher gehend ist Al106 Ayro soll im Jahr 2001 in Afghanistan – kurz vor der militärischen Intervention der US-amerikanischen Truppen und ihrer Verbündeten – Ausbildungslager der Al-Qaida besucht, und dort eine Ausbildung zum Kämpfer erfahren haben. Ayro ist der Protegé von Sheikh Hassan Dahir Awey (dieser ist wiederum auch ein ehemaliges Mitglied von Al-Ittihad). Ayro wirbt auch massiv um ausländische Kämpfer; Somalia wird als sicherer Hafen für jeden Muslim angepriesen – in einem Werbevideo hierfür sind auch Bin Laden und Al-Zawarhiri zu sehen. Am 30. April 2008 wurde Ayro durch einen Raketenangriff des US-amerikanischen Militärs in Somalia getötet; er galt als Anführer der somalischen Al-Qaida-Zelle. (Vgl. Sheik / Weber 2010: 136f.) 107 So wie es einstmals in Afghanistan oder dem Balkan der Fall war und es heute in Syrien der Fall ist.
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Shabaab sowohl logistisch als auch militärisch hervorragend aufgestellt. Die Milizenführer Mohamed Abdi Godane und Sheikh Muktar proklamierten Ende Januar 2010, dass der Djihad in Somalia Teil des (globalen) Djihad der Al-Qaida sei – entsprechend sei das Ziel, einen „Gottesstaat“ am Horn von Afrika aufzubauen und einzurichten. (Vgl. Engelhardt 2012: 143; Kronauer 2013: 20) Al-Shabaab ist eine Gruppierung, die über Clan-Grenzen hinweg funktioniert, laut Engelhardt ein erstmaliger Vorgang in Somalia108. Im Jahre 2011, als in Somalia wieder eine enorme Knappheit an Lebensmittel herrschte und daher gehend wieder einmal der Hunger (vor-)herrschte (eine der schlimmsten Hungersnöte die Somalia erlebte), lebten ¾ der schätzungsweise vier Millionen hungernden Menschen in Gebieten, die zu diesem Zeitpunkt unter der Herrschaft von AlShabaab standen. Mit Lebensmitteln ausgestattete Hilfskonvois, die von der internationalen Gemeinschaft gesendet wurden, wurden mittels suicide attacks angegriffen. Dies hatte zur Folge, dass diese drei Millionen Menschen, die in von AlShabaab kontrollierten Gebieten wohnten, nicht versorgt werden konnten 109. (Vgl. Engelhardt 2012: 134, 194) Spätestens mit dem Anschlag auf die Westgate Shopping Mall 2013 in Nairobi, bei dem 67 Menschen ermordet und mehr als 200 verletzt wurden, nahm auch die Weltöffentlichkeit Kenntnis von Al-Shabaab. Mit dem Angriff auf die Shopping Mall stellte sich Al-Shabaab auch selbst in die von ihnen gewählte Kontinuität, war doch dieser Angriff die schwerste terroristische Attacke, seit AlQaida110 am 7. August 1998 die US-Botschaft in Nairobi mit Sprengsätzen in die Luft gesprengt hatte, wobei 212 Menschen ihr Leben gelassen hatten und mehr als 4000 verletzt worden waren. (Vgl. Kronauer 2013: 20) Seitdem verübte Al-Shabaab weiterhin Anschläge, nicht nur in Somalia, sondern auch immer wieder in Kenia (über 100 Anschläge in Kenia sollen mittlerweile – im Jahr 2015 – auf das Konto von Al-Shabaab gehen). So z.B. der bis dato blutigste Anschlag Al-Shabaabs in Kenia, der Anschlag auf die Universität in Garissa im April 2015, bei dem muslimische und christliche Studenten selektiert wurden und letztere schließlich exekutiert wurden. Verstand sich Al-Shabaab, wie aufgezeigt, bisher als Teil von Al-Qaida oder zumindest in enger Kooperation mit selbigem Terrornetzwerk, so wird spätestens seit dem Attentat in Garissa die Vermutung laut, Al-Shabaab könnte dem Beispiel der nigerianischen Terrormiliz 108 Sieht man – wie obenstehend erwähnt – von Al-Ittihad ab; einerseits steht Al-Shabaab jedoch letztendlich in direkter Anknüpfung und unmittelbarer Tradition von Al-Ittihad, andererseits kann man durchaus auch die Clanstrukturen (mit-)verantwortlich für den Niedergang von AlIttihad machen. 109 Engelhardt sieht dies darin begründet, dass Al-Shabaab dies zu ihrem (unmittelbarem) Vorteil nutzen wollten. Mir ist nicht klar, inwiefern und inwieweit dies der Fall gewesen sein soll, meiner Einschätzung nach spielen eher apokalyptische Motive und das korrespondierende Denken in den Kategorien von Märtyrertod/-kult und Selbstopfer eine Rolle als Ursache solch (irrationalen) Handelns. 110 Wie obenstehend erwähnt, soll Al-Ittihad an diesem Anschlag unmittelbar und aktiv mitgearbeitet haben – US-amerikanischen Regierungsstellen zufolge sollen die beteiligten Mitglieder von Al-Ittihad für die Montage der verwendeten Bomben zuständig gewesen sein (vgl. Sheikh / Weber 2010: 134).
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„Boko Haram“ folgen und sich dem „Islamischen Staat“ (IS) anschließen. Dessen grausame Praktiken stand Al-Shabaab schon bisher in Nichts nach und sie verschärften sich in letzter Zeit zudem noch: So sollen sie bei dem Anschlag in Garissa Studierende z.T. enthauptet haben, zudem veröffentlichte Al-Shabaab ein Video, in dem zu sehen ist, wie Al-Shabaab unbewaffnete Männer an einem Strand zusammentreibt, sie zwingt auf das offene Meer hinauszuschwimmen und sie dann mit Maschinengewehren beschoss. Diese Praktiken und diese Videos sollen offenbar Anleihen nehmen an der Propaganda des Islamischen Staates. Marius Münstermann vermutet zudem, dass „[e]s Anzeichen eines eines Strategiewechsels sein [könnten]: weg von dem Versuch, flächendeckende Kontrolle zu erringen, hin zu punktuellen, grausamen Anschlägen, mit denen AlShabaab wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zu treten versucht, um an Attraktivität für Rekruten und Geldgeber zu gewinnen.“ (Münstermann 2015: 5).
Dies mag auch darin begründet sein, dass Al-Shabaab zuletzt auch empfindliche Geländeverluste in Somalia hinnehmen musste, so verlor sie ihre Hochburgen im Süden des Landes und musste sich letztlich in die ländlichen Gebiete zurückziehen. (Vgl. Münstermann 2015: 5) 6.5.1.4. Hisbul Islam Auch die Hisbul Islam, gegründet von Ali Mohamed Yassin, ging aus der Union Islamischer Gerichtshöfe hervor. Sie wurde gegründet als Antwort auf die Regierungsbildung von Sheikh Sharif Ahmed, der auch der Union Islamischer Gerichtshöfe angehörte. Hisbul Islam gilt als gemäßigter denn Al-Shabaab. Wie auch Al-Shabaab steht Hisbul Islam nicht nur in einer Kontinuität zur Union Islamischer Gerichtshöfe, sondern auch in einer direkten Kontinuität zu Al-Ittihad; ein ehemaliges Gründungsmitglied von Al-Ittihad, Hassan Dahir Aweys, nimmt bei Hisbul Islam eine Führungsposition ein. Er selbst besitzt/ besaß mit hoher Wahrscheinlichkeit Verbindungen zu Al-Qaida und einst zu Osama bin Laden selbst; somit steht er auch auf der Terrorliste der US-Behörden. Waren sie einstmals unter dem Dach der Union Islamischer Gerichtshöfe vereint, bekämpfen sich Hisbul Islam und Al-Shabaab111 – in verschiedenen islamistischen Gewaltgruppierungen aufgeteilt – nun jetzt gegenseitig. Sheikh und Weber stellen diesbezüglich resümierend fest, dass die Bevölkerung nun nicht mehr nur allein in und zwischen den Clan-Politics112 zer- und aufgerieben wird, sondern dass nun ein weiteres Spannungsfeld entstanden ist, in dem die Bevölkerung zwischen den (einzelnen) Akteuren zer- und aufgerieben wird. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 138f.) 111 Desweiteren kommt auch noch die Gruppe Ahlu Sunna Waljamaca, als weitere zu bekämpfende Konkurrenz, hinzu (vgl. Sheikh / Weber 2010: 138). 112 Wobei dies auch durchaus zusammen geht, auch wenn islamistische Gruppierungen über alle Clangrenzen hinweg agieren und Anziehungskraft besitzen, ist es so, dass einzelne Clans den Islamisten durchaus näher stehen als andere – zum Beispiel der Hawiyee-Clan gilt den Islamisten als sehr nahestehend, so dass viele Kämpfer der Islamisten ihm entstammen (vgl. Engelhardt 2012: 127).
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6.5.2. Zwischenanmerkung Wie aufgezeigt, haben islamistische Bestrebungen in Somalia, gerade nach dem Zerfall der somalischen Staatlichkeit, an Bedeutung stark zugenommen. Sie stellen zwar auch weitere Gewaltgruppierungen, die um die Vorherrschaft in Somalia kämpfen und damit eine Herausbildung von Souveränität verhindern, sind aber nicht ausschließlich nur auf eine weitere Gewaltgruppierung zu reduzieren. Denn während die anderen Gewaltgruppierungen um die Vorherrschaft kämpfen, um selbst an die Macht zu gelangen – was im besten Falle zur Herausbildung eines (neuen) Gewaltmonopols und damit zur Grundlage eines Staatsaufbaus führen könnte, ist dem Islamismus der antistaatliche und antietatistische Impetus bereits inhärent. Wie beschrieben, setzt er die (Herstellung der) Umma in den Mittelpunkt seiner Bestrebungen und begehrt somit gegen die staatliche Verfasstheit der Welt auf – inklusive dem säkularen Gewaltmonopol, das den Staat ausmacht und das historisch durch die (weitestgehende) Trennung von Kirche und Staat erwachsen konnte113. Dadurch konservierte er die Clan- und Familienordnung – ist aber zugleich in der Lage, sie zu transzendieren114. Die islamistischen Gruppierungen etablierten in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Sharia, die – wie ich in Kapitel 4.2.1. aufzeigte – der Rechtsform, wie sie der (bürgerliche) Staat (re-)produziert und zu dem sie in einem dialektischen Verhältnis steht und die zudem untrennbar mit der warenförmigen Vergesellschaftung verbunden ist, entgegensteht. So ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, dass Gruppierungen wie AlQaida Somalia als Ort des Rückzugs 115, der Agitation und der Aktion benutzen – zeigt sich doch bei Al-Qaida der antistaatliche Impetus nicht nur in der Programmatik, sondern auch in der Aktion und der Organisierung selbst, da beides suprastaatlich stattfindet – der Staat (und seine Grenzen) stellen für Al-Qaida keine Bezugsgröße dar. Dies war bei den (originär) islamistischen Gruppen in Somalia zunächst divergent, scheint aber mittlerweile auch im Wandel begriffen zu sein. Ein failed state, ein Ort an dem kein Gewaltmonopol existiert, aufgrund dessen Durchsetzung und Vollzug die eigene (bewaffnete) Organisation und deren Bestrebungen gefährdet sein könnten, wirkt sich dabei vorteilhaft aus. 6.6. INDIVIDUUM UND FAMILIE Im Folgenden wird die historischen und gegenwärtige Situation des Individuums, seiner (fehlgeschlagenen) Genese und die der Institution Familie in Somalia beleuchtet werden. 113 Wie in Kap. 2 ausgeführt. 114 Die dadurch hervorgerufene Spannung bedürfte noch einmal ein gesonderten Betrachtung, die an dieser Stelle jedoch nicht zu leisten ist. 115 Auch wenn es sich im Falle der Rückzugsmöglichkeit auch nochmal ein wenig anders verhält – auch Gruppen bei denen der Staat eine Bezugsgröße ist, nutzen andere Staaten als Möglichkeit zum Rückzug, wovon gerade die Geschichte Somalias deutlich Zeugnis von gibt.
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6.6.1. Familiäre Strukturen in Afrika Im vorkolonialen Afrika herrschte eine hehre Vielfalt an Familienformen, weswegen eine systematisierende und übergreifende Darstellung derer zum Scheitern verurteilt ist – eine Gemeinsamkeit kann jedoch benannt werden: die Vorherrschaft der Polygamie. In vielen Teilen Afrikas (vor allem in Zentralafrika) spielt die matrilineare Abstammungslinie eine bedeutsame Rolle. Wie in den historischen Darstellung bereits dargestellt und wie im Kommenden noch näher aufgezeigt werden wird, sind in Somalia hingegen die patrilinearen Abstammungslinien (heutzutage) von (zentraler) Bedeutung. (Vgl. Speitkamp 2010: 34) Die patrilineare Zuordnung des Clansystems setzte in Somalia jedoch erst im Zuge der Ausbreitung und Festigung des Islams in der Region ein – zuvor war die matriarchalisch-agnatische Linie die in Somalia bestimmende Abstammungslinie 116 (vgl. Hassen 2010: 15). Fernab jedoch von einer Zuordnung zu patri- oder matrilinear bestimmten Familienstrukturen „behielt [in Afrika – Anm. T.S.] die Familie [durchweg] eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Status und Prestige.“ (Speitkamp 2010: 34). 6.6.2. Clan-Wesen in Somalia „Das Clansystem in Somalia beherrscht das ganze gesellschaftliche Leben.“ (Sheikh / Weber 2010: 9), es ist – wie das Nomadentum auch – tief in der Gesellschaft Somalias verwurzelt und stellt somit das Gerüst dar, auf dem letztendlich alles andere (sich) aufbaut und von dem es abhängt 117. Mit dem Clansystem hat sich „eine soziale Grenzziehung verfestigt, die den Klan für alle Belange des sozialen Lebens zentral setzte. Die Identifizierung als Mitglied dieser oder jener Klangruppe konnte nun über Leben und Tod eines Menschen entscheiden.“ (Bakonyi 2011: 163). Anhand der Frage nach der Clanzugehörigkeit wird Freund und Feind unterschieden und wird (somit) auch über Leben und Tod entschieden118. Das Clansysten ist das konstitutive Prinzip der somalischen Gesellschaft; obwohl oder auch gerade weil das System der Clan-Loyalitäten dabei kaum zu durchschauen ist. Verschiebt sich dabei ein Faktor, so kann es schnell 116 „Die meisten somalischen Familien-Clans, die zwanghaft die Erinnerung an die matriarchale Linie ihre Urmüttern in ihren Köpfen kastrierten, tragen noch heute – ohne es zu wissen – die Namen ihrer ur-matriachalische-agnatische Linie.“ (Hassen 2010: 15). 117 Die dritte wichtige Säule in der gesellschaftlichen Struktur Somalias, die jedoch auch untrennbar mit dem Clansystem verbunden ist, nämlich als (fiktiver) genealogischer Fixpunkt, ist der Islam. Doch ist es gerade der Islam, der quer zur Clansegmentierung stand, da „die religiöse Orientierung des Islam, dessen universalistisches Symbolsystem die Grenzen der Clansegmente transzendierte.“ (Bakonyi 2006, 100). 118 Die Bezugnahme auf das Clansystem, seine totalisierende Ausweitung und die Möglichkeit, alle Entscheidungen und Einschätzung daran auszurichten entlastet die Menschen auch, die sich in diesem Fall auch in einer Situation befinden, die von radikaler Unsicherheit bestimmt ist; sie werden befreit von einer (anstrengenden) Entschlüsselung von komplexen Machtrelationen, abstrakten Mechanismen der Vergesellschaftung und Beziehungsgeflechten (vgl. Bakonyi 2011: 171).
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und spontan zur Gewalt kommen, was unter anderem daran liegt, dass nahezu jeder eine Waffe in seinem Besitz hat. Gerade in der Hauptstadt Mogadischu können sich somit (eigentlich) sichere Gegenden innerhalb kürzester Zeit in Kampfzonen verwandeln. Das Clansystem und die Einbettungen des Einzelnen darin, dessen Kraft zur Vereinnahmung schon beinahe mit dem einer Zwangsjacke umschrieben werden müsste, „ermöglichte die Massenmobilisierung, suggerierte aber gleichzeitig die Deckungsgleichheit von Klanzugehörigkeit und politischer Orientierung und leitete einen Prozess der Kulturalisierung ein, in dem politische Forderungen durch kulturell definierte und aus Klanzugehörigkeiten abgeleitete Ansprüche abgelöst wurden.“ (Bakonyi 2011: 170).
Aufgrund von Kämpfen, seien es Fehden oder Kriege, wurden schon seit Jahrhunderten (be-)ständig neue Allianzen zwischen den Clans geschmiedet und auch wieder gebrochen; und nicht nur zwischen den Clans, sondern auch innerhalb ihrer selbst: Clans selbst teilen sich wieder auf in Subclans, diese teilen sich selbst wiederum weiter usw. – manchmal sind diese dann wieder miteinander verbündet, manchmal aber auch wieder verfeindet. Jedwede (politische) Strategie wird anhand dieser Beziehungen, dieses Ordnungssystem ausgerichtet. Laut Marc Engelhardt ist dies die Ursache von vielen Kämpfen in Somalia, und eine Betrachtung der Geschichte Somalias und der (derzeitigen) Verfasstheit vermag ihm diesbezüglich durchaus Recht zu geben. Zugleich ist dies für Engelhardt jedoch auch der Schlüssel zum Frieden; dies ist meiner Meinung nach jedoch anzuzweifeln, wie ich anhand meiner Ausführungen zu Staat(-lichkeit) und Souveränität und damit verbunden der Monopolisierung von Gewalt und dem damit verbundenen (dialektischen) Verhältnis zu Freiheit und Sicherheit versucht habe, (kontrastierend) deutlich zu machen. (Vgl. Engelhardt 2012: 8, 17, 20; Sheikh / Weber 2010: 12; Bakonyi 2011: 170f.) Auch wenn „die Gewalt die Substantivierung und Naturalisierung des Klans weiter befördert, ist der Klan weder eine natürliche noch eine fixierte Form der sozialen Organisation.“ (Bakonyi 2011: 171). Er ist auch keine Ideologie, die ‚von oben‘ den Massen ‚aufgepfropft‘ wurde und die diese zu ihren Zwecken instrumentalisieren. Vielmehr existiert er als ein „Prinzip zur Ordnung der sozialen Wirklichkeit“ (ebd.: 172), dabei reproduziert er sich beständig selbst dadurch, dass die Einzelnen in den Kategorien des Clansystems denken und handeln. (Vgl. ebd.: 171f.) Die Zugehörigkeit der einzelnen Familien oder anderer verwandtschaftlicher Gruppierungen119 zu einem Clan ist durch den einenden Moment der (gemeinsamen) Abstammung von einem (gemeinsamen) Ahnen bestimmt 120. Ahn und da119 Die ich untenstehend noch aufzeigen werde. 120 Jedoch war diese Organisierung der Gesellschaft nach dem verwandtschaftlichen Prinzip weniger statisch, als man es auf den ersten Blick vermuten würde und als es das genealogische Schema vorgibt: Das Verwandtschaftsprinzip wurde dadurch angepasst, dass temporäre Allianzen gebildet wurden oder schlichtweg komplette Segmente adoptiert wurden (dies wurde und wird vor allem in Südsomalia betrieben). Dies wird in Somalia als Sheegad bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist: Viele Mitglieder der Digil und der Mirifle, die als semi-sesshaft gel ten (und zumindest in den Achtziger Jahren auf eine Million Mitglieder geschätzt wurden),
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mit Oberhaupt des (einzelnen) Clans ist der jeweilige Erstgeborene. Die Verbindung mit und zu einem Clan ist somit auch stärker und verbindlicher als die zu der übergeordneten Clanfamilie. Durch den Clan findet nicht nur eine Hegung des Individuums statt, vielmehr verschwindet das Individuum im Clan, das heißt im Kollektiv – es wird eingeschlossen. Soziales Leben ist nur im Rahmen des Clans, und wie es der Clan vorgibt, möglich – dieses Kollektiv setzt die Grenzen des Handelns des Einzelnen121, gewährt somit aber auch zugleich Schutz 122. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 12f.) Die segmentäre Gesellschaftsordnung, die in Somalia (vor-)herrscht, basiert auf zwei Abstammungslinien: Sab (die agropastoralistischen Clanfamilien) und Samaale (die pastoral-nomadischen Clanfamilien), es ist gekennzeichnet durch die ersten Ebene der Clanfamilie123, der zweiten Ebene der Clans/ Sub-Clans, der dritten der primary lineage und der vierten der diya-paying-groups. Die Clanfamilie kann hierbei über 30 Generationen hinweg eine Zusammengehörigkeit ihrer selbst, über die (gemeinschaftliche) Abstammung, aufzeigen. Sie umfassen eine solch große Anzahl von Mitgliedern, dass es unmöglich ist, als eine korporierte Gemeinschaft innerhalb des Politischen zu agieren, dennoch waren es die Clanfamilien die in der kolonialen und postkolonialen (Parteien-)Politik Somalias bestimmend waren. Die Clans/ Sub-Clans können eine Herleitung von bis zu 20 Generation vor-/ nachweisen – sie stellen innerhalb der segmentären Ordnung die höchste Stufe der politischen Einheiten dar; jedoch gibt es innerhalb keine ‚interne Verwaltung‘. Auf der dritten Ebene sind die primary lineages anzutreffen, die über sechs bis zehn Generationen hergeleitet werden können. Sie sind im Alltag der primäre Identifikationspunkt der Einzelnen. Konflikte zwischen ihnen kommen häufig vor – trotz oder gerade wegen der engen verwandtschaftlichen Verwobenheit. Die Grundlage der segmentären Gesellschaftsordnung ist die diya-paying group, sie lässt sich bis zu sechs Generationen weit herleiten. Sie gilt als die politische und rechtliche Grundeinheit, die nicht nur durch die patrilineare Verwandtschaftsfolge bestimmt wird, sondern auch durch eine Vertragsbindung innerhalb des Xeer. Die diya-paying-group muss im Falle eines von einem ihrer Mitglieder verübten Schadens/ Unrecht für die Kompensation dieses Schadens/ Unrechts (finanziell) einstehen. (Vgl. Höhne 2002: 15; Matthies 1997: 111) Die heutigen Bewohner des Territoriums, das einstmals die Republik Somalia darstellte, werden vorwiegend den sechs großen Clanfamilien zugeordnet124:
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entstammen ursprünglich den nomadischen Clans und wurden dann nach und nach ‚adoptiert‘. (Vgl. Bakonyi 2006: 100; Bakonyi 2011: 102) Die Strafen für eine Zuwiderhandlung sind durchaus unterschiedlich, in neuerer Zeit wurde auch „[d]as Gefängnis […] zur Disziplinierung genutzt und junge Männer, die sich nicht den sozialen Regeln des Klans unterwarfen oder von Familienmitgliedern nicht kontrolliert werden konnten, wurden inhaftiert.“ (Bakonyi 2011: 261). Der Clan haftet für das Handeln seiner Mitglieder gegenüber Mitgliedern anderer Clans (vgl. Sheikh / Weber 2010: 13). Leider werden in der vorliegenden Literatur die Bezeichnungen Clanfamilie-Clan, Clan-Subclan unterschiedlich verwendet; ich versuch(t)e sie soweit es mir möglich war anzugleichen. In manchen Darstellungen werden auch nur fünf verschiedene Clanfamilien angeführt – in diesem Fall werden die Digil den Rahanweyn zugeordnet (zusammen mit den Mirifle) (vgl.
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– Dir, Isaaq und Hawiyee (diese leben hauptsächlich in Nord- und Zentralsomalia) – Darood (diese leben auf dem gesamten Gebiet der Somali-Halbinsel) – Digil, Rahanweyn (diese leben hauptsächlich im Süden Somalias) (vgl. Höhne 2002: 10). Die Darood, Hawiyee, Isaaq und Dir sind (ursprünglich) pastoral-nomadische Clanfamilien, die beiden anderen (oder die eine andere, je nach dem, ob man von fünf oder sechs Clanfamilien ausgeht) sind agropastoral geprägt. In beiden Fällen ist die Genealogie die Grundlage des sozialen Ordnungssystem – auch wenn dies bei den agropastoralisch geprägten Gruppierungen den sozioökonomischen Bedingungen, die sich gewandelt haben, angepasst wurde und die Genealogie nicht in dem Maße zum totalisierenden Prinzip sozialer Bezugnahme wurde wie in pastoral-nomadischen Zusammenhängen (so gewannen beispielsweise territoriale Bezüge bei ihnen an Bedeutung). Innerhalb der Clanfamilie existieren Vertragssysteme von hoher Komplexität. Dennoch (oder auch gerade deswegen) existiert eine starke Zergliederung in Subclans, Familien und Schutzzollverbänden; auch spielen Beruf und (damit verbunden) Status eine Rolle differenzierender Art. Dies alles führt zu einer starken sozialen Zersplitterung, was verbunden ist mit einem ausgeprägten Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang des einzelnen Individuums 125, was wiederum als ein Reflex auf die extremen ökologischen Bedingungen, welche am Horn von Afrika herrschen, angesehen wird; diese externen Bedingungen erforderten autonom agierende Gruppen oder auch Individuen. Es existiert somit eine „Tradition der Anarchie“, wie es Laitin und Samatar ausdrücken, da ein Mangel an institutionalisierter und autoritärer Ordnung vorherrschte. Entscheidungen für eine (genealogisch konstituierte) soziale Gruppierung wurden im Shir getroffen. Bei einem Shir hatte jeder Ältester126 Rede- und Stimmrecht127; da weder über Gewalt- noch Zwangsmittel Verfügung bestand, sollte möglichst ein Konsens gefunden werden, um mit dem dadurch entstanden sozialen Druck die Einhaltung der Entscheidungen zu gewährleisten128. Das Nomadentum und die Clanstruktur korrespondieren miteinander, da die Clanstruktur die/ eine soziale Organisationsform darstellt, die auf die Herausforderung und Gegebenheit des nomadischen Lebens zugeschnitten ist. Beide und vor allem im Verbund miteinander stellen jedoch eine fundamentale anarchische Opposition gegen jedwede Art von zentralisierter Herrschaft, d.h. Souveränität da und sind zudem schwer kontrollierbar 129. Bakonyi 2006, 99). Siehe dazu den untenstehenden Exkurs. Im Prinzip war das jeder Mann, der erwachsen und verheiratet war (vgl. Bakonyi 2011: 104). Frauen und Minderheiten sind davon ausgeschlossen (vgl. Bakonyi 2011: 104). Während der Etablierung der Herrschaft Barres wurden die Ältestenräte abgeschafft – jedoch wurden die Ältesten in die neue Verwaltung integriert oder regelten weiterhin informell die Angelegenheiten des Dorfes o.ä. (vgl. Bakonyi 2011: 109). 129 Engelhardt führt an, dass viele Analysten glauben Barre habe das Nomadentum vor allem deswegen bekämpft, weil er seine Macht und seine Position an der Spitze des Staates sichern wollte; er sah im Nomadentum eine Gefahr dafür (vgl. Engelhardt 2012, 20). Wie ich durch meine Ausführungen bisher versucht habe aufzuzeigen, liegt dieses Verhältnis in der Logik von Souveränität und Staat(-lichkeit) selbst (begründet), um diese selbst willen. Die Etablie125 126 127 128
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In vorkolonialen Zeiten gab es keine Herrschaft, die über die (einzelne) Clanstruktur hinausgereicht hätte, etwas wie (allgemeine) Regierungsinstituten oder (polizeiliche) Ordnungskräfte existierten nicht130. Jeder einzelne Clan hatte einen Sultan als Oberhaupt – in der Regel wurde dieser Titel vererbt. (Vgl. Engelhardt 2012: 20; Bakonyi 2006: 99; Bakonyi 2011: 102; Matthies 1997: 110f., Sheikh / Weber 2010: 14 u.16) Wie bereits erwähnt, wird in der somalischen Genealogie darauf bestanden, dass die Somalis von Arabern abstammen – ihre Abstammung wird sogar auf die Familie des Propheten Mohammeds selbst zurückgeführt (vgl. Fisher 1970: 385; Engelhardt 2012: 17). Marc Engelhardt bezeichnet die Clans und ihre Anführer als die heimlichen Herrscher131 im Land. Ebenso bezeichnet er die Clans als die kleinste soziale Einheit und als Grundlage für die traditionelle Justiz. (Vgl. Engelhardt 2012: 16) Diesem muss meines Erachtens widersprochen werden, weil die diya-paying-groups die kleinste soziale Einheit bilden und als Grundlage der traditionellen Justiz, zumindest als eine Art Rechtssubjekt gelten132. Die Clans sind als Einheiten zu verstehen, die jedoch nicht als statische Einheiten zu verstehen sind, sondern als sich verändernde Einheiten. Beinahe ein jeder Somali fühlt sich im Mindesten einem Clan verbunden, dabei ist in erster Linie der Clan des Vaters für die Zugehörigkeit entscheidend, d.h. die Clanzugehörigkeit funktioniert nach einem patrilinearen System der Abstammungsfolge. Dabei ist jedoch auch das Einheiraten in einen anderen Clan oder Subclan von Bedeutung133. In der traditionellen somalischen Gesellschaft stehen diejenigen, die keinem Clan zugehörig sind – neben Fischern – ganz unten in der sozialen Hierarchie. (Vgl. Engelhardt 2012: 16f.) So ist auch die Parteienlandschaft Somalias entsprechend der Clanstruktur geprägt. Die einzelnen Parteien vertraten jedoch – zumindest in der Zeit vor der Unabhängigkeit Somalias – lediglich die Interessen des Clans, dem sie jeweilig zugehörig waren – auch ihre Zielsetzungen gingen über diesen Punkt nicht hinaus; dies spiegelte sich auch in der (internen) Parteistruktur wider: so waren die traditio-
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rung bzw. Sicherung von Souveränität liegt im Vollzug von Staatlichkeit selbst, um sich gegen Kräfte die die Erosion von Souveränität und damit Staatlichkeit betreiben zu schützen und sich selbst zu erhalten – und nicht in (Macht-)Ambitionen einzelner Politiker. Das Verhältnis zwischen den einzelnen Clans wurde mittels traditioneller Verfahren, wie dem Xeer (siehe Kap. 6.2.1.), geregelt – diese basierten auf Verhandlungen oder/ und daraus resultierenden Verträgen. Diese sich daraus ergebende Vereinbarungen sind für alle Mitglieder, der an dieser Übereinkunft beteiligten Clans, verbindlich. (Vgl. Sheikh / Weber 2013: 13) Dieser Sichtweise würde ich widersprechen oder sie zumindest stark einschränken wollen, kann meines Erachtens doch kaum von einem „heimlich“ die Rede sein, im Gegenteil: die Herrschaft der Clans und der ihrer Anführer zeigt sich recht offen. Dies wird meines Erachtens auch in Engelhardts eigener Darstellung auf den darauffolgenden Seiten mehr als deutlich. Siehe diesbezüglich: die obenstehenden Ausführungen. Zudem legt ja auch der Name dies bereits nahe – bezeichnet doch der Begriff „diya“ die Kompensationsleistungen, die diese Gruppe gegebenenfalls zu erbringen hat (vgl. Höhne 2002: 16). Siehe dazu untenstehend weiteres.
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nellen Clanoberhäupter zugleich auch die jeweiligen Parteioberhäupter. Einzig die SYL (Somali Youth League) vertrat eine Politik, die sich als pansomalisch verstand und auf eine somalische Nation in einem großsomalischen Staat abzielte. Mit der Gründung der somalischen Republik unterstützten dann jedoch alle Parteien die Unabhängigkeit Somalias sowie die Errichtung eines großsomalischen Staates und das diesem zugrunde liegende Konzept einer somalischen Nation. Nichtsdestotrotz waren die ersten Krisen in der jungen Republik Somalia – neben dem Nord-Süd-Gegensatz – bedingt durch die (alten) Rivalitäten der Clans. Somalia gehörte zu den ersten Demokratien in Afrika – gemeinhin wurde angenommen, dass der Übergang in eine Parteiendemokratie einfach vonstatten gehen würde, da in Somalia traditionell bereits egalitäre Verhandlungs- und Entscheidungsstrukturen vorhanden waren. Vor der Unabhängigkeit Somalias gab es vier Parteien, 1964 traten bereits 21 zur Wahl an, und die Konkurrenz zwischen den Clans und ihre Verknüpfung mit der (partei-)politischen Ebene führte schließlich dazu, dass bei den Wahlen von 1969 insgesamt 61 bzw. 88 Parteien 134 antraten. Dadurch bedingt entstanden Misstrauen gegenüber und Unzufriedenheit mit der parlamentarischen Demokratie. Wie bereits ausführlicher beschrieben, kam es letztlich zu einem Putsch des Militärs unter Siad Barre, mit dem das demokratische ‚Experiment‘ beendet wurde. Nicht zuletzt, weil durch den Putsch der engen Verknüpfung von Partei(-interessen) und Clan(-interessen), das die parlamentarische Demokratie Somalias bestimmt hatte, ein Ende gesetzt wurde 135, wurde wohl der Putsch Barres „von der Bevölkerung begrüßt und von externen Beobachtern wohlwollend kommentiert“ (Bakonyi 2011: 108). In dem hier diskutierten Zusammenhang ist dabei von Interesse, dass nicht nur die Parteien, sondern auch die einzelnen Institutionen des Staates jeweils in den ‚Händen‘ der einzelnen Clans lagen: so stand das Militär unter der Befehlsgewalt von Mitgliedern der Hawiyee-Clan, die Polizei wurde hingegen von Angehörigen der DaroodClanfamilie angeführt. Bemerkenswert an dem Putsch ist daher, dass Polizei und Militär (neben der Dominanz zweier unterschiedlicher Clanfamilien in den jeweiligen Institutionen, kommt noch die ‚übliche‘ Rivalität dieser beiden Sicherheitsorgane hinzu) während des Putsches zusammenarbeiteten, und dass Barre, der als General den Militärputsch anführte und dadurch zum neuen Präsidenten wurde, kein Mitglied der Hawiyee-Clanfamilie war, sondern der Darood-Clanfamilie angehörte. (Vgl. Bakonyi 2011: 108; Sheikh / Weber 2010: 21f., 24, 27f.). Doch dies blieb nur von kurzer Dauer, denn „[d]as Klansystem blieb zentral für die Ordnung der sozialen Beziehungen, dessen sozialer Kraft sich auch der expandierende Staatsapparat nicht entziehen konnte.“ (Bakonyi 2011: 112). Wie in Kapitel 6.1.1. aufgezeigt, spielte die Clanzugehörigkeit beim Kampf gegen das Regime Barres eine (ge-)wichtige Rolle. Dies vor allem bedingt durch die sozioökonomischen Praktiken der Gewaltorganisationen, die gegen Barre 134 Die Zahlen unterscheiden sich bei Bakonyi und Sheikh / Weber – ist bei Bakonyi von 61 Parteien die Rede (vgl. Bakonyi 2011: 108) sprechen Sheikh / Weber von 88 (vgl. Sheikh / Weber 2010: 27). 135 Die (demokratische) Verfassung wurde suspendiert, zudem fand eine Gleichschaltung der Presse und ein Verbot aller Parteien statt (vgl. Bakonyi 2011: 108).
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kämpften. Das beste und anschaulichste Beispiel ist hierbei das SNM, das durchaus auch als exemplarisch gelten kann, war es doch das SNM, das die anderen, später gegründeten, Gewaltorganisationen, ob seines Erfolgs zu kopieren versuchten. Gründete die anfängliche Clanbezogenheit des SNM auf der ökonomischen Notwendigkeit und war der Anspruch des SNM zu Beginn eine clanübergreifende Widerstandsbewegung zu etablieren, änderte sich dieser Umstand mit Fortschreiten der Gewaltdynamik. Denn im Rahmen der Entfaltung dieser Gewaltdynamik setzte der somalische Staat immer stärker auf eine clanbezogene Repression gegenüber den Mitgliedern der Isaaq, unabhängig von ihrem individuellen Verhältnis zum SNM. „Die sozioökonomischen Praktiken der SNM, allerdings maßgeblich verstärkt durch die auf Klanzugehörigkeit fixierten Repressionen der Regierung trugen zu der selektiven Verengung sozialer Beziehungen auf den Klan bei. Je mehr die Zivilbevölkerung in den Kampf der SNM integriert wurde, desto mehr wurde der Kampf in den Diskurs der Verteidigung von Klaninteressen eingebettet und bestätigte den von Beginn an gegen die SNM gerichteten Vorwurf des Tribalismus und Separatismus.“ (Bakonyi 2011: 154).
Letztlich wurde auch die anfänglich formulierte Bestrebung, eine clanübergreifende Widerstandsbewegung sein zu wollen, aufgegeben136. Andere Gewaltgruppierungen wie USC und SPM versuchten sich gar nicht erst an einer clanübergreifenden Sammlung und verwendeten auch keine entsprechende Rhetorik – sie präsentierten sich gleich als Gewaltrepräsentant eines bestimmten Clans. Wie obenstehend beschrieben, wurde diese Zuordnung auch nach dem Sturz Barres vice versa angewandt – die Mitglieder des Mareexaan-Clans, dem Barre angehörte, wurden kollektiv für seine Politik zur Verantwortung gezogen und waren somit der Gewalt der Masse ausgeliefert. Diese Interpretation von Geschehnissen auf der Grundlage des Clansystems neigt letztendlich, wie alle solche Interpretationen, zur Totalisierung: „Sie unterziehen alle innerhalb desselben kulturellen Schemas agierenden Gruppen und Menschen einer simplifizierenden Identifizierung. Unabhängige Personengruppen existieren [in diesem] Schema nicht, sondern jeder wird entsprechend der askriptiv-kulturellen Zugehörigkeit dazu gezwungen, eine Seite einzunehmen.“ (ebd.: 161).
Anhand dieses Schemas werden auch Freund und Feind geordnet und identifiziert – um nicht zuletzt die Gewalt daran und darauf auszurichten. In der Logik dieses Schema weitete sich die Zielführung der Gewalt gegen die Mareexaan dann auch auf das ihnen übergeordnete Segment der Darood-Clanfamilie aus. (Vgl. ebd.: 154 u. 161) Auch und gerade in Extremsituationen spielte die Clanzugehörigkeit eine gewichtige Rolle: als 1988 von seitens des somalischen Staats die Städte Hargeysa und Burco bombardiert wurden und es zu starken Fluchtbewegungen kam, ent136 Dies führte dazu, dass die Mitglieder der Hawiyee, die im SNM aktiv waren, zur SNM Southern Front zusammengefasst wurden und in ihrem ‚eigenen‘ Territorium eingesetzt wurden; zudem stand die Führung des SNM der Aufnahmen von Mitgliedern, die nicht den Isaaq angehörten in zunehmenden Maße skeptisch gegenüber – was darin gipfelte, dass beispielsweise 1989 desertierten Soldaten, die den Hawiyee zugehörig waren, die Aufnahme in das SNM verweigert wurde (vgl. Bakonyi 2011: 154).
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schieden sich die Fluchtrouten der Menschen durch die Zugehörigkeit zum jeweiligen (Sub-)Clan – entsprechend wiesen dann auch die Auffang-/ Flüchtlingslager eine entsprechende clanspezifische Homogenität auf. (Vgl. Bakonyi 2011: 219) Im Verlaufe des Bürgerkriegs begannen – aufgrund der zentrifugalen Fragmentierungstendenzen (die bis in die segmentäre Tiefe von Subsubclans reichten) – immer mehr Clangruppierungen, sich als eigenständige (politische) Einheit inklusive eigenständiger Repräsentation zu sehen, dadurch erhöhte sich auch die Anzahl der Älteren um ein Vielfaches (vgl. Bakonyi 2011: 235). „Die Betonung des Klaninteresses und die Ideologie der Verwandtschaft gingen den Kämpfen daher nur zum Teil voraus. Sie wurden vor allem durch die alltägliche soziale Interaktion während des Kampfes geprägt und haben sich mit ihr verfestigt.“ (Bakonyi 2011: 155).
Die Clans produzieren letztendlich die Macht des Faktischen 137: sie kontrollieren die Straßensperren, und so ist neben der Anzahl der aufzubietenden Waffen die Clanzugehörigkeit entscheidend, um passieren zu können (oder eben auch nicht durchgelassen zu werden). Ebenso verfügt jeder Clan quasi über sein eigenes Flugfeld – während der (ehemalige) International Airport in Mogadischu dem Verfall preisgegeben ist. (Vgl. Engelhardt 2012: 23f.) 6.6.3. Exkurs: Individuum und Nomadentum Gerade das Nomadentum wird oftmals als Ausdruck von Freiheit, Unabhängigkeit und Individualität verstanden. Wobei dies vermutlich oftmals nicht den Tatsachen entsprechend ist, sondern vielmehr einer romantisch verklärten Sichtweise auf das Nomadentum entspringt. So lässt sich meines Erachtens auf der einen Seite die Existenz eines konkreten Individuums ausmachen und auf der anderen Seite die eines abstrakten Individuums. Beide bilden zwangsläufig eine Einheit138 – müssen aber nicht (in gleichem Maße) ausgeprägt sein. Das konkrete Individuum, dem ich das Nomadentum zuordnen würde, ist dasjenige, das sich meines Erachtens im (französischen) Existenzialismus wiederfinden lässt, jenes, das sich – wie bei Sartre – selbst entwirft und durch Tätigkeit gekennzeichnet ist (vgl. Görland 1978: 35). Dieses lässt sich bei Hegel der Sphäre der Familie zuordnen (vgl. Hegel 1986: 306f.). Das abstrakte Individuum jedoch, das Voraussetzung von warenförmiger Vergesellschaftung139 und (damit verbunden) der Rechtsform140 ist, und somit auch Staatlichkeit, lässt sich meines Erachtens eher in der Person des Herrn K. aus Kafkas Roman „Der Prozess“ (Kafka 1999) wiederfinden. Es ist dasjenige, das 137 Dabei ist jedoch zu bedenken: „Die an traditionalen Zugehörigkeiten orientierte Herrschaft kennt Dominanz und Unterordnung, aber stellt auch Erwartungen und formuliert Regeln für das Gefolge ebenso wie für die Herrscher.“ (Bakonyi 2011: 209). 138 Die Leiblichkeit des Menschen zieht hier ihre Grenzen. 139 Siehe dazu: Kap. 4.2.2. 140 Siehe dazu: Kap. 4.2.1.
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durch die sogenannte ursprüngliche Akkumulation erzeugt 141 wurde und im Hobbschen Leviathan (als Voraussetzung) wiederzuerkennen ist. Es erfährt sich nicht als selbst setzend, sondern es erfährt sich als gesetzt 142. Bei Hegel ließe es sich der bürgerlichen Gesellschaft zuordnen (vgl. Hegel 1986: 306f.). 6.6.4. Rolle der Frau Was in der bisherigen Arbeit vielleicht bereits auffällig wurde, ist, dass es bei den beschriebenen Handelnden es sich fast nur um Männer handelt. Frauen führen in der somalischen Gesellschaft weitestgehend ein ‚Schattendasein‘, was ihnen von außen – zusätzlich vermittelt durch Traditionen, Clansystem und Religion – zugewiesen wird. Im Folgenden Abschnitt soll die (zugewiesene) Rolle der Frau in Somalia einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Es ist und war in Somalia üblich, dass ein Mann mehrere Frauen heiratet (bzw. heiraten kann). Die Kernfamilie besteht allerdings nur aus einem Ehepaar und seinen Kindern (zudem verfügt(-e) es traditionell über Kleintierherden und Kamele). Die anderen (Ehe-)Frauen und ihre jeweiligen Kinder leben jedoch in separaten Haushalten. (Vgl. Höhne 2002: 13) Wie bereits angeführt, basiert die Sozialstruktur der Clans in Somalia auf dem patrilinearen Abstammungsverhältnis – daher gehend kommt den eingeheirateten Frauen eine große Rolle zu. Im Konfliktfall können sie zwischen den beiden verschiedenen Abstammungslinien eine Rolle der Vermittlung einnehmen. Dabei können sie die Grenzen zwischen Clans überschreiten und (damit) die Übermittlung von Informationen, Nachrichten usw. bewerkstelligen. Frieden wurde oftmals mittels matrilinearer Verbindungen hergestellt bzw. stabilisiert, in dem beispielsweise Frauen zwischen den (Sub-)Clans ‚getauscht‘ wurden. (Vgl. Höhne 2002: 101) Auch im Handel mit Khat nehmen die Frauen eine wichtige Rolle ein – oftmals im Zwischen- und Endhandel mit diesem Rauschmittel (vgl. Bakonyi 2011: 298). Nach dem Putsch 1969 durch das Militär unter der Führung von Siad Barre wurden Versuche unternommen, die Stellung der Frau in der Gesellschaft zu (ver-)ändern: Neben den Alphabetisierungskampagnen, die sich an Männer ebenso wie an Frauen richteten – wurde auch sportliches und vormilitärisches Training für Frauen bereitgestellt; ebenso wurden Frauen für den Militärdienst verpflichtet. 1974 wurde ein neues Familiengesetz verabschiedet, in dem die Gleichberechtigung für Frauen festgeschrieben war – sowie ein darauf aufbauendes Scheidungsund Erbrecht. Dies führte jedoch zu einer ideologischen Auseinandersetzung mit den traditionellen Persönlichkeiten Somalias – so sprachen sich etliche religiöse Führer öffentlich gegen dieses Gesetz aus. Dies hatte zur Folge, dass jene im Januar 1975 schließlich verhaftet wurden und zehn von ihnen, unter dem Vorwurf 141 Siehe dazu: 4.2.2.1.1. 142 Es ist auch jenes, das die Entfremdung erfährt, wie sie Marx und im Anschluss daran Lukács beschrieben.
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konterrevolutionärer Aktivität, hingerichtet wurden. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 29) In der bereits beschriebenen Spendenökonomie und -praxis des SNM nahmen auch Frauen eine zentrale Rolle ein. Sie wurden zum Einsammeln der Spendengelder eingesetzt. So konnten sich diese wohl gefahrloser innerhalb Somalias bewegen, wie auch zwischen den Trainingscamps des SNM in Äthiopien und den Dörfern in Somalia – allerdings wurden auch etliche Frauen bei der Ausübung dessen verhaftet oder getötet. Zum anderen sollte damit auch noch ein weiterer Zweck erfüllt werden: durch die Zurschaustellung des Muts dieser Frauen sollten diejenigen Männer, die sich noch nicht dem SNM angeschlossen hatten, beschämt werden. (Vgl. Bakonyi 2011: 133) Häufig schlossen sich die Frauen aus den Flüchtlingslagern heraus, oftmals zusammen mit ihren Ehemännern, Brüder oder Söhnen, dem SNM an. Jedoch kam es dabei selten vor, dass die Frauen selbst zur Waffe griffen. Vielmehr übernahmen sie zumeist Aufgaben wie die medizinische Versorgung oder die Versorgung mit Lebensmitteln, Spionage und das oben beschriebene Sammeln von Spenden. (Vgl. Bakonyi 2011: 226) Überhaupt war der Zuspruch seitens der Frauen zu den Aufstandsbewegung angesichts der sie umgebenden patriarchal bestimmten Verhältnisse relativ stark. Bakonyi erklärt dies damit, dass es Akteuren im Zuge von spektakulären und/ oder dramatischen Ereignissen möglich ist eingefahrene und sozial reglementierte Verhaltensmuster abzustreifen: „Dies zeigte in Somalia besonders deutlich die hohe Beteiligung von Frauen in den Aufstandsgruppen. Trotz eingelebter patriarchaler Verhaltensmuster und klarer Aufgabenzuteilung schlossen sich Frauen oft relativ spontan, im Anschluss an dramatische Ereignisse, den Aufstandsbewegungen an. Sie griffen manchmal sogar zur Waffe.“ (Bakonyi 2011: 330).
Trotzdem muss meines Erachtens nach in diesem Zusammenhang bedacht werden, dass – wie obenstehend bereits beschrieben – unter Barre eine Stärkung der Stellung der Frau forciert wurde und auch gerade die Stellung der Frau als (bewaffnete) Kämpferin im Zuge dessen herausgehoben wurde – dadurch, dass Frauen zum Militärdienst verpflichtet wurden. (Vgl. ebd.) Durch die Ausbreitung islamistischer Bestrebungen in Somalia verband sich „[a]uch in Somalia […] die Religion mit einer vor allem auf den weiblichen Körper gerichteten Symbolik.“ (Bakonyi 2011: 264). Viele – gerade jüngere – Frauen unterwarfen sich den Kleidungsvorschriften143; zwar gab es auch für Männer Vorschriften, die die Kleidung und Barttracht betrafen, jedoch wurde dies nicht entsprechend rigide gehandhabt. Auch wurde den Frauen untersagt sich geschäftlich zu betätigen. Dennoch: „Viele Frauen begrüßten die Verschiebung vom Xeer zur Sharia“ (ebd.), da die Sharia den Frauen mehr Rechte einräumte, als dies beim Xeer der Fall war. (Vgl. ebd.: 264f. u. 338).
143 Inwieweit dies aufgrund der eigenen Motivation geschah oder aufgrund von äußerem Druck kann nicht genau benannt werden (vgl. Bakonyi 2011: 264).
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6.6.5. Zwischenanmerkung Mit der Durchsetzung kapitalistischer Vergesellschaftung, d.h. „[m]it der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ (Marx) ist es um die familiäre Souveränität des Sippenältesten wie des Hausvaters geschehen“ (Scheit 2009: 33). Durch diese Durchsetzung und mit der damit stattfindenden Durchdringung der Gesellschaft wird – wie in Kapitel 4.2.1. und 4.2.2. beschrieben – der oder die Einzelne aus dem Kollektiv ‚herausgebrochen‘, zum Individuum und schließlich zum Warenbesitzer144. Jetzt können sich die Einzelnen überhaupt erst als Einzelne (gegenseitig) wahrnehmen und sich auf dieser Ebene auch begegnen. (Vgl. ebd.: 34) Zuvor war dies nicht möglich, denn sie „waren […] unablösbare Teile einer hierarchisch geordneten Familie, eines Clans, einer Glaubensgemeinschaft, einer Zunft etc.; in den Beziehungen, die sie außerhalb des jeweiligen Verbandes knüpften, verkörperten sie in allem, was sie taten, das Kollektiv, dem sie ihre Reproduktion verdankten. Erst wenn es soweit kommt, dass sie ihre Arbeitskraft verkaufen können und müssen, ist es auch möglich, dürfen sie darauf pochen, dass sie kein Mitglied einer Familie oder eines Clans sind.“ (ebd.: 34f.).
Es zählt nun die Reproduktion des Kapitals, nicht mehr die der Familie oder des Verbands (vgl. ebd.: 35). Dies ist aber kein unumkehrbarer Prozess, hinter den es kein Zurück mehr gäbe: „Die Krise stellt nämlich alle Gleichstellung zu Disposition von Rackets, seien es rezente Clan- und Familienstrukturen, politische Gruppen oder religiöse Glaubensgemeinschaften, in denen unmittelbare Abhängigkeitsverhältnisse und personengebundene Unterdrückung sich reproduzieren.“ (ebd.: 35).
Durch die Betrachtung des Clanwesen, welches in Somalia existiert und von zentraler Bedeutung ist, versuchte ich die Nicht-Existenz eines Denken und Handelns als (abstraktes) Individuum im gesellschaftlichen Denken und Handeln aufzuzeigen. Zwar ist Individualität und damit auch das (konkrete) Individuum, in Somalia durchaus präsent, wie die obenstehenden Einlassungen zur Bedeutung der Individualität im Rahmen beziehungsweise aufgrund des Nomadentums in Somalia aufzeigen. Dennoch stellt auf sozialer Ebene in Somalia das Clansystem die Identitätskategorie dar und ist somit das bestimmende Moment sozialen Handelns, an dem sich das Denken und die Handlungen der Menschen in Somalia ausrichten. 6.7. SEZESSION Durch den Westfälischen Frieden und die daraus resultierenden Vereinbarungen etablierte sich das Prinzip von territorialer Souveränität nach außen und nach innen und damit auch (untrennbar) verbunden das der territorialen Integrität (vgl. Engin 2013: 63). Wie bereits obenstehend beschrieben und ausgeführt, fand mit dem Bürgerkrieg eine Zersplitterung und Auflösung des somalischen Zentralstaats statt. Ne144 Und handelt es sich auch ‚nur‘ um die Ware Arbeitskraft.
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ben den Gebieten, die im Chaos versanken, entstanden Gebiete, die durch die jeweiligen Warlords und ihre Gefolgschaften kontrolliert wurden, aber auch großflächigere Einheiten, die (beinahe) staatsähnliche Strukturierungen vorweisen konnten – zu nennen wären in diesem Zusammenhang Somaliland und Puntland. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 87) Neben den Sezessionsbestrebungen Somalilands und Puntlands kam es auch in weiteren Regionen zu Sezessions-/ Autonomiebestrebungen, z.B. in der Region Galguduud oder im Südwesten Somalias. Im Südwesten Somalias versuchte die Rahanweyn Resistance Army 2002, autonome Strukturen zu schaffen, die anfänglichen Erfolge hierbei und die daraus resultierende erfolgreiche Stabilisierung wurde letztendlich wieder dadurch unterminiert und zunichte gemacht, dass es in der Führungsspitze zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam (vgl. Bakonyi 2006: 99). Dies kann durchaus als symptomatisch angesehen werden. Im Folgenden sollen nur die Sezessionsbestrebungen Somalilands und Puntlands einer näheren Betrachtung unterzogen werden, da diese die größte Wirkmächtigkeit erzielten. 6.7.1. Somaliland Engelhardt führt Somaliland als Gegenbeispiel zu den umkämpften, chaotischen und letztendlich (lebens-)gefährlichen Gebieten des Südens von Somalia und vor allem Mogadischus an. Er bezeichnet es gar als einen somalischen Musterstaat. Völkerrechtlich ist Somaliland allerdings nicht anerkannt. Seit dem Ende des Ogaden-Krieges wurde die Geschichte Somalilands maßgeblich durch das Somali National Movement (SNM) bestimmt; dieses wird weitestgehend von Angehörigen der Isaaq-Clanfamilie getragen. Neben überwiegend Angehörigen der Isaaq-Clanfamilie leben in Somaliland aber auch Angehörige der Dir- und Darood-Clanfamilien (im Falle der Dir handelt es sich um Angehörige der Subclans Gadabursi und Esa, im Falle der Darood um Angehörige der Dulbahante, Warsangeli, Majerten und Ogaden (mit Ausnahme der Ogaden gehören diese zu den Kombi-Harti). Hauptsächlich Ogaden (neben einigen Oromos) zählten zu den 400000 Menschen, die 1977 nach dem (verlorenen) Ogaden-Krieg von Seiten der Regierung Barres im Norden Somalias angesiedelt wurden, diese sind traditionell verfeindet mit der Isaaq-Clanfamilie. Sowohl diese massenhafte Ansiedlung, mit der sich die (alteingesessenen) Isaaqs konfrontiert und an den Rand gedrängt sahen, als auch der Umstand, dass die Hilfsleistungen nur den Flüchtlingen aus den Ogaden zukamen, erzeugte bei den Isaaqs Ressentiments gegenüber den Ogaden. Die Situation verschärfte sich derart, dass es im Mai 1988 zu einem Volksaufstand kam – der jedoch von südafrikanischen Söldnern mit Kampfflugzeugen gewaltsam niedergeschlagen wurde. Daraufhin flohen etliche Isaaqs nach Äthiopien und führten von dort aus einen Guerilla-Kampf gegen das Regime Barres 145. Nach dessen Sturz kehrten sie 1991 wieder zurück. Das SNM verfügt daher gehend über eine enorme Machtbasis, die (allein) durch und mit Verwandtschaft 145 Wie bereits in Kap. 6.1. beschrieben.
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begründet ist146. Es wird sich zudem auf den Islam berufen, was einen (ge-)wichtigen Faktor für den Rückhalt in der Bevölkerung darstellt. Während des Bürgerkriegs war jedoch die clanübergreifende, überregionale Bindungs- und Integrationskraft des Islam gegenüber den genealogisch geprägten Strukturen die in Somalia (vor-)herrschten nur äußerst gering147. Im Februar 1991 fand in Berbera ein Treffen verschiedener Clans statt, auf dem versucht wurde eine friedliche Einigung für die Konflikte in Nordsomalia zu finden. Ebenso sollte dort eine Erklärung für die Unabhängigkeit Nordsomalias ausgearbeitet werden – in Folge dessen wurde am 18. Mai 1991 die Unabhängigkeit Somalilands proklamiert 148. Nach der Interpretation des SNM handelte es sich bei der Erklärung der Unabhängigkeit Somalilands von dem restlichen Teil Somalias nicht um einen Akt der Sezession, sondern lediglich um die Auflösung der seit 1960 bestehenden Union von Nordsomalia (der ehemaligen britischen Kolonie) und Südsomalias (der ehemaligen italienischen Kolonie)149. Jedoch sah sich auch das SNM nach der Erklärung der Unabhängigkeit Somalilands mit dem Problem konfrontiert, ihre eigenen, schwer bewaffneten Truppen (wieder) unter ihre (eigene) Kontrolle zu bekommen, um sie dann letztendlich auch entwaffnen zu können. Für eine erste Übergangsphase von zwei Jahren wurde der Isaaq-Clan mit der (Regierungs-)Führung betraut, die anderen Clans sollten jedoch beteiligt werden. Die Ältesten wurden bereits nach 1988 in das Zentralkomitee des SNM integriert – dadurch wurde im SNM selbst eine Art ‚Zweikammernsystem‘, mit einerseits den traditionellen Ältesten und auf der anderen Seite mit der modernen Führung, installiert, was später auch in den Aufbau der Grundstruktur der Republik Somaliland einfloss. Nach diesen zwei Jahren wurde 1993 auf einer großen Konferenz über fünf Monate lang beratschlagt, wie weiter vorzugehen sei. Man einigte sich darauf Ibrahim Egal zum Interimspräsidenten zu ernennen – nach seinem Tod 2002 folgte ihm Dahir Riyale Kahin. Durch das Ausstellen neuer Pässe, der Beschriftung der Autokennzeichen mit „Republik Somaliland“ und der Einführung einer neuen, eigenen Währung wurde versucht, einen Status zu etablieren, der eine Zementierung der (faktischen) Teilung Somalias bedeutet. Auch die Demobilisierung der eigenen 146 Höhne kommt zu dem Schluss, dass der Führungsanspruch des SNM – im Unterschied zu der im Süden vorherrschenden Gewaltherrschaft von Warlords und Clan-Milizen– somit einen in der Gesellschaftsordnung verankerten Anspruch darstelle (vgl. Höhne 2002: 83). 147 Inwieweit sich dies jedoch mittlerweile geändert hat, versuchte ich in Kap. 6.5. aufzuzeigen; inwieweit dies auch Auswirkungen auf Somaliland und dessen Verhältnis zu (Rest-) Somalia (bzw. vice versa) hat, wird wohl erst in der Zukunft zu sehen sein. 148 Die Proklamation der Unabhängigkeit war auch dem ‚Druck der Straße‘ geschuldet, so kam es während der Konferenz zu einer Menschenansammlung vor dem Ort der Konferenz, bei der lautstark die Unabhängigkeit Somalilands eingefordert wurde – dabei wurde die Menschenmenge von vielen SNM-Kombattanten unterstützt (vgl. Bakonyi 2011: 168). 149 Die aus meiner Sicht nahezu nicht zu verleugnende Ironie dabei ist, dass mit dieser Argumentation letztendlich die koloniale Grenzziehung, die jahrzehntelang mit der „Greater Somalia“-Argumentation bekämpft worden war, anerkannt wurde; und dies gerade auch unter dem Aspekt, dass in den postkolonialen (afrikanischen) Gesellschaften die koloniale Grenzziehung immer wieder als die Wurzel aller (gesellschaftlichen) Übel, Probleme usw. ausgemacht wird (vgl. Höhne 2002, 82).
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Gewaltgruppierungen verlief anscheinend durchaus erfolgreich, viele der ehemaligen Kämpfer wurden in eine neu geschaffene Polizei integriert, die die Städte kontrolliert. Diese erhalten auch regelmäßig ihren Lohn, so dass die übliche Wegelagerei zur Erpressung von Wegzöllen, wie sie viele ehemalige Kämpfer im Süden Somalias praktizieren, in Somaliland nicht zu sehen ist. Ebenso sind keine bewaffnete Warlords mit ihren Gefolgschaften in Somaliland auszumachen. Ökonomisch steht Somaliland weitestgehend schlecht da. Der einstmals florierende Viehhandel mit Saudi-Arabien wurde von seitens Saudi-Arabiens mit einem Importverbot belegt. Der offizielle Grund dafür war, dass es Erkrankungen mit dem Rift Valley Fieber bei den Tieren aus Somaliland gäbe. Dies konnten Veterinäre der UN jedoch nicht bestätigen, Präsident Egal sieht hinter dem Importverbot eine Aktion Saudi-Arabiens zur Abstrafung, aufgrund des Engagement Somalilands im Kampf gegen den Islamismus und der Unterstützung der USA in ihrem AntiTerror-Kampf. Genau diese Unterstützung brachte Somaliland ökonomisch noch mehr in Bedrängnis, da sie im Zuge dessen die Büros der Firma Al-Baraakat schließen ließen, nachdem Vorwürfe laut geworden waren, dass diese Al-Qaida unterstütze. Da über diese Firma jedoch die Devisentransfers aus dem Ausland stattfanden, gelangten die Einwohner Somalilands nicht mehr an die Zahlungen, die ihnen Verwandte aus dem Ausland angediehen ließen. Diese Zahlungen stellten jedoch einen wichtigen wirtschaftlichen Stützpfeiler in der Ökonomie Somalilands dar. (Vgl. Engelhardt 2012: 32; Höhne 2002: 82ff.; Sheikh / Weber 2010: 16f., 87ff.; Bakonyi 2011: 144 u. 168f.) Die Ausgangslage Somalilands war von der des Südens jedoch nur graduell unterschiedlich. Nach der Erklärung der Unabhängigkeit Somalilands kam es auch dort – wie im Süden – zu internen Konflikten (im SNM) um die Macht, die auch bewaffnet und gewaltsam ausgetragen wurden. Auch dort zerfielen die aufständischen Massen in eine Vielzahl von Clan-Milizen, die um Macht und Einfluss kämpften. Auch dort feierte das Bandenwesen fröhlich Urständ und griff (gewaltsam) um sich. Dennoch gelang es in Somaliland, wenn auch nur langsam und unter dem Einsatz massiver Gewalt, die Clan-Milizen zu entmachten und das Bandenwesen einzudämmen. Später konnten die Milizen schlussendlich in die Armee integriert werden. (Vgl. Bakonyi 2011: 169f.) Höhne ist der Auffassung, dass die für somalische Verhältnisse (mittlerweile) relativ stabile Ordnung und (damit verbunden) der Frieden, die in Somaliland vorherrschen, ein Ergebnis davon ist, dass diese die existierende soziale Struktur der Region zur Basis ihrer (quasi-)staatlichen Ordnung gemacht haben (vgl. Höhne 2002: 127). Dies liegt darin begründet, dass ihm zufolge die erkennbare ‚Lehre‘ aus dem Friedensprozess in Somalia diejenige ist, „dass Rechtsnormen in den unsicheren Zeiten des Wiederaufbaus der soziopolitischen Ordnung nur auf Basis des Konsens' der direkt beteiligten Gruppen vor Ort durchgesetzt werden können.“ (Höhne 2002: 118). Ein nicht oder nur schwer zu leugnender Einwand von Höhne ist, dass die Festlegung auf eine (neue) zentralstaatliche Struktur für ganz Somalia, nur (wieder) die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es in Mogadischu zu einer erneuten Ge-
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walteskalation zwischen den um die Macht ringenden Warlords (und mittlerweile auch anderen Rackets, Banden o.ä.) kommt (vgl. Höhne 2002: 119). 6.7.2. Puntland Zu einer ähnlichen Entwicklung wie in Somaliland kam es in den somalischen Regionen Bari, Nugal und Mudug – zusammen bilden sie Puntland. Puntland liegt im Nordosten von Somalia, neben Somaliland (der (genaue) Grenzverlauf zu Somaliland ist ungeklärt und umkämpft). Nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Somalia, und damit dem Wegfall der staatlichen Instanzen, übernahmen traditionelle Autoritäten die Aufgabe, eine Stabilisierung der öffentlichen Ordnung zu erreichen/ gewährleisten. Am 15. Mai 1998 fand eine Versammlung statt, die eine Verfassung für Puntland erarbeiten respektive verabschieden sollte. Die Teilnehmer entstammten den Majerten, Dulbahante und Warsangeli (alle aus der Clan-Familie der Darood und auch alle den Kombi-Harti zugehörig, allerdings wird Puntland nahezu ausschließlich von den Majerten bewohnt). In dieser Versammlung wurde sich auf ein Präsidialsystem geeinigt – dieses besteht aus einem Präsidenten, einem 69-sitzigen Parlament und einem Ältestenrat (Isimada). Bei der Ausrufung der autonomen Teilregion wurde sich am Beispiel Somalilands orientiert – treibende Kraft hinter diesem Prozess war die Somali Salvation Democratic Front (SSDF). Am 1. August 1998 wurde dann vom Parlament eine Übergangsregierung für drei Jahre gewählt, Abdullahi Yussuf wurde zum Präsidenten des Parlaments gewählt und führt die Regierung an. Nach Ablauf dieser vereinbarten drei Jahre weigerte er sich jedoch, das Präsidialamt wieder abzugeben; die geplanten Neuwahlen verhinderte er, daraufhin erklärte der Ältestenrat seine Absetzung und setzten am 19. November 2001 Jama Ali Jama als neuen Präsidenten ein. Yussuf vertrieb diesen jedoch – mit Hilfe 300 äthiopischer Milizionäre – aus der als Hauptstadt deklarierten Stadt Garowe, zudem startete er eine militärische Offensive gegen Bosaso, das wirtschaftliche Zentrum Puntlands. Da Yussuf behauptete, seine Gegner würden mit Al-Ittihad zusammenarbeiten, entsandte Äthiopien 1000 Soldaten zu seiner Unterstützung. Diese Unterstützung wurde im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut – so bekam er von Äthiopien auch schwere Waffen geliefert. Äthiopien hoffte, durch die Unterstützung Yussufs Zugang zum Hafen in Bosaso zu bekommen, dies war für sie von besonderem Interesse, da Äthiopien seit der Unabhängigkeit Eritreas über keinerlei Zugang zum Meer mehr verfügt und sich erhoffte, künftig über Bosaso Güter über das Meer verschiffen zu können. Im Jahr 2003 wurde ein Waffenstillstand zwischen Yussuf und den Nachfolgern Jamas vereinbart. Yussuf wurde 2004 zum Präsidenten für das gesamte Somalia ernannt, im Dezember 2008 trat er davon zurück. Im Januar 2009 wurde dann für Puntland Abdirahman Mohamed Farole von den Majerteen zum neuen Regierungschef gewählt, das Parlament hat nun 66 Abgeordnete, residiert wird wieder in Garowe. (Vgl. Sheikh/ Weber 2010: 17 u. 91ff.; Höhne 2002: 100; Bakonyi 2006: 99)
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Puntland ragt direkt, als Spitze, mitten und tief in das Arabische Meer. Der gesamte Schiffverkehr muss diese Stelle passieren. Deswegen ist es prädestiniert als Heimat, Ausgangspunkt und Operationsgebiet für Piraten – wie bereits in Kapitel 6.1.1.1.2. näher ausgeführt wurde. Wie ebenfalls bereits obenstehend angeführt, entstammen etliche der heutige Piraten vor der Küste Puntlands der ehemaligen puntländischen Küstenwache. Diese wurde einstmals von privaten Sicherheitsfirmen exzellent ausgebildet – als sie jedoch nicht mehr (weiter) bezahlt wurde, begannen ihre ehemaligen Angehörigen mit den Piraterieunternehmungen. Farole versprach, gegen die Piraterie massiv vorzugehen. Nach Berichten von Journalisten ist diesbezüglich allerdings wenig bis nichts geschehen – wirtschaftlich profitiert Puntland sogar von den hohen Lösegeldforderungen, die die Piraten erwirtschaften, und angeblich soll es sogar eine Art von ‚Steuer‘ geben, die die Piraten an die entsprechenden Stellen in Puntland entrichten müssen 150. (Vgl. Sheikh / Weber 2010: 17 u. 93; Engelhardt 2012: 157; Becker 2009: 14) 6.7.3. Zwischenanmerkung Wie in Kapitel 3 bereits aufgezeigt, ist gemäß der Drei-Elementen-Lehre von Georg Jellinek ein Staat definiert durch Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet, diese drei Kriterien bilden die unabdingbare Voraussetzung für die Existenz eines Staates (vgl. Anter 2010, 195f.). Ebenso ist mit Max Weber festzuhalten, dass ein Staat dadurch bestimmt ist, dass er innerhalb eines bestimmten Gebietes das Gewaltmonopol innehat – nicht nur theoretisch, sondern dieses auch faktisch (erfolgreich) durchzusetzen vermag (vgl. Weber 1976, 822). Angesichts von Sezessionsbestrebungen, denen nichts entgegen gesetzt werden kann, ist eine territoriale Integrität des Staatsgebietes (und damit gemeinhin auch des Staatsvolkes) nicht mehr gegeben und entsprechend ist auch eine Staatsgewalt nicht mehr vorhanden, da es an dieser läge, die Souveränität auch und gerade in diesen Gebieten aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Sezession ist somit als Teil eines Staatszerfallsprozess zu sehen, aus dem heraus aber wiederum ein Prozess des Staatsaufbaus resultieren kann, indem sich der Gegensouverän erfolgreich in seinem vom ehemaligen Staat abgetrennten Gebiet etabliert, die Monopolisierung der Gewalt erfolgreich umsetzen kann und damit schlussendlich Souveränität (wieder) aufbaut151. Ein Prozess, der, wie ich obenstehend aufzuzeigen versuchte, im Falle Puntlands noch nicht gegeben zu sein scheint. Auch im Falle Somalilands ist er zumindest nicht als erfolgreich abgeschlossen zu betrachten, jedenfalls ist Somaliland keineswegs ein somalischer Musterstaat, wie ihn sich Engelhardt auszumalen scheint. Wie die obenstehenden Ausführungen aufzeigen, sind die Versuche des Staatsaufbaus in Puntland und in Somaliland durch ein hohes Maß an Fragilität 150 Andererseits wird davon berichtet – wie bereits beschrieben –, dass die Piraten mit wesentlich besseren Waffen und dergleichen ausgestattet sind und im Falle einer Konfrontation weit überlegen wären, somit kann dies m.E. fast eher als eine freiwillige Abgabe durch die Piraten verstanden werden. 151 Verwiesen sei hierbei z.B. auf das ehemalige Jugoslawien.
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gekennzeichnet, dies bedeutet, dass ein Umschlag jederzeit möglich ist (wie gerade auch das Beispiel Puntland deutlich aufzeigt). Ebenso ist in beiden Fällen eine massive Präsenz der Clanstrukturen vorhanden, die in das politische System verwoben sind oder werden sollen – was m.E. die Fragilität fördert und einen immanent destabilisierenden Faktor von Staatlichkeit bedeuten würde.
7. FAZIT Staatlichkeit und damit der Staat selbst ist beständig von Erosion bedroht. Der Staat reproduziert sich nur im Vollzug seiner Souveränität, doch auch jene muss beständig (re-)produziert werden und sich dabei auch materialisieren, denn Souveränität existiert nur solange, solange wie sie vollzogen, d.h. im Falle eines Falles auch wirklich, und zwar ausnahmslos, zur Geltung gebracht wird, und vor allem letztendlich nur solange, wie an sie geglaubt wird. Da eine positive Aufhebung von Staat(-lichkeit) hin zu einer befreiten Gesellschaft derzeit oder auch für immer nicht auf der Agenda zu stehen scheint, droht bzw. vollzieht sich – und in den letzten Jahren offenbar vermehrt – stets nur die negative Aufhebung. Dieser Umstand bedroht existenziell das, was den Menschen aus dem Naturzustand erhob und ihn zur Staatsbildung trieb, nämlich die Unversehrtheit des eigenen Seins, d.h. das eigene nackte Leben, er bedroht das, was das Leben füllt und er bedroht existenziell das, wofür Menschen in den letzten Jahrhunderten massiv kämpften, und zwar nie vollständig, doch zumindest näherungsweise erreichten: Freiheit. Denn „[d]er Kampf um Freiheit ist ein Kampf um Souveränität […] da der Antisouveränismus die universelle Geltung des auf den Schultern von Machiavelli und Hobbes politiktheoretisch begründeten modernen Freiheitsversprechens fundamental in Frage stellt.“ (Salzborn 2010b: 77).
Wie ich in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt habe, ist der Vollzug von Souveränität im Falle Somalias nicht mehr gegeben; Souveränität ist erodiert. An ihre Stelle treten Banden, Rackets und Warlords, was unmittelbare Gewalt und unmittelbare Aneignung zur Folge hat. Anhand der Feldern Recht und Ökonomie, zwei Felder, die in einem dialektischen Verhältnis zu Staat und Staatlichkeit stehen – zeigte ich ebenso auf, dass Recht und eine warenförmige Vergesellschaftung in Somalia nicht existent sind. So wird – wie aufgezeigt – der Staat als ausgeschlossener Dritter, benötigt, der die Einhaltung der Rechtsverhältnisse, die das Recht schafft, sicherstellt; und dies – im gegebenen Fall (mit Gewalt) durchzusetzen weiß, dafür ist jedoch das Gewaltmonopol vonnöten. Etwas – wie obenstehend bereits angemerkt – das in Somalia nicht mehr existent ist, stattdessen herrschen partikulare Gewalten. Statt Recht herrschen das Xeer und die Sharia in Somalia. So wenig wie sich Staatlichkeit und Recht auseinanderdividieren lassen, lassen sich Recht und warenförmige Vergesellschaftung trennen. Warenform und Rechtsform bilden eine dialektische Einheit, wie ich es mit Paschukanis aufgezeigt habe. Beiden gemein ist das einzelne Subjekt als handelndes und zu behandelndes Subjekt – so, wie sie es (re-)produzieren, so benötigen sie es als Grundlage.
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Das Subjekt (als handelndes und zu behandelndes Subjekt) entstand mit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, doppelt frei – auf das der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx 1966: 765) sich ausübte. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation sprengte alle (Groß-)Familienbande und Clanstrukturen, es fegte die unmittelbare Aneignung und die partikularen Gewalten hinweg. Die Existenz, die (Omni-)Präsenz und die immense Bedeutung 1 der segmentären Gesellschaftsordnung, die untrennbar mit dem Nomadentum verbunden ist, lässt deutlich werden, dass die sogenannte ursprüngliche Akkumulation in Somalia sich nicht entfaltet hat – auch wenn durch eine nachholende Modernisierung oder eine „Entwicklungsdiktatur“ versucht wurde, dies anzustoßen. Während in der kapitalistischen Gesellschaft die Menschen dem „stumme[n] Zwang“ gehorchen, sofern sie nicht über Produktionsmittel verfügen, und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, wird in Somalia – wie das Beispiel der Bantus zeigt – unmittelbarer Zwang ausgeübt, um sich der Arbeitskraft zu bemächtigen. Auch die erzeugten Produkte werden durch unmittelbaren Zwang sich angeeignet – z.B. in Form von Plünderungen. Dies steht gegen die warenförmige Vergesellschaftung, die unter der Ägide und dem Prinzip des Tauschs steht. Auch die in Somalia vorwiegend vorherrschende Subsistenzproduktion, die ebenfalls nicht für den Tausch produziert, sondern für die eigene Konsumtion, steht somit diametral zur warenförmigen Vergesellschaftung. Die (ethnisch homogene) Nation wird zumeist als Grundlage für ein (funktionierendes) Staatswesen gesehen – verfügt ein Staat als Staatsbevölkerung über Menschen, die sich verschiedenen Nationalitäten zuordnen, wird dies als ein destabilisierender Faktor für ein Staatswesen begriffen und als Ursache für einen (möglichen) Zerfall des Staates (z.B. Ex-Jugoslawien) gesehen. So wurden Somalia einst gute Chancen für den Aufbau eines Staates eingeräumt, da die (zukünftige) Staatsbevölkerung Somalias über eine gemeinsame nationale Basis verfügte, da sie sich als eine gemeinsame Nation verstanden. Wie die Geschichte aufgezeigt hatte, konnte dies den Zerfall des Staates nicht verhindern. Dies mag einerseits seine Ursache darin haben, dass die Annahme, dass eine gemeinsame (ethnisch definierte) nationale Identität Voraussetzung für einen stabilen Staat sei, nicht zureichend ist – andererseits darin, dass protonationale (Identitäts-)Kategorien in Somalia nie wirklich überwunden wurden, was sich anhand des Clansystems zeigt, und dass sie zudem einen (erneuten) Aufschwung erfahren haben, ebenso wie das vorhandene und ebenfalls im Aufschwung begriffene antinationale Denken in Form des Islamismus. Der Islamismus, der sich in Somalia in jüngster Zeit zu einer immer stärker werdenden Kraft entwickelt hat, hat jedoch nicht nur den antinationalen Impetus inne, sondern zugleich auch den antistaatlichen und antietatistischen, da er die (Herstellung der) Umma in den Mittelpunkt seiner Bestrebungen stellt. Womit er gegen die staatliche Verfasstheit der Welt aufbegehrt – und damit auch gegen das säkularen Gewaltmonopol, das den Staat ausmacht und das historisch durch die 1
Sowohl in Bezug auf das Recht als auch der Ökonomie.
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(weitestgehende) Trennung von Kirche und Staat erwachsen konnte. Damit ist der Islamismus in der Lage die Clan- und Familienordnung zu konservieren, aber auch zu transzendieren. Die islamistischen Gruppierungen streben die Einführung der Sharia an und konnten in Somalia dies auch schon des Öfteren erfolgreich umsetzen. Von zentraler Bedeutung, das sich über alles soziale Handeln und Denken – in allen verschiedenen Feldern, in denen soziale Interaktion stattfindet – aufspannt, ist das Clanwesen. Es ist die bestimmende Identitätskategorie in Somalia. Daran und damit zeigt sich, dass ein Denken und Handeln als (abstraktes) Individuum in Somalia nicht besteht und durch das Clanwesen auch (weiterhin) verunmöglicht wird. Die Menschen richten ihr Denken und Handeln daran aus, es reproduziert sich beständig selbst und noch jede neue Generation wird darin integriert. Durch die segmentäre Struktur des Clanwesens, die alles soziales Handeln in Somalia durchzieht und bestimmt, und im Xeer seinen Ausdruck findet, wird alles soziales Handeln in Somalia dem Kollektiv unterworfen, d.h. kollektiviert – eine Herausbildung eines Subjekts konnte und kann unter diesen Umständen nicht gelingen. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, die auch die Bildung des einzelnen Subjekts mit sich brachte, fand in Somalia nicht statt. „Schon gar nicht hatte sich [...] eine die Clanherrschaft überwindende Klassengesellschaft und eine demokratisch gesinnte Elite herausgebildet, die Somalia wenigstens eine vage Hoffnung auf bessere Zeiten hätte versprechen können.“ (Becker 2009: 13).
Auch der Konflikt zwischen Staat und Kirche, der die Subjektbildung beförderte und durch den es zur Freiheit2 ‚gezwungen‘ wurde, ist im islamisch geprägten Raum, und somit auch in Somalia, nicht auszumachen gewesen. Zwei entscheidende Faktoren, die gerade in ihrer Kombination ihre Wirkmächtigkeit in Somalia entfaltet haben. So ist zuzustimmen, dass „Somalia, so kann abschließend eingeschränkt werden, [...] sicher einen extremen Fall der Machtformierung jenseits des Staates dar[stellt]. Eine Ausnahme bildet es nicht. Prozesse, die in anderen Ländern und Weltregionen ebenfalls existieren, sind in Somalia lediglich stärker akzentuiert. Wenn institutionalisierte Herrschaft erodiert, dann treten an ihre Stelle personalisierte Autoritätsstrukturen.“ (Bakonyi 2011: 388).
Jedoch ist meines Erachtens Somalia nochmals gesondert herauszuheben. Denn während andernorts nach dem Staatszerfall durchaus wieder Staatlichkeit hergestellt werden, und ein erneuter Staatsaufbau stattfinden konnte, ist im Falle Somalias Skepsis angebracht, solange (gerade) das Clanwesen so bestimmend ist. Denn das Clanwesen, mit all seinen Ansprüchen, die es setzt, schafft Fragilität. Wird die Entwicklung in Somaliland3 oftmals äußerst positiv gezeichnet4, so möchte ich
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Auch wenn es nur die Freiheit zur Wahl war, welchem von beiden sie ihre Gefolgschaft angedeihen ließen. Dessen Sezessionsbestrebung, wie auch die Puntlands und anderer Regionen, und vor allem die Nicht-Reaktion darauf nur Ausdruck und Manifestation des Prozesses des Staatszerfalls und des daran anschließenden failed state ist. So beispielsweise bei – wie bereits angeführt – Marc Engelhardt.
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Fazit
dies einschränken, denn beide oben genannten Faktoren nehmen auch in Somaliland eine zentrale Rolle ein. So ist nicht nur „die Frage des Staates […] eine der verwickeltsten und schwierigsten Fragen“ (Lenin 1919, 55), sondern auch gerade die Frage nach Aufbau von Staat und Staatlichkeit und dessen Stabilität. Auch, oder gerade weil der Staat bis heute nicht seine Position als die politische Ordnungsmacht, als derjenige, der menschliches Zusammenleben organisiert und koordiniert, und als zentraler Referenzpunkt von politischem Denken und Handeln, eingebüßt hat. Die einzige Alternative zu ihm, die derzeitig auf der Agenda zu stehen scheint – da eine staatenlose befreite Gesellschaft derzeitig und wohl auch nicht in näherer Zukunft nicht darauf zu stehen vermag – ist die, in der Einleitung erwähnte, von Huntington befürchtete Barbarei. Das von ihm befürchtete „weltweit finstere Mittelalter“ ist jedoch noch nicht über die Welt hereingebrochen (vgl. Huntington 1998: 530). Betrachtet man die Zustände in Somalia, den Tod des Hobbesschen Leviathan und die darauffolgende (partielle) Resurrektion des Hobbesschen Naturzustands, der sich seit über 20 Jahren hartnäckig hält, hat das „finstere Mittelalter“ sich in Somalia aber dennoch, versteht man es metaphorisch, bereits Bahn gebrochen.
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wird. Nach den gängigen entwicklungspolitischen und sozioökonomischen Maßstäben gehört Somalia zu den ärmsten und rückständigsten Ländern der Welt. Äußerliche Merkmale eines Staates, etwa eine Regierung oder eine Botschaft, sind zwar vorhanden; bekannt ist Somalia jedoch vor allem für die Herrschaft von Warlords, für kriminelle Banden, ausufernde Gewalt, Terroristen und Piraten. Wie verhält es sich mit Staatlichkeit in einem Land, dessen Einwohner zum großen Teil eher schlecht als recht in unsicheren Verhältnissen (über-)leben?
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11186-7
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7 83 5 1 5 1 1 1 86 7