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German Pages 274 [276] Year 1978
Wolfgang Detel Scientia rerum natura occultarum
W G DE
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland Band 14
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1978
Scientia rerum natura occultarum Methodologische Studien zur Physik Pierre Gassendis von Wolfgang Detel
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1978
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Fakultät für Philosophie, Psychologie und Erziehungswissenschaft der Universität Mannheim gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Detel, Wolfgang: Scientia rerum natura occultarum : methodolog. Studien zur Physik Pierre Gassendis. — 1. Aufl. — Berlin, New York:de Gruyter, 1978. (Quellen und Studien zur Philosophie ;Bd. 14) ISBN 3-11-007320-X
© 1978 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz Sc Bauer, Berlin
Meinen Töchtern Claudia Sylvia
Vorwon Die vorliegende Arbeit ist eine in einzelnen Punkten geänderte Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Sommer 1975 von der Fakultät für Philosophie, Psychologie und Erziehungswissenschaft der Universität Mannheim angenommen wurde. Ich danke Rainer Specht, Harald Delius, Hans Albert und Fritz Krafft für ihren kritischen Rat und den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie" für die Aufnahme dieser Arbeit in ihre Reihe. Hamburg, Mai 1978
Wolfgang Detel
Inhaltsverzeichnis 0.
Einleitung
0.1. 0.2. 0.3. 0.4.
Vorbemerkung Forschungsübersicht Systematische Vorüberlegungen Technische Bemerkungen
1.
Methodologie und Fundamentaltheorie Gassendi
1.1. 1.1.1. 1.1.1.1. 1.1.1.2. 1.1.1.3. 1.1.2. 1.1.2.1. 1.1.2.2. 1.1.2.3. 1.2. 1.2.1. 1.2.1.1. 1.2.1.2. 1.2.1.3. 1.2.2.
bei Epikur und
Methodologie bei Epikur und Gassendi Epikurs Kanonik Wahrnehmungslehre Funktion der Vorbegriffe Empirische Daten und atomistische Annahmen Gassendis Methodologie der Physik Wahrnehmung und Theorie Signa — Lehre und Ursachenforschung Probabilismus Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi Epikurs Begründung und Anwendung der atomaren Physik . . DeduktionatomistischerHypothesen Begründung weiterer Theoreme Atomistische Erklärungen Gassendis Einführung der atomaren Physik und Erklärung der Qualitäten 1.2.2.1. Gassendi und die Atomistik 1.2.2.2. Begründung der atomistischen Hypothesen 1.2.2.3. Erklärung der Qualitäten 2.
Gassendis physikalische Methode
2.1. 2.1.1.
Konstruktion und Prüfung von Theorien Konsistenz
X
Inhaltsverzeichnis
2.1.1.1. 2.1.1.2. 2.1.1.3. 2.1.2. 2.1.2.1. 2.1.2.2. 2.1.2.3. 2.2. 2.2.1. 2.2.1.1. 2.2.1.2. 2.2.1.3. 2.2.2. 2.2.2.1. 2.2.2.2. 2.2.2.3.
Überlegungen zum Trägheitssatz Diskussion des Kraftbegriffes Atomistische Mechanik Theorie und Erfahrung Widerlegung der Horror-Vacui-Theorie Interpretation des Schiffsmastexperimentes Erklärung des Fallgesetzes Methodologische Abweichungen Empiristische Tendenzen Farbenlehre Magnetismustheorie Gesetze der Pendelschwingung Agnostische Tendenzen KosmologischeHypothesen Finalistische Erklärungen Natürliche Theologie
123 144 153 164 165 179 185 196 197 197 204 213 219 222 228 234
3.
Zusammenfassung und Indices
243
3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Untersuchungsergebnisse Systematische Reflexionen Literatur Stellen Namen
243 247 250 253 261
0. Einleitung
0.1.
Vorbemerkung
Dieu me preserve d'employer trois pages ä l'histoire de Gassendi! La vie est trop courte, le temps trop precieux, pour dire des choses inutiles! Voltaire an du Bos (1738) Gassendi sucht sein katholisches Gewissen mit seinem heidnischen Wissen und den Epikur mit der Kirche zu akkommodieren, was freilich verlorene Mühe war. Es ist, als wollte man der griechischen Lais einen christlichen Nonnenkittel um den blühenden Leib werfen. Gassendi lernt vielmehr aus dem Epikur Philosophie, als daß er uns über Epikurs Philosophie belehren könnte. Marx, Doktorarbeit, Vorrede (1841)
Wer sich heute der Philosophie Pierre Gassendis zuwendet, wird sich nicht leicht dem Eindruck entziehen können, den Voltaire von Gassendi gehabt zu haben scheint, und dies mit eben jener Begründung, die bereits der junge Marx formuliert. In der Tat präsentiert sich Gassendis Philosophie als späthumanistische Enzyklopädie, die nicht viel mehr zu sein scheint als eine Sammlung ausführlicher historischer Referate über Auffassungen verschiedener, vorzugsweise antiker Philosophen zu allen Fragen, die man in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts für wichtig hielt, und die, soweit überhaupt direkte Wertungen erkennbar sind, sich meistens mit dem epikureischen Standpunkt identifiziert. Selbst für Leser wie Voltaire, die im ersten Jahrhundert nach Gassendis Tod lebten, von Kind auf an des Lateinischen mächtig waren, die Anerkennung Gassendis unter seinen Zeitgenossen kannten und zumindest die Problemstellungen seiner Philosophie noch für einigermaßen aktuell halten konnten, mußte sich darum die Frage nach dem Sinn und Nutzen einer Gassendi-Lektüre stellen; das gilt erst recht für Leser des 19. Jahrhunderts wie den jungen Marx, die im Banne der noch immer verbreiteten Idealisierung der alt-
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Einleitung
griechischen Kultur und insbesondere aufgrund der geistesgeschichtlichen Situation nach Abschluß der Hegeischen Philosophie der hellenistischen Philosophie große Aufmerksamkeit schenkten und daher wenig Interesse für einen neuzeitlichen Erneuerer der epikureischen Philosophie aufzubringen vermochten; dies gilt schließlich vor allem für Leser des 20. Jahrhunderts, für die die Abfassung der Untersuchungen in lateinischer Sprache vielfach schon ein ernstes Verständnishindernis und Gassendi einem Descartes, Galilei, Bacon oder Hobbes gegenüber ein weithin unbekannter und wenig anregender Philosoph ist. N u n ist geistesgeschichtlich freilich auch die Betrachtung weniger bedeutsamer Autoren wichtig und sinnvoll, denn sie vervollständigt das historische Bild und trägt damit schließlich auch zum Verständnis der „ G r o ß e n " bei. Darüber hinaus ist ein Urteil auch nur dann zulässig, wenn man sich eingehend mit dem zu beurteilenden Autor beschäftigt hat; diese Beschäftigung von vornherein abzulehnen, würde nichts anderes bedeuten als die Reproduktion und Immunisierung der vorhandenen Auffassungen und Wertungen. Dies wäre um so bedenklicher, wenn der fragliche Autor wie im Falle Gassendis eine so außerordentlich hohe Wertschätzung unter seinen Zeitgenossen genießen konnte, daß die historische Bedeutung seines Einflusses zu seiner Zeit kaum bestritten werden kann. Die Anzahl und Qualität der vorliegenden Gassendi-Interpretationen trägt dieser Tatsache noch nicht ausreichend Rechnung. Die folgende Untersuchung versteht sich daher in erster Linie als weiterer Beitrag zur geistesgeschichtlichen Erforschung der Gassendischen Philosophie. In jede historische Analyse pflegen jedoch implizit oder explizit neuere Fragestellungen und Interpretationsansätze einzugehen. Innerhalb der zeitgenössischen Philosophie ist die Wissenschaftstheorie oder, wie man besser sagen sollte, die Wissenschaftsmethodologie (die erstens eine Disziplin und keine Theorie ist, zweitens aber auch ihren eigenen Standards zufolge keine wissenschaftliche Theorie enthält) ohne Zweifel eine wichtige Disziplin, für deren Geschichte man sich, ähnlich wie in der Logik, Mathematik oder in anderen Wissenschaften, seit einiger Zeit interessiert. Dabei war die Physik im 17. Jahrhundert stets ein bevorzugter Untersuchungsgegenstand, weil man nicht zu Unrecht vermutete, daß mit der Entwicklung der neuzeitlichen Physik auch neue methodische Vorstellungen über das Verfahren dieser Wissenschaft entstanden sein könnten. So gibt es über die bedeutendsten Physiker dieser Zeit, etwa Galilei, Descartes, Boyle, Huygens, Newton, bereits zahlreiche methodologische Spezialstudien, nicht jedoch über Gassendi, vermutlich unter dem Ein-
Forschungsübersicht
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druck der gegenwärtig verbreiteten Wertungen, obgleich gerade die Physik derjenige Teil seiner Philosophie ist, der zu seiner Zeit den größten Einfluß hatte. Im folgenden soll versucht werden, diese Lücke zu schließen und zu weiteren Analysen anzuregen. Jeder Beitrag zur Geschichte einer Disziplin fußt schließlich auch auf den Ergebnissen, die zum Zeitpunkt der Untersuchung in dieser Disziplin erzielt wurden. Problemstellung und Untersuchungsform werden daher zum Teil von modernen Auffassungen abhängen, und verständlicherweise wird in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, ob damit nicht die Erkenntnis der spezifisch historischen Eigenarten des Analysandum gerade unmöglich gemacht wird. Bezüglich der Methodologie entsteht ein zusätzliches schwieriges Problem dadurch, daß Tatsachen der Wissenschaftsgeschichte, die methodologisch interpretiert werden, möglicherweise auch umgekehrt als empirische Basis anerkannt werden könnten, mit deren Hilfe man die Behauptungen der Wissenschaftsmethodologie prüfen kann. Diese „hermeneutischen" Fragen haben auch für die folgende Analyse der Gassendischen Physik Geltung. Nach der Forschungsübersicht sollen daher in dieser Einleitung noch einige systematische Überlegungen angestellt werden.
0.2.
Forschungsübersicht
Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Beschäftigung mit Gassendi als einem wenig bekannten Autor einsetzte, war man verständlicherweise zunächst daran interessiert, einen Uberblick über seine Philosophie zu geben. Die Arbeiten von Pendzig, Brett und Thomas sind Gesamtdarstellungen, die freilich zum großen Teil als informative Inhaltsparaphrasen angelegt sind und nicht viele Interpretationsprobleme aufwerfen oder lösen1. Im Vordergrund steht das Bemühen, Gassendis Philosophie als System zu rekonstruieren, und daher wurde fast ausschließlich sein posthum veröffentlichtes umfassendes Werk Syntagma Philosophicum als Textgrundlage benutzt. Diese Systematisierungsversuche waren letztlich zum Scheitern verurteilt, weil Gassendi die Kon1
P. Pendzig, P. Gassendis Metaphysik und ihr Verhältnis zur scholastischen Philosophie, Bonn 1908 (Neudr. New York 1969 (in engl. Spr.)); Teill mit dem Titel „P. Gassendis Metaphysik" ist eine Inhaltsangabe der Physik des Syntagma, Abschnitt I, verbunden mit einem Abriß der Logik (Erkenntnistheorie). Ferner G. S. Brett, The philosophy of Gassendi, London 1908; P. F. Thomas, La philosophie de Gassendi, Paris 1889.
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Einleitung
struktion eines philosophischen „Systems", einer logisch wohlgeordneten Einheit aller Behauptungen aus allen partes philosophiae, überhaupt nicht angestrebt hat. Nur gewisse Teilmengen dieser Behauptungen sollen systematisch abgeschlossen sein — soweit sie nämlich eine spezielle (ζ. B. physikalische) Theorie bilden. Eine Ausnahme bildet die Gassendi-Darstellung von Lasswitz in seiner Geschichte der Atomistik, die sich einerseits auf die Physik beschränkt, andererseits aber insofern über eine ausführliche Inhaltsangabe hinausgeht, als sie eine Würdigung der wissenschaftlichen Verdienste Gassendis auf wissenschaftshistorischem Hintergrund und kritische systematische oder methodologische Bemerkungen enthält 2 . Gassendis Physik ist für Lasswitz eine höchst konsequente kinetische Atomistik, in der das Problem der Unterscheidung zwischen geometrischen und physischen Körpern erstmals befriedigend gelöst ist, nicht zuletzt durch die „Hypostasierung" des Leeren zum Vakuum. Die Einführung der antiken Atomistik enthält seiner Meinung nach allerdings sachlich keine neuen Gedanken; aber sie war doch zum damaligen Zeitpunkt eine schöpferische Tat, insofern erst durch Gassendi die Atomistik salonfähig wurde und als vereinbar mit dem Dogma erschien. Indessen läßt Gassendi die Bewegung der Atome nicht durch ihre dynamische Wirkungsfähigkeit, sondern nur durch das Verhältnis des Vollen zum Leeren bestimmt sein; darum gelingt es ihm nach Lasswitz nicht, sie mathematisch zu beschreiben: die scharfe Unterscheidung zwischen geometrischen und physischen Körpern bleibt zwar ein wichtiger Schritt, aber im übrigen ist Gassendi „in der begrifflichen Begründung der Physik über die antike Atomistik nicht hinausgekommen" und beschränkt sich in der Erklärung empirischer Phänomene „auf eine sinnliche Veranschaulichung der empirischen Tatsachen durch die Bewegung der Korpuskeln". Deshalb (sie!) hält er seine Hypothesen, so Lasswitz, auch nicht für sicher, sondern nur für plausibel. Diese Beurteilung läßt zwei Behauptungen erkennen, die auch in späteren Arbeiten zur Physik Gassendis immer wieder vertreten worden sind: erstens, diese Physik ist vollständig von Epikur abhängig und enthält keine neuen Gesichtspunkte; zweitens, sie gestattet keine Quantifizierung der Hypo-
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K . Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, Hamburg/Leipzig 1890. Vgl. ferner ders., Uber Gassendis Atomistik, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 2, 1889, S. 459—470; eine Würdigung der Gassendischen Atomistik in ihrem Einfluß auf die Entwicklung der Chemie findet sich bei E. Bloch, Die antike Atomistik in der neueren Geschichte der Chemie, in: Isis 1, 1913, S. 376—415.
Forschungsübersicht
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thesen und beschränkt sich auf sinnliche Analogien, d. h. verwendet eine rein empiristische Sprache. Im weiteren Verlauf der Gassendi-Forschung wurde in verstärktem Maße Gassendis Verhältnis zu wichtigen philosophischen Richtungen und theologischen Positionen untersucht, die im 17. Jahrhundert eine bedeutsame Rolle gespielt haben: zum Skeptizismus, Materialismus, Späthumanismus, Empirismus oder Sensualismus, Rationalismus und Libertinismus. Beziehungen zwischen Gassendis Philosophie und diesen Strömungen sind zweifellos vorhanden und verdienen eingehende Untersuchungen. In den älteren Arbeiten wird Gassendi überwiegend als Vorläufer bestimmter moderner philosophischer Richtungen dargestellt, so von Lange als konsequenter Materialist, von Kiefl als kritischer antimaterialistischer Erkenntnistheoretiker; aber sein Materialismus bleibt der epikureische, sein Skeptizismus ist weiter nichts als sensualistische Kritik von Theorien 3 . Diese Auffassung blieb bestehen, auch wenn man bald mehr Mühe auf die historische Interpretation der im 17. Jahrhundert vorfindlichen Richtungen verwandte. In Frankreich stand zunächst der „Fall Gassendi" im Mittelpunkt des Interesses — die Frage also, ob Gassendi ein Libertin war oder nicht —, ein keineswegs rein biographisches Problem, weil hier letztlich die Vereinbarkeit der Gassendischen Physik mit Essentials der christlichen Theologie zur Diskussion stand. Pintard glaubte Gassendi eindeutig libertinistischer Neigungen überführen zu können; aber heute scheinen über seine Glaubenstreue kaum noch Zweifel zu bestehen: „der Fall Gassendi besteht nicht mehr"; die Textstellen, die Pintard noch als Belege für Gassendis Libertinismus anführte, gelten jetzt als Zeugnisse für den verzweifelten Versuch eines überzeugten Christen, seinen Glauben mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen 4 . Diesen Versuch ordnet
3
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Vgl. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Leipzig 1898 (6. Aufl.), Bd. I S . 2 2 3 - 2 3 4 ; F. X. Kiefl, Gassendi's Skepticismus und seine Stellung zum Materialismus, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft VI, 1899, S. 2 3 - 3 4 , 295-311, 361-373 („Gassendi's Bedeutung für die Geschichte des Erkenntnisproblems, und speziell für die Vorgeschichte des Kriticismus, liegt weniger in seinem extremen Sensualismus, als in der kritischen, ja skeptischen Verwendung desselben", S. 24). Etwas ausgewogener ist die Untersuchung von H . Berr, An iure inter secpticos Gassendus numeratus fuerit, Paris 1898 (franz. Übers.: Du scepticisme de Gassendi, Paris 1960); er betont anhand eines Vergleiches mit Bacon ebenfalls Gassendis empiristische Methodologie: „Bacon et Gassendi ne recommandent rien d'autre que la science fondee sur l'experience. Et meme au debut le second fait moins de cas la science que le premier: mais il avance avec plus de precaution; il multiplie observation et experience", S. 105 (Ausg. 1960). Vgl. ζ. B. R. Pintard, Modernisme, humanisme, libertinage — petite suite sur le „cas Gassendi", in: Revue d'Histoire de la France 48, 1948, S. 1 - 5 2 ; ders., Le libertinage
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Einleitung
Hess in die umfassende Bewegung des Späthumanismus und den dort entstehenden Konflikt zwischen Glauben und Wissen ein. Er zeigt außerdem, wie die Vereinigung der beiden im frühen 17. Jahrhundert fast schon unabhängigen späthumanistischen Richtungen, nämlich der rein philologischen Gelehrsamkeit und des Fachhumanismus, bei Gassendi zur Anerkennung des epikureischen Systems führt und wie sich das späthumanistische Bewußtsein der Vergänglichkeit und Instabilität des menschlichen Wissens bei Gassendi zur erkenntniskritischen Skepsis wandelt, die schließlich ein „Empirie-Kriterium" zur Sicherung des Wissens entwickeln hilft. Hier wie auch bei Popkin wird eine selbständige Leistung Gassendis gewürdigt, freilich weniger in der Sache als in der Methode; aber ähnlich wie Hess stellt auch Popkin Gassendis via media zwischen Skeptizismus und Dogmatismus als System methodischer Regeln dar, welches die Erfahrungsdaten zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis macht, Schritte hinter die alltägliche Erfahrung verbietet, Skepsis gegenüber der Anwendung der Mathematik in der Physik erzeugt und insofern dem modernen Pragmatismus und Positivismus sehr nahekommt — eine Auffassung, die auch in den wichtigen Untersuchungen Gregorys sowie in zahlreichen Bemerkungen anderer Autoren deutlich wird 5 .
5
erudit dans la premiere moitie du XVIIe siecle, Paris 1943 (zu Gassendi S. 147—156, 2 9 7 - 3 0 2 , 3 2 6 - 3 4 8 , 3 8 2 - 3 8 7 , 4 0 3 - 4 1 4 , 417f., 4 2 4 - 4 2 9 , 4 7 7 - 5 0 4 ) ; als Gegner Pintards hat sich vor allem Rochot erwiesen, der, freilich zuweilen mit Hilfe einseitiger Interpretationen, unverdrossen die Orthodoxie Gassendis verteidigt hat, vgl. ζ. B. B. Rochot, Le Cas Gassendi, in: Revue d'Histoire Litteraire de la France 47, 1947, S. 289—313; gegen Rochot argumentiert wiederum G . Cogniot, Pierre Gassendi, restaurateur de l'epicurisme, in: La Pensee 63, 1955, S. 25—35; ferner dazu J . S. Spink-, French Free-Thought from Gassendi to Voltaire, London 1960 (zu Gassendi S. 1 0 6 - 1 2 4 ) ; Μ. H. Gouhier, Rezension zu Pintard, Le libertinage . . . i n : Revue Philosophique 134, 1944, S. 5 6 - 6 0 . Dazu O . R . Bloch, La philosophic de Gassendi, La Haye 1971, S. X V : „Car le „cas Gassendi" n'en subsistait pas moins". G . Hess, Piere Gassend. Der französische Späthumanismus und das Problem von Wissen und Glauben, Jena/Leipzig 1939: „Die Einigkeit (zwischen Gassendi und Bacon) in der Wertschätzung der empirischen Methode ist offenbar (S. 88) . . . Vor allem wird die sinnliche Erfahrung zur Grenze naturphilosophischer Spekulation. Die meisten ihrer Behauptungen und Erklärungen, die die Empirie überschreiten, können keinen Anspruch auf Gültigkeit machen: die Physik als Wissenschaft von der Erscheinung der Dinge und ihrer Beziehungen allein vermittelt das dem Menschen entsprechende Wissen (S. 93) . . . Erkennen hat für ihn (sc. Gassendi) nicht als spekulatives Grübeln und erdenferne Intuition, sondern einzig als Entdecken neuer Zusammenhänge in der Erscheinungswelt einen Sinn" (ibid.); dazu vgl. R. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Descartes, Assen/New York 1964, Kap. 5 und 7, bes. S. 148f. (zum Gassendischen „Positivismus"). Ähnlich wird Gassendi ein „esprit materialiste et sensualiste" zugeschrieben (B. Rochot. Les travaux de Gassendi sur Epicure et sur l'atomisme, Paris 1944, S. 174) oder seine Methode als „phenomenisme" und „positivisme" bezeichnet (O. R. Bloch, La philo-
Forschungsübersicht
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K e i n e dieser U n t e r s u c h u n g e n berücksichtigt freilich ausreichend G a s sendis E i n f l u ß auf die Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinne, insbes o n d e r e auf die neue P h y s i k . D i e Beurteilung des Physikers Gassendi blieb d e n W i s s e n s c h a f t s h i s t o r i k e r n überlassen u n d w u r d e daher auf rein sachlicher E b e n e d u r c h g e f ü h r t . Angesichts der Unergiebigkeit der atomistischen P h y s i k bei d e r L ö s u n g einzelner F o r s c h u n g s p r o b l e m e entstanden n u r w e n i g e Studien speziell zu Gassendi; H i n w e i s e f i n d e n sich e n t w e d e r n u r in g r ö ß e r e n Z u s a m m e n h ä n g e n o d e r in k u r z e n A r t i k e l n zu einzelnen Problemen6.
D a b e i w u r d e Gassendi überwiegend als w e n i g
origineller
R e s t a u r a t e u r des epikureischen A t o m i s m u s angesehen 7 . W e n n aber ein
6
7
sophie de Gassendi, a. a. O. S. 94—100, vgl. S. VI). T. Gregory bemerkt in seiner Einleitung zu Gassendis Opera Omnia (Nachdr. Ausg. Lyon 1658. Stuttgart-Bad Canstatt 1964), Bd. I S. XVII: „Da nun das Erkennen auf diesem ultimativen Apell an die Erfahrung beruht, stellt sich die Wissenschaft nicht als die Erkenntnis eines Geflechtes von Wesenheiten, sondern als exaktes Erfahren dar; und Gassendis Zustimmung zur reinsten empiristischen Haltung ist derart, daß er sogar die Möglichkeit ausschließt, die Gegebenheiten der Erfahrung mit mathematischen Mitteln adäquat zu beschreiben . . . Eng verbunden mit der empiristischen Stellungnahme . . . ist die experimentelle Forderung . . .". Für Gassendi ist nach Gregorys Meinung „die Grundlage der Evidenz und die regula summa des Erkennens immer die sinnliche Evidenz und die experimentelle Prüfung" (ibid.). Vgl. ähnliche Äußerungen in Gregorys Buch Scetticismo ed empirismo — Studio su Gassendi, Bari 1961, S. 22ff., 40ff., 73ff., 121ff„ 157ff., 219ff. Weitere Aussagen zum angeblichen Empirismus Gassendis: „Yet it would be rather hard to dwell on this and to emphazise the flagrant incompatibility of Gassendi's argument with the empirical epistemology that he professed and, it must be added, had inherited from Epicurus . . ." (A. Koyre, Gassendi and Science in his Time, in: ders., Metaphysics and Measurement, London 1968, S. 127); „. . . ed (Gassendi) ha fallito nello scopo non tanto per mancanza di acume intellettuale quanto perche ha preteso di conciliare due concezioni assolutamente inconciliabili, quali PEmpirismo e la Metafisica dell'essere, ο piü in generale il materialismo con lo spiritualismo cristiano" (Τ. M. Bartolomei, L'empirismo eclettico semifenomista di Pierre Gassendi, in: Asprenas 11, 1964, S. 36); „None the less, an important forerunner of the British empiricists was Pierre Gassendi . . . He was not himself a very important scientist, . . . having no original research to his credit . . . Yet he was a scrupulous observer" (W. v. Leyden, Seventeenth-Century Metaphysics, London 1968, S. 35). Vgl. einerseits Ubersichtswerke wie R. Dugas, Mechanics in Seventeenth-Century Thought, Neuchätel 1958, S. 110-113; R. S. Westfall, Force in Newton's Physics, London/New York 1971, S. 9 9 - 1 0 9 ; Ε. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin . . . 1956, pass.; andererseits kürzere Untersuchungen vor allem zu Problemen der klassischen Mechanik, ζ. Β. P. A. Pav, Gassendi's Statement of the Principle of Inertia, in: Isis 57, 1966, S. 26—34; J. T. Clark, P. Gassendi and the Physics of Galileo, in: Isis 54, 1963, S. 352—370; Μ. H. Carre, Pierre Gassendi and the new philosophy, in: Philosophy 23, 1958, S. 112-121. Dies geht teilweise bereits aus den oben Anm. 5 gegebenen Zitaten hervor; als weitere Beispiele vgl. noch M. Boas (The Establishment of the Mechanical Philosophy, in: Osiris 10, 1950, S. 413—541): „Except for his complete rejection of the atheistical doctrines of Epicurus, Gassendi followed Epicurean theories without much change . . . Gassendi had
Einleitung
8
Forscher in dem Ruf steht, nichts Eigenes und Wichtiges geleistet zu haben, pflegt man sich auch für seine Methode nicht zu interessieren, und so fehlen in den wissenschaftshistorischen Arbeiten methodologische Bemerkungen zur Physik Gassendis fast völlig. Eine umfassende Gesamtdarstellung der Gassendischen Philosophie bietet neuerdings Bloch 8 . Ihre Konzeption beruht auf dem ambivalenten Eindruck, den Gassendis Werk bei den meisten seiner Leser hervorrufen dürfte, die einerseits Widersprüchlichkeiten zwischen metaphysischen bzw. theologischen Grundsätzen und wissenschaftlichen Behauptungen und andererseits Gassendis ernsthaftes Bemühen um Ausgleich und Kompromisse feststellen müssen. Darum behandelt Bloch zunächst die einheitlichen Grundgedanken („Konstanten") seiner Philosophie und dann gesondert ihre beiden unterschiedlichen Komponenten, die wissenschaftliche Philosophie und die materialistische Metaphysik. Der Vorzug dieser Darstellung liegt nicht nur in der Berücksichtigung und Ordnung der vielfältigen Gesichtspunkte, unter denen man Gassendis Philosophie betrachten kann, sondern auch in einer überzeugenden philologischen Interpretation, deren Stärke oft in Vergleichen mit wenig bekannten und nicht publizierten Manuskripten aus der jahrzehntelangen Redaktionszeit des Syntagma Philosophicum liegt, so daß die Entwicklung der Gassendischen Vorstellungen viel differenzierter als bisher beschrieben werden kann. So erhält man ζ. B. interessante Aufschlüsse über die Entstehung elementarer physikalischer Kategorien wie „Materie", „Raum" und „Zeit" oder zur Konzeption des spezifischen atomistischen Dynamismus (Begriff der „materia actuosa") 9 . attempted to discard Aristotelean explanations . . . in this however he had followed quite closely the explanations offered by Epicurus and Lucretius, with the minimum of modification" (S. 434); A . K o y r e (Gassendi and Science in his time, a. a. O . ) : „It was precisely Democritean (or Epicurean) ontology, that he modified by doing away with the clinamen and unwieldiness, but of which he retained the essential feature . . ." (S. 1 1 9 ) ; ders. (From the closed world to the infinite universe, Baltimore 1957) „The atomisme of the ancients, at least in the aspect presented to us by Epicurus and Lucretius . . . has never been able to yield a foundation f o r development of a physics; not even in modern times: indeed its revival by Gassendi remained perfectly sterile" (S. 278) . . . „Gassendi is not an original thinker and does not play any role in the discussion I am studying" (S. 290); J. Ε. M. Mc Guire (Atoms and the „Analogy of Nature", in: Studies in History and Philosophy of Science 1, 1970, S. 3 — 78): „Based on a comprehensive exposition of the principles of Epicurus, Gassendi's approach to atomism is essentially historical" (S. 7); auch Dijksterhuis konstatiert nur die Ubereinstimmung zwischen Epikur und Gassendi (Mechanisierung . . . a. a. O . S. 476). 8
9
Vgl. O . R. Bloch, La philosophie de Gassendi, La Haye 1971. Ferner ders., rationaliste du 17e siede: Gassendi, in: Cahiers rationalistes 160, 1957, S. 2 7 - 3 1 . Vgl. O . R. Bloch, La philosophie de Gassendi, a. a. O . S. 172 und 2 0 2 - 2 3 2 .
Un
Forschungsübersicht
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Indessen interessiert sich Bloch hauptsächlich für den sachlichen Gehalt der Philosophie Gassendis, für ihre ontologischen,
nominalisti-
schen, materialistischen oder theologischen Aspekte. In methodologischer Hinsicht übernimmt er jedoch die Behauptungen seiner Vorgänger. Gassendis atomistische Physik gilt ihm als bloße Restauration der epikureischen Physik, wenn er auch den geistesgeschichtlichen Wert dieser Wiederbelebung in der Situation des frühen 17. Jahrhunderts anerkennt 10 . Die Angleichung an Epikur erstreckt sich nach Blochs Meinung auch auf Gassendis Methodologie, die er nur mangelhaft ausgearbeitet sieht: er vermißt eine klare Methodologie des Experimentes, eindeutige Aussagen über den epistemologischen Status von Beobachtung und Experiment 11 . Gassendis Standpunkt wird freilich von Bloch empiristisch interpretiert: die Hochschätzung reiner Wahrnehmungsdaten, die streng empirische Kritik an der Scholastik ebenso wie an jeder anderen systematischen Konstruktion, wie Bloch sie bei Gassendi entdeckt haben will, sind Elemente eines nicht näher definierten Empirismus 12 . 10
In dieser Hinsicht stimmt Bloch der Auffassung von Koyre zu, daß Gassendi weniger Wissenschaftler oder Philosoph als Gelehrter gewesen ist: „L'atomisme de Gassendi, s'il n'etait chez lui que resurrection de celui d'Epicure et de Lucrece, ne serait, nous l'accordons volontiers ä Koyre, pas celui d'un savant. Ii est vrai que ce ne serait pas non plus celui d'un philosophe, mais d'un erudit. Et assurement la part la plus importante du travail de Gassendi en ce domaine est du ressort d'une erudition d'ailleurs remarquable. Encore celle-ci serait-elle loin d'etre sans importance pour l'histoire de la pensee scientifique, s'il est vrai que seul le retour ä la pure tradition democriteenne et epicurienne a pu fournir a l'ontologie atomistique du 17e siecle . . . les assises solides qui faisaient defaut ä r„atomisme" courant chez les humanistes, medecins ou physiciens de la fin du 16e et de debut du 17e siecle" (La philosophic de Gassendi, a. a. O . S. 160).
11
Vgl. La philosophie de Gassendi a. a. O . S. 45—52 und zusammenfassend S. 69: „Nous avons dit dejä que les professions de foi empiristes qui scandent toute l'oeuvre, des Exercitations au Syntagma, valent bien plus par leur aspect critique et polemique que comme un prelude ä une theorie positive de l'experience et de ^experimentation, que l'on n'y trouve guere". Vgl. ζ. Β . La philosophie de Gassendi a. a. O . S. 4 7 : „Mais ces instruments et ces methodes ne visent justement ä rien d'autre qu'ä eliminer les illusions, les deformations et les imprecisions inherentes ä la structure de nos organes sensoriels et aux processus psychophysiologique de la perception, pour degager dans sa nudite et dans sa purete l'observation elle-meme . . . Plus encore que l'exigence de „liberte" philosophique, c'est assurement cette attitude resolument empiriste et naturaliste qui fonde la critique que Gassendi porte contre l'absurdite de l'ordre scolastique, et plus generalement contre toute construction systematique ne repondant qu'ä des motifs intellectuels, ainsi que contre toute formalisme logique ou methodologique". Bloch stimmt mit Gregory (vgl. dessen Scetticismo ed empirismo a. a. O . S. 27, 70—77) darin überein, daß Gassendis Methodologie dem modernen Empirismus sehr nahe kommt, abgesehen vielleicht von ihrem kontemplativen Charakter: „Certes cette conception speculative ne l'est nullement au sens de la speculation philosophique de type scolastique ä laquelle Gassendi oppose justement ses appels ä revenir aux choses memes; eile repose bien, comme y insite avec
12
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Einleitung
Erfreulicherweise zeigt die erst nach Abschluß der vorliegenden Arbeit erschienene Studie von R. Tack, daß man Gassendi auch im deutschsprachigen Raum philosophische Bedeutung zuzumessen beginnt13. Tack beschäftigt sich speziell mit dem Philosophie- und Wissenschaftsbegriff Gassendis, und zwar durchaus unter historischen wie systematischen Aspekten. Hauptanliegen seiner Arbeit ist es, die Herausarbeitung eines konsistenten Philosophie- und Wissenschaftsentwurfes durch Gassendi als philosophische Leistung, auch im Verhältnis und Gegensatz zu Descartes, zu würdigen. In diesem Zusammenhang betrachtet Tack Gassendis Arbeit vor allem als einen durchweg gelungenen Versuch, innerhalb einer atomistischen Physik und hypothetischen Ontologie die volle erkenntnistheoretische Geltung des Skeptizismus und Sensualismus zu bewahren14. Unter diesem leitenden Gesichtspunkt werden viele Probleme und Problemlösungen Gassendis in durchaus adäquater Weise dargestellt und, wo es erforderlich schien, rekonstruiert15; indessen bleibt doch fraglich, ob eine fundamentale Theorie wie die atomistische Physik methodologisch konsistent sein kann mit einem wie immer gearteten Sensualismus. Zwar sieht Tack eine Entwicklung des Gassendischen Denkens von einem rein nominalistischen und skeptizistischen Sensualismus zu einer hypothetischen Ontologie in Gestalt der atomistischen Physik, in welcher der ursprüngliche Sensualismus in gleichsam Hegelscher Weise „aufgehoben" sein soll, aber der Wissenschaftsbegriff Gassendis bleibt seiner Auffassung nach dennoch vom Modell der scientia experimentalis als eines Wissens von den Affektionsweisen der Dinge beherrscht — ein Wissenschaftsbegriff, der allein durch den hypothetischen Charakter einer fundamentalen Theorie kaum mit deren Erkenntnisansprüchen zu vereinbaren ist16. Diesem force et lucidite T. (Text: M.) Gregory, sur une conception nouvelle du savoir, propre ä Pempirisme moderne . . ." (S. 69). Schließlich weist auch das Inhaltsverzeichnis Gassendis „Empirismus" als Untersuchungsgegenstand aus („signification polemique et critique de l'empirisme de Gassendi" (S. V ) ; „caractere contemplativ de l'empirisme gassendiste" (ibid·»· 13
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R. Tack, Untersuchungen zum Philosophie- und Wissenschaftsbegriff bei Pierre Gassendi ( 1 5 9 2 - 1 6 5 5 ) , Meisenheim 1974. Vgl. R. Tack, a. a. O . S. 8 - 1 0 . Informativ ist v o r allem der I. Teil der Arbeit (S. 13—105), der Gassendi in die philosophischen Traditionen des Skeptizismus und Sensualismus einordnet und insbesondere sein Verhältnis zu Descartes beschreibt. Dies gilt auch f ü r die Darstellung des Verhältnisses von Gassendi und Epikur im Bereich der Seelenlehre und Ethik (S. 194—224). Wie kann einerseits „der Sensualismus und damit die Primärgeltung der Sinneswahrnehmungen (was heißt das genauer?) allezeit die Signatur seiner (sc. Gassendis) Erkenntnistheorie" (S. 57) und „Wissenschaft das Wissen um die auf den Menschen zentrierten Erscheinungs- und Affektionsweisen der Dinge" (S. 106f.), also eine Er-
Forschungsübersicht
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I n t e r p r e t a t i o n s a n s a t z entsprechend w i e d e r h o l t Tack, übrigens gerade auch in b e z u g auf Gassendis G a l i l e i - R e z e p t i o n , die traditionelle m e t h o d o l o gische E i n s c h ä t z u n g Gassendis als eines experimentierfreudigen
Natur-
f o r s c h e r s , d e r a u ß e r in theologisch wichtigen Fragen w e d e r sachlich v o n E p i k u r w e s e n t l i c h a b w e i c h t noch überhaupt theoretisch besonders begabt o d e r interessiert i s t 1 7 . Ü b e r b l i c k t m a n die v e r s t r e u t e n m e t h o d o l o g i s c h e n B e m e r k u n g e n in den U n t e r s u c h u n g e n z u r P h i l o s o p h i e Gassendis im ganzen, so läßt sich feststellen, d a ß z w e i Behauptungen i m m e r w i e d e r k e h r e n : erstens, Gassendi h a t die epikureische P h y s i k und damit deren M e t h o d e fast u n v e r ä n d e r t ü b e r n o m m e n ; z w e i t e n s , die Gassendische M e t h o d o l o g i e ist empiristisch. D i e z w e i t e B e h a u p t u n g f o l g t einerseits aus der ersten, weil insbesondere die epikureische K a n o n i k empiristisch ist, w i r d aber unabhängig d a v o n d u r c h d e n H i n w e i s gestützt, daß Gassendi eine Wissenschaft v o n den E r s c h e i n u n g e n (scientia apparentiae o d e r experimentalis) propagiert, d. h. betont,
daß gesicherte Aussagen n u r über die Erscheinungsweise
von
G e g e n s t ä n d e n m ö g l i c h sind, nicht aber über ihre innere N a t u r o d e r ihr W e s e n , d a ß er f e r n e r B e o b a c h t u n g und Experiment in der Wissenschaft
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scheinungswissenschaft" (S. 110) bleiben, wenn andererseits Wissenschaft auf „kausale Erklärungen" zielt (S. 59), und zwar mit Hilfe einer atomistischen Hypothese über die Struktur der Wirklichkeit, die ebenso „zur systematischen und einheitlichen Erklärung der Phänomene" (S. 110) wie zur „vollständigen Beschreibung der in der Natur tätigen Kräfte und ihres Wirkens befähigt" (S. 115)? Ein konsequenter Sensualismus, der übrigens, systematisch gesehen, eindeutig solipsistische Konsequenzen hat, schließt jede Diskussion um den Wahrheitswert, ja auch nur um den probabilistischen Status einer tiefen theoretischen Hypothese aus und umgekehrt. Charakteristisch für diese Einschätzung ist etwa Täcks Urteil über Gassendis Beiträge zur Vakuumtheorie und zu Trägheits- und Kraftproblemen: „Insgesamt darf man wohl sagen, daß die theoretische Physik Gassendis Sache nicht war . . . Hingegen hat er sich als Experimentator verdient gemacht. Er hat die Experimente, die Pascal über den Luftdruck auf dem Puy de Dome 1647 angestellt hatte, im Jahre 1650 in der Gegend von Toulon nachvollzogen und so den experimentellen Beweis der Möglichkeit eines Vakuums erbracht. Ferner hat er als erster experimentell nachgewiesen, daß eine vom Mast eines fahrendes Schiffes hinabfallende Kugel . . . tatsächlich am Fuß des Mastbaums das Deck erreicht" (S. 184f.). Gassendis ausführliche theoretische Interpretation dieser Experimente bleibt völlig unberücksichtigt! Bezeichnend auch Täcks allgemeines Urteil über Gassendi im Schlußsatz seiner Arbeit, das jedenfalls unter methodologischem Aspekt durch die angeführten Belege und Interpretationen keinesfalls hinreichend gestützt wird: „Gassendi war kein produktiver Wissenschaftler. Er war ein humanistischer Gelehrter, Archivar und Kompilator, ein im Grund „konservativer" Philosoph . . . Dies ist wohl ausschlaggebend dafür gewesen, daß die wissenschaftstheoretischen Anregungen, die seinem Werk entnommen werden können, erst unter gänzlich veränderten Verhältnissen, im modernen Empirismus und Pragmatismus, entwickelt wurden und zur Geltung gelangten. Aber dazu bedurfte es dann nicht mehr Gassendis" (S. 226).
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Einleitung
für notwendig hält und von hier aus verschiedene spekulative Naturphilosophien des 16. und frühen 17. Jahrhundert kritisiert, daß er auch selbst als eifriger Experimentator tätig war und daß er schließlich, unter Verweis auf die mangelnde Exaktheit physikalischer Erkenntnis, die Mathematik als Hilfsmittel zur Beschreibung der Natur geringschätzt. Zu diesem Bild der Gassendischen Methodologie der Physik müssen zwei kritische Bemerkungen gemacht werden; die eine ist methodisch, die andere systematisch. Zunächst ist auffallend, daß die genannten Behauptungen niemals durch eine eingehende Analyse der physikalischen Argumentation Gassendis begründet werden. In den mehr geisteswissenschaftlich orientierten Arbeiten stützt man sich ausschließlich auf die expliziten methodologischen Bemerkungen Gassendis, die zudem meist nur oberflächlich und ungenau interpretiert werden; in den wissenschaftshistorischen Untersuchungen beschränkt man sich auf die Feststellung der weitgehenden sachlichen Übereinstimmung der Gassendischen Physik mit den Ergebnissen antiker Atomistik oder frühneuzeitlicher Physik. Die Methode, die Gassendi in seinen Überlegungen verfolgt, wird demgegenüber völlig unberücksichtigt gelassen, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil es mühsam ist, seine eigenen Argumente aus dem Wust historischer Referate und philologischer Reminiszenzen herauszuschälen. Dazu kommt noch, daß man sich die Grundzüge der epikureischen Methodologie nicht hinreichend klarmacht und sie so möglicherweise vorschnell mit derjenigen Gassendis identifiziert. Systematisch muß dagegen bemängelt werden, daß keiner der Autoren klar definiert, was er unter „Empirismus" verstanden wissen will, und daß auch andere methodologische Unklarheiten die Bewertung der Gassendischen Physik belasten. Der Hinweis auf Gassendis Hochschätzung von Beobachtung und Experiment ist durchaus ambivalent, weil erst die genaue Kennzeichnung von Stellenwert und Funktion empirischer Erfahrung in der Wissenschaft über den methodologischen Standpunkt entscheidet; eine quantitative Sprache, die die Anwendung der Mathematik gestattet, erhöht natürlich die Präzision und damit den empirischen Gehalt einer Theorie, ist aber weder notwendig noch hinreichend für ihre Wissenschaftlichkeit, d. h. ist kein Kriterium dafür, ob eine Theorie überhaupt empirischen Gehalt (empirische Konsequenzen) hat. Aufgabe einer Spezialstudie zur Methodologie der Gassendischen Physik ist es, diese beiden Mängel zu vermeiden: erst nach gründlicher Analyse der einzelnen Argumente Gassendis und nach hinreichend klarer Explikation der methodologischen Kriterien, die man zu verwenden gedenkt, sollte ein Urteil über Gassendis Methodologie abgegeben wer-
Forschungsübersicht
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den. N u n ist, wie wir gesehen haben, immer wieder die Verwandtschaft dieser Methodologie mit dem modernen Empirismus oder Positivismus betont worden. Dieser Empirismus läßt sich durch die beiden Aussagen charakterisieren, daß alle sinnvollen Sätze entweder analytisch oder empirisch prüfbar sind und daß Beobachtungen notwendig und hinreichend sind zum Nachweis der Wahrheit empirischer Sätze. Die erste dieser beiden Aussagen dürfte kein Autor des 17. Jahrhunderts vertreten haben; Sätze über Gott oder über die Seele, aber auch allgemeine philosophische Annahmen, etwa der Mechanismus, die weder analytisch noch empirisch prüfbar sind, galten zweifellos als sinnvoll. Die zweite Aussage dagegen soll, wie die angegebenen Zitate zeigen, offenbar auch für Gassendi gelten, und zwar in ihrer fundamentalistischen Fassung 1 8 . Denn wenn reine Wahrnehmungen als empirische Basis angesehen werden, wenn Empirismus die sinnliche Erfahrung als Grenze der Erkenntnismöglichkeit definiert und jede systematische Konstruktion (von Theorien) ausschließt, dann ist genauer der empirische Fundamentalismus gemeint, demzufolge nur diejenigen Aussagen zulässig sind, die aus der empirischen Basis herleitbar sind. Gassendi war Atomist und Mechanist und hat nicht nur die Ausarbeitung der atomistischen Physik betrieben, sondern auch in wichtigen Gebieten der Makrophysik, etwa der Formulierung neuer mechanischer Grundbegriffe, der Vakuum- und Luftdrucktheorie oder der Deutung der Projektilbewegung, ernstzunehmende wissenschaftliche Beiträge geliefert. Das heißt, er hat tiefe und theoretische Hypothesen über nicht wahrnehmbare Entitäten anerkannt und gerade in jenen Bereichen Wichtiges geleistet, in denen vornehmlich rigorose theoretische Spekulationen erforderlich waren, wenn man Fortschritte erzielen wollte. Es ist daher von vornherein unwahrscheinlich, daß er in den verschiedenen einzelnen Erör-
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„Fundamentalistisch" nenne ich einen erkenntnistheoretischen Standpunkt dann, wenn als Basis eine Menge von Sätzen ausgezeichnet wird, die evidentermaßen wahr sein sollen, und wenn ferner behauptet wird, daß genau diejenigen Sätze wahr sind, die aus der Basis herleitbar sind; besteht die Basis aus empirischen Sätzen, so heißt der Fundamentalismus „empirisch". In der Popper-Schule wird der Fundamentalismus zuweilen auch „Justifikationismus" („Rechtfertigungsdenken") (vgl. ζ. Β. I. Lakatos: Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: I. Lakatos/A. Musgrave (Hrsg.) Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974, S. 92) oder „Offenbarungsmodell der Erkenntnis" genannt (vgl. ζ. Β. H . Albert: Traktat über Kritische Vernunft, Tübingen 2 1969, S. 15ff., im Anschluß an Popper selbst, etwa seinen Aufsatz: O n the sources of knowledge and ignorance, in: ders., Conjectures and Refutations, London 1963, S. 2 - 3 2 ) .
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Einleitung
terungen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, die Regeln des empirischen Fundamentalismus streng befolgt hat. Sollte er hier in der Tat von diesen Regeln abgewichen sein, so wäre ferner die Behauptung, er habe zumindest in seine expliziten methodologischen Bemerkungen den empirischen Fundamentalismus akzeptiert, nur aufrechtzuerhalten, wenn man bereit wäre zuzugeben, daß flagrante Widersprüche zwischen seiner Methodologie und seinem tatsächlichen Vorgehen bestehen — daß er sich also in keiner Weise über die von ihm selbst befolgte Methode im klaren war. Das ist natürlich logisch nicht ausgeschlossen, aber doch wenig befriedigend. Vergegenwärtigt man sich die Gegenstandsbereiche der physikalischen Untersuchungen Gassendis, so ist es nicht abwegig zu vermuten, daß hier vielmehr Ansätze zu einer neuen Methodologie sichtbar werden, die man vorläufig durch das geläufige Schlagwort „hypothetisch-deduktives Modell" kennzeichnen könnte. Heute bestehen freilich teils grundsätzlich, teils in Nuancen unterschiedliche Vorstellungen über „ d i e " wissenschaftliche Methodologie und auch über „ d a s " hypothetisch-deduktive Modell. Diese Differenzen können hier natürlich nicht diskutiert werden; aber in einer historischen Textanalyse wie sie die folgende Untersuchung darstellt, ist es auch weder notwendig noch möglich, methodologische Feinheiten anzuwenden. Denn es wird sich um den ersten, daher unvermeidlich groben methodologischen Zugang zu einem Text handeln, der seiner Konstruktion nach keineswegs neuzeitlichen Vorstellungen von einer wissenschaftlichen Theorie entspricht. Es ist daher ausreichend für die folgende Untersuchung, wenn das hypothetisch-deduktive Modell durch folgende, mit dem empirischen Fundamentalismus unvereinbare Aussagen charakterisiert wird: Wahrnehmungen sind niemals rein, sondern stets von theoretischen Vorstellungen durchsetzt; sie bilden keine Herleitungsbasis für theoretische Hypothesen, sondern haben diesen gegenüber korrektive Funktionen; sie sind schließlich ebenso wie Experimente stets unterschiedlich theoretisch interpretierbar. Theorien sind nicht Folgerungen empirischer Sätze, sondern freie, meist an allgemeineren metaphysischen Grundsätzen orientierte und möglichst logisch wohlgeordnete Spekulationen; sie sollen empirischen Gehalt, d. h. empirische Konsequenzen haben, so daß einige empirische Tatsachen von ihnen ausgeschlossen werden; sie sollen schließlich empirisch geprüft und bei hinreichender empirischer Gegenevidenz und dem Bestehen neuer, besserer Theorien verworfen werden. Aus diesen sechs Sätzen folgt unter anderem, daß Theorien nicht beweisbar sind.
Systematische Vorüberlegungen
15
Die Aufgabe der folgenden Untersuchung kann jetzt folgendermaßen formuliert werden: durch Interpretation expliziter Bemerkungen Gassen dis und durch Analyse seiner physikalischen Argumentation soll geprüft werden, ob er die Regeln eines eklektischen (an Epikur angelehnten) empirischen Fundamentalismus vertritt und befolgt oder ob er sich zumindest in Ansätzen am hypothetisch-deduktiven Modell orientiert. Im ersten Hauptteil wird daher ein Vergleich zwischen Epikur und Gassendi durchgeführt, soweit er möglich ist; im zweiten Hauptteil stehen hauptsächlich Gassendis Erörterungen von Hypothesen frühneuzeitlicher Physik zur Diskussion.
0.3. Systematische
Vorüberlegungen
Die vorstehende Festlegung der Aufgabe unserer Untersuchung mag zu der Frage Anlaß geben, ob es überhaupt zulässig ist, einen Text des 17. Jahrhunderts mit Hilfe vereinfachter moderner Kategorien zu analysieren. H i n t e r dieser Frage steht der Verdacht, daß man auf diese Weise dem Verfasser eines historischen Textes nicht gerecht werden kann, daß man also nicht imstande sein wird, die Bedeutung dieses Textes hinreichend zu erfassen. Dazu, so lautet eine häufig geäußerte Uberzeugung, bedarf es hauptsächlich der Kenntnis des historischen Kontextes in möglichst vielen seiner Aspekte; auf diesem Hintergrund ist der zu untersuchende Text zu betrachten. Zuweilen werden derartige Behauptungen auch durch eine spezifisch hermeneutische Theorie des Verstehens untermauert, nach welcher das Verstehen von Handlungen und Texten scharf zu unterscheiden ist von der Erkenntnis naturgesetzlicher Vorgänge. Die weitverzweigte Diskussion um die Hermeneutik an dieser Stelle aufzunehmen, würde vermutlich zu weit führen. Es genügt zu bemerken, daß Historiker und Textinterpreten zweifellos spezifische Probleme haben, die Naturwissenschaftler nicht zu bewältigen brauchen, und umgekehrt, daß das Vorgehen aller Wissenschaftler aber grundsätzlich insofern ähnlich ist, als stets eine Hypothese aufgestellt wird, die anhand ihrer Folgerungen zu prüfen ist. Das gilt auch für die folgende Untersuchung: wir vermuten, daß sich in Gassendis Logik und Physik Elemente einer deduktiv-hypothetischen Methodologie entdecken lassen. Daraus folgt unter anderem, daß sich diese Methodologie vom empirischen Fundamentalismus Epikurs unterscheidet, daß Gassendis SignaLehre eine nicht-fundamentalistische Deutung erlaubt, daß er die atomisti-
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Einleitung
sehe Physik auf ihre Erklärungskraft hin prüft, daß er seine physikalischen Ergebnisse nicht aus empirischen Sätzen folgert, und ähnliches mehr. Diese Folgerungen sind dann am Text zu prüfen. Wie jeder Naturwissenschaftler erliegt auch der Textinterpret nicht selten der Versuchung, den Untersuchungsgegenstand im Sinne seiner eigenen Hypothese zu deuten; aber dieser Versuch wird um so leichter kontrollierbar sein, je präziser die Hypothesen formuliert werden und je zahlreicher ihre Konsequenzen sind. Der Einwand, daß ein bestimmter Interpretationsansatz, eine bestimmte Hypothese, von vornherein ungeeignet sei, um der Bedeutung eines Textes näherzukommen, setzt offenbar voraus, daß es eine und nur eine Bedeutung dieses Textes gibt; und dahinter steht vermutlich die weitverbreitete Auffassung, daß es in der Textinterpretation letztlich die historisch einmalige Persönlichkeit des Verfassers zu erkennen gelte. Die Wissenschaftsmethodologen sind jedoch inzwischen überzeugt, daß es logisch unmöglich ist, einen beliebigen Gegenstand in seiner vollen Einmaligkeit zu erfassen, weil dies nur mit Hilfe einer unendlichen Satzmenge geschehen könnte. Man muß daher davon ausgehen, daß jede Erkenntnis notwendig selektiv ist, schon insofern sie ihrerseits das Ergebnis von Problemselektionen ist. Unter der Voraussetzung, daß wir auf das Ziel einer getreuen Nachzeichnung des Gassendi-Bildes im ganzen verzichten, muß also jede Hypothesenbildung, die aus irgendwelchen Gründen interessant erscheint, erlaubt sein. O b sie fruchtbar ist oder nicht, kann erst die Prüfung selbst zeigen; sie a priori zu verbieten, käme einer irrationalen Beschränkung der Forschung gleich. Jeder Interpret eines historischen Textes trägt ohnehin zumindest implizit eigene Kategorien an den Text heran; das folgt schon aus der Wahl der Fragestellungen, die er trifft, und die schließlich von seinen Interessen bestimmt wird. Wenn beispielsweise Gassendi als Empirist bezeichnet oder seine Physik qualitativ genannt wird, so liegen diesen Kennzeichnungen ohne Zweifel bestimmte Vorstellungen von Empirismus und qualitativer Struktur einer Theorie zugrunde, die zudem direkten Wertungen unterliegen. Wir haben in der Forschungsübersicht gesehen, daß es sich verhängnisvoll auswirken kann, wenn derartige Vorstellungen nicht expliziert werden: undifferenzierte Betrachtungsweise und inadäquate Beurteilung sind die Folge. Es kommt daher weniger darauf an, die Illusion aufrechtzuerhalten, daß die Interpretation eines historischen Textes ohne jede Beimischung von Kategorien durchgeführt werden kann, die nicht aus seiner Abfassungszeit stammen, sondern vielmehr darauf, die
Systematische Vorüberlegungen
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notwendige Inhärenz zeitlich jüngerer Kategorien möglichst transparent zu machen. Daraus darf und kann allerdings nicht geschlossen werden, daß die Berücksichtigung des historischen Kontextes in der historischen Textinterpretation keinerlei wesentliche Rolle spielt. Die allgemeine Beschreibung der Funktion von Darstellungen des historischen Kontextes und der Anwendung moderner Kategorien und deren Beziehung zueinander kann hier nicht gegeben werden, sondern müßte von einer systematischen Hermeneutik geleistet werden. Aber speziell in Hinsicht auf die folgende Untersuchung kann doch eine Unterscheidung getroffen werden, die für unsere Zwecke ein wenig mehr Klarheit verschafft. Wenn nämlich insbesondere wissenschaftliche Theorien den Gegenstand der Untersuchung bilden, so muß natürlich unterschieden werden zwischen der Problemstellung, die diese Untersuchung leitet, und der Problemstellung, deren Lösung die untersuchte Theorie ist. Eine Theorie durch eine Untersuchung verständlich zu machen, heißt, die Einsicht zu fördern, daß diese Theorie die adäquate Antwort auf eine gegebene Fragestellung ist; insbesondere fördert die methodologische Untersuchung einer Theorie die Einsicht, mit welchen Mitteln oder nach welchen Regeln die (adäquate) Antwort auf eine gegebene Fragestellung, also die untersuchte Theorie, konstruiert wurde. Die methodologische Untersuchung einer Theorie macht also die Beschreibung des Problems erforderlich, das sie zu lösen beansprucht, und wenn die untersuchte Theorie, wie im Falle Gassendis, im 17. Jahrhundert entwickelt wurde, dann ist die Problemstellung eine historische, und ihre Darstellung ist gerade die Beschreibung des historischen Kontextes, in den die Theorie eingebettet ist. In diesem Sinne wird auch die folgende Analyse der Gassendischen Physik den historischen Kontext in die Untersuchung einbeziehen: wo Gassendis Aussagen sich besonders eng an die Philosophie Epikurs anschließen, wird Epikurs Auffassung dargestellt, ansonsten wird stets eine Ubersicht über den Diskussionsstand der betreffenden Fragestellung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorausgeschickt. Es ist also klar, daß die Problemstellung der untersuchten Theorie auf den historischen Kontext bezogen werden muß; aber daraus folgt nicht, daß auch die Problemstellung der Untersuchung auf den historischen Kontext der untersuchten Theorie bezogen werden muß. Natürlich ist diese Möglichkeit weder auszuschließen noch überhaupt kritisierbar. Einer methodologischen Analyse der Gassendischen Physik könnte auch die Hypothese zugrunde liegen, daß hier Grundzüge einer im 17. Jahrhundert
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Einleitung
üblichen Wissenschaftsmethodologie, die freilich erst noch darzustellen wären (sofern es sie überhaupt gibt), verwirklicht oder vielleicht auch nicht verwirklicht sind. Die Untersuchung der Beziehung Gassendis zum Skeptizismus seiner Zeit ist ein Beispiel dafür. Derartige Hypothesen sind möglicherweise fruchtbarer als die im folgenden zugrunde gelegte Vermutung, aber sie sind sicher nicht die einzig möglichen. Die Suche nach Elementen einer neuen, erst später klar formulierten Methodologie tut einem historischen Text keine Gewalt an, sofern dieser seinen Problemstellungen nach in den historischen Kontext eingebettet wird. Sie kann bei einigem Erfolg das historische Verständnis ebenso fördern wie historisch bezogene und bestätigte Untersuchungshypothesen. So ist es beispielsweise das Ziel der folgenden Untersuchung nachzuweisen, daß die bisherige methodologische Kennzeichnung der Gassendischen Physik korrekturbedürftig ist. Hypothesenbildung soll zwar frei sein, ist aber im allgemeinen doch durch übergeordnete Gesichtspunkte motiviert, die im Falle der Textinterpretation über das Interesse am historischen Verständnis des Textes hinausreichen können. So ist auch die folgende Untersuchung nicht nur ein Stück Methodologiegeschichte. Die Wissenschaftsmethodologie des 20. Jahrhunderts enthält, wie frühere Entwürfe dieser Art, Regeln, deren Befolgung dazu beitragen soll, den Wissenschaftsfortschritt zu fördern. Diese Regeln können zwar sicher nicht als hinreichend, wohl aber als notwendig angesehen werden: man kann annehmen und nimmt in der Tat weithin an, daß Wissenschaftler bewußt oder unbewußt nach ihnen gearbeitet haben, wo immer sie Fortschritte erzielen konnten. Diese Annahme läßt sich nun auf Gassendi spezialisieren: schon ein flüchtiger Blick auf seine Physik zeigt, daß er auf vielen Gebieten an der aktuellen Diskussion beteiligt war und daß nicht wenige seiner Auffassungen sich durchgesetzt haben. Daher liegt die Vermutung nicht fern, daß er zumindest in diesen Bereichen sich nach den Grundzügen des hypothetisch-deduktiven Modells gerichtet hat. Erst an dieser Stelle zeigt sich, daß die Annahme, die der folgenden Untersuchung zugrunde liegt, in der Tat nicht nur ein Interpretationsschema ist, eine Möglichkeit neben anderen, einen Text zu verstehen, sondern daß sie eine echte Hypothese ist, die scheitern kann. Denn es ist keineswegs logisch unmöglich, daß nicht jeder Erfolg in der Wissenschaft gemäß den heute anerkannten methodologischen Regeln erzielt worden ist — daß diese Regeln also nicht einmal notwendig sind für den Wissenschaftsfortschritt. Wenn schließlich derartige negative Fälle gehäuft entdeckt würden, so wäre damit die Methodologie selbst ge-
Systematische Vorüberlegungen
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fährdet. Der Versuch, moderne methodologische Regeln auf historische Texte anzuwenden, ist demnach gleichzeitig stets eine Prüfung dieser Regeln. Die Verwendung der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte (die sich im 17. Jahrhundert noch nicht trennen lassen) als empirischer Basis für Behauptungen der Wissenschaftsmethodologie ist jedoch keineswegs unumstritten und wird in jüngster Zeit verstärkt diskutiert. Die größte Schwierigkeit hat man darin gesehen, daß Methodologien Systeme normativer Sätze sind, die Beschreibung der Wissenschaftsgeschichte aber aus deskriptiven Sätzen besteht. Die logischen Beziehungen zwischen normativen und deskriptiven Sätzen bilden ein kontroverses und kompliziertes Thema, das hier nicht weiter behandelt werden kann. Zum Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und Methodologie dürfte die Bemerkung ausreichen, daß deskriptiv festgestellt werden kann, welchen Regeln bestimmte Argumentationen empirischer oder theoretischer Art genügen. Wenn diese Argumentationen nun unabhängig davon eine positive oder negative Bewertung erfahren — d. h. wenn sie durch einen normativen methodologischen Basissatz beschrieben werden, der im Nachhinein Erfolg oder Mißerfolg konstatiert —, so kann entschieden werden, ob diese Regeln zum Kodex methodologischer Normen gehören oder nicht. Die deskriptive Feststellung der in der Wissenschaftsgeschichte befolgten Regeln zusammen mit der Bewertung des Ergebnisses einzelner Argumentationen durch die Gruppe der Wissenschaftler dürfte also eine Uberprüfung normativer Methodologien gestatten. Allerdings müssen damit Erfolgs- oder Fortschrittskriterien vorausgesetzt werden, die unabhängig sind von den überprüften methodologischen Regeln. Diese Voraussetzung ist jedoch vermutlich eher theoretisch als praktisch problematisch. Ähnlich wie die background-Theorien, die für die Anerkennung empirischer Basissätze erforderlich sind, im Prinzip problematisiert werden können, im Einzelfall aber meist übereinstimmend akzeptiert werden, könnten auch die Erfolgskriterien, die die Bewertung einzelner wissenschaftlicher Argumentationen, also die Anerkennung normativer methodologischer Basissätze leiten, im Prinzip problematisiert werden, führen aber im Einzelfall meist nicht zu unterschiedlicher Beurteilung 19 . Daß ζ. B. Gassendis Erklärung des Fallgesetzes oder seine Interpretation der Projektilbewegungen
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Dazu jetzt genauer: W. Detel: Methode und Erkenntnisfortschritt. Kritische Bemerkungen zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, VIII, 1977, S. 237—256.
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Einleitung
erfolgreich waren, kann kaum bezweifelt werden, ebenso wie jeder zugeben wird, daß seine Magnetismustheorie oder Farbenlehre die Erkenntnis nicht gefördert haben. Neuere Untersuchungen scheinen zu dem Ergebnis zu führen, daß Theorien im allgemeinen erst im Lichte neuer Theorien wirkungsvoll geprüft werden können und daß daher auch Methodologien erst im Lichte neuer Methodologien geprüft werden sollten. Nun zeichnen sich die neueren Methodologien, wie etwa die von Kuhn und Lakatos, unter anderem dadurch aus, daß sie ganze Theorienreihen, die zu einem Forschungsprogramm oder Paradigma gehören, in die Betrachtung einbeziehen. Ohne Zweifel wäre es interessant, die Entwicklung des atomistischen Forschungsprogramms im 17. Jahrhundert zu verfolgen und anhand dieser Untersuchung ältere Methodologien wie diejenige Poppers im Lichte eines neuen Vorschlages zu testen. Aber dazu müßten sehr umfangreiche historische Vorarbeiten geleistet werden, weil viele der einzelnen Theorien, die dem Atomismus zuzurechnen sind, noch zu wenig bekannt sind. Die folgende Studie zur Gassendischen Physik beschränkt sich demgegenüber auf die Analyse einer dieser Theorien, kann aber deshalb als Vorarbeit zu einer umfassenden methodologischen Untersuchung des atomistischen Forschungsprogramms im 17. Jahrhundert angesehen werden. Die Überprüfung der Grundzüge einer modernen Methodologie, die sich aus dem Anwendungsversuch auf die Gassendische Physik ergibt, ist nur ein Nebenprodukt unserer Analyse; ihr Hauptziel bleibt die methodologische Kennzeichnung der Gassendischen Physik selbst, die nicht zuletzt auch dazu anregen soll, die allzu grobe Klassifizierung der Philosophen des 17. Jahrhunderts in sogenannte Rationalisten und Empiristen neu zu überdenken.
0.4. Technische
Bemerkungen
Die Untersuchung eines Textes, der den meisten philosophisch interessierten Fachleuten unbekannt sein dürfte und vielen Lesern unzugänglich erscheinen muß, wirft spezielle Probleme auf. Einerseits muß die Interpretation besonders ausführlich belegt werden, andererseits darf die Argumentation im ganzen nicht zu stark durch Belege, philologische Überlegungen und historische Hinweise belastet werden. Im Interesse der Klarheit und Uberschaubarkeit der Gedankenführung sind daher folgende Regelungen getroffen worden:
Technische Bemerkungen
I.
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Sämtliche Belege, Zitate, philologischen Bemerkungen, historischen Hinweise sowie mathematischen oder physikalischen oder logischen Kommentare sind im Anmerkungsteil enthalten. II. Alle wichtigen Belege vor allem aus dem Gassendischen Text werden im Wortlaut zitiert. Auf diese Weise haben alle Leser, die nicht die Zeit haben oder nicht die Mühe auf sich nehmen können, den Gassendischen Text im ganzen zu studieren, wenigstens eine kleine Stellensammlung an der Hand, die einen Einblick in die Gassendische Philosophie und Physik vermitteln und gleichzeitig zur Kontrolle der Interpretation im Haupttext unmittelbar genutzt werden kann. III. Das Inhaltsverzeichnis enthält eine Feingliederung zu allen acht Kapiteln des Haupttextes (also zu 1.1.1., 1.1.2., 1.2.1., 1.2.2., 2.1.1., 2.1.2., 2.2.1., 2.2.2.), die im Haupttext selbst nicht ausgeschrieben ist, aber die Unterabschnitte der einzelnen Kapitel kenntlich macht und ein Sachverzeichnis weitgehend ersetzt. Diese Regelungen führen zu einer Straffung des Haupttextes und zu einer Aufblähung des Anmerkungsteiles. Ich hoffe aber, daß damit die Durchschaubarkeit der Argumentation im Haupttext gefördert wird und der Leser genauer übersehen kann, an welchem Punkt der Überlegungen er sich befindet. Den Anmerkungsteil kann man auf diese Weise je nach Interesse und Neigung mehr oder weniger ausführlich studieren, ohne daß davon das Verständnis des Haupttextes abhinge.
1. Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi Wenn Gassendis wissenschaftliche Leistung — nach Auffassung der meisten seiner Zeitgenossen und vieler seiner Interpreten — hauptsächlich in der Wiederholung des epikureischen Atomismus bestanden hat, so besteht die erste Aufgabe einer methodologischen Analyse seiner Physik darin zu klären, ob und inwieweit Gassendi Epikurs Methodologie und Form der physikalischen Argumentation imitiert hat. Da jedoch auch die epikureischen Texte bisher methodologisch nur unzureichend interpretiert worden sind, ist eine Untersuchung der epikureischen Kanonik und Physik für die Darstellung der Beziehungen zwischen Epikur und Gassendi erforderlich. Allerdings kann aus sachlichen Gründen kein Vergleich zwischen Epikur und Gassendi durchgeführt werden, der sich auf alle physikalischen Texte bei Gassendi erstreckt. Es ist klar, daß diejenigen Abschnitte, in denen Gassendi sich mit den Ergebnissen der neuzeitlichen Physik beschäftigt, keine Entsprechung in der epikureischen Physik haben. Der Vergleich beschränkt sich daher naturgemäß auf zwei Gebiete: auf die expliziten methodologischen Aussagen und die Darstellung der atomistischen Physik.
1.1. Methodologie bei Epikur und Gassendi Sowohl Epikur als auch Gassendi haben nicht nur physikalisch gearbeitet, sondern sich außerdem auch methodische Gedanken über ihre Arbeit gemacht — Epikur in seiner Kanonik, Gassendi in seiner Logik. Diese methodischen Überlegungen sollen im folgenden genauer untersucht werden. Im einzelnen sind die Themen durch den Inhalt der epikureischen Kanonik vorgegeben: die Lehre von den Wahrheitskriterien behandelt das Fundament aller Erkenntnis: Wahrnehmungen, Vorbegriffe und (im ethischen Bereich) Gefühle; aber darüber hinaus muß geklärt werden, wie mit Hilfe dieses Fundamentes theoretische Aussagen etabliert werden können, die sich auf nicht wahrnehmbare Gegenstände beziehen.
Methodologie bei Epikur und Gassendi
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1.1.1. Epikurs Kanonik Der Versuch, die Erkenntnistheorie Epikurs mit einer Wissenschaftsmethodologie der frühen Neuzeit zu vergleichen, könnte mit dem Argument angefochten werden, daß Epikur, anders als die meisten Philosophen der frühen Neuzeit und viele antike Philosophen, an echtem Erkenntnisfortschritt nicht interessiert war, sondern nur diejenigen physikalischen Aussagen als wahr anerkannte, die mit seiner naturalistischen Ethik vereinbar sind, und daher nicht imstande gewesen sein kann, ernstzunehmende methodologische Standards für die Verbesserung der Physik zu entwickeln 1 . In der Tat erklärt er unzweideutig, daß die Naturwissenschaft überflüssig wäre, trüge sie nicht bei zur Befreiung der Menschen von Furcht und damit zum Erlangen der Seelenruhe2. Das bedeutet jedoch zunächst nur, daß der Gegenstandsbereich der Physik gemäß einer vorgegebenen ethischen Zielsetzung eingeschränkt wird, nicht aber, daß die Ergebnisse physikalischer Forschung willkürlich den Behauptungen einer naturalistischen Ethik angepaßt werden. Im Gegenteil: nach Epikurs Auffassung ist die Kenntnis der Natur notwendige Voraussetzung für die Seelenruhe3 und muß daher verbindlich gesichert werden; er wendet sich ausdrücklich gegen eine auf unbegründeten Voraussetzungen und Konventionen beruhende Physik und fordert stattdessen eine an beobachtbaren Phänomenen orientierte Erforschung der Natur 4 . Allerdings fördert nur 1
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Häufig wird daher Epikur der wissenschaftliche Ernst bestritten; vgl. ζ. B. S. Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike, Zürich/Stuttgart 1965: „Im Grunde nahm Epikur die Naturwissenschaft nicht ernst, und wo ihm seine Schlußfolgerungen die innere Ruhe des Menschen zu gefährden oder gar sein seelisches Gleichgewicht zu stören schienen, etwa durch Hervorrufung von Furchtgefühlen oder abergläubischen Vorstellungen, siegte bei ihm die Rücksicht auf den Menschen über den wissenschaftlichen Ernst" (S. 234). Das gilt sowohl für Astronomie und Meteorologie im besonderen als auch für die Naturwissenschaft (φυσιολογία) im allgemeinen: πρώτον μεν ούν μή άλλο τι τέλος έκ της περί μετεώρων γνώσεως . . . νομίζειν είναι ή περ άταραξίαν και πίστιν βέβαιον (Diog. Laert. Χ 85). El μηθέν ήμάς αί των μετεώρων ύποψίαι ήνώχλουν και αί περ! θανάτου, μή ποτε προς ήμας f| τι ετι τε το μή κατανοεΐν τους δρους των άλγηδσνων και τών έπιθυμιών, ούκ αν προσδεόμεθα φυσιολογίας (Κ. Δ. 11). Die Naturwissenschaft soll demnach genau diejenigen Sätze sichern helfen, die das sog. vierfache Heilmittel (τετραφάρμακον) bildeten und später (Hercul. Roll. 1005, col. 4) folgendermaßen beschrieben wurden: άφοβον ό θεός, άναίσθητσν ό θάνατος, τάγαθον μεν ε&κτητον, το δε δεινον εύεκκαρτέρητον. Ohne Naturwissenschaft gibt es keine ungetrübten Lustempfindungen (Κ. Δ. 12) und ist Sicherheit vor den Menschen nutzlos (Κ. Δ. 13). Allein diese Art von Naturwissenschaft garantiert nach Epikur ein störungsfreies Leben: ov γαρ κατά άξιώματα κενά και νομοθεσίας φυσιολογητέον, άλλ' ώς τά φαινόμενα έκκαλείταΐ" οϋ γάρ ήδη άλογίας καΐ κενής δόξης ό βίος ήμών έχει χρείαν, άλλα τοϋ άθορύβως ζήν (Diog. Laert. Χ 86f.).
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die Kenntnis der wichtigsten physikalischen Tatsachen die Glückseligkeit; detaillierte Erklärungen einzelner Naturphänomene sind bestenfalls ethisch neutral und können ohne Kenntnis der Grundsätze sogar den Seelenfrieden gefährden5. Der Grund für diese Behauptungen ist unschwer zu sehen. Die Einleitung des Herodotbriefes zeigt, daß Epikur — billigerweise — nicht bei jedermann hinreichende Muße und Begabung voraussetzte, um alle Einzelheiten der Physik zu erlernen und zu verstehen. Andererseits sollte niemand aufgrund äußerer Umstände von der Glückseligkeit ausgeschlossen sein. Darum konnte detaillierte physikalische Kenntnis nicht als notwendige Bedingung für die Seelenruhe angesehen werden 6 . Die Behauptung, daß die ethische Zielsetzung der Physik Epikurs Interesse an verbindlicher Fundierung physikalischer Forschung eher steigert als hemmt, wird dadurch freilich nicht angetastet7. Es gibt sogar Hinweise darauf, daß Epikur die naturwissenschaftliche Tätigkeit selbst und nicht nur den Zustand, den sie bewirkt, als lustvoll angesehen hat, eine Auffassung, die mit unverbindlicher Willkür in der Physik sicher nicht vereinbar wäre 8 . Die Beziehung zwischen Ethik (Theologie) und Physik ist jedenfalls eine wechselseitige: die Ethik setzt der Physik ihr praktisches Ziel, d. h. bestimmt ihren Gegenstandsbereich und die Verwendung ihrer Ergebnisse, die Physik ihrerseits untermauert Behauptungen der Ethik und muß daher unabhängig von ihr gesichert werden können. Die Dominanz der Ethik in der Philosophie Epikurs schließt daher nicht eine Erkenntnistheorie aus, in der Regeln zur Gewinnung verbindlicher Erkenntnis erarbeitet werden.
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Diog. Laert. X 78 f. Aus dem Kontext geht hervor, daß Epikur hier vor allem die Götterlehre im Auge hat. Richtig bemerkt Bailey, Epicurus, The Extant Remains, Oxford 1926, S. 251 (ad loc.): „των κυριωτάτων", „the essential facts", i. e. the comprehension of the divine nature and the knowledge that celestial phenomena are not produced by it". Epikur zielt auch hier auf die Sicherung eines Satzes des χετραφάρμακσν. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Epikur sich gegen allzu ausgedehnte Bildung im allgemeinen und übertriebenes Theoretisieren im besonderen ausspricht (vgl. Frg. 20, 117, 163 Us.). Er kritisiert damit nicht die Hochschätzung objektiver Erkenntnis, sondern befürchtet vor allem die Prahlerei mit einer Bildung, die nicht jeder erwerben kann (S. V. 45). Vgl. im übrigen den Schlußsatz des Herodotbriefes (Diog. Laert. X 83). Vgl. dazu J . M. Rist, Epicurus. An Introduction, Cambridge 1972, S. 41. Vgl. Diog. Laert. X 37, wonach man vornehmlich in einem der Naturwissenschaft gewidmeten Leben zur Ruhe kommt und wo Epikur zu ununterbrochener Naturforschung mahnt, und S. V . 27, wo Epikur behauptet, daß sich der Genuß beim Philosophieren (also auch in der Naturwissenschaft), anders als bei allen anderen Tätigkeiten, nicht erst nach Beendigung, sondern schon während der Betätigung einstellt. Ein pathetisch formulierter Reflex dieser möglicherweise veränderten Einstellung zur Naturwissenschaft ist S. V. 10, der sicher von Metrodor stammt.
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In seiner Schrift „Über das Kriterium oder Kanon" (Περι κριτηρίου ή κανών) versucht Epikur Mittel zu finden, mit deren Hilfe über Wahrheit und Falschheit beliebiger Sätze verbindlich entschieden werden kann: Wahrnehmungen (αισθήσεις), Vorbegriffe (προλήψεις) und Empfindungen (πάθη). Er nennt sie „Kriterien" (κριτήρια) und verwendet diesen Terminus dabei vermutlich nicht im Sinne von „Urteilsvermögen", sondern von „Uberprüfungsmittel" 9 , ähnlich wie „Kanon", ein Ausdruck, der ursprünglich einen Richtscheit oder ein Instrument zur Überprüfung von Geradheit und Krummheit bezeichnete, das seinerseits gerade sein mußte 1 0 . Wahrheitskriterien sind demnach Uberprüfungsmittel, die selbst wahr sind; offenbar sind falsche Kriterien aufgrund des epikureischen Sprachgebrauchs logisch unmöglich. Die erkenntnistheoretische Funktion der Wahrnehmungen wird in den erhaltenen Texten am ausführlichsten beschrieben 11 . Weil Wahrnehmungen Wahrheitskriterien sind, muß Epikur behaupten, daß alle Wahrnehmungen wahr sind. In den Hauptlehrsätzen wendet er sich daher ausdrücklich gegen den rigorosen Wahrnehmungsskeptizismus Piatons und Demokrits wie auch gegen den gemäßigten der Stoiker, verwirft also nicht nur die Falschheit aller, sondern auch die Falschheit einiger Wahrnehmungen. Falschheit tritt nach seiner Auffassung erst bei Urteilen auf 12 . Allerdings läßt sich weder den Originaltexten noch den doxographischen Berichten eindeutig entnehmen, in genau welchem Sinne Epikur alle Wahrnehmungen „wahr" nannte. Im Brief an Herodot, der auch einen Abschnitt zur Idolenlehre enthält, deutet Epikur an, daß die Bildchen (είδωλα), die durch mechanischen Kontakt mit den Seelenatomen die Wahrnehmungen auslösen, den Gegen-
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Zuweilen kommt ,,κριτήριον" auch im Sinne von „Urteilsvermögen" vor (ζ. B. Diog. Laert. X 38 und 51). Aber Epikur nennt auch die Vorbegriffe (προλήψεις) „Kriterien", die ihrerseits nicht als Urteilsvermögen angesehen werden können. Vgl. Aristot. de an I 5, 411a 5 - 7 ; dazu H. Oppel, ΚΑΝΩΝ, Philolog. Suppl. Bd. XXX, Leipzig 1937, und G. Striker, κριτήριον της άληθείας, Göttingen 1974. Vermutlich wurden nur Wahrnehmungen und Vorbegriffe als Wahrheitskriterien angesehen; die Empfindungen nennt Diogenes Laertius „Kriterien der Wahl und Verwerfung" (κριτήρια αίρέσεως και φυγής, Χ 34), Epikur erwähnt die Empfindungen neben den Kriterien (κριτήρια καΐ πάθη, Diog. Laert. X 116). Allerdings weist er auch zuweilen auf Wahrnehmung und Empfindung hin, wo es sich nicht um moralische Entscheidungen zu handeln scheint (Diog. Laert. X 55, 68). Κ. Δ.23, 24. Zu Demokrit vgl. Frg. 68A 23, Β11 Diels/Kranz und Sext. Empir. adv. math. VII 369: των φυσικών οί μεν πάντα άνηρήκασιν τά φαινόμενα, ώς οι περί Δημόκριτον, οί δε πάντα έθεσαν, ώς οί περι 'Επίκουρον . . . eine Stelle, die die epikureische Demokritinterpretation wiedergeben dürfte.
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ständen, von denen sie kontinuierlich ausgesendet werden, ähnlich sind, und zwar hinsichtlich ihrer Gestalt (μορφή, σχήμα), Farbe (χρώμα), Lage (θέσις) und Stellung (βάσις) 13 . Sextus Empiricus beschreibt die Korrespondenz zwischen Wahrnehmungsinhalt und wahrgenommenem Gegenstand mit Hilfe eines Vergleiches mit der Empfindung von Lust und Schmerz: wie Empfindungen von Lust und Schmerz auf etwas Lust- oder Schmerzerzeugendes schließen lassen, auf Gegenstände also, denen die Prädikate ,,ήδύ" und ,,άλγεινόν" tatsächlich zukommen, so läßt auch die Wahrnehmung eines Gegenstandes darauf schließen, daß dieser Gegenstand von der Art ist, wie er erscheint14. Es liegt daher nahe anzunehmen, daß die Korrespondenz zwischen Wahrnehmungsinhalt und wahrgenommenem Gegenstand für Epikur die Wahrheit aller Wahrnehmungen garantiert 15 :
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Epikur nennt die είδωλα τύποι όμοιοσχήμονες τοις στερεμνίοις, άπόρροιαι την έξης θέσιν και βάσιν διατηροϋσαι, ήνπερ και έν τοις στερεμνίοις είχον (Diog. Laert. Χ 46) und spricht von ihnen als von τύπων τινών έπεισιόντων ήμϊν άπό των πραγμάτων όμοχρόων και όμοιομόρφων (ibid. Χ 49) und von γευμάτων . . . την συμπάθειαν σωζόντων (ibid. Χ 50). Am deutlichsten ist der Satz: και ην αν λάβωμεν φαντασίαν έπιβλητικώς τη διανοία ή τοις αίσθητηρίοις είτε μορφής είτε συμβεβηκότων, μορφή έοτΐν αϋτη τοϋ στερεμνίου (ibid.). Vgl. ferner Lukr. Rer. Nat. IV 51 f. und Alex. Aphrod. in Aristot. De sens. 2, 438 a 5ff. Dieser Gedankengang hat zu Mißverständnissen Anlaß gegeben und sei darum im Wortlaut zitiert (die Formulierungen, die hauptsächlich die Korrespondenzinterpretation nahelegen, sind von mir gesperrt): ώς γαρ τα πρώτη πάθη, τουτέστιν ήδονή και πόνος άπο ποιητικών τίνων και κατ1 αυτά τά ποιητικά συνίσταται, οίον ή μεν ήδονη άπο τών ήδέων, ή δε άλγηδών άπο τών άλγεινών, και . . . ά ν ά γ κ η κ α ι τ ο ή δ ο ν η δ ύ κ α ι το ά λ γ ϋ ν ο ν ά λ γ ε ι ν ο ν τ η ν φ ύ σ ι ν ύ π ο κ ε ΐ σ θ α ι , ούτω καΐ έπϊ τών φαντασιών παθών περί ημάς ούσών το ποιητικον έκαστης αυτών πάντη τε και πάντως φανταστόν έστιν, ό ούκ ενδέχεται φανταστόν, εί μή ύ π ά ρ χ ο ι κ α τ ά λ ή θ ε ι α ν τ ο ι ο ύ τ ο ν ο ί ο ν φ α ί ν ε τ α ι , ποιητικον φαντασίας καθεστάναι. και έπι τών κατά μέρος το παραπλήσιον χρή λογίζεσθαι. το γάρ όρατον οϋ μόνον φαίνεται όρατόν ά λ λ α κ α ι ε σ τ ί ν τ ο ι ο ύ τ ο ν ο ' ι ο ν φ α ί ν ε τ α ι - και το άκουστον οϋ μόνον φαίνεται άκουστον, ά λ λ α κ α ι τ α ϊ ς ά λ η θ ε ί α ι ς τ ο ι ο ύ τ ο ν ύ π ή ρ χ ε , και επί τών άλλων ώσαύτως. (Sext. Empir. adv. math. VII 203f.). Die Kurzfassung steht in Sext. Empir. adv. math. VIII 185: ό δέ 'Επίκουρος πάντα ελεγε τά αισθητά τοιαύτα ύποκεΐσθαι όποια φαίνεται καΐ κατ' αΐσθησιν προσπίπτει, μηδέποτε ψευδόμενης της αίσθήσεως. Diese Interpretation wird u. a. von Bailey energisch vertreten: „By the truth of a sensation Epicurus meant and could only mean its truth to the external object which it represented. If we have no guarantee of such correspondence, but are at the mercy of the accidents which may befall individual „idols" in their transit, then the „truth" of sensation is valueless not merely for scientific inquiry, but even for the most rudimentary requirements of practical life" (C. Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, Oxford 1928, S. 256f.; vgl. auch ders., Epicurus, The Extant Remains, S. 196 und 197 (ad Diog. Laert. X 50)).
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(*) Wahrnehmung X ist wahr: = Es existiert ein Gegenstand Ζ und ein Bildchen Y derart, daß (i) Y von Ζ ausgesendet wird (ii) Y mit Ζ ähnlich ist (iii) X von Y ausgelöst wird Die Behauptung, alle Wahrnehmungen seien wahr im Sinne der Explikation (*), ist freilich unvereinbar mit der Tatsache, daß es Sinnestäuschungen gibt 16 . Leider besitzen wir von Epikur selbst kein Zeugnis, in dem er das Problem der Sinnestäuschungen explizit diskutiert und mit seiner Wahrnehmungslehre in Verbindung bringt. Aber Lukrez gibt im vierten Buch von De Rerum Natura, dessen Vorlage wahrscheinlich der sogenannte große Auszug (Μεγάλη Επιτομή) Epikurs war, eine ausführliche Beschreibung, oft auch eine Erklärung der verschiedenartigsten Sinnestäuschungen, die paradoxerweise wiederholt unterbrochen wird von der Versicherung, daß das Zeugnis der Sinne nicht angezweifelt werden darf, daß alle Erkenntnis von unwiderlegbarer sinnlicher Wahrnehmung herrührt und daß die Orientierung in der Umwelt ohne Vertrauen auf die Sinne unmöglich ist 17 . Aus einer Bemerkung von Sextus geht sogar klar hervor, daß die Epikureer den Hinweis auf Sinnestäuschungen als einen, wenn auch leicht zurückweisbaren, Einwand gegen ihre eigene Theorie betrachteten 18 . Man wird daher annehmen dürfen, daß Epikur die Existenz der Sinnestäuschungen anerkannt und sie im Rahmen seiner Wahrnehmungstheorie behandelt hat. Daraus folgt, daß nicht zugleich die Explikation (*) adäquat und die Behauptung, alle Wahrnehmungen seien wahr, richtig sein kann. In den erhaltenen Texten und Berichten gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß Epikur die Wahrheit der Wahrnehmun-
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Zur Verbreitung der Beschäftigung mit Sinnestäuschungen in der antiken Philosophie vgl. K. v. Fritz, Artikel „Pyrrhon", in: Pauly-Wissowa Bd. 24, 1963, Sp. 89ff. (über die Herkunft der skeptischen τρόποι). Vgl. Lukr. De rer. nat. IV 3 6 4 - 5 2 1 , insbesondere 379, 386, 435, 4 8 2 - 4 8 5 , 478f„ 499, 502-512. έξαπατφ δε ένίους ή διαφορά των ά π ο τοϋ αύτοϋ αισθητού οίον όρατοϋ δοκουσών προσπίπτειν φαντασιών, Kaff ην ·ή άλλοιόχρουν f| άλλοιόαχημον ή άλλως πως μαχόμεναν φαίνεται το ύποκείμενον ύπενόησαν γαρ δτι των οΰτως διαφερουσών και μαχόμενων φαντασιών δει την μεν τινα άληθή είναι, την δ' έκ των έναντίων ψευδή τυγχάνειν. δ πέρ έστιν εΰηθες και άνδρών μή συνορώντων την έν τοις ούσι φύσιν (Sext. Emp. adv. math. VII 206). Allerdings wird hier nur ein Spezialfall angesprochen — daß nämlich derselbe Gegenstand verschiedene unvereinbare Sinneseindrücke auszuüben scheint. Hier genügt von epikureischer Seite aus der Hinweis auf die unterschiedliche (atomare) Struktur der Sinnesorgane der wahrnehmenden Personen, wie Plutarch bezeugt (Plut. adv. Colot. 4, 1109 äff.).
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gen angetastet sah; andernfalls wären Wahrnehmungen auch keine Wahrheitskriterien, da andere Kriterien nötig wären, um zu entscheiden, welche Wahrnehmung wahr und welche falsch ist. Daher kann er nicht die in (*) dargestellte Korrespondenztheorie vertreten haben. In der Tat deuten Sextus und Epikur selbst gerade an den Stellen, die zunächst für (*) zu sprechen scheinen, eine Lösung des Problems an. Sextus beschreibt als Beispiel die Entstehung eines Farbeindruckes in der Luft zwischen wahrgenommenem Gegenstand und wahrnehmender Person, behauptet dann aber, daß auch das dieserart entstandene Bildchen einen Eindruck vermittelt, der so beschaffen ist, „wie es (sc. das Bildchen) auch selbst in Wahrheit vorliegt" 19 . Aufschlußreich ist auch sein Vergleich zwischen einem lauten Ton und einem eckigen Turm, die man aus hinreichender Entfernung als leise bzw. rund ansieht 20 . Diese Wahrnehmungen sind seinem Bericht zufolge wahr, insofern sie tatsächlich als solche vorliegen: man hört tatsächlich nur einen leisen Ton und sieht einen runden Turm. Der Ausdruck „als solcher vorliegen" (τοιούτον ύποκεΐσθαι) wird offenbar nicht auf die Gegenstände, sondern auf die Bildchen angewendet; die Korrespondenz besteht nicht zwischen Wahrnehmungsinhalt und Gegenstand, sondern zwischen Wahrnehmungsinhalt und Bildchen. Der Hinweis auf die Empfindungen von Lust und Schmerz, mit dem die Korrespondenzlehre eingeleitet wird, bestätigt diese Auslegung; die „Wahrheit" dieser Empfindungen kann nur an ihrem Vorliegen gemessen werden, denn zumal für seelische Lust und seelischen Schmerz gilt, daß Gegenstände, Zustände, Ereignisse nicht immer für jeden gleich angenehm oder unangenehm sind. Schließlich heißt es, daß bereits die Entscheidung, ob Wahrnehmungen sich auf denselben Gegenstand oder auf verschiedene Gegenstände beziehen, vom Urteilsvermögen getroffen wird; Wahrnehmungen repräsentieren nur die Affektionsweise des Wahrnehmenden 21 . Auch Epikur selbst räumt im Herodotbrief ein, daß die Struktur der Bildchen unter gewissen Umständen verzerrt wird, daß also die Bildchen
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Sextus verwendet dieselbe Formulierung wie in den realistisch interpretierbaren Passagen (vgl. oben Anm. 14): τοΰτο δέ έν τω μεταξύ έξαλλαττόμενον και Ιδιον άναδεχόμενον σχήμα τοιαΰτην άναδίδωσι φαντασίαν, όποιον και αϊτό κατ' άλήθειαν υπόκειται. (Sext. Emp. adv. math. VII 207). Ibid. 208. τοϋτο γαρ της διαστρόφου λοιπόν έστιν δόξης οΐεσθαι, δτι το αΰτό ήν τό τε έκ τοϋ σύνεγγυς και το πόρρωθεν θεωροΰμενον φανταστόν . .. αίσθήσεως δε ϊδιον υπήρχε τοϋ παρόντος μόνον και κινοϋντος αύτήν άντιλαμβάνεσθαι οίον χρώματος, ούχϊ δε το διακρίνειν δτι άλλο μεν έστι το ένθάόε άλλο δέ ένθάδε ύποκείμενον (Sext. Emp. adv. math. VII 209).
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dem Gegenstand, der sie aussendet, nicht unter allen Umständen ähnlich sind 22 . Damit wird zwischen der Erscheinungsweise der Gegenstände aufgrund sinnlicher Wahrnehmung und ihrer objektiven Bestimmung durchaus ein Unterschied gemacht23. Ob überhaupt Gegenstände existieren müssen, die die Bildchen aussenden, bleibt an diesen Stellen offen, scheint in den meisten Beispielen aber doch vorausgesetzt zu werden. In der Explikation (*) muß demnach Bedingung (ii) aufgegeben werden24, d. h. es gilt: (**) Wahrnehmung X ist wahr: = Es existiert ein Gegenstand Ζ und ein Bildchen Y derart, daß (i) Y von Ζ ausgesendet wird (ii) Υ X auslöst. Die Behauptung, alle Wahrnehmungen seien wahr im Sinne von Explikation (**), ist ihrerseits jedoch unvereinbar mit der Tatsache, daß es Träume und Wahnvorstellungen gibt, die sich auf nicht existierende Gegenstände beziehen, etwa auf Erinyen oder Zentauren. Epikur selbst erwähnt nur Träume, die reale Ereignisse spiegeln, und spricht daher sogar von Ähnlichkeit zwischen Trauminhalt und Wirklichkeit25. Aber Diogenes Laertius berichtet, daß nach Epikurs Auffassung die Vorstellungen Wahnsinniger wahr sind, weil (atomare) Bewegungen von ihnen ausgelöst 22
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Diog. Laert. X 48, wo Epikur als Beispiel für diese Umstände zu große Entfernung nennt (offenbar das Standardbeispiel, vgl. etwa Diog. Laert. X 34, Plut. adv. col. 25, 1121a), gleichzeitig aber darauf hinweist, daß es weitere Umstände (άλλοι τροποί τίνες) gibt, die zu strukturellen Veränderungen der Bildchen führen. Lukrez erwähnt die Möglichkeit, daß sich zwei oder mehr Bildchen in der Luft zu einem neuen vereinigen (De rer. nat. IV 724 ff.). Ein wörtlicher Beleg für diese Unterscheidung findet sich in Epikurs Erklärungsversuch für die Größe der Gestirne: το δέ μέγεθος ήλιου τε και των λοιπών άστρων κατά μεν τό πρός ήμάς τηλικοϋτόν έστιν ήλίκσν φαίνεται, κατά δέ τό καθ' αύτο ήτοι μείζον τοϋ δρωμένου ή μίκρφ ελαττον ή χηλικοΰτον τυγχάνει (Diog. Laert. Χ 91). de Witt versucht nachzuweisen, daß Epikur terminologisch zwischen (wahren) φαντασίαι und (falschen) φαντάσματα unterscheidet, also einige sinnliche Vorstellungen verwirft (vgl. C. de Witt, Epicurus: All sensations are true, in: Transact, and Proced. of the Amer. Philol. Ass. 74, 1943, S. 19-32). Epikur bezeichnet jedoch auch φαντάσματα nirgends als falsch. Schon vorher hatte de Witt zu zeigen versucht, daß für Epikur einige έπιβολαί keine Kriterien sind, weil sie von φαντάσματα herrühren, d. h. daß im Ausdruck „φανταστική έπιβολή" das Adjektiv nicht überflüssig ist, sondern gerade diejenigen έπιβολαί aussondern soll, die Kriterien sind (C. de Witt, Epicurus Περί Φαντασίας, ibid. 70, 1939, S. 414-427). Diog. Laert. X 51 (Epikur nennt in diesem Zusammenhang auch optische Spiegelbilder): δμοιότης των φαντασμών έν εΐκονι λαμβανομένων ή καθ' ΰπνους γινομένων τοις ούσι τε και άληθέσι προσαγορευομένους.
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werden 2 6 . Zwar haben einige Epikureer darauf hingewiesen, daß ein Teil der Wahnvorstellungen durch Kombination frei umherschwebender Bildchen entstehen und damit wenigstens mittelbar auf existierende Gegenstände zurückzuführen sind 27 ; dennoch scheint sich bereits Epikur selbst gezwungen gesehen zu haben, die Möglichkeit spontaner Entstehung von Bildchen zuzugeben 2 8 . Das bedeutet offenbar, daß für Epikur Wahrnehmungen schon dann wahr sind, wenn sie vorliegen — genauer, wenn es Bildchen gibt, die sie auslösen, wie Diogenes Laertius und Sextus Empiricus wiederholt ausdrücklich bemerken 29 . Sextus erkennt sogar, daß Epikur wahr sein und (wirklich) sein identifiziert 30 . Und auch Plutarch, einer der schärfsten Kritiker Epikurs unter den antiken Autoren, stellt den epikureischen Solipsismus klar heraus 31 . Diese Zeugnisse schließen aus, daß Epikur die Wahrheit der Wahrnehmungen direkt auf ihre Beziehung zu Gegenständen der Außenwelt zurückgeführt hat. Daraus folgt, daß auch die Explikation (**) inadäquat ist, weil nur Bedingung (ii) in (**) aufrechterhalten werden kann. Wahrnehmungen können demnach nur dann Wahrheitsriterien sein, wenn sie alle in folgendem Sinne wahr sind: (*=«-) Wahrnehmung X ist wahr: = Es existiert ein Bildchen Y derart, daß X von Y ausgelöst wird.
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Diog. Laert. X 32: τά τε των μαινόμενων φαντάσματα και τ6 κατ' δναρ άληθή, κινεί γάρ· το δε μή δν ού κινεί. Vgl. ζ. Β. Cie. Nat. Deor. I 106-108; Lukr. IV 722-776; Philod. De Sign. col. XXXI, 30-34. Vgl. Epikur Περί φύσεως (Pap. Here. 1420, 32 (10) Arrigh.); Lukr. De rer. nat. IV, 736f.; Diog. Laert. X 48. Dazu K.Kleve, Wie kann man an das Nicht-Existierende denken? Ein Problem der epikureischen Psychologie, in: Symbolae Osloenses 37, 1961, S. 45-57; ferner Rist, a. a. O. S. 23f. Diog. Laert. X 32: και το τά έπαισθήματα δ' ύφεστάναι πιστοϋται την των αισθήσεων άλήθειαν. ύφέστηκε γάρ τό τε όράν ήμάς καί άκούειν, ώσπερ το άλγεϊν· Nach Sextus hat Epikur als Beispiel angeführt, Orests Wahrnehmung der Erinyen sei wahr, insofern sie von Bildchen ausgelöst sei und diese Bildchen tatsächlich vorlägen: έπϊ γ ο ύ ν ' Ορέστου, δτε έδόκει βλέπειν τ ά ς ' Ερινύας, ή μεν αίσθησις ύπ' ειδώλων κινούμενη άληθής ήν (ΐιπέκειτο γαρ τά είδωλα) (Sext. Emp. adv. dogm. II 63). ό δέ Επίκουρος τά μεν αισθητά πάντα ελεγεν άληθη καί όντα' ού διήνεγκε γάρ άληθές είναι τι λέγειν -ή υπάρχον (Sext. Emp. adv. math. VIII 9). Die Epikureer reden nach seiner Auffassung nicht mehr über Gegenstände der Außenwelt, sondern über individuelle psychische Ereignisse: το δέ δή βοάν αΰτοϋς και άγανακτείν ύπερ της αίσθήσεως, ώς ού λέγουσι το έκτος είναι θερμόν, άλλα το έν αύτη πάθος γεγονέναι τοιούτον, άρ' ού ταύτόν έστι τω λεγομένω περί της γεύσεως δτι το έκτος ού φησιν είναι γλυκύ, πάθος δέ τι καί κίνημα περί αύτην γεγονέναι τοιούτον; (Plut. contr. Col. 25, 1121a, vgl. Frg. 252 p. 186, 6 Us.; vgl. auch Plut. contr. Col. 28, 1123b und 4f., 1109aff.).
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Epikur bezeichnet die Wahrnehmungen selbst als wahr oder als Wahrheitskriterien; genauer sind die Sätze, die die Wahrnehmungen beschreiben, Wahrheitskriterien, die zur Überprüfung des Wahrheitswertes anderer Sätze dienen. Epikur unterscheidet nicht zwischen Wahrnehmungen und Wahrnehmungsaussagen, aber er hielt Wahrnehmungen selbstverständlich für sprachlich darstellbar 32 ; andernfalls wäre seine Warnung, das, was aufgrund der Wahrnehmung gegenwärtig ist (τό παρόν κατά την αΐσθησιν), nicht zu verwechseln mit dem, was noch der Bestätigung bedarf (τό προσμένον), also der in Urteilen formulierten Meinung 3 3 , sinnlos. Die reine Wahrnehmung eines runden (in Wirklichkeit eckigen) Turmes oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen, des Eintauchens der Sonne in das Meer 3 4 läßt sich nach Epikurs Meinung offenbar in Sätzen beschreiben. Wahrnehmungsaussagen, die gemäß ( 5:::;; ·) genau das Vorliegen von Wahrnehmungen darstellen, haben die Form „x nimmt wahr, daß p " , sind also nicht einfache empirische Prädikationen. Epikurs Behauptung, daß nur Meinungen, nicht Wahrnehmungen falsch sein können und daher Meinungen scharf von Wahrnehmungen unterschieden werden müssen, bedeutet folglich gerade, daß nicht unbesehen von Wahrnehmungsaussagen der Form „ x nimmt wahr, daß p " zur entsprechenden empirischen Prädikation „ p " übergegangen werden darf. Wenn Wahrnehmungsaussagen Wahrheitskriterien sein sollen, gleichzeitig aber das Problem der Sinnestäuschung und der Abgrenzung gegenüber Wahnvorstellungen entschärft werden muß, kann die empirische Basis nur aus Sätzen bestehen, die eigenpsychische Zustände des Wahrnehmenden beschreiben; die Wahrheit derartiger Sätze wurde bekanntlich noch bis ins 20. Jahrhundert hinein für weniger anfechtbar als die aller anderen Sätze, teilweise sogar für unanfechtbar gehalten, so daß sie unter der Bezeichnung „Protokollsätze" eine wichtige Rolle in der Wissenschaftsmethodologie des frühen logischen Empirismus spielen konnten. Obgleich die Kennzeichnung der empirischen Basis als einer Menge von Sätzen der Form „ x nimmt wahr, daß p " aus Epikurs eigenem Ansatz
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Zwar scheint er die Wahrnehmung als „άλογος" und „μνήμης ουδεμίας δεκτική" bezeichnet zu haben, aber damit soll, wie der nächste Satz zeigt, nur angedeutet werden, daß das Wahrnehmungsvermögen passiv ist, d. h. sich weder selbst aktualisiert wie das Erinnerungsvermögen noch von sich aus den Wahrnehmungen etwas beifügt wie der Verstand: οϋτε γάρ ύφ' αύτης οΰτε ύφ' έχέρου κινηθείσα δύναται τι προσθείναι ή άφελείν (Diog. Laert. Χ 31). Κ. Δ. 24; Diog. Laert. Χ 50f. Vgl. Sext. Emp. adv. math. VII 208 und Lukr. De rer. nat. IV 432 ff.
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
u n d d e n P r o b l e m e n , die sich ihm stellten, folgt, b e r u f t Epikur selbst sich o f t auf empirische Prädikationen, niemals auf reine W a h r n e h m u n g s a u s s a g e n 3 5 . N i r g e n d s w e r d e n die Basissätze explizit als Aussagen ü b e r das V o r l i e g e n individueller W a h r n e h m u n g e n bezeichnet 3 6 . Dies spricht freilich n i c h t gegen unsere Interpretation der epikureischen W a h r n e h m u n g s l e h r e , s o n d e r n zeigt n u r , daß E p i k u r die Schwierigkeit, die sein empiristischer u n d f u n d a m e n t a l i s t i s c h e r A n s a t z mit sich bringt, nicht erkannt hat, die T a t s a c h e n ä m l i c h , daß die beiden F o r d e r u n g e n nach unanfechtbarer Sic h e r h e i t d e r Basissätze u n d ihrer V e r w e n d u n g als U b e r p r ü f u n g s m i t t e l f ü r beliebige a n d e r e Sätze nicht zugleich erfüllt w e r d e n k ö n n e n . A l s u n b e z w e i f e l b a r w a h r k ö n n e n allenfalls Sätze der F o r m „ x n i m m t w a h r , daß p " gelten, aber sie eignen sich o f f e n b a r nicht z u r U b e r p r ü f u n g beliebiger p h y s i k a l i s c h e r Sätze; diese F u n k t i o n erfüllen empirische
Prädikationen
u n d G e n e r a l i s a t i o n e n , die jedoch, als Urteile ( δ ό ξ α ι ) , auch falsch sein k ö n n e n . Es ist daher verständlich, daß E p i k u r in seiner K a n o n i k auf reine 35
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Beispiele sind die Sätze „Körper existieren" und „Körper bewegen sich" im Herodotbrief (Diog. Laert. X 39f.), oder die Beobachtung, daß „einige Sterne hinter anderen zurückbleiben" (Planetenbewegungen gegenüber Fixsternen) (ibid. 114) und Licht schneller ist als der Schall (ibid. 103); hier handelt es sich sogar um empirische Generalisationen. Wenn Epikur sich zur Erklärung von Himmelserscheinungen an die beobachtbaren Phänomene auf der Erde hält (ζ. B. Diog. Laert. X 87, 95, 96, 98) und sich vor allem im Pythoklesbrief meist nicht auf Wahrnehmungen (αισθήσεις), sondern auf Erscheinungen (φαινόμενα) bezieht, hat er mit Sicherheit nicht subjektive Wahrnehmungsaussagen im Sinn. Möglicherweise haben viele Interpreten deshalb gezögert, Epikur im Sinne von Explikation ("•**) auszulegen; das führte jedoch zu einer Verschleierung der erkenntnistheoretischen Probleme seiner Kanonik. So sieht ζ. B. de Witt eine Lösung in der — im übrigen nicht belegbaren — Unterscheidung dreier Bedeutungen von „wahr" (relative Wahrheit, absolute Wahrheit, Wahrheit als Vorhandensein) und behauptet auch, alle Wahrnehmungen seien nur wahr als vorhandene; andererseits bezieht er die Möglichkeit der Erkenntnis auf den materiellen Ursprung der Wahrnehmungen, ohne die Inkonsistenz zu bemerken (de Witt, Epicurus: All sensations are true . . ., a. a. Ο. S. 28; vgl. auch ders., Epicurus and his philosophy, Minneapolis 1954, S. 138ff.) — Rist (a. a. O. S. 17—25) versteht Epikur eindeutig im Sinne von (**): „What sensation does not report is the status of the real object (S. 20) . . . It is clear that, when Epicurus says that all sensations and all presentations are true, he means that they all indicate something actual in the world (S. 21) . . . Epicurus' sensations give evidence not about the truth of judgements, but about the existence of objects sensed" (S. 23). Wie Wahrnehmungen aber dann als Uberprüfungsmittel für beliebige Sätze dienen können, wird nicht einmal gefragt. Rist deutet zwar die — auch schon für (**) bestehende — Gefahr des Solipsismus an (S. 24), hält es aber für wahrscheinlich, daß sie durch Vergleich von Wahrnehmungen beseitigt werden kann — eine offensichtlich unbefriedigende Lösung, die den epikureischen Empirismus retten soll. Vgl. ferner H. Oppermann, Epikurs Erkenntnistheorie, in: Gymnasium 41, 1930, S. 193—200, und D. W. Hamlyn, Sensation and Perception. A history of the philosophy of perception, London/New York 1961, S. 32—35. Hamlyn sieht im Gegensatz zu Oppermann das Problem, erklärt sich aber außerstande, eine Lösung anzubieten.
Methodologie bei Epikur und Gassendi
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Wahrnehmungsaussagen als Basissätze zielt, daß er aber in den physikalischen Argumentationen der Briefe an Herodot und Pythokles stets empirische Prädikationen (Generalisationen) heranzieht. Es gibt Hinweise dafür, daß Epikur Hypothesen darüber aufgestellt hat, unter welchen Umständen die Struktur der Bildchen, die die Wahrnehmungen auslösen, verändert wird und unvereinbare Wahrnehmungen von Gegenständen zustande kommen 3 7 . Die Beseitigung dieser Umstände würde Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen vermeiden, also den Ubergang von Wahrnehmungsaussagen zu empirischen Prädikationen und Generalisationen ohne Änderung des Wahrheitswertes ermöglichen. Weil Epikur das Problem selbst nicht hinreichend deutlich vor Augen stand, hat er weder den Ansatz zu einer Lösung noch deren wichtigste erkenntnistheoretische Konsequenz erkennen können: die Hypothesen über Beobachtungshindernisse, die Erklärungsversuche von Sinnestäuschungen benutzen die atomistische Physik und Psychologie. Das heißt nichts anderes, als daß eine empirische Basis, die als Wahrheitskriterium soll dienen können, nur mit Hilfe einer Theorie gesichert werden kann. Wahrnehmungen bilden in der Kanonik Epikurs die empirische Basis aller Erkenntnis; welche Gründe haben Epikur veranlaßt, ein weiteres Wahrheitskriterium, die Vorbegriffe (προλήψεις) 38 , einzuführen? Zu37
In den erhaltenen Zeugnissen ist die Verringerung der Entfernung das Standardbeispiel, vgl. ζ. B. Diog. Laert. X 34, Sext. Emp. adv. math. VII 2 0 7 - 2 0 9 , Plut. adv. Col. 25, 1121a. Für den Fall der Wahnvorstellungen versagen jedoch derartige Lösungen. Nach Philod. De Sign. Col. X X X I I 18ff. hat Epikur auch Wahrnehmungsaussagen über fremde Personen (Aussagen der Form „x nimmt wahr, daß p " , wo „ x " nicht den Sprecher bezeichnet) zur empirischen Basis gerechnet. De Lacey sieht darin Epikurs Auffassung von der „Sozialität der Sprache", die die Vermeidung des Solipsismus garantiert: „The view that truth is on the level of perception rather than on the level of opinion might seem to lead to epistemological solipsism or scepticism; yet Epicurus gave it a positive social significance through his analysis of language" (Ph. u. E. de Lacey . . . S. 139; vgl. Ph. H. de Lacey, The Epicurean Analysis of language . . .). Mit der Anerkennung von Wahrnehmungsaussagen fremder Personen ist jedoch die Ebene empirischer Prädikationen noch nicht erreicht: aus der Tatsache, daß fremde Personen x h . . ., x„ wahrnehmen, daß p, folgt nicht, daß p. In bezug auf Wahnvorstellungen scheinen die Epikureer vielmehr auch auf die atomistische Konstitution der Wahrnehmungsorgane hingewiesen zu haben, die dazu führen kann, daß einige Personen Wahrnehmungen haben, die andere nicht haben. Am ausführlichsten berichtet darüber Plutarch adv. Col. 4, 1109a (Frg. 250 Us., p. 184, 19-26).
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Nach Cie. De nat. deor. I 17, 44 hat Epikur den Terminus ,,πρόληψις" selbst geprägt. Man hat dieses Zeugnis angezweifelt, hauptsächlich weil die unterschiedliche Verwendungsweise bei den Stoikern einen unabhängigen Ursprung erforderlich macht; vgl. dazu jedoch F. Sandbach,"Εννοια and Πρόληψις in the Stoic Theory of Knowledge, in: Class. Quartlery 24, 1930, S. 44—51, jetzt in: Problems in Stoicism, ed. A. A. Long, London 1971, S. 2 2 - 3 7 ) .
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
nächst gilt es wie bei den Wahrnehmungen kurz zu klären, in welchem Sinne die Vorbegriffe als Wahrheitskriterien selbst wahr sind. Denn einer gängigen Auffassung nach sind Epikurs Vorbegriffe Vorstellungs- oder Erinnerungsbilder, die jedermann im Geist erblicken kann 39 . Inwiefern sind Vorstellungsbilder wahr (oder auch falsch) 40 ? Es liegt nahe anzunehmen, daß Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungen wahr sind, insofern sie vorliegen. Als Erinnerungsbilder sind sie jedoch nicht stets gegenwärtig, ohne ihren Charakter als Wahrheitskriterien einzubüßen. Aber ebenso wie Epikur nicht unterscheidet zwischen Wahrnehmungen und Wahrnehmungsaussagen, Wahrnehmungen freilich für sprachlich darstellbar hält und insofern wahr nennt, so unterscheidet er vermutlich auch nicht zwischen Vorstellungsbildern und den Sätzen, die sie darstellen. Tatsächlich bezeichnet er die Vorbegriffe auch als Urteile (άποφάσεις)41 und behauptet, daß sie keines Beweises mehr bedürfen 42 . Man hat ferner mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß der Vorbegriff des Gerechten kaum als Bild bezeichnet werden kann 43 . Vorbegriffe lassen sich also auch als Sätze charakterisieren, in denen allgemeine Begriffe 44 präzisiert werden, genauer als allgemeine Begriffe, die in Sätzen explizierbar oder definierbar sind: nach Philodem ist der Vorbegriff die spezifische Definition (ϊδιος λόγος) eines Begriffes 45 . Von Epikur selbst kennen wir die definitorische Einführung der Vorbegriffe „Gott" und „Gerechtigkeit" 46 . 39
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Ζ. B. Bailey (Epicurus, Ext. Rem. S. 2 4 1 : „visual mental image"). Epikur verwendet selbst zuweilen den Ausdruck ,,βλέπεσθαι" bezüglich der Vorbegriffe: . . . δσα έν ύποκειμένω ζητοϋμεν άνάγοντες έπϊ τάς βλεπομένας παρ' ήμϊν αύτοίς προλήψεις (Diog. Laert. Χ 72). Ebenso: ανάγκη γάρ το πρώτον έννόημα καθ' έκαστον φθόγγον βλέπεσθαι καϊ μηθέν άποδείξεως προσδεϊσθαι . . . (ibid. 38). Daß Epikur das Prädikat „ w a h r " auf Vorbegriffe anwenden konnte, läßt sich folgendem Satz entnehmen: ού γάρ προλήψεις είσιν άλλ' υπολήψεις ψευδείς αί χών πολλών υπέρ θεών άποφάσεις (Diog. Laert. Χ 124). Dem entspricht die Kennzeichnung der πρόληψις als δόξα όρθή bei Diog. Laert. X 33. Diog. Laert. X 124. Diog. Laert. X 38. de Witt, Epicurus and his philosophy, Minneapolis 1954, S. 144, G. Striker a. a. Ο . S. 2 8 f . Zur πρόληψις δικαίου vgl. Κ. Δ . 37, 38. Vgl. die Beschreibung der πρόληψις als καθολική νόησις bei Diog. Laert. X 33. . . . καϊ xö λόγον Ιδιον είναι τόνδε τοϋδε καϊ ταΰτην πρόληψιν, ώσπερ όταν εΐπωμεν το σώμα καθό σώμα δγκον 6χειν και άντιτυπίαν, και τον άνθρωπον f| άνθρωπος ζψον λογικόν (Philod. De sign. col. X X X I V 5 ff.). θ ε ό ς : = ζώον άφθαρτον καϊ μακάριον (Diog. Laert. Χ 123, Κ. Δ . 1); δίκαιον : = σΰμβολον τοϋ συμφέροντος εις το μή βλάπτειν άλλήλοις μηδε βλάπτεσθαι (Κ. Δ . 31, 33, vgl. auch 37, 38). Epikur fordert selbst zur Klärung der Wortbedeutungen auf: πρώτον μεν ούν τά ΰποτεταγμένα τοις φθάγγοις, ώ ' Ηρόδοτε, δεί εΐληφέναι (Diog. Laert. Χ 38). Vgl. Cie. De fin. II 2, 6 : . . . Epicurum . . . qui crebro dicat diligenter oportere exprimi, quae vis subiecta sit vocibus.
Methodologie bei Epikur und Gassendi
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Nach Epikurs Darstellung im Brief an Herodot werden Fragen, Probleme und Meinungen auf die Vorbegriffe bezogen und dadurch beurteilt47. Die Art der Beziehung wird nicht näher erläutert, aber weil Vorbegriffe Wahrheitskriterien sind, vermutet man zunächst, daß Epikur auf den Wahrheitsnachweis von Sätzen mit Hilfe der Vorbegriffe anspielt. Nun sind Fragen und Probleme aber nicht wahr oder falsch; ihre Beziehung auf und Beurteilung mittels der Vorbegriffe kann also nicht einfach als Wahrheitsüberprüfung gedeutet werden, und dies gilt dann vermutlich auch in bezug auf die Meinungen. In der Tat legen alle doxographischen Berichte, die wir zur Funktion der Vorbegriffe haben und die im übrigen oft die Formel „Fragen, Probleme, Meinungen" enthalten, eine andere Interpretation nahe: daß ohne Vorbegriffe, genauer ohne zuverlässige Kenntnis der Vorbegriffe Fragen nicht gestellt, Probleme nicht aufgeworfen und Meinungen nicht geäußert werden könnten 48 . Diese Behauptung ist ebenso einleuchtend wie selbstverständlich, wenn wir die Kenntnis der Vorbegriffe als Kenntnis der Bedeutungen von Prädikaten verstehen. Daß ferner ohne Kenntnis einiger Vorbegriffe entweder nur leere Laute verwendet würden (κενούς φθόγγους εχειν) oder der zum unendlichen Regreß führende Versuch gemacht werden müßte, die Präzisierung einiger Vorbegriffe mit Hilfe anderer vorzunehmen (εις άπειρον άποδεικνύναι), daß also, wie Epikur bemerkt49, die 47
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Dieser wichtige Text zur Funktion der Vorbegriffe sei hier vollständig angegeben: πρώτον μεν ούν τά ΰποτεταγμένα τοις φθόγγοις, ώ ' Ηρόδοτε, δεί είληφέναι, δπως άν τά δοξαζόμενα ή ζητούμενα ή άπορούμενα εχωμεν εις ταύτα άνάγοντες έπικρίνειν και μή άκριτα πάντα ήμίν tfj είς άπειρον άποδεικνύουσιν ή κενοίις φθόγγους εχωμεν. άνάγκη γαρ τό πρώτον έννόημα καθ' εκαστον φθόγγον βλέπεσθαι και μηθεν Αποδείξεως προσδείσθαι, εϊπερ εξομεν τό ζητοΰμενον ή άπορουμενον και δοξαζόμενον έφ' δ άνάξομεν (Diog. Laert. Χ 37/38). Der Ausdruck „ζητούμενα και άπορούμενα και δοξαζόμενα άνάγειν (sc. είς τάς προλήψεις)" scheint eine feststehende Formel gewesen zu sein, da sie von Epikur zweimal verwendet wird und in vielen doxographischen Berichten sich wiederfindet. και ουκ άν έζητήσαμεν το ζητούμενον, εί μή πρότερον έγνώκειμεν αυτό, οίον το πόρρω έστώς ίππος έστιν ή βούς; δει γαρ κατά πρόληψιν έγνωκέναι ποτε 'ίππου καΐ βοος μορφήν (Diog. Laert. Χ 33). ούτε ζητεϊν ούτε άπορεΐν έστι κατά τόν σοφον ' Επίκουρον. άνευ προλήψεως (Sext. Empir. adv. math. I 57). μή δύνασθαι δε μηδένα μήτε ζητήσαι μήτε άπορήσαι μηδε μην δοξάσαι, άλλ' ουδέ έλέγξαι χωρίς προλήψεως (Clem. Alex, ström. II 4). οί δε 'Επικούρειοι τάς προλήψεις (αίτιώνται τοϋ ζητεϊν ημάς και εύρίσκειν). ας εί μέν διηρθρωμένας φασί, περιττή ή ζήτησις4 εί δε άδιαρθρώτους, πώς άλλο τι παρά τάς προλήψεις έπιζητούμεν δ γε ουδέ προειλήφαμεν; (Olymp, in Plat. Phaed. p. 125, 10 Finckh). (anticipationem) . . . quam appellat πρόληψιν Epicurus, id est anteceptam animo rei quandam informationem, sine qua nec intellegi quicquam nec quaeri nec disputari potest (Cie. De nat. deor. I 16, 43). Vgl. Diog. Laert. X 37f., dazu Anm. 47.
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
Festlegung der Vorbegriffe keines rechtfertigenden Nachweises bedarf (μηθέν αποδείξεως προσδεΐσθαι), ist dann gleichfalls verständlich, dies übrigens nicht allein deshalb, weil Vorbegriffe Wortbedeutungen, sondern auch deshalb, weil sie Wahrheitskriterien sind. Daraus folgt, daß die Vorbegriffe nur notwendig, nicht unbedingt hinreichend sind für die Beurteilung der Wahrheit beliebiger Sätze. Da sie wahr sind in einem Sinne, den man heute „analytisch" zu nennen pflegt, lassen sich mit ihrer Hilfe zwar analytische Behauptungen beurteilen — aufgrund seiner Kenntnis der Vorbegriffe von Gott und Gerechtigkeit kritisiert beispielsweise Epikur abweichende Gottes- und Gerechtigkeitsvorstellungen —, nicht aber empirische Sätze. Zur Uberprüfung des Satzes „jener Gegenstand ist ein Pferd", um Diogenes' Beispiel zu benutzen 50 , ist zwar die Kenntnis des Vorbegriffs „Pferd" hilfreich, insofern der Gegenstand auf Merkmale untersucht werden kann, die ihm gemäß dem Vorbegriff von Pferd zukommen müßten, aber dieser Satz ist nach der epikureischen Kanonik ein Urteil, das des Nachweises noch bedarf (προσμένον), d. h. durch unmittelbare Wahrnehmung noch bestätigt werden muß. Demnach sind die Vorbegriffe keine Kriterien, die allein zur Uberprüfung des Wahrheitswertes beliebiger Sätze ausreichen. Offenbar hat Epikur in weiterem Sinne alle diejenigen Sätze Wahrheitskriterien genannt, die zur Uberprüfung der Wahrheit beliebiger Sätze beitragen. Die Einführung der Vorbegriffe als Wahrheitskriterien ist der Versuch, die Tatsache zu berücksichtigen, daß jede Frage- und Problemstellung und jede Beschreibung einer Wahrnehmung in einem Urteil immer schon geleitet ist von einem Netzwerk vorgängiger empirischer oder theoretischer Kenntnisse 51 . Seinem empiristischen Standpunkt entsprechend hat Epikur freilich allem Anschein nach betont, daß die Formierung der Vorbegriffe ausschließlich von Wahrnehmungen abhängt. Diogenes Laertius beschreibt den Vorbegriff, genauer wohl die Kenntnis eines Vorbegriffs als Erinnerung an einen äußeren Gegenstand, der häufig wahrgenommen wurde, und behauptet ferner, daß ein Vorbegriff nur unter Leitung der entsprechenden Wahrnehmungen gedacht wird 52 . Die unmittelbare, unverfälschte Herkunft der 50 51
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Diog. Laert. X 33. Ohne Zweifel knüpft Epikur dabei an Einsichten Piatons an und versucht das von Piaton im „Menon" formulierte Problem auf seine Weise zu lösen (vgl. Plat. Men. 80d5—7: και τίνα τρόπον ζητήσεις, ώ Σώκρατες, τοϋτο δ μή οϊσθα το παράπαν δτι έστίν ποίον γαρ ών ουκ οϊσθα προθέμενος ζητήσεις; die Ähnlichkeit der Formulierung besonders mit Diog. Laert. X 33 ist deutlich). Την δέ πρόληψιν λέγουσιν . . . μνήμην τοϋ πολλάκις εξωθεν φανέντος . . . και ό τΰπος αΰτοϋ νοείται προηγουμένων των αίσθήσεων (Diog. Laert. Χ 33).
Methodologie bei Epikur und Gassendi
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Vorbegriffe aus Wahrnehmungen, die für Epikur gerade die Wahrheit der Vorbegriffe sicherte, wird in einer Definition bei Clemens von Alexandrien deutlich, nach der ein Vorbegriff der Kontakt, genauer wohl das Resultat eines direkten Kontaktes (έπιβολή) mit etwas Evidentem, und zwar einer evidenten Vorstellung des Gegenstandes (also der Wahrnehmung) ist 5 3 . Die Leistung, die der Verstand möglicherweise bei der Bildung, Explikation und Anwendung der Vorbegriffe spielt, wird nahezu unberücksichtigt gelassen, so daß einiges dafür spricht, daß die Vorbegriffe kein von den Wahrnehmungen ganz unabhängiges Wahrheitskriterium sind 5 4 . Die allgemeine Grundlage dieses Standpunktes ist Epikurs Theorie vom Ursprung der Sprache, die naturalistische und konventionelle Elemente in sich vereinigt: Sprache entsteht zunächst von Natur aus, d. h. die Laute werden entsprechend den natürlichen Empfindungen und Vorstellungen geformt und erhalten so ihre Bedeutung; ihre Mehrdeutigkeit wird später durch Konvention beseitigt, und auch Bezeichnungen für nicht wahrnehmbare Gegenstände werden von Fachleuten festgelegt 55 . Wortbedeutungen sind also von Natur aus gegeben, ihre vorurteilslose Präzisierung muß daher zu stets wahren Vorbegriffen führen. Darum kann Epikur einerseits die Klärung der Vorbegriffe fordern und andererseits Definitionsversuche, die auf Nominaldefinitionen hinauslaufen (also 53
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πρόληψιν δε άποδίδωσιν (sc. ό Ε π ί κ ο υ ρ ο ς ) έπιβολήν έπί τι έν αργές και. έπϊ την έναργη τοϋ πράγματος έπίνοιαν (Clem. Alex, ström. II 4 p. 157, 44 Sylb.). Vgl. auch die allgemeinere Bemerkung von Diogenes Laertius, daß der gesamte Verstand von Wahrnehmungen abhängt und alle Gedanken aus Wahrnehmungen entstehen: πας γαρ λόγος άπό των αισθήσεων ή ρ τ η τ α ι . . . καί γαρ και έπίνοιαι πάσαι άπό των αίσθήσεων γεγόνασι (Diog. Laert. Χ 32). Vgl. dazu Rist, a. a. Ο. S. 26—30, der auch auf Diogenes' Formulierung „κριτήρια της άληθείας είναι τάς αίσθήσεις καί προλήψεις και τα πάθη (Χ 31) hinweist, in der durch das Fehlen des Artikels vor „προλήψεις" Wahrnehmungen und Vorbegriffe gegenüber den Empfindungen stärker verbunden zu sein scheinen. Furley geht aber zu weit, wenn er vermutet, daß erst die Doxographen die Vorbegriffe zum dritten Kriterium gemacht haben (Two Studies in the Greek Atomists, Princeton ( N . J . ) 1967, S. 206). De Witt andererseits leugnet die Abhängigkeit der Vorbegriffe von Wahrnehmungen und behauptet im Gegenteil, daß die Vorbegriffe jeder Wahrnehmung vorausgehen und eingeborene Ideen sind (vgl. de Witt, The gods of Epicurus and the Canon, in: Transactions of the Royal Society of Canada 36, 1942, S. 33—49; ders., Epicurus and his philosophy, a. a. O. S. 142—150). Er stützt sich dabei auf Cicero, der die Vorbegriffe von Gott als „insitas vel potius innatas cognitiones" bezeichnet (Cie. De nat. deor. I, 44f.). Dagegen Rist a. a. O. S. 165f. Diog. Laert. X 76. Spätere Berichterstatter schlagen Epikur zu einseitig der φύσιςSprachtheorie zu, vgl. ζ. B. Origin, contr. Cels. I 24 (Frg. 334 Us.), Procl. in Plat. Crat. 17 (Frg. 335 Us.). Ebenso Lukr. De rer nat. V 1028-1090.
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
Wortbedeutungen erst festlegen sollen), kritisieren 56 und den Naturforschern sagen, es genüge, wenn sie sich an die die Sachen selbst bezeichnenden Wörter hielten 57 . Einer Kontrolle des Verständnisses der Vorbegriffe und aller vorgegebenen Erkenntnis, die implizit in ihnen enthalten ist, ist damit allerdings gerade der Boden entzogen. Der zweite Pfeiler der epikureischen Kanonik, die Lehre von den Vorbegriffen, birgt also ähnlich wie die Wahrnehmungstheorie methodologische Probleme: die Vernachlässigung der theoretischen Elemente in Vorbegriffen, ihre Herleitung aus Wahrnehmungen bringt die Gefahr des Dogmatismus mit sich, die Epikur vermutlich gerade hat bannen wollen. Die atomistische Physik, deren Vorgehen die Kanonik absichern soll 58 , besteht in ihrem Kern aus Aussagen über nicht wahrnehmbare Gegenstände. Die bisher untersuchten erkenntnistheoretischen Bemerkungen Epikurs und seiner Doxographen lassen nur die Forderung sichtbar werden, daß alle Sätze mit Hilfe der Wahrheitskriterien überprüft werden sollen, nicht aber die Art und Weise, wie sie überprüft werden sollen, welche logischen Beziehungen also zwischen den Wahrheitskriterien und den durch sie überprüften Sätzen nach Epikurs Auffassung bestehen. Werden Vorbegriffe als Wahrheitskriterien benutzt, läßt sich das Verfahren allerdings leicht rekonstruieren: ein Satz der Form „x ist y" 5 9 ist wahr, falls er aus dem Vorbegriff χ (d. h. aus seiner stets wahren Explikation) logisch iolgt. In diesem Fall werden die Wahrheitskriterien also als Herleitungsbasis benutzt. Für die Überprüfung empirischer Prädikationen gab Epikur das Verfahren der (Nicht-)Bestätigung ((ουκ) έπιμαρτύρησις) an, das Sextus Empiricus erläutert 60 . Er nennt die Bestätigung „das durch Evidenz vermittelte Erfassen der Tatsache, daß der Gegenstand, über den etwas ausgesagt wurde, so beschaffen ist, wie es von ihm ausgesagt wurde" und entsprechend die Nicht-Bestätigung „das durch 56
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Vgl. oben Anm. 46 und Erotian, Glossarii Hippocratici Praefatio p. 34, 10 Klein (Frg. 258 Us.), wonach Definitionen geläufiger Prädikate durch unbekannte sinnlos, durch bekannte überflüssig sind. άρκεΐν γαρ τους φυσικούς χωρεΐν κατά τους των πραγμάτων φθόγγονς (Diog. Laert. Χ 31). Die enge Verbindung zwischen Kanonik und Physik zeigt Diog. Laert. X 30: είώθασι (sc. οι Επικούρειοι) τό κανονικον όμοΰ τφ φυσικω τάττειν. Gemeint ist natürlich „Alle ζ, die x sind, sind auch y". Diog. Laert. X 51 (Herodotbrief), dazu Diog. Laert. X 34 und Sext. Empir. adv. math. VII 212 und 215: έπιμαρτύρησις μεν κατάληψις δί έναργείας τού το δοξαζόμενον τοιούτον είναι όποϊόν ποτε έδοξάζετο . . . ώσαύτως δε ή οϋκ έπιμαρτύρησις . . . ύπόπτωσις δί έναργείας τού το δοξαζάμενον μή είναι τοιούτον όποιον περ έδοξάζετο.
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Evidenz vermittelte Erfassen der Tatsache, daß der Gegenstand, über den etwas ausgesagt wurde, nicht so beschaffen ist, wie es von ihm ausgesagt wurde" 6 1 . Unter „Aussagen" (δοξάζειν) kann sowohl Identifizieren als auch Prädizieren verstanden werden 62 . Es liegt auf der Hand anzunehmen, daß das Verfahren der Bestätigung darin besteht, den Satz ρ durch die Wahrnehmung, daß p, als wahr zu erweisen, und das Verfahren der Nicht-Bestätigung darin, den Satz ρ durch die Wahrnehmung, daß nicht p, als falsch zu erweisen 63 . Das hieße aber, daß unbesehen von der Wahrnehmung, daß (nicht) p, zu (nicht) ρ übergegangen werden dürfte, im Widerspruch zur epikureischen Wahrnehmungslehre. In der Tat zeigt das von Sextus angeführte Beispiel, daß das durch Evidenz vermittelte Erfassen (κατάληψις δι' έναργείας) die durch Beseitigung von Beobachtungshindernissen gesicherte Wahrnehmung ist 64 . Der Satz (nicht) p kann also bestätigt werden, d. h. folgt aus der Wahrnehmung, daß (nicht) p, zusammen mit der Behauptung, daß keine Beobachtungshindernisse bestehen. Dies stimmt überein mit der Analyse der Wahrnehmungslehre, nach welcher empirische Prädikationen nicht aus wahren Wahrnehmungsaussagen allein folgen 65 . Weniger leicht läßt sich die methodologisch wichtigere und für die atomistische Physik sogar entscheidende Frage beantworten, wie Epikur sich die Uberprüfung theoretischer Aussagen über nicht wahrnehmbare Gegenstände mit Hilfe der Wahrnehmungen vorstellt. Das entsprechende Ver-
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ούκ έπιμαρτύρησις ist also nicht das kontradiktorische Gegenteil von επιμαρτίιρησις, was auch wenig sinnvoll wäre. Vgl. G. Striker a. a. Ο . S. 3 2 ί . Sextus (ibid.) benutzt als Beispiel den Satz „jener Mensch dort ist Piaton", Diogenes Laertius ( X 34) den Satz „Jener Turm dort ist rund". Rist (a. a. O . ) sieht im Verfahren der έπιμαρτύρησις, das er als Vergleich von Wahrnehmungen auslegt, eine Möglichkeit, die Gefahr des Solipsismus zu vermeiden. Nun werden aber in der έπιμαρτΰρησις nicht Wahrnehmungen miteinander verglichen (was im übrigen überflüssig wäre, da nach Epikur Wahrnehmungen einander nicht widerlegen können, Diog. Laert. X 3 1 f . ) , sondern Meinungen durch Wahrnehmungen geprüft. Welche Wahrnehmungen zur Prüfung geeignet sind, wird gerade theoretisch entschieden. Die drei Stellen, an den Epikur selbst den Übergang von αϊσθησις zu δόξα als έπιμαρτύρησις beschreibt, geben keine weiteren Aufschlüsse (Diog. Laert. X 5 0 f . , Κ. Δ . 24, 37). Striker, a. a. Ο . S. 32. Die Verringerung der Distanz ist erneut angeführt (ibid. 212, 215), so wie auch bei Diog. Laert. X 34. Die nach Epikur zur Bestätigung empirischer Prädikationen ebenfalls notwendige Kenntnis der Vorbegriffe ist hier nicht explizit berücksichtigt. Das vollständige Bestätigungsverfahren kann man sich folgendermaßen vorstellen: der Satz „a ist x " folgt aus den Sätzen „x ist Y , , . . . , Y „ " , „ P nimmt wahr, daß Y , ( a ) . . . Y „ ( a ) " und „ E s bestehen keine Beobachtungshindemisse".
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
fahren hieß „(Nicht-)Widerlegung" ((ουκ) άωτιμαρτόρησις) und wird von Sextus ebenfalls näher beschrieben66: die Widerlegung als Aufhebung der Erscheinung durch das angenommene Nicht-Wahrnehmbare, die Nicht-Widerlegung als Folgerung des angenommenen und gemeinten Nicht-Wahrnehmbaren aus der Erscheinung. Verstehen wir „Aufhebung" und „Folgerung" in logischem Sinne, „Erscheinung" als Wahrnehmungsaussage und „angenommenes (gemeintes) Nicht-Wahrnehmbares" als theoretische Aussage, so besteht die Widerlegung im Nachweis, daß die theoretische Aussage, genauer: eine ihrer Folgerungen einer Wahrnehmungsaussage widerspricht. Hier scheint demnach das Wahrheitskriterium nicht als Herleitungsbasis, sondern als Kontrollinstanz verwendet zu werden. Das gälte auch für die Nicht-Widerlegung, wenn sie das kontradiktorische Gegenteil der Widerlegung wäre; denn dann ist eine theoretische Aussage wahr (nicht widerlegt), wenn sie nicht, genauer keine ihrer Folgerungen die Negation einer Wahrnehmungsaussage ist. Statt dessen gibt Sextus eine schärfere Fassung an, nämlich die Folgerung der theoretischen Aussage aus Wahrnehmungsaussagen66»; als Beispiel dient das Argument, mit dessen Hilfe Epikur die Existenz des leeren Raumes nachzuweisen versuchte und das die Form eines Modus Ponens hat, dessen Nachsatz in der Tat eine theoretische Behauptung und dessen eine Prämisse eine empirische Aussage ist: wenn Körper sich bewegen, existiert ein leerer Raum; nun bewegen sich Körper; es folgt: es existiert ein leerer
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Vgl. Diog. Laert. X 51 (Herodotbrief), dazu Diog. Laert. X 34 und Sext. Empir. adv. math. VII 213 und 214: ή μέντοι άντιμαρτύρησις . . . ήν συνανασκευή τοϋ φαινομένου τφ ύποσταθέντι άδήλω . . . ουκ άντιμαρτΰρησις δέ έστιν άκολουθία χοϋ ύποσταθέντος και δοξασθέντος άδηλου τφ φαινομενψ. 661 Vgl. G. Striker, a . a . O . S. 34. Anders W. Heintz, Studien zu Sextus Empiricus (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Sonderreihe Bd. 2), Halle 1932, S. 104ff., der diese scharfe Form der ούκ άντιμαρτΰρησις den späteren Epikureern zuschreibt. Philippson sieht Anzeichen für eine interessante terminologische Unterscheidung bei Epikur zwischen „διάνοια" (mentaler, für είδωλα empfängliches Auffassungsvermögen) und „λόγος" (reine Vernunft) mit der zutreffenden Begründung, für Aussagen über άδηλα, die keine είδωλα aussenden, sei der λόγος zuständig (R. Philippson, Zur epikureischen Götterlehre, in: Hermes 51, 1916, S. 570ff. und Rez. von Baileys Greek Atomists in Gnomon 6, 1930, S. 470ff.). Die von Freymuth (Zur Lehre von den Götterbildern in der epikureischen Philosophie, Berlin 1953) und Kleve (Zur epikureischen Terminologie, 1. λόγος und διάνοια; 2. Res occultae, amino videre, manu tractare (Cie. nat. deor. I 49), in: Symbolae Osloenses 38, 1962, S. 25—31) dagegen angeführten Stellen zeigen m. E. nur, daß Epikur nicht immer terminologisch zwischen „διάνοια" und „λόγος" unterscheidet, nicht aber, daß er keine Ansätze zu dieser Unterscheidung (an anderen Stellen) macht.
Methodologie bei Epikur und Gassendi
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Raum 67 . Die Analyse dieses Argumentes scheint die Epikureer und vermutlich bereits Epikur selbst davon überzeugt zu haben, daß jede theoretische Aussage aus empirischen hergeleitet und die Nicht-Widerlegung in diesem Sinne, ganz gegen die ursprüngliche Bedeutung dieses Ausdrucks, verstanden werden müsse 68 . Sogar zur Erläuterung der Widerlegung führt Sextus das Bewegungsargument, wenn auch in kontraponierter Form, als Beispiel an 69 . Insgesamt ist also das Bemühen vorherrschend, den fundamentalistischen Standpunkt auch hinsichtlich theoretischer Aussagen durchzuhalten, d. h. Wahrheitskriterien als Herleitungsbasis zu betrachten70. Damit
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Nicht von ungefähr macht Epikur gerade im Zusammenhang mit diesem Argument eine wichtige methodische Bemerkung: σώματα μεν γαρ ώς εστίν, αύτη ή αϊσθησις έπϊ πάντων μαρτυρεί, καθ' ήν άναγκαΐσν τέ> άδηλον τφ λογισμφ τεκμαίρεσθαι (Diog. Laert. Χ 39). Die älteren Atomisten führten noch andere Argumente zugunsten der Existenz des leeren Raumes an — insbesondere wiesen sie auf Verdichtungs- und Verdünnungsprozesse hin (vgl. Aristot. De cael. A7, 275b 29ff.); aber Sextus bezeugt, daß Epikur das Bewegungsargument für das stärkste hielt: Επίκουρος δοκεΐ Ισχυροτάτην τεθεικέναι άπόδειξιν είς το κενόν τοιούτον: εί εστι κίνησις, εστι κενόν, άλλα μην εστι κίνησις, εστι άρα κενόν (Sext. Empir. adv. math. VIII 329). Vgl. den Ausdruck ,,άπόδειξις" in Sext. Empir. adv. math. VIII 314 und 329 und eine allgemeine methodologische Überlegung zum Bewegungsargument: άπόδειξίς έστι λόγος δί όμολογουμένων λημμάτων κατά συναγωγην έπιφοράν έκκαλύπτων άδηλον, οίον 6 τοιούτος (es folgt das Bewegungsargument) (ibid. 314). Hier wird ,,άπόδειξις" sogar definiert als logischer Schluß auf einen theoretischen Satz. Ausgangspunkt ist die Behauptung der Stoiker, es existiere kein leerer Raum; nun gilt zweitens: wenn kein leerer Raum existiert, bewegen sich die Körper nicht; also folgt: die Körper bewegen sich nicht, gegen den sinnlichen Augenschein (Sext. Empir. adv. math. VII 214). Die zweite der hier benutzten Prämissen ist logisch äquivalent mit dem Satz „wenn die Körper sich bewegen, existiert ein leerer Raum", der im epikureischen Bewegungsargument gerade den Ubergang vom empirischen zum theoretischen Bereich ermöglicht. Sextus bezeichnet die Beziehung zwischen wahrnehmbarem und nicht wahrnehmbarem Bereich als besonders wichtigen Gegenstand der Kanonik: τά γαρ κανονικά πρώτον έπιθεωρούσιν περί τε έναργών καΐ άδηλων και τών τούτοις άκολουθών ποιούμενοι ύφήγησιν (Sext. Empir. adv. math. VII 22). Für die Herleitung haben spätere Epikureer vermutlich den Terminus ,,έπιλογισμός" verwendet (Philod. De sign. col. XXXVII 27—29, XXIV 4f., XVII 23), der bei Epikur selbst vor allem in ethischen Kontexten vorkommt (Κ. Δ. 20, έπιλογίζεσθαι Κ. Δ. 22, Diog. Laert. X 133, S. V. 35). Mit Recht weist de Lacey jedoch darauf hin, daß aus diesen Stellen sowie vor allem aus Diog. Laert. X 73, wo άπόδειξις und έπιλογισμός einander entgegengesetzt werden, nicht hervorgeht, daß ,,έπιλογισμός" eine nichtdiskursive, unmittelbare Erfahrung kennzeichnet, denn Epikur spricht hier durchweg vom Überlegen und Abwägen (z. B. der Folgen von Lusterfüllung), vgl. Ph. de Lacey, Epicurean 'Επιλογισμος, in: American Journal of Philosophy 79, 1958, S. 179—182. Für die logischen Beziehungen zwischen empirischen und theoretischen Sätzen verwendet Epikur selbst den Terminus „λογισμός" (Diog. Laert. X 32, 39).
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
stimmt die in den Zeugnissen verbreitete Forderung überein, sich der Wahrnehmungen als Zeichen (σημεία) zu bedienen71, vor allem aber Epikurs eigene Erklärung zu Beginn des Briefes an Herodot, daß das Nichtwahrnehmbare notwendigerweise mit Hilfe vernünftiger Überlegung aus den Wahrnehmungen zu erschließen sei72. Spätere Epikureer, von denen wir Philodem in diesem Zusammenhang besonders gut kennen, halten an Epikurs Standpunkt fest, messen allerdings der Induktion als der spezifischen Herleitungsform, die von empirischen zu theoretischen Aussagen führt, besonderes Gewicht bei 73 . Unter der Voraussetzung, daß das Herleitungsverfahren durchführbar ist, werden sich keine Widersprüche zwischen empirischen und theoretischen Aussagen ergeben74. Zuweilen versteht Epikur die Nicht-Widerlegung freilich im weiteren Sinne, meist dann, wenn er Erklärungen abgibt und dabei bemerkt, die Erscheinungen widersprächen ihnen nicht75. Das ist verständlich, weil in 71
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Diog. Laert. X 38 (επειτα κατά τας αισθήσεις δει πάντα τηρεΐν . . οπως αν τό προσμένον καΐ το άδηλον Ιχωμεν οίς σημειωσόμεθα) ist nicht ganz eindeutig, aber nach X 32 (δθεν και περί των άδηλων άπο των φαινομένων χρή σημειοϋσθαι) und Χ 104 (. . . έάν τις καλώς τοις φαινομένοις άκολουθών περι των άφανών σημειώται) ist stets von den Erscheinungen auszugehen; im Herodotbrief heißt es, daß die theoretische Behauptung, die Seele sei körperlich, auf Wahrnehmungen zurückgeführt werden könne (άναφέρειν έπΐ τάς αισθήσεις, Diog. Laert. Χ 63). „σημειοϋσθαι" heißt deuten, interpretieren (ζ. Β. Polyb. V 78, 2) und in der Medizin diagnostizieren (ζ. B. Gal. XVIII 851), bezeichnet also Handlungen, bei denen man vom zu untersuchenden Gegenstand ausgeht. Bei Philodem findet sich der Ausdruck ,,ό έκ της έναργείας σημειούμενος περί των άδήλων" (De sign. 15), im Pythoklesbrief die Formulierung „τάς ακολούθους αύτοϊς (sc. φαινομένοις) υποθέσεις καΐ αιτίας", wo die empirische Basis als Ausgangspunkt der Forschung gekennzeichnet wird. . . . αύτη ή αΐσθησις έπι πάντων μαρτυρεί, καθ' ήν άναγκαίον το άδηλον τω λογισμφ τεκμαίρεσθαι (Diog. Laert. Χ 39). Zum Bewegungsargument wurde zu Recht darauf hingewiesen, daß die für die Herleitung entscheidende Implikation ,,εί εστι κίνησις, εστι κενόν" ihrerseits nur durch Induktion und Analogie gerechtfertigt werden kann (Philod. De sign. col. VIII 26ff.). Im übrigen wurde zwischen (induktiven) Schlüssen, die zu empirischen Generalisationen, und solchen, die zu theoretischen Behauptungen führen, methodologisch nicht unterschieden (vgl. ibid. col. XVI 15 ff. zur Beschreibung einer „empirischen" Induktion, col. XVII 19—23 und XXXVII zu induktiv gewonnenen theoretischen Behauptungen über atomare Eigenschaften). Nach Diog. Laert. X 32 hat auch Epikur selbst Analogieschlüssen und verwandten Operationen eine gewisse Rolle zugebilligt. Zur Funktion der Analogie vgl. noch Philod. Πραγμ. V H 2 I 126 (frg. 212 Us.). Philod. De sign. col. XV 25—28: γελοΐον δ' έστιν έκ της έναργείας σημειούμενον περί των άδήλων μάχεσθαι τη έναργείςι. Vgl. Diog. Laert. Χ 32, 47, 48, 50f., 55, 88, 92, 95, 98. In Χ 88 werden Aussagen über irdische Erscheinungen als Uberprüfungsmittel für Aussagen über Himmelserscheinungen bezeichnet, dienen also nicht direkt als Herleitungsbasis. Auffällig ist auch, daß Epikur im Pythoklesbrief den Zusammenhang zwischen wahrnehmbarem und nicht wahrnehmbarem Bereich häufig unpräzise durch „συμφωνία (σύμφωνον)" beschreibt
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kausalen Erklärungen die empirischen Sätze nicht Ausgangspunkt, sondern Explananda sind und daher ihrerseits aus theoretischen Aussagen (und weiteren Zusatzannahmen) hergeleitet werden76. Ein Ausdruck dieser Tatsache ist die von Epikur besonders für Astronomie und Meteorologie geforderte und angewendete Methode der mehrfachen Erklärung, nach der gegebene Phänomene auf unterschiedliche Weise gedeutet werden können 77 . Denn auch wenn nicht bekannt ist, welche Erklärung die richtige ist, muß offenbar angenommen werden, daß eine wahr ist und die anderen daher falsch sind78. Schon aus logischen Gründen könnten aber aus wahren Sätzen nicht zugleich wahre und falsche Sätze hergeleitet werden. Die Methode der mehrfachen Erklärung ist daher mit Epikurs empirischen Fundamentalismus nicht vereinbar79. Die vorstehenden Überlegungen zeigen, daß Epikurs Kanonik eine stärkere Berücksichtigung der Rolle nichtempirischer Überlegungen in der Physik nahelegt: die Wahrnehmungsbasis kann ohne Theorie nicht gesichert und zur Bestätigung theoretischer Behauptungen nicht fundamentalistisch eingesetzt werden, die Vorbegriffe repräsentieren die immer schon vorgegebenen Erkenntnisse. Zugleich ist sie freilich gerade dadurch gekennzeichnet, daß diese Tendenzen nicht zum Durchbruch kommen, sondern im Gegenteil konsequent unterdrückt werden. Ansätze zum Dogmatismus sind die Folge; nicht von ungefähr sind keinerlei Be-
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(Diog. Laert. X 86, 87, 93, 95, 112, vgl. ,,ομοιον" 102) und damit die Beziehung zwischen den entsprechenden Aussagen offenläßt. Epikur sieht immerhin kausale Erklärungen als wichtigste Aufgabe der Naturwissenschaft an: το την ΐιπέρ των κυριωτάτων αΐτίαν έξακριβώσαι φυσιολογίας έργον είναι δεί νομίζειν (Diog. Laert. Χ 78). Vgl. z. Β. Diog. Laert. X 7 9 f . , wonach diese Methode sogar für den gesamten nichtwahrnehmbaren Bereich (πάν το άδηλαν) gelten soll. Die Kernsätze der atomistischen Physik waren freilich ausgenommen (ibid. 86). Ferner ibid. 80f., 94f., 96f., 98, 113. An einer Entscheidung zwischen den verschiedenen Theorien war Epikur nicht nur nicht interessiert, er hielt sie sogar für unerreichbar (Verweis auf die condition humaine Diog. Laert. X 9 4 f . ) . Epikur selbst spricht nirgends von der möglichen Falschheit einiger Erklärungen; im Pythoklesbrief heißt es sogar, daß mehrere Erklärungen zugleich wahr sein können (Diog. Laert. X 96), wenn nämlich verschiedene Ursachen dasselbe Phänomen hervorrufen und daher auch zusammenwirken können. Das ist natürlich nicht immer der Fall. In der Μεγάλη' Επιτομή scheint Epikur aber anerkannt zu haben, daß im allgemeinen nur eine der Erklärungen zutrifft (Lukr. De rer. nat. V 525—533). Zu Unrecht sieht Rist in der vermeintlich unterschiedlichen Sicherung empirischer und theoretischer Sätze ein Problem (a. a. O . S. 40), aber ebensowenig trifft de Laceys Behauptung zu, Epikur habe in seiner Kanonik die Möglichkeit eines konsequenten, auch in theoretischer Forschung anwendbaren Empirismus dargetan (Development of Epicurean Logic . . . S. 143—145).
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merkungen Epikurs zur Möglichkeit der Änderung physikalischer Hypothesen überliefert: die Kernsätze atomistischer Physik gelten unabänderlich, über Erklärungen einzelner Phänomene kann endgültig nicht entschieden werden. 1.1.2. Gassendis Methodologie der Physik Die nacharistotelische antike Philosophie hat bedeutende Beiträge zur Entwicklung der formalen Logik beigesteuert: Stoiker und Megariker bilden die Aussagenlogik aus, analysieren logische Junktoren, diskutieren die erste logische Antinomie und bedienen sich formalistischer Technik. Epikurs Verachtung der Logik und ihre Ersetzung durch Erkenntnistheorie und Methodologie der Erforschung der Natur ist eine Ausnahmeerscheinung. Im 17. Jahrhundert dagegen faßt niemand die Logik mehr als diejenige Wissenschaft auf, die die logisch wahren Sätze (logisch gültigen Schlüsse) auszeichnen soll. Die Logique du Port Royal, die vier Jahre nach Gassendis Syntagma Philosophicum erschien und dieselbe Einteilung aufweist wie dessen Institutio Logica (über Ideen, Urteile, Schlußfolgerung, Methode), orientiert sich im wesentlichen an den Kategorien, der Hermeneia und den ersten sieben Kapiteln der ersten Analytiken des Aristoteles, enthält im übrigen aber viele erkenntnistheoretische Erwägungen1. Gassendi konnte daher Funktion und Ziel der Logik im Anschluß an Epikur bestimmen und dennoch zugleich zeitgemäß bleiben: als Kunst des Denkens (l'art de penser)2 soll sie zur Erforschung der Wahrheit beitragen, d. h. Regeln angeben, deren Beachtung zu wahren empirischen Sätzen führt 3 . Gassendis Logik, der erste Teil des Syntagma4, enthält darum seine 1 2 3
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A. Arnauld, P. Nicole, La logique oü l'art de penser, Paris 1662 (Amsterdam 1675). Gass. S. P. I 9 1 a l : Logica est ars bene cogitandi. Intelligimus rursus . . . videri Logicam functam esse officio, cum formare cogitationem apposite ad inquirendum, inveniendumque verum praescripsit; et, quod superest, Physicae, aliive scientiae, ut tali cogitatione in subiecta sive materia utatur, committit (Gass. S. P. I 67 a2) . . . Intelligimus, inquam, dici posse (sc. Logicam) Dialecticam Veri et Falsi disceptatricem non ideo censeri, quod ullam huiuscemodi quaestionem speciatim disceptet, sed quod generatim tradat regulas, quibus quilibet disceptantes utantur (ibid. 67b 1). Offenbar denkt Gassendi hier nicht nur an rein logische Regeln. Vgl. ferner ibid. 86b 1: Physica nimirum caeteraeque scientiae ita ex professo circa suam quaeque materiam occupantur, ut quid in ea sit verum perscrutentur; logica vero singulis praeit quandamque veluti facem praefert, quatenus praecepta generalia tradit regulasque omnibus communeis, quibus, si utantur, a veri inquirendi via non aberrent, aut, ubi aberraverint, tum sui erroris admoneantur, tum rectiorem viam instituant. Die drei Versionen der Logik von 1636 (Carp. 1832f° 205-256), 1649 (Animadv. 117—159) und 1658 (S. P. I 31 — 124) unterscheiden sich dem sachlichen Inhalt nach nicht wesentlich.
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wichtigsten Bemerkungen zur Methodologie der Physik, zum Teil, in den ersten beiden Büchern der Logik, gekleidet in ein historisches Referat über epikureische Logik, zum Teil aber auch, in der Institutio Logica und im fünften Kapitel des zweiten Buches 5 , als Äußerungen eigener Auffassungen. Beide Darstellungsformen unterscheiden sich ihrem Inhalt nach wenig, weil Gassendi weite Teile der epikureischen Kanonik akzeptiert 6 . Insbesondere scheinen manche seiner expliziten methodologischen Bemerkungen auch außerhalb der Logik anzudeuten, daß er Epikurs Empirismus ohne Diskussion übernimmt: daß sinnliche Wahrnehmung Grundlage aller Erkenntnis ist, wird bereits in den Exercitationes Paradoxicae betont, später Descartes vorgehalten und schließlich in der Institutio Logica fixiert, die darüberhinaus die tabula-rasa- und Abbildungstheorie enthält 7 . Diese Indizien — die enge Anlehnung an Epikurs Kanonik und gelegentliche, empiristisch klingende Formulierungen — berechtigen aber noch nicht zu einem endgültigen Urteil über Gassendis eigene Haltung 8 , s 6
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Gass. S. P. I 79 b - 8 6 a. Das fünfte Kapitel des 2. Buches der Logik, in dem Gassendi die referierten Logiken beurteilt und seine eigene Auffassung darstellt, enthält ζ. B. Epikurs Lehre von den zwei Wahrheitskriterien αΐσθησις (sensus) und πρόληψις (anticipatio) und von den σημεία (signa), vgl. Gass. S. P. I 80a—81b. Vgl. ferner das Lob der epikureischen Logik (Kanonik) S. P. I 89a 1; kritisiert wird nur der Mangel an genauen Regeln für die Etablierung theoretischer Aussagen. Von der Institutio Logica sind Pars I, Can. I—III (S. P. I 92bf.), I X - X I I (S. P. I 96af.), Pars II Can. I (S. P. I 100bf.), XIII (S. P. 103 bf.), Pars IV Can. IV (S. P. 122 a), VII (S. P. 123 af.) epikureisch. . . . imprimis cum constet notitiam omnem, quae in nobis est, vel sensuum esse, vel manare a sensibus, ideo constare videtur non posse aliquod de ulla re iudicium ferre, nisi cui sensus ferat testimonium (Gass. Ε. P. III 192bl). Porro adnotare placet videri omneis Ideas esse adventitias, procedereve a rebus extra ipsam mentem exsistentibus, et cadentibus in aliquem sensum (Gass. D. M. III 318a 1, vgl. die Anwendung auf Astronomie ibid. 2 8 3 b l und die Argumente gegen das erkenntnistheoretische Gewicht der Sinnestäuschungen, ibid. 281b). Dazu Can. I, II, V, VIII der epikureischen Logik (S. P. I 53 af.), aus der Instit. Log. Pars I Can. II (Omnis, quae in mente habetur idea ortum ducit a sensibus), darin auch die tabula-rasa-Theorie (ibid. 92 b 2); zur Abbildtheorie vgl. ζ. B. S. P. I 95a2, D . M. III 332b). Diese und ähnliche Stellen jedoch in methodologischer Hinsicht als bestimmend für Gassendis Standpunkt zu bezeichnen (so R.Tack, a. a. O. S. 44), dürfte zumindest vorschnell sein. Eine derartige Einschätzung verführt auch dazu, Gassendi ohne weiteres als Sensualisten einzustufen (R. Tack, a. a. O. S. 49ff.): „Der Sensualismus . . . blieb allezeit die Signatur seiner (sc. Gassendis) Erkenntnistheorie" (S. 57). Vgl. z . B . T.Gregory (Einleitung op. om. XV), der behauptet, neben atomistischer Physik und naturalistischer Lustethik habe auch Epikurs Erkenntnistheorie Gassendi stark beeindruckt. Als Beleg wird freilich eine Stelle angeführt, in der Gassendi selbst nur auf die Vorzüge epikureischer Physik und Ethik hinweist: Et videri quidem potest Epicurus arridere prae caeteris, quod illius mores purgare aggressus, deprehendere mihi visus fuerim posse ex physica eius positione de inani et atomis, et ex morali de voluptate difficultates longe plureis, longeque expeditius, quam ex aliorum philosophorum posi-
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ebensowenig wie die bei jeder passenden Gelegenheit wiederholten Hinweise auf die Wichtigkeit von Beobachtung und Experiment 9 , die sich vor allem kritisch gegen Spekulationen aller Art wenden. Im folgenden gilt es zu untersuchen, ob Gassendis Darstellung der epikureischen Kanonik und seine eigenen Überlegungen, die sich daran anschließen, Anzeichen für eine gegenüber Epikur veränderte Methodologie erkennen lassen. Die Uberschriften der ersten vier Regeln im Bericht über die Logica Epicuri 1 0 fassen Epikurs Wahrnehmungstheorie adäquat zusammen. Die erste bezeichnet das sinnliche Wahrnehmungsvermögen als unfehlbar und daher jede sinnliche Vorstellung als wahr. In den Erläuterungen zu den entsprechenden Canones des Philosophiae Epicuri Syntagma dehnt Gassendi diese These, im Gegensatz zu Epikur (in den erhaltenen Texten), aber im Anschluß an seine Doxographen, ausdrücklich auf Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen aus 1 1 . Die empirische Basis, die Epikur im Auge hatte, besteht für ihn daher nicht aus empirischen Prädikationen, sondern aus reinen sinnlichen Eindrücken, deren Vorliegen ihre Wahrheit garantiert 12 , und er versäumt nicht, Sextus' Bemerkung wiederzugeben, Epikur identifiziere in diesem Zusammenhang Sein und Wahrsein 13 . Wie die verwendeten Beispiele zeigen, hält er ferner wie Epikur die sinnlichen Eindrücke für sprachlich darstellbar 14 und muß daher Wahrnehmungs-
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tionibus explicari (S. P. I 30af.). Auch nach O . R. Bloch handelt es sich um eine „Wiederaufnahme des Epikureismus", (ralliement ä Pepicurisme), die freilich gerade verhindert, das methodologische Problem konsequent auszuarbeiten; das gelte besonders für die experimentelle Methode (La Phil, de Gass. S. 50ff.). Vgl. ζ. B. (in chronologischer Reihenfolge) III 266, 653a, VI 34b, IV 504a, VI 6 0 a - b , 62a, III 382a—b, 632b, 309b. Die ständige Aufforderung zu Experiment und Beobachtung charakterisiert allein jedoch noch keinesfalls Gassendis methodologische Position, wie einige seiner Interpreten anzunehmen scheinen (ζ. B. O . R. Bloch a. a. O . S. 46). Gass. S. P. I 52b—54a. Gass. P. E. S. III 561, 7a 1 (Sinnestäuschungen), 6 a 2 (Wahnvorstellungen). Sensus . . . solum in se speciem sensibilis rei excipit nudeque apprehendit, cuiusmodi sibi per speciem apparet (Gass. S. P. I 53 a2). Denique (sc. Epicurus confirmat Canonem), quod omnis, quae in sensu creatur apparentia (imo et quae creatur etiam in facultate interiore seu somniante seu delirante) revera exstet, sive sit . . ., atque idcirco vera sit; neque enim differt, aliquid esse, et verum esse (Gass. S. P. I 53 b2). Die Synonymität von „esse" und „verum esse" steht hier in direktem Zusammenhang mit der Wahrheit von Traum- und Wahnvorstellungen. Vgl. ζ. B. Gass. S. P. I 80b 1: . . . ideo utramque veritatem circa id, quod apparet, relinquunt, prout et apparentiam existere non dubitant . . . et vere e n u n c i a r i , i u d i c a r i q u e talem apparentiam exhiberi non controvertunt (Sperrung von mir). Daß die Ausdrücke „wahr" und „falsch" im eigendichen Sinne nur auf Sätze angewendet werden, steht S. P. I 100b2.
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urteile der Form „ x nimmt wahr, daß p " als Elemente der empirischen Basis Epikurs angesehen haben 1 5 . Klarer als Epikur selbst und seine D o x o graphen kennzeichnet Gassendi die empirische Basis der epikureischen Kanonik als Menge von Wahrnehmungsurteilen, und zwar, wie die angeführten Stellen zeigen, geleitet von dem Versuch, Epikurs Behauptung, alle Wahrnehmungen seien wahr, mit den Problemen von Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen zu vereinbaren. Er hat damit genau die im vorhergehenden Abschnitt angebotene Epikurauslegung in nuce vorweggenommen 1 6 , vermutlich jedoch nicht erkannt, daß Epikur selbst sich nicht so eindeutig geäußert haben dürfte. Die viel diskutierte methodologische Wandlung Gassendis vom radikalen Pyrrhonisten in den Exercitationes Paradoxicae zum gemäßigten Empiristen im Syntagma Philosophicum muß von hier aus einer erneuten Prüfung unterzogen werden. Die schweren Angriffe, die Gassendi vor allem in der 5. und 6. Exercitatio des zweiten Buches gegen die Sicherheit empirischer Aussagen richtet, die als einziges Fundament des Wissens gelten, lassen zwar angesichts der zahlreichen Bemerkungen über die unerschütterliche Sicherheit von Wahrnehmungsurteilen im Syntagma Philosophicum die methodologische Diskrepanz verständlicherweise groß erscheinen — der wachsende Einfluß Epikurs gegenüber der skeptischen Tradition macht sich angeblich bemerkbar —, aber es muß andererseits daran erinnert werden, daß er gleichzeitig die scientia experimentalis der (vermeintlichen) scientia demonstrativa Aristotelea gegenüber verteidigt und rechtfertigt. Diese scientia experimentalis besteht nun genau aus Wahrnehmungsurteilen der Form „x nimmt wahr, daß p " und wird skeptischen Einwänden ausdrücklich entzogen 1 7 , reicht freilich — eine wichtige Einsicht — für einen Schluß auf „innere Gründe" (theoretische Behauptungen)
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Vgl. S. P. I 8 0 b 1 (oben Anm. 13) und PES III 6 a 2 f . , wo es im Hinblick auf das Turmbeispiel heißt: N o n fallitur (sc. sensus) autem, quia talem esse turrim non pronuntiat, sed passive solum se habet, speciem accipiens ac r e f e r e n s dumtaxat, quid sibi apparet. Der Ausdruck „referens . . . apparet" bezieht sich offenbar auf Wahrnehmungsurteile. In einem Brief an Ludwig von Valois aus dem Juli 1642 benutzt Gassendi das Verb „renunciare": . . . cum sensus quidem nihil aliud, quam renunciet talem turrim apparere ob speciem detritam rotundamque . . . (VI 1 4 9 b 1).
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Vgl. oben S. 3 0 - 3 8 . Deinde vero admittere posses appellandam Scientiam esse notitiam quandam experimentalem et rerum apparentium, ut cum dico scire me sedere . . . itemque scire mel mihi potius videri dulce quam amarum, calidum ignem potiusquam frigidum . . . N e igitur quispiam hie nobis facere invidiam conetur, quod perspectas adeo et illustres res pernegemus et insequamur, idcirco praemonendum est eiusmodi scientiae genus a nobis hie non impugnari (Gass. Ε . P. III 1 9 2 a 2 und die folgenden Beispiele).
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nicht aus 18 . Sie wird von Gassendi auch in der chronologisch zwischen Exercitationes und Syntagma Philosophicum liegenden Disquisitio Metaphysica Descartes gegenüber als einzige Grundlage des Wissens bezeichnet, die selbst vom cartesischen Zweifel nicht getroffen werden kann19, ein Standpunkt, den er in De Veritate Herbert von Cherbury gegenüber als seinen eigenen kennzeichnet 20 . Noch im Syntagma Philosophicum bezieht Gassendi alle Argumente der Skeptiker gegen die Möglichkeit sicheren Wissens ausschließlich auf Aussagen, die zu beschreiben versuchen, wie die Gegenstände in sich, ihrer inneren Natur nach beschaffen sind 21 . 18
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Hinc et admitti quoque potest dari nonnullas res scibiles, at non tarnen quae sein valeant scientia ilia Aristotelea, sed experimentaliter solum vel secundum apparentiam . . . Caeterum enim ad intimas usque rerum naturas penetrare, hoc est quod imur inficias (Ε. P. III 209 b2). In der Frage der Möglichkeit theoretischer Erkenntnis ändert Gassendi natürlich seine Haltung, als er die atomistische Physik zu akzeptieren beginnt. Et certe, cum tibi ignota Scepticorum argumenta non sint; quid est, quod possimus verum inferre, tanquam clare et distinete pereeptum, nisi apparere id, quod cuique apparet? Ego saporem peponis gratum clare distineteque pereipio: itaque verum est peponis saporem apparere mihi huiuscemodi (D. M. III 314b2). Falsitas est non in sensu, qui mere passive se habet, refertque solum ea quae apparent, quaeque talia ex suis causis apparere necessum est (ibid. 388a2). Et ut dubitare de caeteris liceat, saltem de eo dubitare non licet quod res tales appareant, nec potest non esse verissimum taleis apparere (ibid. 388b). Quocirca, et ego illos (sc. Scepticos) imitatus earn veritatem quidem admitto, quod palato meo mel duce appareat, seu quod idem est, me scire profitear, quod hunc dulcorem experiar (III 413 a 1). Nimirum illi (sc. Sceptici), quemadmodum superius observavimus, aliud esse dicunt rerum apparentiam seu id, quod res extrinsecus apparent, aliud rerum veritatem seu naturam intimam, id nempe, quod res in se sunt, ac se, cum nihil certo sciri nullumve dari criterium dicunt, non loqui de eo quod res esse apparent quodque per sensum quasi per proprium quoddam criterium manifestatur, sed de eo, quod res in se sunt, quodque ita occultum est, ut nullo criterio revelari possit (I 70a 1). Hoc solum inculcandum est, esse Scepticos maxime, qui distinguere soleant inter την φαντασίαν „apparentiam" seu id, quod res esse apparent, et την άλήθειαν „veritatem" seu id, quod res sunt, quique contestentur se nullam intentare litem de rerum apparentia, sed de veritate dumtaxat . . . Isthaec (sc. apparentia) itaque inconcussa cum habeant deque ipsis non haereant, controversiam solum Dogmaticis faciunt de eo, quod se nosse profitentur non modo quales res appareant, sed etiam quales in se sint, seu qualis sit earum interior natura (I 73 a 1). Nam cum alioquin Sceptici vulgo admittant τά φαινόμενα „apparentia" seu id quod res esse appareant, ideo utramque veritatem circa id, quod apparet, relinquunt, prout et apparentiam existere non dubitant et vere enunciari iudicarique talem apparentiam exhiberi non controvertunt (I 80b 1). Vgl. ferner VI 146a 1: Quippe attingendi sunt modi ac veluti loci communes, ex quibus illi (sc. Sceptici) sunt argumenta«, continendum est sive cohibendum accensum, quoties non de eo, quod apparet, sed de eo, quod res in seipsa est, diciturque verum, est quaestio (Brief an Ludwig von Valois vom Juni 1642). Vgl. dazu R. Popkin, History of Scepticism V S. 103 ff.; Kiefl, Gassendis Scepticismus S. 295 ff. Formulierungen wie „Akzeptierung der Welt der Erscheinungen als einziger Basis für das Wissen von diesen Erscheinungen" (Popkin) oder „Wissen im Sinne einer
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Gassendis Interpretation der skeptischen Erkenntnistheorie und der epikureischen Kanonik — ob sie richtig ist oder nicht, kann hier dahingestellt bleiben — mußte ihn zu der Auffassung führen, daß beide trotz aller sonstigen Unterschiede dieselbe empirische Basis akzeptieren22. Die Anerkennung der epikureischen Kanonik konnte er daher nicht als Änderung, sondern als Bekräftigung seines seit den Exercitationes mit so viel Engagement vorgetragenen skeptischen Standpunktes empfinden, jedenfalls soweit die Wahrnehmungslehre berücksichtigt wird (Unterschiede stellen sich, wie bereits angedeutet, erst bei der Frage der Möglichkeit theoretischer Erkenntnis ein). Daß eine empirische Basis, die als unangreifbar gelten kann, aus Wahrnehmungsurteilen der angegebenen Form besteht, formuliert Gassendi, wie die Texte zeigen, immer dann mit besonderer Klarheit, wenn er die Position der Skeptiker referiert oder verteidigt. Seine Beschäftigung mit dem antiken Skeptizismus hat ihm daher vermutlich geholfen, den erkenntnistheoretischen Solipsismus, den die Wahrnehmungslehre der epikureischen Kanonik ihrer Tendenz nach repräsentiert, deutlicher als andere zu erkennen. Es liegt daher nahe anzunehmen, daß Gassendi auch die Schwierigkeiten klarer gesehen hat als Epikur, die mit dieser restriktiven Erkenntnistheorie verbunden sind, wenn es um das Problem der Beurteilung (Rechtfertigung oder Bestätigung) theoretischer Aussagen mit Hilfe der empirischen Basis geht. Epikurs Grundsatz, daß alle Wahrnehmungen wahr sind, wird von Gassendi nicht angetastet; aber er erklärt ausdrücklich, daß nicht jede Wahrnehmung zur Uberprüfung oder Sicherung anderer Sätze herangezogen werden kann, sondern nur diejenigen, die „frei von Zweifel" (d. h. Unsicherheit), also mit Sicherheit keine Sinnestäuschungen sind 23 . Weder bei Epikur noch bei seinen Doxographen gibt
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erfahrungsmäßigen Erkenntnis der Erscheinungen" (Kiefl). kennzeichnen Gassendis Position nicht genau genug. Nimirum ipsi (sc. Sceptici) communeis quidem cum Dogmaticis apparentias habent . . . (I 73 a 1). Bereits 1642 schreibt Gassendi an Ludwig von Valois, daß zwischen Skeptikern und Dogmatikern bezüglich der Erscheinungen nicht über ein Wahrheitskriterium diskutiert wird: Adnoto haec autem, ut intelligas non disquiri criterium neque circa res manifestas . . . neque circa res penitus occultas (VI 145 a2). Am deutlichsten S. P. I 13 b 2: Notandum vero, cum utrique (sc. Academici et Sceptici) verum inventum, comprehensumque non concedunt Dogmaticis, intelligere illos veritatem seu naturam intimam rerum; nam alioquin circa τά φαινόμενα „ea quae apparent" seu ut ita dicam rerum apparentias, nihil ambigunt, sed potius consentiunt, et Pyrrhonei quidem sive Sceptici maxime. Nimirum licet experientia sensibus peracta sit regula summa, ad quam, dum de re quapiam dubitatur, confugiendum sit, non quaevis tarnen talis est habenda, sed ea solum,
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es ähnlich deutliche Äußerungen; immerhin setzen sie die Einsicht voraus, daß, hält man am Grundsatz der Wahrheit aller Wahrnehmungen fest, einige Elemente der Basis ihren Charakter als Wahrheitskriterien einbüßen — daß also die Sicherung der Basis mit ihrer Funktion als Überprüfungsmittel unvereinbar ist. Folgerichtig weist Gassendi häufiger und ausführlicher auf verschiedene Umstände hin, die die Wahrnehmungen beeinträchtigen könnten, und führt zuweilen ganze Kataloge von Beobachtungshindernissen auf 2 4 . Wenn er von der „Evidenz der Sinneswahrnehmung" (sensus evidentia) in ihrer Funktion als Uberprüfungsmittel spricht, fehlt, anders als bei Epikur und den Epikureern, niemals die Zusatzbedingung, daß keine Beobachtungshindernisse vorhanden sein dürfen 2 5 , ebensowenig der Hinweis, daß für alle Erscheinungen, insbesondere die Sinnestäuschungen, physikalische Gründe und damit theo-
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quae est purgata omni instantia omnique dubio quaeque adeo est evidens, ut expensis omnibus contradici iure non possit (S. P. I 9 6 b 1). In einem Brief vom August 1642 an Ludwig von Valois stellt Gassendi dies fälschlicherweise als Epikurs eigene Meinung dar, mit dem Hinweis, Epikur habe davor gewarnt, nicht vorschnell ein Urteil aufgrund einer Wahrnehmung zu fällen: Docet proinde Epicurus non ex quacumque apparentia opinandum esse, sive pronunciandum de re, sed ex ea solummodo, cui contradici ieire non possit. Ipse est nempe, qui introduxit apud Laertium το προσμένον, quod est exspectandum esse sive temere iudicium non ferre (VI 150a2). Mit „προσμένον" bezieht sich Epikur jedoch gerade nicht auf αισθήσεις, sondern auf δόξαι. Es gibt Anzeichen dafür, daß Gassendi in diesem Zusammenhang eine terminologische Unterscheidung macht: spricht er von der Unfehlbarkeit der Wahrnehmungen, verwendet er „sensus", spricht er von ihrer Verwendung als Uberprüfungsmittel, verwendet er „sensus evidentia". Vermutlich versteht er „sensus" sogar stets im Sinne von „Wahrnehmungsvermögen", interpretiert also Epikur so, als hätte dieser nur die Unfehlbarkeit des Wahrnehmungsvermögens behauptet, die Fähigkeit also, Sinnesdaten rein und unverfälscht aufzunehmen, ob diese nun durch äußere Umstände verzerrt werden oder nicht. Dafür spricht, daß er die Regel „sensus numquam fallitur" vor allem in der Freiheit des sensus von ratiocinatio und recordatio begründet sieht (III 5a2) und sofort auf die reine Apprehension hinweist (I 53 a2). Dieser Ausweg würde den Konflikt zwischen Wahrheitsanspruch und Oberprüfungsfunktion der empirischen Basis entschärfen, stellt aber jedenfalls keine adäquate Epikurauslegung dar. Sensus evidentiam heic voco illam sensionis phantasiaeve speciem, cui remotis omnibus ad iudicandum obstaculis, ut distantia, ut motu, ut medio affecto et quae alia sunt eiuscemodi, contradici non potest (P. Ε. S. III 7 a 2 ; fast wörtlich dieselbe Formulierung als Epikurs Meinung S. P. I 54 a 1). Ad consequenteis modos (sc. Scepticos) quod spectat, idem proportione potest responderi, siquidem positio, intervallum, locus, admistio, constitutio, quantitas, raritas, frequentia et quaecumque huiusmodi sunt, non obstant, quominus res ipsae in se sint revera res aliquae et necessitate quadam Physica creent has in illis, in istis illas apparentias (S. P. I 84b2). Quoties ambigitur de re, quae sensu probari potest . . ., ad sensum recurrendum est et ab evidentia, quae per ipsum fit, standum. Evidentia, inquam, quae habetur, quoties impedimentum nullum est, aut si est, postquam est sublatum. Impedimentum autem appello, v. c. distantiam . . . (S. P. I 122 a 1). Ferner S. P. I 8 5 a 2 f .
Methodologie bei Epikur und Gassendi retische E r k l ä r u n g e n möglich s i n d 2 6 (Gassendi gibt als Beispiel
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B e n u t z u n g d e r atomistischen Lichttheorie eine ausführliche Erklärung der v e r s c h i e d e n e n Erscheinungen, die d u r c h hinreichend große Beobachtungsd i s t a n z h e r v o r g e r u f e n w e r d e n ) 2 7 . Entsprechend w i r d die Rolle, die der V e r s t a n d (ratio) bei der W a h r h e i t s f i n d u n g spielt, erheblich gewichtiger eingeschätzt als in den epikureischen Texten: insofern er die v e r w e r t b a r e n W a h r n e h m u n g e n a u s w ä h l t , bezeichnet Gassendi ihn sogar als ein d e m W a h r n e h m u n g s o r g a n übergeordnetes V e r m ö g e n 2 8 . S p ä t e r soll gezeigt w e r d e n , w i e sich diese methodologische Haltung auf das w i s s e n s c h a f t l i c h e V o r g e h e n selbst a u s w i r k t ; einige physikalische A r g u m e n t a t i o n e n gaben aber auch außerhalb der Logik A n l a ß zu expliziten
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Nam sensus nude refert apparentiam, quae et revera talis est, et revera habet causam physicam atque necessariam quare talis sit . . . Ex quo fit, ut cum apparentia possit ob multiplicem causam fieri in sensu multiplex , ipse quidem semper vere afficiatur, at mens sola ideo fallatur, quod apparentiae causas non discernens ipsas non discutiat, sed praecipitem opinionem ferat (A. M. S. III 472 a 2f.). Die Anerkennung empirischer Prädikationen wird hier explizit vom theoretischen Erkennen entsprechender physikalischer Ursachen abhängig gemacht. Vgl. ferner D . M . III 282b 1: . . . quia nimis praeposterum est sensiones in vigilia peractas corrigere velle exiis, quae per insomnia imaginamur, et promptius erit disquirere Physicas fallaciarum causas, quam percipere cur aut quomodo Deus nos decipere aut possit aut velit (Kritik an Descartes). Im Syntagma: Visus ergo ab ilia (sc. turri) speciem rotunditatis accipit, qualis nempe solum ad se pervenit, et ob inquirendas quidem a Physico causas, quare et rotundam turrim apprehendit neque potest omnino aliam in ea distantia apprehendere (S. P. I 53 a 2f.) Idemque dicendum, cum visus exsistentem partim intra aquam, partim in aere baculum apprehendit recurvum; nempe, quia causa Physica est, ob quam ipsi baculus hac specie exhibeatur talisque appareat . . . (S. P. I 54 a 1). Potest autem necessitas huiuscemodi non ignorari et causae, cur haec aliave sie appareant, cognosci, adeo ut possit aliquid certi verique obtineri ac sciri. Quippe illud exempli causa de varietate colorum pendet ex cognitione causae generalis colores creantis, quam si esse lucem constiterit, congruum evadit, ut pro variis lucis gradibus, reflexionibus, refractionibus admistionibusque umbrarum varietatem apparentiarum coloris in oculo faciat (S. P. I 8462). Femer VI 148a2 (an Ludwig von Valois vom Juli 1642): Quippe positio, intervallum, locus, admistio, quantitas, raritas, frequentia necessariam important causam, cur res talis appareat atque idcirco sciri id possit. S. P. I 85 a. Quippe et tametsi admittatur sensum interdum esse fallacem sieque esse posse Signum non tutum: attamen quae sensu est superior ratio sensus pereeptionem emendare sie potest, ut signum ab eo nisi emendatum non aeeipiat, ac tum demum ratiocinetur sive de re iudicium ferat (S. P. I 81 b l ) . Unde et dicendum videtur non ipsum proprie sensum esse, qui fallitur, sed intellectum, qui fallitur, et dum fallitur, non sensus esse, sed intellectus ipsius culpam, cui ut dominanti superiorique facultati ineumbet disquirere quaenam ex variis quae in sensu creantur apparentiis rei sit conformis an-non, priusquam qualis res sit pronunciet (S. P. I 85 a). Diese Stellen zeigen klar, daß die Korrektur der Wahrnehmungen nicht etwa allein mit Hilfe weiterer Wahrnehmungen vorgenommen wird.
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methodologischen Bemerkungen, in denen Gassendi die Funktion der Wahrnehmungen weiter zu präzisieren versucht. Ein Beispiel dafür sind die Überlegungen zur Projektilbewegung und im sachlichen Anschluß daran zur Erdbewegungsfrage, bei deren Beantwortung die Aristoteliker sich auf jedermann zugängliche sinnliche Wahrnehmungen zu stützen glaubten 29 . Gassendi weist demgegenüber darauf hin, daß die Menschen schon seit langem gelernt haben, mit Hilfe des Verstandes die Sinne zu korrigieren, und sich deshalb überzeugt haben, daß sich die Dinge oft anders verhalten, als es scheint 30 . Argumente, die sich allein auf sinnliche Wahrnehmung stützen, bezeichnet er als unzureichend 31 , Schlüsse, die nur die sich dem sinnlichen Augenschein darbietenden Bewegungen der Gegenstände zum Ausgangspunkt nehmen, als nicht stringent 32 . Theoretische Hypothesen sollten nach seiner Auffassung ferner nicht nur deshalb verwendet werden, weil es Sinnestäuschungen gibt, sondern auch deshalb, weil Sinnesdaten unterschiedlich interpretierbar sind 33 . Gassendi geht demnach trotz der formal engen Bindung (Referat, historischer Bericht, Interpretation) an die überlieferten epikureischen Texte sachlich erheblich über die Wahrnehmungslehre Epikurs hinaus. Die eindeutige Darstellung der von Epikur angegebenen empirischen Basis als Menge von Wahrnehmungsurteilen führt ihn offensichtlich zu der Einsicht, daß das Verstandesvermögen, daß theoretische Überlegungen in der Naturwissenschaft eine wichtige Rolle spielen, indem sie u. a. die Sicherung einer wissenschaftlich verwertbaren empirischen Basis, bestehend aus empirischen Prädikationen, gewährleisten. Diese Tendenz läßt 29
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Videmus enim, inquiunt, solem caeteraque sidera oriri, occidere, circa nos moveri; videmus et hanc ipsam terram, cui insistimus, prorsus quiescere: an-non igitur omnia ibunt naturae legi praepostera, si sidera quiescant et terra moveatur? (M. III 505a 1). Caeterum (quia) nos longo usu experientaque edocti sensum seu imaginarionem mente seu ratione enitimur corrigere ac reipsa corrigimus et rem secus se habere, quam nobis appareat, nobis persuademus (M. III 505 a 1). Quaerendas dico rationes meliores quam quae ex sensu ipso petuntur. Et nisi fuissemus quidem umquam experti visus nostri fallaciam, excusabiles videremur possemusque obiicere, nihil visus esse manifestius aut certius detractaque oculis fide nihil fieri persuasione dignum; at quia nos experientia docuit visum falli tantopere neque fidem semper adhibendum oculis esse, idque cum de motu potissimum agitur, quidnam responderi potest aliud quam et visum et sensus alios ratione corrigendos? (M. III 505 b 1 - 2 ) . Neque vero allata modo argumenta nulla videntur, sed illa etiam nihil concludant, quae ex apparente rerum motu quieteve solent obiici (M. III 504 b 2 F.). Sed cum, quod spectat ad oculum, possit utrumque praestari, innuo solum esse ratione agendum, ut mens in earn partem propendeat, quam ratio fecerit verisimiliorem (M. III 506 a 1).
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sich auch Gassendis Bemerkungen zum zweiten Wahrheitskriterium, den Vorbegriffen (anticipationes) entnehmen, deren Ursprung aus sinnlicher Wahrnehmung er zwar nicht leugnet, die aber doch eindeutiger als bei Epikur dem Verstandesvermögen zugeschlagen werden und als Kriterien theoretischer Erkenntnis auftreten34. Gassendi zählt Epikur daher zu den vielen Philosophen, die zwei gleichberechtigte Beurteilungsvermögen für die Wahrheit von Sätzen anerkennen: das Wahrnehmungsvermögen und den Verstand35. Die in den erhaltenen epikureischen Texten ohne Zweifel vorhandene erkenntnistheoretische Priorität von Wahrnehmungen gegenüber Vorbegriffen kommt bei Gassendi nicht zum Ausdruck. Es bleibt zu prüfen, in welchem Umfang Gassendi der epikureischen Kanonik in der Frage der Uberprüfung theoretischer Aussagen mit Hilfe der als gesichert geltenden empirischen Basis folgt. Entschiedener als Epikur bestimmt Gassendi die Erforschung von Gegenstandsbereichen, die sinnlicher Wahrnehmung nicht direkt zugänglich sind, mit sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen aber in gesetzmäßigem Zusammenhang stehen, als eigentliche Aufgabe der Physik. Gegenstände werden unterteilt in offenbare (res manifestae) und verborgene (res occultae), diese ihrerseits in vollständig, von Natur aus und zeitweise verborgene (res penitus, natura, ad tempus occultae). Vollständig verborgene Gegenstände sind unerkennbar, Hypothesen über sie prinzipiell unentscheidbar, zeitweise verborgene grundsätzlich beobachtbar, aber durch äußere Umstände der Beobachtung
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Die Anticipatio wird mit definitio und universale identifiziert (S. P. I 54b2, VI 152a2); Regel VII der epikureischen Logik nennt sie principium in omni ratiocinatione (S. P. I 55a 1). Ein Beispiel für die scharfe Trennung vom sensus: Caeterum, quia res naturales aut sensu aut mente . . . percipiuntur, ideo ex parte istorum accipienda criteria sunt . . . Ex parte mentis, quia . . . mentis proprium est, ut ratiocinetur, ideo exigetur praenotatio seu notio quaedam anticipata, ad quam respectando quidpiam inferatur (P. E. S. III 5al). Nach dem wichtigen 5. Kapitel des 2. Logikbuches, in dem Gassendi das historische Referat unterbricht und seine eigene Auffassung darstellt, ist das „zweite" Kriterium für die Erkenntnis „verborgener" Gegenstände zuständig: Unde et fit, ut duplex in nobis possit distingui criterium, unum quo percipiamus signum, videlicet sensus; alteram quo ipsam rem latentem ratiocinando intelligamus, mens nempe, intellectus seu ratio (S. P. I 81 b 1). Vgl. ferner VI 147b2 (an Ludwig von Valois vom Juli 1642): Deinde quia forte dicetur huius modi veritatem esse dumtaxat ιών φαινομένων quorum quae apparent, difficultatem vero esse de veritate των άδηλων eorum quae sunt immanifesta, ideo certum quoque videtur talem aliquam veritatem dari, quae intellectu seu ratione ut criterio diiudicetur. Verum ex superius deductis et ex attingendis etiam paullo post constare potest Epicurum non unum solum, hoc est sensum, sed duo praeterea adhibuisse criteria, anticipationem puta et passionem, ex quibus anticipatio ad intellectum spectet (S. P. I 76b2). Vgl. ferner ibid. 79 b, 89 a, wo Gassendi das zweite Kriterium „ratio" nennt.
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entzogen. Aufgabe der Physik ist die Erforschung der von Natur aus verborgenen Gegenstände 36 . Sie ist deshalb keine einfache Beschreibung, sondern ein überlegtes Vorgehen, das das Buch der Natur aufschlagen helfen, d. h. tiefe Theorien liefern soll 37 . Um so dringlicher ist die Frage, wie physikalische Behauptungen gesichert werden können. Der Kern der Gassendischen Antwort auf diese Frage ist zweifellos die Einführung der Lehre von den Zeichen (signa), die in engem Anschluß an Epikur (σημεία) als sinnlich wahrnehmbare Tatsachen bestimmt werden, die zur Kenntnis nicht wahrnehmbarer Tatsachen führen 38 . Empirische Sätze scheinen daher auch nach Gassendis Auffassung den Ausgangspunkt für Vermutungen über theoretische Entitäten zu bilden, der Weg der Forschung scheint vom Bekannten zum Unbekannten zu führen 39 . Als erkenntnistheoretische Begründung dient wie bei Epikur die Herkunft aller Kenntnisse aus sinnlicher Wahrnehmung 40 . Zwar geht Gassendi nicht so weit, eine räumliche Nachbarschaft zwischen Zeichen und Bezeichnetem anzunehmen; ihre Beziehung, genauer die Beziehung zwischen den sie beschreibenden Sätzen, wird auf logischer Ebene gekennzeichnet 41 . Diese Kennzeichnung ist jedoch häufig fundamentalistisch: es läßt sich, beispielsweise aufgrund der gewählten Termini (ζ. B. „demonstrare", „consequi"), kaum übersehen, daß Gassendi theoretische Aussagen meist
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Q u o posito, quae Veritas quaeritus a philosophis, non est rerum manifestarum, ea nimirum est in propatulo; non item rerum penitus occultarum, ea enim invincibiliter ignoratur, sed quae sit rerum occultarum sive natura sive ad tempus, et natura quidem potissimum, nam de occultis quidem ad tempus, quod ex sola impedimentorum amotione innotescere valeant, controversia magna non est (S. P. I 6 9 a 1). D i e Grenze zwischen res manifestae und occultae ist jedoch von den Beobachtungsmitteln abhängig, durch deren Verbesserung — Gassendi erwähnt die Erfindung des Fernrohres — res occultae zu res manifestae werden können: Sed tarnen complura sunt, quae priscis occulta cum fuerint, evasere iam nobis manifesta (S. P. 82 a 2). S. P. I 1 2 5 b 2 , 1 2 6 b 1. Universe itaque dici signum potest, quod quidpiam a se diversum designat aut significat, seu mavis id, quod notum cum sit, in alterius rei notitiam nos ducit (S. P. I 8 0 b ) . Veritas, qua de agitur, est occulta; sub apparentiis delitescens; requiritur videlicet, an cum per seipsam non pateat, possit tarnen signo sui aliquo innotescere (ibid.). Vgl. Can. X I I I der Inst. Log. S. P. I 124 a. Quia notum est enim nos aliquid sensu, aliquid mente percipere et notitiam omnem, quam mente habemus, ortum habere a sensibus, ideo praeire menti debet signum quoddam sensibile, quo in rei latentis nec sensu perceptae notitiam ducatur (S. P. I 81 b l ) . E t signum quidem indicativum est respectu rei natura occultae; non quod illam sie iudicet, quasi ea potuerit umquam perspici, et signum cum ipsa iunetum apparere, ut proinde argueretur, ubi esset signum, ibi esse et rem, sed quod aliunde eiusmodi sit, ut nisi res sit, esse ipsum non possit, atque idcirco dum ipsum est, rem quoque esse necesse sit (S. P. I 81 a2).
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als logische Folgerungen aus empirischen Aussagen beschreibt 42 . Die Struktur der Argumentation, die nach Gassendis Auffassung von empirischen Sätzen (signa) zu theoretischen Annahmen (über res occultae) führt, ist dieselbe, die die Epikureer dem Bewegungsargument Epikurs entnommen hatten, also ein modus ponens der Form e, e d t t- t (mit einem empirischen Satz e und einem theoretischen Satz t), wobei, wie bereits angedeutet, streng genommen der theoretische Satz natürlich nicht aus empirischen Sätzen allein gefolgert wird. Dieser Schlußform genügen neben dem (bei Epikur als einziges Beispiel erhaltenen) Bewegungsargument viele andere; ein von Gassendi oft genanntes weiteres Beispiel ist der Schluß auf (nicht wahrnehmbare) Hautporen aufgrund der (beobachtbaren) Schweißbildung, aber auch wissenschaftlich wichtigere Fälle werden angedeutet: neben der Vakuumhypothese ζ. B. Lichttheorie und Erdbewegungsfrage 43 , und sogar ein Anwendungsversuch auf Mathematik und Theologie fehlt nicht, der im letzten Fall zu einem Beweis der Existenz der Seele führt, der Gassendi wieder in die Nähe der früher von ihm abgelehnten natürlichen Theologie rückt. Andererseits kennzeichnet Gassendi deutlicher noch als Epikur die Suche nach Ursachen als vornehmste Aufgabe der Philosophie und damit auch der Physik 44 . In der Syllogismuslehre der Logik beschreibt er das Wissen aufgrund von Ursachen als Wissen einer Folgerung aufgrund wahrer Voraussetzungen; Ursachen sind demnach Prämissen deduktiver
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Can. VIII der epikureischen Logik: Q u o d inevidens est, ex rei evidentis anticipatione demonstrari debet (S. P. I 55a2). In bezug auf das Porenbeispiel: . . . quia demonstrationis, quae sunt per se notae quasque intellectus respuere non possit (S. P. I 85 b 2). A n Ludwig von Valois im September 1642: Quae minime evidentia sunt, ex rerum evidentium praenotionibus demonstrari debent. Sic demonstravit Epicurus inane rem inevidentem ex motu, qui evidens est. Sic pori cutis inconspicui ex sudoris conspicui dimanatione ostenduntur (VI 152b). Affinis est ratiocinatio, qua alibi deduximus et radios lucis corpuscula esse et vitrum esse poris pervium (S. P. I 82a 1). Sic Copernicus ex viso Marte tantopere grandescere, cum soli est oppositus, tantopere minui, cum propius est Solem, argumentum duxit, quo moveri terram probaret, quasi esset necesse videri Martern maximum transeunte terra proxime ipsum et minimum terra eum reliquente ultra solem (S. P. I 8 3 b 1). Allgemein: observare licet innumera esse, quae pari ratione possint demonstrari (ibid. 83 a2). Zur Anwendung auf Mathematik und Theologie vgl. ibid. 83 b 2 und 82 b. Et non est profecto tractatus de hoc principio (sc. efficiente seu causa rerum) praetermittendus, quando munus praecipuum philosophiae id dicitur, ut rerum causas investigat, et scopus illius germanus exprimi putatur illo carmine, „Foelix, qui potuit rerum cognoscere causas" (S. P. I 2 8 3 a l ) . Vgl. ferner S. P. I 1 2 5 b ; die epikureische Physik wird demgegenüber weniger präzise beschrieben (P. E. S. III 1 0 a 2 ) .
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Argumente, kausale Erklärungen haben die Form logischer Schlüsse 45 . Die Erläuterungen zur Regel XVII des Syllogismuskapitels der Logik enthalten ein Beispiel. Hier geht es allgemein um die Aufgabe, zu einem gegebenen Satz S Prämissen P x , P 2 zu finden derart, daß P l 5 P 2 H S ein Syllogismus wird 4 6 . Subjekt und Prädikat der Konklusion heißen „Extrema", die zusammen mit einem dritten Begriff, dem Medium, die Prämissen bilden; die Aufgabe kann daher auch so formuliert werden, daß zu gegebenen Extrema ein Medium gefunden werden soll derart, daß ein Syllogismus entsteht 47 . Die Arten der Media lassen sich klassifizieren: das Medium kann u. a. Oberbegriff, Definition, Aufzählung der Teile des Subjektes der Konklusion (des extremum minus) sein, ferner auch notwendig wirkende Ursache (causa necessario agens). Gassendis Beispiel für den letzten Fall ist eine Erklärung der Mondfinsternis, deren Konklusion die Behauptung ist, daß sich immer dann eine Mondfinsternis ereignet, wenn Sonne und Mond in ihren Kreisbahnen einander diametral gegenüberstehen, und deren Medium im Hinweis auf den Stand der Erde zwischen Sonne und Mond bei der angegebenen Stellung besteht 48 . Der Schluß soll die Form „A ist B, Β ist C ι- Α ist C " haben, wobei „ist" als kausale Beziehung, also im Sinne von „wird verursacht von" zu verstehen ist. Daraus ergibt sich folgende Rekonstruktion: (1) Die Mondfinsternis wird verursacht von der Stellung der Erde zwischen Mond und Sonne (die das Licht vom Mond ablenkt) (2) Die Stellung der Erde zwischen Mond und Sonne wird verursacht durch die diametrale Gegenüberstellung von Sonne und Mond in ihren Kreisbahnen.
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Heic proinde nota, quia Scientia seu clara certaque notitia, quae de praemistis habetur, earn parit, causave est eius, quae de conclusione habetur, ideo quod dicunt „scire per causam" nihil esse aliud quam conclusionem scire per certas atque evidenteis praemissas (S. P. I 116a2). S. P. I 117af. Ein einfaches Beispiel: sind „homo", „vivens" die Extrema („homo" heißt dann „subjectum" oder „extremum minus", „vivens" heißt auch „attributum" oder „extremum maius"), so wäre „animal" ein mögliches Medium. Sic eclipsis lunae ex accepta causa probabitur contingere, cum luminaria sunt in oppositis nodis seu intersectionibus suarum orbitarium, eclipsis in luna contingat opportet, quoties terra ipsi solique interposita lucem, quam a sole mutuatur et ob quam solum lucet, avertit; terra autem lunae ac soli interposita nicemque istius ab illa avertens tunc est, cum sol et luna sunt in nodis seu intersectionibus orbitarum oppositis; eclipsis ergo lunae tunc contingat opportet, cum sol et luna sunt in nodis seu intersectionibus oppositis suarum orbitarum (S. P. I 117a2).
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Es folgt (3) Die Mondfinsternis wird verursacht durch die diametrale Gegenüberstellung von Sonne und Mond in ihren Kreisbahnen. Die syllogistische Form („Barbara") wird, wie man sofort sieht, dadurch erreicht, daß „wird verursacht von" als transitive, nicht symmetrische Relation auftritt. Jeder Teilsatz des Argumentes ist seinerseits die elliptische Formulierung einer kausalen Erklärung, etwa Satz (1) für die Mondfinsternis, wobei man das (triviale) Gesetz hinzuzudenken hat, daß, wenn A, B, C drei Körper sind, sich in einer Linie befinden, ferner Α einzige Lichtquelle ist und Β zwischen Α und C liegt, C verdunkelt wird. Satz (2) ist also seinerseits eine kausale Erklärung des Antecedens von (1), und der kausale Syllogismus (1) — (3) besteht in einer Erweiterung oder Vertiefung der kausalen Erklärung (1) mittels (2) zu (3). Das Explanandum von (1) bzw. (3) ist offenbar die Mondfinsternis, also eine Klasse beobachtbarer Phänomene, während die benutzten Gesetze teilweise theoretisch sind (Lichttheorie). Gassendis Beispiel eines kausalen Syllogismus besteht demnach aus der Herleitung eines empirischen Satzes, deren Prämissen zum Teil theoretische Aussagen sind. Empirische Sätze treten in kausalen Erklärungen nicht als Ausgangspunkt, sondern als Ziel der Herleitung auf (sofern sie nicht Antecedensbedingungen sind)49. Die methodologische Inkonsistenz zwischen signa-Lehre und Kausalprinzip ist im vorhergehenden Kapitel zu Epikur bereits angedeutet worden 50 . Sie tritt bei Gassendi verschärft in Erscheinung, weil bei ihm größere Klarheit über die Struktur kausaler Erklärungen herrscht als bei Epikur, kann aber nur dann als schwerwiegend angesehen werden, wenn mit Sicherheit feststeht, daß auch Gassendi selbst theoretische Aussagen ausschließlich als logische Folgerungen empirischer Sätze betrachtet hat. Einige Anzeichen sprechen dafür, daß er diese scharfe Explikation der signa-Lehre nicht vertreten hat. Schon Ludwig von Valois gegenüber bemerkt er, daß in der Physik syllogistische Beweise nicht verwendet werden können und daß von nicht wahrnehmbaren Gegenständen gesicherte Er-
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Dies geht auch aus dem Einleitungskapitel des Buches De principio efficiente (S. P. I 282 äff.) klar hervor, wo Gassendi die zu betrachtenden causae auf causa efficiens einschränkt, auf der Erforschung der causae internae besteht (ibid. 284 a 2 f.) und detaillierte Erklärungen fordert (ibid. 284b 1, 285a 1). Verben wie (con)sequi, consurgere, erumpere, evadere (ibid. 284a pass.) bringen das deduktive Moment an kausalen Erklärungen zum Ausdruck. Vgl. oben S. 43.
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kenntnis nicht möglich ist 5 1 . Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß die Physik sich gerade dadurch von der Mathematik unterscheidet, daß ihre Behauptungen unbeweisbare Hypothesen sind, die nur vorläufig und mit Wahrscheinlichkeit gelten 52 . Im Syntagma vermißt Gassendi an Epikurs Logik (Kanonik) die Angabe genauer Regeln für Schlüsse auf theoretische Behauptungen, weil diese Schlußverfahren noch nicht als gesichert gelten können 5 3 , und bespricht in der Institutio Logica unmittelbar nach Einführung der signa-Lehre den Fall eines Konfliktes zwischen theoretischen und empirischen Aussagen, in welchem, wie auch die angeführten Beispiele zeigen, nach seiner Meinung die Wahrheit empirischer Aussagen festzuhalten ist 5 4 . Offenbar ist weder der Probabilismus akzeptierbar, noch die Forderung nach genauer Ausarbeitung der auf theoretische Aussagen führenden Schlußregel sinnvoll, noch der Fall eines Konfliktes theoretischer und empirischer Aussagen überhaupt möglich, wenn man voraussetzt, daß theoretische Aussagen nur als streng logische Folgerungen empirischer Basissätze als gesichert gelten dürfen. Will man daher innerhalb der Methodologie Gassendis nicht manifeste logische Widersprüche anerkennen, so muß geprüft werden, ob nicht auch diejenigen seiner Bemerkungen, die die fundamentalistische Version der signa-Lehre zu stützen scheinen, eine andere Deutung zulassen. Nun ist bereits deutlich geworden, daß sich Gassendi in diesen Bemerkungen auf die Modus-Ponens-Form der Argumente bezieht, die zu theoretischen Aussagen führen — auf eine Argumentationsform also, deren logische Schlüssigkeit unbezweifelbar ist —, daß diese Argumentationsform aber noch nicht die These rechtfertigt, theoretische Aussagen könnten aus empirischen allein gefolgert werden. Denn in einem Schluß der Form „e,
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Quod si quis putet demonstrationem solum iuxta Aristotelem ex signo necessario . . ., id in Geometria quidem est verum, at non perinde in Physica, in quo universa ne Aristoteles quidem suae illius demonstrationis ullum proferre exemplum possit (VI 153 a 1). Hier verwirft Gassendi ausdrücklich die Möglichkeit eines Syllogismus, der einen signum-Satz als Prämisse hat. Zum Probabilismus vgl. VI 148 a. Vgl. ζ. B. III 5 4 3 b , 5 7 0 b 1, I 2 6 3 b - 2 6 6 a . Quamquam desunt praecepta quaedam, quibus ratiocinatio debite instituatur ac praecaveantur paralogismi; quippe etiam in demonstratione, quae de re occulta ex signo sensibili fit, potest fallacia obrepere, nisi intellectus regulis consequutionum fuerit instructus (S. P. I 8 9 a 2 ) . Quia vero interdum contingit, ut ratio cum sensu pugnare videatur, praeclare Aristoteles docet esse a sensu magis quam a ratione standum (S. P. I 1 2 2 a 2 ) . Als Beispiel führt Gassendi die empirisch widerlegte Prognose an, ein von einem fahrenden Schiff aus senkrecht nach oben geschossener Pfeil werde hinter dem Schiff ins Wasser zurückfallen. Hier hat die empirische Aussage eindeutig korrektive Funktion.
Methodologie bei Epikur und Gassendi
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e D t η t " mit einem empirischen S a t z e u n d einem theoretischen Satz t ist die f ü r d e n Ü b e r g a n g v o n w a h r n e h m b a r e m zu nicht w a h r n e h m b a r e m G e g e n standsbereich entscheidende Prämisse „ e d t" o f f e n b a r ihrerseits w e d e r rein e m p i r i s c h , n o c h k a n n sie aus empirischen Sätzen allein logisch gefolgert werden.
D i e s e Tatsache scheint Gassendi erkannt z u haben; in einer
A n a l y s e des v o n i h m häufig angeführten Porenbeispiels f ü h r t er weitere S ä t z e an, die beim S c h l u ß auf die Existenz v o n H a u t p o r e n benutzt w e r d e n und in d e r Tat die entsprechende Prämisse „ e d t " rechtfertigen sollen; er n e n n t sie u n b e z w e i f e l b a r e , aber i n d u k t i v g e w o n n e n e G r u n d s ä t z e 5 5 . A b e r n i c h t n u r I n d u k t i o n , s o n d e r n auch A n a l o g i e n w e r d e n nach Gassendis A u f f a s s u n g b e n u t z t , im Porenbeispiel die A n a l o g i e zwischen der H a u t und einem f e i n e n Sieb; Analogieschlüsse bilden sogar den einzigen Zugang z u m Bereich nicht w a h r n e h m b a r e r Gegenstände 5 ^. Theoretische E r k e n n t nis ist w e d e r k l a r u n d distinkt, n o c h a u f g r u n d der Nichtbeobachtbarkeit i h r e r G e g e n s t ä n d e u n e r r e i c h b a r : s o w o h l Descartes als auch C a z r e gegenü b e r w e i s t G a s s e n d i kritisch auf Analogieschlüsse und
Ähnlichkeitsar-
g u m e n t e h i n , die theoretische Erkenntnis ermöglichen, w e l c h e allerdings an K l a r h e i t u n d Eindeutigkeit mit sinnlicher W a h r n e h m u n g nicht v e r gleichbar i s t 5 7 . A l l g e m e i n definiert Gassendi „ A n a l o g i e " , orientiert v o r 55
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Idcirco mens ex hoc humore tamquam ex signo sensibili esse poros ratiocinatur. Ratiocinatur, inquam, assumendo aliunde indubitata principia seu propositiones, quas ex rebus item per sensum perceptis inductione collegerit quasque in memoriae promptuario conservet, in hunc aut consimilem modum (S. P. I 81 b2). Genannt wird ζ. B. der Satz, daß zwei Körper nicht zur selben Zeit am selben Ort sein können. Unicum exstitisse Euclidis logicum praeceptum videtur, cum docuit scilicet non esse argumentandum a simili. Quamquam, cum id haberi possit quasi monitum, ne reputemus tale argumentum quidpiam invicte demonstrare penitusve conficere, at non tarnen quasi praeceptum, quo ab illo prorsus abstineamus. Siquidem tametsi quod simile est, aliud sit ab eo, quod inquiritur, hoc tarnen illius instar exploratur, et quod similibus similia conveniant, hoc illius instar aut esse aut fieri intelligi potest. Et sane is unicus est declarandi res occultas modus, quem a philosophia si exemeris, oculos quasi effoderis, quod potest utcumque intelligi ex eo, quod est ante dictum de poris, qui in curte sint, foraminum instar, qui in cribro aut colo. Scilicet non alia ratione res aut declarari aut intelligi melius potest (S. P. I 87b 1). Den Terminus „analogia" benutzt Gassendi an dieser Stelle nicht, aber der Text zeigt, daß die argumenta a simili Analogieschlüsse sind. In der Tat ließe sich durch eine genaue Analyse des Porenbeispieles zeigen, daß die Annahme, die Schweißbildung sei eine Flüssigkeitsbewegung von innen nach außen, für die Deduktion notwendig ist, selbst aber nicht einmal induktiv, sondern nur per analogiam etabliert werden kann. Repeto hoc solum, aliud esse percipere nos per veram ideam seu imaginem, aliud per necessariam ex supposito aliquo antecedente consequutionem. Etenim priore modo concipimus rem esse quid tale, posteriore debere esse quidpiam tale; et ut priore intelligimus rem distincte et qualis in se est, ita posteriore non intelligimus nisi confuse et analogice, hoc est referendo ad aliquid, quod sit per ideam aliquam perceptum (D. M. III
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allem an mathematischen Proportionen, als Ähnlichkeit von Beziehungen (zwischen Gegenständen, die zu analogen Gegenstandsbereichen gehören) 5 8 . Ein Analogieschluß hat demnach folgende Form: Sind Α, Β analoge Gegenstandsbereiche und a e A, b e B, und hat a Eigenschaften oder Beziehungen P t , . . . P n , so hat b ähnliche Eigenschaften oder Beziehungen P j ' , . . . Pn '. Gassendi expliziert hier also die substantielle Analogie. Diese methodologischen Bemerkungen erhalten dadurch Gewicht, daß Gassendi selbst Analogien häufig verwendet. Beispiele sind der Vergleich zwischen Weizenhaufen und Atommengen bezüglich ihrer Zwischenräume, der dadurch entstehenden Kompressibilität und Fluidität, zwischen bestimmten Atomverbindungen und Wollknäueln bezüglich ihrer Weichheit, zwischen der Bündelung von Wollfäden und Lichtstrahlen zum Nachweis der Körperlichkeit des Lichtes oder zwischen einem scharfen Wasserstrahl und den von der Erde ausfließenden Gravitationsatomen, um verständlich zu machen, daß eine geeignete Aneinanderreihung kleinster Teilchen die Wirkung fester und harter Gegenstände haben kann S9 . Analogien zwischen Magnetismus und Gravitation, Stoßkraft und Schwerkraft, Echo (Geruch) und Licht oder Lichtreflexion und Stoßvorgängen tragen weiter 6 0 : die Beziehungen zwischen den Gegenständen analoger Bereiche sind teilweise nicht nur bestimmte Relationen, sondern Gesetze, die in beiden Bereichen gelten. Im zweiten De-Motu-Brief weist Gassendi beispielsweise auf die verschiedenen Anwendungsbereiche der Gesetze der Projektilbewegung hin 6 1 . Hier handelt es sich also um strukturelle Analogien. Wenn die für den Schluß auf theoretische Aussagen entscheidenden Prämissen ihrerseits nur durch Induktion gerechtfertigt oder gar nur
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322 b). Gegenüber Cazre, der die Nichtbeobachtbarkeit der Gravitationsteilchen gerügt hatte (sugillas quod haec Organa dicuntur a me insensibilia, III 634 a 2 ) : Nihil etiam necesse est, ut argumenta congeram, quibus huiuscemodi res contexi ex corpusculis insensibilibus quidem, sed praeditis nihilominus specialibus figuris, probem. Nihil praeterea, ut urgeam ex attractionis effectu argui Organa ilia insensilia debere analoga esse aut simile quidpiam habere cum iis, quibus attractiones sensibilius fiunt, quod a sensibilioribus ad insensibiliora procedendo servari videamus analogiam quodque mens humana non capiat attractionem fieri et ratione quadam cum his sensibilibus analoga non fieri (Μ. III 6 3 4 b 1). Analogia enim seu proportio nihil aliud est quam relationum similitudo (S. P. I 114a). Vgl. S. P. I 192 a, 194 a, 212 a, 406 a, 430 a, III 493 b. Vgl. S. P. I 3 6 0 b , 4 1 5 a , 4 2 4 b , 4 2 7 b . . . . quando, utram dictum est, simili ratione se habent pila et globus, manus et fistula, navis et terra, aer et spatium. Heine, quod dicitur de globo proiecto seu in boream seu in meridiem exiis solvitur, quae dicta sunt de proiectis ex navi aut etiam ex curru (M. III 504 a).
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mittels Analogien gefunden werden können, ist offenbar eine rein logische Folgerung theoretischer Aussagen aus empirischen nicht möglich. Alle Anzeichen deuten daher darauf hin, daß Gassendi die scharfe Version der signa-Lehre, wie Epikur sie wahrscheinlich vertrat, nicht akzeptiert hat. Darüber hinaus lassen sich Analogieschlüsse nur rechtfertigen, wenn ein Vergleich zwischen den analogen Gegenstandsbereichen empirisch möglich ist, wenn also Beziehungen und Gesetze beider Bereiche bekannt sind; dann sind aber Analogien auch überflüssig. Analogien und Analogieschlüsse können nicht in Bestätigungs- oder Widerlegungsverfahren verwendet werden, sondern haben nur heuristischen Wert, d. h. taugen zur Aufstellung und zur Entdeckung theoretischer Hypothesen, die dann durch andere Verfahren auf ihren Wahrheitswert geprüft werden müssen. Gassendis Lehre von den Zeichen kann daher als Beschreibung eines Verfahrens zur Auffindung, nicht aber zur Rechtfertigung, Begründung oder Konfirmation theoretischer Hypothesen verstanden werden (es gibt, soweit ich sehe, keine Stelle, an der Gassendi behauptet, die Wahrheit theoretischer Hypothesen sei durch ihre Herleitung aus empirischen Sätzen (signa) bereits gesichert). Diese Deutung bringt die genannte methodologische Inkonsistenz zum Verschwinden. Sie ist im Gegensatz zur fundamentalistischen Interpretation auch vereinbar mit all jenen Bemerkungen, in denen Gassendi die korrektive Funktion empirischer Sätze gegenüber theoretischen Behauptungen zum Ausdruck bringt oder empirische Sätze als Explananda für Theorien bezeichnet62. Gegen Cazre, einen Jesuiten, der der Addressat der Briefe De Proportionibus ist und der Galilei vorgeworfen hatte, daß er von unsicheren, allenfalls wahrscheinlichen Prinzipien ausgeht und daher unwissenschaftlich vorgeht, verteidigt Gassendi die physikalische Methode Galileis mit dem Hinweis, in der Physik müsse man sich im Gegensatz zur Mathematik mit wahrscheinlichen Hypothesen zufriedengeben, die dann als bestätigt gelten könnten, wenn verschiedene ihrer Folgerungen mit der Erfahrung gut übereinstimmen 63 . Auch Hypothesen, die rational vertretbar, d. h. mit als 62
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Gegen Descartes: Nam Astronomi certum quidpiam habent, observata nempe Planetarum loca, ac tunc, ut illorum causas explicent, circulos supponunt, num quos falsos putent, sed quos nisi veros, saltem verisimileis habent, cum fieri possit, ut Planetae per illos incedant, argumentoque est, quod si putarent esse alias probabiliores hypotheses, illas haud-dubie sequerentur ( D . M . III 283b 1). R. Tack ( a . a . O . S. 116-118) interpretiert die signaLehre ohne genauere Analyse im herkömmlichen fundamentalistischen Sinne. Hoc autem loco non video primum, qui reprehendendus Galileus sit, si quam propositionem non demonstratam, sed verisimilem solum habuit, non ut demonstratam, sed ut verisimilem dumtaxat exhibuit. Candide nimirum videtur egisse, neque exegisse a
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gesichert geltenden Theorien mindestens vereinbar sind, werden zugelassen, solange die Erfahrung keine widersprechenden Daten liefert 64 ; Cazre wird getadelt, weil er seine Behauptungen nicht ausreichend durch Uberprüfung ihrer Folgerungen absichert 65 . Allerdings scheint Gassendi anzunehmen, daß Hypothesen im allgemeinen durch diejenigen vorgegebenen empirischen Sätze überprüft werden, die sie erklären sollten; ad-hoc-Erklärungen sind dann nicht ausgeschlossen. Nur einmal deutet er an, daß Hypothesen neben den vorgegebenen Explananda auch andere empirische Sätze herzuleiten gestatten 66 . Die beiden in Gassendis Methodologie erkennbaren wissenschaftlichen Verfahrensweisen — das Auffinden (hinreichender) Bedingungen vorgegebener empirischer Sätze (signa-Lehre) und die Herleitung eben dieser empirischen Sätze aus den aufgefundenen Bedingungen (kausale Erklärung) — lassen einen Zusammenhang mit der analytischen (resolutiven) und synthetischen (kompositiven) Methode vermuten, die, ursprünglich in der antiken Mathematik entwickelt, in den methodologischen Überlegungen der Philosophie des 16. und 17. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte 6 7 . Nach der für die beginnende Neuzeit maßgeblichen Darstellung
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lectoribus, ut maiorem quam ipse postulato fidem haberent, sed illos potius quasi monuisse, ne ipsum concederent, nisi deinceps agnoscerent constabilitum variis ex eo deductis conclusionibus, quae cum experientia plane consentirent. Deinde cum in scientiis ac demonstrationibus attinentibus ad mathesin puram, mera evidentia, non sola suspicio aut verisimilitudo admittenda sit, in scientiis tarnen Physicis . . . foelices simus, si non evidentiam, sed verisimilitudinem assequamur (M. III 502a 2f.). Unde et videtur posse postulatum, si verisimile modo sit ac neque ratione neque experientia ulla oppugnetur, admitti ad scientiam (M. III 570b 1). Quamquam ego sane longe semper abfui, ut imperitiam in te causarer . . ., sed animo solum praeconcepi fore, ut . . . minime impatienter ferres, si . . . dicereris non inspexisse attente satis aliquid, enuncians videlicet ea, ex quibus quaepiam incommoda consequi deprehenderentur (P. III 589a 1). Ea nempe nostrae perspicaciae cognitionisque conditio est, ut, cum pervidere naturas rerum intimas non possimus, aliquos effectus possimus, contentos nos esse opporteat, si hariolati quidpiam circa illas ex quibusdam effectibus, nostras qualescumque de ipsis notiones adnitamur aliis effectibus accommodare, cum eorum causas poscimur (S. P. I 207 b 2). Das Schema einer deduktiven kausalen Erklärung wird dann an einem Beispiel deutlich gemacht: quid possimus aliud quam coniicere dicereque esse debere aerem eiuscemodi contexturae iisve constare corpusculis spatiolisque inanibus, ut ad istum gradum, non alium, resistentia consequatur (S. P. I 208a 1). Vgl. dazu H. Schilling, Die Geschichte der axiomatischen Methode im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Hildesheim 1969. H . W . A r n d t , Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin/New York 1971. J . H . R a n d a l l jr.: The Development of Scientific Method in the School of Padua, in: ders.: The School of Padua and the Emergence of Modern Science, Padua 1961, S. 13—68. Speziell in bezug auf Galilei vgl.
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von Pappus 6 8 beschreibt sie den Wahrheitsnachweis eines in Frage stehenden mathematischen Satzes: die Analyse das Aufsuchen selbstevidenter hinreichender Bedingungen des gegebenen Satzes, die Synthese seinen Beweis aus den gefundenen wahren Bedingungen. Ihr zunehmender Einfluß auf die allgemeine Methodenlehre führte zu einer Anwendung auch auf empirische Wissenschaften; dabei kennzeichnete die Analyse jedoch nicht mehr den Rückgang auf selbstevidente Prinzipien zum Nachweis der Wahrheit eines gegebenen Satzes, sondern den Schluß auf Voraussetzungen gegebener empirischer Sätze, deren Wahrheit bereits feststeht 69 , entspricht also dem Ubergang von Zeichen zu Bezeichnetem in der Methodologie Epikurs und Gassendis. Gassendi selbst beschreibt in seiner Institutio Logica kurz nach einer Anspielung auf die signa-Lehre 70 resolutio und compositio in Logik, Mathematik und Physik. Hinsichtlich der formalen Wissenschaften weicht seine Darstellung nicht von der traditionellen (Pappus) ab, aber in der Physik, die vor allem die Frage nach den Bestandteilen der Welt zu beantworten hat 71 , versteht er unter „resolutio" das — theoretische oder praktische (Chemie, Anatomie) — Auflösen der Körper in ihre letzten Bestandteile, unter „compositio" entsprechend das theoretische oder praktische Zusammensetzen von Körpern aus ihren Bestandteilen 72 . Die Analyse soll allerdings nicht nur zu der Einsicht führen, welches die letzten Bestandteile sinnlich wahrnehmbarer Körper sind, sondern auch zu der Erkenntnis, auf welche Weise sie zusammengesetzt sind, also zu theoretischen Behauptungen. Gassendis an den Leistungen atomistischer Physik orientierte Kennzeichnung physikalischer
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N . Jardine: Galileo's Road to Truth and the Demonstrative Regress, in: Studies in the History and Philosophy of Science 7, 1976, S. 277-319. Pappi Alexandrini Collections quae supersunt, ed. F. Hultsch, Berlin 1877, Bd. II S. 634 —637; Obersetzung ins Lateinische von Federigo Commandino (1509—1575). Auf diese Entwicklung scheint Zabarella (1532 — 1575) maßgeblichen Einfluß gehabt zu haben, der im übrigen die resolutive Methode auch συλλογισμός δια σημεΐον nannte. Seine Beschreibung der Analyse findet sich bei Galilei und Descartes wieder (vgl. dazu H . W. Arndt a. a. O . 26 f., 52f., 57). I 121 a l . I 125b. Heine Physicus scientiam naturalem docens hanc naturae faciem seu machinam mundi prae oculis statuit, . . . ut parteis ingentis aedificii maiores minoresque habet resolvendoque ad minimas usque ipsas assumit tamquam prineipia, ex quibus constant universa, ac deineeps explorat ex quibus et qua ratione coadunatis potuerint componi . . . Sane et in quibus naturae rebus possumus, utimur Anatomia, Chymia similibusve subsidiis, ut quatenus licet corpora resolventes ac veluti decomponentes possimus intelligere, ex quibus et quanam ratione ea fuerint composita, et simili-ne, an alia ratione caetera potuerint possintve componi (I 123 a 1).
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Analyse und Synthese spricht daher nicht dagegen, daß er sie als Ubergang von empirischen zu theoretischen Sätzen (und umgekehrt) verstanden hat, auch wenn er signa-Lehre und Analyse bzw. kausale Erklärung und Synthese nirgends explizit in Zusammenhang bringt. Da in der Analyse nicht notwendige, sondern hinreichende Bedingungen gegebener empirischer Sätze gesucht werden, wäre die Einbettung der Gassendischen Methodologie in die analytische und synthetische Methode, die man nach den bisherigen Überlegungen als wahrscheinlich ansehen kann, ein weiteres Argument zugunsten der Vermutung, daß diese Methodologie nicht schlicht als empirischer Fundamentalismus ausgelegt werden kann. Diese Vermutung wird schließlich auch durch Gassendis probabilistische Antwort auf die Frage nach der Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen gestützt, durch die Behauptung also, daß theoretische Hypothesen je nach der empirischen Evidenz, die für sie oder nicht gegen sie zeugt, zwar als unterschiedlich wahrscheinlich, niemals aber als endgültig gesichert anzusehen sind. Denn dieser Standpunkt ist mit strengem empirischem Fundamentalismus kaum vereinbar und wird deshalb auch von Epikur nicht vertreten. Die verbreitete Auffassung, Gassendi habe sich vom radikalen Pyrrhonisten der Exercitationes erst allmählich zum abwägenden Probabilisten entwickelt, ist nur mit Einschränkungen richtig 73 . Gassendis Stellung zwischen Skeptizismus und Probabilismus läßt ähnlich wie sein Standpunkt in der Wahrnehmungslehre wenig Veränderung erkennen. Zwar sind skeptische Argumente in den frühen Schriften, probabilistische Bemerkungen in späten Schriften häufiger, aber dies ist hauptsächlich eine Folge des Untersuchungsgegenstandes. Immer dann nämlich, wenn Gassendi sich mit Gegnern auseinandersetzt, die in seinen Augen dogmatische Fundamentalisten waren — Aristoteles, Fludd, Herbert von Cherbury, Descartes, um die wichtigsten zu nennen — benutzt er mit Vorliebe skeptische Topoi und klammert die Frage aus, ob neben empirisch wahrnehmbaren Phänomenen Bereiche existieren, die Gegenstand einer physikalischen Wissenschaft werden könnten 74 . Von Anfang an wird die Unerreichbarkeit gesicherten theoretischen Wissens mit dem Hinweis auf die condition humaine begründet, deren Einschätzung sich auch in späteren Schriften 73
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Vgl. bei Popkin, History of Scepticism Kap. V und VII; Hess a. a. O. S. 84—106; Gregory Einleitung zu Gass. Op. om. S. XVIII. Zu Aristoteles vgl. III 152äff. (6. Exercitatio des 2. Buches), bes. 1 9 2 a 2 - b 2 ; zu Herbert v. Cherbury III 412 b 2 (Gassendi bezeichnet sich selbst als Anhänger des Skeptizismus), 4 1 3 b 2 ; zu Robert Fludd III 201b 1.
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nicht ändert 7 5 . Insbesondere wendet Gassendi sich gegen das Argument der Aristoteliker, das Streben nach sicher fundiertem Wissen sei natürlich und müsse daher auch befriedigt werden 7 6 . In den frühen vierziger Jahren, zu einer Zeit also, als Gassendi längst nicht mehr nur historische Epikurstudien trieb, sondern lange Jahre konkreter physikalischer Arbeit hinter sich hatte, die sich, wie die Briefe De Proportione und De Motu zeigen, keineswegs im Sammeln experimenteller Ergebnisse erschöpfte, wird der skeptische Standpunkt unverändert formuliert und schließlich im Spätwerk mit der signa-Lehre verschmolzen 77 . Ansätze zum Probabilismus andererseits sind schon vor 1640 erkennbar. In den Exercitationes Paradoxicae erklärt Gassendi eine gewisse Kenntnis der inneren Natur der Dinge dann für möglich, wenn sie selbst entweder empirischer Erfahrung zugänglich sind oder doch wenigstens mit Phänomenen zusammenhängen 78 . Im Examen Fluddanae Philosophiae 75
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III 207a, 4 1 3 b 2 , 3 1 2 b 2 , I 7 9 b 2 . Skeptische Vorbehalte richten sich vor allem gegen die Möglichkeit, die für die Physik zentralen unmittelbaren oder erklärenden Ursachen (causae secundae, vgl. 1326a) zu erkennen: Quaestio est, an noris causam secundam et particularem . . . Sed iterum vide, amabo, ne, cum inter causas secundas aliae generates sint ac remotae, aliae singulares et propinquae, illas pro istis accipias, cum non illas tarnen, sed istas quaerantur. Etenim cum nulla sit philosophantium secta, quae excogitatis rerum principiis non admittatur omnia naturae effecta ex ipsis deducere, nulla est, quae non generales remotasque causas edisserat; sed cum singulares et propinquae poscuntur, quales nosse operae pretium est, nulla est, quae non obmutescat aut ineptissime garriat (III 362a2). III 207 a. Quicquid possumus cognoscere est hasce vel illas esse substantiae sive naturae proprietates, quando id observando patet et experientia perspicuum sit, neque penetratur propterea in ipsam substantiam sive naturam intimam . . . illud exoptare aut sperare intemperantis et naturae suae conditionem ignorantis est (III 312 b). An Ludwig von Valois schreibt Gassendi im Juli 1941: Tametsi enim eius scientiae, quam appellare των φαινομένων seu Historiam soleo, consequi possim aliquid, illius tarnen percelebris, qua intimae rerum naturae proprietatesque cognoscantur, ne atomum quidem mihimet polliceor. Haec est, quam Deo totam concedo, qui, cum naturae opifex sit, solus habere perspectam sui opificii rationem possit (VI 110b2). Zu Beginn des Buches De Qualitatibus Rerum im Syntagma Philosophicum, in welchem Gassendi ständig atomistische Theorien zur declaratio qualitatum heranzieht, heißt es gleichwohl: Quod caput est, cum commune subjectum substantiamve esse in confesso sit, ea tarnen semper obvelata manet neque aut intellegere aut dicere cuiusmodi sit possumus, nisi per ipsas, quibus afficitur quaeque sensibus patent, qualitates (I 377 a 2). Quod si dicas posse intellectum ex iis, quae cadunt in experientiam aut apparent sensibus, colligere alia multa interiora, respondeo tarnen non posse ulterius ratiocinando procedere quam ad ea, quae rursum liceat experiri vel quorum exhiberi possit quaedam apparentia (III 2 0 7 a 2 f . ) . Die Gegenstände, die zwar nicht direkt beobachtbar sind, aber mit Phänomenen zusammenhängen, definiert Gassendi im Syntagma als res natura occultae; sie bilden den spezifischen Gegenstandsbereich der Physik (I 68 b). Vgl. ferner einen Brief an Faber aus dem Jahre 1621, in dem Gassendi neben Charron und Montaigne u. a. die
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bezeichnet er zwar die Kenntnis der inneren Natur der Dinge als unerreichbar, rechnet es andererseits aber der Alchimie als Verdienst an, innere Mechanismen des Naturgeschehens aufgedeckt zu haben 79 . Briefe an Galilei und den Mathematiker Hortensius aus den Jahren 1632 bzw. 1633 zeigen, daß Gassendi bereits zu diesem Zeitpunkt theoretischen Hypothesen mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit zubilligt 80 . Die naturwissenschaftlichen Abhandlungen der frühen vierziger Jahre, die voll sind von Annahmen zur Erklärung wahrnehmbarer Phänomene, enthalten dann verständlicherweise besonders eindeutige Darstellungen der probabilistischen Position, ebenso wie später das Syntagma Philosophicum, das die skeptischen Elemente durchaus wahrt 8 1 . Eine eindeutige Entwicklung vom Skeptizismus zum Probabilismus läßt sich demnach nicht feststellen; beide Positionen sind vielmehr von Anfang an nebeneinander präsent. Skeptische Argumente verwendet Gassendi vor allem in kritischer Absicht gegenüber fundamentalistischen Methodologien; in positiven Aussagen zur Methode der Physik steht der Probabilismus im Vordergrund.
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nicht zum Skeptizismus gehörenden Lukrez, Seneca, Cicero und Plutarch zu den wenigen Autoren zählt, an die er sich hält (VI 2 a 1). Etsi enim intimos usque rerum naturalium recessus penetrare non licet, ut ipsarum essentias, discrimina, vires, actiones et agendi modos, proportionem item atque contexturam cum radicali et propria singulorum causa dignoscamus, verumtamen si quidpiam ex iis, quae res quasque interne componunt, cognoscere concedatur, illud profecto isti arti (sc. Alchemiae) acceptum referendum est. Haec enim est, quae naturae librum sola evolvit ac perscrutatur, cum caeterae omnes superficie tenus naturalia considerent (III 259 a 2). An Galilei: Quod mirabile vero sit, cum humana sagacitas procedere ulterius non possit, is in te est animi candor, ut bona fide semper agnoscas naturae nostrae infirmitatem. Quantumcumque enim coniecturae tuae sint verisimillimae, non sunt tibi tarnen plusquam coniecturae neque, ut vulgares philosophi solent, fucum facis vel pateris (zum Dialogo, den Galilei ihm zugeschickt hatte und für den er sich in diesem Brief bedankt, VI 53 b). An Hortensius: Quantum cumque enim sie affici studeo, ut experimenta admittens ratiociniis semper diffidam, . . . me tarnen tangit species quaedam verisimilitudinis, adeo ut verbis communibus utens illius assertor aliquando videas (VI 63 a). Ein noch früherer Brief an einen Orientalistikprofessor in Leyden (März 1930) zeigt, daß Gassendi bereits beim Vergleich antiker Philosophien (comparo celebriora quaedam placita antiquorum philosophorum — scilicet nullum damnare audeo) zu probabilistischen Folgerungen kam: haec mihi praesens est investigatio; quae ut fallat in caeteris, vel umbra tarnen veritatis, quam ubique capto, delectat. Umbram dico: nam de ipsamet Deus aliquis viderit . . . Colenda (sc. Veritas) tarnen est, quod sui umbra ac veluti specie, quam verisimilitudinem dieimus, tantopere placeat (VI 32 b 2). Vgl. ζ. Β . Μ III 543 b l oder Α. M. S. III 423 a 1: nam utcumque loquar, mens mea non est praetergredi fines probabilitatis. Veritatem Diis Deorumque filiis, ut loquebatur Plato, relinquo; mihi satis superque est, si inter multa verisimilia id concedatur deligere, quod prae se ferat maiorem quandam similitudinem veri. Im Synt. Philos. vgl. I 132 a, 79 b f.
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D i e u n m i t t e l b a r e A n w e n d u n g probabilistischer M e t h o d o l o g i e bei der Lösung
e i n z e l n e r wissenschaftlicher P r o b l e m e birgt freilich auch
Ge-
f a h r e n . D i e ständige B e t o n u n g der Unerreichbarkeit theoretischen Wissens u n d v o r allem ihre B e g r ü n d u n g d u r c h die Beschränktheit menschlichen Wissens
kann
z u m a n g e l n d e r E n t s c h l u ß k r a f t bei der W a h l
zwischen
a l t e r n a t i v e n H y p o t h e s e n u n d z u vorschneller Bescheidung bei unzureic h e n d ausgearbeiteten E r k l ä r u n g e n f ü h r e n 8 2 ; mangelnde Präzision insb e s o n d e r e bei d e r E i n f ü h r u n g des Wahrscheinlichkeitsbegriffes hat eine z u liberale Fassung des Probabilismus z u r Folge, die die Behandlung nichtw i s s e n s c h a f l i c h e r P r o b l e m e gestattet 8 3 ; u n d schließlich w i r k t sich die A u s z e i c h n u n g d e r P h y s i k als einer stets mit ungesicherten A n n a h m e n arbeitenden
W i s s e n s c h a f t bei Gassendi
restriktiv
auf die A n w e n d u n g
der
M a t h e m a t i k aus, die als spekulative Folgerungswissenschaft stets scharf v o n d e r P h y s i k abgegrenzt w i r d 8 4 . 82
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Emphatisch kennzeichnet Gassendi die Einsicht in die Endlichkeit menschlichen Wissens als wichtigste Erkenntnis (S. P. I 132 a 2). Die Natur wird mit einem heiligen Tempel verglichen, in dessen Cella die Wissenschaft niemals wird eindringen können: die innersten, tiefsten Mechanismen des Naturgeschehens sind prinzipiell unzulänglich (ibid. und I 80a 1). Aber wo beginnt die Cella? Gassendi kann gerade wegen der Schwierigkeit einer Antwort in bezug auf diese innersten Bereiche auch Epikurs Methode der mehrfachen Erklärung zustimmen (S. P. I 287a 1). In der Frage des Alters der Welt (damals ein nicht mit wissenschaftlichen Mitteln entscheidbares Problem) ζ. B. entscheidet sich Gassendi aufgrund der „Wahrscheinlichkeit" (im Sinne von Plausibilität) von Argumenten, die nichts mit Physik zu tun haben, vgl. S. P. I 167a2. Vgl. ζ. B. III 543b, 570b 1, vor allem aber S. P. I 265b 1: Responderi deinde potest Geometriam ex se scientiam esse speculativam neque ideo usum curare, sed habere solum pro fine conclusionum suarum veritatem voluptatemque ex eo perceptam, quod tarn evidenter ac certo, cum sint adeo mirabiles, consequantur; unde et visum est, quantum Plato refugerit, ut in materiam Physicam seu sensibilem traducatur. Gassendi bemüht sich daher nicht, seine physikalischen Grundbegriffe quantitativ zu fassen, um die Anwendung der Mathematik zu ermöglichen. Andererseits kann seine Physik deshalb noch nicht als „qualitativ" bezeichnet werden, denn meistens verwendet er bei der Formulierung von Gesetzen oder gesetzesartigen Beziehungen nicht klassifikatorische, sondern komparative Begriffe. Diese Tatsache ist für eine adäquate Einschätzung seiner Physik nicht unwichtig; darum einige Belege. Aus der Mechanik folgende Gesetze: Nam de motu quidem rerum decidentium ab omni usque aevo adnotatum est ipsum initio languidiorem, fieri denique valde rapidum attestante experientia ictum, impulsum, impressionem, plagam tanto vehementiorem fieri, quanto editior fuerit locus, unde casus occoeperit (I 348 b 1). Videmus profecto, quo movens in vehementiore est motu, quando attingit mobile, eo longius ipsum propellere, quare et intelligitur, ut propellat vel minimum, debere saltem in motu quam minimo esse (I 353b2). - Aus der Atomistik: verum est tarnen caeteris paribus unamquamque rem tanto esse magis perspicuum, quanto rarior est, tanto opaciorem, quanto densior (I 378a2). — Unumquodque corpus proinde tanto magis perspicuum est, quanto plura ampliorave interiecta habet inania spatiola (I 378b 1). — Universe autem dici potest calorem et ignem tanto effici intensiorem, quanto caloris atomi fuerint plures et confertiores (I 379 a2). — Et constat, quo lux est a lucido recendentior ac
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
Unübersehbar ist aber auch, daß Gassendi aufgrund seiner probabilistischen Haltung die Freiheit wissenschaftlicher Diskussion so rückhaltlos fordert und die Notwendigkeit ständiger Bereitschaft zur Änderung von Hypothesen für den wissenschaftlichen Fortschritt so klar erkennt wie wenige Autoren zwischen 1630 und 1660. Der Zusammenhang zwischen Probabilismus und Kritizismus wird an bedeutsamer Stelle, am Ende des Über prooemialis des Syntagma Philosophicum, explizit hergestellt 85 , ist aber bereits in den Exercitationes Paradoxicae und den Briefen aus den frühen dreißiger Jahren deutlich86 und wird seitdem von Gassendi unermüdlich betont, sowohl Descartes gegenüber als auch, besonders häufig, in den De-Motu-Briefen, nachdem Gassendi selbst das von ihm
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ideo rarefactior, tanto calorem debiliorem minusque sensibilem esse (I 425 a 1). — Aus der Gravitationstheorie: Subiicio proinde verisimile esse, quemadmodum virtus magnetis ita in orbem 'diffunditur, ut corpuscula radiose exsilentia tanto rariora fiant, quanto procedunt longius (III 494 b l ) . — Heine fit, ut quanto vis externa seu quae a manu aliave re extrinsecus imprimitur, pluribus gradibus vim illam chordularum cuperavit, tanto lapis efferatur sublimius, quanto' paucioribus, tanto humilius (III 495a2). — Zur Pendelbewegung: Scilicet exinde intelligitur tum pendulorum vibrationes tanto segnius fieri, quanto earum arcus planiores sive inclinatiores sunt (III 571 b2). Quae probo non sie amplector, ut indubia certaque habeam et non consistere ea potius intra limites verisimilitudinis due am . . . Nemini scilicet libertas philosophandi adempta est, et cum Veritas quasi in scopum proposita omnibus sit, ille erit semper foelix habendus, qui ad ipsam proprius collineaverit (S. P. I 30b). Exerc. Par.: Sed et gravissimum videtur, quod is, qui opinionem quandam sustinendam proposuit, quantum cumque se urgeri a veritate sentiat, turpe ducat si cesserit et palinodiam canere cogatur. Quae vota proinde non vovet, ut quacumque tandem ratione elabatur incolumis? Quasi vero, ut deeipi posse humanae est imbecillitatis, ita non sit valde ingenuum recantare, si quid prave opinatus fueris, et bona fide agnoscere dareque manus meliora suadenti? (III l/6b). Diese Kritik richtet sich nicht gegen Aristoteles selbst, sondern gegen die Aristoteliker: Ille (sc. Aristoteles) sibi liberum putavit a Piatone discedere, isti (sc. Aristotelei) sibi liberum non putant ab Aristotele dissentire. Ille paratus erat proprias opiniones recantare, isti religiosum dueunt alienam totis viribus ac nervis defendere (III 113 a). 1629 schreibt Gassendi an Fienus: Ingenue potius cum Socrate veritatem diis deorumque filiis relinquens sufficere arbitraris, cum similitudinem veri assequutus fueris, neque vero quiequam gloriae propterea decedit invento pulcerrimo; nam et hoc ipsum maximum est, cuius si bene nos novimus, imbecilla nostra natura est capax, et laboris heroici est inde recessisse, quo se errores congerunt (VI 1762). Oder 1633 an Hortensius: Enimvero nulla est umquam verisimilitudo tarn potens, quae me sic faciat indubium, ut non sim paratissimus ad amplectendum praeclariorem. Hinc tantum abest, ut indigner si quis me minus probabilem amplexum sententiam demonstret, quin illum ut praeeeptorem ac velut bonae mentis parentem agnosco et exosculor (VI 63 a 1). Oder schließlich im selben Jahr an Schickard: Hinc licet forte aliquid rationibus tuis reponere possem; nolo tarnen, quia et illud ponderis magni non iudico et volo ut intelligas neminem esse, qui me citius det utramque manum verisimiliora suadenti. Abunde est, quod facti fidem ita inconcussam fueris, ut ilia sane ingenia est. Falli possum, at fallere nihil est quod averser magis (VI 60a 1). In den drei Briefen ist der Zusammenhang von Probabilismus und selbstkritischer Haltung besonders klar erkennbar.
Methodologie bei Epikur und Gassendi
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geforderte Verhalten in einem wichtigen Punkt, der physikalischen Erklärung des Fallgesetzes mit Hilfe der atomistischen Gravitationstheorie, vorexerziert und seine Meinung öffentlich geändert hatte. Nicht zu Unrecht betont er Gegnern und Kritikern gegenüber seine eigene Bereitschaft zur erneuten Diskussion und Uberprüfung seiner Annahmen87. In der Beschreibung des wahren Philosophen, genauer der wahren (richtigen) methodischen Haltung in Philosophie und Wissenschaft, die im Einleitungsbuch De Philosophia universe des Syntagma Philosophicum steht, faßt Gassendi seine Auffassung vielleicht am eindrucksvollsten zusammen 88 . Das Motiv des amor sincerus veritatis ist zwar aus der antiken Philosophie wohlbekannt; aber zugleich wird der Durchschaubarkeit wissenschaftlicher und philosophischer Argumentation sowie der selbstkritischen Haltung der Wissenschaftler eine weit größere Bedeutung beigemessen, als es in der Antike üblich ist. Das gilt vor allem für Epikur, nach dessen Auffassung die grundsätzliche Unsicherheit und ständige Änderung theoretischer Hypothesen zweifellos die Seelenruhe aufs schwerste gefährden würde. Gassendis Forderung nach einfachen und klaren Überlegungen im theoretischen Bereich und der Angabe eindeutiger und wiederholbarer Experimente im empirischen Bereich zeigt dagegen, daß er daran interessiert war, die Beliebigkeit wissenschaftlicher und philosophischer Aussagen so weit wie möglich herabzusetzen. Insgesamt kann Gassendis Methodologie, soweit sie in expliziten Äußerungen sichtbar wird, nicht als Reproduktion der epikureischen 87
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An Descartes: At cum de ipsa veritate numquam pronunciem, qui ipsi eruendae me imparem sentio, is profecto sum, qui ne ullam quidem verisimilitudinem ita ratam habeam, ut non paratissimus sim earn deserere, si occurrerit alia, quae esse videatur maioris momenti (D. Μ. III 389a2). In bezug auf die Erklärung des Fallgesetzes: Cum ingenue profitear esse ubique angustias, videor mihi esse excusatione non indignus, dum recantare semper paratus illud interim profero, quod videatur prae caeteris similitudinem habere cum vero (III 493 b 1). Quod ad me spectat, tametsi illam, quam sum conatus dicere causam proportionis, quae observatur in acceleratione motus, commentus ex meipso fuerim, non illam tarnen tanti facio, ut esse momenti alicuius putem . . . Quippe earn solum esse volui ex hypotheseon genere, quae forte quidem verae sint, sed quas tarnen esse falsas nihil prohibeat (III 527a2). Quippe ita me semper habeo, ut si quid forte perperam sentio, recantare paratus sim ac non erubescam proinde id, quocumque tempore verisimilius puto, proferre (III 529a2). Vgl. ferner III 448 b l , 520 b l , 524a2. Ille revera philosophatur, qui non quaestum petit, non gloriam quaerit, sed veri solum inveniendi excolendique ducitur studio . . . Qui praeterea non autoritate, non ambagibus, non cavillationibus contendit, sed ratione nuda, simplici, aperta experimentisque indubiis, repitisque plurimis . . . Qui nec obstinate se gerit nec tergiversatur nec pudore suffunditur, dum . . . cogitur mutare sententiam, et bona fide alacriterque opinionem minus probabilem dimittit, probabiliorem complectitur ac magno etiam deputat lucro, quod alterius admonitu et saniorem intelligentiam et maturius iudicium reddit (I 10 a 2).
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
Kanonik angesehen werden. Die Rolle des Verstandes bei der Sicherung der empirischen Basis, die logischen Beziehungen zwischen theoretischen und empirischen Sätzen, der Wahrheitsgehalt theoretischer Aussagen erfahren eine andere Bewertung. Probabilistische Hypothesen und deren Uberprüfung mit empirischen Mitteln, nicht die fundamentalistische Sicherung des Wissens auf empirischer Basis, machen nach dieser Methodologie den Kern der scientia physica aus 89 . Zwar fehlen noch Kriterien, die es gestatten, die wissenschaftliche Strategie von anderen Problemlösungsversuchen abzugrenzen und eine rational begründete Wahl zwischen verschiedenen Hypothesen zu treffen; ad-hoc-Erklärungen sind nicht ausgeschlossen, die Verwendung der Mathematik bleibt fraglich; dennoch, die Abweichungen und Zusätze gegenüber der epikureischen Kanonik ermöglichen nicht nur eine Antwort auf Fragen, die bei Epikur selbst offen bleiben, sondern repräsentieren auch den Ansatz zu einer neuen Methodologie, die auf sicher fundiertes Wissen verzichtet, aber im Interesse des Wissenschaftsfortschrittes freie Theorienbildung erlaubt und deren empirische Prüfung fordert.
1.2. Fundamentaltheorie
bei Epikur und Gassendi
Der Nachweis, daß Gassendis Methodologie von der epikureischen Kanonik abweicht, muß ergänzt werden durch die Untersuchung der 89
Wer dagegen ohne genauere Analyse schon die epikureische Kanonik als „(originale) Konzeption der experimentellen Methode im modernen Sinne" ansieht („la canonique epicurienne, une conception originale, ou du moins positive, de la methode experimentale au sens moderne", O . R. Bloch, a. a. O . S. 50), verbaut sich von vornherein das Verständnis der Methodologie Gassendis, abgesehen einmal davon, daß selten präzisiert wird, was die „experimentelle Methode" denn auszeichnet. Rochot erkennt (bezüglich der Kanonik) zwar Unterschiede zwischen Epikur und Gassendi an, bestimmt sie aber zu oberflächlich: „On reconnait ici le double criterium epicurien: le sens et la raison. Mais Gassendi en use dans un esprit fort different de celui de l'epicurisme: car il ne s'agit plus d'y trouver un point d'appui contre le dangers naturels et la crainte de dieux, mais un moyen de faire des previsions exactes et de fonder une science" (La vraie philosophie de Gassendi, a. a. O . S. 237). Nicht nur das Ziel der Wissenschaft impliziert Unterschiede; wie sie „begründet" wird, ist methodologisch entscheidend. Auch allgemeine Bemerkungen etwa über die „Modifikation der Tendenzen Epikurs" bei Gassendi (Rochot a. a. O . S. 239) fördern das Verständnis kaum. Die Arbeit von Τ. M. Bartolomei, L'empirismo eclettico semifenomenista di P. Gassendi (in: Asprenas 11, 1964, S. 8—48) ist, anders als ihr Titel erwarten läßt, hauptsächlich eine thesenhafte Zusammenfassung der Gassendischen Philosophie und schließt mit einigen kritischen Bemerkungen, deren zu pauschal formulierter Vorwurf im Hinweis auf die Unvereinbarkeit von „Materialismus" und „Spiritualismus" bei Gassendi besteht (vgl. S. 36).
Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
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Frage, ob sich auch in der physikalischen Argumentation selbst Unterschiede zwischen Epikur und Gassendi erkennen lassen. Die atomistische Physik läßt sich als Fundamentaltheorie, d. h. als tiefste denkbare Theorie, ihrerseits nicht mehr theoretisch einbetten, also aus noch allgemeineren Theorien herleiten. Daher ist zu klären, wie Epikur und Gassendi ihre Einführung begründen, und insbesondere, welchen Stellenwert der Hinweis auf ihre Erklärungskraft in dieser Begründung einnimmt.
1.2.1. Epikurs Begründung und Anwendung der atomaren Physik Theorien können und, wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt, werden häufig nicht nur aufgrund ihrer Erklärungsfruchtbarkeit akzeptiert, sondern auch nach nicht-empirischen Kriterien beurteilt: nach ihrer Tiefe, ihrer vereinheitlichenden oder heuristischen Kraft, ihrer Vereinbarkeit mit anderen Theorien, Meinungen von Autoritäten oder herrschender Weltanschauung. In Griechenland gab es allerdings bis zum Hellenismus zu keinem Zeitpunkt eine Theorie oder Weltanschauung, die allgemein anerkannt worden wäre; unter den antiken Autoren herrscht darum die Tendenz vor, ihre eigenen Auffassungen von anderen scharf abzugrenzen. Die genannten Kriterien verwenden sie daher nur selten 1 . Dennoch begründet Epikur, ebenso wie Gassendi, die Einführung der atomaren Physik nicht nur durch ihre Erklärungsfruchtbarkeit 2 . Es wird daher methodologisch aufschlußreich sein, Epikurs und Gassendis nichtempirische und empirische Argumente zugunsten der Atomistik zu vergleichen. Unter diesem Gesichtspunkt soll zunächst Epikurs Physik kurz analysiert werden. Die doxographischen Berichte zur epikureischen Physik enthalten zwar einige Erklärungsversuche unter Benutzung der Atomtheorie, geben aber kaum Aufschluß über die Art ihrer Einführung; sie sind überwiegend 1
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Aristoteles und Theophrast bilden eine wohlbekannte Ausnahme, insbesondere insofern sie die Kontinuität der Problemstellung in der griechischen Philosophie betont haben. Epikurs Weigerung, auch nur die geringsten Beziehungen seiner Philosophie zu A u f fassungen anderer Autoren anzuerkennen, ist dagegen ebenso ungewöhnlich wie unberechtigt (vgl. ζ. B. Diog. Laert. X 8 ; im übrigen sind die erhaltenen Lehrtexte voller philosophischer Polemik). Sie hat vermutlich das Ziel, die Schüler gegen Einwände zu schützen (O. Gigon: Epikur. Von der Überwindung der Furcht. Zürich/Stuttgart 2 1968, S. 17). Vgl. Ep. b. Diog. Laert. X 3 9 - 4 1 , Gass. S. P. I 2 2 9 a - 2 3 4 a , 2 5 6 a - 2 8 2 b .
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
Referate der Behauptungen Epikurs, aber nicht ihrer Begründung 3 . Dafür sind wir fast ausschließlich auf die knappen Ausführungen im Brief an Herodot angewiesen. Dort beginnt Epikur nach Einleitung und kurzen erkenntnistheoretischen Bemerkungen die Zusammenfassung seiner physikalischen Theorie nicht mit den grundlegenden Thesen über die Existenz von Atomen und leerem Raum, sondern mit den Materie-Erhaltungssätzen 4 : nichts entsteht aus nichts, weil sonst alles aus allem entstehen könnte, und nichts vergeht in nichts, weil sonst stabile Gegenstände nicht mehr existieren würden. Die Erhaltungssätze werden also ihrerseits noch begründet, wenn auch offenbar nur mit einer methodologischen Voraussetzung: der Annahme, daß das Naturgeschehen nur aus regelmäßigen (gesetzmäßigen) Vorgängen besteht. Die Leugnung der Erhaltungssätze impliziert nach Epikurs Auffassung die Anerkennung der Existenz von Vorgängen, die keinerlei Naturgesetzen genügen 5 . Nach den Erhaltungssätzen werden zwei Existenzbehauptungen eingeführt: Körper und leerer Raum existieren 6 . Sie gehören aber nicht beide zur Atomtheorie, weil, wie der nächste Satz zeigt, zunächst sinnlich wahrnehmbare Körper gemeint sind. Die Existenz des leeren Raumes wird wie üblich mit Hilfe des Bewegungsargumentes gesichert. Dabei wird deutlich, daß dieses Argument einen neuen Raumbegriff voraussetzt: der leere Raum ist für Epikur nicht mehr der Zwischenraum zwischen (atomaren) Körpern wie in der vorsokratischen Atomistik, sondern der absolute Raum als Bezugssystem, in dem die Körper sind und sich bewegen 6 ". Epikurs Argumentation ist Vgl. Frg. 2 6 6 - 2 9 4 Us. Diog. Laert. X 39. Erst ibid. 41 zieht Epikur den Schluß, daß unteilbare Körper als Prinzipien anzusehen sind. 5 Der Zusammenhang der Erhaltungssätze, die nach dem Zeugnis von Aristoteles von nahezu allen vorsokratischen Philosophen anerkannt wurden (Aristot. Met. A 3 , 984a 29—33; Phys. A 4 , 187a 27), mit der Gesetzmäßigkeit aller Naturvorgänge ist auch bei den vorsokratischen Atomisten erkennbar (vgl. Demokr. frg. 68 A l , A 6 6 , Leuk. frg. 67 B2 Diels; dazu Aristot. de gen. anim. E8, 789b2 und Diog. Laert. IX 4 4 f . : δοκεΐ δε α ΰ τ φ (sc. Δημοκρίτφ) . . . μηδέν τε έκ τοϋ μή δντος γίνεσθαι μηδε είς το μή δν φ θ ε ί ρ ε σ θ α ι . . . π ά ν τ α τε κατ' άνάγκτ]ν γίνεσθαι). Lukrez beschreibt ausführlich nicht gesetzmäßige Vorgänge bei Nichtgeltung der Erhaltungssätze (Rer. Nat. I 180ff.). Vgl. dazu jetzt auch Α. A. Long: Chance and Natural Law in Epicureanism, in: Phronesis 12, 1977, S. 6 3 - 8 8 . 6 'Αλλά μην και το π α ν έστι σώματα και κενόν. Wie Diogenes bemerkt, hatte dieser Satz in der großen Epitome und in Περι Φύσεως eine ähnliche Stellung (Diog. Laert. X 39b). Vgl. auch D. Sedley: The Structure of Epicurus' On Nature, in: Cronache ercolanesi 4, 1974, S. 8 9 - 9 2 . 61 εί δέ μή ην δ κενόν . . . όνομάζομεν, ούκ ά ν είχε τα σώματα όπου ήν οΐιδέ δι ού έκινεΐτο (Diog. Laert. Χ 40). Die ursprüngliche Wahl des Ausdrucks „κενόν" und vor allem seine Synonymität mit ,,μανόν" („locker", „porös", Gegensatz zu ,,πυκνόν", vgl. 3 4
Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
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damit freilich noch nicht präzise gekennzeichnet. Denn genauer behauptet er zunächst, daß „alles", also die Gesamtheit aller Welten, aus Körpern und leerem Raum bestehen, d. h. daß höchstens Körper und leerer Raum existieren, und weist anschließend erst nach, daß sie in der Tat existieren. Körper und leerer Raum sind, wie aus dem Schlußsatz des Argumentes hervorgeht, die einzigen vorstellbaren Entitäten, insofern allein ihre Existenz als unabhängig von der Existenz anderer Gegenstände gedacht werden kann und umgekehrt die Existenz aller anderen Gegenstände die Existenz von Körper und leerem Raum voraussetzt 7 . Epikur verwendet hier offenbar den auf die aristotelische erste Substanz anwendbaren Existenzbegriff 8 : als Prinzipien oder fundamentale Entitäten gelten zunächst nicht diejenigen Gegenstände, aus denen alles besteht, sondern diejenigen, von deren Existenz die Existenz aller anderen Entitäten abhängt. Der Hinweis schließlich, daß zusammengesetzte Körper von den sie zusammensetzenden Körpern unterscheidbar sind, d. h. daß sinnlich wahrnehmAristot. Met. A 4 , 9 8 5 b 4 ) bei Leukipp und Demokrit, ferner ihre kritische Haltung gegenüber der eleatischen Schule lassen vermuten, daß sie den von Körpern freien Raum im Auge hatten, auch wenn Doxographen anders formulieren (ζ. Β. Ιτι δέ (άτόμους) άποίους καΐ άπαθεΐς έ ν τ ω ι κ ε ν ώ ι φέρεσθαι διεσπαρμένους 68 Α 57 Diels (Plutarch)), vgl. M.Jammer, Das Problem des Raumes, Darmstadt 1960, S. 9f. Jammer behauptet aber, diesen Raumbegriff verwende auch Epikur (a. a. O . S. 10). Erst bei Lukrez sieht er die entscheidende Wende eintreten: nam corpora sunt et inane, haec in quo sita sunt et qua diversa moventur (Rer. Nat. I 420). Diese Stelle ist jedoch offenbar eine Wiedergabe der angegebenen Formulierung aus dem Herodotbrief. Bailey (Epicurus . . . a. a. Ο . S. 182 ad Diog. Laert. X 40) ist der Auffassung, Epikur schwanke noch zwischen beiden Raumbegriffen. Vgl. aber noch Diog. Laert. X 46 (ή δια τοϋ κενοϋ φορά), 67 (το κενόν . . . κίνησιν δ ι ' έαυτού τοις σώμασιν παρέχεται) und der für Epikur bezeugte Vergleich zwischen dem leeren Raum und einem Gefäß (τόπος/άγγεϊα, Frg. 273 Us. p. 194 ff.). 7
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Παρά δέ ταϋτα (sc. σώματα και κενόν) οΰθέν ούδ' έ π ι ν ο η θ ή σ α ι δύναται οΰτε περιληπτώς οΰτε άναλόγως (Diog. Laert. Χ 40). Selbständig und unselbständig existierende Entitäten unterscheidet Epikur hier durch die Ausdrücke ,,ώς Kaff δλας φύσεις λαμβανόμενα" und ,,ώς τά τούτων συμπτώματα ή συμβεβηκότα λεγόμενα". Demokrit hat allem Anschein nach das Leere als „Nichts" und „Nichtseiendes" bezeichnet (vgl. ζ. B. Aristot. Περι Δημοκρίτου [Frg. 208 Rose]: προσαγορεύει (sc. ό Δημόκριτος) τον μεν τόπον τοϊσδε τοίς όνόμασι τω τε κενψ και τω ούδενί; Simplic. Phys. 28,15 Δημόκριτος . . . άρχάς εθετο το πλήρες και κενόν, ων το μεν δν το δέ μή δν έκάλει); für Epikur dagegen ist es Seiendes (ζ. Β. άναφης φύσις Diog. Laert. X 40; „ φ ύ σ ι ς " ist aber synonym mit „öv", vgl. ζ. Β. ,,ή των όντων φύσις" ibid. 45, ,,α'ι κ α θ ' έαυτάς φύσεις" ibid. 68, ferner ibid. 78) gerade insofern es unabhängig existiert: καθ' έαυτδ δέ οΰκ έστι νοήσαι τδ άσώματαν πλην τοϋ κενού (Diog. Lart. Χ 67); wesentliche oder unwesentliche Eigenschaften existieren dagegen nicht für sich: άλλα μην και τά σχήματα και τά χρώματα και τά μεγέθη και τά βάρη και δσα άλλα κατηγορείται σώματος ώσανει συμβεβηκότα . . . ούθ' ώς καθ" έαυτάς είσι φύσεις δοξαστόν (ibid. 68b). Ζ. Β. Aristol. Kat. 5, 2 a 11 — 14. In diesem Sinne sind auch für Aristoteles einzelne sinnlich wahrnehmbare Gegenstände πρώται ούσίαι (,,ό τις άνθρωπος, ό τις ίππος").
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bare Körper teilbar sind, und die Definition der Atome als letzter Teile aller Körperverbindungen 9 führt unmittelbar zu der Folgerung, daß Atome Prinzipien sind. Zur Herleitung des Grundsatzes der atomistischen Physik, daß Atome und leerer Raum existieren, verwendet Epikur demnach insgesamt drei theoretische und drei empirische Sätze: die Erhaltungssätze (1), die Raumdefinition (2), die Annahme, daß höchstens Körper und leerer Raum existieren (3), ferner daß Körper existieren (4), sich bewegen (5) und teilbar sind (6). Aus (2), (4) und (5) folgert er die Existenz des leeren Raumes, aus (1), (3), (4) und (6) die endliche Teilbarkeit der Körper und damit die Existenz der Atome 1 0 . Diese Voraussetzungen, also auch die theoretischen Sätze (1) — (3), werden offenbar nicht als Hypothesen behandelt, die sich noch zu bewähren haben, sondern als gesicherte und selbstverständliche Annahmen, aus denen der atomistische Ansatz zwingend folgt. Dieser Ansatz impliziert auch, daß jede Veränderung von Körpern als Umgruppierung ihrer Teile aufzufassen ist 11 . Atome sind daher per definitionem unveränderlich und sichern damit die Stabilität des Naturgeschehens 1 2 ; das heißt aber, daß die Invarianzen der Natur auf Eigenschaften, nicht auf das gesetzmäßige Verhalten der fundamentalen Entitäten zurückgeführt werden. Die Begründung weiterer physikalischer Lehrsätze stützt sich auf die genannten Voraussetzungen und die gezielte Explikation einiger der verwendeten Ausdrücke. Ein Beispiel dafür sind die in der griechischen Kosmologie vieldiskutierten Thesen über die Unveränderlichkeit und Unendlichkeit des Alls. „Unveränderlich" nennt Epikur das All sicher nicht in dem Sinne, daß Umgruppierungen seiner Teile nicht stattfinden könnten, sondern hinsichtlich der Konstanz seiner (atomaren) Bestandteile: die 9
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και μην καί των σωμάτων τά μεν έστι συγκρίσεις, τά δ' έξ ων at συγκρίσεις πεποίηνταΐ' ταϋτα δε έστιν άτομα (Diog. Laert. Χ 40 f.). Damit wird der Terminus „σώμα" differenziert; vgl. auch Lukr. Rer. Nat. I 4 8 3 f . : corpora sunt porro partim primordia rerum/partim concilio quae constant principiorum. Ferner Frg. 75, 275 Us. Insbesondere ist Satz (3), der Epikurs „Materialismus" repräsentiert, unentbehrlich, weil eine für Epikur offenbar theoretisch vorstellbare unendliche Teilung von Körpern zu ausdehnungslosen, also nicht körperlichen Entitäten führen könnte. Gegen aktuale unendliche Teilbarkeit polemisiert er ausführlich Diog. Laert. X 56 f. Vgl. ζ. B. Diog. Laert. X 54; auch X 39 wird dieser Begriff von Veränderung offenbar vorausgesetzt. Die Unveränderlichkeit der Atome wird in ihrer άπάθεια und στερρότης gesehen: ώς λέγουσι καί. τάς άτόμους άπαθείςι καί στερρότητι πάντα χρόνον ωσαύτως εχειν, τά δε συγκρίματα πάντα όευστα και μετάβλητα . . . είναι (Plut. adv. Col. 16, 1116 c).
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Anzahl der Atome kann sich weder vermehren noch vermindern 13 . Insbesondere folgt daraus der zeitlich unbegrenzte Bestand des Alls 1 4 . Wegen der Geltung der Erhaltungssätze und der Bedeutung von „All" („το παν") ist diese Behauptung trivial. Wird ferner die Grenze eines Gegenstandes als die Summe derjenigen Punkte, an denen er an äußere Gegenstände stößt, definiert 15 und ist das All die Menge aller Gegenstände, so folgt logisch die Unbegrenztheit des Alls, nicht aber, wie Epikur aufgrund eines Bedeutungswechsels von „unbegrenzt" anzunehmen scheint, auch seine unbegrenzte Ausdehnung 16 . Diese vorausgesetzt, schließt Epikur allerdings korrekt weiter sowohl auf die unendliche Ausdehnung des leeren Raumes als auch (mit hoher Wahrscheinlichkeit) auf die unendliche Anzahl der Atome; denn die Annahme unendlich vieler Atome in einem endlich großen Raum ist widersprüchlich, die Annahme endlich vieler Atome in einen unendlich großen Raum deshalb inakzeptabel, weil die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens mehrerer Atome und damit die
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Diog. Laert. X 39: οι) θ εν γάρ έστιν εις δ μεταβαλεϊ' παρά γαρ το πάν οΰθέν έστιν, δ αν εϊσελθον είς αΰτο την μεταβολήν ποιήσαιτο. Dieser Begriff von Veränderung findet sich ζ. B. bei Lukrez I 670f.: nam quodcunque suis mutatum finibus exit, continuo hoc mors est illius quod fuit ante. Bignone (Epicuro, Bari 1924, Appendix III S. 253) und Bailey (Epicurus a. a. Ο . S. 180f.) weisen unter Berufung auf Lukr. Rer. Nat. II 297ff. auf die Unveränderlichkeit des Alls auch im Sinne der Umgruppierung seiner Teile hin, insofern nach Epikurs Auffassung alle atomaren Kombinationen bereits früher einmal zustande gekommen seien und sich in Zukunft wiederholen würden. Diese Interpretation wird jedoch durch den Satz „και μην και το πάν άεΐ τοιούτον ήν οίον νΰν έστι και άει τοιούτον Ισται" (ibid.) ausgeschlossen, der ausdrücklich den gegenwärtigen Zustand für zeitlich unbegrenzt erklärt; dieser Zustand kann daher nicht durch bestimmte Atomverbindungen gekennzeichnet sein. Auch die genannte Lukrezstelle ist kein Beweis, denn Lukrez behauptet hier nicht die Konstanz bestimmter Atomverbindungen, sondern der Bewegungsart von Atomen und der Entstehungsweise zusammengesetzter Körper, also die Konstanz der Naturgesetze: qua propter q u o nunc in m o t u principiorum/corpora sunt, in eodem ante acta aetate fuere/et post haec semper s i m i l i r a t i o n e ferentur,/et quae consuerint gigni gignentur e a d e m / c o n d i c i o n e et erunt et crescent v i q u e valebunt,/ quantum cuique datum est per f o e d e r a n a t u r a l (II 2 9 7 - 3 0 2 ) . Bezeichnend ist gerade, daß bei Epikur selbst jeder Hinweis auf Naturgesetze fehlt.
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Vgl. Plut. adv. Col. 13, 1114a: . . . και γαρ 'Επίκουρος δταν λέγη το πάν άπειρον είναι και άγένητον καί άφθαρτον και μητ' αύξόμενον μήτε μειούμενον, ώς περί ενός τίνος διαλέγεται τοϋ παντός. το δε άκρον παρ' ετερόν τι θεωρείται (Diog. Laert. Χ 41 b). Vgl. die Wiedergabe des Argumentes bei Cie. De div. II 103 und Lukr. Rer. Nat. I 9 5 8 - 9 6 4 . πέρας δέ οϋκ έχον άπειρον άν εΐη και ού πεπερασμένον (Diog. Laert. Χ 41 b). Epikur bringt offenbar die Etymologie von „άπειρον" (πέρας und α-privatium) ins Spiel. Die Aristoteles-Kommentatoren haben besonders klar erkannt, daß Epikurs Argument auf der Definition von „πέρας (άκρον)" beruht, vgl. ζ. B. Simplic. in Arist. phys. Γ 4, 203b20, Themist. paraphr. Arist. phys. Γ 8, 208a 11 (Frg. 297, 298 Us.). Simplicius gibt einen ausführlichen Unendlichkeitsbeweis wieder, der vermutlich epikureisch ist.
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Entstehung von Welten nahe bei Null läge; Endlichkeit sowohl der Atomanzahl als auch der Raumgröße wird nicht erwähnt, weil sie durch die Unbegrenztheit des Alls ausgeschlossen ist17. Auf diese Weise versucht Epikur wichtige kosmologische Sätze seiner Physik auf deduktivem Wege zu begründen. Ein Rekurs auf sinnliche Wahrnehmung ist dabei nach Etablierung der allgemeinen Voraussetzungen (4) — (6) nicht mehr erkennbar, wohl aber die Verwendung elementarer Vorbegriffe (προλήψεις), die Epikur in der Einleitung des Herodotbriefes auch für notwendig erklärt hatte. Nach den kosmologischen Grundsätzen, von denen die Götterlehre unmittelbar abhängt und die daher für die Anwendung der epikureischen Physik besonders wichtig sind, schließen einige Bemerkungen zur Vielfältigkeit atomarer Eigenschaften und atomarer Bewegung, die noch mit der unbegrenzten Anzahl und Dauer der Atome zusammenhängen, den ersten Uberblick über die Grundlagen der Physik ab 18 . Die quantitativen Unterschiede atomarer Eigenschaften19 können nicht unendlich groß sein, weil es sonst sinnlich wahrnehmbare Atome geben müßte 20 ; daraus folgt, daß die Klassen (hinsichtlich der quantitativen Bestimmungen der Eigenschaften) ähnlicher Atome unendlich groß sein müssen, weil die Anzahl der Atome insgesamt nur endlich wäre, wenn es von jeder Form nur endlich viele Atome gäbe21. Die vielfältigen Unterschiede an Makrokörpern führen Epikur andererseits zu der Uberzeugung, daß die quantitativen Unterschiede atomarer Eigenschaften sehr groß sein müssen. Auch diese Überlegung ist kennzeichnend für die mangelnde Berücksichtigung von Gesetzen: die Existenz von vergleichsweise wenigen Gesetzen, denen fundamentale Entitäten genügen, ist durchaus vereinbar mit der Vielfältigkeit sichtbarer Phänomene. Zugleich macht Epikurs Annahme detaillierte Erklärungen auf atomistischer Grundlage praktisch unmöglich: der Rekurs 17
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Diog. Laert. X 42 a. Zur Ergänzung Lukr Rer. Nat. I 1008 ff. Eine unmittelbare Folgerung ist die Annahme unendlich vieler Welten, die Epikur — ein Zeichen für die mangelnde logische Geschlossenheit des Herodot-Briefes — erst an späterer Stelle erwähnt (Diog. Laert. X 45). Vgl. Diog. Laert. X 45: ή τοιαύτη φωνή τούτων πάντων μνημονευομένων τον ίκανον τύπον υποβάλλει ταίς περί της τών δντων φύσεως έπινοίαις. Epikur hat vdr allem Gestalt (und Größe) im Auge (αί διαφοραι τών σχημάτων, Diog. Laert. Χ 42). Vgl. auch Diog. Laert. X 55, kritisch gegen Demokrit (δοκεΐ δ' α ΐ τ ψ (sc. Δημοκρίτψ) . . . τάς άτόμους άπειρους είναι κατά μέγεθος και πλήθος, Diog. Laert. IX 44). Nach Ps.-Plut. de plac. philos. I 3, 27, 286a 4 (Frg. 270 Us.) hat Epikur einige Formen auch ihrer Zerbrechlichkeit wegen ausgeschlossen. So explizit bei Lukr. Rer. Nat. II 522-528.
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auf Eigenschaften statt auf Gesetze und die Orientierung an der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Erscheinungen läßt die für Erklärungen notwendige Präzisierung atomistischer Prämissen nicht mehr zu. Auch die Bemerkung zur atomaren Kinematik 22 enthält keinen Hinweis auf Gesetze atomarer Bewegung, vielleicht bis auf die Andeutung von Stoßgesetzen beim Zusammenprall mehrerer Atome. Die Funktion dieses Abschnittes ist nicht leicht zu erkennen, denn wichtige Teile der atomaren Kinematik, ζ. B . die Einführung der Schwere oder der Beugungstheorie, fehlen 23 . Offenbar wird nur soviel behauptet, wie sich aufgrund der bisherigen Sätze begründen läßt; Epikur gibt nicht die Ursachen für die atomare Bewegung (Schwere), sondern für ihre Unaufhörlichkeit an, die für feste oder flüssige Körper — darum die Beschränkung auf atomare Bewegungen in zusammengesetzten Körpern — in Zweifel gezogen werden könnte: Erhaltungssätze, Widerstandslosigkeit des leeren Raumes, Stoßgesetze 24 . Das Bemühen um begründende (deduktive) Argumentation ist hier ebenso deutlich wie bei der Einführung der drei atomaren Eigenschaften Größe, Gestalt und Schwere, die im Herodotbrief zwischen Idolen- und Seelenlehre erfolgt 25 . Zwar weist Epikur im letzten Satz dieses Abschnittes auf die Erklärungsfruchtbarkeit seiner Hypothesen hin, aber sie spielt, wie schon die Stellung des Hinweises zeigt, in seinen Überlegungen keine wichtige Rolle 2 6 . Entscheidend ist für ihn vielmehr die Tatsache, daß Gegenstände ihre Eigenschaften ständig wechseln, während .Atome aufgrund der Erhaltungssätze unveränderlich sind. Daraus folgt, daß Atome keine Eigenschaften haben können, die ständig wechseln 27 . Schwere (oder 22 23
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Diog. Laert. X 4 3 - 4 4 . Die Schwere wird erst später (Diog. Laert. X 54), die Beugungstheorie bekanntlich überhaupt nicht eingeführt; wir kennen sie nur aus doxographischen Berichten. Es scheint daher nicht sinnvoll, die aufgrund des Fehlens der Beugungstheorie im Herodot-Brief von den meisten Interpreten vermutete Lücke gerade an dieser Stelle anzusetzen. Weder paßt die gesamte Kinematik in den Argumentationszusammenhang, noch würde Epikur, hätte er sie hier placiert, erst Diog. Laert. X 54 die drei atomaren Eigenschaften, unter ihnen Schwere, eingeführt haben. (Vgl. dazu Bailey Epicurus S. 1 8 6 ; Bignone nimmt die Lücke hinter και a t μεν, Usener hinter τον αΙώνα an.) Diog. Laert. X 5 4 - 5 5 . "ικανά σδν τά υπολειπόμενα ταϋτα (sc. τάς άτόμους) τάς των συγκρίσεων διαφοράς ποιείν, έπειδήπερ ΰπολείπεσθαι γέ τινα άναγκαίον και μή εις το μή δν φθείρεσθαι. Zusätzlich wird also der Erhaltungssatz angeführt: Erklärungsfruchtbarkeit allein reicht zur Begründung nicht hin. ποιότης γάρ πάσα μεταβάλλει - αί δε άτομοι ούδέν μεταβάλλουσιν, έπειδήπερ δεί τι ύπομένειν έν ταϊς διαλυσεσι των συγκρίσεων στερεον και άδιάλυτον . . . δθεν άναγκαίον τά μετατιθέμενα άφθαρτα είναι και την τοϋ μεταβάλλοντος φυσιν ούκ έχοντα (Diog. Laert. Χ 546). „την τοϋ μεταβάλλοντος φΰσιν" ist synonym mit „τάς των φαινομένων ποιοτήτας".
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Masse) 2 8 und Gestalt hält Epikur jedoch für Eigenschaften, die nicht wechseln 29 ; darum werden sie den Atomen zugesprochen (die Größe wird nicht erwähnt, vermutlich weil Atome weder unkörperlich noch unendlich groß sind und daher trivialerweise endliche Ausdehnung haben). Endlich versucht Epikur jedenfalls für die Gestalt die Unwandelbarkeit ihrerseits nachzuweisen: in Veränderungen an beobachtbaren Körpern bleibt die Gestalt erhalten 30 . Damit kann natürlich nicht gemeint sein, daß beobachtbare Körper ihre Formen niemals wechseln, sondern daß sie stets irgendeine Gestalt haben, was nach Ansicht Epikurs von Farben oder Geschmack nicht gilt 31 . Quantitativ ändern sich Größe, Gestalt und Schwere an sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen, aber es gibt keinen Gegenstand, der nicht irgendeine Größe, Gestalt oder Schwere hat. Dahinter steht vermutlich die Auffassung, daß diese drei Eigenschaften Körpern qua Körpern zukommen, was einer Definition von „Körper" gleichkäme. Unwandelbar sind sie also zunächst insofern, als kein Körper vorgestellt werden kann, aus dem sie gänzlich verschwinden; daher haben auch Atome diese Eigenschaften. Zusätzlich ändert sich bei Atomen auch ihr Maß nicht. Anders als Epikur motiviert Lukrez im zweiten Buch von De rerum natura die Einführung der atomaren Grundeigenschaften durch Analogien und Erklärungen. Die Bewegung der Atome etwa wird aus der ständigen Veränderung beobachtbarer Gegenstände geschlossen, zugleich aber die Schwere als ihre Ursache bezeichnet und sodann erklärt, wieso einige
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Epikur verwendet hier den Ausdruck „ ό γ κ ο ς " , der Eigenschaften wie ναστότης, σωματότης abdeckt (vgl. Frg. 288 U s . p. 206, 3; Frg. 275 U s . mit άντιτυπία). όγκους δέ και σχηματισμούς ιδίους εχει (sc. τά μετατιθέμενα = a t άτομοι)· ταϋτα γαρ και άναγκαίον ύπομένειν (Diog. Laert. Χ 54). και γαρ έν τοίς παρ' ήμίν μετασχηματιζομένους . . . το σχήμα ενυπάρχον λαμβάνεται (Diog. Laert. Χ 55). Bailey (Epicurus S. 203) hält diesen Satz für „schwierig und dunkel", weil er den Begründungszusammenhang nicht erkannt hat. In den doxographischen Berichten ist wiederum kein Begründungsversuch erwähnt; lediglich von Simplicius, der offenbar den Herodotbrief nicht genau genug gelesen hat, ist die kritische Frage überliefert, warum Epikur gerade Größe, Gestalt und Schwere als atomare Eigenschaften auszeichnet (Frg. 288 U s . S. 206, 1 - 1 9 ) . Vgl. Lukr. II 826ff., wo beschrieben wird, wie die Farbe eines Körpers bei ständiger Verkleinerung gänzlich schwindet; die Epikureer haben mit Sicherheit darauf hingewiesen, daß auch die meisten Teile noch Gestalt haben. Vgl. auch Epikurs Formulierung: αί δε ποιότητες ούκ ένυπάρχουσαι έν τω μεταβάλλοντι, άλλ' έξ δλου τοΰ σώματος άπολλΰμεναι. Die „Unwandelbarkeit" der Schwere dürfte ähnlich gerechtfertigt worden sein. In Diog. Laert. X 68 zählt Epikur ,,τά μεγέθη, τά σχήματα, τά β ά ρ η " zu den wandelbaren Qualitäten; die Pluralform zeigt, daß er hier quantitative Maße im Auge hat.
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Körper nach oben steigen32. Die Möglichkeit mannigfaltiger atomarer Formen begründet Lukrez mit der Mannigfaltigkeit der Gestalten wahrnehmbarer Gegenstände und benutzt sie dann, um wahrnehmbare Qualitäten auf sie zurückzuführen33. Wie wenig dagegen Epikur an diesem Punkt der Argumentation an Erklärungsmöglichkeiten interessiert ist, zeigt auch die Tatsache, daß er die Schwere, die er selbst wahrscheinlich als dritte Eigenschaft der Atome eingeführt hat34, mit atomarer Bewegung, die sie erklären soll, nicht in Zusammenhang bringt. Statt dessen dominiert eindeutig die strenge Orientierung an vorausgesetzten oder bereits gesicherten Prinzipien. Weitere Bemerkungen zur atomaren Kinematik folgen im HerodotBrief nach der Besprechung einiger Probleme, die mit der Größe der Atome zusammenhängen (keine unbeschränkte Ausdehnung, keine unendliche Teilbarkeit, Existenz von minima sensibilia)35. Notwendigerweise ist dabei von der Bewegungsrichtung der Atome die Rede, und daher hat Epikur zunächst zu klären, wie in einem unendlichen leeren Raum Bewegungsrichtungen ausgezeichnet werden können. Aristoteles hatte erkannt, daß die Annahme eines unendlichen leeren Raumes absolute Ortsunterschiede und damit die unbeschränkte Anwendung der Ausdrücke „oben" und „unten" nicht zuläßt, hielt diese Konsequenz jedoch für unvereinbar mit der Tatsache, daß der Unterschied zwischen leichten (nach oben steigenden) und schweren (nach unten fallenden) Körpern 32 33 34
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Vgl. Lukr. De rer. nat. II 62ff., bes. 83f., 190, 218 (Gewicht), 191-215 (Erklärung). Vgl. Lukr. De rer. nat. II 33 ff., bes. 398-407 (Erklärung von Süße und Bitterkeit). Plut. Plac. I 3, 2 b : συμβεβηκέναι δε τοις σώμασι τρία ταϋτα, σχήμα μέγεθος βάρος. Δημόκριτος μεν γαρ ελεγε δυο, μέγεθος τε και σχήμα' ό δέ Ε π ί κ ο υ ρ ο ς τούτοις και τρίτον βάρος προσέθηκεν άνάγκη γάρ, φησί, κινείσθαι τα σώματα τή τοϋ βάρους πληγή (hier Begründung durch Erklärung). Demokrit scheint erst den res concretae Schwere zugebilligt zu haben, vgl. Aristot. De gen. et corr. A8, 326a 9ff. und VS 68 A 60 Diels. Bailey (Greek Atomists S. 289) glaubt, nicht Epikur, sondern einer seiner Vorgänger, vielleicht Nausiphanes, habe die Schwere eingeführt, weil Lukr. II 225—242 atomare Bewegung nicht durch Gewicht, sondern durch die Widerstandslosigkeit des Leeren verursacht werden soll. De Vogel weist mit Recht darauf hin, daß nur das Zusammentreffen der Atome an dieser Stelle nicht durch Gewicht begründet wird (Greek Philosophy III, 1964, S. 16). Zu Schwere und Bewegung bei Lukrez vgl. im übrigen oben Anm. 31. Das Problem ist freilich noch nicht endgültig gelöst. Zu gegensätzlichen Auffassungen in letzter Zeit vgl. Guthrie, History of Greek Philosophy II, Cambridge 1965, S. 400— 402 (gegen atomares Gewicht bei Demokrit); Rist, Epicurus, Appendix Β, S. 167 (für atomares Gewicht bei Demokrit) Einigkeit besteht jedoch darüber, daß Demokrit, selbst wenn er den Atomen Gewicht zugeschrieben haben sollte, nicht wie Epikur damit die atomare Bewegung begründet hat. Diog. Laert. X 5 6 - 5 9 . Zur Kinematik ibid. 6 0 - 6 2 . Die dritte Eigenschaft (Gestalt) konnte bereits ibid. 42 behandelt werden.
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unabhängig vom Beobachter getroffen werden kann 36 . Epikur insistiert dagegen auf der von ihm anerkannten Folgerung, daß im unendlichen Raum Bewegungsrichtungen nur relativ zum Beobachter definiert werden können. Der Unterschied zwischen einer beliebigen, wie auch immer gekennzeichneten Bewegungsrichtung und der ihr entgegengesetzten Bewegungsrichtung ist jedoch unabhängig vom Beobachtungsstandpunkt — dies ist vermutlich Epikurs Antwort auf den Hinweis von Aristoteles bezüglich leichter und schwerer Körper 3 7 . Seine Behauptungen halten sich im Rahmen mehr oder weniger präziser Folgerungen aus seinem Raumbegriff. Nach dieser Vorbereitung folgt einer der meistdiskutierten physikalischen Lehrsätze Epikurs, nach welchem sich die Atome im leeren Raum gleich schnell bewegen 38 . Auch er wird an dieser Stelle begründet und
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Aristot. Phys. A 5, 205b 24ff., A 8, 215a 8ff. (Zu άνω = άπό τοϋ μέσου und κάτω = προς το μέσον im aristotelischen Sinne vgl. Arist. De cael. Β 1, 308 a 15 ff. mit Anspielung auf Plat. Tim. 63 a.) Daß Epikur Aristoteles' Kritik an der vorsokratischen Atomistik berücksichtigt und sich seinerseits kritisch gegen die platonisch-aristotelische Kugelweltvorstellung wendet, ist weithin anerkannt, vgl. ζ. B. Furley, Two Studies, a. a. Ο . S. 111 — 127; J . Mau, Raum und Bewegung. Zu Epikurs Brief an Herodot § 60, in: Hermes 82, 1954, S. 13—24. Man stellt richtig die Frage, inwiefern Epikur die anfängliche Bewegung der Atome als nach unten gerichtet angesehen haben kann, während der noch kein Beobachter existierte, und weist darauf hin, daß Epikur sich stets einen Beobachter theoretisch hinzudenkt (a. a. O . S. 23): ώστε εστι μίαν λαβείν φοράν την άνω νοουμένην είς άπειρον και μίαν την κάτω (Diog. Laert. Χ 60). Im übrigen ist die Priorität der abwärts gerichteten atomaren Bewegung vor der Parenklisis wahrscheinlich nur eine logische. Soweit ich sehe, ist dies bisher noch nicht erkannt worden; der Schlußsatz von § 60 ist aber ein eindeutiger Beleg: ή γαρ δλη φορά οιιθεν ήττον έκάτερα έκατέρ^ άντικειμένη έπ άπειρον νοείται. Er faßt nicht, wie Bailey (Epicurus S. 215) behauptet, den Paragraphen zusammen, sondern begründet („γάρ") die Möglichkeit einer Unterscheidung von „oben" und „unten" relativ zum Beobachter. Nicht verständlich ist die Behauptung von Sambursky (Weltbild S. 156): „In der Kosmologie Epikurs erscheinen nämlich „oben" und „unten" als absolute Richtungen, was sich wohl auf aristotelische Einflüsse zurückführen läßt". Diog. Laert. X 6 1 . Uberraschend verbreitet ist noch immer die Auffassung, daß dieser Lehrsatz durch die neuzeitliche Physik bestätigt worden sei; vergl. ζ. B. de Vogel („This theory of Epicurus has been confirmed by modern physics", Greek Philosophy III, S. 19), Guthrie („Epicurus had the remarkable perspicacity to anticipate the finding of modern science that in a vacuum all bodies will fall at an equal speed, irrespective of their relative weight", History of Greek Philosophy I, 1962, S. 18) und selbst ein Fachmann der Physik wie Sambursky („Das ist im Grunde dieselbe Annahme, die Galilei in seinen Fallgesetzen machte", „Epikurs Auffassung ist seit der Erfindung der Luftpumpe experimentell bestätigt", Weltbild S. 235 und 482) mit Gassendi als Vorläufer: „Epicurus tametsi forte de hac experientia numquam cogitarit, ratione tarnen ductus illud censuit de atomis, quod non confisos Aristoteli experientia nos nuper docuit. Scilicet ut corpora omnia tametsi sint tarn pondere, quam mole summe inaequalia, aequivelocia tarnen sunt, cum superne deorsum cadunt, sie ille censuit atomos omnes, licet sint magnitudine gravi-
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nicht zu Erklärungszwecken verwendet: das Fehlen jeden Widerstandes im leeren Raum ist die entscheidende Ursache. An früherer Stelle des Herodotbriefes hatte Epikur bereits behauptet, daß die (mittlere) Schnelligkeit oder Langsamkeit der Bewegung eines Körpers vom Widerstand des Mediums abhängt, in dem er sich bewegt 3 9 . Dieser Widerstand wird seinerseits bestimmt durch die Feinheit des Körperstoffes und, nach Lukrez, auch durch das Gewicht 4 0 . Diese beiden Größen bewirken demnach bei gegebenem Medium Geschwindigkeitsunterschiede. Ist jedoch kein stoffliches Medium vorhanden, auf das ein Körper mittels seines Gewichtes Druck ausüben und durch das er sich hindurchschieben muß, ergeben sich keine Geschwindigkeitsunterschiede. Auf diese Weise folgt die Geschwindigkeitsgleichheit aller Atome im leeren Raum 4 1 . In dieser Begründung wird freilich nicht berücksichtigt, was mit derjenigen atomaren Eigenschaft, die wir inkorrekt mit „Schwere" (βάρος) übersetzen, erklärt werden soll. Da es keinen Zeitpunkt gibt, an dem die Atome begonnen haben, sich zu bewegen, kann es nicht der Bewegungsanfang, sondern nur die Bewegungserhaltung sein: die „Schwere" tritt also, neuzeitlich formuliert, bei Epikur nicht als Kraft oder Kraftstoß auf, sondern als träge Masse. Insofern aufgrund dieser Eigenschaft Bewegung, genauer Geschwindigkeit erhalten bleibt, bleiben auch ceteris paribus Geschwindigkeitsunterschiede erhalten. Die Eigenschaften des leeren Raumes und die epikureische „Schwere" vermögen also die Erhaltung gleicher atomarer
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tateque summe inaequales, esse nihilominus inter se ipso suo motu aequiveloces" S. P. I 278 b 2). Die epikureische atomare Bewegung ist jedoch keine Fallbewegung im Galileischen Sinne, d. h. unterliegt gerade nicht der Gravitationskraft der Erde, so daß das βάρος der epikureischen Atome nicht zu beschleunigter, sondern zu gleichförmiger Bewegung führt. Der neuzeitlichen Physik zufolge bleibt die Bewegung von Körpern im leeren Raum, die keiner Gravitation unterliegen, zwar nach Geschwindigkeit und Richtung erhalten, diese aber sind nicht gleich wie bei Epikur, sondern unterscheiden sich nach Größe und Richtung des Kraftstoßes, der zur Bewegung führte. βράδους γαρ και τάχους άντικοπή και ούκ άντικοπή όμοίωμα λαμβάνει (Diog. Laert. Χ 46b). Vgl. auch ibid. 44. Diog. Laert. X 4 7 in bezug auf είδωλα. Die Verbindung zu X 6 1 wird durch die an beiden Stellen verwendete Phrase „πάντα πόρον σΰμμετρον εχειν" hergestellt. Zum Einfluß des Gewichts vgl. Lukr. Rer. Nat. II 229ff. Ganz andere Gründe, von Epikur selbst nicht genannte, vermutet Furley, Two Studies S. 121f. Aristoteles hatte in der Physik (Z 2, 232 b 20—233 a 12) argumentiert, daß die Annahme unterschiedlicher Geschwindigkeit die (unendliche) Teilbarkeit von Zeit und Distanz impliziert. Epikur scheint diese Folgerung anerkannt zu haben, sah sich aufgrund seiner Lehre von den unteilbaren Größen dann aber gezwungen, jeden Geschwindigkeitsunterschied zu leugnen. Diesen Zusammenhang sieht auch Simplic. in Arist. Phys. Ζ 2, 232 a 23ff. (Frg. 277 Us.): διό και τοις περί'Επίκουρον άρέσκει ϊσοταχώς πάντα δια των άμερών κινεΐσθαι, ϊνα μή τα άτομα αυτών διαιρούμενα μηκέτι άτομα η.
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Geschwindigkeit zu erklären, diese selbst muß jedoch vorausgesetzt werden 42 . Nur eine Besinnung auf Erklärungszwecke kann diese Schwierigkeit sichtbar machen. Im folgenden und letzten Abschnitt zur Kinematik kommt die Bewegung in und von zusammengesetzten Körpern zur Sprache 43 . Man erwartet Erklärungen darüber, wie Atome sich zu größeren Körpern zusammensetzen, ob und wie die atomare Geschwindigkeit sich bei Kollisionen ändert, oder ob und wie die Bewegung zusammengesetzter Körper von der Bewegung ihrer Atome abhängt. Dann wäre die Einführung der Parenklisishypothese, der Stoßgesetze und weiterer Annahmen zur Erhaltung und Uberlagerung atomarer Bewegungen notwendig. Stattdessen versucht Epikur an dieser Stelle nur einem Einwand gegen die These von der gleichen Geschwindigkeit der Atome zu begegnen, der aufgrund der Beobachtung erhoben werden könnte, daß zusammengesetzte Körper sich verschieden schnell bewegen. Seine Antwort besagt, daß die Bewegung zusammengesetzter Körper nicht von der Geschwindigkeit, sondern der Bewegungsrichtung der Atome in einer gegebenen Zeit abhängig ist 44 (diese Zeitspanne muß stets ein Vielfaches der unteilbaren, nur theoretisch erfaßbaren Zeiteinheiten sein, weil innerhalb einer unteilbaren Zeiteinheit keine Richtungstendenz atomarer Bewegung, sondern höchstens ungeregelte Vibration (παλμός) feststellbar ist). Diese Bemerkungen implizieren natürlich Annahmen über die Beziehung zwischen atomarer und Makrobewegung, aber sie werden nicht expliziert, weil kein Erklärungszusammenhang vorliegt 45 . Ihre Explikation hätte möglicherweise deutlich machen können, daß Epikurs Antwort auf den genannten Einwand unzureichend ist — solange der leere Raum das Bezugssystem der Geschwindigkeitsmessung ist, folgt aus den Geschwindigkeitsunterschieden 42
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Diese Überlegung findet sich schon bei Simplicius, der behauptet, daß das Gewicht nicht Ursache der Bewegung (gemeint ist der Bewegungsanfang) sein kann, wenn Gewichtsunterschiede nicht zu Geschwindigkeitsunterschieden führen: φάδιον λέγειν, δτι ει μή ή προσθήκη τοϋ βάρους θάττω ποιεί την κίνησιν, ουδέ άρχήν ή βραχΰτης αιτία εσται έπί τό κάτω κινήσεως έν τώ κενώ (vgl. Simpl. in Arist. Phys. Δ 8, 216a 17 (Frg. 279 p. 199, 4 - 6 Us.)). Diog. Laert. X 62. Der Text ist korrupt überliefert, seine Herstellung umstritten. Ich folge hier der Version von Bailey, die mir sachlich begründet und sprachlich möglich erscheint. Vgl. dazu Rist a. a. O . S. 59f. und Furley a. a. O . S. 123f. Daß die Parenklisis nicht erwähnt wird, wird dann verständlicher als man bisher wahrhaben wollte (vgl. ζ. B. Furley: „ I do not know why Epicurus failed to mention it (sc. the swerve) here", a. a. O . S. 123; Bailey: „(The παρέγκλισις) ist strangely enough omitted in the letter, though it was an all-important point in the system", a. a. O . S. 216).
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bei Makrokörpern ja offensichtlich ungleiche atomare Geschwindigkeit —, und daß die Annahme eines Zusammenhangs zwischen atomarer und Makrobewegung weitreichende dynamische Hypothesen voraussetzt — Atomen müßte ζ. B. ein innerer Impuls zur Geschwindigkeitsveränderung zugeschrieben werden 4 6 . Insgesamt dürfte damit deutlich geworden sein, daß die wichtigsten Lehrsätze der atomistischen Physik im Brief an Herodot nicht als Hypothesen eingeführt werden, die einer Bestätigung noch bedürfen, sondern durch deduktive Argumentation, also fundamentalistisch, gesichert werden. Als Prämissen verwendet Epikur methodologische (Stabilität, Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens) oder ontologische (Existenz-, Raumbegriff) Grundsätze, ferner sehr allgemeine empirische Aussagen. Weil der Zwang zu detaillierten Erklärungsversuchen fehlt, werden die heranzuziehenden Gesetze selten ausdrücklich formuliert. Selbstverständlich kann daraus nicht geschlossen werden, daß Epikur in allen seinen Schriften zur Physik diese Argumentationsweise anwendete; wie er im großen Auszug und in den fast vierzig Büchern „Über die Natur" vorging, wissen wir nicht 4 7 . Eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten physikalischen
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Zur Beschleunigung und einer Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Kraft vgl. Lukr. Rer. Nat. VI 335ff. Ein weiteres schwieriges Problem bietet die Frage, ob die von Epikur angenommene kontinuierliche atomare Bewegung (συνεχώς, Diog. Laert. X 43) bei Kollisionen von Ruheintervallen unterbrochen wird und, falls das der Fall ist, aufgrund welcher Eigenschaften die Atome sich wieder in Bewegung setzen. Ruheintervalle nehmen Bailey (Greek Atomists S. 329—332) und Bignone (Epicuro, S. 229—231) an. Vgl. dazu J . S. Drabkin, Notes on Epicurean Kinetics, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 69, 1938, S. 364—374, der nur die relative Ruhe der am Stoß beteiligten Atome zueinander anerkennt, im übrigen die epikureische Kinematik aber zu optimistisch beurteilt: „Certain general principles were definitfely within the grasp of the Epicureans, e. g. principles of conservation of matter and motion, and the equal speed of fall of all bodies in the void" (S. 374). Vermutlich würde eine Argumentationsanalyse von De rerum natura jedoch zu ähnlichen Ergebnissen führen, denn auch Lukrez versucht seine Behauptungen in den meisten Fällen zu begründen und nicht durch Erklärungen zu bestätigen, und dies teilweise wie Epikur ( z . B . Materieerhaltungssätze durch Regelmäßigkeit des Naturgeschehens I 149ff.; Existenz des leeren Raumes durch Bewegung und unterschiedliche Dichte sichtbarer Körper I 329 ff.; atomare Bewegung durch Schwere und Stöße II 80 ff.; Farblosigkeit der Atome durch Veränderlichkeit der Farben II 757ff.); teilweise verwendet Lukrez aber auch nur breit ausgeschmückte Analogien mit der Erscheinungswelt, verständlicherweise ein Charakteristikum seines Lehrgedichtes, das der dichterischen Phantasie freien Lauf gestattet (beispielsweise wenn er zur Einführung der nicht nur unsichtbaren, sondern auf keine Weise wahrnehmbaren Atome ausführlich die Wirkung unsichtbarer, aber auf andere Weise wahrnehmbarer Kräfte — Wind, Geruch, Hitze — schildert (I 269 ff.), wenn zum Erweis verschiedener atomarer Formen die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen vor Augen geführt (II 333 ff.) oder zum Nachweis der Erhaltung der Zahl der Atome auf die
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Sätze, wie der Herodotbrief sie darstellt, ließ sicher ausführliche Erklärungen oder empirische Bestätigungsversuche kaum zu. Dennoch, wir und vor allem, was für unsere Untersuchung ausschlaggebend ist, Gassendi kennen Epikurs Einführung der atomistischen Physik nur aus dem Brief an Herodot; sie wird daher auch einem Vergleich mit Gassendis Vorgehen zugrunde liegen müssen. Für diesen Vergleich ist es ferner sehr aufschlußreich, sich diejenigen Beispiele genauer anzusehen, in denen Epikur die atomistische Physik zu Erklärungszwecken, vor allem zur Qualitätenerklärung, heranzieht. Dabei gilt es zunächst in aller Deutlichkeit festzustellen, daß in den uns erhaltenen physikalischen Texten der Epikureer zwar vielerlei Phänomene erklärt werden — der Pythokles-Brief und die doxographischen Berichte 48 sind voll von Erklärungsversuchen und Erklärungsskizzen —, daß die Verwendung der atomistischen Physik, also der explizite Rekurs auf Lehrsätze der Atomistik, aber außerordentlich selten ist und zudem oft mangelnde Sorgfalt erkennen läßt. Diese Tatsache bestätigt offenbar gleichzeitig das Ergebnis der bisherigen Überlegungen. In Epikurs eigenen naturwissenschaftlichen Briefen an Herodot und Pythokles finden sich nur drei Fälle expliziter Benutzung der Atomistik für Erklärungen: die Erklärung von Flüssigkeit (Festigkeit), Schall und Eis. In welcher Weise Aggregatzustände von der Struktur atomarer Verbindungen abhängen, erwähnt Epikur freilich nur nebenbei innerhalb eines Argumentes, das dem Nachweis der ständigen atomaren Bewegung dient: diejenigen Atome, die sich zu größeren Verbindungen zusammenschließen, führen gleichwohl eine innere Vibration aus, wobei sie teilweise fest miteinander verbunden und teilweise nur von fest miteinander verbundenen Atomen eingeschlossen sind 49 . Zweifellos hat Epikur mit ersteren feste und mit letzteren flüssige Körper im Auge; aber die Ausdrücke „fest
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Stabilität der Tiergattungen bei ihrer Fortpflanzung hingewiesen wird (II 532 ff.) oder wenn schließlich, um den Zusammenschluß von Atomen zu lebenden Organismen plausibel zu machen, angebliche Beispiele für die Entstehung von Lebewesen aus toter Materie in großer Zahl angeführt werden (II 865 ff.)). Die im Herodotbrief Epikurs erkennbare Systematik geht dabei natürlich verloren. Die Beispiele ließen sich vermehren und zeigen mit einiger Wahrscheinlichkeit, daß Epikur in der Μεγάλη'Επιτομή zwar detaillierter, aber methodisch im Prinzip nicht anders vorging als im Herodotbrief. Frg. 2 6 6 - 3 0 9 (Us.). κινούνται τε συνεχώς αί άτομοι τον αιώνα, και αί μεν εις μακράν dai άλλήλων διιστάμενοι, αί δε αύτού τον παλμόν ΐσχουσιν, όταν τύχωσι τη περίπλοκη κεκλειμέναι (feste Körper) ή στεγαζόμεναι παρά των πλεκτικών (flüssige Körper) (Diog. Laert. Χ 43).
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(σκληρός)" und „flüssig (υγρός)" fallen nicht, die Qualitätenerklärung auf atomistischer Grundlage wird nicht explizit gemacht. Das läßt sich auch daran erkennen, daß Flüssigkeit nur negativ gekennzeichnet wird als diejenige atomare Verbindung, die nicht von selbst zusammenhält, sondern dazu des Einschlusses in feste Körper bedarf. Hinweise auf unterschiedliche atomare Abstände und Formen der Atome, die ihrerseits Vorhandensein oder Fehlen freier Beweglichkeit der Atome erklären könnten, gibt es nicht 50 . Der Kern der atomistischen Erklärung des Hörens und insbesondere des Schalls ist eine Existenzaussage, die Annahme nämlich, daß es spezielle Atome gibt, deren Bewegung der Schall ist und die bei Lebewesen Hörvorgänge auslöst51. Das Aussenden dieser Atome erfolgt stets in einer bestimmten Richtung; andererseits steht empirisch fest, daß verschiedene Personen an nicht in der Aussendungsrichtung liegenden Orten denselben Ton vernehmen können. Epikur postuliert daher eine Aufsplitterung (und Verteilung) der Atomverbände in gleiche Teile52. Die ein- und denselben Ton übertragenden Atome sind strukturell miteinander identisch — die einzige Aussage zur Form dieser Partikeln53. Abschließend lehnt Epikur die demokritische Hypothese ab, daß die vom tönenden Gegenstand ausgehenden Atome der Luft Abbilder einprägen, die ihrerseits zum Hörer hin übertragen werden, ohne allerdings Gründe zu nennen 54 . Insgesamt besteht also diese Erklärungsskizze aus einer Existenzaussage, die nichts weiter ist als eine auf die mit dem Schall zusammenhängenden Phänomene zugeschnittene Spezialisierung des atomistischen Grundsatzes, sowie aus zwei ad-hoc-Annahmen, die einigen Nebenerscheinungen Rechnung tragen sollen, ihrerseits indessen weder begründet noch unabhängig geprüft sind. Folgerungen werden nicht gezogen, beispielsweise über den Einfluß von Wind oder Sturm auf die Schallübermittlung, noch versucht
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Vgl. dagegen Lukr. Rer. Nat. II 95ff. und 451-455, wo diese Eigenschaften aufgeführt werden. Aus der ersten dieser Stellen geht ferner hervor, daß mit „al είς μακράν ύυί άλλήλων διιστάμενοι (sc. άτομοι) bei Epikur (s. Anm. 48) die Licht- und Luftatome gemeint sind. Diese Formulierung enthielte dann einen versteckten Hinweis auf das Kriterium des atomaren Abstandes. Diog. Laert. X 52b-53. το δέ φεϋμα τοϋχο είς όμοιομερεϊς όγκους διασπείρεται ibid. 52 b. Zum Argument Lukr. IV 563-567. . . . διασφζοντας (sc. τοϋς δγκους) συμπάθειαν προς άλλήλους καΐ ένότητα Ιδιότροπον ibid. Lukrez läßt Schärfe und Schrillheit der Töne von kantigen und scharfen Atomen abhängen (Rer. Nat. IV 541, 55lf., 542-546). Vgl. Theophr. De sens. 55.
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
Epikur seine Behauptungen mit bereits bestätigten Hypothesen etwa der Pythagoreer über den Zusammenhang zwischen Saitenschwingungen und Tonhöhe in Einklang zu bringen. Ein Bestätigungsversuch ist allerdings in einem Bericht Plutarchs angedeutet 55 : daß der Schall nachts weiter trägt als bei Tage, wird dadurch erklärt, daß nachts der Luftwiderstand geringer ist als am Tage, so daß die Tonatome ungehinderter ausströmen können; der Luftwiderstand ist nachts geringer als am Tage, weil es nachts kälter ist, die Luftmoleküle daher erstarren, d. h. die einzelnen Atome nicht mehr so frei schwingen und dadurch durchströmende Atome aufhalten können. Diese Annahmen sind selbstverständlich ebenfalls ad hoc und vielleicht sogar inkonsistent mit der anderen These, daß sich die atomare Dichte (d. h. die Anzahl der Atome pro Volumeneinheit) mit zunehmender Wärme verringert. Aussagen über die Form der Atome macht Epikur beim Versuch, das Gefrieren von Wasser atomistisch zu deuten. Der damit verbundene Erstarrungsprozeß soll, wie nicht anders zu erwarten, durch festeren atomaren Zusammenhang verursacht werden. Epikur postuliert daher das Austreten der runden, für die Flüssigkeit verantwortlichen Wasseratome und das Verbleiben von eckigen, aneinanderhaftenden Atomen, die — hier kommt die Methode der vielfachen Erklärung zur Anwendung — entweder bereits im Wasser vorhanden sind oder von außen eindringen 56 . Die Methode der vielfachen Erklärung impliziert bereits, wie gezeigt, daß eine Entscheidung zwischen den Erklärungsalternativen nicht gesucht wird; bemerkenswert ist allenfalls, daß diese Methode auch bei atomistischen Erklärungen angewendet wird. Aber die Hypothese wird auch nicht in allgemeinere Zusammenhänge eingebettet; beispielsweise hätte es nahegelegen zu fragen, wodurch der Austritt der runden Wasseratome bewirkt wird, oder das Gefrieren von Wasser mit dem Ubergang anderer Stoffe vom flüssigen in den festen Zustand zu vergleichen. Soweit man aufgrund dieser Beispiele urteilen kann, bleiben Epikurs atomistische Erklärungsversuche unausgeführte Skizzen 57 , die weder geprüft noch auf allgemeinere Hypothesen bezogen, sondern allenfalls durch
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Plut. quaest. conviv. VIII 3, 1, 720e (Frg. 323 Us.). Seine empirische Kritik ibid. 721 f. (p. 223, 2 9 f f . Us.). Diog. Laert. X 109 (Brief an Pythokles). Zur runden Form der Wasseratome vgl. Lukr. Rer. Nat. II 451 f., w o von einem Gemisch mit eckigen Atomen nicht die Rede ist (diese Annahme stammt möglicherweise von Demokrit, vgl. Bailey, Epicurus S. 315). Erklärungsskizzen unterscheiden sich, nach der hier verwendeten Terminologie, von durchgeführten Erklärungen dadurch, daß sie Existenzaussagen enthalten.
Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
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ad-hoc-Annahmen angereichert werden. Sie stehen isoliert und sporadisch im Kontext und wirken daher dogmatisch. Dasselbe läßt sich auch an Lukrezens Erklärungsversuchen erkennen, die von Gassendi fast alle zitiert werden 58 , sowie an einigen weiteren Überlegungen, über die uns Doxographen berichten. Daß etwa Körper leicht sind — und das heißt nach Aristoteles, daß einige Körper nach oben steigen —, scheint Epikur mit Hilfe bestehender Gewichtsunterschiede gedeutet zu haben: die schwereren üben aufgrund ihres Gewichtes Druck nach unten aus und pressen die leichteren in die Höhe. Eine Verbindung zur Gravitationstheorie, wie sie später Gassendi herstellt, wird jedoch mit keinem Wort angedeutet59. Ausführlich haben die Epikureer sich mit dem Magnetismus beschäftigt, der die Wirkung unsichtbarer Kräfte und Körper anzuzeigen scheint 60 . Natürlich nahmen sie an, es gäbe Atome, die zwischen Magnet und Eisen hin- und herströmen und sich besonders leicht miteinander verbinden (sie sollen deshalb von ähnlicher oder entsprechender Gestalt sein). Besondere Erklärungsprobleme bot jedoch die Anziehung selbst, weil die Wechselwirkung der Atome sich auf Druck und Stoß beschränkt. Nach Galen verbinden sich Magnet- und Eisenatome zwar fest miteinander, werden jedoch beim Zusammentreffen gleichzeitig zurückgeschleudert, ziehen die haftenden Teilchen mit sich und führen so die Anziehung herbei 61 — eine äußerst problematische Behauptung, weil die für das Zurückprallen vorauszusetzende Elastizität das Haften der Atome anein-
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Ausdrückliche Qualitätenerklärungen sind auch bei Lukrez nicht eben häufig für die Physik im engeren Sinne: vgl. bez. Härte II 444—450, Flüssigkeit II 451—455, Tonschärfe IV 541 ff. (zitiert bei Gass. S. P. I 403b 1 - 2 , 416a2), dagegen ein wenig zahlreicher im Bereich der Physiologie, wo allerdings nur Erklärungsskizzen vorliegen (Einsatz von Existenzaussagen), vgl. II 398—407 (lieblicher, bitterer Geschmack, zit. Gass. S. P. I 410a 1), so auch IV 622-626; IV 673-676 (Geruch, zit. Gass. S. P. I 413a2, so auch IV 677-686 bei Gass. S. P. I 413b 1). In der Tat ist auffallend, daß Gassendi, ein exquisiter Kenner des lukrezischen Lehrgedichtes, im Buch De Qualitatibus Rerum wesentlich weniger Gelegenheit findet, Lukrez zu zitieren, als ζ. B. im Buch De Materiali Principio Rerum. Simplic. in Ar. De cael. 277b Iff. u. 299a 25ff. (Frg. 276 Us.). Lukrez (II 184-215) betont gegen Aristoteles, daß kein Körper von sich aus leicht ist, und führt weitere Fälle an, die mit dem Phänomen des Auftriebs zusammenhängen. Der fehlende Bezug zur allgemeinen Gravitationslehre hat vermutlich die naheliegende Einsicht verhindert, daß hier Wirkungen des spezifischen Gewichtes im Spiel sind. Gal. De facultat. nat. I 14 (Frg. 293 Us.); Lukr. Rer. Nat. VI 906ff. So verstehe ich die nicht ganz eindeutige Formulierung „προσκρούουσας ούν αΰχάς (sc. τάς τοϋ λίθου και σιδήρου άτόμους) τοίς συγκρίμασιν έκατέροις . . . κάπειΐ είς το μέσον άποπαλλομένας οΰτως άλλήλαις τε περιπλέκεσθαι και συνεπισπάσθαι τον σίδηρον" (Frg. 293 p. 208, 2 3 - 2 7 Us.).
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
ander ausschließt, abgesehen davon, daß unklar bleibt, warum der Magnet das Eisen anzieht und nicht umgekehrt. Bei Lukrez lesen wir eine andere Version: die ausströmenden Magnetatome zerteilen die Luft zwischen Magnet und Eisen, machen diesen Raum (nahezu) luftleer, in den dann die angrenzenden Eisenelemente in Richtung auf den Magneten hineinstürzen; zudem schiebt die verdrängte Luft das Eisen von hinten her an 6 2 . Andere Stoffe als Eisen werden deshalb nicht angezogen, weil sie entweder zu dicht und schwer oder zu dünn und leicht sind, so daß die Magnetatome entweder zu wenig Kraft haben oder in zu großer Zahl durch den Gegenstand hindurchschießen, um eine Anziehung zu bewirken. Diese H y p o these erklärt zwar die Anziehungsrichtung, enthält dafür aber, wie leicht zu sehen, noch mehr ad-hoc-Annahmen. Diese Anwendungsbeispiele atomistischer Physik sind deshalb mit ungewöhnlicher Ausführlichkeit referiert und mit ungewöhnlicher Rigorosität beurteilt worden, weil nur dadurch deutlich werden kann, wie dürftig die erhaltenen Quellen zur epikureischen Physik sind, wenn wir nach der Benutzung der Atomistik für Erklärungszwecke fragen, die ja stets gleich62
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Eine Reminiszenz an die platonische Hypothese über die Projektilbewegung, vgl. Darstellung und Kritik bei Aristot. Phys. VIII, 10. Zur Vermeidung des Eindrucks, daß die vorstehenden Bemerkungen zur Anwendung der Atomistik in physikalischen Erklärungen sich allein auf den Herodotbrief stützen, sei hier noch einmal das verfügbare Stellenmaterial aufgelistet. In Epikurs Briefen an Herodot und Pythokles gibt es, wie bereits angedeutet, insgesamt nur folgende Beispiele atomistischer (also Hypothesen der atomistischen Physik auch wesentlich benutzender) Erklärungen: bez. Flüssigkeit und Festigkeit (Diog. Laert. X 4 3 f . ; vgl. Lukr. I 574 — 576, II 9 5 - 1 0 8 ; Frg. 291 Us.); bez. des Eises (Diog. Laert. X 109; Spezialfall der Festigkeitstheorie, vgl. also bei Lukrez und Doxographien die eben angegebenen Stellen); ferner die mehr physiologischen Erklärungen, also: die Theorie des Sehens (Diog. Laert. X 49 — 50; vgl. Lukr. IV 2 3 0 - 4 6 8 ; 7 0 6 - 7 2 1 ; Frg. 3 1 8 - 3 1 9 Us.), die Theorie des Hörens und des Schalls (Diog. Laert. X 5 2 b - 5 3 ; vgl. Lukr. IV 5 2 4 - 6 1 4 ; Frg. 3 2 1 - 3 2 3 Us.) und die Theorie des Riechens (Diog. Laert. X 5 3 b ; vgl. Lukr. IV 673 — 705). Darüberhinaus kommen bei Lukrez nicht mehr als folgende atomistische Erklärungen vor: bez. Gewicht (I 346ff., aber mit derselben Begründung wie für Festigkeit: größere Anzahl der Atome pro Volumeneinheit; bei den Doxographen vgl. dazu Theophr. De sens. 61, Simpl. ad Arist. De cael. 269a 13); bez. Magnetismus (VI 906ff.; vgl. Frg. 2 9 3 - 2 9 4 Us.) und schließlich bez. einiger auf die Sinne wirkender Eigenschaften (Angenehmes, Unangenehmes, speziell Süßes, Bitteres, Hartes usw.: II 381 ff.; dies wird von den Doxographen auch Demokrit zugeschrieben, vgl. ζ. Β . 68A 129, 135 Diels/Kranz, dürfte also auch bei Epikur vorgekommen sein). Schließlich enthält Frg. 289 Us. noch einen Hinweis auf die atomistische Einführung der Farben. Insgesamt kann behauptet werden, daß in spezifisch physikalischen (nicht-physiologischen) Erklärungen nur Flüssigkeit (bzw. Festigkeit), Weichheit (bzw. Härte), Gewicht (bzw. Leichtigkeit), Feuer (bzw. Wärme, Blitz) und Farben als Explananda in den verfügbaren Texten vorkommen. Das ist alles, im übrigen aber interessanterweise genau das, was uns schon für Demokrit überliefert ist (vgl. 6 8 A 60, 61, 93, 93a, 101, 135 ( 6 l f . , 68 , 73ff.) Diels/Kranz), so daß man geradezu
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zeitig als Bestätigungsversuch zu werten ist. Diese Tatsache entspricht jedoch gut dem deduktiv-polemischen Charakter der Einführung der Atomistik im Herodot-Brief und — vermutlich — im „großen Auszug". Insgesamt versucht Epikur die atomistische Physik eher fundamentalistisch als empirisch zu sichern, ohne daß jedoch unter den Einzelerklärungen eine theoretische Einheit sichtbar würde.
1.2.2. Gassendis Einführung der atomaren Physik und Erklärung der Qualitäten Gassendis Einführung und Propagierung einer atomaren Physik seit den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts sowie seine sich bereits in den Exercitationes Paradoxicae dokumentierende Ablehnung der Grundlagen aristotelischer Physik stellte bekanntlich keine wissenschaftliche Innovation dar 1 . In Frankreich hatte der Arzt Sebastian Basso 1621 seine Philosophiae naturalis adversum Aristotelem Libri XII vorsichtshalber
von einem festen und sehr eingeschränkten Kanon atomistischer physikalischer Erklärungen im antiken Atomismus sprechen könnte. Wichtig ist aber auch, in welchem argumentativen Zusammenhang diese Erklärungen gestanden haben. In den doxographischen Berichten gibt es, soweit ich sehe, keine Stelle, an der die wenigen vorkommenden atomistischen Erklärungen von Qualitäten zur Deutung weiterer empirischer Phänomene benutzt würden. Dafür bieten die entsprechenden Lukrezpassagen aber eine plausible Erklärung: tatsächlich zeigt sich, daß Lukrez die atomistischen Erklärungen stets zur Begründung und Herleitung atomistischer Grundsätze, nicht aber zum Nachweis ihrer Erklärungsfruchtbarkeit verwendet. Ζ. B. wird die Erklärung der Festigkeit (I 574—576) eingeführt zur Stützung der Annahme, daß die Atome selbst völlig dicht sind, die Erklärung starrer Körper (II 95 — 108) innerhalb der Argumentation zugunsten der Hypothese rastloser atomarer Bewegung, die Erklärung des Gewichtes (I 340 ff.) zur Untermauerung des Grundsatzes, daß das Leere existiert, die physiologischen Erklärungen (II 381 ff.) zum Nachweis der Verschiedenheit der Formen der Atome. Diese Argumentationsweise ist genau die fundamentalistische. 1
Vgl. dazu K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik I, 1. Buch; L. Mabilleau, Histoire de la philosophie atomistique, Paris 1895, Buch 3; M.Boas, The Establishment of Mechanical Philosophy S. 422ff.; G. B. Stones, The Atomic View of Matter in the XVth, XVIth and XVIIth Centuries, in: Isis 10, 1928, S. 445-465 („Gassendi is, indeed, only the most prominent member of a flourishing school, which existed before him and persisted after him", S. 460). Speziell zum 17. Jahrhundert vgl. ferner Μ. Β. Hall, Matter in the 17th Century, in: E. Mc. Mullin (ed.), the Concept of Matter, Notre Dame Ind. 1963, S. 344—367; I. Leclerc, Atomism, Substance, and the Concept of Body in Seventeenth Century thought, in: Filosofia 18, 1967, S. 761-776; R. B. Lindsay, Pierre Gassendi and the Revival of Atomism in the Renaissance, in: American Journal of Physics 13, 1945, S. 235-242.
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nicht in Paris, sondern in Genf erscheinen lassen2, in denen er Aristoteles und insbesondere dessen Lehre von der Verwandelbarkeit der Grundelemente bekämpft und die antike Atomistik, die er nicht nur bei Demokrit, sondern auch bei Empedokles, Piaton und Anaxagoras findet, zustimmend referiert. E r versucht sich in der atomistischen Deutung einiger Vorgänge, etwa der Verdampfung des Wassers, und führt die aristotelischen Qualitäten auf die Ortsbewegung der Atome zurück, leugnet allerdings die Existenz eines leeren Raumes und postuliert stattdessen einen bewegungs- und gewichtslosen Weltäther, der zur Erklärung der Bewegung der Atome verwendet wird. Zur selben Zeit entsteht auch eine atomistische Schule in Deutschland, zunächst mit Daniel Sennert, Mediziner wie Basso, der chemische Prozesse atomistisch zu erklären versucht, im übrigen jedoch die aristotelische Vier-Elementen-Lehre akzeptiert und daher auf eine Qualitätenerklärung auf atomarer Grundlage verzichtet 3 ; ihr wichtigster Vertreter ist Joachim Jungius 4 . Ein Engländer namens
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An der Sorbonne war 1601 in einer neuen Vorlesungsverordnung bestimmt worden, daß die Auseinandersetzung des Aristoteles mit seinen Vorgängern besonders intensiv zu studieren sei. Dadurch wurde natürlich die Kenntnis des antiken Atomismus, den Aristoteles detailliert darstellt, stark gefördert. 1624 ereignete sich dann die bekannte Verurteilung von Bitault, Villon und de Claves, die am 24./25. 8. Thesen gegen Aristoteles und Paracelsus öffentlich diskutieren wollten, deren vierzehnte die Atomistik als richtige Theorie der Materie bezeichnet. Die theologische Fakultät verurteilt diese These als falsch (falsa), vorschnell (temeraria) und glaubenswidrig (fide erronea); das Parlament von Paris erläßt am 4. September Strafbefehl und verbannt Bitault und seine Freunde aus Paris. Danach war die öffentliche Erörterung der Atomistik in Frankreich für ca. 20 Jahre unterdrückt. Gassendi hat -deshalb 1624 nur die ersten beiden Bücher der Exercitationes Paradoxicae veröffentlicht (der Gesamtplan sah schon 1621 Logik, Physik, Ethik und Metaphysik vor, vgl. VI, 2 b 2 im Postskript des Briefes an Faber). Zu Basso vgl. T . Gregory, Studi sull' atomismo del Seicento, I. Sebastian Basso, in: Giorn. crit. dell. Filos. ital. 16, 1964, S. 3 8 - 6 5 . D. Sennert, De chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu et dissensu, Wittenberg 1619 (erste Andeutungen: atomistische Erklärung von Mischungsvorgängen); ders., Hypomnemata Physica, Frankfurt 1636. Dazu K. Lasswitz, Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland durch Daniel Sennert und sein Zusammenhang mit Asklepiades von Bithynien, in: Vierteljahresschrift für wiss. Philosophie 3, 1879, S. 408—434, ferner (aus dem faschistischen Deutschland) S. Ramsauer, Die Atomistik des Daniel Sennert als Ansatz zu einer deutschartig schauenden Naturforschung und Theorie der Materie im 17. Jahrhundert, Kiel 1935. T . Gregory, Studi sull' atomismo dei Seicento, II. David van Goorle e Daniel Sennert, a. a. O . 1966, S. 44—63. J . Jungius, Disputationes de principis corporum naturalium, Hamburg 1642 bei E. Wohlwill, Joachim Jungius und die Erneuerung atomistischer Lehren im 17. Jahrhundert, Abhandlung aus dem Gebiete des naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg X , 1887. Zu Jungius vgl. jetzt auch H. Kangro: Joachim Jungius' Experimente und Gedanken zur Begründung der Chemie als Wissenschaft. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 1968 (dort auch weitere Literatur).
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Nicholas Hill präsentierte schon 1601 eine Philosophia Epicurea5, aus der italienischen Schule mag Claude Berigard (der Lehrer von Basso) erwähnt werden, ein Franzose, der in Pisa und Padua Philosophie lehrte und im Anschluß an Demokrit, den er ständig lobt, der Annahme der Existenz des Vakuums zuneigte6. Die Bemerkungen Bacons, den Gassendi stets schätzte 7 , und die mechanische Physik Isaac Beeckmans, mit dem er einen langen und intensiven Gedankenaustausch hatte8, dürften unter allen zeitgenössischen atomistischen Auffassungen den tiefsten Eindruck auf Gassendi gemacht haben. Zwar wurde im Mittelalter die Atomistik heftig kritisiert und Epikur moralisch vernichtend beurteilt, aber gerade deshalb war die Kenntnis der Grundzüge atomistischer Physik niemals ganz untergegangen. Aus der Zeit vor Bekanntwerden der aristotelischen Schriften gibt es einen Bericht des Christen Dionysius Alexandrinus, der durch Aufnahme in die Praeparatio Evangelica von Eusebius erhalten blieb und Verbreitung fand. Die kritischen Äußerungen von Laktanz und Augustinus, eine Zusammenfassung bei Isidor und Andeutungen atomistischer Grundsätze bei Adelard von Bath, Wilhelm von Conches und Hugo v. St. Victor zeigen die Lebendigkeit atomistischen Gedankengutes9. Mit zunehmender Verbrei5
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Vgl. dazu G. McColley, Nicholas Hill and the Philosophia Epicurea, in: Annals of Science 4, 1939, S. 390-405. Claude Berigard, Circulus Pisanus, Utini 1642. Ein anderer Franzose in Italien, J. C. Magnen, schrieb einen Democritus reviviscens (Pavia 1646), in dem er sich auf Sennert und Jungius stützt, also gleichfalls viele peripatetische Elemente beibehält. Vgl. z . B . S. P. I 6 2 b 2 f . Zu Bacons Einstellung zum Atomismus vgl. M.Boas, Establishment S. 439f., ablehnend Partington, Origins of the Atomic Theory, Annals of Science 4, 1939, S. 262. Auf einer Reise nach Holland mit Lullier vom Dezember 1628 bis August 1629 traf Gassendi mit Beeckman in Dordrecht zusammen und wurde von ihm in seine Bewegungstheorie eingeführt (vgl. den Hinweis in Beeckmans Journal, in: Journal tenu par J. Beeckman de 1604 ä 1634,1-IV, ed. C. de Waard, La Haye 1939-1953, dort III S. 123; ferner Gassendis Brief vom 21. Juli 1629 an Peiresc, in dem er Beeckman als „le meilleur philosophe que j'aye encore recontre" bezeichnet, vgl. Lettres de Peiresc, ed. Tamizey, de Larroque IV S. 201). Beeckman glaubte seit 1613 an die Existenz des Vakuums (eine seiner Doktorthesen in Caen: Est vacuum rebus intermix tum, vgl. de Waard, L'experience barometrique, S. 78f.) und diskutierte ab 1616 den Atomismus, den er freilich noch mit der aristotelischen Elementenlehre zu verbinden suchte (Journal a. a. O. I, 152f. (1616-1618) und noch III, 138 (1629)). Die Möglichkeit der Reduktion von Qualitäten auf atomare Eigenschaften faßt er 1618 ins Auge: Erklärungen von Hitze, Trockenheit, Feuchtigkeit werden angedeutet (Journal a. a. Ο. I 216). Vgl. Eusebius, ed. Dindorf, Leipzig 1867 Teil II S. 32lff.; Laktanz ζ. B. De ira Dei ad Donatum liber unus, Op. om. ed. Biponti, 1786 Teil II, cap. 10, S. 180 — 189, dazu Frg. 287, 304, 341, 360, 363, 365f., 368, 370-374, 382 Us. Zu Augustinus vgl. vor allem die Epistolae ad Dioscorum und ad Nebridium. Isidor Etymologiae Β. XIII, Cap. 2 De atomis (Op. om. ed. Migne 1850 T. III S. 472f.). Dazu Lasswitz S. 32ff.
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tung der aristotelischen Schriften vertiefte sich auch die Kenntnis der antiken (vorsokratischen) Atomistik, mit der Aristoteles sich ausführlich auseinandersetzt 10 . Das Interesse der Humanisten an Lukrez und Diogenes Laertius förderte das Studium epikureischer Philosophie 11 . Auch im 16. Jahrhundert, von Copernicus bis Bruno, gibt es daher immer wieder kritische oder zustimmende Verweise auf den Atomismus 12 . Uber die Entwicklung zu Gassendis Lebzeiten und kurz danach zu berichten, würde an dieser Stelle zu weit führen 13 . Seinen Vorgängern gegenüber (ausgenommen vielleicht Beeckman) zeichnet sich Gassendi hauptsächlich durch seine außerordentlich konsequente antiaristotelische Haltung aus: die rigorose Einführung der Vakuumhypothese in Verbindung mit einer strikten Ablehnung jeden Bezuges zur aristotelischen Elementenlehre tritt bei ihm zum erstenmal auf. Diesen Standpunkt einzunehmen, fiel ihm freilich nicht besonders schwer, weil er ganz im Sinne späthumanistischer Tradition zunächst nur daran interessiert war, das Verständnis der epikureischen Philosophie und die Beurteilung des Menschen Epikur von den verzerrenden Vorurteilen, die sich seit Jahrhunderten gehalten hatten, zu befreien 14 . Die späthumanistischen
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Hauptstellen: De gen. et corr. I, 8; De cael. III, 4 und 7; Phys. IV 6 - 9 . Zu Beginn des 15. Jahrhunderts konzentrierten die italienischen Humanisten ihre Suche nach Manuskripten auf die Zeit der großen Reformkonzilien, weil im deutschen Gebiet noch Schriften verborgen waren, die keine italienische Bibliothek besaß. Während des Konstanzer Konzils, der „heroischen Epoche" der Handschriftenentdeckungen 1 4 1 4 - 1 4 1 8 , unternahm der päpstliche Schreiber und Sekretär Poggio Bracciolini zwischen der Absetzung Johannes' X X I I I . und der Wahl Martins V. vier Bibliotheksreisen, auf deren zweiter nach St. Gallen und Umgebung er 1417 den ersten Kodex von De Rerum Natura zutage förderte. Diogenes Laertius wurde 1475 zum erstenmal gedruckt. Zu Copernicus vgl. De revol. Β. I, 6 (Ed. Zeller, München 1949, S. 17): Quemadmodum ex adverso in minimis corpusculis ac insectilibus quae atomi vocantur . . . Kritisch Calvin, Institutio de religione christiana, ed. Baumgartner Genf 1888, S. 2 6 f . ; Jean Fernel (französischer Physiker), De abditis rerum causis (1548) II, praef. Zu Bruno vgl. Stones a. a. Ο . S. 450f. Wichtig ist neben den Versionen bei Descartes und Huygens vor allem die Ausbreitung in England (u. a. Boyle, Locke, Newton). Dazu R. H. Kargon, Atomism in England from Hariot to Newton, Oxford 1966. Zu Boyle vgl. vor allem die Arbeiten von M. Boas, zu Locke M. Mandelbaum, Philosophy, Science and Sense Perception: Historical and Critical Studies, Baltimore 1964, S. 3 f f . ; L. Laudan, The Nature and Sources of Lockes' Views on Hypotheses, in: Journal of the History of Ideas 28, 1967, S. 211—223. Zu Newton Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung S. 314ff., J . E. McGuire, Atoms and the „Analogy of Nature", in: Studies in History and Philosophy of Science 1, 1970, S. 3—58. Zu Galilei vgl. auch W. Shea: Galileo's atomic hypothesis, in: Ambix 17, 1970. Im ersten Brief an Peiresc vom 25. 4. 1626, von dem wir wissen, beklagt Gassendi die Vorurteile gegenüber Epikur und zeigt sich mit seiner Rehabilitation beschäftigt (Lettres
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gelehrten Zirkel des 17. Jahrhunderts einte noch immer die hohe Schätzung antiker Werke aller bonae literae; Philologen mit verschiedenen Fachinteressen betrieben Naturwissenschaft noch enzyklopädisch als Naturgeschichte, als Sammlung von — vornehmlich antiken — Berichten über bemerkenswerte Naturvorgänge. Gassendis enge Beziehungen zu diesen Kreisen, vor allem um Dupuy und Mersenne, sind bekannt; seine außerordentliche Belesenheit und hervorragende Sprachkenntnis des Griechischen — seine Konjekturen finden Aufnahme in jede moderne Epikuredition — befähigten ihn zusammen mit der theoretischen Freiheit von aristotelischen Doktrinen wie keinen zweiten zu einer korrekten Epikurinterpretation 15 . Vermutlich nach seiner Begegnung mit Beeckman 1629 in Dordrecht begann Gassendi Epikurs atomistische Physik als seine eigene wissenschaftliche Position zu betrachten, als eine Hypothese, die auch Probleme der neuzeitlichen Physik zu lösen imstande ist 16 . Diese beiden Motive für
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de Peiresc, a. a. Ο. IV S. 179f.) 1628 berichtet er von einer Apologie Epikurs, die in einer interpretativen Bestimmung seiner Lehre bestehen (ego tanto viro paravi apologiam destinato ipsius doctrinae volumine integro (VI Hb)) und als Anhang zu den Exercitationes erscheinen soll (vgl. auch VI 156). Im Syntagma stellt Gassendi die purgatio morum an den Anfang seiner Beschäftigung mit Epikur (die zitierten Briefe zeigen ihn jedoch schon früh auch mit der Physik beschäftigt) und berichtet dann von seiner Entdeckung, daß die epikureische Physik und Moral die bestehenden Schwierigkeiten am besten bewältigt (Erklärungsfruchtbarkeit!): Et videri quidem potest Epicurus arridere prae caeteris, quod illius mores purgare aggressus deprehendere mihi visus fuerim posse ex physica eius positione de inani et atomis et ex morali de voluptate difficultates longe plures longeque expeditius quam ex aliorum philosophorum positionibus explicari (S. P. I 30af.). Auch 1629 bezeichnet Gassendi seine Epikurstudien noch als „meine Erläuterungen zur Philosophie Epikurs" (Meae in Epicuri philosophiam elucubrationes, Brief an Jaques Gaffarel, VI 15a2). Einem Brief Beeckmans an Mersenne, in dem er über Gassendis Besuch berichtet, läßt sich entnehmen, daß Gassendi Beeckman gegenüber den epikureischen Atomismus noch nicht als (in der Neuzeit) ernstzunehmende Hypothese bezeichnet hat (tu (sc. Mersennus) enim totam illam philosophiam, ille (sc. Gassendus) vero duntaxat partem quam „practicam" vocant, mihi pollicebatur, Corr. de Mers. II, S. 465), während er doch schon sorgfältige Vorarbeit zur Darstellung der gesamten Lehre Epikurs geleistet hatte (Brief an Voss, VI 25 a). Daß Gassendi sich Beckman gegenüber anders äußert als gegenüber seinen Freunden in Frankreich, lag wahrscheinlich daran, daß er in ein Gespräch über moderne Physik (Beeckman erzählte ihm ζ. B. von seinem Trägheitssatz: disserui cum illo (sc. Gassendo) de rebus philosophicis eique aperui meam sententiam de motu, videlicet omnia, quae semel moventur, in vacuo semper moveri, Joum. de Beeckm. I S. 24 de Waard) nicht eine von ihm noch als historisch empfundene Darstellung einbringen mochte. Vgl. dazu Hess, a. a. O. S. 1 - 4 2 (Kap. I). Vom September 1629 an wird die Beschäftigung mit Epikur (der jetzt zuweilen „Epicurum meum" genannt wird) in den Briefen häufiger als vorher erwähnt (ζ. Β. VI 25 a, 26a 1, a2, b); an Puteanus schreibt Gassendi im Dezember 1629: Eo enim loco virum (sc.
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die Verteidigung Epikurs, das Bemühen um ein vorurteilsfreies Verständnis seiner Lehre und um den Nachweis der Erklärungsfruchtbarkeit der atomistischen Hypothese, spiegeln sich noch in der Einführung der atomaren Physik im Syntagma Philosophicum. Denn einerseits wird sie in engem Anschluß an die antiken Lehren 17 im Buch III De Materiali Principio Rerum des ersten Abschnittes der Physik begründet und als wahrscheinlichste Materietheorie hingestellt 18 , andererseits versucht Gassendi sie später, im Buch VI De Qualitatibus Rerum desselben Abschnittes, ausführlich auf ihre Erklärungskraft hin zu prüfen 19 . Im übrigen erinnert dieses doppelte Verfahren formal auch an Epikur, nur daß allein schon vom Umfang her der Nachweis der Erklärungsfruchtbarkeit ein erheblich stärkeres Gewicht erhält — zweifellos ein erstes Anzeichen für methodologische Unterschiede, die ursprünglich sehr wohl auch unter dem Druck zeitbedingter Umstände und nicht allein aufgrund physikalischmethodologischer Einsicht seitens Gassendis zustande gekommen sein mögen. Nach Gassendis Meinung kann die atomistische Physik bereits aufgrund der Argumente im Buch De Materiali Principio Rerum als wahrscheinlichste Hypothese unter allen Materietheorien gelten, obgleich ihre Erklärungsfruchtbarkeit hier noch nicht untersucht wird. Nach dem ersten Kapitel darf die Notwendigkeit der Existenz eines materialen Prinzips anerkannt werden, und nach dem historischen Referat atomistischer Behauptungen im fünften Kapitel werden sie zu Beginn des sechsten ohne
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Epicurum) habeo, ut mea prope interesse quidquid de illo dicitur putem (VI 276), und zu Peiresc spricht er etwas später von „meiner Philosophie Epikurs" (Je revois ma philosophie d'Epicure et en suis ä environ la moitie, mais ce qui est fait surpasse desja de beaucoup ce que vous en avez veu (Brief vom 31. 4. 1631, lettr. a Peir. IV S. 249). Vgl. dazu Rochot, Les Travaux S. 4 2 ; Hess, a . a . O . S. 102; Tack, a . a . O . S. 121. Daß Gassendi, Descartes ausgenommen (S. P. I 2 5 7 b 2f.), nur antike Atomisten anführt, entspricht der humanistischen Tradition, in der er stand. Ein Beispiel für die in seinem Freundeskreis vorherrschende Einstellung ist Mersennes Antwort auf die Frage, ob „wir besser unterrichtet sind als die Alten": nach seiner Meinung haben die großen Männer der Antike „uns noch viele Dinge zu lehren, und der Beweis ist, daß wir sie nicht immer verstehen", auch wenn in neuerer Zeit einige Fortschritte erzielt worden sind (Questions inoüyens, S. 146—148). Außerdem haben die neuzeitlichen Vorläufer Gassendis keinen unverfälschten Atomismus vertreten. Messenne selbst war kein unmittelbarer Anhänger des Atomismus, vgl. Correspond, du P. M. Mersenne, a. a. Ο . I (1932), S. 133, 147. Vgl. Kap. 1 (S. P. I 229a—234a) und Kap. 5 - 8 ( 2 5 6 a - 2 8 2 b ) . S. P. I 372a—457b.
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erkennbare Begründung als wahrscheinlich bezeichnet 20 . Nach weiteren, wiederum rein historischen Berichten über die drei atomaren Grundeigenschaften (sechstes und siebtes Kapitel) folgert Gassendi im achten und letzten Kapitel erneut die Überlegenheit der atomistischen Hypothesen 21 . Auffallend ist also der abrupte Wechsel von wertungsfreier historischer Darstellung und direkter Beurteilung ohne jede Anspielung auf Lösungsmöglichkeiten neuzeitlicher physikalischer Probleme. Daher soll zunächst kurz geprüft werden, von welcher Art die Argumente sind, die zu dieser Beurteilung führen. Daß Gassendi anders vorgeht als Epikur, ist äußerlich an der Stellung der Materieerhaltungssätze zu erkennen, die, wie wir gesehen haben, bei Epikur am Anfang der Argumentation stehen, von Gassendi dagegen erst am Ende des ersten Kapitels angeführt werden. An seinem Beginn steht der Versuch, den Terminus „principium materiale" zu präzisieren. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen materia und causa, die nach zwei Zitaten von Seneca und Cicero angeblich von allen antiken Philosophen befürwortet wird, bestimmt Gassendi zunächst „materia" als principium ex quo aliquid fit und entsprechend, gestützt auf eine Aristoteles- und Platonstelle, „principium materiale" als dasjenige, woraus alles besteht 22 . (Materiale) Prinzipien sind, wie Gassendi an einem sehr einfachen Beispiel klarmacht, Teile (eines Gegenstandes), erste (prima) Prinzipien also die letzten Teile eines Gegenstandes 23 . Die Unverwandelbarkeit der Prinzipien ineinander — eine Bestimmung, die bereits direkt gegen Aristoteles gerichtet ist — scheint für Gassendi aus dem so präzisierten Prinzipienbegriff zu folgen 24 . Es ist unschwer zu sehen, daß Gassendi ohne Rücksicht auf die Ansichten derjenigen antiken Autoren, auf deren Zitate er sich zunächst stützt, die Bedeutung von „principium materiale" oder „prima materia" gerade so expliziert, daß die Atome schon definitions-
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Supposita necessitate materialis principii (S. P. I 2 3 4 a 2 , Zusammenfassung von Kap. I am Anfang von Kap. I I ; vgl. aber schon I 2 3 2 a 2 : Intelligi porro ex his iam videtur, quae sit materiae principiorumve materialium necessitas). Ähnlich der resümierende Ablativus absolutus zu Beginn von Kap. V I : Probabili utcumque facta atomorum exstantia . . . (S. P. I 266 a 2 ) . Heine, ut denique inferamus, videri eorum opinionem, qui primam atque generalem rerum omnium materiam tuentur esse atomos probari posse prae caeteris, exordiri omnino ab ipsis aneponymi verbis iuvat (S. P. I 2 7 9 b 2 ; vgl. auch die Überschrift von Kap. VIII). S. P. I 229 af. Teile eines menschlichen Körpers, deren Teile usw. sind Principia (I 2 3 0 a ) . . . . quae omnes non probarunt principia, quia in se mutuo transmutarent fierentque ex se invicem ac etiam ex aliis prioribus forent (S. P. I 229 b 2 ) .
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gemäß das materiale Prinzip zu bilden scheinen 25 , ohne daß überhaupt ihre Existenz zum Problem gemacht worden ist. Das beweist die Angabe dreier verschiedener, nach ihrer Tiefe geordneter Materietheorien, der aristotelischen Elementenlehre, der neueren Chemie mit den drei Elementen Salz, Quecksilber und Schwefel, in die die aristotelischen Elemente sich noch auflösen lassen, und schließlich der Atomistik, deren Atome auch noch Teile der chemischen Elemente sind 26 . Gassendis Argumentation ist also rein analytisch, d. h. stützt sich nur auf Bedeutungen von Termini, scheint aber dennoch die (empirische) atomistische Hypothese plausibel zu machen, weil die Existenzfrage unterschlagen wird. Die Unhaltbarkeit der aristotelischen Elementenlehre wird bereits hier deutlich, aber nicht aus empirischen Gründen, sondern weil sie mit dem von Gassendi entwickelten Prinzipienbegriff nicht vereinbar ist; später, im achten Kapitel, werden den Atomen genau die Prinzipieneigenschaften aus dem ersten Kapitel zugesprochen 27 .
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Es bedarf kaum des Hinweises, daß Piatons χώρα im Timaios und die ϋλη (πρώτη) bei Aristoteles nicht als Mengen von Teilen wahrnehmbarer Körper aufgefaßt werden können, principiorum seu elementorum, ex quibus omnia primo componuntur, aggeries (S. P. I 230b 1). Dasselbe gilt selbstverständlich auch von der im Senecazitat (S. P. I 229a 1) angesprochenen stoischen ϋλη, die vom πνεϋμα zwar unterschieden wird, dessen Kohäsionskraft aber gerade dazu führt, daß „die Beziehung zwischen der έξις, dem physikalischen Zustand eines Körpers, und den Elementen, aus denen er besteht, nicht durch ein additives Prinzip bestimmt ist" (Sambursky, a. a. Ο . S. 190f.; vgl. ζ. B. die stoische Unterscheidung von Elementbindungen St V F II, 368 v. Arnim). Das für Gassendis Überlegung als Bestätigung wichtige Aristoteles-Zitat ist Ar. Phys. I, 5, 188a 27f. (δει γαρ τάς αρχάς μήτε έ£ αλλήλων είναι μήτε έ£ άλλων, και έκ τούτων πάντα), das Gassendi zwar korrekt wiedergibt, aber zu Unrecht für sich in Anspruch nimmt. Mit ,,άρχή" bezeichnet Aristoteles hier nämlich die Fundamentalgegensätze der ursprünglich platonischen Prinzipienlehre (ζ. Β. όν-μή öv, πέρας-άπειρον, vgl. ζ. B. Met. IV 2, 1004b 27—31), die in der Tat weder ineinander verwandelbar noch ihrerseits hergeleitet sind und „aus" denen der ganze Kosmos aufgebaut wurde — aber sicher nicht als aus seinen „Teilen" im Gassendischen Sinne. Der Bedeutungs-Katalog von ,,άρχή" in Met. V, 1, 1012 b 34—1013 a 23 enthält die Bestimmung von άρχαί als Teilen eines Ganzen nicht. Problematisch ist daher Blochs Urteil: „II est vrai que ce chapitre est destine en principe ä introduire la notion aristotelicienne de Matiere (a. a. O . S. 205). S. P. I 2 3 0 a 2 ; vgl. dazu I 123 a 1, vor allem I 245a2, wo Gassendi — offenbar aus „prinzipientheoretischen" Gründen — fordert, über die nach seiner Meinung im übrigen empirisch hervorragend bestätigte Chemie hinauszugehen. Atque haec quidem heic viderentur edisserenda pluribus maximeque ad comprobandum atomos eiusmodi esse, ut neque ex aliis neque ex se mutuo, ex ipsis vero sint omnia, ac esse adeo prima principia primamve rerum materiam (S. P. I 280b2). Angesichts einer ähnlichen Argumentation aus dem 4. Brief De App. Magn. Sol. (III 466a) („weil jeder Körper in Atome aufgelöst werden kann, ist er auch aus ihnen zusammengesetzt") spricht Rochot (Travaux S. 105) vom „apriorischen Charakter der atomistischen Hypothese", behauptet aber später (S. 191) offenbar ohne Gassendis Überlegung im ein-
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Die Qualitätslosigkeit der ersten Materie folgt nicht aus dem Prinzipienbegriff allein; Gassendi versucht sie daher, unter Benutzung des Form-Materie- und Akt-Potenz-Modells, durch Vergleich mit aristotelischen Behauptungen zu begründen, auch wenn die positive Bestimmung der Körperlichkeit mit dessen Materietheorie nicht zusammenstimmt 28 ; dafür greift er auf Schulthesen zurück 2 9 . Qualitätslosigkeit und Körperlichkeit widersprechen sich freilich vom atomistischen Standpunkt aus nicht. „Qualitas" bezeichnet nicht beliebige Eigenschaften, sondern beobachtbare Eigenschaften von Makrokörpern; sie kommen diesen Körpern also aufgrund der Art und Zusammensetzung ihrer Atome zu 3 0 . Eigenschaften der Atome (der ersten Materie) sind daher per definitionem keine Qualitäten und erhalten einen ausgezeichneten Status; dem entspricht die terminologisch durch „corpus" bzw. „tale corpus" angezeigte Unterscheidung zwischen Eigenschaften, die Körpern qua Körpern, und solchen, die nur einigen Körpern zukommen 3 1 . In der Tat entwickelt Gassendi dann durch Analyse des Körperbegriffs weitere Eigenschaften der ersten Materie, denn er versteht seine Uberlegung als Entwicklung des Vorbegriffs „Körper" 3 2 . Für Gassendi ist
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zelnen zu durchschauen, daß Kap. 8 v. De mat. princ. rer. ein Abschnitt sei, „qui presente l'atome comme une hypothese rationelle et repondant aux faits". Einzelne empirische Fakten berücksichtigt Gassendi jedoch noch nicht. Vgl. jedoch O . R. Bloch, a. a. O . S. 205: „Ce n'est cependent qu'aux chapitres V ä VIII du meme livre que l'atomisme sera expose pour lui-meme, comme etant cette fois la seule theorie de la matiere ä remplir valablement ces exigences (sc. generales du concept de matiere)". S. P. I 230b. Addo solum illos ex Scholasticis interpretibus videri rem propius animadvertisse, qui tametsi materiam spoliaverint formis caeteris relinquerunt ipsi nihilominus quam . . . dixerunt formam corporeitatis (S. P. I 213 a2). Qualitas est enim, quicquid visui, tactui caeterisque sensibus patet (S. P. I 3 7 2 a l ) . Heine potest quidem qualitas universe definiri modus sese habendi substantiae seu status et conditio, qua materialia prineipia inter se commista habent (I 372 b 2). Vgl. im ersten Kapitel S. P. I 230 b 2 : sie quodlibet opus naturae habet a materia quidem, ut corporeum seu corpus sit, at vero a forma, ut tale corpus, veluti homo, potiusquam equus. Dazu S. P. I 372b 1: Ex hoc autem quodlibet corpus spectari duobus modis potest, uno quidem ut corpus est, altera vero ut tale corpus. Spectatur nempe solum, ut corpus, quatenus praecise ex atomis constat seu pars est substantiae materiaeve communis omnium corporum, ut tale autem corpus, quatenus est hac contextura iisque, quae ex ipsa resultant quaeque si alio modo se haberent, non tale corpus, quale est, foret. Bloch (La philosophie de Gassendi, S. 167) weist mit Recht darauf hin, daß Gassendi alte Termini („substantia", „qualitas" = „accidens") in neuer, stärker auf die Physik ausgerichteter Bedeutung verwendet. Cum heic observandum interim videatur, quae sit corporis universe sumpti natura seu nota . . . (S. P. I 231 a 2 ) . Vgl. dazu I 55a 1: Anticipatio seu notio, quam de corpore habemus, est, ut sit quid dimensiones habens et capax resistentiae. Die Darstellung bei
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dieses Verfahren allerdings zugleich analytisch und empirisch, insofern nach seiner sensualistischen Lehre von der Entstehung der Ideen 33 eine Bedeutungsexplikation die wichtigsten empirischen Merkmale herausstellt. Der Anschluß an Epikur ist hier besonders eng, auch wenn in den Originaltexten keine positiven Bestimmungen zum Körperbegriff allgemein vorliegen. Gassendi orientiert sich vielmehr an Epikurs Beschreibung des leeren Raumes und wendet ihre Negation dann auf Körper an. Der leere Raum ist nach Epikur nicht tangibel (intactilis), bietet keinen Widerstand (resistentiae incapax), ist keiner Wechselwirkung fähig (actionis, passionis incapax) und hat, wie Gassendi ergänzt, als unkörperliche Entität auch keine Masse (molis expers) 34 . Daraus folgen die für den Körper grundlegenden Eigenschaften Masse (moles), Widerstand (resistentia), Fähigkeit zur Wechselwirkung (actio, passio); letztere haben sie freilich noch mit unkörperlichen Entitäten (Gott, Engel) gemein, so daß Masse und Widerstand als auszeichnende Merkmale übrigbleiben 35 . Beide Eigenschaften werden von Gassendi sogar noch in Beziehung gesetzt: die Größe des Widerstandes ist von der Größe der Masse abhängig 36 . Die für die neuzeitliche Physik so entscheidende Präzisierung des Massenbegriffs liegt hier greifbar nahe. Hätte Gassendi an dieser Stelle die Anwendbarkeit seiner Begriffsbildung stärker berücksichtigt, vielleicht wäre Masse dann von ihm als Trägheit, also Widerstand gegen die Änderung des Bewegungszustandes gekennzeichnet worden. So bleibt es bei empirischen Bestimmungen: Masse ist charakterisiert durch Kohärenz
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Sextus Empiricus (besonders die Wendung „σώμα νοείσθαι") läßt darauf schließen, daß auch Epikur eine πρόληψις-Analyse vorzunehmen glaubte: έπειδάν λέγη ό'Επίκουρος το σώμα νοείν κατ' έπισΰνθεσιν μεγέθους και σχήματος και άντιτυπίας και βάρους (Sext. Emp. adv. math. Χ 240). 'Επίκουρος φήσας κατά άθροισμόν σχήματος τε και μεγέθους καΐ άντιτυπίας καΐ βάρους το σώμα νενοήσθαι (ibid. 257, von Gassendi S. P. I 231 b 1 zitiert). Diese Bestimmungen zielen aber schon auf die atomaren Grundeigenschaften. Vgl. dazu G. Coirault, Gassendi et non Locke createur de la doctrine sensualiste moderne sur la generation des idees, in: Tricentenaire de Pierre Gassendi, Actes du Congres, Paris 1955, S. 71-94. Vgl. Diog. Laert. X 40 (κενόν ist άναφής φΰσις/intactilis); 44 (ή τοϋ κενοϋ φύσις την ύπέρεισιν ούχ οϊα τε ουσα ποιεΐσθαι/resistentiae incapax), 67 (το δε κενόν ούτε ποιήσαι οΰτε παθεϊν δΰναται/actionis passionisque incapax). Exinde enim habetur, ut . . . corpus sit mole praeditum, tactile et resistentiae capax (S. P. I 231 a2f.). „Tactus" und „resistentia" sind synonym: Eam certe ob causam videtur Lucretius pro eodem habuisse, quem appellat tactum seu, si clarius velis, tangibilitas, quae etiam a soliditate et vi resistendi non differt (S. P. I 267a 1). ad hue tarnen corpus a genere hoc incorporeo differt, quod et mole sit praeditum et ratione molis tactile et resistentiae capax (S. P. I 231a 2f.).
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und Solidität, Widerstand durch Undurchdringlichkeit 37 , und die Abhängigkeitsbehauptung wird zu dem trivialen Satz, daß die Solidität der Körper ihre Undurchdringlichkeit begründet 38 . Erst am Ende dieses Kapitels führt Gassendi die Erhaltungssätze ein 39 , aber weder als unbegründbare Axiome wie bei Epikur noch als Folgerungen aus den bisherigen Resultaten. Abgesehen vom Hinweis auf die nicht-empirische (metaphysische) Annahme, daß das Naturgeschehen gesetzmäßig abläuft und daher Erhaltungssätze gelten müssen 40 , bedient Gassendi sich erneut eines aristotelischen Argumentes, um Folgerungen zu ziehen, die Aristoteles keineswegs unterschrieben haben würde. Wegen der ständigen, in Entstehungs- und Vernichtungsprozessen sich zeigenden Veränderung von Qualitäten muß ein gemeinsames, unveränderliches Substrat vorausgesetzt werden. Aristoteles hatte zu Beginn seiner Physik mit Hilfe einer Analyse der Art und Weise, wie man über das Werden spricht 4 1 , die Prinzipien (άρχαί) einer Wissenschaft von werdenden Ge37
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. . . cum ipsa (sc. materia) sit potius, a qua unaquaeque res habet suam molem, consistentiam, crassitudinem, corpulentiam (I 231a 1), wobei die letzten drei Begriffe offenbar „moles" explizieren. Zu resistentia seu impenetrabilitas mutua vgl. I 231 b 2. adnoto primariam causam, quare penetratio corporum non detur, . . . non tarn videri extensionem, . . . quam soliditatem sive corpulentiam S . P . I 381b). Bloch (le philosophic de Gassendi, S. 204 f.) sieht in I 231 a/b nur eine negative Kennzeichnung der prima materia: Widerstand ist Negation der Extension als deren Begrenzung und Negation der homogenen Unendlichkeit des Raumes. Wichtig und positiv ist für ihn demgegenüber die „dynamische" Beschreibung der Materie, d. h. die Einführung eines inneren Bewegungsprinzipes (die Konzeption der materia actuosa). Gerade hier liegt jedoch eine Schwäche der atomistischen Mechanik, und man sollte sich hüten, Stellen vorschnell in diesem Sinne zu interpretieren. So weist Bloch ζ. B. auf die vielzitierte Stelle I 267a hin (ut taceam posse άντιτυπίαν ad gravitatem revocari, quatenus rem gravem intelligimus ex nisu, quo nobis attollentibus resistit), an der Gassendi die Möglichkeit ins Auge zu fassen scheint, Widerstand auf Schwerkraft (die für Bloch „dynamische" Eigenschaft) zurückzuführen, sieht hier die dynamische Forderung des Atomismus angesprochen und beklagt, daß Gassendi diesen Gedanken nicht weiter ausführt (Bloch a. a. O . S. 206 f.). Dazu ist jedoch zu bemerken, daß Widerstand sowohl durch Massenträgheit als auch durch Gegenkräfte hervorgerufen werden kann — physikalisch fundamental verschiedene Arten von Widerstand. Die angegebene Stelle zeigt nun eindeutig, daß Gassendi erwägt, den durch die Schwerkraft, die gegen die Hubarbeit wirkt, hervorgerufenen Widerstand auf eben die Schwerkraft zurückzuführen — ein durchaus naheliegender Gedanke. Damit ist aber nichts über die — physikalisch abwegige — Reduktion des Trägheitswiderstandes auf Schwerkraft ausgesagt. S. P. I 232 a 2 ff. Vgl. dazu oben S. 29. Gassendi belegt die Annahme ausführlich durch Lukrezzitate (S. P. I 233 a f.). Arist. Phys. A 7, 189b 3 0 - 1 9 1 a 22. Vgl. bes. den Satz έξ άπάντων των γιγνομένων τοϋτο εστι λαβείν, έ ά ν τ ι ς έ π ι β λ έ ψ η ώ σ π ε ρ λ έ γ ο μ ε ν , δτι δει τι άεΐ ύποκεΐσθαι το γιγνόμενον . . . (ibid. 190a 13 — 15). Vgl. dazu W. Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962.
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genständen — Prinzipien also, die jeder immer schon benutzt, der sich anschickt, über die Gegenstände der Physik nachzudenken — herausarbeiten wollen. Diese Prinzipien sind das Zugrundeliegende (ύποκείμενον) und der Formmangel (στέρησις) bzw. die Form (μορφή); der Ausdruck „Zugrundeliegendes" bezeichnet aber nicht eine feste Menge von Gegenständen, sondern jeweils das, was beim Reden über beliebige werdende Gegenstände als zugrundeliegend vorausgesetzt werden muß; man hat daher die sprachliche Kennzeichnung dieses und der anderen Prinzipien nicht unzutreffend „Funktions- oder Reflexionsbegriff" genannt. Daraus folgt, daß ein ewiger Bestand eines Zugrundeliegenden keineswegs notwendig angenommen werden muß; sprechen wir ζ. B. über einen dummen Menschen, der klug wird, so ist dieser Mensch das Zugrundeliegende, aber er ist deshalb nicht unsterblich. Dieses Argument läßt sich also nicht zum Nachweis von Erhaltungssätzen für eine körperlich gedachte Materie verwenden. In den folgenden drei Kapiteln des Buches De Materiali Principio Rerum versucht Gassendi durch kritische Prüfung anderer (antiker) Materietheorien die Plausibilität der atomistischen Hypothese zu erhöhen 42 . Theorien, die einen einzigen bestimmten Stoff als Ursprungselement ansetzen, lehnt er im Anschluß an Lukrez mit dem Hinweis ab, daß sie die Negation des Erhaltungssatzes implizieren, wenn das Ursprungselement Prinzip (im Sinne von Kapitel I) sein soll; denn die Entstehung der übrigen Stoffe darf dann nicht durch Umwandlung aus dem Ursprungselement erklärt werden 43 . Theorien, die eine endliche Menge bestimmter Stoffe als Ursprungselement ansetzen, implizieren die Verwandelbarkeit der Ursprungselemente ineinander, sind also kritisierbar, weil ihre Ursprungselemente keine Prinzipien sind44. Es liegt auf der Hand, daß Gassendi
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Kap. II—IV, S. P. I 234a 2—256a 2. Die letzten vier Kapitel sind dann wieder der atomistischen Physik gewidmet (S. P. I 256a 2—282b). Als Repräsentant wird Heraklit vorgenommen: Porro quia posset aliud quoddam patere effugium, si quis diceret ignem exstingui et converti in aerem seu mutari in aliud corpus, eapropter urget (sc. Lucretius) fieri id non posse, nisi admittatur abire ignem in nihilum, quia res simplex et inconcreta, quale esse debet illud elementum, si prima quidem et unica rerum materies fuerit, mutari non potest, quin omnino pereat (S. P. I 238 b 2f.). Quinto, quod . . . dicere debeant elementa amissis naturis mutari in res, quae deinde rursus in ipsa mutentur, quo casu non ipsa potius rerum quam res ipsorum principia sint . . . Sexto, quod amittentes mutuam elementorum transmutationem admittere debeant communem atque adeo priorem materiam, quae varias eorum formas successive inducat (S. P. I 240b 2). Die Homoiomerien des Anaxagoras unterliegen derselben Kritik (I 2 4 2 a 2 f . , 249b If.), während die chemischen Elemente dem Prinzipienbegriff genügen. Bemerkenswert ist dabei die wörtliche Wiederholung der Definitionsformel aus Kap. I:
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auch hier keine empirischen Kriterien (Erklärungskraft) verwendet, sondern, ganz im Sinne der epikureischen Methodologie der Vorbegriffe, den von ihm im ersten Kapitel entwickelten Prinzipienbegriff zum Maßstab seiner Beurteilung macht: die genannten Theorien werden kritisiert, weil ihre Axiome diesem Prinzipienbegriff nicht genügen. Das wiederholt angeführte Argument, die genannten Theorien seien aufgrund der geringen Anzahl der Ursprungselemente und ihrer unterschiedlichen Eigenschaften nicht in der Lage, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen herzuleiten 45 , ist zwar eine Anspielung auf mangelnde Erklärungsfruchtbarkeit; aber weil ausschließlich auf die Anzahl der Elemente, nicht auf Gesetzmäßigkeiten ihres Verhaltens verwiesen wird, ist zugleich erkennbar, daß Kriterien zur Beurteilung des empirischen Gehalts nicht zur Verfügung stehen oder zumindest nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden 46 . Die explizite Einführung der atomistischen Physik hat die Form eines historischen Berichtes über antiken Atomismus, der seine über Demokrit und Epikur hinausgehende Verbreitung dartun und verschiedene philologische und historische Einzelprobleme lösen soll — Mittel, um die Bekanntschaft des Lesers mit dieser Philosophie zu vertiefen und sein Vertrauen zu stärken 47 . Wenn Gassendi am Ende dieses Berichts die atomistische Hypothese erneut für wahrscheinlich erklärt, gleichzeitig jedoch
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. . . eapropter . . . admittenda veniunt quinque numero, quae illi profitentur neque esse ex aliis neque ex se invicem et ex quibus tarnen omnia componantur (I 244 a 2). S. P. I 238b 1; 240a 1. Nur die Verdichtungs- und Verdünnungsprozesse, durch die nach Heraklit und anderen die übrigen Stoffe aus dem Ursprungselement erzeugt werden sollen, repräsentieren allgemeine Gesetzmäßigkeiten. An dieser Stelle kritisiert Gassendi die vage und willkürliche Anwendung dieser Gesetzesskizzen (S. P. I 238 a 2) und weist auch auf Beobachtungen und Experimente hin, die seine Kritik stützen (ζ. B. daß maximale Kompression von Luft in Luftpumpen kein neues Element erzeugt oder daß Verdünnung von Wasser Wasserdampf, aber nicht Luft ergibt, I 239 b 2). Eine empirische Prüfung liegt also nicht außerhalb seines Gesichtskreises; vielmehr wird sie in diesem Zusammenhang im allgemeinen von seiner andersartigen Argumentations weise ausgeschlossen. S. P. I 256 b ff. Ein Beispiel ist die Frage, ob — nach Meinung der antiken Atomisten — die Kleinheit (so wahrscheinlich Demokrit) oder Solidität (so wahrscheinlich Epikur) der Atome für ihre Unteilbarkeit verantwortlich ist (I 257a 1) und ob Epikur den Ausdruck ,,άτομος" erfunden hat (I 257a2). Der philosophiegeschichtliche Bericht ist freilich nicht nur ein taktisches Mittel; er spiegelt auch Gassendis Überzeugung, daß die Ansichten der antiken Philosophen einander näher kommen, als man gemeinhin glaubt, wie er bereits 1630 aufgrund seiner Studien („comparatio placitorum") schreibt: Quod caput est, pervideo, nisi prorsus hallucinor, maiorem fuisse virorum tantorum conspirationem inter se quam hominum vulgus opinetur. Verborum est plerumque dissidium, at quod res ipsas attinet, maxima est in maximis etiam celeberrimisque argumentis eorum consonantia (VI 32 b 2).
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behauptet, die Existenz von Atomen noch nicht gesichert zu haben 48 , wird deutlich, daß er den Wahrscheinlichkeitsbegriff zuweilen anders verwendet, als moderne Leser es erwarten, für die eine Theorie dann als wahrscheinlich gilt, wenn sie aufgrund empirischer Bestätigung akzeptiert und damit die Existenz der in ihren Axiomen genannten Entitäten anerkannt ist. Gassendi hat offenbar andere Gründe für Plausibilität im Auge. Die Gründe, die er, vermeintlich im Anschluß an Epikur, zugunsten der Existenz der Atome anführt, sind nicht mehr neu. So weist er wieder auf die Notwendigkeit der Existenz einer unzerstörbaren Materie hin (diesmal wird Aristoteles namentlich erwähnt), was allenfalls die Erhaltungssätze berührt 49 . Den Zusammenhang zwischen Erhaltungssätzen und Atomismus, den Epikur im Herodotbrief herstellt, bemerkt er zwar, aber Epikurs deduktive Argumentation wird nicht reproduziert. Daß die Existenz der Atome aus der Existenz des Vakuums gefolgert werden kann, ist von Epikur nicht überliefert und in der von Gassendi vorgetragenen Form eines Analogieschlusses wenig überzeugend 50 . Die Konstanz der Naturvorgänge, von Epikur und von Gassendi selbst im ersten Kapitel nicht unmittelbar zur Begründung des Atomismus, sondern der Erhaltungssätze angeführt, tritt hier — ein Zeichen mangelnder Koordination der Argumente — zugunsten der Theorie selbst auf 51 . Am Ende stehen Epikurs richtige Argumente gegen die aktuale unendliche Teilbarkeit der Materie, die freilich die aristotelische Kontinuumsphysik nicht treffen 52 . Im Gegensatz zu Epikur diskutiert Gassendi zwar die von Aristoteles eingeführte potentiell unendliche Teilbarkeit ausdrücklich, offenbart dabei jedoch mangelndes Verständnis, insofern er die Annahme potentiell unendlicher Teile nur dann für sinnvoll halten kann, wenn sie als aktual enthalten gedacht werden 53 .
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Nunc enim cum probabilis prae caeteris videatur opinio, quae rerum principia statuit atomos, difficultas tarnen imprimis occurrit, atomi-ne in natura dentur, imo an dari possint (S. P. I 258b 1). Erst später heißt es dann: probabili utcumque facta atomorum e x s t a n t i a . . . (I 266a2).
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S. P. I 259 b. Dazu oben S. 72. S. P. I 260b, Natürlich impliziert die Existenz des Vakuums die Diskretheit der Materie, aber nicht, aufgrund der „Reinheit" des Vakuums, auch „reine", solide, unteilbare, unverwandelbare Atome. Das Lukrezzitat (Rer. N a t . I 520—527) wird erheblich gepreßt. S. P. I 261 a2. S. P. I 261b 2 f f . Gassendi übersetzt zunächst einen einschlägigen Passus aus Epikurs Herodotbrief (Diog. Laert. X 57). S. P. I 2 6 2 b ; Gassendi formuliert Aristoteles' Meinung dabei durchaus korrekt: N e q u e dicas . . . sensum solummodo esse, quod numquam continuum sit divisum in tot partes, quin possit dividi in plures (ibid.). Aber er hat niemals verstanden, daß in der Beliebigkeit
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Die Darstellung der atomaren Grundeigenschaften im sechsten und siebten Kapitel 54 weicht insofern von Epikurs Vorgehen im Herodotbrief ab, als sie seine Begründung (Hinweis auf die Erhaltung von Größe, Form, Schwere unter allen Bedingungen) nicht enthält. Schwere etwa wird nicht zur Erklärung der natürlichen Bewegung (motus naturalis) eingeführt, und die Deklinationstheorie wird abgelehnt 55 . Detaillierte Erklärungszusammenhänge werden jedoch an dieser Stelle ebensowenig hergestellt wie bei den antiken Autoren. So bleibt Gassendis Hinweis auf die Erklärungsfruchtbarkeit in der abschließenden Würdigung ein noch uneingelöstes Versprechen; die entscheidende theologische Emendation, die Leugnung eines zeitlich unendlichen Bestandes der Atome, steht hier neben den erneut dargestellten Prinzipieneigenschaften der Atome und der Tiefe der atomistischen Hypothese (Annahme fundamentaler Entitäten) im Vordergrund 56 . Diese Bemerkungen dürften hinreichen, um die Unterschiede in der Argumentationsstruktur zwischen Epikur im Herodotbrief und Gassendi im Buch De Materiali Principio Rerum klar werden zu lassen. Gassendi verzichtet, anders als Epikur, aber methodologisch vernünftiger, auf eine fundamentalistische Begründung der Atomistik, die er als Fundamentaltheorie überhaupt nicht für begründbar hält 57 . Stattdessen stellt er sie als vernünftiges Forschungsprogramm dar (mögliche Erklärungskraft), das tiefer als alle bisherigen Theorien ist (Prinzipieneigenschaften), theologisch abgesichert werden kann (Emendation der Unerschaffenheit der Atome und ihrer Deklination) und mit den die Tradition bestimmenden Lehren nicht bricht (Anschluß an antike Autoren, besonders Aristoteles). Gleichgültig, ob diese Darstellung immer gelungen ist oder nicht, sie ist keine Deduktion atomistischer Hypothesen, wie Epikur sie unternimmt, sondern ein methodologisch legitimer Versuch, diese Hypothesen in die
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der Vorgabe (eines zu teilenden Materieteilchens) die potentielle Unendlichkeit zum Ausdruck kommt. Darum sieht er auch nicht, inwiefern Aristoteles Zenons Bewegungsargumente, die er aus empirischen Gründen für falsch hält, unschädlich macht (vgl. S. P. I 263 a 2 f.). S. P. I 266a2—273b 1 (magnitudo, figura); I 2 7 3 b 2 - 2 7 9 b (pondus). S. P. I 273 b 2 f. und 274b. Kap. VIII, S. P. I 2 7 9 b - 2 8 0 b . Diese Haltung ergibt sich nicht nur aus seinem Vorgehen, sondern läßt sich auch durch eine methodologische Bemerkung belegen: N a m in concretionibus quidem seu in rebus compositis reddere rationem diversarum affectionum ex assumptis principiis aliquantenus possumus, at de ipsis principiis dicere nihil aliud licet, nisi quod haec isto, illa illo modo se habeant ex suae naturae necessitate, cum ignoremus germanam causam, ob quam ita se habeant, imo cum ea frustra quaeratur, nisi sit eundem in infinitum (S. P. I 2 7 5 b 2 ) .
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bestehende Weltanschauung so weit wie möglich einzubetten, ein Versuch, der vernünftigerweise dem Nachweis der Erklärungskraft, also der empirischen Prüfung, vorgeordnet ist. Dieser Nachweis erfolgt erst im sechsten und vorletzten Buch (De Qualitatibus Rerum) des ersten Physikabschnittes 58 , in dessen erstem Kapitel Gassendi „ Q u a l i t ä t " zunächst als beobachtbare Eigenschaft, sodann als Zustandsart der materialen Prinzipien definiert und behauptet, das allen Körpern zugrunde liegende gemeinsame Substrat könne allenfalls mittels der Qualitäten erkannt werden und alle Aussagen der Physik seien daher von einer Erklärung der Qualitäten abhängig 59 . Die Aufgabe der Physik, an anderer Stelle als Erkenntnis der von Natur aus verborgenen Gegenstände bestimmt, besteht demnach genauer in der Deutung beobachtbarer Stoffeigenschaften auf atomistischer Grundlage. Es kann als Verdienst Gassendis angesehen werden, seinen Zeitgenossen ein wissenschaftliches Programm erstmals klar vor Augen gestellt zu haben, das fortan die Problemstellung der Molekularmechanik gekennzeichnet hat 6 0 . An seine Durchführung bei Gassendi selbst dürfen aller-
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S. P. I 372äff. Qualitas est enim, quicquid visui, tactui caeterisque sensibus patet (S. P. I 372 a 1). Heine potest quidem qualitas universe definiri modus esse habendi substantiae seu status et conditio, qua materialia prineipia inter se commista se habent (I 372b2). Diese zweite Definition schafft die Voraussetzung der Verbindung zum atomaren Bereich. Sie stellt nichts anderes dar als die Reduktion des Begriffs der substantiellen Form auf den Modus der Atome. Diese Reduktionsversuche beginnen schon sehr früh. Im zweiten Buch der Exercitationes beklagt Gassendi die Nutzlosigkeit der substantiellen Formen für das Naturverständnis (III 203 b—204 a), im nicht publizierten dritten Buch sollte gezeigt werden, daß alle substantiellen Formen akzidentiell sind. Im vierten Brief De App. Magn. heißen die Formen bereits speciales quidam modi sese habendi materiae oder, im besonderen Falle der Seele, flos materiae (III 466b—467a), vgl. dazu Rochot, Travaux S. 108f. Wo im Syntagma Philosophicum Texte aus der Redaktion des De Vita ei, Doctrina Epicuri (aus den Jahren 1636—1641)'reproduziert werden, ist derselbe Ansatz erkennbar (vgl. I 249a-250a/Tonrs 709f° 235v°; I 3 3 5 a - b , 337a-b/Tours 706f° 324v°—330v°; I 466a-480a/Tours 709f° 250v°-253r°). Zur Qualitätserkenntnis: Q u o d caput est, cum commune subiectum substantiamve esse in confesso est, ea tarnen semper obvelata manet neque aut intelligere aut dicere cuiusmodi sit possumus, nisi per ipsas quibus afficiutur quaeque sensibus patent qualitates C I 372 a 2). Quippe qualitates eiusmodi sunt, ut ex earum declaratione, quicquid pene ratiocinari in Physica licet, dependeat (I 372a 1). In modernen Formulierungen dieses Programms ist zusätzlich nur noch die Anwendung der zu Gassendis Zeiten noch nicht entwickelten Kontinuumsphysik gefordert, vgl. ζ. B. W. H. Westphal, Physik, 26 1970, S. 132f.: „Die makroskopischen Stoffeigenschaften beruhen letztlich auf den Eigenschaften und dem Verhalten der einzelnen Moleküle der Stoffe; und es ist Aufgabe der Physik, sie auf dieser Grundlage zu deuten . . . Es handelt sich also um die theoretische Deutung von Stoffeigenschaften, die mit Verfahren der
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dings von vornherein keine allzu großen Erwartungen geknüpft werden. Denn die lückenlose explanatorische Verbindung von theoretischem und wahrnehmbarem Bereich, die hier schließlich zur Diskussion steht, hätte zunächst die explizite Formulierung der mechanischen Gesetze für makrophysikalische Körper und deren Anwendung auf den atomaren Gegenstandsbereich erforderlich gemacht. Möglicherweise kann Gassendi der Vorwurf nicht erspart werden, die Notwendigkeit dieser Aufgabe nicht erkannt und an ihrer Lösung nicht intensiv genug mitgearbeitet zu haben; aber nicht nur hätte er selbst unmöglich die Leistungen eines Newton, Huygens und Boyle vorwegnehmen können, er hätte auch zweifellos sein eigenes Forschungsprogramm vorerst aus den Augen verloren. Der Versuch, trotz fehlender wichtiger Voraussetzungen den empirischen Gehalt der atomistischen Physik zu prüfen, ist methodologisch nicht irrational; freilich mußte er nach Lage der Dinge auf eine Definition empirischer Prädikate mit Hilfe atomistischer Termini beschränkt bleiben, die nicht immer zufriedenstellend sein konnte 60 ··. Die meisten Behauptungen Gassendis im Buch De Qualitatibus Rerum enthalten deshalb sowohl empirische als auch theoretische Ausdrücke, sind also Sätze, die man heute zuweilen „Zuordnungsregeln" oder „Brückenprinzipien" nennt; aber es wäre vor allem gegenüber den epikureischen Texten bereits ein methodologischer Vorzug, wenn sie wenigstens zuweilen so formuliert wären, daß sie die Herleitung empirischer Generalisationen gestatten. Um Gassendis Vorgehen, zumal im Vergleich zu Epikur, kennenzulernen, ist es unumgänglich, sich auf seine Argumentationen im einzelnen einzulassen und sie methodologisch zu rekonstruieren. Zu Beginn seiner Überlegungen gibt Gassendi eine systematische Ubersicht über die zu behandelnden Qualitäten, von denen einige mit Hilfe einer einzigen atomaren Eigenschaft, andere mit Hilfe mehrerer atomarer Eigenschaften und wieder andere nur in bezug auf bereits definierte Qualitäten eingeführt werden können 61 . Im folgenden empfiehlt es sich jedoch nicht, Kontinuumsphysik ermittelt werden, aufgrund unseres Wissens vom molekularen Aufbau der Stoffe und (der gegenüber Gassendi entscheidende Zusatz!) der Anwendung der bei wägbaren Körpern bewährten Gesetze der Mechanik auf einzelne Moleküle". 50a Es ist daher unverständlich, daß immer wieder (zuletzt von Tack a . a . O . S. 192f.) bemängelt wird, Gassendi habe die Mathematik in der Atomistik nicht angewandt. Tatsächlich ist dies während des ganzen 17. Jahrhunderts nicht geschehen und wäre aus den genannten Gründen auch wenig sinnvoll gewesen. Die Mathematik konnte nur auf sehr einfache makrophysikalische Vorgänge angewendet werden, und dieser Anwendung hat sich Gassendi, wie seine Galilei-Rezeption zeigt, keineswegs verschlossen. 61 S. P. I 375a. Beispiele für die drei Gruppen: magnitudo, figura, vis motrix/calor, fluiditas, sonus, lux/perspicuitas, subtilitas, laevor, gravitas, durities.
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seinem Aufbau in jedem Punkte zu folgen, sondern nach methodischen Gesichtspunkten unter seinen Untersuchungen eine Auswahl zu treffen. Die Definition der Dichte und die anschließenden Erörterungen lassen charakteristische Züge der declaratio qualitatum erkennen. „ D i c h t " (densum) nennt Gassendi einen Körper dann, wenn er bei kleinem Volumen viel Materie enthält. Entgegen dem ersten Anschein tritt „Dichte" nicht als klassifikatorischer, sondern als komparativer Begriff auf 6 2 . Wenn also k l 5 k 2 Körper, m , , m 2 ihre Materiemengen und v l 5 v 2 ihre Volumina sind, ist k, für Gassendi dichter als k 2 genau dann, wenn
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gilt (1).
Diese Definition erinnert an die uns geläufige Bestimmung der Dichte als des Verhältnisses von Masse und Volumen, ist ihr aber keineswegs gleichwertig. Denn statt „ M a s s e " benutzt Gassendi den Begriff der Materiemenge (quantitas materiae), den er geometrisch faßt: die Materiemenge wird festgelegt durch das Volumen des Raumes, den sie einnimmt 63 . Dichte ist demnach definierbar als Verhältnis des Volumens der Materiemenge und des Gesamtkörpers (ließe sich also als reine Maßzahl ausdrücken). Man sieht sofort, daß dieser Begriff damit empirisch unanwendbar wird, weil die Materiemenge, als Summe der Volumina aller Atome, aus denen ein Körper besteht, prinzipiell nicht meßbar ist. Mithin gestattet Definition (1) es nicht, von je zwei Körpern zu entscheiden, welcher dichter ist, und Dichte kann auch nicht als Stoffkonstante quantitativ bestimmt werden 6 4 . Wenn Gassendi behauptet, Wasser sei dichter als 62
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Zunächst heißt es: Suppono proinde dumtaxat rarum definiri ac intelligi id, quod parum obtinens materiae multum loci occupat, et densum, quod materiae multum obtinens occupat tarnen parum loci (S. P. I 375 b 1), wobei „ d e n s u m " und „ r a r u m " klassifikatorisch differenziert zu werden scheinen. Aber die Grenzen sind natürlich fließend: Vides itaque corpus rarum dici, quod majorem occupat locum quam occuparet, si densaretur, densum, quod minorem quam si rarefieret (I 375 b 2). S. P. I 376a 2 f f . , vor allem der Satz: cum unaquaeque (sc. pars materiae) semper suum et neque maiorem neque minorem loculum, quam suae moli debitum est, habeat . . . ex quo fit, ut dicere liceat tantundem materiae seu rarefactum seu condensatum occupare semper tantundem veri et germani loci sive spatii (I 378 a2). Auch „ G r ö ß e " (magnitudo), für Gassendi nicht dem Volumen proportional, sondern die Summe der Einzelgrößen der Atome (Notum est autem quantitatem seu magnitudinem corporis nihil esse aliud quam huiusmodi extensionem et compositam quidem ex singularibus extensionibus partium, S. P. I 3 8 0 b 1; Verdichtungsprozesse ändern daher die magnitudo oder extensio nicht, I 3 8 0 b 2 ) , weist zum Massenbegriff hin (Im 4. Brief D e App. Magn. Sol. identifiziert Gassendi bereits „ m a g n i t u d o " und „ m o l e s " , vgl. III 466b 1), wird aber geometrisch gedeutet: Nimirum quoties dicitur quam extensa seu quanta res est, mens referre statim earn solet ad locum, in quo sit aut in quo esse possit, illique exaequari (S. P. I 381 a 1). Dies ist hingegen bei der Massendichte möglich, weil Masse meßbar ist. Nach Ermittlung der Stoffkonstanten kann ihre Definition umgekehrt dazu verwendet werden, Massen
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Luft, weil in demselben Raum mehr Wasser- als Luftteilchen enthalten sind, so folgt dies nicht aus (1) allein. Vielmehr muß zuvor bereits aufgrund anderer Kriterien entschieden sein, welcher Stoff dichter ist 65 . Definition (1) hat allein oder zusammen mit weiteren theoretischen Sätzen keine empirischen Konsequenzen und kann daher nicht unmittelbar zur Prüfung der Atomistik verwendet werden, sondern folgt offenbar ihrerseits aus dem alltäglichen Sprachgebrauch von „dicht" — wonach diejenigen Körper „dicht" genannt werden, deren Teile nahe beieinander sind 6 6 — und dem atomistischen Grundsatz, daß Atome Teile aller Körper sind. Dasselbe gilt für die Interpretation der Verdichtungs- und Verdünnungsprozesse als Näher- bzw. Auseinanderrücken der Atome, die zwar mittels (1) erfolgt — ein theoretischer Vorzug in Gassendis Augen —, aber den Atomismus nicht konfirmiert 67 . Aber (1) wird zur Definition weiterer Qualitäten benutzt; so führt Gassendi „Durchsichtigkeit" als komparativen Begriff mit Hilfe von „Dichte" ein, allerdings mit einer ceteris-paribus-Klausel, deren Bedeutung erst in den folgenden Überlegungen sichtbar wird: Von zwei Körpern k a und k 2 ist ceteris paribus k t durchsichtiger als k 2 genau dann, wenn k 2 dichter ist als k t (2) 6 8 . Durchsichtig werden Körper aber dann genannt, wenn sie lichtdurchlässig sind (3) 6 9 . Der Ausdruck „lichtdurchlässig" kann seinerseits in Termini der erst später entwickelten atomistischen Lichttheorie formuliert werden: Von zwei Körpern k 1 und k 2 ist k 1 licht-
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sehr großer oder sehr kleiner Körper festzulegen, die nicht wägbar sind, falls, was häufig der Fall ist, ihr Volumen meßbar ist. Ihre Masse ergibt sich dann aus dem Produkt von Dichte und Volumen. In dieser Weise wird die Definition von „Massendichte" praktisch am häufigsten verwertet. Vgl. S. P. I 3 7 5 b 2 . Vermutlich hatte auch Gassendi das Gewicht im Auge (I 390a2 wird eine Proportionalität von gravitas und copia materiae angenommen). Vgl. Gassendis Beispiele in S. P. I 3 7 7 b 2 (Wolle, Schwamm; den Vergleich mit dem Schwamm benutzt auch Descartes Princ. Phil. II, 7). Diese Vorstellung ist auch mit dem plenistischen Standpunkt vereinbar, obgleich Gassendi an dieser Stelle einen Widerspruchsbeweis zu konstruieren versucht. Er geht von der falschen Annahme aus, daß jeder einzelne Körper ein abgeschlossenes System ist, stellt dann unter Voraussetzung des Plenismus eine eineindeutige Beziehung zwischen Raumund Materieteilen her und führt schließlich die Vorstellung einer Verdichtung zum Widerspruch mit dem anerkannten Satz, daß nicht zwei Körper zugleich am selben Ort sein können (vgl. Desc. Princ. Phil. II, 6 und Gass. S. P. I 376a—378 a). Tametsi hae duae qualitates non sequantur praecise leges raritatis et densitatis, verum est tarnen caeteris paribus unamquamque rem tanto esse magis perspicuum quanto rarior est, tanto opaciorem quanto densior (S. P. I 378a2). Nimirum suppono perspicuum transparensve appellari illud seu corpus seu spatium, quod tametsi oculo reique lucidae aut coloratae interpositum sit, non obstat tarnen, quin ex ilia re transeant radii in oculum sicque oculus ipsam videat (S. P. I 378 a 2 f.).
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durchlässiger als k 2 genau dann, wenn k t mehr Lichtkorpuskeln Durchlaß gewährt als k 2 (4) 7 0 . Das ist, unter Beachtung des Satzes, daß nicht zwei Körper zugleich am selben Ort sein können, dann der Fall, wenn mehr leere Räume enthält als k 2 (5), d. h. (wenn die ceteris-paribus-Formel u. a. auch Gleichheit der Volumina impliziert) daß von zwei Körpern kj und k 2 ceteris paribus k j genau dann mehr Lichtkorpuskeln Durchlaß gewährt als k 2 , wenn k 2 dichter ist als k a (6). Aus (5) und (1) folgt also (6), daraus mit (3) und (4) offenbar (2). Diese einfache Argumentation zeigt, daß Gassendi zunächst nicht an den möglichen empirischen Konsequenzen interessiert ist — insofern im allgemeinen empirisch entscheidbar ist, welcher von zwei Körpern durchsichtiger ist als der andere, könnte „Durchsichtigkeit" aufgrund von (3) als empirischer Begriff und (2) damit als Zuordnungsregel für „Dichte" gelten. Vielmehr versucht er über eine theoretische Deutung von (3) den Satz (2) in allgemeinere Hypothesen einzubetten, denn er weist nach, daß (2) eine logische Folgerung aus (1) und der atomistischen Lichttheorie ist. Anschließend stellt er allerdings einige Überlegungen zur empirischen Prüfung an, ausgehend von dem Einwand gegen (6), daß es Körperpaare k j und k 2 gibt derart, daß k t durchsichtiger und dichter ist als k 2 7 1 . Diese Gegenbeispiele bleiben jedoch mit (2) und (6) vereinbar, falls die ceterisparibus-Klausel als nicht erfüllt angesehen wird. Anhand makrophysikalischer Beispiele zeigt Gassendi, daß die Lichtdurchlässigkeit von Körpern nicht nur von ihrer Dichte, sondern auch von der Lage und Struktur ihrer Teile abhängt 72 . Er weist dafür auch auf die empirische Tatsache hin, daß von zwei Körpern desselben Stoffes der dichtere weniger durchsichtig ist (7), während die Negation dieser Behauptung aus (2) oder (6) bei Nichtbeachtung der ceteris-paribus-Klausel folgt 73 . Genauer ist demnach für
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Lichttheorie S. P. I 4 2 2 a 2ff. In I 3 7 8 b 1 : Suppono etiam ex iis, quae infra de luce dicentur, radios esse corporeos, cum per liberum spatium traiiciantur et ex occupato resiliant, et ex hoc sequi, ut quia per inane spatium foret libertas omnimoda traiectionis, eapropter tale spatium censeri possit summe perspicuum, unumquodque corpus proinde tanto magis perspicuum sit quando plura ampliorave interiecta habet inania spatiola, quae non obsistant, sed liberam radiorum traiectionem faciant. Dieselbe Theorie bei Beeckman, Journal, a. a. O . vol. I passim im Anschluß an Heron v. Alexandria (Pneumatica). Videmus nihilominus corpora alioquin rara, ut folium papyri aut spongiam, opacitate praedita esse et vice versa corpora densa, ut vitrum aut crystallum, praedita esse perspicuitate (S. P. I 378 b 2 ) . Agnoscis proinde libertatem quidem visus pendere a foraminulis, impedimentum a corporibus radios interpedientibus; sed praeterea tarnen certum exigi tarn foraminum quam corporum situm (S. P. I 379 a 1). Vgl. seine Beispiele: Glas (I 3 7 9 a 2 ) , Wasser (I 3 7 9 b 1), Luft (I 3 7 9 b 2 ) .
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Gassendi von zwei Körpern k j und k 2 genau dann k j durchsichtiger als k 2 , wenn k 2 dichter ist als k x oder die Lage der Atome von k t regelmäßiger ist als die Lage der Atome von k 2 (8) 74 . Daraus folgt, daß besonders regelmäßige atomare Strukturen die Lichtdurchlässigkeit nicht beeinträchtigen; daß die Lösung von Salz in Wasser dessen Durchsichtigkeit nicht verringert, ist daher eine Bestätigung von (7), weil für Gassendi unabhängig gesichert ist, daß die atomare Struktur von Salz aufgrund seiner kristallinen Formen als besonders geordnet angesehen werden muß 7S . Gassendi beschäftigt sich also durchaus mit einigen empirischen Folgerungen seiner Definitionen und präzisiert sie entsprechend; allerdings ist die systematische Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „Dichte" zu beachten, der teils als theoretischer, teils als empirischer Begriff aufzutreten scheint 76 . Andererseits glaubt Gassendi Satz (8) direkt zu Erklärungszwecken verwenden zu können: daß beispielsweise Glas dichter und durchsichtiger ist als Papyrus, begründet er gemäß (8) mit der regelmäßigen Struktur der Glasatome 77 . Aus (8) folgt jedoch logisch, daß wenn von zwei Körpern k a durchsichtiger und dichter ist als k 2 , die Lage der Atome von kj regelmäßiger ist als die Lage der Atome von k 2 . Gassendis Erklärung ist demnach ad hoc, denn ihr Antecedens wird nicht unabhängig vom Explanandum behauptet, sondern muß mit Hilfe des Explanandum erschlossen werden. Denn im Text wird mit keinem Wort angedeutet, welche Gründe außer Durchsichtigkeit und Dichte zu Annahmen über die atomare Struktur von Glas und Papyrus führen könnten 78 .
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Tantum ad perspicuitatem valet non raritas modo, verum etiam partium certa dispositio (I 3 8 0 a 2 ) . S. P. I 380 a 1. Nach atomistischer Auffassung erhöht die Lösung von Wasser in Salz die Dichte des Wassers. Vgl. oben S. 107 und die Sätze (1) und (8). Tarn ergo dico verum quidem esse papyrum esse corpus rarius quam vitrum, sed non esse tarnen perinde perspicuum, quod propter confusam filorum, ex quibus constant, contexturam pori in fronte aperti non continuentur cum sequentibus, sed corpuscula pone occurrant, quae ipsis opponantur . . . At verum vitrum ob regulärem ordinatamve contexturam et corpuscula habet ex ordine sita et porulos ex ordine directeque inter ilia relictos (S. P. I 3 7 9 a 1). Die Brechungsgesetze des Lichts sind die theoretischen Hypothesen, deren Angabe hier fehlt, die Gassendi jedoch zweifellos im Auge hat. Nach Entwicklung der Meßtechnik ermöglichte der atomistische Rahmen die quantitative Fassung des Begriffs „Durchsichtigkeit" oder, wie man heute sagt, „optische Dichte". Sie ist als Stoffkonstante durch die sog. Brechzahl η definiert: fällt ein Lichtstrahl aus dem Vakuum unter dem Winkel α auf einen Stoff S und bewegt sich nach seiner Brechung unter dem Winkel β in S weiter, so ist η =
. - J e größer n, d. h. je kleiner β im Verhältnis zu α ist, desto größer sin β
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Die Orientierung an makrophysikalischen Beispielen, die dadurch bedingte systematische Mehrdeutigkeit der definierten Begriffe, das Fehlen expliziter Formulierung theoretischer Gesetze, aber auch der Versuch, die Definitionen theoretisch einzugliedern, empirische Konsequenzen zu verfolgen und sie in Erklärungen — wenn auch oft ad hoc — anzuwenden, das sind einige Merkmale der Qualitätenerklärung, die sich nicht nur an diesem Beispiel herausheben lassen. Gassendis Besprechung von zwei der vier fundamentalen Qualitäten der aristotelischen Physik, Feuchtigkeit und Trockenheit (ύγρόν, ξηρόν) 79 , kann als weitere Bestätigung dienen. Sie werden zunächst differenziert in Flüssigkeit und Feuchtigkeit (fluiditas, humiditas) einerseits und Festigkeit und Trockenheit (firmitas, siccitas) andererseits, wobei „Flüssigkeit" und „Festigkeit" Oberbegriffe der anderen beiden Ausdrücke sind80. Gassendi beginnt mit „fluiditas" und ersetzt zunächst das Definiens der aristotelischen Definition, wonach ein Körper flüssig ist, wenn er sich äußeren Grenzen anpaßt und selbst keine festen Grenzen hat81, durch atomistische (theoretische) Termini. Die Anpassungsfähigkeit der Flüssigkeiten an äußere Grenzen wird als leichte Verschiebbarkeit ihrer Teile gedeutet, die ihrerseits durch großen Abstand und geringe Berührungsflächen der Teilchen bewirkt wird82, wie an makrophysikalischen Beispielen erkennbar ist 83 . Daraus folgt also, meist die optische Dichte. Die Präzisierung der Gassendischen Idee eines Zusammenhangs von Durchsichtigkeit und Dichte bzw. atomarer Struktur ist an diesem Beispiel gut erkennbar. 79 80
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S. P. I 402 a ff. Diese Unterscheidung, die bereits David van Goorle (Gorlaeus) in seinem 1620 posthum erschienenen Exercitationes Philosophicae vornimmt, ist wissenschaftsgeschichtlich folgenreich gewesen, weil sie den Begriff einer nicht tropfbaren (nicht „feuchten") Flüssigkeit, also des Gases (van Helmont) zu bilden gestattet. Vgl. bei Gass. S. P. I 402 b 1: concludo potius dicendum videri omne quidem humidum esse fluidum, omne siccum firmum, at non vicissim omne fluidum humidum, omne firmum siccum eaque ratione humiditatem fluiditatis esse speciem et siccitatem firmitatis. ύγρον xö άόριστον οίκείφ δ ρ ψ εΰόρισισν öv Aristot. De gen. et corr. II, 2, 329b 10 (10, 328b4). Gass. S. P. I 4 0 2 a l : Heine cum Aristoteles definit το ύγρόν „id quod facile terminum admittens proprio tarnen non terminatur", perspieuum est definitionem esse rei liquidae sive fluidae universe (nicht nur von „humidum"). Fluiditas seu liquiditas non aliunde oriri videtur „quam ex eo, quod atomi seu particulae, ex quibus corpus fluidum constat, spatiola intereepta habeant et sic inter se dissociatae sint, ut sint invicem mobiles circum superficieculas, quibus se contingunt (S. P. I 402 b 2). Ita se rem habere intelligimus primum in acervo granorum frumenti, quorum quodlibet ob spatiola intereepta (Ursache: Teilchenabstand) evolvere se circa contigua (Folge: Verschiebbarkeit) capax est, ex quo fit, ut in quameumque partem volueris acervum emovere aut intra quodeumque vas reponere ipsa grana emoveantur, effundantur, accommodent
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thodisch analog zu (8), daß Körper genau dann flüssig sind, wenn ihre Atome großen Abstand oder kleine Berührungsflächen haben (9). Mit (9) glaubt Gassendi die Flüssigkeit von Stoffen erklären zu können (er benutzt den Ausdruck „causa"), deren Teilchenabstand weder beobachtbar ist noch unabhängig bestimmt werden kann, während er in Wahrheit nur mittels (9) von der Flüssigkeitseigenschaft auf die atomare Struktur zurückschließt — ein weiteres Beispiel einer (zirkulären) ad hoc-Erklärung 8 4 Andererseits versucht er sich an der Herleitung einer empirischen Generalisation: aus (9) folgt, daß ein Stoff beim Übergang in den flüssigen oder gasförmigen Aggregatzustand sein Volumen vergrößert, was sich am Beispiel von Wasser und Wasserdampf bestätigen läßt 85 . Ferner weist Gassendi auf die empirische Tatsache hin, daß starke Erwärmung feste Körper in flüssigen Zustand überführt. Nach seiner Wärmetheorie, die er im vorhergehenden Kapitel entwickelt hatte, dringen bei Erwärmung Wärmeatome in die Poren des Körpers ein und dissoziieren dessen Atome durch ihre schnelle Bewegung, vergrößern also den atomaren Abstand, so daß mit (9) der Ubergang in den flüssigen Zustand erklärbar wird 8 6 . Auf diese Weise wird (9) in die Wärmetheorie eingebettet und ermöglicht das Verständnis weiterer bekannter empirischer Tatsachen. Freilich ist der empirische Gehalt von (9) und Wärmetheorie klein, ihre Erklärungskraft daher gering, vor allem mangels Angabe theoretischer Gesetze 87 .
sese interiori figurae vasis (Folge: Anpassungsfähigkeit an äußere Grenzen) (S. P. I 402 b 2). 84
N o n videtur porro esse cur haereamus, quin fluiditas aeris, flammae et omnium liquorum ex eadem causa proficiscatur, cum liceat in omnibus intelligere granula specialia particulasve ex quibus constent, pari modo solum contiguas, dissociabiles, emobiles, accommodabiles (S. P. I 4 0 3 b 1).
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Agnitu autem facile est non alia ratione differre aquam . . . et fumum quam quod aqua sit corpus densius et fumus idem-met sit corpus, sed rarius . . . adeo ut reipsa nihil sit aliud aqua quam fumus densatus et fumus nihil aliud quam aqua rarefacta (S. P . I 403 a 1).
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S. P. I 4 0 3 a 2 . Die Wärmetheorie wird allerdings nur in einem Satz erwähnt: si . . . ignem admoveris, cuius corpuscula subeant et discutiant ista granula, fit ut metallum eadem ratione qua aqua fluat (ibid.). Ein Vergleich mit neuzeitlicher Gastheorie zeigt, daß der allgemeine theoretische Rahmen sich nicht grundlegend verändert hat: „Hingegen ist ihre (sc. der Flüssigkeiten) Gestalt leicht zu verändern. Deshalb passen sie sich auch der Gestalt der sie begrenzenden Flächen . . . mehr oder weniger schnell a n " (W. Westphal, Physik, a. a. O . S. 107)". „ . . . Daraus schließt m a n : In festen Körpern sind die kleinsten Bausteine . . . ganz überwiegend an Ruhelagen gebunden, in Flüssigkeiten hingegen fehlen solche Ruhelagen, alle Moleküle sind frei gegeneinander verschieblich" (Pohl, Physik, S. 114). Dann aber wird die Mechanik auf Moleküle angewendet. D i e Grundgleichung der Kinetischen Gastheorie, die den Druck eines in einen Behälter eingeschlossenen Gases auf dessen Wände beschreibt, wird ζ . B . hergeleitet, indem man allen Molekülen des Gases im zeitlichen
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Die Einführung von „Festigkeit" (firmitas) erfolgt nach demselben Muster 88 . Als Ausgangspunkt dient auch hier die aristotelische Definition, deren atomistische Version diejenigen Körper als fest bestimmt, deren Atome geringen Abstand haben oder eng miteinander verbunden sind (10) 8 9 . So wie (9) in die Wärmetheorie wird (10) in die Kältetheorie eingearbeitet, nach welcher große bewegungshemmende Kälteatome das Gefrieren von Körpern hervorrufen; entsprechend kann mit (10) und der Atome bei Gassendi). Die Dichte des Gases mit dem Volumen V und η Molekülen der η·m Masse m ist ρ = (vgl. Gassendis ,,Dichte"-Definition). Nun ergibt sich der Druck auf eine der sechs Wände des Behälters: weil ein Molekül mit der Geschwindigkeit Ui in der Zeit t den Weg s = Ui t zurücklegt, können nur Moleküle die Wand erreichen, die von ihr eine Entfernung = s haben, also in einem Teilvolumen Fs = Fui t enthalten sind. Seien insgesamt n, Moleküle mit der Geschwindigkeit u, vorhanden, so im genannten Fui't . . 1 Futt Teilvolumen die Anzahl n, . Ein Sechstel von ihnen, also die Anzahl — n! ν 6 ν fliegt auf die genannte Wand. Bei senkrechtem Stoß erteilt ihr jedes Molekül den Kraftstoß Kidt = 2 m u ! . Die Summe der Kraftstöße aller Moleküle ist mithin 1 Fu,t 1 nim . , , . ·• 2mu, · — Π] = Fu t. Diese Summe kann durch einen einzigen Kraftstoß 6 ν 3 ν KJt ersetzt werden, der während der Zeit t mit der konstanten Kraft K' wirkt. Dann ist der von den n, Molekülen der Geschwindigkeit u, ausgeübte Druck KJ 1 ni · m , Pi=-="=-r u,. F 3 ν Dasselbe ergibt sich für den Druck p2 aller n2 Moleküle der Geschwindigkeit u2 usw. Setzt man p = p] + p2 + p3 + . . ., η = n, + n2 + n3 + . . . und ü2 als arithmetisches Mittel der Geschwindigkeitsquadrate, so erhält man die Grundgleichung p = —
u
~~ —Qu2. Sie gestattet weitere überprüfbare Herleitungen. Nach Vor-
aussetzung ist ζ. B. die mittlere kinetische Energie konstant, also auch ü 2 ; folglich ist y ü 2 eine Konstante, und man hat p = ρ · const: der Druck eines Gases ist seiner Dichte
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proportional (Boyle — Mariottisches Gesetz). Diese Anwendung theoretischer (mechanischer) Gesetze auf den atomaren Bereich fehlt bei Gassendi — die mechanischen Grundgesetze und Grundbegriffe waren noch nicht formuliert. S. P. I 403b Iff. Similiter porro, cum Aristoteles definit το ξηρον quod facile terminatum proprio termino terminatur aegre alieno (S. P. I 402a2; vgl. Arist. De gen. et corr. 330al8, 329b31 ξηρον το εύόριστον μεν οίκείω δρω, δυσόριστον δέ) Ad firmitatem quod attinet, ea non aliunde esse videtur quam ex eo, quod atomi seu particulae, ex quibus firmum constat, . . . ita se contingant premantque ad invicem, ut singulae aut nullo modo aut aegerrime dissociari ac secundum superficieculas, quibus se contingunt, ob non intercepta aliunde spatiola idonea emoveri valeant (S. P. I 403 b 1). Die möglichen Ursachen für die Unbeweglichkeit der Atome werden dagegen genauer angegeben: Verbindung durch Häkchen (I 403 b 2), Ausfüllung der Poren durch bewegungshemmende Teilchen von außen (ibid.), Austritt beweglicher, dissoziierender Atome (I 4 0 4 a l ) . Vgl. I 403b 1 zur fluiditas.
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Kältetheorie die empirische Tatsache erklärt werden, daß der Wärmeverlust die Festigkeit aller Körper erhöht 90 . Ebenso läßt sich mit (10) herleiten, daß beim Verdampfen einer Salzlösung das feste Salz zurückbleibt: das Verdampfen des Wassers ist als Austritt der auf Salz dissoziierend wirkenden Wasseratome interpretierbar91. Freilich fehlen auch ad hoc-Erklärungen nicht; wenn Gassendi das Gerinnen von Milch nach Zugabe eines Gerinnungsmittels mit dem Eindringen seiner Atome in die Poren der Milch oder das langsame Trocknen öliger Stoffe mit der engen Verbindung ihrer Atome begründet, dann werden die Aussagen über die atomare Struktur mittels (10) erst aus den Explananda gefolgert92 und sind nicht unabhängig prognostizierbar. Es liegt auf der Hand, daß die Gassendi einzig zur Verfügung stehenden theoretischen Annahmen über Abstand und Verbindung der Atome keine allzu große Erklärungskraft haben; in verschiedenen Abstufungen verwendet Gassendi sie immer wieder zur Kennzeichnung unterschiedlicher Qualitäten, neben den bereits genannten etwa auch bei Weichheit und Härte (Elastizität), die empirisch durch Verformbarkeit auf äußere Einwirkung hin definierbar sind 93 . Ebenso unverkennbar ist ande90
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Sic introductae in aquam frigorificae atomi, dum versus partes medias moventur, obvias compellunt, continent urgent neque mobiles perinde relinquunt . . ., adeo ut proinde totam massam rigescere et in gelu durescere cogant (S. P. I 403 b 2 f.). Die Zunahme von Festigkeit beim Austritt von Wärmeatomen ist ähnlich erklärbar (I 404 a 1), nur muß zusätzlich begründet werden, warum die Körperatome wieder zusammenrücken; das unterläßt Gassendi — hier wäre die Angabe von Gesetzen erforderlich, die möglicherweise sogar unvereinbar mit atomistischen Grundsätzen wären (Attraktionskräfte), die aber zur Zeit Gassendis noch nicht bekannt waren. S. P. I 404 a 1. S. P. I 404al und 404b2. Weitere Beispiele ließen sich leicht angeben; so begründet Gassendi die extreme Dehnbarkeit von Gold durch den Verweis auf die Kleinheit und zahlreichen Häkchen der Goldatome (particularum tenuitas, hamulorum multitudo, I 408 b 2); oder daß erhitztes Eisen beim Eintauchen in Wasser hart wird, betrachtet Gassendi als Einwand gegen die für ihn beobachtbare und theoretisch begründbare Tatsache, daß Flüssigkeitszufuhr Körper weich macht. Ohne den Erkaltungseffekt zu beachten, postuliert er daher ad hoc den Einschluß der Wasseratome in den Poren des Eisens, d. h. eine Zunahme der Dichte und damit der Härte: respondeo causam videri, quod laxatis calore corpusculis ferri corpuscula aquae in illius porulos subeant neque dum ferri paniculae situm repetunt stringuntque se mutuo excedere valeant, sed inclusa teneantur occupentque adeo spatiola futura alioquin inania, ex quo fit, ut ferrum solidius ac proinde durius evadat (S. P. I 406 a2). S. P. I 405b 2 —406al. Die Verwandtschaft zu früheren Definitionen deutet Gassendi selbst an: Non haereo porro, ut explicem quomodo mollities aut durities oriatur in rebus concretis, cum res sit circa fluiditatem et firmitatem declarata (I 405 b2). Die Anwendung der Gesetze der klassischen Mechanik führt auch hier (um durch einen weiteren Vergleich zur Klärung beizutragen) zur quantitativen Fassung von „Elastizität". Die Annahme von
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Methodologie und Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
rerseits das Bemühen, die systematische Isolation der Definitionen aufzuheben und sie für das Verständnis beobachtbarer Phänomene auszunutzen. Auf theoretische Gesetze weist Gassendi bei einzelnen Erklärungen nur ausnahmsweise hin 9 4 , eine Tatsache, die besonders für die Erklärung der Qualität Schwere (pondus oder vis motrix) folgenreiche Konsequenzen hat. Entsprechend dem Programm der Qualitätenerklärung soll die Schwere beobachtbarer Körper auf die Schwere ihrer Atome zurückgeführt werden. Aufgrund der von Gassendi vertretenen Gravitationstheorie, nach welcher die Erde durch Aussendung von Gravitationsteilchen alle Körper anzieht, liegt die Annahme nahe, daß die Erdattraktion mit der Materiequantität wächst 95 . Dies gilt, wie Gassendi richtig folgert, nicht nur für Körper desselben Stoffes, sondern ganz allgemein 96 . Die damit behauptete Proportionalität von Schwere und Materiequantität erinnert an den Zusammenhang zwischen Gewicht und
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Fernkräften zwischen Molekülen gestattet die Interpretation der Verformung als Arbeit gegen die Gleichgewichtskräfte und damit als Umwandlung kinetischer in potentielle Energie. Die elastischen Körper lassen sich dann als genau diejenigen auszeichnen, für die der mechanische Energiesatz (Konstanz der Summe von kinetischer und potentieller Energie) erfüllt ist. Da bei einer Verformung die entstandene potentielle Energie der Änderung des Volumens umgekehrt proportional ist, kann die Elastizität prinzipiell gemessen und als Stoffkonstante bei verschiedenen Materialien ermittelt werden, was insbesondere für die technische Verwendung wichtig ist. Beispiele sind die Andeutung von Stoß- und Reflexionsgesetzen für Atome zur Erklärung der Tatsache, daß biegsame (elastische) Gegenstände ihren ursprünglichen Zustand wieder einnehmen, wenn die verformende Kraft nicht mehr auf sie einwirkt (S. P. I 407a 2 f . ) , oder die Verwendung des Satzes, daß bei konstant wirkender Kraft auf einen beweglichen Körper der durchmessene Raum dem Quadrat der Zeiten proportional ist, zur Erklärung der Tatsache, daß für die Halbierung der Schwingungsdauer von Saiten die vierfache Kraft erforderlich ist (I 408 a 2 f . ) . Zur Gravitationstheorie Gassendis vgl. ζ. Β . I 3 4 6 a f f . , 4 8 9 b 2 f f . , auf die er hier bezug nimmt: Cum difficultas vero non sit magna de gravibus mole inaequalibus, quoties materia eadem est, quatenus seu gravitas ingenita sit, ea comitatur materiam et maior aut minor pro quantitate materiae est, seu a terrae attractione pendeat, attractio maior aut minor fit, prout materiae attrahendae partes plures sunt vel pauciores (I 389 b 1). Ein Brief von E . Pascal und Roberval an Fermat zeigt, daß um 1636 mindestens drei Gravitationstheorien existierten, nach denen Schwere als innere Qualität eines fallenden Körpers, als Anziehungskraft des Zielkörpers oder als wechselseitige Anziehung beider Körper angesehen wurde (vgl. CEuvres de B . Pascal, ed. L. Brunschwicg, vol. I S. 177—193). Gassendi erwähnt nur die ersten beiden (die aristotelische und seine eigene), nicht die (richtige) dritte Möglichkeit. Diese letztere Möglichkeit wurde freilich zur Zeit Gassendis nur auf der Basis der Magnetismustheorie (Gilbert, Kepler) diskutiert und wurde von Gassendi ausgeschlossen, weil er selbst den Magnetismus anders zu erklären suchte als Gilbert oder Kepler. Videtur sane longe satius illud universe gravius dicere, in quo maior copia materiae, illud levius, in quo minor (I 3 9 0 b 1).
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Masse in der klassischen Mechanik, ist ihr aber nicht gleichwertig. Ähnlich wie bei der Definition von „Dichte" führt die Verwendung von „quantitas materiae" statt „Masse" zur Abhängigkeit beider Variablen: Materiequantität ist im Gegensatz zur Masse nicht unabhängig vom Gewicht meßbar. Die Behauptung, das Gewicht erhöhe sich mit der Materiequantität, ist daher empirisch nicht überprüfbar 97 . Die atomistische Definition von „Schwere" wird so zwar in die allgemeine Gravitationstheorie eingebettet, läßt sich jedoch nicht unmittelbar prüfen; ihre Beziehung zu beobachtbaren Tatsachen wird auffallend selten hergestellt. Schwere bestimmt Gassendi aber auch als innere Bewegungskraft (vis motrix); demnach ist zusätzlich anzugeben, wie die Bewegungskraft zusammengesetzter Körper von der Bewegungskraft ihrer Atome abhängt 9 8 . Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung makrophysikalischer Körper werden durch Richtung und Geschwindigkeit ihrer Atome bestimmt; eine Retardation ist durch gehäufte atomare Stöße bedingt, Beschleunigung durch relative Freiheit der Atome innerhalb ihres Verbandes, die zu erhöhter (mittlerer) Geschwindigkeit bei gegebener Richtung f ü h r t " . Diese spärlichen Bemerkungen sind offenbar unzulänglich, weil die Gesetze nicht angegeben werden, die die Übertragung der atomaren Bewegungskraft auf den makrophysikalischen Bereich regeln. Jeder zusammengesetzte Körper ist nach Gassendis Auffassung ein Verband mechanisch miteinander verbundener Atome, auf die stets (innere) Kräfte wirken. Es hätte daher durchaus nahegelegen, die Gesetze der Kräfteüberlagerung, die Gassendi bereits in den De Motu-Briefen wohlbekannt sind 100 , anzuwenden. Dieser Versuch hätte schon ausgereicht, um die Folgerung ziehen zu können, daß makrophysikalische Körper auch ohne Einwirkung äußerer Kräfte ihren Bewegungszustand ändern, eine Hypothese, die dem von Gassendi selbst formulierten und anerkannten Trägheitssatz widerspricht. Diese einfache Überlegung hätte daher zu einer Revision der so problematischen atomistischen Mechanik führen können. 97
Galilei hatte in De Motu noch die Proportionalität von Gewicht und maximaler, nach kurzer Anfangsbeschleunigung angeblich erreichter konstanter Geschwindigkeit behauptet (Opere I S. 334). 98 Ex tertia atomorum proprietate, quae est pondus seu ingenita internaque quasi compulsio et mobilitas, pendere videtur omnis vis motrix, quae est in naturis concretis (I 384 b2). 99 Zur Richtung: exinde fit, ut quam in partem fuerit plurium connixus ac impetus (sc. observo) ea de causa tum deviationem, tum tarditatem, quae in rebus concretis est, aliunde esse non videri quam ex repercussione seu repressione multiplici earumdemmet atomorum (S. P. I 385 a 1). 100 Vgl. ζ. Β. Μ III 481al, 4 8 2 a l , vor allem 484a2.
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Zusätzliche Schwierigkeiten bietet die atomistische Definition der Qualitäten Geschmack und Geruch (sapor, odor) 101 , weil der sinnliche Eindruck, den sie hervorrufen, auch von der Struktur der entsprechenden Wahrnehmungsorgane abhängt. Gassendi kommt über die aus der antiken Literatur bekannten Ansätze nicht hinaus, die sich darauf beschränken, die Gültigkeit atomistischer Grundsätze auch für diesen Bereich zu postulieren 102 . Die Qualitätenerklärung erschöpft sich daher in Existenzsätzen sowohl bezüglich der Gesetze als auch der Randbedingungen: ein Körper Κ erzeugt in einem Wahrnehmungsorgan G einen Geschmack (Geruch) der Art X, falls Atome mit geeigneten Eigenschaften existieren, die von Κ nach G gesendet werden, und falls in G eine atomare Struktur existiert derart, daß in G ein Geschmack (Geruch) der Art X ensteht 103 . Dies ist eine Erklärungsvorschrift oder Erklärungsskizze, die den theoretischen Rahmen für mögliche Erklärungen absteckt, aber offenbar nur zirkuläre Erklärungen zuläßt. Wenn Gassendi ζ. B. behauptet, nur diejenigen Gegenstände könnten süßen Geschmack erzeugen, die runde und glatte Atome aussenden, dann kann damit im Einzelfall die Süße bestimmter Stoffe nicht begründet werden, weil offenbar erst die Kenntnis der vom Explanandum beschriebenen empirischen Tatsache die atomistische Hypothese rechtfertigt 104 . Die Wärmetheorie — das letzte Beispiel einer Qualitätenerklärung, das in diesem Zusammenhang betrachtet werden soll — ist etwas breiter ausgeführt, läßt aber ebenfalls die bisher festgestellten Merkmale erkennen. Die für den atomistischen Definitionsansatz stets zugrunde gelegte empirische Generalisation wird erst nach längerer Diskussion angegeben: als entscheidendes empirisches Merkmal von Wärme betrachtet Gassendi nicht ihre Fähigkeit, in lebenden Organismen Schmerz zu erzeugen, sondern allgemein ihre auflösende Wirkung (II) 1 0 5 . „Auflösung" wird nunmehr atomistisch interpretiert als Trennung der Atome; Erwärmung führt demnach 101 102
103
104 los
S. P. I 4 0 9 b I f f . Vgl. z . B . Demokr. b. Theophr. De sens. 6 5 f f . , 82 ( 6 8 A 135 Diels); Epik. b. Diog. Laert. X 5 3 ; Lukr. Rer. Nat. IV 6 1 5 f f . , 6 7 3 f f . ; Frg. 324 (Us.). Bezüglich Geschmack: Videtur sapor in ipsa re, quae sapida dicitur, nihil esse aliud quam corpuscula eiusce configurationis, ut in linguam palatumve subeuntia eius contexturae ita applicentur ipsumque ita moveant, ut inde sit sensio, quae gustatio dicitur (S. P. I 4 0 9 b 2 ) . Für Geruch vgl. analog S. P. I 4 1 2 a 2 . Vgl. S. P. I 4 0 9 b 2 f . . . . eapropter, cum videamus etiam calorem caetera corpora subire et dissociatis partibus ipsa denique exsolvere, dicendum videtur calorem ex hoc generali effectu spectandum potissimum esse (S. P. 3 9 4 b 1). Itaque videtur calor esse universe disgregativa qualitas (I 3 9 7 b 2 ) .
Fundamentaltheorie bei Epikur und Gassendi
117
zur Trennung der Atome des erwärmten Körpers (12) 106 . Nun bedarf es für Gassendi keiner Erwähnung mehr, daß eine Lösung atomarer Verbindungen zu erhöhter Mobilität der Körperatome führt, daß also Erwärmung mit einer Geschwindigkeitszunahme atomarer Bewegungen verbunden ist 107 ; entscheidend für das darüber hinausgehende Postulat der Existenz von speziellen Wärmeatomen ist vermutlich der Versuch, die Entstehung dieser Geschwindigkeitszunahme ihrerseits atomistisch zu begründen 108 . Nun ist Erwärmung ohne direkten Kontakt von Körpern, also über räumliche Entfernungen hinweg möglich; daher lag es nahe, sie als Emission von Wärmepartikeln zu deuten. Kennzeichnend ist freilich, daß Gassendi die ihm zweifellos bekannten anderen Wärmetheorien mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn ihren empirischen Gehalt abwägt 109 . Die Eigenschaften der Wärmeatome werden wie im antiken Atomismus im Hinblick auf einige bekannte empirische Tatsachen spezifiziert: sie haben hohe Geschwindigkeit (13) wegen (12), sind klein (14), weil jeder Körper sich erwärmen läßt, Wärmeatome also auch in kleinste Poren einzudringen vermögen, und sie sind rund (15) wegen (13) 110 . 104
S . P . I 392 b 1. Dies folgt aus der Annahme einer inneren Bewegungsenergie der Atome, die nur durch äußere Hindernisse gehemmt werden kann; vgl. etwa S. P. I 334b 2f., 3 4 3 b l . 108 Constant porro, cum dico calorem subire, penetrare, exsolvere etc., non intelligi quandam nudam et solitariam qualitatem, sed intelligi certas atomos, quatenus praeditae hac mole, hac figura, hoc motu subingrediuntur, pervadunt, discutiunt et reliqua peragunt, quae referri vulgo ad calorem solent (S. P. I 394 b l ) . Diese Formulierung enthält noch Existenzpostulate: vorausgesetzt werden Atome mit Eigenschaften derart, daß Wärmeeffekte eintreten. N u r derartige Atome können für actio und motio verantwortlich sein: . . . atomi ipsae substantialiave principia, quibus ut omnis motio, ita est omnis actio tribuenda (I 394 b 2). ιοί Vgl. ζ. B. die korrekten Analysen bei Descartes, Princ. Phil. IV, 29. Ohne die Annahme von Wärmeatomen scheint auch Beeckman ausgekommen zu sein, vgl. sein Journal 1216 (1618), II 198 (1622), III 239 (1633). Das gilt auch für Bacon, der die Wärmetheorie als methodisches Beispiel benutzt (Nov. Org. II aph. 8, 12, 13, 48). 110 Praetermittendum non est, quod Democritus, Epicurus et caeteri atomorum assertores docent, dum volunt atomos caloris esse debere mole exiles, figura rotunda motu celeres . . . Debere tandem celeres esse, id maxime arguit, quod prae motus rapiditate vehementer impingantur, exturbent, secernant . . . debere esse exiles, vel id arguit, quod nullum corpus adeo sit compactum, ut non inveniant porulos, per quos in illud subingrediuntur . . . debere etiam sphaericas esse, id videtur arguere, quod sint facile mobiles et quoquoversum sese insinuent (S. P. I 395 a 1). Auch in der Wärmelehre brachte demgegenüber die Anwendung der Mechanik entscheidende Fortschritte. Die Benutzung des Energiebegriffs führt zur Interpretation der Wärme als innerer Molekularenergie und hat die Formulierung des Energieerhaltungssatzes zur Folge (erster Hauptsatz der Thermodynamik), die Irreversibilität des Wärmeausgleichs wurde festgehalten (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik). Beide Sätze waren technisch von großer Bedeutung, weil die Umwandlung von Wärme in mechanische Arbeit ins Auge gefaßt werden konnte. 107
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Bekannte empirische Tatsachen wie Wärmeausdehnung oder fehlende Erwärmung bei zu kurzem Einfluß der Wärmequelle können mit Hilfe dieser Sätze erklärt werden 111 ; in vielen Fällen greift Gassendi aber auch zu ad hoc-Annahmen, etwa wenn er diejenigen Körper brennbar nennt, die bereits Wärmeatome in sich enthalten und deren Atome nicht zu fest und nicht zu locker miteinander verbunden sind, um einerseits eine vorschnelle Emission der Wärmeatome zu verhindern und andererseits ihren Bewegungsspielraum zu gewährleisten 112 . Daraus folgt, daß von zwei Körpern derselben Festigkeit der dichtere weniger brennbar ist (ζ. B. bei trockenem und nassem Holz). Ein Gegenbeispiel erfordert weitere ad hocAnnahmen: die Verdichtung von Kalk durch Wasserzufuhr bringt den Kalk zum Erhitzen, weil er aufgrund seiner geringen Festigkeit seine Wärmeatome emittiert, was jedoch durch Eindringen von Wasseratomen verhindert wird 1 1 3 . Diese Hinweise dürften hinreichen, um deutlich werden zu lassen, daß Gassendi nicht nur quantitativ über die dürftigen, aus der antiken Literatur überlieferten Qualitätenerklärungen erheblich hinausgeht. Das Bemühen um theoretische Einbettung und Verwendung der atomistischen Definitionen zu Erklärungszwecken offenbart ein gegenüber Epikur neues Verständnis von der Möglichkeit der Sicherung physikalischer Hypothesen, die zwischen wahrnehmbarem und nicht wahrnehmbarem Bereich vermitteln, auch wenn Gassendi die Problematik von ad hoc-Annahmen nicht erkennt, die ja keineswegs ohne weiteres zu verwerfen sind, sondern nur einer zusätzlichen, unabhängigen Prüfung bedürfen. Zweifellos haben die atomistischen Definitionen der Qualitäten nur geringen empirischen Gehalt, weil sie auf zu einfachem Wege, mittels substantieller Analogie, gewonnen werden, statt durch Übertragung theoretischer Gesetze auf den atomaren Bereich (strukturelle Analogie) 114 . Aber es ist, wie bereits
111 112 113 114
S. P. I 3 9 6 a 2 ; I 3 9 7 b 1. S. P. I 3 9 5 b 2 f. S. P. I 3 9 6 b 1. Vgl. dazu J. E. Mc Guire, Atoms and the „Analogy of Nature", in: Studies in History and Philosophy of Science 1, 1970—71, S. 3—58, dessen Thema das Problem des Ubergangs von wahrnehmbaren zu nicht wahrnehmbaren Entitäten in Newtons Methodologie ist, der aber auch andere Auffassungen im 17. Jahrhundert diskutiert. Bezüglich Gassendi reproduziert er jedoch das übliche Vorurteil: „Based on a comprehensive exposition of the principles of Epicurus, Gassendi's approach to atomism is essentially historical" (S. 7). Kritik an Gassendis Erklärung der Qualitäten wurde übrigens schon von seinen Zeitgenossen geübt (vgl. Hobbes, De corpore Pars IV, Physica sive Naturae Phaenomena cap. 29, 17 (Op. om. I S. 2 4 9 f . ) und Pascal, Pensees 79 (1), 361). Aber ein Urteil wie das von Dijksterhuis („Alles bleibt im unbestimmt Qualitativen, und von einer experimen-
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bemerkt, zu bedenken, daß die hierfür erforderlichen Gesetze der klassischen Mechanik noch nicht bekannt waren. Der Versuch, das atomistische Forschungsprogramm im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten deduktivhypothetisch zu überprüfen, ist in Gassendis Buch De Materiali Principio Rerum im Gegensatz zu den antiken Texten kaum zu übersehen. Diese Interpretation empfiehlt sich dadurch, daß sie die Konsistenz zwischen den expliziten methodologischen Äußerungen Gassendis und seinem praktischen wissenschaftlichen Vorgehen impliziert. Die empirischen Generalisationen und die Ersetzung eines ihrer Ausdrücke durch theoretische Termini unter Zuhilfenahme substantieller Analogien, die stets am Anfang einer Qualitätenerklärung stehen, entspricht genau der Lehre von den Zeichen (signa); die anschließende empirische Uberprüfung durch Anwendung zu Erklärungszwecken erfüllt die von Gassendi festgelegte Aufgabe der Physik, kausales Wissen zu vermitteln. Diese beiden Verfahrensweisen kennzeichneten gerade Gassendis nicht-fundamentalistische Methodologie 115 .
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teilen Kontrolle der Richtigkeit der aufgestellten Theorien ist denn auch nicht die Rede", Mechanisierung des Weltbildes S. 481) ist sicherlich zu negativ. Vgl. oben S. 62.
2. Gassendis physikalische Methode Die methodologische Untersuchung der Gassendischen Physik kann sich nicht auf die Interpretation derjenigen Texte beschränken, die einen Vergleich mit Epikur gestatten, sondern hat auch jene wichtigen Arbeiten Gassendis einzubeziehen, die sich mit Themen neuzeitlicher Physik beschäftigen. Das gilt um so mehr, als die Anwendung neuer methodologischer Ansätze auf die Atomistik aus wissenschaftshistorischen Gründen außerordentlich erschwert war; denn zu Gassendis Lebzeiten gab es weder hinreichende mathematische noch physikalische Mittel, die eine präzise Formulierung atomistischer Hypothesen und regelrechte Herleitung empirischer Aussagen aus ihnen möglich gemacht hätten: die Entwicklung der Infinitesimalrechnung, die Ausbildung der klassischen Mechanik und ihre Anwendung auf den atomaren Bereich bilden einige der Voraussetzungen dafür. Dagegen ließen sich nicht wenige Hypothesen und Theorien aus dem Bereich der Makrophysik leichter theoretisch analysieren und empirisch prüfen; daher haben sich die Ergebnisse des ersten Hauptteils unserer Untersuchung vor allem an der Prüfung derjenigen Methoden zu bewähren, die Gassendi bei der Diskussion wichtiger Annahmen aus diesem Bereich anwendet. Es darf freilich nicht übersehen werden, daß Gassendi sich in einigen Fällen nicht an die neuen methodologischen Regeln gehalten hat. Soll daher das Bild seiner Physik nicht verzeichnet werden, so müssen auch methodologisch abweichende Erklärungsversuche zur Sprache kommen sowie Argumentationen, die Gassendi zwar innerhalb seiner Physik vorbringt, die aber nach moderner Auffassung nicht genuin physikalisch sind.
2.1. Konstruktion und Prüfung von Theorien Wissenschaftshistorisch sind Gassendis Beiträge zur Entwicklung der klassischen Mechanik besonders interessant und werden daher Gegenstand der folgenden Untersuchungen sein. Nun ist die Bedeutung dieser Beiträge durchaus umstritten, wie sich an der Kritik ablesen läßt, die sie erfahren
Konstruktion und Prüfung von Theorien
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haben. Gassendis Überlegungen zum Trägheitssatz und zum Kraftbegriff scheinen durch sachliche Inkonsistenzen belastet zu sein; andere Darstellungen werden vielfach als wenig originell empfunden, wie die Widerlegung der horror-vacui-Theorie oder die Verteidigung des Fallgesetzes, oder sie gelten als Beschreibung rein experimenteller Tätigkeit, wie der Bericht über das Schiffsmastexperiment. Insgesamt entsteht dann der Eindruck, als sei Gassendi allenfalls an experimenteller Tätigkeit, nicht aber an der Konstruktion konsistenter theoretischer Hypothesen und deren ernsthafter Prüfung interessiert gewesen. Dieser Eindruck entspricht jedoch nicht den bisherigen Ergebnissen unserer Überlegungen, und daher soll nun zunächst Gassendis Forschung zum Trägheits- und Kraftbegriff genau analysiert werden, und zwar vor dem Hintergrund zeitgenössischer Arbeiten zum selben Thema. Insbesondere wird zu fragen sein, ob und gegebenenfalls warum seine Aussagen inkonsistent sind und welche Art von Überlegungen ihn zu diesen Aussagen führen. Ferner gilt es dann zu klären, wie Gassendi sich in seinen physikalischen Argumentationen zum Verhältnis von Theorie und Experiment bzw. alltäglicher Erfahrung stellt; hier bieten sich seine Diskussionen zur horror-vacui-Theorie, zum Fallgesetz und zum Schiffsmastexperiment an, weil es in ihnen stets um die Auswertung bestimmter Experimente hinsichtlich gegebener Theorien geht. 2.1.1. Konsistenz Konsistenz ist nach gegenwärtigen methodologischen Standards eine notwendige Bedingung für die Wissenschaftlichkeit von Theorien; inkonsistente Systeme von Gesetzen implizieren Kontradiktionen, haben also keinen empirischen Gehalt. Logische Beziehungen zwischen Aussagen können aber nur dann eindeutig festgelegt werden, wenn die Termini, die sie enthalten, einheitlich verwendet werden, das heißt wenn sie keine Termini enthalten, die weder zu den Primtermen der Theorie gehören noch mit deren Hilfe definierbar sind. Mit anderen Worten, die semantische Konsistenz von Theorien ist Voraussetzung für ihre syntaktische (logische) Konsistenz. Insbesondere ist eine Theorie sicher dann semantisch inkonsistent, wenn ihre Aussagen sich nicht auf einen abgeschlossenen Gegenstandsbereich beziehen1. 1
Zum wissenschaftstheoretischen Terminus „ K o n s i s t e n z " im hier verwendeten Sinne vgl. genauer M . Bunge: Scientific Research, Bd. I, Berlin, N e w York 1967, S. 392, 431f., 436-438.
122
Gassendis physikalische Methode
Es bedarf kaum des Hinweises, daß nicht wenige physikalische Theorien, die wir aus der Wissenschaftsgeschichte kennen, den genannten Konsistenzbedingungen nicht genügen und dennoch zum Wissenschaftsfortschritt erheblich beigetragen haben. Als Beispiel sei nur an den verwirrenden, teilweise konfusen Gebrauch eines so zentralen Terminus wie „impeto" oder „momento" in Galileis Schriften erinnert. Theoretische Konsistenz bleibt gleichwohl erstrebenswert. In den Äußerungen Gassendis zur Mechanik hat man seit jeher in zweifacher Hinsicht semantische Inkonsistenz entdeckt: erstens, Gassendi hält sowohl geradlinige als auch zirkuläre Inertialbewegung für möglich; zweitens, Bewegungsänderungen sind nach Gassendis Meinung bei makrophysikalischen Körpern auf äußere, bei Atomen auf innere Bewegungskräfte zurückzuführen 1 ". Das heißt, Gassendi verwendet die für die klassische Mechanik zentralen Termini „Trägheit" und „Kraft" nicht einheitlich — wobei allerdings zu beachten ist, daß Gassendi ebenso wie seine Zeitgenossen, etwa Descartes, den Ausdruck „inertia" noch nicht auf Trägheitsphänomene anwendet und nicht die Wirkung von Kräften allgemein untersucht, sondern stets den speziellen Fall der Schwerkraft vor Augen hat. Im folgenden werde ich diejenigen Bemerkungen Gassendis, die mit den Grundlagen der klassischen Mechanik zusammenhängen, genauer untersuchen. Dabei geht es nicht primär um ein Stück Wissenschafts- oder Begriffsgeschichte, sondern um das methodologisch interessante Problem, inwieweit Gassendi semantische Inkonsistenz zu Recht zugeschrieben wird und wie die Überlegungen, die ihn zu seinen Aussagen geführt 13
Vgl. dazu A . Pav, Gassendi's Statement of the Principle of Inertia, in: Isis 57, 1966, S. 26—34. M. Capek, Was Gassendi a predecessor of Newton? In: Actes du X c Congres International d'Histoire des Sciences (Ithaca 1962), Paris 1964, S. 705—709. Das neueste mir bekannte Beispiel in R. S. Westfall, Force in Newton's Physics, L o n d o n / N e w York 1971, S. 103: „ A serious case cannot be made for Gassendi as an important source of the new conception of motion. Gassendi held more than one conception of motion and made no attempt to reconcile them . . . circular motion embodied one problem; he treated the orbital motion of planets as inertial motion without recognising that such an idea was in conflict with the rectilinear nature of inertial motion, which he also stated. A more important conflict was embedded in his concept of gravity or weight . . . The same Gassendi who denied that force is necessary to conserve a motion, referred to gravity of atoms as their .native force' and .motive f o r c e ' . " Man sieht deutlich, daß die — zu Recht oder zu Unrecht festgestellte — Inkonsistenz unmittelbar für die wissenschaftshistorische Wirkungslosigkeit Gassendis verantwortlich gemacht wird. Positiver äußert sich J . T. Clark, Pierre Gassendi and the Physics of Galilei, in: Isis 54, 1963, S. 352—369. Vgl. auch R . Dugas, Mechanics in the Seventeenth Century Thought, Neuchätel 1958, S. 1 1 0 - 1 1 3 und A. Koyre, Etudes galileennes III S. 157.
Konstruktion und Prüfung von Theorien
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haben, methodologisch zu kennzeichnen sind. Insbesondere wird zu prüfen sein, ob sein Standpunkt die Folge eines unreflektierten Eklektizismus oder Empirismus ist. Ein Uberblick über die wissenschaftsgeschichtliche Situation, in der Gassendi sich vorfand, wird dennoch das Verständnis seiner Behauptungen fördern. Ich beginne mit der Analyse des Gassendischen Trägheitsbegriffs, gehe dann zu seiner Untersuchung der Wirkung von Schwerkraft an makrophysikalischen Gegenständen über und behandle schließlich ihr Verhältnis zur atomaren Mechanik. Die in den dreißiger und vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts veröffentlichten Traktate zur Mechanik zeigen, welche Anstrengung es die Naturwissenschaftler in dieser Zeit kostete, sich von der zu Beginn des Jahrhunderts in fortschrittlichen Kreisen verbreiteten Impetus-Theorie zu lösen. Der aristotelische Grundsatz, daß es zu jedem bewegten Gegenstand etwas gibt, das ihn bewegt, und seine unmittelbare Konsequenz, daß das Maß der Bewegung (Geschwindigkeit) der bewegenden Kraft proportional und dem Widerstand umgekehrt proportional ist, waren seit Jahrhunderten kritisch diskutiert worden 2 . Die Tatsache, daß sich Projektile nach Erhalt eines Kraftstoßes auch ohne unmittelbare Einwirkung des Bewegers weiterbewegen (gegen den Grundsatz) und daß keine Bewegung zustande kommt, falls die bewegende Kraft kleiner ist als der Widerstand (gegen das Bewegungsgesetz), bereitete die größten Erklärungsschwierigkeiten. Während Thomas Bradwardine eine mathematische Fassung des Bewegungsgesetzes lieferte, die dem Einwand Rechnung trug und zugleich die Grundlagen der aristotelischen Dynamik unangetastet ließ3, konnte die 2
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Vgl. ζ. B. Ar. Phys. VIII, 4. Zum Einfluß scholastischer Physik vgl. neben den bekannten Werken von Duhem, Koyre, A. Maier und Clagett neuerdings E. Grant, Motion in the Void and the Principle of Inertia in the Middle Ages, in: Isis 55, 1964, S. 265—292. Ders., Bradwardine and Galilei: Equality of Velocities in the Void, in: Archive for History of the Exact Sciences 2, 1962 —66, S. 344—364; E . J . Dijksterhuis, The Origins of Classical Mechanics from Aristotle to Newton, in: Critical Problems in the History of Science, ed. M. Clagett, Madison 1959, S. 163-184; W. A. Wallace, Mechanics from Bradwardine to Galilei, in: Journal of History of Ideas 32, 1971, S. 15—28; E. Grant, Aristotle, Philoponus, Avempace, and Galileo's Pisan dynamics, in: Centaurus 11, 1965, S. 79—95. St. Drake: Impetus theory and quanta of speed before and after Galileo, in: Physis 16, 1974. Ρ . . . Bradwardine ersetzt das aristotelische „Gesetz" ν = — (ν = Geschwindigkeit, ρ = Kraft, r = Widerstand), das bei Aristoteles freilich nicht als Gleichung vorkommt (verschiedene Größen können nach griechischer Auffassung nicht direkt verglichen, d. h. in dieselbe Ρ Proportion aufgenommen werden), durch die Formel ν = log (—) (in moderner mathematischer Terminologie formuliert). Wegen log 1 = log — = 0 ergibt sich damit in der
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Gassendis physikalische Methode
aristotelische Antwort hinsichtlich der Projektilbewegung, nach der das Medium für die weitere Bewegung verantwortlich ist, viele Autoren nicht befriedigen. Franciscus de Marchia, später in präzisierter Form Buridan nahmen daher an, daß der Beweger dem Projektil einen „Impuls" (impetus) vermittelt, eine Bewegungskraft, die das Projektil dann weitertreibt 4 . Nicht nur der frühe Galilei, sondern auch Giovanni Battista Baliani, der tschechische Arzt Johannes Marcus Marci sowie bekanntere Autoren, etwa Pater Mersenne oder Galileis Schüler Evangelista Torricelli, deren Arbeiten erheblich später erschienen, akzeptieren die eine oder andere Fassung der Impetus-Theorie5. Sie alle beziehen sich, wie bereits aus den Titeln ihrer Schriften ersichtlich, auf Galileis Studien zum freien Fall, dessen adäquate physikalische Erklärung die Verwendung des TrägTat ν = 0, falls ρ = r, und für ρ < r ist ν überhaupt nicht definiert. Außerdem geht ν
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Ρ sogar stetig gegen 0, falls — gegen 1 geht. Diese Formel wurde sowohl von den Oxforder Mathematikern Heytesbury, Humbleton und Swinshead als auch von den Parisern Buridan, Albert v. Sachsen und Nikolaus von Oresme übernommen und galt bis zum 16. Jahrhundert als das „echte" Bewegungsgesetz des Aristoteles. Es steht insofern mit dessen Dynamik im Einklang, als die Geschwindigkeit von Kraft und Widerstand abhängig bleibt und ν für r = 0, also im leeren Raum, keine endlichen Werte mehr hat, entsprechend der aristotelischen Annahme, daß jede Bewegung im leeren Raum instantan wäre. Zum erstenmal wird „impetus" als Terminus technicus wohl von Buridan verwendet (Phys. VIII Quaest. 12, in: Johannes Buridanus, Kommentar zur aristotelischen Physik, Paris 1509 (Nachdr. Frankfurt 1964), Fol. CXXI Sp. 2): Ideo videtur mihi dicendum quod motor movendo mobile imprimit sibi quendam impetum vel quandam vim motivam illius mobilis ad illam partem, ad quam motor movebat ipsum, sive sursum sive deorsum sive lateraliter sive circulariter . . . et ab illo impetu movetur lapis postquam proiiciens cessat movere. Größe des Impetus und Maß der Bewegung sind proportional: Buridan hält es für sehr wahrscheinlich, „quod sicut illa qualitas (sc. innativa movere corpus) mobili cum motu imprimitur a motore, ita ipsa a resistentia vel inclinatione contraria remittitur, corrumpitur vel impeditur sicut et motus" (ibid.). Nikolaus von Oresme, Buridans unmittelbarer Schüler, änderte diese Theorie ab, um ein Scheinphänomen zu erklären, an das man gleichwohl im Mittelalter allgemein glaubte: die Beschleunigung der Wurfbewegung bis zum Scheitelpunkt der Bewegungskurve. Er nahm daher an, daß der impetus nicht wie jede andere bewegende Kraft eine gleichförmige, sondern eine beschleunigte Bewegung hervorruft. Vgl. Giovanni Battista Baliani, De motu naturali gravium solidorum, Genua 1638; Johannes Marcus Marci, De proportione motus seu regula sphygmica ad celeritatem et tarditatem pulsuum ex illius motu ponderibus geometricis librato absque errore metiendam, Prag 1639; das zweite Buch von Marin Mersennes Harmonie universelle (Paris 1636) enthält einige Bemerkungen zur Bewegung; Torriceiiis De motu gravium naturaliter descendentium et proiectorum libri duo erschien 1644 (vgl. in ders., Opere ed. G. Loria, G. Vassura, Faenza 1919—44, vol. 2); Bewegungsanalysen enthalten auch seine 1642 verfaßten lezioni accademiche, die freilich bis 1715 unveröffentlicht blieben, also seinen Zeitgenossen nicht bekannt warer..
Konstruktion und Prüfung von Theorien
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heitssatzes impliziert, versuchen aber andererseits Grundsätze der Impetus-Theorie aufrechtzuerhalten. So unterscheidet etwa Baliani zwischen einem aktiven Prinzip (pondus), das von außen auf Körper einwirkt, und einem passiven Prinzip (moles), das der Materie innewohnt, und erklärt die Geschwindigkeitsgleichheit aller Körper im freien Fall durch die stets gleichbleibende Proportion zwischen beiden Prinzipien — ein Schritt auf dem Wege zur Unterscheidung von Kraft und Masse; auf der anderen Seite soll das Verhältnis der „momenti" stets dem Verhältnis der Geschwindigkeiten, nicht der Beschleunigungen entsprechen6. Mersenne, mit dem Werk Galileis bestens vertraut und verantwortlich für die erste Veröffentlichung der „Discorsi" 1638 in Holland, verwendet in seinen Bemerkungen zur Bewegung ein Vokabular, das die Äquivalenz von Kraft und Bewegung erkennen läßt, etwa wenn er behauptet, im Fall (längs schiefer Ebenen) erhalte jeder Körper einen Impetus, der ihn wieder aufwärts treibt, und im freien Fall wiege die Geschwindigkeit kleiner Körper das Gewicht größerer Körper auf 7 . Im Gegensatz zu Mersennes verstreuten Bemerkungen versucht Marci ein geschlossenes dynamisches System zu konstruieren, in das einige Ergebnisse der Mechanik Galileis eingearbeitet sind; die Impetus-Theorie bildet jedoch die Grundlage dieses Systems: Impuls ist eine Bewegungskraft, die in endlicher Zeit und über endliche Distanz wirkt, selber endlich (wegen des Bewegungswiderstandes der Körper) und der erzeugten Geschwindigkeit proportional ist8. Torricelli benutzt zwar nicht den Terminus „impetus", sondern „momentum", bezeichnet das momentum jedoch ganz im Sinne der Impetustheorie als eine Kraft, die einem Projektil vom Beweger eingepflanzt wird und seiner Geschwindigkeit entspricht 9 . Im Anschluß an Galilei bemerkt er, daß die
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G. B. Baliani, De motu . . . a. a. O . S. 9. M. Mersenne, Harmonie universelle, a. a. O . S. 108 und S. 147. J. M. Marci, De proportione motus . . . a. a. O . Prop. I (Impulsus est virtus seu qualitas locomotiva, quae non nisi in tempore et per spatium movet finitum), Prop. II (das Werk ist nicht paginiert). Überdies muß der Impulsus auch dem Gewicht proportional sein: impulsus enim, quo globus ligneus ad motum concitatur, haudquaquam loco movebit pilam ferream eiusdem molis aut maiorem (Prop. XXXVII). Zur Beziehung von Impuls und Geschwindigkeit vgl. Prop. VIII: Velocitas a principio motus per lineam perpendicularem est aequalis gravitati. Diesen Grundsatz verwendet Marci dann auch zur physikalischen Erklärung des Fallgesetzes: Quia vero eadem est ratio motus et virtutis impulsivae, virtus quidem dupla in eodem aut aequali tempore movebit per spatium duplum, velocitas ergo motus augetur impulsu augescente . . . (es folgen geometrische, sich auf ein Diagramm beziehende Angaben), Prop. XII. Vgl. ζ. B. Lezioni accademiche a. a. O . S. 30 oder die Zusammenfassung der ersten beiden Lezioni ibid. S. 8f., die dann zu Stoßphänomenen übergehen.
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Gassendis physikalische Methode
Projektilbewegung ohne Einwirkung der Schwerkraft nicht parabolisch, sondern geradlinig weitergehen würde — scheinbar eine der frühesten korrekten Formulierungen des Trägheitssatzes 10 ; andererseits soll das aus zwei Bewegungskräften zusammengesetzte momentum ein diesen Kräften an jedem Punkt der parabolischen Bahn gleiches Vermögen sein 11 , d. h. wird mit der Bewegung und nicht der Geschwindigkeitsänderung in Beziehung gesetzt. Diese Bemühungen einiger Zeitgenossen Gassendis um eine — Galileis Untersuchungen berücksichtigende — Neufassung mechanischer Grundbegriffe sich vor Augen zu halten, ist auch im Hinblick auf Gassendi selbst nützlich, weil dann deutlich wird, wie verdienstvoll bereits die Verbreitung korrekter Formulierungen und adäquater Begründungen sein kann in einer Situation, die ein hohes Maß an physikalischem Verständnis voraussetzt; Originalitätsfragen treten demgegenüber in den Hintergrund. Wenn eine neue Theorie zum Fortschritt beitragen soll, genügt es nicht, sie einfach vorzulegen; stets waren neben dem Erfinder Männer oder Frauen erforderlich, die sich um hinreichendes Verständnis bemühten und sie dann öffentlich stützten und begründeten und ihr damit erst die Möglichkeit gaben, weiter entwickelt und schließlich allgemein anerkannt zu werden. Diese Tatsachen sind bei der Beurteilung der Rolle Gassendis in diesem Abschnitt der Wissenschaftsgeschichte oft zu wenig berücksichtigt worden. Gassendi selbst nimmt in seinen Schriften freilich keinen Bezug auf die genannten Arbeiten; wir wissen nicht, ob er sie gekannt und sich mit ihnen auseinandergesetzt hat. Beeckman, Galilei, Descartes — das sind die zeitgenössischen Autoren, mit denen er vertraut war und deren Einfluß sich nachweisen läßt, soweit die Grundlagen der Makrophysik zur Diskussion standen. Als Gassendi im Juli 1629 in Dordrecht (Holland) für zwei Tage mit Beeckman zusammentraf, wurde nicht nur über Epikur und atomistische Physik gesprochen 12 ; Beeckman trug Gassendi vielmehr auch seine Hypothese vor, daß „im leeren Raum jeder Körper, der einmal in
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Vgl. dazu jedoch unten S. 131 ff. die Interpretation der entsprechenden Stellen bei Galilei. Vgl. E. Torricelli, De motu . . . a. a. O . S. 159, 125. Mit Recht bemerkt Westfall a. a. O . S. 127: „The apparent contradiction serves to recall, as Galileo's ambiguous language frequently did as well, how nearly impossible it is at times to distinguish the concept of a permanent impetus from the concept of inertia. In Torricelli's case, it seems clear that he understood impetus (or momenti) primarily in an active sense. It was more than a mere verbal equivalent of motion; it was the dynamic cause of motion." Vgl. dazu oben S. 92f. mit Anm. 14 u. 16.
Konstruktion und Prüfung von Theorien
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Bewegung gesetzt wird, sich immer weiter bewegt" 1 3 , die er bereits seit 1613 in seinem „Journal" vertreten hatte 1 4 . Zwar scheint die Trägheitsbewegung weder als geradlinig noch als gleichförmig gekennzeichnet worden zu sein, aber Beeckman betrachtete sie zweifellos als kräftefreie Bewegung, die nur durch äußere Kräfte verändert werden kann. Diese Behauptung ist offenbar mit der Impetus-Theorie unvereinbar. Die fehlende Spezifikation der Trägheitsbewegung führte andererseits vermutlich zu der Annahme, daß sich beliebig geartete Bewegungen im leeren Raum erhalten; dies gilt nach Beeckmans Vorstellungen insbesondere von der zirkulären Bewegung 1 5 . Diese bedeutsamen Ansätze zur Formulierung eines Trägheitssatzes sind noch nicht soweit präzisiert, daß sie genau die geradlinig-gleichförmige Inertialbewegung auszuzeichen gestatten. Bemerkungen zur Möglichkeit zirkulärer Trägheitsbewegung konnte Gassendi aber vor allem in den berühmtesten und wichtigsten Schriften Galileis finden, im „Dialogo" und in den „Discorsi" 1 6 . Indessen blieb bis heute umstritten, wie Galileis Trägheitsbegriff genauer zu verstehen ist. Die Diskussion darüber hält nicht nur deshalb seit mehreren Jahrzehnten an, weil man sich über den Charakter der Galileischen Mechanik endgültige Klarheit verschaffen möchte, sondern vornehmlich auch deshalb, weil
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Beeckman berichtet darüber ausdrücklich in seinem Journal: aperui (sc. Gassendo) meam sententiam de motu, videlicet omnia, quae semel moventur, in vacuo semper moveri (Journal vol. 3, S. 123f., vgl. auch Correspondence de Marin Mersenne, ed. P. Tannery, Paris 1945, vol. 2 S. 248f.). Beispiele: Omnis res, semel mota, nunquam quiescit, nisi propter externum impedimentum (Journal vol. I (1613/14) S. 24). Später wird — ein für Gassendi bedeutsames Detail, ebenso übrigens für Descartes — die Bewegungserhaltung auf den göttlichen Bewegungsanstoß bezogen: Motus a Deo semel creatus non minus quam corporeitas ipsa in aeternum conservatur (ibid. vol. III (1634) S. 369). Id quod semel movetur in vacuo, semper movetur, sive secundam lineam rectam seu circularem (Journal vol. I S. 253). Fere nullam esse rationem cur circularem (sc. motionem astra) non servent, ita ut hic, eo modo quo in recto motu, valeat hoc theorema: quod semel movetur, semper eo modo movetur, dum ne ab extrinseco impediatur (ibid. S. 256). Vgl. dazu B. Rochot, Beeckman, Gassendi et le principe d'inertie, in: Archives internationales d'Histoire des Sciences 10, 1952, S. 2 8 2 - 2 8 9 . Bei Aristoteles (vgl. Phys. I V 8 , 215a 1 9 - 2 1 ) wird, als paradoxe Konsequenz der Annahme der Existenz des leeren Raumes, ein Trägheitssatz formuliert, der indessen in den mittelalterlichen Kommentaren nur selten diskutiert worden zu sein scheint. Dazu E. Grant, Motion in the Void and the Principle of Inertia in the Middle Ages, a. a. O . S. 270 ff. Daß Gassendi diese Schriften intensiv studiert hat, bedarf kaum der Erwähnung. Man vergleiche dazu seine Briefe an Galilei, mit dem er seit 1625 in schriftlichem Kontakt war (Op. om. VI 4a 2—6a 1 vom August 1625, 10a 2 - 1 1 b 1 vom März 1628, 3 6 b 2 - 3 7 a 2 vom September 1630, 4 5 b 2 - 4 6 a 1 vom März 1632, 53b 1—54a 1 vom November 1632, 6 6 b 2—67a 2 vom Februar 1634, 94a 1 vom Dezember 1636, 94a 2 - 9 5 a 2 vom Oktober 1637).
128
Gassendis physikalische Methode
sie das Problem der Abgrenzung oder Beziehung zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Physik unmittelbar berührt: in Trägheitssatz und Fallgesetz meinte man, angefangen mit Newton, lange Zeit entscheidende Fortschritte der „neuen" Physik erkennen zu können 17 . Eine intensivere Beschäftigung mit der mittelalterlichen Physik seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (Duhem, später etwa A. Koyre, A. Maier, M. Clagett) zeigte bald, daß diese Vorstellung revisionsbedürftig ist. Inzwischen kennt man das Merton-Theorem als eine lange vor Galilei formulierte mathematische Fassung des Fallgesetzes und hat einige zur Impetustheorie gehörenden Hypothesen als Vorläufer des Trägheitssatzes anzusehen gelernt 18 . Neuerdings konzentrieren sich die Untersuchungen auf die Frage, ob es überhaupt berechtigt ist, Galilei einen „zirkulären" Trägheitsbegriff zuzuschreiben. Ihre Beantwortung ist wichtig für die Bewertung der Gassendischen Behauptungen und muß daher kurz diskutiert werden. Prima facie gibt es im Dialogo und in den Discorsi eine nicht geringe Anzahl von Bemerkungen, die die Möglichkeit zirkulärer Trägheitsbewegung zum Ausdruck bringen. Sie lassen sich in drei Gruppen einteilen. Wiederholt kommt Galilei auf sein bekanntes Gedankenexperiment zu sprechen, nach welchem man sich eine glatte, zur Erdoberfläche parallele 17
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Newton versichert bekanntlich zu Beginn der Principia, die ersten beiden der drei Grundgesetze seiner Mechanik habe er von Galilei übernommen, die dieser zur Herleitung des Fallgesetzes und der parabolischen Bahn der Projektilbewegung benutzt habe (Princ. Math. Lib. I, Sec. I, Cor. VI, Scholium (I. Newton: Opera quae extant omnia, Faks.Neudr.Ausg. S. Horsley (London 1779-1785), 5 Bd., Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, Bd. II, S. 21 f.)). Vgl. zu diesem Problem an älterer Literatur etwa E. Wohlwill, Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 14, 1883, S. 3 6 5 - 4 1 0 ; 15, 1884, S. 7 0 - 1 3 5 . Inwieweit die Impetus-Theorie den Trägheitssatz vorbereitet, ist gleichfalls noch ungeklärt. Clagett beispielsweise glaubt Funktion und Wirkungsweise von Impetus (Buridan) und Inertia (Galilei, Newton) durchaus vergleichen zu können, insofern der Impetus bei verschwindendem Widerstand zu einer gleichförmigen unendlichen Bewegung führt (vgl. M. Clagett, Science of Mechanics in the Middle Ages, Madison 1959, S. 523). A. Maier dagegen spricht sich entschieden gegen eine zu moderne Interpretation der Impetustheorie aus. Buridan hat ihrer Meinung nach den Satz von der Erhaltung des Impetus nur für die supralunare Sphäre behauptet, diese von der sublunaren Sphäre aber scharf unterschieden und für diese das — mit Erhaltungssätzen unvereinbare — Bradwardine-Gesetz (s. o. S. 123f. Anm. 3) verwendet (vgl. A. Maier, Zwischen Philosophie und Mechanik, Rom 1958, S. 371 ff., ferner dies., Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, Rom 1949. S. 354ff.). Vor allem sind natürlich Autoren untersucht worden, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts publizierten, etwa Benedettis „Diversarum speculationum mathematicarum et physicarum Über" (erschienen Turin 1585), in dem A. Maier erste Spuren des Trägheitssatzes entdeckt (vgl. A. Maier, Die Impetuslehre der Scholastik, Wien 1940, S. 166f.; so auch W. Strombach, Der Kraftbegriff (von der Antike bis Newton), in: Philosophia Naturalis 8, 1964, S. 3 0 7 - 3 4 7 , bes. S. 329).
Konstruktion und Prüfung von Theorien
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Kugelfläche vorzustellen hat (d. h. eine Fläche, deren sämtliche Punkte vom Erdmittelpunkt — dem Gravitationszentrum — gleich weit entfernt sind). Die Wirkung der Gravitation — für Galilei die natürliche Tendenz aller Körper, zum Erdmittelpunkt zu gelangen — ist damit neutralisiert; der Bewegungszustand eines auf dieser Fläche ohne Reibung beweglichen Körpers (Ruhe oder gleichförmige zirkuläre Bewegung längs der Kugeloberfläche) würde sich daher nach Galileis Meinung ohne Einwirkung weiterer Kräfte unendlich lange erhalten19. Zweifellos enthält diese Vorstellung bedeutsame Ansätze: Trägheitsbewegung wird im sublunaren Bereich für möglich erklärt, Ruhe und gleichförmige Bewegung sind äquivalente Zustände, die Einwirkung von Kräften soll aufgehoben werden. Dennoch handelt es sich offenbar noch nicht um eine Inertialbewegung im eigentlichen Sinne, d. h. um eine gänzlich kräftefreie Bewegung; für ihre Zirkularität scheint weiterhin die Gravitation verantwortlich zu sein. Es gibt aber auch Stellen, aus denen hervorgeht, daß Galilei auch gravitationsfreie Inertialbewegung für zirkulär gehalten hat. So behauptet er, daß die Fallbewegung eines vom Mast eints fahrenden Schiffes fallenden Steines aus der senkrecht gerichteten Gravitationsbewegung und der zirkulären Horizontalbewegung (ausgelöst durch den Impuls des Schiffes) zusammengesetzt werden müsse 20 . Ebenso würde ein Beobachter außerhalb der Erde einen von einem Turm senkrecht herabfallenden Stein sich auf einer Kreisbahn bewegen sehen, weil der Stein abgesehen von der Gravitationsbewegung einen zirkulären Bewegungsimpuls von der rotierenden Erde erhält. Die geometrische Konstruktion, die Galilei zum zweiten Beispiel angibt, zeigt, daß die behauptete Kreisbahn des Steines sich in der 19
Vgl. Le Opere di Galileo Galilei. Ristampa della Edizione Nazionale (20 Bd.) Florenz 1929—1939, VII S. 52f. (Dialogo 1. Tag): si che nel piano orizontale qual si sia velocitä non s'acquisterä naturalmente mai, awenga che il mobile giä mai non vi si muoverä. Μ a il m o t o p e r la l i n e a o r i z o n t a l e , c h e n o n e d e c l i v e n e e l e v a t a , e m o t o c i r c o l a r e i n t o r n o al c e n t r o : adunque il m o t o c i r c o l a r e non s'acquisterä mai naturalmente senza il moto retto precedente, acquistato che e' si sia, si c o n t i n u e r ä e g l i p e r p e t u a m e n t e c o n v e l o c i t ä u n i f o r m e . Ebenso O p . a . a . O . VIII S. 215 (Due N u o v e Scienze 3. Tag): . . . finalmente esser del tutto estinato nella orizontale C A , dove il mobile si trova indifferente al moto e alia quiete, e non ha per se stesso inclinazione di muoversi verso alcuna parte, ne meno alcuna resistenza all' esser mosso . . . onde sopra l'orizontale, che qui s'intende per una superficie equalmente lontana dal medesimo centro, e perciö affato priva d'inclinatione, nullo sara l'impeto ο momento di detto mobile.
20
Opere a. a. Ο . VII S. 174f. (Dialogo 2. T a g ) : Ε quella pietra ch'e su la cima dell'albero non si muov'ella, portata dalla nave, essa ancora per la circonferenza d'un cerchio intorno al centro, e per consequenza d'un moto indebile in lei, rimorsi gli impedimenti esterni? . . . e perche la causa motrice non e una sola, . . . ma son due tra loro distinte, delle quali la gravitä attende solo a tirare il mobile al centro, e la virtu impressa a condurlo intorno al centro, non resta occasione alcuna d'impedimento.
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Gassendis physikalische Methode
Tat nur unter Voraussetzung einer zirkulären Inertialbewegung ergibt 21 . Galilei selbst zeigt ja an anderer Stelle, daß die Bahn bei geradliniger Inertialbewegung parabolisch sein würde. Schließlich wird auch den Planeten eine kreisförmige, gleichförmige und unendliche Bewegung zugeschrieben, wobei allerdings fraglich bleibt, ob Galilei sie als kräftefrei angesehen hat 2 2 . Aber auch wenn vorerst nicht geklärt werden kann, ob Galilei sich die Inertialbewegung gravitationsfrei vorgestellt hat oder nicht, 21
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Opere a. a. Ο . VII S. 191 (Dialogo 2. Tag): . . . dico ora che assai probabilemente si puo credere che una pietra, cadendo della sommita delta torre C , venga movendosi del moto composito del commune circolare e del suo proprio retto. Galilei gibt dazu das nebenstehende Diagramm an, wobei BI die Erdoberfläche, C H die zirkuläre Inertialbewegung des von C aus fallenden Steines und die Linien nach Α (Erdmittelpunkt) hin die vertikale
nicht geometrisch konstruiert (nach Galileis Anweisung wird mit dem Halbkreis C I A begonnen), aber klar ist, daß die horizontale Komponente C H ein Kreisbogen und keine gerade Linie ist, andererseits aber frei ist von der Gravitationskomponente. Denn durch die Zerlegung der Bewegungskomponenten von CI in die Komponente C H einerseits und die Komponenten A C bis AI andererseits (die jeweilige Gravitationskomponente) wird die Gravitationskomponente vollständig aus C H herausgenommen. Opere a. a. Ο . VII S. 43 (Dialogo 1. Tag): . . . se i corpi integrali del mondo devono esser di lor natura mobili, e impossibile che i movimenti loro siano retti, ο altri che circol a r i . . . In oltre, essendo il moto retto di sua natura infinito, perche infinita e indeterminata e la linea retta, e impossibile che mobile alcuno abbia da natura principio di muoversi per linea retta. Ebenso ibid. S. 56: (il moto circolare) essendo un movimento che fa che il mobile sempre arriva al termine, puo, primieramente, esso solo uniforme . . . Da questa uniformitä e dall'esser terminato ne puo sequire la continuazione perpetua, col reiterar sempre le circolazioni, la quale in una linea interminata ed in un moto continuamente ritardato ο accelerato non si puo naturalmente ritrovare: e dico „naturalmente", perche il moto retto che si ritarda, e il vilento, che non puo esser perpetuo . . . Concludo per tanto, il solo movimento circolare poter naturalmente convenire a i corpori naturali
Konstruktion und Prüfung von Theorien
insgesamt
scheinen seine Behauptungen
Inertialbewegung auszuschließen.
die Möglichkeit
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geradliniger
Denn der zirkuläre Trägheitsbegriff
wird nicht nur in bestimmten Bewegungsanalysen benutzt, sondern Galilei erklärt auch ausdrücklich, daß die natürliche Bewegung von Körpern nicht geradlinig sein kann, weil geradlinige Bewegung nicht unendlich sein könnte, ohne die natürliche Ordnung des Kosmos zu zerstören. Daraus folgt, daß nach Galileis Auffassung kein Körper von sich aus die Tendenz zur unbegrenzten Erhaltung geradlinig-gleichförmiger Bewegung hat, d. h. daß kein Körper „träge" ist im Newton'schen Sinne 23 . Freilich spricht Galilei zuweilen auch von geradliniger Trägheitsbewegung, und zwar immer dann, wenn er die (in seinen Augen gewaltsame) Projektilbewegung behandelt. Ihre parabolische Bahn kann in der Tat mathematisch offenbar nur dann konstruiert werden, wenn die horizontale Bewegungskomponente als geradlinig gleichförmig und die vertikale Bewegungskomponente als senkrecht zur horizontalen gerichtet und gleichförmig beschleunigt angesehen wird; in jedem anderen Fall ist die resultierende Kurve keine Parabel 24 . Dabei ist zu beachten, daß in diesem Fall
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24
integranti l'universo e costituto nell'ottima disposizione. Diese Stellen sind deshalb wichtig, weil sie zeigen, daß Galileis Trägheitsbegriff in allgemeine Vorstellungen von kosmischer Ordnung eingebettet ist. Im dritten Band seiner £tudes Galieennes hat Koyre den Trägheitsbegriff bei Galilei eingehend untersucht und neben der Interpretation der angegebenen Stellen Galileis allgemeine Einstellung vor allem zur Astronomie herangezogen. Aufgrund seines kopernikanischen Weltbildes konnte seiner Meinung nach Galilei einzig einen zirkulären Trägheitsbegriff konzipieren: „Le probleme central qui preoccupe Galilee ä Pisa est celui de la persistance du mouvement. Or, il est clair que lorsqu'il etudie la cas du monde ainsi que celui d'une sphere placee au centre du monde, ainsi que celui d'une sphere placee en dehors de ce centre, il a en vue la situation creee par la doctrine copernicienne; la sphere marmoreenne dont il analyse les mouvements represente, sans nul doute, la terre; et ses mouvements sont ceux de la terre. Mais le resultat, auquel . . . aboutil l'analyse galileenne, c'est la persistance naturelle ou, plus exactement, la situation privilegiee du mouvement circulaire" (A. Koyre, Galilee et la loi d'inertie, Paris 1939, S. 195f.). Ähnlich weist neuerdings auch R. S. Westfall darauf hin, in wie vielen Punkten Galilei noch dem traditionellen Weltbild verhaftet bleibt. So hat er ζ. B. niemals die Lehre von der natürlichen Inklination aller Körper zum Erdmittelpunkt aufgegeben; dadurch war er nicht imstande, die gleichförmig beschleunigte Bewegung im freien Fall physikalisch richtig zu deuten, d. h. als Resultat der Wirkungen von Trägheit und konstant einwirkender Schwerkraft zu erkennen (R. S. Westfall, Galileo and the New Science of Mechanics, in: Force in Newton's Physics, a. a. Ο . S. 1—55). Westfall scheint mir freilich zu weit zu gehen, wenn er behauptet, erst Huygens habe den Trägheitssatz zum erstenmal klar formuliert; bei Galilei und Descartes lägen noch Impetusbegriffe zugrunde (vgl. R . S. Westfall, Circular Motion in Seventeenth Century Mechanics, in: Isis 63, 1972, S. 184—189). Vgl. Opere a. a. Ο . VII S. 218: Secondo me il moto concepito nell' uscir della cocca non puo esser se non per linea retta; anzi pur e negli necessariamente per linea retta, intendendo del puro impeto awentizio. Mi dava un poco di fastidio il vedergli descriver
132
Gassendis physikalische Methode
die geradlinig gleichförmige Trägheitsbewegung gravitationsfrei, also im e c h t e n S i n n e „ i n e r t i a l " ist. Es bleibt jedoch äußerst fraglich, o b man in diesen Ä u ß e r u n g e n den N e w t o n ' s c h e n Trägheitssatz f o r m u l i e r t sehen und den
zirkulären
Trägheitsbegriff
durch
den
Hinweis
weginterpretieren
k a n n , d a ß Galilei e n t w e d e r nicht-gravitationsfreie Bewegung, also keine Inertialbewegung
im A u g e hat (Stellen der ersten G r u p p e ) o d e r rein
m a t h e m a t i s c h e K o n s t r u k t i o n e n v o r b r i n g t , die mit physikalischen A u s s a g e n nichts z u tun h a b e n (Stellen der z w e i t e n G r u p p e ) , oder schließlich n u r c o p e r n i c a n i s c h e antiaristotelische Propaganda treibt (Stellen der dritten G r u p p e ) 2 5 . D e n n die K o n z e p t i o n des genannten
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Gedankenexperiments
un arco; ma perche tal arco piega sempre all'ingiü, e non verso altra parte, comprendo che quel declinare vien dalla gravitä della pietra, che naturalmente la tira basso. L'impeto impresso dico senz'altro ch'e per linea retta (Dialogo 2. Tag). Ebenso ibid. S. 220: . . . il moto circolare del prociente imprime nel proietto impeto di muoversi per la retta tangente il cherchio del moto nel punto della separazione, e, continuando per essa il moto, vien sempre allontanadosi dal proiciente; ed avete detto che per tal linea retta continuerebbe il proietto di muoversi, quando del proprio peso non gli fusse aggiunta inclinatione all'in giu, dalla quale deriva l'incurvazione della linea del moto. Schließlich ibid. S. 225: . . . ed ad essa sia ad angoli retti la orizontale A 6 , sopra la quale si farebbe il moto della proiezione e vi continuerebbe d'andare il proietto con movimento equabile, quando la gravitä non lo inclinasse a basso. Vgl. ferner ibid. VII S. 201, 174. Diese Auffassung verteidigen die neuesten Arbeiten zum Trägheitsproblem bei Galilei, vgl. J. A. Coffa, Galileo's Concept of Inertia, in: Physis 10, 1968, S. 261—281, vor allem aber die letzten Untersuchungen von Stillman Drake: Galileo and the Law of Inertia, in: American Journal of Physics 32, 1964, S. 601 —608 (dazu J. Losee, Drake, Galileo and the Law of Inertia, ibid. 34, 1966, S. 430—432), ferner ders. Galileo Gleanings XVI: Semicircular Fall in the „Dialogue", in: Physis 10, 1968, S. 89-100 (detaillierte Analyse der Stelle Opere VII S. 190—193 (vgl. oben Anm. 21), die für Drake entscheidend ist); Galileo Gleanings XVII: The question of circular inertia, in: Physis 10, 1968, S. 282—298; Galileo on „circular inertia", in: Actes XII Congres Int. Hist. Scienc. 1968 (publ. 1971) 4, S. 5 3 - 5 5 ; Galileo Studies, Ann Arbor 1970, Kap. 12, S. 240-256 (Galileo and the Concept of Inertia), Kap. 13, S. 257—278 (The Case against „Circular Inertia"); Galileo's experimental confirmation of horizontal inertia, in: Isis 64, 1973. Coffa bietet eine gute Übersicht über die Hauptstellen, während Drake sich hauptsächlich mit den Stellen der zweiten Gruppe beschäftigt. Gerade im Verständnis dieser kritischen Passagen unterscheiden sich Drake und Coffa: während Drake sie als rein mathematische Spekulationen auffaßt, sieht Coffa hier eine fehlerhafte physikalische Argumentation Galileis, die freilich die geradlinie Trägheitsbewegung als Ausgangspunkt nimmt und sie dann fälschlich auf den Fall der Kugelfläche überträgt. Diese Übertragung ist freilich eine am Text nicht belegbare Rekonstruktion. Aber auch bezüglich der Planetenbahnen geraten beide Autoren in Schwierigkeiten: Drakes Propagandathese stellt Coffa ebenso wenig überzeugend die Behauptung entgegen, daß Galilei hier einfach gängige Überzeugungen übernimmt und keine eigenen physikalischen Erwägungen anstellt; seiner terrestrischen Physik solle mehr Gewicht beigemessen werden. Das kommt der Aufforderung gleich, die Stellen, die für Coffa problematisch sind, einfach zu ignorieren. Es ist auch daran zu erinnern, daß Galilei seine Auffassung in den Discorsi in einer Weise wiederholt, die weder auf Propaganda noch auf gleichgültige Übernahme hinweist (Opere a. a. O.
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zeigt im Gegenteil Galileis Unvermögen, eine geradlinig unendliche Inertialbewegung ins Auge zu fassen; die Konstruktion der kreisförmigen Fallbewegung verwendet Mathematik nicht anders als die der parabolischen; und der propagandistische Charakter der Bemerkungen zur natürlichen Bewegung bleibt reine Vermutung. Vor allem aber: ein bisher, soweit ich sehe, wenig beachteter Abschnitt aus den „Discorsi" beweist, daß der angebliche Widerspruch zwischen zirkulärem und geradlinigem Trägheitsprinzip definitiv zum Verschwinden gebracht werden kann. Nach Abschluß des Beweises, daß die Bahn von Projektilbewegungen eine Halbparabel beschreibt (Anfang des vierten Tages), wiederholt Sagredo die Voraussetzungen des Beweises: die Annahme der Erhaltung (geradliniger) gleichförmiger Transversalbewegung und gleichförmig beschleunigter Fallbewegung und deren störungsfreie Uberlagerung. Der Aristoteliker Simplicio wendet anschließend jedoch ein, daß die horizontale Bewegung auf einer mathematisch planen Ebene (d. h. längs einer Geraden) nicht gleichförmig sein könne, weil ihre Punkte nicht sämtlich gleich weit vom Erdmittelpunkt entfernt sind. In seiner Erwiderung bezeichnet Salviati die Annahme der Geradlinigkeit der horizontalen Bewegung unzweideutig als Approximation, die deshalb erlaubt sei, weil ihre Länge im Verhältnis zum Erdumfang so klein ist, daß ihre Krümmung vernachlässigt werden darf 26 .
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VIII S. 283f.). A. Gabbey (Force and Inertia in Seventeenth Century Dynamics, in: Studies in History and Philosophy of Science 2, 1971/72, S. 1—67) geht auf diese Interpretationen nicht ein und schreibt Galilei den zirkulären Trägheitsbegriff zu. Vgl. schließlich die noch immer lesenswerte Studie von P. Tannery, Galileo and the principles of Dynamics, in: Galileo, Man of Science, ed. E. Mc Mullin, New York (London 1967, S. 163-177 (urspr. publ. 1901)). Opere a. a. Ο. VIII S. 274f. (Discorsi 4. Tag): Simp. Ιο a queste difficoltä ne aggiungo dell'altre: una delle quali e, che noi supponghiamo che il piano orizontale, il quale non sia ne acclive ne declive, sia una linea retta, quasi che una simil linea sia in tutte le sue parti egualmente distante dal centro, il che non e vero; perche partendosi dal suo mezo, va verso le estremita sempre piü e piü allontanandosi dal centro, e perö ascendendo sempre; il che si tira in conseguenza, essere impossibile che il moto si perpetui, anzi che ne pur per qualdre spazio si mantenga equabile, ma ben sempre vadia languendo . . . Salv. Tutte le promosse difficoltä e instanze son tanto ben fondate, che stimo essere impossibile il rimuoverte . . . la qual licenza (sc. die Annahme gerader Linien bei Waagebalken durch Archimedes, bei Horizontalbewegung durch Salviati) viene da alcuni scusata, perche nelle nostre pratiche gli strumenti nostri e le distanze le quali vengono da noi adoperate, son cosi piccole in comparazione della nostra gran lontananza del centro del globo terrestre, che ben possiamo prendere un minuto di un grado del cerchio massimo come se fusse una linea retta . . . Vgl. auch kurz darauf, ibid. S. 278 Salv. Possiam per tanto anco in questo secondo caso concludere, che le fallacie nelle conclusioni le quali astraendo da gli accidenti esterni si dimostreramo, siano ne gli artifizii nostri di piccola consideratione, rispetto . . . alle distanze, che non sono se non piccolissime in relazione alia grandezza del semidiametro e de i cerchi massimi del globo terrestre. Die Behandlung dieser Stelle durch Coffa
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Gassendis physikalische Methode
Die Bahn von Projektilen wird daher nicht exakt, wohl aber stark angenähert parabolisch sein. Daraus geht eindeutig hervor, daß nach Galileis Meinung die horizontale inertiale Bewegungskomponente der Projektilbewegung physikalisch gesehen zirkulär ist und nur zwecks Vereinfachung ihrer mathematischen Beschreibung und aufgrund ihrer geringen Distanz als Gerade aufgefaßt werden sollte. Daraus folgt, daß Galilei konsistent den zirkulären Trägheitsbegriff verwendet. Die erste korrekte Fassung des Trägheitssatzes, die die Möglichkeit zirkulärer Inertialbewegung ausschließt, pflegt Descartes zugeschrieben zu werden 2 7 . Früher noch als Gassendi hatte Descartes Beeckman kennengelernt und von ihm erste Anregungen zum Trägheitsproblem erhalten 28 . (a. a. O . S. 269) ist unzureichend, denn er betrachtet dieses Beispiel als einen Fall nicht kräftefreier Bewegung, während bei Galilei durch die Differenzierung der beiden Bewegungskomponenten die Horizontalbewegung zweifellos als gravitationsfrei angenommen wird. Drake äußert sich, soweit ich sehe, nirgends explizit zu dieser Stelle. Sogar Koyre räumt zu viel ein, wenn er resümiert: „ O n le voit: dans le monde archimedien des .Discours', le plan horizontal sur lequel le mouvement uniforme se poursuit eternellement n'est plus une surface spherique; c'est un plan geometrique infini . . . Nous sommes, nous l'avons dit, au seuil du principe d'inertie" (Galilee et la loi d'inertie, a. a. O . S. 264). Denn dies ist offenbar eine rein mathematische Annahme bei Galilei; und es ist nicht nur, wie Koyre anschließend behauptet, die Gravitation, die nach Galileis Meinung in jedem konkreten Falle das Projektil von seiner Bahn ablenkt, sondern auch abgesehen von der Schwerkraft bleibt die Horizontalbewegung zirkulär. 27
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Princ. Phil. Pars sec. Art. X X X V I I , X X X I X (CEuvres ed. Adam/Tannery Bd. 8 (i), S. 6 2 f . ) : Prima lex naturae: quod unaquaeque res, quantum in se est, semper in eodem statu perseveret, sicque quod semel movetur, semper moveri pergat. — Altera lex naturae: quod omnis motus ex se ipso sit rectus, et ideo quae circulariter moventur, tendere semper ut recedant a centro circuli quem describunt. Die Kräftefreiheit wird verschlüsselt durch den Ausdruck „Quantum in se est" bezeichnet. Vgl. dazu I. B. Cohen, Quantum in se est. Newton's Concept of Inertia in Relation to Descartes and Lucretius, in: Notes and Records of the Royal Society of London 19, 1964, S. 131 — 155. Die Ähnlichkeit mit der Newton'schen Formulierung ist dennoch groß („Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus a viribus impressis cogitur statum illum mutare (Princ. Math. (1. Ed.) S. 12)). Descartes' „Principia" erschienen 1644, aber bereits „Le monde", verfaßt 1633, publiziert posthum 1664, enthält den Trägheitssatz (CEuvres a. a. O . Bd. 9, S. 84f.). Vgl. dazu noch A. Koyre, Newtonian Studies, S. 69 - 79. In seinen Cogitationes Privatae (einer Art wissenschaftlichem Tagebuch) schreibt Descartes bereits 1619: Contigit mihi ante paucos dies familiaritate uti ingeniosissimi viri (gemeint ist Beeckman), qui talem mihi quaestionem proposuit: Lapis, aiebat, descendit ab Α ad Β una hora; attrahitur autem a terra perpetua eadem vi, nec quid deperdit ab illa celeritate quae illi impressa est priori attractione. Quod enim in vacuo movetur, semper moveri existimabat (CEuvres a. a. O . Bd. 10, S. 219). Diese Stelle zeigt, daß Beeckman den Trägheitssatz schon für die physikalische Erklärung der Fallbeschleunigung benutzte. Später berichtet Descartes in einem Brief vom 18. 12. 1629 an Mersenne über Beeckman: Supponit, ut ego, id quod semel moveri coepit, pergere sua sponte, nisi ab aliqua vi externa impediatur, ac proinde in vacuo semper moveri, in aere vero ab aeris resistentia
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Entschiedener als Galilei vermochte er sich von den Resten des traditionellen Weltbildes zu befreien: die ausdrückliche Aufgabe der Unterscheidung von gewaltsamer und natürlicher Bewegung etwa bildete ohne Zweifel eine wichtige Voraussetzung für die Formulierung des rectilinearen Trägheitsbegriffs 29 . Geradlinige Bewegung war deshalb für Descartes einfacher als zirkuläre Bewegung, und sein Trägheitssatz führte ihn zu einer neuen und wichtigen Fragestellung: zur Aufgabe, die Ursachen der Änderung geradlinig-gleichförmiger Bewegung zu untersuchen 30 . Andererseits sind Unterschiede zwischen Descartes und Newton unübersehbar: während Newton die Zustände von Ruhe und geradlinig-gleichförmiger Bewegung als äquivalent ansieht, vergleicht Descartes als Zustände zunächst Ruhe und Bewegung (1. Gesetz) und qualifiziert erst dann die Bewegung als geradlinig-gleichförmig (2. Gesetz). Bewegung erhält sich primär im Gegensatz zur Ruhe, nicht zu anderen (ζ. B. beschleunigten) Bewegungen 3 1 . Der Trägheitssatz fungiert deshalb bei Descartes nicht wie bei Newton gleichsam als Norm, hinsichtlich welcher Kräfte als Ursachen der Abweichung von dieser Norm eingeführt und berechnet werden können, sondern dient als Voraussetzung der Beschreibung und Messung der beim Stoß wirkenden Bewegungs- und Widerstandskräfte, also des
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paulatim impediri (CEuvres a. a. O. Bd. 1, S. 91). Spätestens zu dieser Zeit hat sich also Descartes der Meinung von Beeckman angeschlossen; im Gegensatz zu später spricht er hier allerdings noch wie Beeckman unbefangen von Kraft und leerem Raum. Vgl. ζ. B. den Brief an Mersenne vom 11. 3. 1640: „Je ne mets aucune difference entre le mouvement violens et les naturels; car qu'importe, si une pierre est poussee par un homme, ou bien par la Matiere subtile?" (CEuvres a. a. O. Bd. 3, S. 39). Dazu Westfall, Force in Newton's Physics, a. a. Ο. S. 58. In der Formulierung der „Prinzipien" wird die Geradlinigkeit bekanntlich nicht explizit erwähnt (s. o. Anm. 27), ebensowenig wie in der französischen Fassung von „Le Monde" (Traite de la lumiere, CEuvres a. a. O. Bd. 9, S. 84f.). Aber zweifellos hatte Descartes die geradlinige Trägheitsbewegung im Auge; so schreibt er am 18. 2. 1643 an Constantin Huygens: „Sur quoy je considere que la nature du mouvement est telle que, lors qu'un cors a commence a se mouvoir, cela suffit ä ce qu'il continue toujours apres avec mesme vitesse et en mesme ligne droite, jusque ä ce qu'il soit arreste ou detourne par quelqu' autre cause" (CEuvres a. a. O. Bd. 3, S. 619). Vgl. ferner Princ. Art. XLIV. In „Le Monde" heißt es ζ. B.: Car, ayant suppose la precedente, nous sommes exempts de la peine ou se trouvent les Doctes, quand ils veulent rendre raison de ce qu'une pierre continue de se mouvoir quelque temps apres etre hors de la main de celuy qui l'a jettee: car on nous doit plutost demander, pourquoy elle ne continue pas toujours de se mouvoir? (CEuvres a. a. O. Bd. 11, S. 41). Diesen Standpunkt läßt ζ. Β. die Argumentation deutlich werden, mit der Descartes den Trägheitssatz in der zweiten Hälfte von Artikel XXXVII (Princ. Phil. Pars See.) begründet: Bewegung erhält sich deshalb, weil Ruhe der Gegensatz zur Bewegung ist und nichts von sich aus zur Überführung in seinen eigenen Gegensatz und damit zu seiner eigenen Zerstörung beiträgt: quies motui est contraria, nihilque ad suum contrarium, sive ad destruetionem sui ipsius ex propria natura ferri potest (CEuvres a. a. O. Bd. 8 (i), S. 62).
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Zustands der Bewegungen stoßender Körper. Descartes analysiert mit Hilfe des Trägheitssatzes zustandserhaltene, Newton zustandsverändernde Kräfte 3 2 . Gassendis erste Arbeit, die das Problem der Trägheitsbewegung berührt, der erste der drei Briefe De Motu Impresso a Motore Translato33, läßt den Einfluß von Galilei und Beeckman deutlich erkennen. Die erste Formulierung eines Trägheitssatzes ist eingebettet in die beiden Gedankenexperimente, die Galilei zum zirkulären Trägheitsbegriff geführt haben: den Fall eines Steines vom Mast eines fahrenden Schiffes und die reibungslose Bewegung einer Kugel auf einer Kugeloberfläche, deren Mittelpunkt das Gravitationszentrum der Erde ist 34 . Wie Galilei spricht Gassendi daher von der unendlichen Dauer der „horizontalen" Bewegung für den Fall, 32
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Vgl. ζ. B. Art. XLIII des zweiten Teils der „Principia" (CEuvres a. a. O. Bd. 8 (i), S. 66), wo klar wird, daß Descartes die Art der Wechselwirkung zwischen Körpern, ζ. B. den Impulserhaltungssatz, auf den Trägheitssatz zurückführt: Hic vero diligenter advertendum est, in quo constat vis cuiusque corporis ad agendum in aliud, vel actioni alterius resistendum: nempe in hoc uno, quod unaquaeque res tendat, quantum in se est, ad permanendum in eodem statu in quo est, juxto legem primo loco positam. Vgl. dazu die Analyse bei A. Gabbey, Force and Inertia in Seventeenth Century Dynamics, in: Studies in History and Philosophy of Science 2, 1971/72, S. 1—67. Die Tatsache dagegen, daß Descartes, im Gegensatz zu Newton, seine drei leges naturae metaphysisch begründet, indem er die Erhaltungssätze auf Gottes Unveränderlichkeit zurückführt, ist für eine Beurteilung ihrer Stellung innerhalb der Wissenschaftsgeschichte irrelevant. Die Formulierung von Gesetzen mag außerwissenschaftliche Motive haben; wichtig ist nur, ob sie empirische Konsequenzen haben. Anders R. J. Blackwell, Descartes' Laws of Motion, in: Isis 57, 1966, S. 220—234, der gerade in diesem Punkt den wichtigsten Unterschied zwischen Descartes und Newton sieht, dabei aber von einer m. E. verfehlten Unterscheidung zwischen „deskriptiver" und „theoretischer Bedeutung" eines Gesetzes ausgeht (ibid. S. 221), d. h. zwischen gesetzesmäßiger Beschreibung und kausaler Begründung eines physikalischen Zustands, wobei Descartes nur die korrekte Beschreibung zugestanden wird. Fundamentale Grundgesetze wie der Trägheitssatz sind jedoch nicht wissenschaftlich begründbar (d. h. von anderen Gesetzen deduzierbar); vielmehr ist es sogar naheliegend, ihre Einführung „metaphysisch" zu motivieren. Newton „begründet" auch nicht, wie Blackwell behauptet, den Trägheitssatz durch den Hinweis auf die Masseneigenschaft, sondern sein erstes Gesetz definiert die Masse als träge im cartesischen Sinne: Newton begründet nicht physikalisch, sondern verzichtet auf jede explizite Begründung. Der Unterschied zu Descartes ist allenfalls ein methodologischer: Newton verzichtet auf den Versuch, seine Gesetze durch metaphysische Begründung fcu sichern, wie es Descartes unternimmt, und verläßt sich statt dessen allein auf ihre empirische Prüfung. Abfassung 1640 (zwei Jahre nach Erscheinen der „Discorsi" in Leyden), Publikation Paris 1642 (zwei Jahre vor der Veröffendichung von Descartes' „Principia"), Adressat Pierre du Puy. Am 1. 6. 1641 schreibt Gassendi an Ludwig von Valois, daß zwei Briefe De Motu veröffentlicht wurden (VI 109 a). Vgl. III 481b 2ff., 489a 2f. Das erste dieser Experimente hatte Gassendi 1640 auf einer gemieteten Galeere vor Marseille realisiert. Der erste Brief De Motu ist seinem Inhalt nach Bericht und physikalische Interpretation dieses Versuches.
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daß keine Ursachen vorhanden sind, die die Bewegung verändern35, und wie Galilei bezeichnet er die horizontale Bewegungskomponente beim Steinfall auf dem Schiff explizit als kreisförmig 36 . Zur Begründung wird angeführt, daß der Stein ein Teil des Schiffes gewesen sei und daher dessen — kreisförmige — Bewegung nachahme. Offenbar führt Gassendi an dieser Stelle ad hoc den allgemeinen Satz ein, daß jeder bewegende Gegenstand seinem Projektil nicht nur einen Impuls, sondern auch die ihm selbst zukommende Bewegungsbahn übermittelt — ein Satz, der beispielsweise auch für geradlinige Geschoßbahnen (bei Gravitationsfreiheit) zu gelten scheint, aber leicht durch andere Beobachtungen (etwa durch das Verhalten zunächst im Kreis geschwungener Projektile) falsifiziert werden könnte. Die ebenfalls an Galilei sich anschließende Konstruktion der parabolischen Projektilbahn setzt andererseits die Geradlinigkeit der horizontalen Bewegungskomponente implizit voraus 37 ; im Zuge der Analyse eines dem Schiffsexperiment physikalisch gleichwertigen Versuchs (Ballwurf auf fahrendem Wagen) kennzeichnet Gassendi sogar ausdrücklich beide Bewegungskomponenten, aus denen die parabolische Projektilbahn zusammengesetzt ist, also die Gravitationsbewegung ebenso wie die Horizontalbewegung, als geradlinig38. Angesichts dieser Bemerkungen stellt sich auch für Gassendi die Frage, ob die gravitationsfreie Inertialbewegung als geradlinig zu gelten hat, zumal da die Texte nicht so eindeutig für das Gegenteil zu sprechen scheinen wie bei Galilei. Wenige Seiten später diskutiert Gassendi im selben Brief das Trägheitsproblem erneut, allerdings in anderem Zusammenhang. Thema ist jetzt die Gravitationstheorie und speziell die Hypothese, daß die Schwerkraft der Entfernung umgekehrt proportional ist. Diese mittels Analogie zum Magnetismus erschlossene Behauptung ist ihrerseits aus der atomistischen 35
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Ex quo par est existimare motum horizontalem, a quacumque causa is fiat, ex sua natura perpetuum fore, nisi causa aliqua intervenerit, quae mobile abducat motumque exturbat (III 489a 2). Der Satz ist, so wie er dasteht, tautologisch; die Gegenüberstellung von „ex sua natura" und „causa aliqua" deutet allerdings darauf hin, daß genauer causae externae gemeint sind. Id vero patet, quia cum proiectum pars fuerit aliqua totius, quod secundum horizontem, seu circulariter movebatur (sc. das Schiff), ideo ad eius imitationem movetur circulariter, ac naturaliter proinde et prorsus aequabiliter (III 489 a 2). Vgl. III 483 b 2ff. Causa vero cur motus pilae a rectudine deflectatur et curvam sequatur describatve lineam, illius compositio est, quatenus ex duplici vi motrici originem habet. Nam si pila non proiecta sursum detinere solum in manu, promoveretur solum antrorsum, videlicet ad motum currus, ac lineam rectam describeret (Horizontalbewegung); si vero quiescente curru proiiceretur directe sursum, tunc non nisi sursum deorsumque moveretur ac rectam rursus describeret (Vertikalbewegung), (III 481a 1).
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Gassendis physikalische Methode
Gravitationstheorie herleitbar, nach welcher die Erde strahlenförmig Gravitationsteilchen aussendet, die sich mit wachsender Entfernung immer stärker auseinanderfächern 39 . Von diesem Standpunkt aus lassen sich leicht Körper vorstellen, die weder vom Gravitationsfeld der Erde noch von irgendeinem anderen Gravitationsfeld erfaßt werden, die also den Bedingungen des Beeckmanschen Gedankenexperiments vom Stein im leeren Raum genügen. Um jede Gravitationswirkung auszuschließen, verschärft Gassendi es zu der Vorstellung, Gott überführe abgesehen von dem Stein das gesamte übrige Weltall für eine gewisse Zeit ins Nichts; die Untersuchung des Verhaltens des Steins für diesen Fall vollkommener Kräftefreiheit führt Gassendi unmittelbar zu einer weiteren, in zwei Teilsätze aufgespaltenen Formulierung des Trägheitssatzes, die zum ersten Mal die Gleichwertigkeit der Zustände von Ruhe und Bewegung für kräftefreie Körper explizit zum Ausdruck bringt: Ein in Ruhe befindlicher kräftefreier Körper bleibt in Ruhe, und ein durch einen einmaligen Kraftstoß in Bewegung gesetzter, dann aber kräftefreier Körper bewegt sich gleichförmig und unaufhörlich weiter 40 . Daß diese Inertialbewegung geradlinig
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Ab Kap. XI (III 489b 2 ff.) wird die Gravitation diskutiert, vor allem mit dem Ziel, die Schwerkraft als äußere Ursache darzustellen: Et principium quidem externum motus sursum constat esse manum aliudve corpus proiiciens; at cum principium externum motus deorsum non perinde appareat, ideone nullum est dicendum? Non sane . . . (III 489b 2). Die genannte spezielle Hypothese wird III 494b besprochen. Zu den entsprechenden Hypothesen bei Gilbert und Kepler vgl. F. Krafft: Sphaera activitatis — orbis virtutis. Das Entstehen der Vorstellung von Zentralkräften, in: Sudhoffs Archiv 54, 1970, S. 113 — 140. Concipe certe lapidem in spatiis illis imaginariis, quae sunt protensa ultra hunc mundum et in quibus posset Deus alios mundos condere; an censeas ipsum illico, ubi constiturus fuerit, versus hanc Terram convolaturum, et non potius, ubi fuerit semel positus, imraotum mansurum, ut puta quasi non habentem neque sursum, neque deorsum, quo tendere aut unde recedere valeat? Si censeas fore, ut hue feratur, imaginare non modo terram, verum etiam totum mundum esse in nihilum redactum . . . tunc saltern, quia centrum non erit spatiaque omnia erunt similia, censebis lapidem . . . in loco illo fixum permansurum (III 494 b) . . . Quaeres obiter, quidnam eveniret illi lapidi, quem assumpsi concipi posse in spatiis illis inanibus, si a quiete exturbatus aliqua vi impelleretur? Respondeo probabile esse, fore, ut aequabiliter indesinenterque moveretur, et lente quidem celeriterve, prout semel parvus aut magnus impressus foret impetus (III 495b 1). Zur Vorgeschichte dieses Gedankenexperimentes gehört Keplers Überlegung zur Kräftefreiheit, besser zum Kräftegleichgewicht eines Steines zwischen Mond und Erde an der Stelle ihrer Verbindungslinie, die von beiden Körpern umgekehrt proportional zu ihren „Massen" (Gewichten) entfernt ist (vgl. J . Kepler, Somnium 7 7 , Note 77). Dazu vgl. die Arbeit von F. Krafft: Johannes Keplers Beitrag zur Himmelsphysik, in: F. Krafft, K . M e y e r , B. Sticker (Hrg.): Internationales Kepler-Symposion. Weil der Stadt 1971. Referate und Diskussionen, S. 55 — 139, bes. S. 94f. Diese Arbeit informiert darüber hinaus auch allgemein sehr instruktiv über die für Gassendi ohne Zweifel wichtige Gravitationstheorie Keplers, einschließlich ihrer Vor- und Wirkungsgeschichte.
Konstruktion und Prüfung von Theorien
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ist, wird an dieser Stelle nicht ausdrücklich gesagt; im Gegenteil, Gassendi begründet den Trägheitssatz sogar durch den Hinweis auf die zirkuläre Trägheit. Daraus darf andererseits aber nicht gefolgert werden, daß Gassendi der Auffassung war, die Trägheitsbewegung im leeren, kräftefreien Raum sei kreisförmig. Horizontalbewegung längs einer idealen Erdoberfläche und Inertialbewegung im leeren Raum werden, wie der Text eindeutig zeigt, nur hinsichtlich ihrer Gleichförmigkeit und Unaufhörlichkeit verglichen, nicht hinsichtlich der geometrischen Form ihrer Bahnen. Wenn Gassendi behauptet, im leeren Raum setze sich die kräftefreie Bewegung in derjenigen Richtung bis ins Unendliche fort, in die der Kraftstoß weist, der die Bewegung ausgelöst hat, so kann diese Bewegung schwerlich anders als geradlinig interpretiert werden 4 1 . Möglicherweise hat Gassendi sich deshalb nicht präziser ausgedrückt, weil die Anwendung des Trägheitssatzes in der physikalischen Erklärung der Fallbeschleunigung, wie sie in diesem Brief erfolgt 42 , keine Richtungsprobleme aufwirft: in diesem Fall ist die Bewegung selbstverständlich senkrecht (also geradlinig) zum Erdmittelpunkt hin gerichtet 43 .
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Die problematische Formulierung lautet: Argumentum (sc. für die oben Anm. 40 zitierte Behauptung) vero desumo ex aequabilitate illa motus horizontalis iam exposita, cum ille videatur aliunde non desinere nisi ex admistione motus perpendicularis, adeo ut quia in illis spatiis nulla esset perpendicularis admistio, in quamcumque partem foret motus inceptus, horizontalis instar esset et neque acceleraretur retardareturve neque proinde umquam desineret. Gassendi folgert also aus der „aequabilitas" der Horizontalbewegung, und die Bewegung im leeren Raum ist der Horizontalbewegung in Erdnähe darin ähnlich („horizontalis instar"), daß sie weder beschleunigt noch verlangsamt ist. Der Ausdruck „in quamcumque partem foret motus inceptus" impliziert dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Geradlinigkeit. Noch deutlicher heißt es am Schluß dieses Kapitels (III 496a 2 f . ) : Haec porro omnia alio non tendunt, quam ut intelligamus motum per spatium inane impressum, ubi nihil neque attrahit neque retinet neque omnino renititur (Betonung der Kräftefreihet), aequabilem fore ac perpetuum, atque exinde colligamus omnem prorsus motum, qui lapidi imprimitur, esse ex se huiusmodi, adeo ut in quamcumque partem lapidem conieceris, si quo momento a manu emittitur, supponas omnia vi divina lapide excepto in nihilum redigi (Kräftefreiheit erneut betont), eventurum sit, ut lapis motum suum perpetuo ac in eandem partem, in quam manus ipsum direxerit, moveatur. Kurz darauf verwendet Gassendi das W o n „plane", das ebenfalls auf Geradlinigkeit hindeutet: si id repetas, quod dictum est de lapide in spatiis illis imaginariis, seu in inani constituto, concipis iam, si causa quaepiam leviculo ictu eum pellat, fore ut moveatur aequabili plane ac perpetuo motu, nisi obex occurrerit (III 496 b 2).
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Vgl. Kap. XVII, III 4 9 6 b f f . Freilich ist der Text nicht so eindeutig, daß schlicht behauptet werden kann: C'est la loi d'inertie (Rochot, Les Travaux de Gassendi, a. a. O. S. 117). In diesem Zusammenhang verzichtet Gassendi darum oft ganz auf eine Richtungsformel, ζ . B. Quarto, cum fuissem ratiocinatus motum semel impressum futurum perpetuum et aequabilem, nisi esset causa, quae ilium aut retundendo minueret aut urgendo acceleraret (III 621 a 2).
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Die Einführung des Trägheitsprinzips im ersten Brief De Motu läßt die methodologisch unterschiedliche Stellung von zirkulärem und geradlinigem Trägheitssatz bereits sichtbar werden. Der zirkuläre Trägheitssatz ist Teil einer ad-hoc-Erklärung zur Deutung einer eng begrenzten Klasse von Phänomenen, der geradlinige Trägheitssatz dagegen wird aus rein theoretischen Überlegungen gefolgert und hängt nicht unmittelbar mit Beobachtungsaussagen zusammen: Vakuumshypothese und atomistische Gravitationstheorie erst erlauben die Vorstellung gänzlich kräftefreier Bewegung. Im Syntagma unterstreicht Gassendi die Tatsache zusätzlich durch die Bemerkung, daß die für die Etablierung des Trägheitssatzes entscheidende Aussage der Gravitationstheorie, nämlich die Abnahme der Schwerkraft mit zunehmender Entfernung, nach seiner Auffassung unter irdischen Verhältnissen durch Beobachtung nicht geprüft werden kann 44 . Im übrigen ist die Position im Syntagma gegenüber dem De Motu-Brief in sachlicher Hinsicht unverändert 45 , wenn auch die Formulierungen teilweise präziser und aufschlußreicher sind. Die neben der Fallbewegung zweite Komponente der Projektilbewegung bleibt zirkulär 46 — die bedeutendste Schwierigkeit für das Verständnis des Gassendischen Standpunktes; Galileisches und Beeckmansches Gedankenexperiment, horizontale und geradlinige Inertialbewegung werden parallelisiert, auch hier jedoch ausschließlich in Bezug auf Gleichförmigkeit und Unaufhörlichkeit 47 ; die 44
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Vgl. S. P. I 3 4 9 b 2 : nam quod huiuscemodi vis (sc. attrahens) radiose circum diffundatur, sunt hi quidem radii tanto confertiores adeoque et tanto potentiores, quanto propius a terra absunt, sed nulla est tarnen aut turris aut praerupti montis, in quo experiri rem liceat, tanta altitudo, ut radiorum confertio et potentia apparere in summo sensibiliter alia ab ea, quae in imo est, possit. Auch hier wird der geradlinige Trägheitssatz im Anschluß an diese Bemerkungen zur Gravitation entwickelt. Dabei ist daran zu erinnern, daß das Syntagma Philosophicum zwar erst 1658 posthum veröffentlicht wurde, daß aber viele seiner Teile — als Vorarbeiten zu der von Gassendi seit 1633 geplanten umfassenden Epikurdarstellung „De Vita et Doctrina Epicuri" — wesentlich früher konzipiert wurden. Das fünfte Buch der ersten Physik-Sektion des Syntagma „De Motu et Mutatione Rerum", das die Aussagen zum Trägheitsproblem enthält (S. P. I 338aff.), wurde als Buch XVIII der Epikurschrift geplant und 1 6 4 1 - 4 2 , also kurz nach den De Motu-Briefen, verfaßt. Es ist daher kaum verwunderlich, daß sich beide Schriften in sachlicher Hinsicht nicht unterscheiden, aber zugleich verständlich, daß die zweite Darstellung klarer ist als die erste (vgl. die Hs. Tours 709ff° 298v°—334v°). Auch dieser Teil des Syntagma liegt also zeitlich noch vor dem Erscheinen von Descartes' Principia. Vgl. ζ. B. S. P. I 357a 2 f . : . . . quia res proiecta movetur inaequabiliter, quatenus sursum aut deorsum tendit, non vero quatenus secundum horizontem seu ambitum terrae progreditur, colligo . . . motum horizontalem circularemve videri censendum naturalem. S. P. I 355 a 1, wo zusätzlich noch die Planetenbewegung unter denselben Gesichtspunkten (aequabilitas, perpetuitas) herangezogen wird: Heine illi (sc. lapidi) idem contingeret quod ipsis globis caelestibus, qui quod nihil retardans aut accelerans, nihil resistens
Konstruktion und Prüfung von Theorien
141
G e r a d l i n i g k e i t der B e w e g u n g s b a h n im leeren R a u m tritt deutlicher hervor48. Für
die A n n a h m e ,
daß
Gassendi
sich beim
Gedankenexperiment
G a l i l e i s die W i r k u n g der S c h w e r k r a f t aufgehoben denkt, gibt es in den T e x t e n keinerlei A n z e i c h e n , zumal Gassendi sich nicht w i e Galilei eine z u r E r d o b e r f l ä c h e k o n z e n t r i s c h e K u g e l f l ä c h e vorstellt, durch w e l c h e möglic h e r w e i s e die Gravitationsteilchen nicht hindurchdringen k ö n n t e n , s o n d e r n v i e l m e h r an eine ideale E r d o b e r f l ä c h e denkt. Zirkuläre u n d geradlinige I n e r t i a l b e w e g u n g unterscheiden sich demnach hinsichtlich des Einf l u s s e s d e r S c h w e r k r a f t . Problematisch ist allerdings die E i n o r d n u n g der aus K r e i s e n zusammengesetzten b z w . elliptischen
Planetenbewegungen,
d e r e n s e k u n d ä r e U r s a c h e n w e d e r in den D e M o t u - B r i e f e n noch im ersten A b s c h n i t t d e r P h y s i k des S y n t a g m a beschrieben w e r d e n , w o
Gassendi
stattdessen
primärer
w i e Galilei sich mit dem H i n w e i s auf G o t t als
B e w e g u n g s u r s a c h e b e g n ü g t 4 9 . Dieses V o r g e h e n w i r d freilich im Kapitel D e M o t i b u s S i d e r u m des d r i t t e n Buches D e R e b u s C a e l e s t i b u s 5 0 als v o r l ä u f i g hingestellt u n d schließlich sogar abgelehnt: Galileis Lösung w i r d z w a r r e f e r i e r t , der R e k u r s auf G o t t aber kritisiert, weil G o t t als allgemeine
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habeant, eum motum perpetuo ac indesinenter tuentur, qui fuit ipsis semel a conditore mundi . . . impressus. Das „idem contingere" bezieht sich eindeutig auf „motum perpetuo et indesinenter tueri" sowie auf das Fehlen von „retardare" und „accelerare". Gassendi benutzt ζ. B. jetzt den Ausdruck „secundum eandem lineam" (Repete nunc cogitationem de constituto lapide in immensitate illa spatiorum imaginariorum. Diximus, si quispiam eum propelleret, in quamcumque partem pulsio fieret, motum iri idque aequabiliter . . . et perpetuo quidem secundum eandem lineam (S. P. I 354 b 2)) und spricht genauer von einem „einfachen Kraftstoß", der den Stein in Bewegung setzt und bei dem offenbar nur noch die Richtung, nicht mehr die vollständige Bahn des stoßenden Körpers wichtig ist (Concipe ergo lapidem constitutum in vacuo . . . Tum si supposuerimus illum in quamcumque volueris partem ictu simplici aut trahi aut pelli, moveretur haud dubie versus illam motu plane aequabili . . . (S. P. I 349b 2f.)). Vor allem aber wird nunmehr explizit gesagt, daß der Stein in Erdnähe von seiner unveränderlichen, nämlich geradlinigen Bahn (invariata, recta linea) nur durch den Einfluß der Schwerkraft abweicht, daß er jedoch ohne Luftwiderstand und Schwerkraft diese Bahn unveränderlich einhält: Cogita ad haec spatium istud, per quod lapis proiicitur, esse aut fieri penitus vacuum . . ., an non agnoscis pari ratione fore, ut lapis semel impulsus per ipsum ferretur invariata linea et motu aequabili futuroque perpetuo quousque spatium terrenis radiis hamulisve, aere aut alia re plenum? Tarn cum spatium vacuum non sit, sed praeter aerem occurant terreni radii hamulive ubique fusi, non potest profecto lapis neque recta neque aequabiliter neque diu moveri. Nam, cum statim, ac fuerit a proiiciente dimissus, hamuli invadant . . ., inde fit, ut a recta linea paullatim desciscat, segnius continuo progrediatur et ad terram tandem perveniat quietemque adipiscatur (S. P. I 355 a 2). Hier kennzeichnet Gassendi die Inertialbewegung ohne Zweifel durch die drei gleichwertigen Kriterien Gleichförmigkeit, Unaufhörlichkeit und Geradlinigkeit. Vgl. z . B . I 355a 1. 2. Physik-Sectio, I 631a—640b, Kap. VI: Quae sit motrix siderum causa.
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Gassendis physikalische Methode
Ursache zu jedem beliebigen Phänomen als Ursache gelten kann 5 1 . Nach einem in unserem Zusammenhang nicht wichtigen atomistischen Erklärungsversuch der Erdrotation vergleicht Gassendi dann ausdrücklich Planeten und in Erdnähe frei fallende Körper hinsichtlich der ihre Bewegung steuernden „Strahlen" der Sonne bzw. der Erde 52 und stellt abschließend ohne jede kritische Anmerkung Keplers Standpunkt dar, nach dessen Vorstellung die Planetenbewegungen durch magnetartige Kräfte bestimmt sind, die die Sonne auf alle Körper ihrer Umgebung ausübt 53 . Wie die Schwerkraft der Erde nimmt die Wirkung dieser Attraktionskräfte der Sonne mit zunehmender Entfernung ab, eine Tatsache, die auch zur Erklärung der unterschiedlichen Geschwindigkeit und elliptischen Bahn der Planetenbewegung herangezogen werden kann 54 . Auch ohne in eine detaillierte Interpretation der Gassendischen Astronomie einzutreten, kann man aufgrund dieser Äußerungen mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, daß die Planetenbewegung für Gassendi kein Fall kräftefreier Inertialbewegung gewesen ist. Sehen wir ab von der Zirkularität der horizontalen Bewegungskomponente in der Analyse des Schiffsmastexperimentes, deren Annahme nur als Unachtsamkeit gewertet werden kann (geschützt durch den Einfluß Galileis), so zeichnet Gassendi insgesamt genau 51
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I 636a 2 (Galilei-Referat); zum Rekurs auf Gott heißt es: Nimis Deum videtur in caelorum molem immersisse Plato . . . Est quidem Deus aliunde causa generalissima rerum omnium; . . . quia tarnen in confesso apud omnes est, quod ad ea quae spectant ad rerum naturam non agere se ipsum solo ac immediate omnia, verum pati quoque secum causas alias (die „causae secundae"), quibus intercedentibus agat quasque disquirere a Physicis fas sit, ideo seponi quaestio potest, Deusne sit, qui caelum moveat (I 636 b). Deinde illi etiam globi, qui . . . circa axem centrumque mundi ac simil terrae solisve moventur (die copernicanische Frage wird hier vorsichtshalber aus theologischer Rücksichtnahme offengelassen), videntur ipsi quoque, dum partim proprio impetu circuitiones suas conficiunt (Anspielung auf Eigenrotation), partim radiis solis aliisve quasi suptervenientibus compelluntur (die Bewegung rings um das Weltzentrum), partes sui diversas sortiri . . . eo modo quo de motu universe agentes conformari diximus et in globo sponte cadente fibras parallelas ipsi axi . . . (S. P. I 639 a 2). Gassendi deutet hier seine Gravitationstheorie an, nach welcher sich „Schwerkraftachsen" von Teilchen der angezogenen Körper („fibrae") nach der Richtung der angreifenden Kraft oder des Bewegungsimpulses ausrichten, Vorstellungen, die er hier offenbar auf den Fall der Planetenbewegung ausdehnt. S. P. I 639 a 2 ff. Keplers in der Astronomie entwickelter Kraftbegriff wird ausführlich gewürdigt von M . Jammer, Concepts of Force, Cambridge (Mass.) 1957, Kap. 5 (S. 81—93). Vgl. auch F. Krafft: Keplers Beitrag zur Himmelsphysik, a. a. O. Quamquam quia tales radii prope solem confertiores, procul rariores sunt, . . . inde efficitur, ut Mercurius tamquam proximus vehementissimeque compulsus citissime omnium circuitum absolvat, Saturnus tamquam remotissimus segnissimeque adactus tardissime omnium, caeteri pro suo quisque situ absolvant aut citius aut tardius . . . (S. P. I 639b 1).
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diejenige Inertialbewegung als geradlinig aus, die kräftefrei ist. Dies ist wissenschaftsgeschichtlich als ein originaler, über Beeckman und Galilei, in einem später zu erläuternden Sinne auch über Descartes hinausgehender Beitrag Gassendis zur Entwicklung des neuzeitlichen Trägheitsbegriffes anzusehen 54 * . Wie so oft ist freilich auch in diesem Fall die Beibehaltung des alten Begriffsrahmens ein Teil der Gassendischen Uberzeugungsstrategie. Im Gegensatz zu Descartes lehnt Gassendi die Verwendung der aristotelischen Unterscheidung zwischen natürlicher und gewaltsamer Bewegung nicht ab, aber anders als Galilei verändert er die Bedeutung von „motus naturalis (violentus)" grundlegend. Als natürlich gilt seit den De-Motu-Briefen diejenige Bewegung, die entweder von selbst oder doch ohne Widerstand erfolgt 5 5 — auch dies noch eine sehr weite, ζ. B. auch auf Bewegungen von Lebewesen anwendbare Explikation, die zur Not mit Aristoteles vereinbar wäre. Das weiterhin angegebene Kriterium der Gleichförmigkeit (aequabilitas) bezieht sich auf die Unveränderlichkeit der (geometrischen) Form der Bewegungsbahnen 56 . Deshalb konnte Gassendi definitionsgemäß Plane-
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Widersprüchlich sind zu diesem Problem die Bemerkungen Täcks. Er behauptet einerseits, daß Gassendi als erster eine korrekte Formulierung des Trägheitsprinzips vorgelegt hat (a. a. O. S. 170), andererseits aber, daß Gassendi stets nur das zirkuläre Trägheitsprinzip anerkannt hat (a. a. O. S. 175ff.). Beides kann nicht zugleich wahr sein. Fragwürdig und unzureichend belegt ist ferner seine These, daß der „metaphysische Uberbau" Gassendi nicht hat über das zirkuläre Trägheitsprinzip hinauskommen lassen (S. 177). ea mihi semper utriusque notio visa est commodissima, ut naturalis (sc. motus) appelletur, qui aut sponte aut sine ulla repugnantia fit, violentus, qui praeter naturam aut cum aliqua repugnantia (III 488 a 2, I 343 a 2). quia . . . quaeri potest quoddam criterium, quo discerni valeat, utrum quispiam motus naturalis sit an violenter, idciro . . . videtur aequabilitas assumi posse, ut character, quo, si adsit, iudicemus motum esse naturalem, si absit, violentum (III 488a 2, I 344 b 2). Entsprechend gilt dann: innuo dumtaxat lapidem non sponte moveri, quia movetur vi a manu impressa (III 488 a 2); quod vero spectat ad motus rectos seu rerum gravium et levium . . ., ii ex eo videntur censendi violenti, quod inaequabilissimi sint et vel nihil vel minimum durent (I 345a 1). Auf die Gleichförmigkeit der Bahnform dagegen spielt Gassendi an, wenn er bemerkt, daß die Planetenbewegung aufgrund ihrer Kreisförmigkeit gleichförmig ist; freilich scheint diese Form nur notwendig, nicht hinreichend für gleichförmige und unaufhörliche Bewegung zu sein: Ad haec, si quis requirat motum in hisce rebus compositis, qui sit maxime naturalis, perspicuum videtur esse caelestem; quatenus est prae caeteris aequabilis et perpetuus delecta ab auctore circulari forma, secundum quam principio et fine carentem esse aequabilitas et perpetuitas potest (III 488 a 2). Wie wenig jedoch speziell an der Kreisförmigkeit liegt, zeigt die Tatsache, daß Gassendi die Planetenbahnen auch dann „natürlich" nennen würde, wenn Keplers Hypothesen über ihre elliptische Form richtig sind: Et quamvis planetarum motus ultro concedatur non circularis,
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tenbewegung, Galileische zirkuläre und kräftefreie geradlinige Inertialbewegung als „natürlich" bezeichnen und stets in einem Atemzuge nennen. Alle diese Bewegungen sind als natürliche für Gassendi nicht nur gleichförmig, sondern auch unaufhörlich, weil jede gleichförmige Bewegung unaufhörlich sein muß 57 . Damit stimmt die oben wiederholt gemachte Beobachtung sehr gut zusammen, daß Gassendi die drei genannten Bewegungsarten gerade hinsichtlich der beiden Kriterien Gleichförmigkeit und Unaufhörlichkeit vergleicht. Insgesamt kann Gassendis Vorgehen bezüglich des Trägheitsproblems weder als inkonsistent noch als empiristisch oder eklektisch bezeichnet werden. Für Trägheitsphänomene gab es um 1640 noch keine einheitliche Terminologie; insbesondere wurde „inertia" noch nicht im Newtonschen Sinne gebraucht. Durch seine neue Festsetzung der Bedeutung von „motus naturalis (violentus)" hat sich Gassendi allererst einen begrifflichen Rahmen zu verschaffen gesucht, der ihm eine Beschreibung der Trägheitsphänomene gestatten sollte, die nur dann inkonsistent aussieht, wenn man ihren terminologischen Bezugspunkt unberücksichtigt läßt. Dieser begriffliche Rahmen hat sich in der Folgezeit nicht als fruchtbar erwiesen; dennoch erlaubte er erstmals die einwandfreie Auszeichnung der Inertialbewegung im Newtonschen Sinne als genau derjenigen natürlichen Bewegung, die kräftefrei ist. (Durch die Bestimmung der Kräftefreiheit wurden die beschleunigten Bewegungen ausgeschlossen). Die Mittel, die Gassendi dafür benutzte, waren rein theoretische: konzeptuelle Innovation zum Zwecke konsistenter Darstellung und Konzeption nichtbeobachtbarer physikalischer Zustände (Kräftefreiheit) als Folgerung aus atomistischen Hypothesen. Die Neufassung des Kraftbegriffes ist mit der Einführung des Trägheitsprinzips aus sachlichen Gründen aufs engste verknüpft 58 . Erst wenn
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sed ellipticus . . ., nihilominus constans restitutio in figura regulari . . . aequabilitatem revolutionum inter sese mutuo collaturum facit (III 549 b 2). Es ist die „constans restitutio in figura regulari", die die aequabilitas gewährleistet. Constant radicem perpetuitatis esse aequabilitatem, cessationis inaequabilitatem, quatenus id solum, quod neque invalescit neque debilitatur, perdurare potest (III 4 8 8 a 2). Das Urteil Tacks (a. a. O . S. 164), daß die Unterscheidung zwischen natürlicher und gewaltsamer Bewegung „an sich gänzlich funktionslos" sei, läßt sich aus wissenschaftshistorischer Sicht also nicht halten. Im folgenden stütze ich mich auf die vorzüglichen Studien von R. S. Westfall, Force in Newton's Physics, a. a. Ο . , der keineswegs nur Newton behandelt, sondern die Entwicklung von Galilei an ausführlich kommentiert, sowie von A . Gabbey, Force and Inertia in Seventeenth Century Dynamics, a. a. O . , der hauptsächlich Descartes analysiert. Heranzuziehen ist ferner M. Jammer, Concepts of Force, Cambridge (Mass.) 1957; R. J . Blackwell, Descartes' Laws of Motion, a. a. Ο . ; Β. Ellis, The Origin and Nature of Newton's Laws of Motion, in: Beyond the Edge of Certainty, ed. R . Colodny, Prentice-Hall Inc.
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anerkannt ist, daß alle Körper von sich aus die Tendenz haben, ihren Bewegungszustand zu erhalten, können Kräfte als Ursachen der Änderung des Bewegungszustandes verstanden werden. In der aristotelischen Physik dagegen müssen Kräfte (im dynamischen Sinne) ebenso wie in der gegen Aristoteles gerichteten Impetus-Theorie eingeführt werden, um die Erhaltung des Bewegungszustandes von Körpern zu erklären. Beiträge zur Festlegung eines neuen Kraftbegriffes sind daher von denjenigen Autoren, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch die Impetustheorie vertraten, von vornherein nicht zu erwarten. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt andererseits, daß im allgemeinen die Annahme weder des zirkulären noch des geradlinigen Trägheitssatzes schon hinreichte, um den neuen Kraftbegriff zu gewinnen. Dafür waren weniger mechanistische Grundsätze verantwortlich, die nur die Existenz von Fernkräften ausschlossen, sondern andere Vorstellungen, die der traditionellen Physik verhaftet blieben. Von einer terminologischen Fixierung kann bis Newton kaum gesprochen werden; „vis", „force", „forza" bezeichneten in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedliche physikalische Eigenschaften 59 , und andererseits verwendete man auch andere Ausdrücke, um Kräfte zu kennzeichnen (ζ. B. „momentum", aber auch „virtus", „impulsus" und „impetus"); aber im allgemeinen läßt sich sagen, daß in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Kraft als diejenige Eigenschaft eines Körpers galt, die es ihm erlaubt, den Widerstand (genauer die „Widerstandskraft") anderer Körper zu überwinden. Die Interaktion zwischen Körpern wurde daher als Kräftekampf verstanden, und bezüglich der Gesamtheit dieser Kräfte formulierte man zuweilen Erhaltungssätze. Die Herkunft dieses Kraftbegriffes ist unverkennbar: Muskelkräfte und statische Kraft (Kampf der Gewichte an Waagen), deren Rolle in der traditionellen Mechanik der einfachen Maschinen wohlbekannt ist, sind seine Paradigmen, die in unmittelbarer Umwelt des arbeitenden Menschen zu beobachtenden Phänomene seine empirischen Bezugspunkte. Weil sowohl Trägheit als auch Reibung und andere Bewegungshindernisse als Widerstandskraft gedeutet werden konnten, ließ sich dieser Standpunkt von Vertretern sowohl der Impetustheorie als auch des Trägheitsprinzips verfechten 60 .
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1965. Unergiebig ist W . Strombach, Der Kraftbegriff, a. a. Ο . ; einen besonderen Aspekt behandelt F. Krafft, Sphaera activitatis - orbis virtutis, a. a. O . Vgl. dazu die Appendices A - G bei Westfall, a. a. O . S. 5 2 6 f f . mit Stellenübersichten über „ K r a f t " bei Galilei, Descartes, Gassendi, Huygens, Borelli, Newton. Beispiele sind der Impetustheoretiker Baliani, der „momentum" definiert als Übergewicht der virtus movens über die impedimenta motionis (De motu naturali . . ., a. a. O. S. 7)
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Gassendis physikalische Methode
Es ist daher kaum verwunderlich, daß sich auch Galilei und Descartes von ihm noch nicht haben befreien können. Bekanntlich hat Galilei im „Dialogo" die Frage nach dem Wesen der Schwerkraft und in den „Discorsi" die gleichwertige Frage nach der Ursache der Beschleunigung bei natürlicher Bewegung als vorläufig unbeantwortbar zurückgewiesen, nicht ohne auf die Problematik okkulter Qualitäten hinzuweisen 61 . Seinen eigenen dynamischen Grundbegriff „momento" oder „impeto" verwendet er zwar auch in unterschiedlicher Weise, aber in den für die Mechanik wichtigsten Kontexten versteht er ihn meist im Sinne des Produktes aus Gewicht und Geschwindigkeit, eine Explikation, von der er seit seiner Pisaner Zeit offenbar nicht mehr abgewichen ist. So behauptet er bereits 1612, daß für zwei Körper desselben Gewichts das Verhältnis ihrer Geschwindigkeiten auch das Verhältnis ihrer momenti bestimmt 62 , und noch in den „Discorsi" wird das Produkt aus Gewicht und Geschwindigkeit als Maß für die Fähigkeit eines Körpers, Widerstand anderer zu überwinden oder gegen andere zu leisten, definiert. Eine in mathematischen Proportionen formulierte Beschreibung macht hier besonders deutlich, daß der momento eine Funktion von Gewicht und Geschwindigkeit ist 63 . Galileis
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und Beeckman, der die Impetustheorie ablehnt, aber dennoch von vis movendi und vis resistendi spricht (Journal vol. 3, S. 129 (1629)) und seine Stoßgesetze in diesem Sinne formuliert; so tritt beim Stoß zweier nach G r ö ß e und Geschwindigkeit gleicher Körper Ruhe ein, weil keiner den anderen überwindet (Journal vol. 2, S. 45 (1620)). Mit Recht betont jedoch Jammer (Concepts of Force, a. a. Ο . S. 103), daß Beeckman äußere Bewegungshindernisse der Trägheitsbewegung nicht als Kräfte auffaßt. Zu anderen Autoren wie Marci, Wallis usw. vgl. Gabbey, Force and Inertia, a. a. Ο . S. 19. Opere a. a. Ο . V I I S. 2 6 0 f . (Dialogo 2 . Tag), V I I S. 2 0 2 f . (Discorsi 3. Tag). Im Discorso intorno alle cose che stanno in su l'acqua (publiziert in Florenz 1612), schreibt Galilei: che pesi assolutamente eguali, ma coniunti con velocita diseguali, sieno di forza, momento e virtu (drei Synonyma) diseguale, e piu potente il piu veloce, secondo la proporzione della velocita sua alia velocita dell'altro (Opere a. a. Ο . I V , S. 68). Ε manifesto, la facultä della forza del movente e della resistenza del mosso non essere una e semplice, ma composta di due azioni, dalle quali la loro energia dee essere nusurate; L'una delle quali e il peso, si del momente come del resistente, e l'altra e la velocita, secondo la quale quello dee muoversi e questo esser mosso . . . un peso minore prevalera ad un altro quanto si voglia maggiore, qualsunque volta la velocita del minore abbia maggior proporzione alia velocita del maggiore che non ha la gravita del maggiore alia gravita del minore (Discorsi sog. 6. Tag, Opere a. a. Ο . V I I I S. 329, 333). Ferner: Generalmente dunque diciamo, il momento del men grave pareggiare il momento del piu grave, quando la velocita del minore alia velocita del maggiore abbia l'istessa proporzione che la gravita del maggiore a quella del minore (ibid. S. 330). Sind Κ , , K 2 Körper mit den Gewichten g,, g2 und den Geschwindigkeiten v,, v 2 , so gilt demnach: (i) falls g, < g 2 , g2 V! v, > v 2 , so daß jedoch < , so ist der momento von K , größer als der von K 2 V2 gl (erste Stelle); (ii) falls gi : g2 = a : b, V! : v 2 = b : a, so sind die momenti von K , und K 2
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momento (impeto, virtu) ist demnach am ehesten dem zu vergleichen, was wir heute „Impuls" nennen (m-v), nur daß Galilei zwischen Gewicht und Masse noch nicht unterschieden und deshalb statt der Masse das Gewicht als definierende Größe benutzt hat. Weil aber der Impuls oder die kinetische Energie, als Fähigkeit Arbeit zu leisten (ζ. B. andere Körper zu verschieben), von selbst und mit Recht zu den (skalaren) Eigenschaften von Körpern gerechnet wird, war es für Galilei mit der Aufnahme des Gewichts als Definitionsgröße des momento unmöglich geworden, das Gewicht als eine von außen an den Körper angreifende gerichtete Kraft zu verstehen. Daß der Vorläufer von „momento" weniger der impetus-Begriff, sondern der der statischen Kraft war, die man aufbringt, wenn man gegen die Schwerkraft Arbeit leistet (Hochheben eines schweren Körpers „gegen seine Natur"), zeigt die Tatsache, daß Galilei „momento" auf die vertikale Bewegung anwendet: in der Fallbewegung erhält ein Körper soviel momento, wie es sein Hochheben erforderte 64 . Die Verwendung dieses momento-Begriffes führte dazu, daß Galilei die Fallbeschleunigung stets nur als Zunahme der momenti beschrieb (insofern ja die Geschwindigkeit bei gleichbleibendem Gewicht wächst), niemals jedoch als Folge einer konstant wirkenden Kraft angesehen hat. Die beschleunigte Bewegung im freien Fall war für ihn stets die natürliche Bewegung schwerer Körper, ausgelöst nicht durch äußere Kräfte, sondern die innere Tendenz aller Körper, an ihren natürlichen Ort zu gelangen 65 .
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gleich (zweite Stelle). Man sieht sofort, daß aus den Voraussetzungen von (i) g2 • v2 < g, · v, und aus denen von (ii) g, · v, = g2 · v2 folgt; in der Tat wird hier also der momento im Sinne von g · ν verstanden. Vgl. ζ. B. Dialogo 2. Tag: Salv. non credete voi che l'inclinatione, v. g., de i gravi di muoversi in giu sia eguale alia resistenza de i medesimi all'essere spinti in su? (Opere a. a. Ο. VII S. 240). So auch in den Discorsi: Inoltre si dee . . . supporre, l'impeto acquistato in Α dal cadente dal punto C esser tanto, quanto appunto si recercherebbe per cacciare in alto il medesimo cadente, ο altro a lui eguale, sino alla medesimo altezza (Opere a. a. Ο. VIII S. 338). Genauer formuliert bezeichnet „impeto" in diesen Beispielen nicht den „Impuls" selbst, sondern den totalen Zuwachs an Impuls, den der Körper durch das Hochheben erfährt (mv, oder galileisch gv). Dialogo 1. Tag: l'accelerazione del moto se fa nel mobile quando e'va verso il termine dove egli ha inclinazione, ed il retardamento accade per la repugnanza ch'egli ha di partirsi ed allontanarsi dal medesimo termine . . . (Opere a. a. Ο. VII S. 56). Ibid.: Ogni corpo costituto per quasivoglia causa in istato di quiete, ma che per sua natura sia mobile, posto in libertä si moverä, tutta volta perö ch'egli abbia da natura inclinazione a qualche luogo particolare; che quando d'fusse indifferente a tutti, resterebbe nella sua quiete, non avendo maggior ragione di muoversi a questo che a quello. Dali' aver questa inclinazione ne nasce necessariamente che egli nel suo moto si andera continuamente accelerando (ibid. S. 44). Ebenso in den Discorsi: Un corpo grave ha da natura intrinseco principio di muoversi verso Ί comun centro de i gravi, cioe del nostro globo terrestre, con movimento
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Die Beibehaltung der traditionellen Lehre von der natürlichen Bewegung und dem natürlichen Ort jedenfalls hinsichdich schwerer Körper hatte in diesem Fall vermutlich theoretische Priorität: sie definiert die Grenzen der Galileischen Mechanik und beeinflußte die Festlegung ihres dynamischen Grundbegriffes. Der freie Fall blieb deshalb, als Paradigma natürlicher Bewegung, für Galilei ein singuläres Phänomen, so daß keine Verallgemeinerung auf alle gleichförmig beschleunigten Bewegungen erfolgte. Anders als Galilei lehnte Descartes, wie man weiß, die Theorie der natürlichen Bewegung konsequent ab. Seine Kennzeichnung der Materie als extensio und die mechanistischen Grundsätze seiner Philosophie implizierten zwar nicht die Eliminierung von Kräften schlechthin, verhinderten aber doch die Erkenntnis, daß Kräfte Ursachen der Änderung des Bewegungszustandes sind, oder genauer, verhinderten den Ubergang vom statischen zum dynamischen Kraftbegriff. Dazu mag auch die Tatsache beigetragen haben, daß die Schwerkraft, die mit Galileis Fallstudien noch stärker als zuvor schon im Mittelpunkt des Interesses stand, eine Attraktionskraft zu sein schien (falls man sie nicht als natürliche Bewegungstendenz verstand), die mechanistisch außerordentlich schwer zu interpretieren war und daher sehr leicht als (okkulte) Fernkraft angesehen werden konnte. Daher verbot es sich für Descartes, das Gewicht als Grundgröße einzuführen und wie Galilei seinen dynamischen Grundbegriff mit Hilfe des Gewichtes zu definieren; vielmehr lag es nahe, den für das beginnende 17. Jahrhundert charakteristischen Kraftbegriff, also den Vorläufer des modernen Impulsbegriffes, als Produkt aus Größe (extensio) und Geschwindigkeit aufzufassen, weil Descartes der Massenbegriff ebenso wenig zur Verfügung stand wie Galilei. Die in diesem Sinne definierte Bewegungskraft ist dann ein Maß nicht für die Änderung des Bewegungszustandes, sondern für die Fähigkeit eines Körpers, auf andere Körper zu wirken, ein Kriterium also für das dynamische Ubergewicht eines Körpers über andere Körper, wobei hinsichtlich der gesamten im Weltall vorhandenen Bewegungskraft ein Erhaltungssatz gilt 66 . Definition der Bewe-
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continuamente accelerato (1. Tag, Opere a. a. Ο . VIII S. 118). Ε perche pare che l'Autore ci prometta che tale, quale egli ha definito (sc. moto accelerato) sia il moto naturale de i gravi . . . (3. Tag, Opere a. a. Ο . VIII S. 198). Auch hier seien einige der zahlreichen Belege angeführt. A m 17. 11. 1641 schreibt Descartes an Mersenne: J ' a y dit qu' un mait qui a 2 fois autant de matiere que la boule qu' il frape, ne luy imprime que le tiers de son mouvement; ce qui vous sera facile a entendre, si vous considerez le mouvement, ou la force a se mouvoir, comme une quantite qui n'augmente jamais ny ne diminue, mais qui . -. . se respond esgalement en tout la matiere qui se meut de mesme vitesse (Erhaltung der Bewegungskraft bei Inertialbewegung) ( A T vol. 3, S. 450f.). Der Erhaltungssatz bezüglich der gesamten Welt steht schon in Kap. III
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gungskraft und Erhaltungssatz implizieren dann die sieben Stoßregeln in den „Principia". Die Veränderung von Geschwindigkeiten wird für Descartes durch das Zusammentreffen gegensätzlicher Kräfte verursacht, die ihrerseits mit Hilfe der Geschwindigkeiten gemessen werden. Zur Gewinnung der Stoßregeln genügt es daher, die Bewegungs- und Widerstandskräfte (nach Größe und Geschwindigkeit) abzuschätzen und dann zu entscheiden, welche das Ubergewicht haben. Daraus folgen zusammen mit dem Erhaltungssatz Behauptungen über das Verhalten der Körper nach dem Stoß. Daß in dieser wissenschaftsgeschichtlichen Situation auch Gassendi einen terminologisch fixierten Kraftbegriff noch nicht verwendet, kann niemanden überraschen. Impuls, statische Kraft und die spezifische Bewegungskraft der Atome werden gleichermaßen durch „vis" gekennzeichnet. Das, was etwa im Schiffsmastexperiment dem hochgeworfenen Stein vom Werfer und vom fahrenden Schiff verliehen wird — in unseren Augen der Kraftstoß oder der Impuls —, ist für Gassendi eine Kraft (vis proiectionis), die zusammengesetzt ist aus den von Werfer und Schiff vermittelten Kräften 67 : Kräfte in diesem Sinne greifen nicht an einen Körper an, sondern kommen ihm zu, sind Ursachen nicht der Änderung, sondern der Erhaltung seines Bewegungszustandes. Die Beschreibung der Funktionsweise des Barometers und insbesondere die Diskussion der Frage, warum das Quecksilber nur bis zu einer bestimmten Höhe steigt, interpretiert die beobachtbaren Phänomene als Wirkungen der gegeneinander gerichteten Widerstandskraft der auf dem Quecksilber lastenden Luftsäule und dem vom Quecksilber ausgehenden Druck (vis premens), die schließlich im statischen Sinne zum Ausgleich, d . h . zum Gleichgewicht (aequilibrium) kommen 68 . Die Ursache atomarer Bewegung schließ-
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von Le Monde (AT vol. 11, S. 11). Vor allem aber sind das zweite und dritte Naturgesetz der „Prinzipien" zu vergleichen. Zur Bewegungskraft heißt es: Visque ilia debet aestimari tum a magnitudine corporis in quo est, et superficiei secundum quam istud corpus ab alio disjungitur, tum a celeritate motus ac natura et contrarietate modi, quo diversa corpora sibi mutuo occurrunt (AT vol. 8 (i) S. 67). Vgl. ζ. B. III 4 8 4 a 2 f . : ipsa quoque vis proiectionis ita sit composite ex vi proiicientis propria et ex vi impressa a navi . . . siquidem constat nullam quidem vim proiectoris propriam lapidi imprimi, seu quiescat seu moveatur malus, sed imprimi tarnen, dum navis movetur, translatitiam (sc. vim) seu qui ab ipsa navi sit, adeo ut cum motus ille sit compositus ex perpendiculari et horizontali, quicquid est in eo perpendicularis, a gravitate lapidis sit, quicquid horizontalis, a vi seu a motu ipsius navis. Vgl. ζ. Β. I 207a 2: Quia vero potest maior maiorque intra eundem tubum hydrargyri moles concludi ac ideo vis premens illius magis magisque increscere, unde et aer minus minusque illi resistere sit potis, notum est eventurum esse, ut et vis premens hydrargyri et resistens aeris quasi exaequentur et veluti in aequilibrio sint, ac, si ipsa moles hydrargyri
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lieh ist nach Gassendis Auffassung eine Bewegungskraft (vis motrix), die die Atome einerseits in Bewegung hält und sie andererseits aus dem Ruhezustand in Bewegung versetzt 69 . Dieser Sprachgebrauch berechtigt jedoch allein noch keineswegs zu der Annahme, daß Gassendi keinen nennenswerten Beitrag zur Entwicklung des Kraftbegriffes im modernen Sinne geleistet haben kann. Im Gegenteil: die theoretischen Voraussetzungen sind bei ihm vielversprechender als bei Galilei oder Descartes, denn anders als Galilei hatte er sich von der Lehre vom natürlichen Ort schwerer Körper befreit, ohne doch wie Descartes den Materiebegriff auf reine Extension einzuschränken. Der Entwurf einer zugleich atomistischen und mechanistischen Grundsätzen genügenden Gravitationstheorie und die Hypothese über die Existenz des leeren Raumes führten ihn daher zu einer adäquaten physikalischen Erklärung der beschleunigten Bewegung im freien Fall und darüber hinaus zu Annahmen über die Wirkung externer Kräfte auf Körper in reiner, nur im Vakuum möglichen Inertialbewegung. Es ist methodologisch bemerkenswert, daß nach Gassendis Darstellung sowohl in den De Motu-Briefen als auch im Syntagma Philosophicum die Analyse der Wirkung externer Kräfte nicht von der beobachtbaren Fallbeschleunigung ausgeht, sondern beim Gedankenexperiment reiner Inertialbewegung im leeren Raum ansetzt. In einem ersten Schritt wird die Kraft, genauer ein einmaliger Kraftstoß, als diejenige Ursache bezeichnet, die bewirkt, daß ein als ruhend im Vakuum gedachter Stein sich in Bewegung setzt 70 . Dieser Kraftstoß führt, wie bereits dargestellt, nach Gassendis Auffassung zur Inertialbewegung, falls im übrigen Kräftefreiheit
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deineeps augeatur, tum et premens illius vis maior superiorque et vis resistendi aeris minor inferiorque seu impar evadat. Vgl. ζ. Β. I 343 b 1: Rem paullo altius ut desumamus, non id repeto, quod est ante dictum, omnem vim motricem, quae in rebus concretis est, ab ipsis esse atomis; observo dumtaxat, cum ipsa nativa atomorum vis neque . . . pereat . . . neque . . . gignatur . . ., ideo dici posse iuxta ante supposita, tantum impetus perseverare constanter in rebus, quantum ab usque initio fuit. Auch die Formulierung eines Erhaltungssatzes fehlt also nicht. Die erheblichen Bedeutungsunterschiede von „vis" lassen sich nicht zuletzt auch an dem rein metaphorischen Gebrauch dieses Ausdrucks erkennen, etwa wenn Gassendi behauptet, aufgrund der „Kraft der N a t u r " könnten zwei Körper zur gleichen Zeit nicht am gleichen Ort sein (cumque vi naturae duo corpora esse in eodem loco non valeant . . ., I 392 a 2). Imaginere . . . spatia haec esse inania . . .; censebis lapidem . . . in loco illo fixum permansurum . . . Qaeres obiter, quidnam eveniret illi lapidi, quem assumpsi concipi posse in spatiis illis inanibus, si a quiete exturbatus aliqua vi impelleretur ? Respondeo probabile esse fore, ut aequabiliter indesinenterque movetur (III 494 b 2 / 4 9 5 b 1).
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vorausgesetzt werden kann; das heißt ja nichts anderes, als daß Kräfte nicht der Erhaltung der Bewegung dienen. Diese Einsicht wird dann zweitens auf schon in Inertialbewegung befindliche Körper angewendet: in diesem Fall führt ein Kraftstoß zu einer (einmaligen) Beschleunigung der Bewegung, wiederholte gleich starke Kraftstöße zu wiederholter gleichgroßer Erhöhung der Geschwindigkeit71. Daraus zieht Gassendi die allgemeine Folgerung, daß die Geschwindigkeitsänderung bewegter Körper von Kräften verursacht wird, die von außen auf sie einwirken 72 . Daraus ergibt sich schließlich drittens, daß für eine ständig beschleunigte Bewegung, wie sie im freien Fall vorliegt, stets neue Kraftstöße, d. h. konstant wirkende Kräfte erforderlich sind 73 . Im ersten De Motu-Brief glaubte Gassendi freilich zur Erklärung der Beschleunigungsgröße im freien Fall die Wirkung zweier Kräfte, nämlich des Eigengewichtes des fallenden Körpers sowie des Gewichtes der Luftsäule über ihm, annehmen zu müssen74. Bald erkannte er aber, daß er dabei das Trägheitsprinzip nicht berücksichtigt hatte und daß die Annahme einer kontinuierlich wirkenden Schwerkraft hinreichend ist zur Erklärung der gleichförmigen Beschleunigung im freien Fall 75 . Die Proportionalität von Kraft und Beschleunigung war damit auch für den freien 71
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Concipis iam, si causa quaepiam leviculo ictu eum (sc. lapidem) pellat, fore ut moveatur aequabili plane ac perpetuo motu. Concipe deinde, cum ita movetur, pelli ictu consimili; tunc quia motus praecedens non destruetur, coibunt duo motus in unum, qui sit priore velocior duplo, quippe pari modo sit futurus ex se aequabilis atque perpetuus. Concipe rursus pelli tertio et consimili ictu; tunc quia prior motus ex duobus quasi gradibus compositus perseverabit, fiet coalitio novi motus seu gradus sive erit deinceps motus, qui sit triplo velocior primo . . . agnosceresque fore, ut velocitas tantum ac tamdiu incrementum accipiat, quantum et quamdiu ictus reperentur (III 496b 2 f . ) . Dieser Text zeigt besonders deutlich, daß Gassendi zur Beschreibung der Kraftwirkung sein Trägheitsprinzip anwendet, und ferner, daß nach seiner Ansicht das Maß der Beschleunigung von der Größe der angreifenden Kraft abhängt. . . . adeo ut d a r u m esse videtur velocitatem motus non aliunde increscere quam ex eo, quod mobile, dum in motu est, de novo movetur seu novum impulsum accipit a causa externa (III 497a 1). Tertio, cum de motus deorsum acceleratione agatur, constat iam . . . non esse satis, ut lapidi unicus initio ictu imprimatur, sed esse necessarium, ut novi novique imprimantur continuo; alioquin enim lapis non acceleraret gradum, sed ferretur motu ut aequabili ita imperceptibili (III 497a 1). III 497a 2, vgl. auch III 621a. Quia enim non satis attendi velocitatis gradum primo momento acquisitum ita integrum manere in secundo, ut ad superandum duo spatia valeret, ipsumque ita habui, quasi valeret solum ad superandum unicum, ideo, cum viderem secundo momento tria superari spatia, existimavi facile ita unum superari per gradum manentem, ut duo alia deberent per duos alios interim acquisitos superari (III 621b 2, zweiter Brief De proportione qua gravia decidentia accelerantur von 1645).
Gassendis physikalische Methode
152 Fall k l a r g e s t e l l t 7 6 .
Gassendi w a r n u n m e h r
auch in der Lage,
seinem
G e g n e r M o r i n gegenüber den eigenen S t a n d p u n k t v o n der traditionellen L e h r e u n z w e i d e u t i g a b z u g r e n z e n : nach seiner eigenen A u f f a s s u n g b e w i r k t die S c h w e r k r a f t Beschleunigung, nach M e i n u n g der A r i s t o t e l i k e r gleichD e r T e x t des S y n t a g m a P h i l o s o p h i c u m läßt, w i e so o f t , in der Sache k e i n e n U n t e r s c h i e d e r k e n n e n , enthält aber präzisere F o r m u l i e r u n g e n , die endgültig deutlich machen, d a ß ein e i n m a l i g e r K r a f t s t o ß z u r Inertialbew e g u n g , g l e i c h starke w i e d e r h o l t e K r a f t s t ö ß e (also k o n s t a n t w i r k e n d e K r a f t ) z u g l e i c h f ö r m i g e r Beschleunigung f ü h r e n u n d daß das Trägheitsp r i n z i p z u m V e r s t ä n d n i s der Relation zwischen K r a f t u n d Beschleunigung u n e r l ä ß l i c h i s t 7 8 . A u c h hier beginnt Gassendi mit der Betrachtung der I n e r t i a l b e w e g u n g im leeren R a u m , w e n d e t ihr Ergebnis auf die Erklärung des f r e i e n Falles a n 7 9 u n d f ü h r t darüber hinaus eine 76
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78
79
Unterscheidung
Cum fuissem ratiocinatus motum semel impressum futurum perpetuum et aequabilem, nisi esset causa, quae ilium aut retundendo minueret aut urgendo acceleraret, conclusi motum lapidis accelerari, quod statim a prima attractione et quasi post primum ictum succederent continuo ictus alii qui impressione facta manentque facerent motum celeriorem (III 621a 1). Cum vero ipse solam iam attracticem (sc. vim) retineam, a qua continenter agente et impressione non pereunte acceleratio motus fiat, opinaris tu gravitatem ad accelerationem nihil facere, sed inalteratam sie perseverare, ut ex se motum uniformem et aequabilem faciat (III 622 a 2 f.). Zum positiven Urteil von Morin, dem Kontrahenten Gassendis, über Descartes vgl. Descartes Oeuvres AT I S. 541 und 556f. Vgl. dazu jetzt auch Tack a. a. Ο. S. 179—184. Tack versäumt es freilich, in diesem Zusammenhang den Kraftbegriff zu analysieren, und kommt daher insgesamt zu einer zu ungünstigen Einschätzung Gassendis. Bloch (La philosophie de Gassendi, a. a. Ο. S. 186f., 192f.) sieht einen Zusammenhang zwischen Gassendis Abrücken vom epikureischen Zeitbegriff und seiner Erkenntnis der richtigen physikalischen Erklärung des Fallgesetzes. Vgl. ζ. Β. I 349b 2 f . : Tum si supposuerimus ilium (sc. lapidem) in quameumque volueris partem ictu simplici aut trahi aut pelli, moveretur haud-dubie versus illam motu plane aequabili . . . Finge, cum esset in illo motu, ictum superiori aequabilem isti imprimi, tum moveretur sane velocius non centri ullius desiderio, sed quod priore impetu perseverante neque destrueto alius superadderetur, ex quo adiuneto necessarium esset ferri velocius lapidem . . . Finge imprimi motum terium, tum moveretur adhuc velocius, finge quartum, adhuc velocius, atque ita de ceteris. Heic iam solum dico, cum lapis movetur deorsum, facile esse concipere primum quasi ictum seu conatum, quo terra ipsum attrahit. Si impacto porro hoc ictu attractio cessaret et neque a terra neque ab alia causa novus impetus inderetur, probabile prorsus est fore, ut lapis ad terram segni illo quidem sed aequabili tarnen motu moveretur . . . At quoniam attractio non cessat, sed ut in primo momento fit, ita in secundo, ita in tertio ac caeteris, ea de causa necesse est, ut quia impetus priores perseverant et a subsequentibus non destruuntur, verum cum ipsis ita coalescunt, ut unus fiat uno tenore incrementum aeeipiens, necesse est, inquam, motum lapidis ex multiplicato increscenteque impetu quolibet momento celeriorem fieri atque adeo increscere uno tenore celeritatem (I 350 a 2). Auch den Gegensatz zwischen eigener und traditioneller Position findet man bündig
Konstruktion und Prüfung von Theorien
153
zwischen „aktiver" und „passiver Kraft" ein, die wahrscheinlich implizit den Massenbegriff enthält 80 — den Proportionalitätsfaktor von Kraft und Beschleunigung also, der zur Erstellung der Grundgleichung der klassischen Mechanik (K=m b) noch fehlte. Insgesamt kann behauptet werden, daß Gassendi in den angeführten Texten durchaus einen Kraftbegriff verwendet, der dem Newtonschen gleichwertig ist, und daß er diesen Kraftbegriff für eine adäquate Erklärung des Fallgesetzes ausnutzte. In beiden Punkten muß ihm die wissenschaftshistorische Originalität zugestanden werden. Die Analyse seiner Überlegungen hat ferner gezeigt, daß ähnlich wie im Falle des Trägheitsprinzips weder naiver Sensualismus noch unsicherer Eklektizismus für die Etablierung des neuen Kraftbegriffes irgendeine erkennbare methodische Rolle gespielt haben, sondern daß philosophische Grundsätze und theoretische Hypothesen den systematischen Hintergrund bildeten, die freilich mit empirischen Generalisationen zusammenhängen. Insbesondere wurde deutlich, daß Gassendi nicht etwa das Gedankenexperiment der Kraftwirkung auf reine Trägheitsbewegung im leeren Raum aus der Betrachtung der irdischen Fallbeschleunigung abstrahiert, sondern umgekehrt den allgemeinen Fall auf den speziellen Fall anwendet. Das heißt aber, daß für Gassendi die physikalische Beschreibung gleichförmig beschleunigter Bewegung anders als für Galilei nicht auf das Beispiel der Fallbeschleunigung beschränkt bleiben muß, auch wenn er kein anderes Beispiel beobachtbarer gleichförmiger Beschleunigung hat finden können. Der Beitrag, den Gassendi unzweifelhaft zur Entwicklung der Grundlagen der klassischen Mechanik geleistet hat, ist freilich verschleiert worden durch seine Bemerkungen zur atomistischen Dynamik, die nicht als Anwendung der neuen Grundbegriffe auf den mikrophysikalischen Bereich gelten können. Weil Gassendi für seine Zeitgenossen ebenso wie für spätere Leser vor allem der getreue Erneuerer des epikureischen Atomismus war, sind seine Arbeiten auf makrophysikalischem Gebiet angesichts ihrer Diskrepanz zur atomistischen Dynamik entweder zu
80
formuliert: cum nihil sit aliud impressum quam motus ad certum spatium continuandus et vis motrix quaerenda non sit quae motum perseverantem faciet, sed quae fecerit perseveraturum . . . (I 354 a 2). In mobili certe non est nisi vis passiva ad motum neque activa in alio quam in movente requiri debet (I 354a 2). Vgl. schon III 4 9 8 b 2 f . (erster De Motu-Brief). Die vis passiva hat nach diesen Stellen offenbar die Funktion, die Inertialbewegung zu erhalten, während die vis activa sie in Gang setzt oder ändert. „Vis passiva" kennzeichnet demnach die Eigenschaft eines Körpers, träge zu sein.
154
Gassendis physikalische Methode
wenig beachtet oder allenfalls nur als inkonsistentes Anhängsel bewertet worden. Atomen kommt nach Gassendis Auffassung eine innere Bewegungstendenz zu, die weder mit Trägheit noch mit externen Kräften identifiziert werden kann, sondern einerseits an die traditionelle Proportionalität von (innerer) Bewegungskraft und Geschwindigkeit und andererseits an animistische Bewegungslehren erinnert. Zunächst muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß diese atomare Bewegungstendenz nicht immer dieselbe physikalische Bedeutung hat. So spricht Gassendi in seiner Erklärung des Luftdruckes von einem Bewegungsstreben der Luftpartikel, das er mit ihrer Schwere identifiziert; und wenn er an dieser Stelle auch die Frage offenläßt, ob es sich um innere oder äußere Kräfte handelt, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß er die Gravitation der Erde, also eine externe Kraft, im Auge hat 8 1 . Die Gravitation setzt die Luftatome nur deshalb nicht in (beschleunigte) Bewegung, weil Hindernisse bestehen; mit anderen Worten die innere Bewegungstendenz ist hier das, was heute „potentielle Energie" genannt wird, die einem Körper dann zukommt, wenn an ihm Hubarbeit, also Arbeit gegen die Schwerkraft verrichtet wurde, und die sich nach Entfernung der Bewegungshindernisse in kinetische Energie umwandelt 82 . Auch die physikalische Erklärung des gleich schnellen Falles verschieden schwerer Körper macht die Anwendung der
81
82
Vgl. I 212 a 1: Videlicet apposite inter caetera adnotatum est eius quam passim observamus fluxilitatis rerum causam non aliam esse quam gravitatem, quae omnibus terrenis corporibus inest ac speciatim ipsi quoque aeri, quatenus is esse nihil videtur aliud quam congeries corpusculorum ex terra et aqua mistisque corporibus continenter extrusorum ac in ipsum tarnen, e quo propelluntur, telluris totius globum connitentium, seu id a qualitate quadam insita habeant seu ab attractione ipsius telluris, adeo proinde, ut tota regione, qua terram circumstant quaeque atmosphaera appellitatur, connisum sive gravitatem pondusve suum exprimant ac tanto major expressio sit, quanto ab atmosphaerae superficie acceditur ad terram propius. Der Ausdruck „e quo propelluntur" deutet hier die Hubarbeit an. Gravitation ist für Gassendi bekanntlich eine externe Kraft (zur Entscheidung der hier offenen Alternative vgl. etwa I 279 b). Auch die Luftkompression begründet Gassendi durch den „connisus" der Luftpartikeln: Apposite quoque adnotatum est non qualibet vi cogi aerem ad subingressionem in seipsum posse, sed esse omnino connisu non leviculo opus (I 212 a 2); videlicet in humili (sc. loco) maior est superincumbentis (ab usque nempe atmosphaerae superficie) aeris copia, maior proinde partium connisus atque gravitas (I 212 b 1); dabei macht er an anderer Stelle klar, daß die Luftkompression durch Einwirkung äußerer Kräfte zustandekommt (I 198af.). Ganz allgemein behauptet Gassendi, das Gewicht eines Körpers lasse sich an seinem „Streben" (nisus) erkennen, mit dem er der Hubarbeit widersteht: Ut taceam posse άντιτυπίαν ad gravitatem revocari, quatenus rem gravem intelligimus ex nisu, quo nobis attollentibus resistit (I 267 a 2). Bemerkenswerterweise werden im Kontext dieser Stelle jedoch speziell atomare Eigenschaften diskutiert.
Konstruktion und Prüfung von Theorien
155
für den makrophysikalischen Bereich entwickelten Begriffe von Trägheit und Kraft auf die einzelnen Teilchen (Atome) des Körpers erforderlich83. Für Gassendi lag es demnach durchaus im Bereich des Möglichen, die mechanischen Grundbegriffe auf den atomaren Zustand anzuwenden, und er hat anscheinend dann von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, wenn es konkrete Erklärungsversuche notwendig machten. Die spezifische atomare Bewegungstendenz dagegen findet man in den Epikur-Referaten dargestellt, die das Syntagma Philosophicum durchziehen. Sie wird ausdrücklich als innerlich, eingeboren und unaufhörlich bezeichnet, kommt .den Atomen also unabhängig von äußeren Kräften zu und bewirkt sowohl Bewegungsanfang nach gewaltsamen Ruhezuständen als auch Bewegungserhaltung bei Freiheit von Bewegungshindernissen84. Gewicht ist bei Epikur, im Gegensatz zu Gassendi, eine innere Bewegungskraft, die auch im Vakuum wirkt — eine Ausdrucksweise, die Gassendi aufgrund seiner Gravitationstheorie sogar noch am Ende des Epikurreferates ablehnt. Aber er akzeptiert die Annahme, daß die Atome sich ständig in Bewegung oder Bewegungstendenz befinden und daß dafür ein Erhaltungssatz gilt85. Diese atomare Bewegungskraft muß daher von der Schwerkraft im Gassendischen Sinne scharf unterschieden werden; wenn Gassendi sie dennoch weiterhin „gravitas" oder „pondus" nennt, dann handelt es sich um nichts weiter als eine Ubersetzung der epikureischen Terminologie, die in sachlicher Hinsicht als reine Homonymie zu gelten hat. Die Terminologie ist also auch in diesem Falle noch nicht einheitlich; aber diese Tatsache allein impliziert nicht notwendig sachliche
83
84
85
Vgl. I 352 b : Id nempe esse ex eo videtur, quod minus corpus ut praeditum paucioribus partibus est, ita pauciorum organulorum, quibus fit attractio, ictibus indigeat, eaque virium proportio sit; ut mobili utroque cum ea, qua voles, spectato resistentia vis sit in utroque movente ad earn superandam perinde sufficiens. Vgl. ζ. Β. I 273b 2: Restat iam tertia atomis attributa proprietas, gravitas nimirom seu pondus, quod cum nihil aliud sit quam naturalis internaque facultas seu vis, qua se per seipsam eiere movereque potest atomus, seu mavis quam ingenita, innata, nativa inamissibilisque ad motum propensio et ab intrinseco propulsio atque impetus, heinc fit u t . . . de ipsomet motu atomorum dicendum occurrat. Ebenso 1276b 2: Tam, cum de motu perpetuitate assiduitateve sequatur dicendum, censuit imprimis Epicurus praeditas esse atomos omnes vigore quodam ingenito seu interna illa energia, quam gravitatem appellavit quaque illas cieri per inane sic voluit, ut, cum inane sit infinitum et centro omni careat, numquam cessaturae ab illo suo motu, ut sibi naturali, sint. Vgl. I 279b. Eine frühe Stelle (4. Brief De apparente magnitudine solis humilis et sublimis von 1641) ist III 466b: . . . tum non omisere sane tertiam (sc. proprietatem atomorum), pondus nempe seu impetum, quo unaquaeque atomus libera . . . motu supra cogitationem velocissimo raperetur . . . Quippe . . . censuere tarnen atomos . . . esse in perpetuo conatu sese veluti extricandi. Vgl. dazu B. Rochot, Travaux S. 106.
156
Gassendis physikalische Methode
I n k o n s i s t e n z . O b gewisse A u s d r ü c k e h o m o n y m gebraucht w e r d e n , daran liegt nichts, z u m a l w e n n d e m A u t o r der h o m o n y m e G e b r a u c h b e w u ß t ist; w i c h t i g ist allein, o b die D e f i n i t i o n e n h o m o n y m e r A u s d r ü c k e vereinbar sind. A u f d e n Fall d e r Gassendischen Mechanik angewendet heißt das: wichtig ist allein,
ob
die Explikation d e r atomaren
Bewegungskraft
mit
der
D e f i n i t i o n d e r mechanischen G r u n d b e g r i f f e vereinbar ist. D i e s ist n u n o f f e n b a r nicht der Fall. D e n n auch d o r t , w o Gassendi n i c h t E p i k u r r e f e r i e r t , s o n d e r n offensichtlich seine eigene A u f f a s s u n g darstellt, beschreibt er die atomare B e w e g u n g s k r a f t als eine physikalische E i g e n s c h a f t , die s o w o h l einen Trägheitsaspekt als auch einen K r a f t a s p e k t a u f w e i s t , i n s o f e r n a u f g r u n d dieser Eigenschaft der atomare Bewegungszustand
sowohl
— bei
Hindernisfreiheit
— erhalten als auch
— bei
B e w e g u n g s h e m m u n g b z w . anschließender E n t f e r n u n g der Hindernisse — v e r ä n d e r t w e r d e n k a n n 8 6 . F ü r den Fall störungsfreier Bewegung ist die A n n a h m e z w a r n o c h m i t dem Trägheitsprinzip vereinbar, aber die V o r stellung einer nicht extern verursachten potentiellen Energie stimmt mit d e r Fassung des m a k r o p h y s i k a l i s c h e n K r a f t b e g r i f f e s nicht überein, und auch die Trägheitseigenschaft der A t o m e geht i m Ruhezustand v e r l o r e n . D i e auf d e n ersten Blick naheliegende A n n a h m e , Gassendis K e n n z e i c h n u n g d e r a t o m a r e n M e c h a n i k sei auf mangelnde theoretische Rigorosität 86
Vier Stellen aus dem Syntagma Philosophicum lassen keine andere Deutung zu: (i) Unum omnino supponere par est, nempe quantacumque fuit atomis mobilitas ingenita, tantam constanter perseverare, adeo ut inhiberi quidem atomi, ne moveantur, valeant, at non, ne perpetuo quasi connitantur conenturve se expedire motumque suum instaurare (I 336 a 1); (ii) Efficitur rursus, ut quia atomi in rebus concretis motricem suam vim seu impetum servant, eapropter nulla esse possit absoluta seu omnimoda quies, tamquam nisu existente perpetuo et agitatione continua (intestina licet insensibilique) (I 343 b 2); (iii) Ex tertia atomorum proprietate, quae est pondus seu ingenita internaque quasi compulsio et mobilitas, pendere videtur omnis virtus motrix, quae est in naturis concretis; quippe atomi quantumvis revinctae detentaeque in corporibus mobilitatem tarnen suam . . . non amittunt, sed incessanter connituntur, et vel plures eodem vel aliae in has, aliae in illas partes contendunt sataguntque erumpere (I 384 b 2); (iv) Deinde ingenitum pondus naturalemve et inamissibilem atomorum propensionem ad motum. Inde quippe est, cur liberae cum fuerint, libere ferantur, et praepeditae cum fuerint, non moveantur quidem sensibiliter, sed nitantur tarnen indefesse et conatu indomito nullaque repressione victo satagant sese evolvere, extricare et libertatem indipisci (I 480a 2). Gassendi verwendet in diesem Zusammenhang also stets den Terminus „pondus", niemals „gravitas" - ein Indiz dafür, daß er die atomare Bewegungskraft von der Schwerkraft auch terminologisch zu unterscheiden versucht. Die atomare Bewegung denkt Gassendi sich übrigens bei Störungsfreiheit geradlinig: Observe potius, cum atomorum motus supponatur ex se ut rectus, ita et pernicissimus, ea de causa tum deviationem, tum tarditatem, quae in rebus concretis est, aliunde esse non videri quam ex repercussione seu repressione multiplici earumdemmet atomorum (I 385 a 1). Im übrigen betont Gassendi vor allem, daß sie natürlich, also gleichförmig ist (ζ. Β. I 343b 2, 344b 2).
Konstruktion und Prüfung von Theorien
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und kritiklose Rezeption epikureischer Grundsätze zurückzuführen, erweist sich freilich bei genauerem Zusehen als unhaltbar. Die Bemerkungen, die sich bei Epikur zur atomaren Mechanik finden lassen, sind so spärlich und unklar, daß ihre Bedeutung bis heute umstritten geblieben ist 87 ; in den Texten der Gassendischen Physik liegt daher zumindest eine verschärfende Epikurinterpretation vor, deren Begründung noch zu klären wäre. Methodologisch aufschlußreich ist zunächst die Tatsache, daß nur schwer zu entscheiden ist, ob Gassendi überhaupt den Versuch macht, seine Behauptungen über die Bewegungskraft der Atome empirisch zu begründen, d. h. sie durch Herleitung empirischer Sätze zu stützen. Man findet ähnlich wie bei Epikur und Lukrez selbstverständlich einige Hinweise auf allgemeine beobachtbare Tatsachen; so wird die ruhelose, unaufhörliche Bewegung in den meisten Teilen des makrophysikalischen Bereichs angeführt, die sich auch an festen und scheinbar ruhenden Körpern daran zeigt, daß sie sich über kurz oder lang gleichsam von innen her auflösen — sei es durch Fäulnisprozesse oder durch Verschleißerscheinungen 88 . Andere Beispiele enthalten den Hinweis auf Gegenstände, die nach einem Ruhezustand aus einer Art von Reglosigkeit aufzuwachen und von selbst ihre Bewegung zu erneuern scheinen; vermutlich hat Gassendi dabei unter anderem Erwärmungsprozesse im Auge, die er als Freisetzung der inneren Bewegungskraft der Wärmeatome beschreibt, deren Bewegungsspielraum vor Beginn der Erwärmung durch andere Körperatome stark eingeschränkt sein soll. Die besondere Beweglichkeit des chemischen Elementes „Mercurius" mußte ebenso zur Begründung herhalten wie der rastlose Tanz der Staubkörnchen, der in den Strahlen der Sonne sichtbar wird; selbst der Verweis auf die Konstanz oder Gesetzmäßigkeit der vielfältigen Zustandsänderungen in der Natur fehlt nicht — ein Standardargument, das in allen möglichen Kontexten verwendet wird und hier speziell die Erhaltung der atomaren Bewegungskraft verständlich machen soll 89 . Insgesamt ist damit aber nicht mehr gesagt, als daß die vielfältigen 87 88
89
Vgl. oben S. 8 3 f . und Anm. 45 in 1.2.1. Argumento vero illi (sc. Epicuro) fuit assiduus motus, qui obervatur in rebus, quasi nimirum necesse sit mutari in dies omnia propter accessum discessumque atomorum (I 277a). Non subest porro cur aliquid adversus priores dicamus, quoniam cum asseruere omnia moveri sive fluere, intellexisse videntur non tarn motum quam mutationem, hoc est non tarn motum localem ac sensibilem concretorum corporum quam corpusculorum insensilium, ex quibus constant omnia, irrequietas motitationes, ex quibus alteratio, accretio, deminutio, generatio, corruptio paullatim ac sensum fugiendo parantur (I 340a 1). Id nempe ut causa reddatur, unde sit tanta motuum vicissitudinumque in universo constantia? Qui fiat, ut quaedam perpetuo indesinenterque moveantur, quaedam a torpore excitentur et post quietem motus integrent, quaedam se ex seipsis exsolvant inque auras
158
Gassendis physikalische Methode
Bewegungsimpulse, wie sie sich unter den Erscheinungen zeigen, im allgemeinen auf entsprechende Bewegungsimpulse von Atomen zurückzuführen sind und daß insbesondere die Rastlosigkeit beobachtbarer Bewegungen auf einen entsprechenden Erhaltungssatz bezüglich atomarer Bewegungen hindeutet — Behauptungen, die allenfalls als Erklärungsprogramm, aber nicht als ernstzunehmende Explananda zur Bestätigung der atomaren Mechanik gelten können; vielmehr haben sie offenbar die methodische Funktion von wahrnehmbaren Zeichen (signa), die in logisch unverbindlicher Weise die Erstellung theoretischer Hypothesen erleichtern sollen, die dann einer unabhängigen empirischen Prüfung noch bedürfen. Die Durchführung dieser Prüfung würde nicht nur die Präzisierung der Beschreibung atomarer und makrophysikalischer Bewegungen, sondern auch die Angabe von Gesetzen erforderlich machen, die den Einfluß atomarer Bewegungen auf das Verhalten wahrnehmbarer Körper regeln. In diesen Punkten geht Gassendi jedoch kaum über die antiken Atomisten hinaus: er beschränkt sich auf den Hinweis, daß ein zusammengesetzter Körper sich in diejenige Richtung bewegen wird, in die sich die Mehrzahl seiner Atome bewegt, und daß seine Geschwindigkeit vom numerischen Verhältnis dieser Atome zu den übrigen Atomen abhängt. Das gilt zunächst von Molekularverbänden erster Stufe, dann von deren Verbänden und so fort, bis der makrophysikalische Bereich erreicht ist 90 . Diese Beschränkung wird aber verständlich, wenn man bedenkt, daß erst die volle Entwicklung der klassischen Mechanik, ihre Anwendung auf den atomaren Bereich und eine Menge statistischer Annahmen und Berech-
90
abeant etc. (I 3 3 6 a l ) . Zur Wärmetheorie vgl. I 394 b 2/395a 2 : Nimirum haec omnia sic concipi debent, ut intelligantur continere (sc. corpora) atomos, quae donee revinetae cohibentur, calorem non creent, et quamprimum libertatem adipiscuntur, creare incipiant . . . Quare et cum omnes pro nativo impetu nitantur sese extricare et libertatem motus assequi, nullas esse, quae id magis quam sphaericae possint, utpote quae neque hamulis neque angululis praepediantur. Zum chemischen Element „Mercurius": Usurpassent forte illi (sc. die antiken Atomisten) potius similitudinem desumptam ex spiritu halinitri aut ex eo, quem chymici ex mercurio, stanno et sublimato praeparatis eliciunt, si cognoscere rem potuissent. Videlicet corpuscula spirituum huiuscemodi irrequieta plane sunt et intra vasa rite conclusa agitatione perpetua sursum deorsumque moventur ( 1 2 7 7 b 1). Mercuri nomine (sc. intelligunt chymici) . . . liquorem quendam subtilissimum . . ., qui et quaquaversum facillime penetret et facillime evanescat . . . Accedit Mercurius, qui sese in caetera ita discussa adapertaque tamquam anima spiritusve suapte natura mobilissimus insinuet (I 244b). Hier ist vor allem der Ausdruck „suapte natura" aufschlußreich. Vgl. ζ. Β. I 337a 2 : Sensus est vero ex atomis invicem concurrentibus minimulas primum concretiunculas moleculasve conformari, quae, prout plurium impetus f e n , aliquorsum quidem ferantur, sed propter tarnen contra nitentes transverseque agentes motus efficiatur aliquanto segnior.
Konstruktion und Prüfung von Theorien
159
nungen genauere Aussagen über die Abhängigkeit spezifizierter wahrnehmbarer Zustandsänderungen von spezifizierten atomaren Positionsänderungen zulassen. Zu einer Zeit, da die Physiker eben erst im Begriff waren, die wichtigsten beiden Grundbegriffe der klassischen Mechanik festzulegen, konnte Gassendi unmöglich hoffen, in einem so schwierigen Bereich Fortschritte zu erzielen. Es ist daher von vornherein gar nicht zu erwarten, daß er die atomare Mechanik bewußt als theoretisches Explanans für beobachtbare Bewegungsänderungen konstruiert hat, auch wenn das genannte allgemeine Erklärungsprogramm ins Auge gefaßt wurde. Die explanatorischen Beziehungen zwischen Atomphysik und Makrophysik blieben so locker, daß Konsistenzfragen nicht auftauchten. Man kann sich ζ. B . fragen, ob Gassendi nicht hätte bemerken müssen, daß schon die Behauptung, Atome könnten von sich aus die Bewegung der Körper, die aus ihnen zusammengesetzt sind, steuern, dem Trägheitssatz widerspricht; aber die Darstellung ist so vage, daß nicht einmal klar ist, ob die resultierenden Bewegungen beschleunigt sind oder nicht. Davon hängt aber das Ausmaß der Inkonsistenz entscheidend ab. Aufgrund der wissenschaftsgeschichtlichen Situation also blieben atomarer und beobachtbarer Bereich hinsichtlich der physikalischen Behandlung von Bewegungen für Gassendi im wesentlichen unabhängig voneinander. Die Charakterisierung der atomaren Bewegungskraft erfolgte daher nicht nach empirischen, sondern nach übergeordneten philosophischen und theologischen Gesichtspunkten. Gassendis verstreuten Andeutungen läßt sich entnehmen, daß dabei die Beantwortung der Frage nach dem Ursprung der Bewegung die wichtigste Rolle gespielt hat. Diese Frage, in der aristotelischen Physik zu einem zentralen Problem gemacht, wurde von den voraristotelischen Atomisten gar nicht erst gestellt; ihre Behauptung, die Atome seien von Ewigkeit her bewegt, bedeutet gerade, daß sie sie für überflüssig und unbeantwortbar hielten. Bei Epikur macht sich die aristotelische Fragestellung insofern bemerkbar, als er darauf hinwies, daß jedenfalls der Ursprung der Bewegung beobachtbarer Körper durch die Atomtheorie erklärt werden könne; die Herkunft atomarer Bewegung dagegen wurde weiterhin nicht diskutiert. Für Gassendi schließlich wie für jeden anderen Atomisten seiner Zeit war selbstverständlich Gott Ursache der atomaren Bewegung 9 1 , so daß das
91
Vgl. ζ. B. Beeckman, Journal I S. 150 vom November 1620 (Motus a Deo semel creatur non minus quam ipsa corporeitas in aeternum conservatur) oder Descartes, Principia II, 36.
160
Gassendis physikalische Methode
Ursprungsproblem nunmehr in doppelter Form auftrat: hinsichtlich makrophysikalischer Körper und hinsichtlich der Atome. Nach Gassendis Auffassung ist es ein Vorzug der atomistischen Physik, daß sie die Frage nach dem Ursprung der Bewegung befriedigender beantwortet als andere Theorien 92 . Insofern der Ursprung der Bewegung innerhalb des physikalischen Bereiches (der „causae secundae") einem ersten Bewegungsprinzip entstammen muß, das seinerseits als Prinzip nicht noch von anderen Ursachen bewegt werden darf, zielt die Frage auf ein erstes, eigenständiges, also „inneres" Bewegungsprinzip, das die Bewegung gleichsam aus sich selbst heraus produziert 93 . Aber der Erklärungsansatz muß im ganzen den mechanistischen Grundsätzen genügen; daraus folgt, daß das Bewegungsprinzip seinerseits körperlich zu sein hat; erst damit ist in Gassendis Augen, anders als in der aristotelischen Physik, eine Bewegungserklärung formuliert, die die Physik ohne Hilfe der Theologie zu leisten vermag. Eine weitere Abweichung von der aristotelischen Doktrin ist die Folge: wenn das Bewegungsprinzip körperlich ist, kann es nicht wie bei Aristoteles unbewegt sein, sondern muß sich auch selbst in ständiger Bewegung befinden 94 . Das gesuchte physikalische Bewegungsprinzip muß demnach unabhängig, körperlich und bewegt sein sowie auch die Fähigkeit haben, Bewegungen auszulösen. Die antike Fragestellung nach dem Ursprung oder Prinzip der Bewegung (άρχή κινήσεως), abgewandelt im Rahmen sowohl christlicher Theologie als auch mechanistischer Philosophie, führt bei Gassendi zur Formulierung von vier Bedingungen, denen die atomare Mechanik zu genügen hat, und man sieht sofort, daß Gassendis Beschreibung atomarer Bewegungskraft mit ihrem Doppelaspekt von Zustandsveränderung und Zustandserhaltung
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Habet vero et haec opinio illud interim commodi, ut veluti originem radicemque intimam declaret, ex qua omnis motus omnisque actio oritur in causis vocatis secundis, cum non perinde sane valeat declarari a caeteris (I 280 a 2). . . . hoc unum pene esse videtur de iis disquirendum generaliter, cuiusmodinam sit in illis interim illud radicale et, ut Aristoteles dicit, primum motus principium, quod etiam, ut primaria est, ita proprie dicitur causa (I 333 a 2). Itaque necesse omnino videtur, ut cum in serie moventium, quorum moventur alia ab aliis, procedi in infinitum non possit, perveniatur ad unum primum, non quod immotum moveat, sed quod ipsum per se moveatur (I 337a 1). Dicendum itaque videtur imprimis internum agendi principium, quod in causis secundis est, non incorpoream aliquam, sed corpoream substantiam esse . . . Q u o d vero principium agendi in corporibus esse debeat corporeum, vel ex eo intelligi potest, quod physicae actiones corporeae cum sint, nisi a principio physico corporeoque elici non possint (I 334a 2).
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genau diese Forderung erfüllt 95 — womit freilich keineswegs ausgeschlossen ist, daß auch eine andere Konzeption diese Forderung erfüllen könnte. Die Anwendung der für die Makrophysik entwickelten Grundbegriffe hätte ζ. B. nur eine bestimmte Interpretation der vierten Bedingung erforderlich gemacht, wonach Atome zwar nicht jeweils ihre eigene Bewegung, wohl aber, gemäß einem Impulserhaltungssatz, die Bewegung anderer Atome durch Impulsübertragung auslösen können. In diesem Fall hätte der Ursprung der atomaren Bewegung seinerseits als physikalischer Kraftstoß verstanden werden müssen; der Bewegungsanstoß für die Atome durch Gott — Lösung der zweiten Form des Ursprungsproblems der Bewegung — wäre als einmalige Beschleunigungsarbeit im physikalischen Sinne zu beschreiben. Das hieße aber, daß Gott bei seiner Schöpfungsarbeit physikalischen Gesetzen unterworfen gewesen ist und nach seinem einmaligen Bewegungsanstoß nicht mehr in den Bewegungsablauf der von ihm geschaffenen Elemente der ersten Materie eingreifen darf. Seine Omnipotenz und Kreativität, so wie Gassendi sie im Rahmen christlicher Theologie darstellt, läßt diese Einschränkungen jedoch nicht zu. Gott ist in seinem Verhalten keineswegs Gesetzen unterworfen, die er selbst allererst nach seinem Gutdünken entwirft und festsetzt; für ihn gelten mechanistische Grundsätze nicht, und seine Kraft ist für Menschen unbegreiflich 96 . Es ist also unstatthaft, Physik auf Gott und das, was er tut, anzuwenden; der antike Physiker Straton wird dafür schwer getadelt 97 . Insbesondere ist es weder mit Gottes Allmacht noch mit seiner Schöpferkraft vereinbar, daß die geschaffenen Dinge nach einmaligem Anstoß sich und ihre Bewegung selbst erhalten; so wie der Schöp-
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Videlicet praeter moralem metaphoricumque motorem quaeritur quod sit in unaquaque re naturali, quae per se agit ac movetur, principium actionis seu motionis primum . . . ideo primam causam moventem in physicis rebus esse atomos, quod dum ipsae per se et iuxta vim a suo authore ab initio usque acceptam moventur, motum omnibus rebus praebent sintque adeo omnium, quae in natura sunt, motuum origo; principium et causa (I 337a 2). Et de D e o quidem alia ratio est, quoniam infinitae virtutis cum sit et ubique praesens, non ullo sui motu, sed nutu solo agere et movere quidlibet potest (I 334 b 1) . . . cum universe nulla sit res, quam Deus non possit destruere, nulla quam non producere, nulla quam non variis, etiam oppositis qualitatibus immutare . . . (I 308 a 2). C u m non sit vero fas et aequum naturalem notitiam et vim, qua pollet anima in sui administratione, aestimare ex modulo nostrae intelligentiae viriumque ipsi obsequentium, quanto est minus aequum et fas ex eodem ipsa aestimare super excellentem notitiam et vim, qua Deus procurat mundum? (I 325a 2). Zu Straton: Videtur pessime omnium sensisse Strato physicus, dum omnem divinam vim in natura sitam opinatus sie illam censuit habere causas gignendi, augendi, minuendi, ut careat omni non modo figuro, sed etiam sensu (I 296b 2).
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fungsakt allein nicht ausreicht, um die Welt in der Existenz zu halten ohne ständige Einwirkung Gottes, bedürfen auch Bewegungsabläufe und Gesetzmäßigkeiten nicht nur seines Anstoßes, sondern auch seiner erhaltenden K r a f t 9 8 . Gott löst daher die Bewegung der Atome nicht nur aus, sondern erhält sie ihnen auch", und insofern jedes einzelne Atom gleichsam ein individuelles Geschöpf ist, teilt er ihnen ihre speziellen Bewegungen zu wie ihre speziellen Eigenschaften; darum hat jedes einzelne Atom die Tendenz, seine Bewegung zu erhalten, auch wenn Bewegungshindernisse bestehen 1 0 0 . Die Schöpferkraft Gottes hat also genau jene doppelte Funktion von Bewegungsveränderung und Bewegungserhaltung, die er dann auch den Atomen, als seinen unmittelbarsten Geschöpfen, aus denen alle anderen Dinge zusammengesetzt sind, in Gestalt ihrer Bewegungskraft überträgt. Die von der Makrophysik abweichende Darstellung der atomaren Mechanik ist für Gassendi demnach ausgezeichnet vereinbar mit der theologischen Kennzeichnung göttlicher Omnipotenz und Kreativität. Ohne Hoffnung auf die Möglichkeit empirischer Prüfung der atomaren Bewegungstheorie hat Gassendi sich in durchaus rationaler Weise an grundsätzlichen philosophischen und theologischen Erwägungen orientiert. Weder naiver Empirismus noch unkritischer Eklektizismus sind die methodologischen Voraussetzungen für die fehlende Abgeschlossenheit 98
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Neque dicas potuisse mundum adeo perfectum a Deo creari, ut deinceps per se consistens curatore non indigeret, siquidem cum mundus ex seipso non sit et dempta opera creatoris, quae ipsum e nihilo eduxit, nihil sit, non potest sane nihil non esse, nisi perseverante vi, a qua semel habuit, ut aliquid esset (I 323 b 1). Uno verbo, satis magnum argumentum est, ut Deus habeatur potentiae infinitae, quod mundum istum . . . tum ex nihilo fecerit, tum ne recidat in nihilum servet (I 142b 2). Si (sc. Deus) potentissimus est, oportet profecto, ut nihil potentiam ipsius effugiat; hoc autem qua ratione fiat, nisi et produxerit omnia et omnia vires explicent, quas ipse cum tribuerit, coagendi etiam moderetur? (I 323 a 2). Dicimus . . . posse admitti esse atomos mobiles et actuosas ea movendi agendique vi, quam Deus illis in ipsa earum procreatione indiderit cuique etiam cooperetur, quatenus ut omnia conservat, ita coagit rebus omnibus (I 280a 2). Hier wird die Bewegungskraft der Atome sogar auf die unmittelbare und ständige „Zusammenarbeit" mit Gott zurückgeführt. Dicimus . . . posse admitti esse atomos primam materiam, quam Deus initio finitam crearit, quam in aspectabilem hunc mUndum formarit, quam suas deinceps obire vires et praescripserit et permiserit . . . (I 280 a 1) . . . sufficiat iam invisa haec rerum semina sie videri esse comparata, ut pro iis motionibus, quas Deus ab initio ipsis indiderit seu in quas composuit temperavitque eas, quae atomi forent, coeperint ab illo usque tempore propagationem continuationemve earum, quae perseverant, generationum (I 493 b). Intelligere licet Deum solo ordinario concursu res conservantem foventemque sinere res suas agere vices ac pro institutis inditisque ab initio motionibus cursum tenere, quem coeperint (I 494 a 1). Supponi etiam potest atomos singulas aeeepisse a Deo creante ut quantulameumque suam corpulentiam magnitudinemve et figuram varietatis ineffabilis, sie et vim congruam sese movendi, ciendi, evolvendi (I 280 b 1).
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des Gegenstandsbereiches der Mechanik und damit für die semantische Inkonsistenz der für atomaren und makrophysikalischen Bereich verwendeten Grundbegriffe; im Gegenteil, ein — durch die wissenschaftsgeschichtliche Situation im wesentlichen bedingter — fehlender Bezug zur empirischen Erfahrung und die starke Anlehnung an sehr allgemeine philosophische und theologische Fragestellungen und Postulate sind dafür verantwortlich. Insgesamt zeigen die vorstehenden Überlegungen, daß die Grundsätze der Gassendischen Mechanik nicht jene methodologischen Mängel aufweisen, die man ihnen zuzuschreiben pflegt 101 . Ihre Erstellung ist weit mehr von rationalen und theoretischen Gesichtspunkten bestimmt als gemeinhin angenommen, und gerade dort, wo wissenschaftsgeschichtliche Fortschritte zu verzeichnen sind, läßt sich der durchaus ernstzunehmende Versuch ,01
erkennen,
die abstrakten und theoretischen Grundsätze
auf
Vgl. ζ. Β. P. A. Pav, Gassendi's Statement of Inertia, a. a. Ο . S. 2 3 : „Gassendi had in his hands many central elements of the new science, yet he was a victim of his historical, eclectic, profuse approach which remained qualitative and diffuse rather than quantitative and precise". Ähnlich auch M.Carre, Pierre Gassendi and the New Philosophy, in: Philosophy 33, 1958, S. 1 1 2 - 1 2 0 , bes. S. 117. R . S. Westfall, Force in Newton's Physics, a. a. O . S. 103f.: „The gravity of atoms . . . was a concept derived from Epicurus and the ancient atomists . . . The same Gassendi, who stated the principle of inertia also stated that „materiam non inertem, sed actuosam esse" . . . Undoubtedly the contradiction we face here derived in part from the character of Gassendi as a philosopher. Unlike Descartes . . . Gassendi was an eclectic in the ultimate sense of the word, a scholar consciously combining the tradition to isolate every strand of value". Zum Teil sieht Westfall Gassendis atomaren Kraftbegriff aber auch in Verbindung mit dem im 17. Jahrhundert gebräuchlichen Impulsbegriff, der eine Konsequenz des mechanistischen Ansatzes sei. Er behauptet deshalb sogar, daß der atomare Kraftbegriff für Gassendis Philosophie insgesamt zentral ist: „The gravity of atoms . . . provided the central dynamic concept in Gassendi's philosophy" (ibid. S. 104). Damit geht Westfall zweifellos zu weit; die entscheidende Bestimmung des Gassendischen Kraftbegriffes für Atome, die Erhaltung der Bewegungskraft für jedes einzelne Atom, fehlt bei den verschiedenen Impulsbegriffen ( z . B . auch bei Descartes); und der atomare Kraftbegriff spielt in Gassendis Makrophysik keinerlei Rolle. M.Jammer, Concepts of Force, a. a. Ο . S. 104, erwähnt Gassendi nur mit einem kurzen Hinweis. Aufschlußreich für die Fehleinschätzung der Gassendischen Methodologie ist Koyres Urteil: „Imaginery spaces outside the world are obviously not subject to experiment, any more than the bodies that God may put there. Gassendi realized this; and it rebounds to his credit. Yet it would be rather hard to dwell on this, and to emphasize the flagrant incompatibility of Gassendi's argument with the empirical epistemology that he professed and, it must be added, had inherited from Epicurus together with his concepts of atoms and vacuum" (Metaphysics and Measurement, London 1968, S. 127). Tack wiederholt neuerdings die These von der Unvereinbarkeit von Atomistik und theologischer Metaphysik bei Gassendi (ζ. B. a. a. O . S. 152). Diese These beruht aber auf einem — wie man wohl sagen darf, heute überholten — positivistischen Wissenschaftsbegriff, der unter allen Umständen sämtliche metaphysischen Elemente aus dem Bereich der Wissenschaft ausschließt.
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wichtige empirische Generalisationen, vor allem auf die Fallstudien Galileis, zu Erklärungszwecken anzuwenden und so die Beziehung zur Erfahrung herzustellen.
2.1.2. Theorie und Erfahrung Die Beschreibung der Beziehung zwischen Theorie und Erfahrung ist eines der wichtigsten Indizien für den methodologischen Standpunkt eines Autors. Im vorhergehenden Kapitel ist gezeigt worden, daß Gassendi theoretische Hypothesen nicht aus empirischen Sätzen ableitet; im folgenden soll untersucht werden, wie er das Verhältnis von empirischen Beobachtungen oder experimentellen Ergebnissen zu bereits bestehenden Theorien beurteilt. Konsequente Sensualisten und Empiristen unterscheiden scharf zwischen theoretischen Behauptungen und rein empirischen Sätzen und leugnen daher die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretation beobachtbarer Phänomene; falls ein empirischer Basissatz einer Theorie widerspricht, muß die Falschheit der Theorie damit als bewiesen gelten; die Konstruktion von Hilfshypothesen oder der Hinweis auf ceterisparibus-Klauseln zum Schutze der Kerntheorie ist dann methodologisch unzulässig. Im Vordergrund der folgenden Betrachtungen stehen zwei wichtige Bereiche der Physik des 17. Jahrhunderts, in denen Gassendi sich besonders eifrig an der lebhaften wissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit beteiligt hat. Die Annahme der Existenz eines leeren Raumes führte zu verschiedenen experimentellen Versuchen, ein Vakuum künstlich herzustellen, deren theoretische Deutung schließlich die Konstruktion des Barometers zur Folge hatte — neben Mikroskop, Teleskop, Thermometer und Pendeluhr eines jener fünf Instrumente, die die experimentelle Technik im 17. Jahrhundert entscheidend verbessert haben; und die Untersuchungen der Projektil- und Fallbewegung auf der Grundlage neuer mechanischer Grundbegriffe ermöglichte eine neue Betrachtungsweise verschiedener bereits bekannter Experimente und ließ vor allem wichtige Folgerungen bezüglich der Erdbewegungsfrage zu. Als Atomist, der zugleich an der Entwicklung der zeitgenössischen Mechanik beteiligt war, besaß Gassendi das theoretische Rüstzeug zu einer klaren Beurteilung der wissenschaftlichen Situation, auch wenn er selbst weder experimentell noch theoretisch immer in der vordersten Front gestanden hat. In erster Linie ist daher die Darstellungsweise seiner Zusammenfassungen und
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Kommentare zu beiden Gebieten methodologisch zu kennzeichnen, denn auch die Form der Berichterstattung ist in einer Zeit, da Unsicherheit, zögernde Zustimmung oder vorsichtige Zurückhaltung den Standpunkt der meisten Wissenschaftler bestimmt, publizistisch wichtig und daher historisch wirksam, zumal wenn man das Ansehen bedenkt, das Gassendi zu seiner Zeit genoß. Dennoch ist dort, wo selbständige Leistungen sichtbar werden, besondere Aufmerksamkeit geboten. Alle Versuche, ein Vakuum herzustellen, müssen — wie sich von selbst versteht — als aussichtslos gelten, wenn wie in der aristotelischen und scholastischen Physik die Existenz des leeren Raumes geleugnet wird. Die Aristoteles-Rezeption brachte allerdings eine nicht unwichtige Veränderung der Begründung dieser These mit sich. Die aristotelische Definition des Ortes macht die Existenz des leeren Raumes aus logischen Gründen unmöglich 1 ; viele Rezipienten im Mittelalter empfanden dies jedoch als Einschränkung der göttlichen Allmacht, weil auch Gott nichts logisch Unmögliches schaffen kann. Man nahm daher an, daß zwar Gott (wenn es in seinem Belieben gestanden hätte), nicht aber eine natürliche oder endliche Kraft ein Vakuum herstellen kann, und daß insbesondere die Natur von sich aus vor dem Vakuum zurückschreckt. Als empirischer Beleg wurden häufig jene pneumatischen Phänomene zitiert, die bereits in der Antike von Heron von Alexandria und Philon von Byzanz anhand zahlreicher Experimente diskutiert worden waren 2 . Die Kenntnis dieser Experimente, die schließlich zum Sturz der horror-vacui-Theorie beitragen sollte, blieb auf diese Weise auch in der scholastischen Physik erhalten3.
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„Raum" bestimmt Aristoteles als Grenze des umschliessenden gegen den umschlossenen Körper (xö πέρας τοϋ περιέχοντος σώματος, oder genauer τό τοϋ περιέχοντος πέρας άκίνητον πρώτον, vgl. De cael. IV, 3, 310b7). Als Beispiel vgl. etwa Duns Scotus Phys. 1 IV Quaest. 13 in: Op. om. II S. 269. Es handelt sich hauptsächlich um das Hochsteigen des Wassers in Geräten wie der Klepsydra und dem Heber, das freilich von Heron und Philon nur als Beweis der Unmöglichkeit natürlicher größerer vacua interspersa angesehen wurde, während sie andererseits aufgrund ebenderselben Phänomene die künstliche Vergrößerung der vacua interspersa für möglich hielten. Vgl. dazu A. G . Drachmann, Ktesibios, Philon and Heron. Α Study in Ancient Pneumatics, Acta Historica Scientiarum Naturalium et Medicinalium 4, Kopenhagen 1942; M. Boas, Hero's Pneumatica: Α Study of its Transmission and Influence, in: Isis 40, 1949, S. 39—48. Bei Heron ist vor allem die theoretische Einleitung zum ersten Buch der Pneumatica zu vergleichen (Heronis Alexandrini opera quae supersunt omnia I, rec. W.Schmidt, Leipzig 1899, S. 1 - 3 1 ) . Vgl. dazu F. Krafft: Artikel „Heron von Alexandria", in: K. Faßmann u. a. (Hrg.): Die Großen der Weltgeschichte, Bd. 2, Zürich 1972. Zur Tradierung, Übersetzung und Verbreitung der Pneumatica Herons bis zum 17. Jahrhundert vgl. die oben Anm. 2 genannte Arbeit von M. Boas, ferner W. Schmidt, Heron
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In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gehen führende Physiker nicht nur von der Existenz des Vakuums aus, sondern weisen zur Erklärung einiger pneumatischer Erscheinungen zuweilen sogar auf die Wirkung des Luftdruckes hin 4 . Zu ihnen gehören Beeckman und Baliani, dessen Korrespondenz mit Galilei zu diesem Thema bekannt ist 5 ; Galilei selbst hielt zwar ebenfalls die Existenz des Vakuums für möglich, blieb jedoch bei einer Art restringierter horror-vacui-Theorie, wonach die Natur von sich aus kein Vakuum zuläßt, aber zur Verhinderung seiner Entstehung nur Kohäsionskräfte aufbringt, die endlich groß, meßbar und daher technisch überwindbar sind, so daß künstliche Vakua durchaus hergestellt werden können 6 . Auch Gassendi geht in seiner Darstellung nicht von der Frage aus, ob von N a t u r aus leere Räume existieren, sondern vom technischen Problem, wie größere leere Räume technisch zustandegebracht werden können 7 .
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v. Alexandrien im 17. Jahrhundert, in: Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik 8, 1898, S. 1 9 7 - 2 1 4 . Zum Vakuum-Begriff in der Scholastik Lasswitz, Geschichte des Atomismus . . . I, a. a. O . S. 201—208. Der Terminus „horror vacui" wurde vermutlich yon Johannes Canonicus zum erstenmal verwendet. Eine genauere Darstellung erübrigt sich angesichts der ausführlichen Dokumentation bei Cornells de Waard, L'experience barometrique. Ses antecedents et ses explications, Thouars 1936. Die Existenz des Vakuums behauptet Beeckman bereits 1614 (Journal I S. 36) und wagt sie 1618 in seiner Doktorthese an der Universität Caen zu verteidigen (ein Hinweis auf den Zusammenhang der Erscheinungen bei Saugpumpen mit dem Luftdruck im Journal I S. 4 6 f . , 79, 200). U m 1630 waren diese Überlegungen in Frankreich recht verbreitet, vgl. ζ. B. einen Brief von Mersenne an Beeckman vom 1. 10. 1629 (Correspondence du Marin Mersenne, a. a. Ο . II S. 282f.) oder den langen Brief von Descartes an Reneri vom 2. 6. 1631 (CEuvres A T I S. 205—208). Baliani stellte bereits Experimente zum Luftdruck an, vgl. seinen Brief an Galilei am 27. 7. 1630 und Galileis prompte, aber vorsichtige Antwort vom 6. 8. 1630 (Opere X I V S. 124—130), ferner Balianis zweiten ausführlichen Brief an Galilei aus dem Oktober 1630 (Opere X I V S. 157-160). Auch bei weniger bekannten Autoren dieser Zeit finden sich ähnliche Gedankengänge; ein Beispiel ist Jean Rey, Essai sur la recherche de la cause pour laquelle l'estain le plomb augmentent de poids quand on les calcine, Bazas 1630. Das erste Experiment, in dem die Grenze der Steighöhe des Wassers in Saugpumpen nachgewiesen wurde, fand mit Hilfe eines ca. 4 m langen Rohres zwischen 1639 und 1642 (eine genauere Datierung ist nicht möglich) unter Begutachtung eines römischen Wissenschaftszirkels statt, dem auch Torricelli angehörte. Die technische Leitung hatte ein junger, damals nicht unbekannter Mathematiker und Astronom namens Gasparo Berti. Verschiedene Teilnehmer (ζ. B. Kircher, Zucchi) haben später darüber berichtet, am ausführlichsten E . Maignan in einem 1653 in Toulouse publizierten Werk der Naturphilosophie (Cursus philosophicus concinnatus ex notissimis cuique principiis . . ., S. 1925 — 1936). Vgl. die Beschreibung der Experimente zur Messung des horror vacui am ersten Tag der Discorsi (Opere VIII S. 59ff.). Zugrundegelegt wird Kapitel IV des Buches II D e Loco et Duratione Rerum in der 1. Physik-Sectio des Syntagma Philosophicum (I 196 b 2ff.).
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Obgleich die Eliminierung der horror-vacui-Theorie sein eigentliches Ziel ist, wird die Argumentation sorgfältig und pädagogisch vorbildlich aufgebaut. Nach Entwicklung der theoretischen Hypothesen bespricht Gassendi zunächst einige elementare, jedem Laien sich aufdrängende empirische Einwände, geht dann zu gezielten Experimenten über, die noch unterschiedlich interpretierbar sind, und führt erst zum Schluß Beobachtungen an, die eindeutig gegen die scharfe Fassung der horror-vacui-Theorie sprechen. Bereits die Überlegungen der ersten Stufe sind, obgleich nicht auf hohem physikalischen Niveau stehend, charakteristisch für die Argumentationsstruktur. Gassendi setzt dabei die im vorhergehenden Kapitel eigens gesicherte Annahme voraus, daß die Materie diskret ist, d. h. daß ihre Teile kleine, nicht wahrnehmbare leere Räume enthalten8 (V). Daraus folgt offenbar, daß eine Kompression der Körperteilchen zur Entstehung größerer Vakua führt, wenn verhindert werden kann, daß von außen fremde Teilchen eindringen (Η 1). Empirisch ist ferner bekannt, daß jeder Körper seiner Kompression nur endlich großen Widerstand entgegensetzt (H2). Die Annahmen (Η 1) und (H2) implizieren dann die Behauptung, daß, falls die ceteris-paribus-Klausel von ( H l ) erfüllt ist — wenn also der Einfluß von Störfaktoren in Gestalt fremder, von außen eindringender Atome ausgeschlossen werden darf —, endlich große Kompressionskräfte genügen, um größere Vakua herzustellen (H3). Diese Folgerung gilt speziell natürlich auch für Luft und Wasser (H4), für diejenigen Stoffe also, die man bisher bei entsprechenden Versuchen benutzt hatte, gerade um die ceteris-paribus-Klausel zu erfüllen, denn bei allen anderen Stoffen ist das Eindringen von Luft- bzw. Wasserteilchen nur schwer zu verhindern. Diese von theoretischen Prämissen ausgehende Überlegung führt also zu dem Ergebnis, daß im Widerspruch zu Folgerungen aus der scharfen Fassung der horror-vacui-Theorie die künstliche Herstellung größerer leerer Räume im Prinzip technisch möglich ist, und leitet damit zur Konzeption und Durchführung geeigneter Experimente an9. 8
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Uberschrift von Kapitel III (I 192a 1 - 1 9 6 b 1): D a n inane disseminatum seu inania spatiola mundi corporibus interspersa. Diese Interpretation ist eine logische Rekonstruktion des folgenden Textes: Dicimus iam (sc. inane) coacervatum non perinde quidem dari existereve secundum naturam, at posse tarnen praeter naturam, hoc est vi aliqua corporibus facta creari, si eo modo vis tanta sit, quae illam naturae propensionem ad tuendum inane interspersum sistere sie valeat, ut spatiolis inanibus nonnihil, quam sint, minoribus redditis, quiequid ex illis detrahetur, in unum veluti acervum conducat sieque ex complusculis spatiolis spatiolorumque resegmentis inanibus inane spatium grandiusculum faciant. Ista ut
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Bevor Gassendi in der zweiten Stufe seiner Argumentation zur Beschreibung und Auswertung dieser Experimente übergeht, diskutiert er jedoch noch einige einfachere empirische Einwände gegen die bisherigen Behauptungen (V) und (Hl)—(H4). Der erste Einwand richtet sich gegen (H4) und benutzt Hinweise auf empirische Kennzeichen der Luft und des Wassers: aufgrund ihrer Gasförmigkeit bzw. Flüssigkeit dringen sie in alle freien Räume ein; daher scheint gerade bei diesen Stoffen die Existenz leerer Räume unmöglich zu sein ( F l ) 1 0 . Seine Formulierung ist aber so vage, daß er auch (V) zu treffen, d. h. nicht nur die Herstellungsmöglichkeit größerer Vakua, sondern auch die Existenz leerer Zwischenräume im normalen Aggregatzustand der Luft zu leugnen scheint. In seiner Entgegnung ignoriert Gassendi die (F 1) zugrundeliegenden empirischen Beobachtungen; seine Antwort besteht vielmehr in einer theoretischen Interpretation der Flüssigkeitseigenschaften, die beide Interpretationen von ( F l ) zugleich als irrelevant erweist. Flüssig sind danach genau diejenigen Stoffe, deren Atome nur kleine Berührungsflächen miteinander haben ( H 5). Daraus folgt, daß bei flüssigen Körpern erstens die vacua interspersa besonders groß sind und daher zweitens ihre Kompression besonders leicht ist 1 1 . Die theoretische Interpretation von ( F l ) erlaubt auf diese Weise sogar eine Bestätigung der angegriffenen Hypothesen (V) und (H4). Insoweit ( F l ) gegen (H4) gerichtet ist, wird offenbar behauptet, daß die ceteris-paribus-Klausel von (H4) nicht erfüllbar ist. Völlig zu Recht
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dicantur paullo explicatius, si quid sit quod dari inane grandiusculum impediat, ipsa est fluxilitas partium in aere praesertim et aqua, quae duo sunt, in quibus exploratum hactenus est, naturam prorsus exhorreat an quadamtenus patiatur inane (I 1 9 6 b 2 — 1 9 7 a l ) . Die endlich große Widerstandskraft gegen Kompression nennt Gassendi hier „naturae propensio ad tuendum inane interspersum"; die ceteris-paribus-Klausel wird nur bezüglich des Spezialfalles von Luft und Wasser angegeben und so mit dem ersten Einwand gegen ( H 4 ) verknüpft. Ex eo, quod sit (sc. aer) per se fluidus, consequi videtur quasi ex accidenti, ut nullum grandiusculum inane intra ipsum sit aut vulgo etiam seu ritu naturae ordinario effici possit, prout fluxiles eius partes, donec se premunt invicem, ita compellunt se mutua, ut locum mutare nulla earum valeat, quin alia in locum illius succedat sicque omnia loca plena semper sint nullusque locus fiat relinquaturve inanis (I 197a2). N o n vero sunt haec corpuscula in naturali aeris situ summe ad invicem compressa, sed laxitatem quandam tuentur, secundum quam possint compressiora evadere. Q u a r e . . . nihil vetat aerem quapiam vi sie cogi, ut illius corpusculis sese invicem ordinatius secundum facieculas suas coaptantibus . . . locum sensibilem grandiusculumve et coacervatum relinquere, in quo aeris nihil sit, sive qui habeatur aeris inanis, si adhibito modo corpore obstetur, ne aer prorsum pulsus eo regrediatur (I 197b2). Die ceteris-paribus-Klausel wird hier besonders klar formuliert. Zur Flüssigkeitsdefinition, die Gassendi an dieser Stelle nicht explizit wiederholt, sondern nur durch den Ausdruck „laxitas quaedam" andeutet, vgl. I 4 0 2 b 2 .
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bemerkt Gassendi dazu, daß diese Klausel prinzipiell immer dann jedenfalls kurzfristig erfüllt sein wird, wenn die Kompressionsgeschwindigkeit erheblich größer ist als die Geschwindigkeit der nachströmenden Teilchen — ein für den theoretischen Charakter der Argumentation kennzeichnendes Gedankenexperiment 12 . Aus (H2) und (H4) folgt ferner, daß die Bewegung jedes Körpers durch die Luft kurzzeitig Luftkompression hervorruft. Dagegen könnte die Beobachtung angeführt werden, daß einige Körper, ζ. B. menschliche Körperteile wie die Hand, bei ihrer Bewegung durch die Luft keinerlei Widerstand erfahren (F2). Nach Gassendis Auffassung besteht dieser Widerstand, ist aber so klein, daß er im allgemeinen nicht beobachtbar ist, und das wiederum aus theoretischen Gründen: gerade weil der „Flüssigkeitsgrad" der Luft extrem hoch ist, bedarf es zur Bewegung kleiner Körper durch die Luft nur sehr geringer Kompressionskräfte (H6) 13 . Auch hier ist weniger der sachliche Gehalt der Diskussion als vielmehr ihre Form bemerkenswert — daß nämlich Phänomene, die aufgrund gewisser Hypothesen zu erwarten sind, unter Benutzung zusätzlicher Hilfshypothesen für nicht wahrnehmbar erklärt werden. Der dritte Einwand soll zugleich (H6) erschüttern und (F2) stützen. Er kann insofern selbst als theoretisch bezeichnet werden, als nunmehr die aristotelische Theorie vom natürlichen Ort der Körper und zusätzlich die Annahme eines leeren Raumes außerhalb der Lufthülle der Erde herangezogen werden, wobei allerdings die Lehre vom natürlichen Ort der Körper nur unmittelbare Beobachtungen systematisiert. Immerhin, diese beiden Voraussetzungen implizieren, daß die nach oben steigenden Luftteilchen bei Kollisionen unbegrenzte Ausweichmöglichkeiten haben und daher nicht komprimiert zu werden brauchen (F3), so daß in der Tat bei Bewegungen durch die Luft kein Widerstand existiert (F2). Diesen Angriff wehrt Gassendi durch die Einführung einer weiteren theoretischen Hypothese ab, nach welcher die Luft schwer ist (H 7). Zur Begründung von 12
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I 1 9 7 b 2 f . Gassendi nennt als Beispiel die Bewegung einer Schleuder- oder Geschoßkugel, aber die Messung der vorkommenden Geschwindigkeiten war natürlich noch nicht möglich. Insofern handelt es sich dennoch um ein Gedankenexperiment. Manus tarnen et caetera ita moventur per aerem, ut id nulla pene vi fiat (I 198 a 2), während doch andererseits gilt: nihil movetur per aerem, quod non ipsum aerem cogat ad talem quampiam subingressionem (ibid.). Antwort Gassendis: Dico vero causam videri, quod in vulgari per aerem motu locus statim retrorsum pateat, in quem (Text: quae) vel tantillum compressae antrorsum partes sese effundant sicque paucarum adeo subingressio coaptatioque necessaria sit, ut ea fieri citra resistentiam sensibilem deprehendatur (ibid.). Auch die Austauschmöglichkeit der Luftteilchen spielt also eine Rolle.
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(Η 7) genügt der Hinweis auf die atomistische Struktur der Luft und die atomistische Gravitationstheorie, wonach alle Luftatome von der Erde umgekehrt proportional zu ihrer Entfernung angezogen werden 14 . Der letzte Einwand schließlich richtet sich gegen (H7). Wenn die Luft schwer ist, müßte sie auf alle Körper an der Erdoberfläche Druck ausüben. Kein Mensch nimmt jedoch einen auf ihn ausgeübten Luftdruck wahr (F4). Auch in diesem Fall akzeptiert Gassendi die Folgerung aus (H7) und versucht mit Recht die Nichtwahrnehmbarkeit des Luftdruckes durch die Anpassung der Menschen an ihre Umweltbedingungen zu erklären (H8) 1 S . Zum Abschluß sichert er (H 7) zusätzlich durch theoretische Einbettung: aus (H7) kann auch auf die — in seinen Augen bestätigte — Annahme (H2) geschlossen werden, sofern diese auf den Fall der Luftkompression spezialisiert wird 16 . Ohne Zweifel ist das wissenschaftliche Niveau dieser Diskussion nicht besonders hoch; die Einwände sind naiv und wenig gezielt, die Antworten unpräzise und ohne hohen empirischen Gehalt. Dennoch ist ihre Struktur methodologisch aufschlußreich, denn sie läßt eine Haltung erkennen, die den Theoretiker auszeichnet, der auf empirische Einwände, die seine Theorie zu falsifizieren drohen, durch theoretische Umdeutung oder Konstruktion immer neuer theoretischer Hypothesen reagiert, die die ursprünglichen Behauptungen gegen die Einwände schützen sollen. An keiner Stelle läßt Gassendi selbst sich zur Behauptung empirischer Tatsachen verleiten; seine Schutzhypothesen (H5)—(H8) gegen die empirischen Einwände (Fl)—(F4) sind sämtlich theoretisch.
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At undenam esse ipsam aeris resistentiam existemus, cum, si levis quidem ut putatur sit, nullo aut levissimo nisi compelli sursum versus spatia, quae hisce inferioribus sint longe inaniora, possit? . . . Respondeo . . . videri potius aerem esse suapte natura gravem . . . Nihil autem est mirum esse aerem gravem, quia, cum nihil aliud esse videatur quam textura quaedam . . . corpusculorum ex terra et aqua prodeuntium, . . . eam ob causam videtur, naturae terrenae cum sit, ab usque atmosphaerae ambitu ipsam versus terram conniti, . . . seu ea (sc. gravitas) sit, ut vulgo putatur, qualitas quaedam insita seu, ut videtur verisimilius, ipsa terrae attractio sit . . ., unde et massa tota aeris sit gravis (I 198a2—b 1). Neque verum est mirum, si ipsum aeris pondus non sentiamus . . . adde quod ipsi aeri ab usque exortu assuefacti par est eius pondus tanto sentiamus minus quam vestium, quibus gestandis sumus assuefacti, quanto aer minus ponderat quam vestes (I 1 9 8 b 2 ) . Huiuscemodi ergo aeris ab extima usque atmosphaerae superficie pressio causa esse videtur eius resistentiae, quam experimur, dum aerem ad profundiorem aliquem subingressionem cogere, donee pone locus, in quem se recipiat, non patet, conamur (I 198 b 2 ) . Dieser Erklärungsversuch ist sachlich allerdings insofern nicht ganz einwandfrei, als er die Trägheit der Luftteilchen unberücksichtigt läßt.
Konstruktion und Prüfung von Theorien
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Im zweiten Abschnitt seiner Argumentation bringt Gassendi die horror-vacui-Theorie (im folgenden abgekürzt durch „ H V T " ) ins Spiel, die die Unmöglichkeit der künstlichen Herstellung eines Vakuums impliziert, und beschäftigt sich mit den Experimenten, die im Lichte und zur Bestätigung dieser Theorie ersonnen und durchgeführt worden sind. Bereits in seinen einleitenden Bemerkungen stellt er fest, daß die Ergebnisse dieser Experimente auch ohne die H V T interpretierbar sind, weil die beobachtbaren Wirkungen, die dem horror vacui zugeschrieben werden, auch auf andere physikalische Ursachen zurückgeführt werden können, und daß die neue Interpretation darüberhinaus bezüglich derselben Experimente Prognosen gestattet, die empirisch bestätigt, aber nicht aus der H V T hergeleitet werden können 1 7 . Damit ist eine neue Stufe der Auseinandersetzung erreicht: die von Gassendi unterstützte Theorie ist der H V T nicht nur gleichwertig, d. h. erlaubt nicht nur die Erklärung derselben Phänomene, sondern ist ihr überlegen, d. h. prognostiziert neue Fakten, die bestätigt werden können. Die beiden von Gassendi zur Illustration beigezogenen Experimente waren allen wissenschaftlich Interessierten seiner Zeit bekannt. Die Blätter eines Blasebalgs, der ausgeblasen und dessen Öffnung dann verstopft worden ist, lassen sich nicht mehr ohne weiteres auseinanderziehen. Diese Tatsache wurde auf den horror vacui zurückgeführt, und man nahm deshalb an, daß die Blätter des Blasebalgs eher zerreißen als sich trennen lassen würden. Diese Prognose wurde freilich — vom Standpunkt der H V T aus vernünftigerweise — niemals geprüft, weil diese Prüfung allenfalls zu sinnloser Materialzerstörung geführt hätte. Gassendi seinerseits führt den zu beobachtenden Widerstand gegen die Trennung der Blase-
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Atque ex his demum intelligi licet, qua ratione possit inane quodpiam grandiusculum sive coacervatum dari, et quemadmodum res non sit, quam natura tantopere, ac reputari solet, exhorreat, dum fore aiunt, ut caelum potius ad terram usque recurvetur terraque in caelum sese evehat, quam ut natura quid inane patiatur (Gassendi bekämpft hier also die scharfe Fassung der H V T ) . Et sane, cum experiments agendum potissimum sit (Stufe der Diskussion der Experimente), dictu mirum videri potest, quaecumque vulgo obiiciuntur ad probandum naturam sic inane refugere, ut ipsum nullatenus patiatur, ipsa eadem esse, quibus ostendatur naturam non sic inane refugere, quin ipsum quadamtenus ferat (experimentelle Einwände gegen die Vakuumtheorie können in Bestätigungen umgewandelt werden). Q u i p p e id nonnumquam induci in naturam contingit (die neue Prognose), et quoties natura videtur molimine aliquo ne contingat obsistere, alterius rei causa facit, non declinandi gratia, adeo ut non per se, sed ex accident! solummodo sit, quod illud non ferat, et quod non est causa, pro causa usurpetur, quoties natura facere quidpiam dicitur, ne inane detur (bei scheinbarem horror vacui Angabe anderer Ursachen möglich) (I 199a 1).
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Gassendis physikalische Methode
balgblätter in einer ausführlichen Erklärung auf den Luftdruck zurück: die Trennung der Blasebalgblätter hat eine Luftkompression zur Folge, die nur durch erheblichen Kraftaufwand gegen den Luftdruck zustandegebracht werden kann. Daraus folgt aber, daß die Blasebalgblätter bei hinreichender Reißfestigkeit sich werden trennen lassen, wenn die dafür aufgewendete Kraft größer ist als das Gewicht der über den Blättern lagernden Luftsäule — eine neue Prognose, die sich dann experimentell bestätigen läßt 18 . Die Versuche am Diabetes, einer analog zu Saugpumpen konstruierten Wasserspritze, führen zu ähnlichen Resultaten. Hier wurden zwei Tatsachen zugunsten der H V T angeführt: daß der Einsatzpfropfen, wenn er im Zylinder nach unten gedrückt worden ist und die Luft herausgepreßt hat, sich nicht wieder nach oben ziehen läßt, wenn zuvor das untere Loch im Zylinder verschlossen wurde, und daß das Wasser dem Einsatzpfropfen folgt, wenn er bei unverschlossenem unteren Loch nach dem Eintauchen in Wasser nach oben gezogen wird. Auch diese beiden Tatsachen lassen sich jedoch durch den Hinweis auf den Luftdruck erklären, und im ersten Fall kann, ähnlich wie im Blasebalgexperiment, der Einsatzpfropfen mit einigem Kraftaufwand vom Boden des Zylinders gelöst werden, entgegen der von der H V T implizierten Prognose 19 . Die an Saugpumpen und ähnlichen Vorrichtungen beobachtbaren pneumatischen Phänomene schließlich erfordern nach Gassendis Auffassung eine physikalische Erklärung, die die H V T nicht mehr zu leisten vermag; sie ermöglichen daher die Konzeption entscheidender experimenta crucis, die zur endgültigen Verwerfung der HVT zwingen und zugleich das System der von Gassendi bisher entwickelten theoretischen Hypothesen
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I 199 a 2 f. Vgl. die Zusammenfassung in I 199 b 1: Itaque non inanis metu, sed ob non facilem aereorum corpusculorum accommodationem ipsiusque adeo aeris resistentiam difficultas ilia diductionis est, quae nihilominus vincitur, ubi aeris resistentia maiore illa vi superatur. Gassendi ist sich in diesem Zusammenhang darüber im klaren, daß nicht nur die Konzeption, sondern sogar die Auswertung von Experimenten oft von der Theorie abhängt, die der Experimentator voraussetzt; über die Vertreter der H V T schreibt er: Verum quotcumque rem sunt experti ipsamque etiamnum obiiciunt, videntur, quam primum aliquantulum sensere resistentiam, prae metu, ne folles rumperentur, haesisse neque diducendi conatum auxisse; si fecissent enim, comperissent demum posse se folles citra ruptionis periculum diducere (I 199 a 2). I 1 9 9 b 2 . Gassendis Erklärung: Sed ad prius caput quod spectat, retro quidem trahi embolum non facile contingit, at non propter inanis metum, sed propter aeris resistentiam, qui pone ab embolo assariove propulsus non habet locis omnibus occupatis, quo se recipiat, prorsus ut circa follium tabulas rem deduximus . . . Ad posterius quod attinet, ascendit quidem aqua, at non ut inane nisi ex accident! impediat, sed quia ab aere incumbente urgetur.
Kontraktion und Prüfung von Theorien
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weiter bestätigen 20 . Damit ist die dritte Argumentationsstufe erreicht. Seit langem war bekannt, daß in Saugpumpen die Wassersäule eine bestimmte Höhe (ca. 10m) niemals überschreitet; die Konstruktion längerer Säugpumpen gestattet daher ohne große Schwierigkeiten die Herstellung künstlicher Vakua, entgegen den Prognosen der HVT. Aber selbst wenn bestritten wird, daß der zwischen Heber und oberem Ende der Wassersäule entstandene Raum gänzlich leer ist, bereitet die Tatsache, daß die Wassersäule stets nur bis zu einer bestimmten Höhe steigt, der HVT unlösbare Erklärungsprobleme. Der im Anschluß an Galilei von nicht wenigen Autoren unternommene Rettungsversuch, die Annahme nämlich, daß der natürliche horror vacui nur eine endlich große Kraft ist, wird von Gassendi weder diskutiert noch überhaupt erwähnt, und das nicht zu Unrecht, denn er stellt offenbar ein ad-hoc-Argument dar, das über die physikalischen Zusammenhänge keinen weiteren Aufschluß gibt. Demgegenüber erlauben die von Gassendi vertretenen Annahmen nicht nur, wie bereits im zweiten Argumentationsabschnitt klar wurde, das Verständnis der Entstehung leerer Räme, sondern darüber hinaus die Erklärung der Steighöhe des Wassers in Saugpumpen und verwandten Geräten. Der breit angelegte dreistufige Aufbau der Überlegungen Gassendis kann leicht über die Struktur dieser Erklärung hinwegtäuschen. Denn die in den vorhergehenden Abschnitten herangezogenen Hypothesen werden nicht eigens noch einmal erwähnt, so daß der Erklärungstext selbst sehr knapp ausfällt und kaum erkennen läßt, daß die vorausgesetzten Hypothesen nicht nur einzeln je nach Bedarf benutzt werden, sondern auch untereinander logisch wohlgeordnet sind, d. h. eine kleine Theorie bilden, deren Rekapitulation methodologisch aufschlußreich ist 21 . Ihre „Axiome"
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Vgl. I 1 9 9 b 2 — 2 0 3 a 2 . Zunächst zeigt Gassendi 1 200 a 1, warum das Wasser in Saugpumpen überhaupt steigt, und dann in I 2 0 0 a 2 , warum es nur bis zu einer bestimmten Höhe steigt. Dieser Text lautet: Docent nos esse hydragogi non posse se id genus pompas sic construere, ut aqua intra illas ad quamlibet ascendat altitudiem, sed ita solum ut aqua vix quicquam ultra orgygias quinque attollatur, quod quidem non videtur posse alia ratione contingere quam quia eo usque aeris pondus pondere aquae tubo concluso praevalet, ibi autem aequilibrium fit ac neque amplius potest aquam cogere, ut in tubum ascendat, neque aqua, quae intra tubum cogere exteriorem, ut sursum emergat aeremque compellat. Der Ausdruck „quod quidem non videtur posse alia ratione contingere" zeigt, daß Gassendi hier die H V T in der Tat für unzureichend hält, und zwar, wie der folgende Satz lehrt, vor allem zur E r klärung der begrenzten Steighöhe: Dignum interim adnotatu est, cum causari soleant aquam intra pompam inanis metu ascendere, indicio potius esse id fieri a compellente aere, quod si aqua ad summam quam potest evecta altitudinem assarium ipsum altius . . . attollatur, tum et aqua haereat . . . e t . . . inane fiat. Das hydrostatische Druckgesetz wird offen-
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Gassendis physikalische Methode
sind, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, Aussagen über die physikalischen Eigenschaften der Luft: erstens, daß Luft schwer ist ( A l ) , zweitens, daß Luft ein flüssiger Körper ist (A2), und drittens, daß die Erde von einer Lufthülle (Atmosphaere) umgeben ist (A3). A l und A2 folgen ihrerseits aus der Atomistik, wobei A 2 die Anwendung der seit Stevin allgemein bekannten Gesetze der Hydrostatik ermöglicht — in A2 wird ja nichts anderes als die Identität von Aerostatik und Hydrostatik behauptet. Aus A l , A2 und den hydrostatischen Gesetzen folgt zunächst, daß die Luft auf alle Körper, die mit ihr in Berührung kommen, Druck ausübt ( t j , und nach A3 demnach insbesondere auch auf die Erdoberfläche und alle Körper an der Erdoberfläche (t 2 ). Nach dem hydrostatischen Gesetz vom Gleichgewicht der Flüssigkeiten, das sich u. a. in kommunizierenden Röhren bemerkbar macht, wird ein kräftefreier Teil einer ansonsten unter atmosphärischem Druck stehenden Flüssigkeit solange steigen, bis der Druckausgleich hergestellt ist (t 3 ). Dies gilt insbesondere für Saugpumpen, deren Heber der unter ihm stehenden Wassersäule den atmosphaerischen Druck nimmt (A4). Aus A4 und t 3 folgt schließlich das Explanandum — sowohl daß das Wasser in Saugpumpen überhaupt steigt, als auch, daß es nur bis zu einer bestimmten Höhe steigt, solange nämlich, bis der Druck der Wassersäule dem atmosphaerischen Druck gleich ist 2 2 . In dieser systematisierten Form ist das Argument im Text der Gassendischen Physik selbstverständlich nicht vorzufinden, aber die wichtigsten Aussagen sind explizit formuliert 23 .
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bar benutzt, auch wenn der exakte physikalische Begriff des Druckes fehlt und Gassendi stattdessen auf das Gewicht von Luft- und Wassersäule zurückgreift. Systematisch enthält dieser Text neben dem Explanandum also die Verbindung der unter A 4 und t 3 genannten Aussagen (t 3 wird bei Gassendi nicht allgemein formuliert, sondern sogleich gemäß A 4 spezialisiert). Die im folgenden (I 2 0 0 b — 2 0 1 a ) beschriebenen Phänomene bei der Klepsydra und den gebogenen Röhren erfordern keine weiteren theoretischen Annahmen. Formale Darstellung: A t Λ A 2 λ A 3 λ Η ( = Hydrostatik) D t , ; A 3 A t, 3 t 2 ; t 2 Λ A ; Λ Η 3 t 3 ; t 3 Λ A 3 D Ε ( = Explanandum).
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Vgl. dazu die interessante wissenschaftstheoretische Fallstudie (bezogen auf Torricelli) bei M. Bunge, Scientific Research, Berlin . . . 1967, II (The Search for Truth), S. 3 2 8 - 3 3 5 . Vgl. etwa I 1 9 8 a 2 (respondeo . . . videri potius aerem esse suapte natura gravem = A l ) ; I 197a 1 (. . . ipsa est fluxilitas partium in aere praesertim et aqua = A 2 ) ; I 146b (. . . consentiunt omnes constitui ex terra et aqua globum unicum . . . Deinde esse isti globo crassum aerem circumfusum . . . et ad milliarium oppido paucorum altitudinem, quam et dicere atmosphaeram . . . solent = A 3 ) und den Verweis auf diese Stelle in I 197a (ac fortassis quidem supra aerem seu quam superius diximus vocitari atmosphaeram non multis milliaribus altam spatia . . . sunt . . . pene inania); I 198 b 2 (Huiuscemodi ergo
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Empirische Aussagen stehen nur insofern am Beginn dieser Überlegung, als sie vorgegebene Explananda sind; sie dienen aber offenbar nicht als Ausgangsbasis für induktive Generalisationen, sondern als Uberprüfungsmittel, die erst am Ende der theoretischen Gedankengänge eingesetzt werden. Es ist zu beachten, daß weder die Axiome A l — A 4 noch die Theoreme t x und t 2 direkt empirisch testbar sind. Insgesamt offenbaren Gassendis bisher geprüfte Bemerkungen zum Problem der Herstellung eines Vakuums eine methodologische Haltung, die kaum empiristisch oder fundamentalistisch zu nennen ist. Einwände, die sich auf sinnlichen Augenschein stützen, werden durch Konstruktion weiterer Hilfshypothesen entkräftet, Experimente, die zugunsten einer rivalisierenden Theorie angeführt wurden, theoretisch umgedeutet und so in positive Tests verwandelt; und nach ausführlicher theoretischer Vorbereitung lassen sich im Lichte der neuen Theorie schließlich experimenta crucis angeben, die zur Verwerfung der alten Hypothesen führen. Es ist nicht zuletzt diese — die theoretischen Grundlagen physikalischer Erklärung in den Mittelpunkt rückende — methodologische Einstellung, die es Gassendi ermöglichte, sich auch auf diesem Gebiet in den Kreis der wenigen Wissenschaftler in Frankreich einzureihen, die bereits in den Jahren 1647 und 1648 den Luftdruck als entscheidende Ursache der genannten pneumatischen Phänomene erkannten. Seine Überlegungen können nach allem, was wir wissen, keine Originalität beanspruchen; aber schon ein flüchtiger Blick auf die Wissenschaftsgeschichte lehrt, daß allein die Propagierung und Begründung der neuen Hypothesen als nicht unbedeutende Leistung gewertet werden muß. Bekanntlich gingen die entscheidenden experimentellen und theoretischen Anstöße von Galileis Schüler Evangelista Torricelli aus, der nicht nur, ausgehend von den Phänomenen bei Saugpumpen und vor allem von Bertis erwähntem Experiment 24 , den berühmten Quecksilberversuch kon-
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aeris ab extima usque atmosphaerae superficie pressio causa esse videtur resistentiae = t 2 , wobei hier „pressio" schon den Begriff des Druckes andeutet). Einzig t, wird nicht unabhängig formuliert. Einige traditionelle Einwände gegen die Vakuumtheorie werden am Ende des Kapitels (I 202 b f . ) kurz diskutiert und zurückgewiesen. Vgl. oben Anm. 5. Torricelli hat an Bertis Experiment persönlich nicht teilgenommen. Aber Magiotti, einer der Augenzeugen, berichtet in einem Brief vom 25. 5. 1648 an Mersenne (Text bei de Waard, a. a. O . S. 178 — 181), er selbst habe Torricelli davon unterrichtet, und dieser habe daraufhin zusammen mit Viviani weitere Versuche unternommen, bis sie endlich Quecksilber benutzt hätten. Diese Idee geht möglicherweise auf Galilei zurück, denn unter dessen Florentiner Papieren befindet sich eine Kopie der originalen Leidener Ausgabe der Discorsi mit — auf Galilei zurückgehenden — Zusätzen und
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Gassendis physikalische Methode
zipierte (den dann sein Freund Viviani ausführte), sondern in seinen beiden nicht minder bekannten Briefen an Ricci in Rom vom Juni 1644 auch eine brillante physikalische Erklärung lieferte, nach welcher die Herstellung eines Vakuums ohne jeden natürlichen Widerstand möglich und der beobachtbare Widerstand eine Wirkung des Drucks und der Elastizität der Luft ist 2 5 . Außerdem ersann er weitere experimentelle Varianten im Lichte seiner neuen Deutung: so ließ er Wasser in den Raum über dem Qecksilber einschließen, um dessen Leerheit zu demonstrieren, und benutzte Glasröhren sehr unterschiedlicher Ausmaße, um die HVT zu widerlegen (besäße nämlich das Vakuum eine aktive Anziehungskraft, so müßte diese umso stärker sein, je größer das Vakuum ist; in Glasröhren, die denselben Durchmesser haben, aber verschieden lang sind, bleibt die Quecksilbersäule jedoch auf derselben Höhe stehen, obgleich die Vakua verschieden groß sind). Trotz der erfolgreichen Durchführung und Interpretation des Experiments blieb die Kenntnis dieser Vorgänge in Italien so auffallend gering, daß man auf eine — vermutlich kirchenpolitisch begründete — bewußte Geheimhaltung schließen muß 2 6 . Daher wurde man auch in Frankreich nicht umfassend informiert. Schaltstelle war wie fast immer Mersenne, der bereits im Juli 1644 einen Brief von Du Verdus aus Florenz erhielt, der Auszüge aus den beiden Briefen von Torricelli an Ricci enthielt; im Dezember desselben Jahres besuchte Mersenne Torricelli in Florenz, der ihm das Experiment vorführte, bemühte sich aber nach seiner Rückkehr im Sommer 1645 zusammen mit Chanut vergebens um eine Wiederholung. Wichtig ist aber vor allem, daß die Briefauszüge von Du Verdus fast
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Korrekturen Vivianis (Gal. 79, Div. II p. v. n. 9 ) ; dort besagt ein Zusatz auf S. 17 (wo die Steighöhe des Wassers in Saugpumpen diskutiert wird), daß dasselbe auch für andere Flüssigkeiten, etwa Quecksilber, gelten müsse, wobei die Steighöhe vom spezifischen Gewicht abhänge. Vgl. Torricelli, Opere, ed. G. Loria e. G. Vassura, Faenza 1919, III S. 186ff. In Torriceiiis ausgedehnter Korrespondenz wird das Experiment nicht mehr erwähnt nach dem Abschluß des Briefwechsels mit Ricci. In der Dekade nach Torriceiiis T o d scheint es nur zwei Anspielungen in den in Italien publizierten Büchern zu geben (de Waard, a. a. O . S. 130), und erst neunzehn Jahre nach der Ausführung erscheint anonym die erste öffentliche Beschreibung des Experiments ((C. Dati), Lettere a Filaleti di Timauro Antiate, Deila vera storia della Cicloide, e della famosissima esperienza dell'argento vivo, 24 Gemaio 1662, Florenz 1663). Ein reiselustiger Franzose namens Balthasar de Monconys, der Torricelli Anfang November 1646 besucht, läßt sich in allerlei wissenschaftlichen Fragen unterrichten, erfährt jedoch nichts über das Quecksilberexperiment (vgl. Journal des voyages de Μ. de Monconys, L y o n 2 1677, I S. 115). Vgl. dazu W . Ε . K. Middleton, The History of the Barometer, Baltimore 1964, S. 31; ders., The place of Torricelli in the history of the barometer, in: Isis 54, 1963, S. 11—28.
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ausschließlich aus der Beschreibung des Experimentes bestanden, während die theoretischen Passagen ausgelassen waren, und daß Mersenne bis zu seinem Tode nicht an die Existenz einer Atmosphäre und des Luftdruckes glaubte 27 . Deshalb wurde Ende 1645 in Frankreich zwar die experimentelle Durchführung, aber nicht Torriceiiis richtige physikalische Erklärung bekannt. Die erste erfolgreiche Wiederholung des Experimentes außerhalb Italiens erfolgte wahrscheinlich im Oktober 1646 in Rouen, wo es eine hervorragende Glasfabrik gab, unter Petit und Pascal. Sie war eine Sensation, und Pascal veranstaltete in den folgenden Monaten viele Darbietungen vor interessierten Kreisen. Seine Intention war jedoch ausschließlich die Demonstration der Möglichkeit der Vakuumherstellung; weder er selbst noch Petit besaßen zu dieser Zeit auch nur den Ansatz zu einer adäquaten physikalischen Erklärung 28 . Wahrscheinlich gab Descartes, im Anschluß an Beeckman seit langem von der Existenz des Luftdrucks überzeugt, den entscheidenden Hinweis sowohl zur richtigen Erklärung des Experiments in Frankeich als auch zum Entwurf des berühmten Puy-de-Döme-Experimentes 29 , das die Abhängigkeit der Höhe der Quecksilbersäule von der Höhe des Standortes erwies und damit auch die 27
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Zur Entwicklung in Frankreich vgl. vor allem J. Thirion, Pascal, L'horreur du vide et la pression atmospherique, in: Revue des questions scientifiques (3e ser.) 12, 1907, S. 383-450; 13, 1908, S. 149-251; 14, 1909, S. 149-201. Zu den philologischen Gründen dafür, daß Du Verdus nicht mehr geschrieben hat als erhalten ist, vgl. Middleton a. a. O. S. 35; zu Mersennes Standpunkt bezüglich des Luftdruckes vgl. seinen Bericht über seinen Besuch bei Torricelli in Novarum observationum physico-mathematicarum libri V, Paris 1647, III S. 216f. Vgl. Pierre Petit, Observation touchant le vuide faite pour la premiere fois en France, contemie en une lettre ecrite a Monsieur Chanut . . . le 10 novembre 1646, Paris 1647, ferner Pascals Experiences nouvelles touchant le vuide (Paris 1647) — ein Buch, das er in aller Eile herausgegeben hatte, weil eine zur selben Zeit in Warschau erschienene Schrift des Kapuzzinermönches Valerio Magni (Demonstratio ocularis loci in locato: corporis successive moti in vacuo: luminis nulli corpori inhaerentis) ihm zuvorzukommen drohte. Sein Hauptanliegen ist darin die Verteidigung einer extrem vakuistischen Position, d. h. der Nachweis, daß der Raum über dem Quecksilber in der Tat vollständig leer ist. Im übrigen spricht er nur allgemein von irgendeiner begrenzten Kraft, die die Entstehung eines Vakuums zwischen Körpern zu verhindern trachtet. An diesem Originalitätsproblem entzündete sich eine „Pascalsche Frage", bei deren Diskussion Pascal intellektuelle Unredlichkeit und bewußte Fälschung vorgeworfen wurde (vgl. vor allem: F. Matthieu, Pascal et l'experience du Puy-de-Dome, in: La Revue de Paris 13, 1906, S. 565 - 589, 772 - 794; 179-206; 14, 1907, S. 176-224, 347-378, 835 — 876; dagegen Thirion, a. a. O.). In einem angeblich an seinen Schwager Perier angeblich am 15. 11. 1647 verfaßten Brief (vgl. CEuvres de Blaise Pascal, publiees suivant l'ordre chronologique, avec documents complementaires, introductions et notes, par L. Brunschwicg, P. Boutroux et F. Gazier, Paris 1904—1914, II S. 153 — 162) zeigt sich
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Gassendis physikalische Methode
weiche, „Galileische" Fassung der HVT endgültig widerlegte und daher, wie Pascal sofort erkannte, die Funktion eines echten experimentum crucis hatte. Mersenne hatte sich bereits Anfang 1648 für die Durchführung eingesetzt, aber erst knapp drei Wochen nach seinem Tod, am 19. September 1648, trug Pascals Schwager Perier in Begleitung mehrerer Zeugen die Glasröhre mit dem Quecksilber auf den Gipfel des Puy-de-Dome in der Nähe von Clermont. Die außerordentlich sorgfältige Vorbereitung garantierte einen überwältigenden Erfolg. Periers enthusiastischer Bericht, zusammen mit Pascals angeblich schon 1647 verfaßten Brief an seinen Schwager, der die Konzeption des Experimentes enthält, veröffentlicht 30 , ist ein ebenso amüsantes wie beeindruckendes Dokument einer wissenschaftlichen Pioniertat. Dennoch blieb die Interpretation all dieser Experimente durchaus umstritten, insbesondere die Frage, ob echte Vakua hergestellt worden waren 31 . Gassendi, sonst eher vorsichtig und zurückhaltend in seinem
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Pascal von der Luftdruckerklärung überzeugt und kündigt das Höhenexperiment an: C'est de faire l'experience ordinaire du Vuide plusieurs fois en mesme jour, dans un mesme tuyau, avec le mesme vifargent, tantost au bas et tantost au sommet d'une montaque, eslevee pour le moin de cinq oux six cens toises, pour exprouver si la hauteur du vif-argent suspendu dans le tuyou, se trouvera pareille ou differente dans ces deux situations (ibid. S. 159f.). Freilich wird dieser Brief erst im September 1648 zusammen mit Periers Bericht über das bereits durchgeführte Experiment publiziert, und zwar nicht bei Pascals üblichem Verleger; auch ist eine Antwort Periers nicht bekannt, und verglichen mit den Experiences nouvelles mußte Pascal sich seine Meinung sehr schnell gebildet haben. Descartes hatte ihn jedoch am 23. und 24. 9. 1645 besucht (vgl. den Brief von Pasacals Schwester Jacqueline an seine andere Schwester Mme Perier, CEuvres de Blaise Pascal, a. a. Ο. II S. 43—48) und behauptet wenig später, Pascal die Anregung gegeben zu haben: J'avois averti M. Pascal d'experimenter si le vif-argent montoit aussi haut, lorqu' on est au — dessus d'une montague, que lorsqu' on est tout au bas; je ne scay s'it l'aura fait (Brief vom 13. 12. 1647 an Mersenne, CEuvres a. a. Ο. V S. 99). Pascal blieb jedoch bei seinem Originalitätsanspruch, vgl. seinen Brief an de Ribeyre in Clermont vom 12. 7. 1651 (CEuvres a. a. Ο. II S. 478-495). Titel dieser Publikation: Recit de la grande experience de l'equilibrie des liqueurs projectee pas le sieur Blaise Pascal pour l'accomplissement du Traicte qu'il a promis dans son Abbrege touchant le Vuide et faite par le sieur Florin Perier en une des plus hautes montagnes d'Auvergne, Paris 1648. Die Opposition gegen Pascals (und Gassendis) Deutung war in zwei Lager gespalten: die einen — unter ihnen Descartes und Etienne Noel (sein Lehrer in La Fleche, vgl. dessen Gravitatis comparata seu comparatio gravitatis aeris cum hydrargyri gravitate, Paris 1648, S. 55 f.) — behaupteten, daß der Raum über dem Quecksilber mit Aether, einer feinen Materie (materia sublimis), gefüllt war, der entweder durch das Glas oder durch das Quecksilber eindrang, die anderen, ζ. B. Roberval und Pecquet, hielten die Luft nur für stark verdünnt und schrieben das Fallen des Quecksilbers der außerordentlichen Elastizität der Luft zu. Über diese unterschiedlichen Interpretationen informiert ausführlicher C. Webster, The Discovery of Boyle's Law and the Concept of the Elasticity
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Urteil, schlug sich, ohne Zweifel aus theoretischen Gründen, bereits 1647 und 1648 auf die Seite der Vakuisten. Sowohl zu den Versuchen in Rouen als auch zum Puy-de-Döme-Experiment verfaßte er kommentierende Essays, und es ist bemerkenswert, daß er schon Mitte des Jahres 1647 den Luftdruck und die Elastizität der Luft zur Erklärung heranzog und seine Auffassung, in Appendices zu den Animadversiones, noch vor 1650 öffentlich bekanntgab32. Angesichts der wissenschaftsgeschichtlichen Situation zwischen 1644 und 1650 muß diese Haltung als nicht zu unterschätzender Beitrag zur Durchsetzung der neuen physikalischen Hypothesen angesehen werden, der offenbar nicht das Ergebnis eklektischer Meinungsbildung oder empiristischer Abstraktion, sondern der Annahme eines eindeutigen theoretischen Standpunktes ist. Im Jahre 1640 führte Gassendi in Begleitung und zweifellos auch mit Hilfe der finanziellen Mittel seines neuen Gönners Ludwig von Valois 33
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of Air in the Seventeenth Century, in: Archive for History of Exact Sciences 2, 1962 — 1966, S. 441—502. Vgl. ferner A. Taton, L'Annonce de l'experience barometrique en France, in: Revue d'Histoire des Sciences 16, 1963, S. 77-83. Animadversiones in Decimum librum Diogenis Laertii (nicht enthalten in der Gesamtausgabe Lyon 1658) Paris 3 1675, I 223b 2—234a 1 „De novo circa inane experimento" (Rouen-Experimente); II 312a2—316a 1 „De facto novo circa inane experimento" (Puyde-Döm-Experiment). Beide Abhandlungen sind auch im Syntagma Philosophicum wieder abgedruckt und dort in einem eigenen Kapitel unter dem Titel „De nupero grandiusculi coacerbative inanis ope hydrargyri experimento" zusammengefaßt (I 203 b 2—211 b 1/ I 211b 2—214b 1). Die erste Abhandlung ist auf Mitte 1647 zu datieren, als Gassendi noch in Paris und Pascal gerade wieder dorthin zurückgekehrt war, während die zweite am 13. 12. 1648 in Aix-de-Provence fertiggestellt wurde (vgl. dazu B. Rochot, Comment Gassendi interpretait l'experience du Puy de Dome, in: Revue d'Histoire des Sciences 16, 1963, S. 53—76 — eine erneute Publikation der zweiten Abhandlung, ergänzt durch eine französische Übersetzung und biographische und historische Anmerkungen, die freilich für die wissenschaftsgeschichtliche Interpretation wenig hergeben). Bereits in der ersten Abhandlung schreibt Gassendi: Quod ad tertium, causa quamobrem hydrargyrus e tubo non totus, sed ad certam usque altitudinem defluat, non alia videtur quam resistentia aeris restagnantis hydrargyri incumbentis et subingressionis partium illius in spatiola inania modus (I 207 a). Diese Stelle zeigt auch, wie die atomistische Interpretation unmittelbar zur Einsicht in die Rolle der Elastizität der Luft führt. Dieser Faktor wurde bald darauf besonders von Pecquet betont (vgl. dessen Experimenta nova anatomica, Paris 1651). Gassendis Leistung wird auch von Koyre gewürdigt, der freilich zur Begründung nicht auf seine methodologische Haltung, sondern auf seinen atomistischen Standpunkt hinweist (Metaphysics and Measurement S. 128f.). Diese Interpretation ist zu restriktiv und führt Koyre zu der verbreiteten Auffassung, die Propagierung einer mechanistischen Ontologie sei die Grundlage der Wirkung Gassendis, die Wiederbelebung des antiken Atomismus sein eigentliches Verdienst; sein Einfluß als Wissenschaftler sei demgegenüber gering (ibid. S. 129). 1637 war Gassendis erster Gönner und Freund Peiresc gestorben. Ludwig von Valois kam am 14. Januar 1638 als neuer Gouverneur nach Aix, um, wie Bougerel (Vie de Pierre Gassendi, Paris 1737, S. 176) berichtet, die Literaten seiner Provinz, vor allem Gassendi,
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ein bekanntes Experiment durch: es sollte geprüft werden, ob ein vom Mast eines fahrenden Schiffes senkrecht herabgeworfener Stein genau an dessen Fuß auftrifft. Die öffentliche Demonstration dieses Versuchs pflegt man, nicht zu Unrecht, dem experimentellen Interesse Gassendis zuzuschreiben und in einem Atemzuge mit seinen astronomischen Beobachtungen und praktischen chemischen oder biologischen Versuchen zu nennen 34 . Aber es muß auch daran erinnert werden, daß weder die Konzeption des Experimentes auf Gassendi selbst zurückgeht noch die Ausführung von ihm zum erstenmal durchgesetzt wurde 35 . Der Bericht
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über Peirescs Tod hinwegzutrösten. Vgl. dazu B. Rochot, Les Travaux de Gassendi . . ., a. a. O. S. 84£. Bougerel beschreibt Ludwig von Valois so: „le nouveau gouverneur etait un prince pieux, savant, sage, amateur et protecteur des gens de lettre . . . il voulut avoir chez lui notre philosophe (sc. Gassendi) et lui donna toutes sortes de marques d'estime et d'amitie jusqu'ä sa mort" (ibid.). Vgl. ζ. B. R. Bloch, La philosophie de Gassendi, a. a. O. S. 155f.: „L'essentiel de ses recherches personnelles a ete consacre ä illustrer, voire ä verifier experimentalement sur des observations tenues pour decisives, quelques-unes de theses mattresses de la science moderne, en fonction des idees et des questions proposees par les plus grands de ses contemporains. Ainsi de l'observation du passage de Mercure devant le soleil le 7 novembre 1631 . . . ou de l'experience du bateau faite a Marseille en 1640 . . . Ainsi des observationes biologiques, faites en partie avec Peiresc, sur la circulation du sang et les veines lactees . . . Bloch betont zwar, daß alle diese Versuche von theoretischem Interesse waren, unterläßt es jedoch, Gassendis eigene theoretische Arbeit hervorzuheben. Ferner wird, freilich ohne Beleg, behauptet, daß seine Zeitgenossen vor allem vom experimentellen Ergebnis des Versuchs, weniger von seinem theoretischen Hintergrund beeindruckt waren: „When the historian of science analyses „De Motu" today he may be most impressed by Gassendi's discarding of the impetus theory and his understanding of the inertial principle, but to his seventeenth century readers, as to the author himself(!), his most important contribution in the work was his experimental proof that a stone dropped from the mast of a swiftly moving ship falls to the foot of the mast and no place else" (A. G. Debus, Pierre Gassendi and his „Scientific Expedition" of 1640, in: Archives Internationales Histoire des Sciences 16, 1963, S. 129—142, dort S. 142). Ein zeitgenössischer Bericht wurde 1650 in Paris publiziert, unter dem Titel „Recueil de lettres des sieurs Morin, De la Roche, De Nevre et Gassendi et suite de l'apologie du sieur Gassendi touchant la question De Motu Impresso a Motore Translato". Der Versuch ist ζ. B. von Thomas Digges und Giordano Bruno diskutiert worden; dazu A. Koyre, Metaphysics and Measurement, London 1968, S. 124f. Anm. 2 (in seinen litudes galileennes S. 215 hatte Koyre noch behauptet, Gassendi habe das Experiment als erster ausgeführt; dies nimmt er an der zitierten Stelle wieder zurück). 1624 schrieb Galilei an Ingoli, er habe das Experiment durchgeführt (Opere VI, S. 545). In der erneuten Besprechung im Dialogo (Opere VII, S. 171) ist davon allerdings mit keinem Wort die Rede; im Gegenteil wirft dort Simplicio Salviati unwidersprochen vor, er habe nicht einen einzigen praktischen Test durchgeführt. Galileis Beitrag bleibt daher umstritten; aber Mitte der dreißiger Jahre wurden ähnliche Versuche zur Projektilbewegung ohne Zweifel durchgeführt, vgl. ζ. B. die Briefe von Christophe De Villiers (Correspondence du P. Marin Mersenne, a. a. Ο. IV S. 197) über Ballwürfe auf fahrenden Wagen und von Bernard Frenicle De Bessy (ibid. IV S. 168 — 170) über das Schiffsmastexperiment vom
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Gassendis in Form zweier 1642 publizierten Briefe unter dem Titel „De Motu Impresso a Motore Translato" offenbart seine Absicht: den wissenschaftlich interessierten Freunden den letzten Zweifel am Ausgang des Experimentes zu nehmen 36 . Sorgfältige Durchführung und exakte Beschreibung sind dafür zwar notwendig, aber nicht hinreichend; wenn starke theoretische Gründe dagegen sprechen, wird der Uberzeugungsversuch in den meisten Fällen scheitern. Dann genügt auch die Versicherung nicht, daß man mit äußerster Sorgfalt vorgegangen sei 37 ; experimentelle Ergebnisse finden erst dann Anerkennung, wenn sie auch überzeugend theoretisch interpretiert werden können. Für Gassendis Beurteilung der Funktion experimenteller Arbeit in der Physik ist es nun kennzeichnend, daß diese Einsicht nicht nur explizit ausgesprochen wird 38 , sondern auch der Konzeption der De-Motu-Briefe insgesamt zugrundeliegt, denn sie sind zum größten Teil der theoretischen Erklärung des Schiffsmastexperimentes gewidmet. Diese Haltung erscheint vor allem dann bemerkenswert, wenn man sich den Zusammenhang des Experimentes mit der Erdbewegungsfrage in Erinnerung ruft. Die Tatsache, daß senkrecht hochgeschleuderte Projektile an ihrem Ausgangspunkt wieder auftreffen, war seit Jahrhunderten als experimenteller Beweis gegen die Erdbewegung interpretiert Jahre 1634 an Mersenne, der zu dieser Zeit eine Arbeit zu diesem Thema publizierte (Traite des Mouvements et de la cheute des corps pesants et de la proportion de leurs differentes vitesses, Paris 1633) und gleichzeitig damit beschäftigt war, alle Bemerkungen Galileis zur Projektilbewegung, u. a. auch zum Schiffsmastexperiment, zu prüfen, vgl. seinen Brief an Christophe De Villiers, Correspondence a. a. Ο. III S. 563. 3 6 Vgl. Gassendis Brief an Ludwig von Valois vom Juni 1641, in welchem er die Veröffentlichung der Briefe ankündigt und gleichzeitig bemerkt, daß sie den Zweck haben, die Zweifel einiger Freunde, denen er zunächst privat geschrieben hatte, mit Hilfe ausführlicherer Argumente auszuräumen (VI 108bf.). Darunter ist auch Pierre du Puy (Petrus Puteanus), an den der erste Brief gerichtet ist: Insinuarit Luillerus noster postremis suis litteris, adhibuisse te aegre fidem iis, quae ad ipsum perscripseram, de factis a me circa motum proiectilium experimentis . . . et novi alios praeclaros viros, quibus res est visa non minus improbabilis (III 478 a 1). 3 7 Ein Beispiel ist Gassendis Auseinandersetzung mit Morin über die Auswertung eines Pendelversuchs; dazu schreibt Gassendi: Ad me certe quod attinet, testari posse videor me peregisse experimentum non minore studio quam ipse de se memorat, at talem perpendiculi nutationem non observasse . . . agnoscis ipsum potius observationi ita inhiasse, ut non ipsam modo, cum foret incerta et ut par est coniicere, falsa, avidissime deglutierit, sed etiam, dum illam suae opinioni accommodare voluit, admiserit simul mira incogitantia, genera varia absurditatum (an J. Calterius, III 536a). 3 8 III 478 b : Verum non propterea mihi adrogo, ut (licet me virum fidei plenum habeas) tenearis idcirco historiam narranti nudam assentiri. Addo potius causam, qua semel perspecta te non dissensurum confidam. Und kurz darauf versichert Gassendi: Tarn cum haec ita se habeant, facile causam pervidebis eorum, de quibus ad Luillerum scripseram, experimentorum (III 480b 2).
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Gassendis physikalische Methode
worden, freilich im Lichte einer rein kinetischen Hypothese: im Falle einer Erdbewegung, so wurde argumentiert, hätten die Projektile an einer anderen Stelle der Erdoberfläche auftreffen müssen, weil sich die Erde während ihres Fluges unter ihnen wegdreht 39 . Diese Hypothese impliziert offenbar die Prognose, daß in allen bewegten Systemen Projektile niemals ihren Ausgangspunkt treffen; wird demnach insbesondere vom Mast eines fahrenden Schiffes ein Stein fallengelassen, so müßte er nicht am Fuße des Mastes, sondern an einer entfernten, zum Heck hin gelegenen Stelle den Schiffsboden erreicht. Diese Prognose wurde durch Gassendi öffentlich falsifiziert, und nichts hätte näher gelegen, als in seinen Briefen aus der experimentellen Falsifikation auf die Falschheit der genannten Hypothese zu schließen. Gassendi begnügt sich damit jedoch nicht, sondern erkennt offensichtlich, daß selbst eine unzweideutige experimentelle Falsifikation der theoretischen Erklärung bedarf, um als solche anerkannt zu werden. Diese Erklärung erfordert die Behauptung einiger wichtiger Grundsätze der neuen Mechanik. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß alle Projektilbewegungen eines (gleichförmig) bewegten Systems S für Beobachter, die zu S gehören, in derselben Weise verlaufen wie in ruhenden Systemen (Hl) 4 0 . Diese Hypothese erklärt offenbar die auf bewegten Systemen wie Schiffen, Wagen oder sich bewegenden Menschen beobacht-
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Nempe illud est, quod ab ipso usque Aristotele solet obiici, dum neminem fere non vides, qui diurnum motum (sc. terrae) oppugnans, non instet fore, ut si terra circumvolveretur in ortum, lapis directe sursum proiectus non in eundem e quo foret proiectus locum recideret, sed caderet procul ad partes occiduas, quod eo versante per aerem locus esset interea versus ortum procul subductus (III 500b 1). Vgl. dazu etwa Ptolemäus, Almagest I § 7. Auch Descartes wies dieses Argument zurück, allerdings nur weil — gemäß seiner eigenen Theorie — Erd- und Himmelsbewegung (umgebender Himmel) sich nicht unterscheiden. Wäre dies nicht der Fall, so würde er die Überlegung durchaus gelten lassen (Le Monde, Oeuvres AT XI S. 80). Ipse recensui obiter tum observata propria, tum quae Galileus congessit adstruendo illi theoremati „Si id corpus, cui insistimus, transferatur, omnes nostros rerumque a nobis mobilium (sc. peractos motus) perinde fieri apparereque ac si illud quiesceret (III 478 a 2). Daß dies nur für gleichförmige Translationsbewegungen gilt, wird nirgends explizit gesagt. Einer Stelle im zweiten Brief de Motu läßt sich entnehmen, daß Gassendi sich über die Relativität der Translationsbewegung im klaren war, d. h. daß Behauptungen wie Η 1 nur bezüglich eines festen Bezugssystems gelten: für Schiff und Erde beispielsweise sind verschiedene Bezugssysteme zu wählen (Nam descripta ob motum navis bene intelligitur ex diversitate partium aeris, qui motum navis non sequitur, sed respectu illius permanet immotus: descripta vero ob motum terrae intelligi non potest ex diversitate partium aeris, qui ipsam terram sequitur, sed ex diversitate partium mundani spatii, quod immotum perseverat, III 503 a 2). Wie später bei Newton ist also der (absolute) leere Raum letztes Bezugssystem: Nam aer corpus mobile est, spatium incorporeus et immobilis locus (III 503 b).
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baren Phänomene 4 1 , bleibt jedoch solange ad hoc, als sie nicht ihrerseits theoretisch eingebettet werden kann. Gassendi nimmt daher weiter an, daß jedes (gleichförmig) bewegte System seinen Bewegungsimpuls auf alle zu ihm gehörenden Projektile überträgt ( H 2 ) 4 2 . H l folgt aus Η 2 , wenn sich mehrere Bewegungsimpulse, in diesem Fall der Bewegungsimpuls des bewegten Systems und der Projektile innerhalb des Systems, überlagern können 4 3 , wenn sich also verschiedene Kräfte oder Kraftstöße, die auf denselben Gegenstand wirken, nicht gegenseitig aufheben, sondern zu einer resultierenden Kraft vereinigen ( H 3 ) 4 4 . Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn ihre Wirkung sich erhält, d. h. wenn der Trägheitssatz ( H 4 ) gilt 4 5 . Die Annahmen Η 2 — H 4 implizieren nunmehr logisch Η 1 und erklären damit alle genannten Experimente, nämlich sowohl das durch die aristotelische Physik nicht erklärbare Schiffsmastexperiment als auch die zugunsten des geozentrischen Systems angeführten Versuche, deren theoretische Mehrdeutigkeit damit sichtbar wird. Der sinnliche Eindruck eines geradlinigen Bahnverlaufs senkrecht hochgeworfener Projektile auf gleichförmig bewegten Systemen ist schließlich in bezug auf Beobachter desselben Systems theoretisch erklärbar, ebenso wie sich im Anschluß an
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Vgl. Gassendis Beschreibung verschiedener Experimente in III 478a2—b 1. Et causa quidem generalis est, quia, quicquid movetur, motum suum imprimit rebus omnibus, quas sustentat, resque perinde emittuntur, sive emittens motum a se sive ab alio impressum habest (III 478b 2). Die in III 479 a 1 beschriebenen, von jedermann durchführbaren Versuche erklärt Gassendi folgendermaßen: Causa nempe est, quia, cum antrorsum conicis (sc. pilam), duplicem illi imprimis vim; altera quippe est manus propria et qualis antea erat, cum stares corpore immoto, altera corporis ipsius, qua eidem manui communicata efficitur, ut manus feratur antrorsum celerius quam ipsa sola et reliquo corpore quiescente moveretur. Ex quo fit, ut pila accepto velociore motu moveatur velocius et procurrat ulterius (III 479 a 2). Ähnlich wenig später (III 481 a 1): Causa vero cur motus pilae a rectitudine deflectatur et curvam sequatur describatve lineam, illius compositio est, quatenus ex duplici vi motrici originem habet (III 481 a 1). Oder bezüglich des Schiffsexperimentes mit Angabe der Komponenten: Id nempe ob compositum motum, alterum manus proprium, qui sursum, alterum navigii, qui prorsum (sc. tendit), adeo ut mixtus ex utroque seu obliquus fiat, cuius quicquid est sursum a manu sit, quicquid prorsum, a navigio (III 482a 1). Kommentar zum Schiffsexperiment: ipsa quoque vis proiectionis ita sit composita ex vi proiicientis propria et ex vi impressa a navi, ut quicquid est motus sursum a priore sit, quicquid motus prorsum a posteriore (III 484a 2). Allgemeiner: Elicio tertio neutram harum virium tarn in proiecto sursum quam in dimisso deorsum destruere alteram illamve imminuere, sed deflectere dumtaxat (III 484b 2). Vgl. die Formulierung des Inertialprinzips in III 495b 1, 494b 1, 496a 2 usw. Seine Beziehung zum Prinzip der Kräfteüberlagerung wird im zehnten Kapitel des ersten De Motu-Briefes angedeutet (III 488 b 2 f.).
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Gassendis physikalische Methode
Galilei zeigen läßt, daß der Bahnverlauf bezüglich des gewählten festen Bezugssystem parabolisch ist 4 6 . Dies ist die Struktur der Gassendischen Argumentation. Der logische Zusammenhang der Hypothesen wird nicht immer expliziert, läßt sich aber oft den einzelnen Erklärungsversuchen der verschiedenen Experimente, die Gassendi zur Erläuterung beschreibt, entnehmen. Der Vergleich mit dem entsprechenden Abschnitt im Syntagma Philosophicum zeigt überdies, daß Gassendi dieselben Hypothesen verwendet, sie jedoch in genau umgekehrter Reihenfolge — ihrem logischen Gewicht und ihrer systematischen Stellung entsprechend — einführt 47 . Vermutlich war sich Gassendi daher über ihre logischen Beziehungen durchaus im klaren; gleichzeitig bestätigt diese Tatsache die vorgelegte Interpretation des ersten De Motu-Briefes: der theoretische Aufwand, den Gassendi treibt, um sein Experiment zu deuten, ist erheblich 48 . Die Anwendung der
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III 483 a 2 ff. Dasselbe wurde kurz vor dem Erscheinen Galileis Dialogo auch von Cavalieri (Fra Buonaventura) gezeigt, vgl. dessen Lo Specchio Ustorio overe Trattato delle Settioni Coniche, Bologna 1632. Galilei gab seiner Enttäuschung darüber in einem Brief an Cesare Marsiii vom 1 1 . 9 . 1 6 3 2 Ausdruck (Opere X I V S. 386). Ein konzilianter Brief von Cavalieri (Opere X I V S. 410) stellte ihn jedoch zufrieden. Zur Erklärung des sinnlichen Augenscheines vgl. z . B . III 482 a 1: Porro, sicuti dictum est de pila e curru proiecta, apparebit quidem tibi lapis sursum ferri, apparebit et omnibus, qui in eodem navigio erunt respectabuntque lapidem; at si quis interea in ripa navigiove alio quiescente e regione tui lapidisque constiterit, is observabit lapidem describere in aerem speciem curvae lineae. Vgl. I 355aff. Zunächst der Trägheitssatz: Unde et colligitur omnem motum semel Impressum esse ex natura sua indelebilem ac nisi a causa externa, quae eum reprimat, non deminui desinereve (I 355a 2). Dann folgt, allerdings bezüglich eines bestimmten Beispieles (Steinwurf) der Satz über die Bewegungszusammensetzung: Notandum rursus, cum lapis sursum nec directe tarnen, sed oblique proiicitur, motum illius spectari posse quasi mistum compositumve ex perpendiculari et horizontal! (I 355b 1). Er wird kurz darauf durch den Satz über die Kräfteüberlagerung ergänzt: Notandum ad haec mirabile esse, quomodo, cum duplex imprimatur vis . . ., neutra vis destruat alteram, sed utraque coniunctim perinde ac separatim assequatur scopum (I 356a 2). Die beiden anderen Sätze, daß jedes (gleichförmig) bewegte System allen seinen Körpern seinen Bewegungsimpuls überträgt und daß daher die Vorgänge in einem (gleichförmig) bewegten System nicht anders ablaufen als in einem ruhenden, werden am Beispiel des Schiffsmastexperimentes deutlich gemacht, etwa in folgenden Formulierungen: Id melius perspicies, si pilam absque ullo nisu dimittas ex vertice mali, nam, quia sive navis quiescat, sive moveatur, decidit semper ad pedem mali, oportet sane, ut motu navis imprimatur pilae vis sive idem motus, quo et malus et tua manus, dum pilam dimittit, afficitur (I 356b 1). Für Koyres Auffassung (Metaphysics and Measurement, a. a. O . S. 126), Gassendi habe das Schiffsexperiment als experimentellen Beweis für den Trägheitssatz angesehen, gibt es, soweit ich sehe, keinen Beleg. Offenbar versucht Koyre damit die theoretischen Erörterungen der De Motu-Briefe zu motivieren — er scheint nicht verstehen zu können, warum ein Experiment, das eine alte Hypothese eindeutig falsifiziert, noch einer theoretischen Deutung bedarf, um überzeugend zu wirken. Letzteres gilt offenbar auch für Tack, der
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Ergebnisse dieser Überlegungen auf die seit 1633 besonders brisante Erdbewegungsfrage erfolgt hauptsächlich im zweiten De Motu-Brief. Sachlich gibt es kaum neue Gesichtspunkte, denn die Erde braucht nur wie ein fahrendes Schiff als (gleichförmig) bewegtes System angesehen zu werden, wenn man die Irrelevanz des Projektilexperimentes nachweisen will 49 . Im Gegensatz zu vielen pneumatischen Phänomenen und Projektilbewegungen waren Galileis Fallversuche kaum unterschiedlichen Deutungen ausgesetzt. Das sogenannte Fallgesetz hatte sich empirisch bestätigen lassen und war allgemein anerkannt 50 . Als Empirist oder Eklektizist hätte sich Gassendi daher in seiner Physik mit einem Referat der Fallversuche
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50
ebenfalls Gassendis Überlegungen zum Schiffsmastexperiment und übrigens auch zur Vakuumhypothese als rein empirische Bemerkungen auffaßt (a. a. O . S. 185, 187). Vgl. etwa III 500b 2 f . : Nam ut lapidi secundum malum proiecto non sola impressa est vis ipsius proiicientis propria, sed etiam alia ex motu navis, quo manus simul adacta fuit, ita proiecto secundum turrim non sola vis proiicientis propria impressa est, sed alia etiam ex motu terrae, quo manus fuit simul correpta. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die bezüglich des Raumes parabolische Bahn des Steines beim Fall längs eines Turmes empirisch nicht beobachtbar ist (III 500a 2). Zur Erdbewegungsfrage nimmt Gassendi jedoch eine vorsichtige Haltung ein, indem er festhält, daß seine Überlegungen noch nicht die Bewegung der Erde beweisen, sondern nur einige Argumente zugunsten der Erdruhe entkräften: Ac non dico propterea moveri terram, quiescere solem, sed quaerendas dico rationes meliores quam quae ex sensu ipso petuntur (III 505 b). Aber faktisch stellten, wie sein Kontrahent Morin sehr wohl erkannte, die De Motu-Briefe dennoch eine Unterstützung der copernicanischen Position dar. Eine ausführliche Darstellung gibt dazu G . Hess, Pierre Gassend. Der französische Späthumanismus und das Problem von Wissen und Glauben, Jena/Leipzig 1939, der Gassendis Haltung zur Erdbewegungsfrage als Präzedenzfall aller Versuche im beginnenden 17. Jahrhundert behandelt, zwischen Wissen und Glauben zu vermitteln. Die Tatsache, daß Gassendi als einer der bekanntesten Astronomen seiner Zeit galt, verstärkte die Wirkung des Experimentes und seiner Interpretation erheblich (A. Debus, a. a. Ο . S. 140). — Daß der Bahnverlauf einer Fallbewegung bei Eigenrotation der Erde parabolisch ist, ist übrigens sachlich falsch: dies ist nur dann der Fall, wenn (wie man beim Schiffsmastexperiment voraussetzen darf) die Grundfläche sich horizontal bewegt und plan ist, aber nicht wenn sich die Grundfläche zirkulär bewegt. Die Geschichte der Versuche, den Bahnverlauf für diesen Fall zu bestimmen, beschreibt bis zur Lösung durch Newton A. Koyre, A documentary history of the problem of fall from Kepler to Newton. De motu gravium naturaliter cadentium in hypothesi terrae motae, in: Transactions of the American Philosophical Society, N . S. 45, 4 (1955), S. 329—395. Vgl. ferner noch D . J . Fitzgerald, The problem of the projectile again, in: Proceedings in the American Catholic Philosophical Association 1964, S. 186—201. An Spezialstudien vgl. neben Koyres „Documentary History" (s. o. Anm. 49) noch St. Drake, The Uniform Motion Equivalent to a Uniformly Accelerated Motion from Rest (Galileo Gleanings X X ) , in: Isis 63, 1972, S. 28—38; A. Hermann, Die Entdeckung des Fallgesetzes und Galileis wissenschaftliche Methode, in: Rechenpfennige (ed.), Aufsätze zur Wissenschaftsgeschichte, München 1968, S. 151 —165; W . C . H u m p h r e y s , Galileo, falling bodies and inclined planes, in: British Journal for the History of Science 3, 1967, S. 225—244; H. Schimank, Pendelversuche und Fallversuche in Bologna, in: Sonne steh still. 400Jahre Galileo Galilei, ed. E. Brüche, Mosbach 1964, S. 8 2 - 9 7 .
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begnügen können. Das ist jedoch nicht der Fall; sie werden — der wissenschaftshistorischen Situation angemessen — ausführlich auf drei verschiedenen Ebenen diskutiert: der logischen, empirischen und theoretischen Ebene, und auch hier läßt Gassendi vorrangig theoretische Interessen erkennen. Noch heute übersieht man allzu leicht, daß sich die Formel s = V 2 gt 2 , die meist mit dem „Fallgesetz" als einem empirisch gehaltvollen Satz identifiziert wird, aus dem präzisierten Begriff der gleichförmigen Beschleunigung allein mit Hilfe logischer und mathematischer Mittel herleiten läßt 51 — genau deshalb konnte sie aufgrund nicht-empirischer Überlegungen (mit Hilfe der geometrischen Darstellung der Qualitäten) bereits in der scholastischen Physik entwickelt werden (Merton-Formel). Empirisch ist jedoch die Behauptung, daß der auf der Erde beobachtbare freie Fall von Körpern gleichförmig beschleunigt ist, d. h. dem Fallgesetz 51
Bekanntlich setzt diese Herleitung genaugenommen die höhere Mathematik (Integration) ν voraus: geht man von einer (konstanten) Bahnbeschleunigung aus (b^ = — ) , so braucht man rechnerisch die Vektoreigenschaft von ν nicht zu beachten, d. h. kann ν =
ds
in die
1 dv . . . Gleichung b = —— (für Momentangeschwindigkeit bzw. -beschleunigung) einsetzen: es dt d2s folgt b = - T T , d. h. b ist die zweite Ableitung der Weg-Zeit-Funktion s = f(t). Damit dt 2 gilt:
Die Integrationskonstante Ci ist physikalisch die Anfangsgeschwindigkeit v 0 zur Zeit t = 0 (es ist ja b ( 0 ) = v 0 = b · 0 + C! = c,). Also gilt ν = b ( t ) = b · t + v0. Analog errechnet man damit
Die Integrationskonstante c 2 ist physikalisch der O r t s 0 , an dem sich der Körper zur Zeit t = 0 mit der Geschwindigkeit v 0 befindet (es ist ja für t = 0 : f (0) = s 0 = — b · 0 + v 0 · 0 + c 2 = c 2 ). Also gilt s = f (t) = — b t2 + v 0 • t + s 0 . Für v 0 = s 0 = 0 und b = g = 9,81 m/sec 2 folgt s = — gt 2 . Dieser Gedankengang enthält keine empirische Annahme.
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genügt. Es bleibt Galileis Verdienst, diesen Zusammenhang durchschaut und das einzige natürliche Beispiel gleichförmig beschleunigter Bewegung aufgefunden
52
zu
haben 52 .
Schließlich
kann nach den
physikalischen
Im dritten Buch der Discorsi beginnt Galilei zunächst mit rein mathematischer Argumentation: aus der Definition der gleichförmigen Bewegung werden sechs triviale Theoreme deduziert, dann aus dem Begriff der gleichförmigen Beschleunigung ein Satz, der der Formel s = — bt 2 äquivalent ist: (+)
Sei Κ gleichförmig beschleunigt und lege die Strecke s, von t 0 bis t t zurück mit v0 = 0 in t 0 und v, = a > 0 in t,; a sei Κ andererseits gleichförmig bewegt und durchlaufe s, mit v2 = — in der Zeit t 2 ; dann gilt t2 = t t — to. Der Beweis ist für Galilei arithmetisch nicht möglich, weil er eine Integration erfordert; er erfolgt daher geometrisch. Man betrachte folgende Figuren:
A B C soll die gleichförmig beschleunigte, D E F G die gleichförmige Bewegung darstellen, wobei AB und D E die Zeiten, AC und D G = E F die Geschwindigkeit und der Inhalt der Figuren die durchmessene Strecke darstellen (in dieser letzten Annahme steckt arithmetisch die Integration!). Die Voraussetzungen von ( * ) besagen nun gerade, daß der Inhalt beider Figuren gleich und — AC = D G = E F sein soll. Nun ist jedoch IABC = Y AC · A B ; I D E F G = D E · F E = D E · j
AC (nach Vor.); es folgt
— AC · AB = — AC · D E , also AB = D E , d. h. die Zeiten sind gleich.
Aussage ( * ) ist nun dem Fallgesetz äquivalent, denn nach ( + ) ist s, = v2 · t2 = — · t 2 ; ferner b =
- — = — , also vt = b · t 2 ; es folgt s, = — · t2 = · t2 = — b t 2 . t, - t 0 t2 2 2 2 Wichtig ist aber vor allem, daß Galilei nicht bei Aussage (•*·) stehenbleibt, die ja für eine experimentelle Untersuchung des freien Falles völlig ungeeignet ist, sondern aus ( * ) ein weiteres Lemma herleitet, das dann seinerseits die empirischen Versuche leicht macht und offenbar eigens deshalb entwickelt wird: ( + * ) Ist Κ gleichförmig beschleunigt und legt in der Zeit t, die Strecke s t , in der Zeit t2 die Strecke s2 zurück, so gilt —- = —j- . s2 t2
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Gassendis physikalische Methode
Ursachen der gleichförmigen Beschleunigung im freien Fall gefragt werden, d. h. es kann der Versuch unternommen werden, nicht das Fallgesetz selbst, wohl aber die empirische Behauptung, daß frei fallende Körper dem Fallgesetz (der Formel s = V 2 gt2) genügen, aus allgemeineren theoretischen Hypothesen zu deduzieren. Eine rationale Diskussion des Fallgesetzes um 1640 implizierte insgesamt also die Beantwortung von drei Fragen: erstens die logische Frage, ob der Begriff der gleichförmigen Beschleunigung durch das Fallgesetz korrekt expliziert wird, zweitens (falls die erste bejaht wird) die empirische Frage, ob der freie Fall eine gleichförmig beschleunigte Bewegung ist, und drittens (falls die zweite bejaht wird) die theoretische Frage, warum der freie Fall gleichförmig beschleunigt ist. Wie bereits bemerkt, differenziert Gassendi in der Tat das Problem in eben dieser Weise und leistet dabei vor allem zur Beantwortung der dritten Frage einen wissenschaftlich wichtigen Beitrag. Ausgehend von der intuitiven Vorstellung, daß die Geschwindigkeit wächst, wenn immer mehr Räume in derselben Zeit durchmessen werden, hatten Anhänger der aristotelischen Physik, unter Gassendis Zeitgenossen etwa Michael Varro und der Jesuit Pierre Cazre, die Auffassung vertreten, daß bei gleichförmig beschleunigter Bewegung der Geschwindigkeitszuwachs den durchmessenen Räumen proportional ist 53 . Im ersten Brief D e r Beweis bei Galilei ist wieder geometrisch, aber folgender arithmetischer stellung äquivalent:
Dar-
nach ( + ) ist s, = — bt?, s2 = — bt*, also b = 2 - j - = 2 ~ , also — = - 5 - . 2 2 t, t2 s2 t2
53
D a n n erst wird empirisch nachgewiesen, daß beim freien Fall b z w . auf der schiefen Ebene die durchmessenen Räume dem Q u a d r a t der Zeiten proportional sind. Insgesamt läßt die Argumentation erkennen, daß Galilei sich darüber im klaren war, daß die Formel des Fallgesetzes aus dem Begriff der gleichförmigen Beschleunigung folgt und der freie Fall unabhängig davon empirisch untersucht werden m u ß . Die heute so geläufige Rede von der „experimentellen K o n f i r m a t i o n " des Fallgesetzes (ζ. B. Koyre Etudes Galileennes, a. a. O . S. 143 („L'experience confirme ou inconfirme le raisonnement") oder Metaphysics and Measurement, a. a. Ο . S. 92 („It is quite clear, that an experimental verification of the Law, as well as of its applicability to bodies falling in o u r space (!), . . . is indispensable") ist dagegen zu ungenau, ebenso wie die folgende Beschreibung seines Vorgehens offensichtlich inadäquat ist: „ H o w then did Galilean thought proceed? It seems to be the m e t h o d itself of mathematical physics: after considering the sense-experience, intuition allows us to extract and isolate f r o m it a typical p h e n o m e n o n , and to discover the parameters susceptible of translating it into mathematical language. N e x t the question is treated in a purely deductive way. The last stage consists in recourse to experiment as a means of verification" (R. Dugas, Mechanics in the seventeenth century, a. a. O . S. 85). D e n status controversiae beschreibt Gassendi so: ideo difficultas seu quaestionis status is videtur potissimum, u t r u m gradus velocitatis primo aequales tot acquiruntur, quot
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De Proportione Qua Gravia Decidentia Accelerantur von 1645, der an Cazre gerichtet ist, wiederholt und verteidigt Gassendi Galileis Widerspruchsbeweis dieser Annahme und ergänzt ihn durch eine einleuchtende geometrische Konstruktion, die deutlich macht, daß unter der Voraussetzung der Proportionalität von Beschleunigung und durchmessenem Raum die Beschleunigung ungleichförmig ist, d. h. daß diese Voraussetzung der Annahme der Gleichförmigkeit der Beschleunigung logisch widerspricht: Gassendis Skizze zeigt nämlich eine nicht-lineare Geschwindigkeitskurve54. Dem entspricht seine — im Gegensatz zu Galilei explizit
54
fluunt partes temporis, an potius, quot spatii panes percurruntur? Nempe non alio respicitur, cum requiritur, an velocitates sicut tempora an sicut spatia sese habeant? (III 565a 1). Im Syntagma heißt es: Michael Varro . . . rem ita definiit, ut quae est ratio spatii ad spatium, eandem esse celeritatis ad celeritatem putarit . . . sicque in fine secundae ogygiae moveatur (sc. lapis) duplo velocius quam in fine primae, in fine tertiae triplo, in fine quartae quadruplo (1 350b 1). Vgl. dazu den Brief Cazres an Gassendi vom November 1642 (VI 448a-452-b). Vgl. Gassendis Darstellung III 568a 2 ff. (Galilei Opere a . a . O . VIII, S. 203): Angenommen, die Geschwindigkeit wächst proportional zu den (per gewählter Zeiteinheit) durchmessenen Räumen; ist dann etwa die Strecke AB halb so lang wie A C und hat ein in Α ruhender Körper in Β die Geschwindigkeit v, so in C nach Voraussetzung die Geschwindigkeit 2v. Wegen der gleichförmigen Beschleunigung wird daher AB mit der A
Η'
Η
G
durchschnittlichen Geschwindigkeit 1/2 v, AC mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit ν durchlaufen. Wegen AB = 1/2 A C folgt daraus, daß AB in derselben Zeit durchlaufen wird wie AC = 2 AB, was widersprüchlich ist. Gassendi benutzt zur Erläuterung ein in sich unterteiltes Dreieck, dessen Punkte A—G die Zeiteinteilung und dessen Inhalt die durchlaufenen Strecken darstellen (III 567a, s. nebenstehende Skizze). Wächst nun die Geschwindigkeit proportional zu den durchlaufenen Strecken, dann kommt pro
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Gassendis physikalische Methode
formulierte — Einsicht, daß der rationale Teil der Galileischen Argumentation gerade in der Herleitung der Proportionalität von Beschleunigung und Zeit aus der Voraussetzung der Gleichförmigkeit der Beschleunigung besteht 55 . Auch wenn Proportionalität von Raum und Beschleunigung und Gleichförmigkeit von Beschleunigung unvereinbar sind, ist es logisch nicht unmöglich, daß im freien Fall die Geschwindigkeit proportional zu den durchlaufenen Räumen wächst. Die Bemerkung von Aristotelikern wie Varro und Cazre können in diesem Sinne verstanden werden, als empirische Annahme also, mit der Gassendi sich nach den logischen Überlegungen im zweiten Teil des ersten Briefes De Proportione auseinandersetzt. Diese Annahme kann, wie Gassendi bemerkt, deduktiv überprüft werden, denn sie impliziert die Behauptung, daß Körper, die im freien Fall in der ersten Zeiteinheit eine Raumeinheit durchlaufen, in der
55
Zeiteinheit stets derselbe Rauminhalt hinzu (in der Skizze die schraffierten Dreiecke vom selben Rauminhalt). Die resultierende Geschwindigkeitskurve AH ist nicht linear (wie ζ. B. AH'), d. h. die Beschleunigung ist ungleichförmig: nihil est opus, ut desudem ad ostendendum non increvisse velocitatem aequabiliter (ibid.). — Neuerdings geäußerte Vorbehalte gegenüber dieser Argumentation sind mir nicht ganz verständlich geworden. Bereits Ernst Mach (Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch - kritisch dargestellt, Leipzig 4 1901, S. 129) behauptet, daß sich ein logischer Widerspruch nicht ergibt: aus der (modern geschriebenen) Voraussetzung ds - p - = as folge s = Ae" (a experimentelle, Α Integrationskonstante), dies aber sei zwar dt empirisch, nicht jedoch logisch falsch. I. B. Cohen (Galileo's rejection of the possibility of velocity changing uniformely with respect to distance, in: Isis 47, 1956, S. 231—235) akzeptiert Machs Interpretation, führt Galileis Irrtum aber auf die fälschliche (wenn auch zu seiner Zeit verständliche) Verwendung der Merton-Regel zurück, die nur für den Fall gleichförmiger Beschleunigung gilt. Nun ist zwar sicher die Formel s = Ae" nicht logisch falsch; wohl aber steht sie, soweit ich sehe, in logischem Widerspruch zur Annahme dv b = - τ - = konst., denn das exponentiale Anwachsen der Distanzen mit der Zeit ist mit dt gleichförmiger Beschleunigung offenbar unvereinbar. Ratio autem ex eo constat, quod si incrementum celeritatis uniformiter fieri supponatur, ut nulla est ratio, quae difformiter fieri suadet, non alia proportio reperiri possit quam exposita, cum quantacumque celeritate aut tarditate supponas percurri primam orgygiam, necesse sit pari insequente tempore percurri tres et succedente pari quinque atque ita de caeteris (I 351b 1). Gassendi spielt hier auf das aus dem Fallgesetz folgende Lemma an, daß sich die einzelnen, per Zeiteinheit durchlaufenen Räume zueinander wie die ungeraden Zahlen verhalten. Auf das Zusammenspiel von Erfahrung und Deduktion bei Galilei wird des öfteren verwiesen: . . . tum partim experientia, partim ratione fretus docuit (sc. Galileus) momenta seu gradus celeritatis aequales se habere ut momenta sive aequales partes temporis (I 350b2, vgl. auch I 351 a2), zuweilen freilich auch in inadäquater Weise, etwa wenn Gassendi davon spricht, daß die Erfahrung Galileis Definition der gleichförmigen Beschleunigung bestätigt habe (III 579a2).
Kontraktion und Prüfung von Theorien
191
zweiten nahezu drei, in der dritten sieben, in der vierten bereits zwanzig, in der fünften dreiundfünfzig Raumeinheiten durchlaufen müßten; und so schwierig die Fallzeiten im einzelnen zu messen waren, Gassendi weist völlig zu Recht darauf hin, daß die Geschwindigkeit mit Sicherheit längst nicht so schnell wächst wie hier angenommen56. Cazre hatte freilich auch Experimente angegeben, die seiner Meinung nach für seine eigene und gegen Galileis Hypothese sprachen, deren wichtigstes im Vergleich der Impulse bestand, die im freien Fall erreicht werden: man läßt einen Körper aus unterschiedlichen Höhen auf eine Schale einer Waage fallen und vergleicht die Höhen, die die andere, mit einem bestimmten Gewicht versehene Waagschale erreicht. Cazre glaubte nun festgestellt zu haben, daß das Verhältnis der Fallhöhen des Körpers dem Verhältnis der Steighöhen gleich ist; daraus würde folgen, daß die Impulse (Cazre und Gassendi reden vom „impetus") und damit die Geschwindigkeiten der Fallhöhe proportional sind 57 . Gassendis Reaktion ist charakteristisch für seine methodische Haltung: er wiederholt das Experiment und findet, daß dieses Ergebnis nur für einen einzigen Fall unter gewissen einschränkenden Bedingungen gilt: ein Stein, dessen Fallhöhe das gut Hundertfache seines Durchmessers beträgt, vermag eine Waagschale mit einem gut Hundertfachen seines eigenen Gewichtes zu heben. Dies ist jedoch weder allgemein richtig, noch impliziert diese Beschreibung allein schon den erforderlichen Impulsvergleich; dieser ergibt vielmehr, wie Gassendi selbst entdeckt, daß erst die vierfache Fallhöhe eine doppelte, die neunfache eine dreifache Steighöhe bewirkt usw., daß also die im freien Fall erreichten Impulse (und damit die Geschwindigkeiten) per Raumeinheit im Verhältnis der Quadratzahlen zunehmen: Gassendi weist nach, daß das von Cazre angegebene Experiment, physikalisch richtig konzipiert und sorgfältig durchgefühlt, die Galileische Hypothese nicht falsifiziert, sondern vielmehr konfirmiert 58 . 56
57
58
Vgl. ζ. B. III 580b: Unde licet advertere fore, ut spatia ea ratione increscant, quae assumptis quibuslibet aequalibus temporibus deprehendantur et difformiter quidem seu inaequabiliter triplam, quippe . . . lapide decidente primo momento per unam v. c. orgygiam, fore ut secundo aequali momento decidendo per tres, in tertio per Septem, in quarto per viginti, in quinto per quinquaginta duas deciderit in fine quinti orgygiis octoginta quatuor ac brevi res sit abitura in immensum secusque quam docet ipsa experientia, iuxta quam orgygiae in fine quinti momenti superatae colliguntur plures esse non debere quam viginti quinque. Vgl. auch I 350b. Vgl. Kap. XIII des ersten Briefes De Proportione (der übrigens später verfaßt wurde und erschienen ist (1645) als der dritte (1642)), III 5 7 5 b - 5 7 6 b . Praetereo autem, quemadmodum, ut extulit dumtaxat duplum ex diametris quatuor, sie etiam extulerit solummodo triplum ex diametris novem et quadruplum ex sexdeeim
192
Gassendis physikalische Methode D e r exakte W e r t der Fallbeschleunigung w a r freilich m i t den damals
z u r V e r f ü g u n g stehenden H i l f s m i t t e l n n u r sehr s c h w e r z u e r m i t t e l n ; es ist b e k a n n t , w i e erheblich Galilei selbst ihn verfehlte und w e l c h e Schwierigkeiten beispielsweise M e r s e n n e hatte 5 9 . Gassendi ersann d a h e r ein Experim e n t , das Zeitmessungen überflüssig machte und dennoch allein mit H i l f e der
Galileischen
experimentum
Voraussetzungen
prognostizierbar
crucis, das gleichzeitig
ist:
dem Stand der
ein
elegantes
experimentellen
Technik Rechnung trug60. G a l i l e i s B e h a u p t u n g e n z u m freien Fall standen z w i s c h e n 1 6 3 2 1650
im
Zentrum
der
wissenschaftlichen
Diskussion.
Es
ist
b e m e r k t w o r d e n , d a ß verschiedene A u t o r e n Erklärungsversuche
und
bereits unter-
n a h m e n , die freilich unbefriedigend blieben, w e i l die theoretische Position
59
60
(III 577 b 2 f.) . . . Ad ista vero vides profecto quid sit iam promptum respondere, cum tantum abest, ut aperta indubitataque experientia definitionem illam vulgarem . . . stabiliat, quin illam potius evertat et Galileanum confirmet (III 579 a 2). Und nicht ohne Ironie beglückwünscht Gassendi den Eiferer Cazre dazu, zwar nicht seine eigene, dafür aber unabsichtlich die wahre Hypothese (Galileis) bestätigt zu haben: Sunt autem tibi habendae gratiae, qui pro tua solertia eo respexeris, unde argumentum adeo evidens duceretur ipseque debes ex eo laetari, quod, tametsi experimentum praeconceptae a te opinioni non faveat, conferat nihilominus ad veritatis illustrationem (III 579 b l ) . Vgl. dazu die eingehende und instruktive Studie von A. Koyre, An Experiment in Measurement, in: Metaphysics and Measurement, a. a. Ο. S. 89—117, der ausführlich die Bemühungen Mersennes und eines Teams italienischer Jesuiten unter Führung des Autors des Almagestum Novum, Giambattista Riccioli, darstellt. Gassendi selbst betrachtete die Ergebnisse der Versuche Mersennes als Bestätigung (I 351 a 2). Aus dem Fallgesetz folgt, daß Körper, die längs eines Durchmessers AD eines senkrechten Kreises und beliebiger, durch den Punkt D gehender Sehnen BD, CD usw. fallen, D in derselben Zeit erreichen. Das wäre offenbar unmöglich, wenn die FallA
hölzernes Rad von knapp 4 m Durchmesser herstellen und Glasröhrchen verschiedener Länge einarbeiten. Dann ließ er kleine Kugeln gleichzeitig durch verschiedene Glasröhren fallen. Das Resultat bestätigte die hergeleitete Prognose. Vgl. dazu A. Koyre, Gassendi and Science in his Time, a. a. O. S. 124.
193
Kontraktion und Prüfung von Theorien
nur ungenügend entwickelt worden war 61 . Wie mühsam die richtige physikalische Erklärung der gleichförmigen Beschleunigung im freien Fall sich durchsetzte, zeigt die Diskussion zwischen Beeckman und Descartes. Beeckman hatte schon vor 1620 Trägheit und Erdattraktion als physikalische Ursachen bezeichnet und war sogar, ohne Galileis Standpunkt zu kennen (den dieser erst 1632 zum erstenmal öffentlich bekanntgab), zu Aussagen über die Fallzeit gekommen, die dem Fallgesetz äquivalent sind 62 . Die Kalkulation der Fallzeit hatte er dem jungen Descartes als Vgl. oben S. 124f. mit Anmerkung 5. Zur Diskussion des Fallgesetzes in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vgl. die Ubersicht bei A. Koyre in La loi de la chute des corps (Etudes Galileennes a. a. O. S. 83-160). 62 Der bemerkenswerte Text ist in Descartes, CEuvres AT X S. 58 einzusehen und sei hier wiedergegeben, weil er zeigt, wie mühsam und umständlich (im Gegensatz zu Gassendis leicht verständlicher Darstellung) die Beziehung zum Fallgesetz hergestellt wurde (wenn es nicht nur allgemein um die Erklärung des Falles, sondern seiner gleichförmigen Beschleunigung ging): Lapis cadens in vacuo cur semper celerius cadat: Moventur res deorsum ad centrum terrae vacuo intermedio spatio existente hoc pacto: Primo momento tantum spacium conficit, quantum per terrae tractionem fieri potest. Secundo, in hoc motu perseverando (Trägheitssatz!) superadditur motus novus tractionis, ita ut duplex spacium secundo momento peragretur. Tertio momento, duplex spacium perseverat, cui superadditur ex tractione terrae tertium, ut uno momento triplum spacii primi peragretur. Dann folgt die genauere Kalkulation (ibid.): Lapis cadentis tempus supputatum: Cum autem momenta haec sint individua, habebit spacium per quod res una hora cadit ADE. Spatium per quod duabus horis cadit, duplicat proportionem temporis, id est ADE ad ACB, quae est duplicata proportio AD ad AC. Sit enim momentum spatii per quod res una hora cadit alicuius magnitudinis, videlicet ADEF. Duabus horis perficiet talia tria momenta, scilicet AFEGBHCD. Sed AFED constat ex ADE cum AFE: atque AFEGBHCD constat 61
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G
D
C
Η
Β
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Gassendis physikalische Methode
Problem vorgelegt, der in seinen Cogitationes Privatae stolz berichtet, wie er die Lösung gefunden hat. Indessen hatte Descartes zwar eine mathematisch elegantere und kürzere Argumentation vorgelegt als Beeckman, war sich über ihre physikalischen Implikationen jedoch offensichtlich nicht im klaren 63 . Der Attraktionsbegriff, den er hier im Anschluß an Beeckman noch verwendet, ist zehn Jahre später (1629), seinen philosophischen Prinzipien gemäß, bereits vollständig eliminiert; Descartes bevorzugt zu dieser Zeit eine Lösung, die praktisch derjenigen Benedettis gleichkommt 64 . Wie seine bekannte Galilei-Kritik von 1638 zeigt, forderte
63
64
ex ACB cum AFE et EGB, id est cum duplo AFE. — Sic si momentum sit AIRS, erit proportio spatii ad spatium ut ADE cum klmn, ad ACB cum klmnopqt, id est etiam duplum klmn. At klmn est multo minus quam AFE. Cum igitur proportio spatii peragrati ad spatium peragratum constet ex proportione trianguli ad triangulum adiectis utrique termino aequalibus cumque haec aequalia adjecta semper eo minora fiant quo momenta spatii minora sunt: sequitur haec adiecta nullius quantitatis fore quando momentum nullius quantitatis statuitur. Tale autem momentum est spatii per quod res cadit. Restat igitur spatium per quod res cadit una hora se habere ad spatium per quod res cadit duabus horis ut triangulum ADE ad triangulum ACB (also wie 1 : 4, d. h. durchmessene Räume verhalten sich wie Quadrate der Zeiten). Vgl. oben Kap. 2.1.1. Anm. 28. Der dort zitierte Text wird folgendermaßen fortgesetzt: Solvi quaestionem. In triangulo isoseclo rectangulo, ABC spatium repraesentat; inaequalitas spatii a puncto Α ad basim BC motus inaequalitatem. Igitur AD percurritur tempore,
quod ADE repraesentat; DB vero tempore quod DEBC repraesentat . . . Est autem AED tertia pars DEBC: ergo triplo tardius percurrat AD quam DB. Dann folgt jedoch ein merkwürdiger Zusatz, der von der (physikalisch unmöglichen) Vorstellung ausgeht, daß die Attraktion der Erde zu einer ganz andersartigen Beschleunigung führt; aber auch dafür bietet Descartes eine mathematische Lösung (vgl. dazu A. Koyre, Et. Gal. a. a. O. S. 114f.): Aliter autem proponi potest haec quaestio, ita ut semper vis attractiva terrae aequalis sit Uli quae primo momento tuit: nova producitur priore remanente. Tunc quaestio solvitur in pyramide (d. h. Verhältnis der Räume wie Kuben der Zeiten!). Vgl. seinen Brief an Mersenne vom 13.11.1629 (CEuvres Α. Τ. I S. 71). Descartes benutzt hier wieder den impetus-Begriff, der konstante Geschwindigkeit bewirkt. Ähnlich schon J. Baptistae Benedict! Diversarum Speculationum Mathematicarum et Physicarum Liber, Turin 1885 (in Disputationes de quibusdam placitis Aristotelis Cap. XXIV, S. 184).
Kontruktion und Prüfung von Theorien
195
er, über Galilei hinauszugehen und nach den physikalischen Ursachen der Fallbewegung zu suchen, aber er selbst hat niemals eine präzise Antwort auf diese Fragen gegeben 65 . Gassendi ist der erste, der, bemüht nicht nur um eine logische Klärung und empirische Absicherung der Behauptungen Galileis, sondern auch um ihre theoretische Einbettung, Beeckmans richtige Problemlösung wiederholte. Wir wissen nicht, ob er dazu Anregungen von Beeckman selbst erhalten hat, aber wir haben bereits gesehen, daß er alle nötigen theoretischen Voraussetzungen besaß: das Trägheitsprinzip, einen entsprechenden Kraftbegriff und eine mechanistische Gravitationstheorie66. Im ersten De Motu-Brief von 1642 hatte er sich allerdings von einem Scheinproblem auf die falsche Fährte locken lassen: das Gleichgewicht von Attraktions- und Bewegungskraft, das ein nach oben geschleudertes Projektil am obersten Punkt seiner Bewegungsbahn erreicht, schien ihm keine hinreichende Ursache für die folgende Fallbewegung zu sein. Er nahm daher an, daß in diesem wie auch im allgemeinen Fall der Gravitation eine zweite Ursache (die Luft) zur Fallbewegung beiträgt, und verwendete diese Annahme am Ende des Briefes, ohne das zuvor entwickelte Trägheitsprinzip zu berücksichtigen, zur (falschen) Herleitung des numerisch formulierten Fallgesetzes 67 . Erst die drei Jahre später in den ersten beiden Briefen De Proportione veröffentlichte Recantatio enthält die richtige Lösung und sichert damit das Fallgesetz nach Beeckman zum erstenmal wieder in adäquater Weise auf theoretischer Ebene: eine konstant wirkende, von außen angreifende Kraft (Gravitation) hat wegen der Trägheit gleichförmige Beschleunigung zur Folge 68 . 65
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67 68
Brief an Mersenne vom 11. 10. 1638 (CEuvres Α. Τ. II S. 380). Eine ausführliche Analyse der Haltung Descartes' zum Fallgesetz gibt Koyre, Etudes Galileennes S. 127ff. Vgl. oben S. 151f. mit Anm. 74, 75, 76, 77, 78, 79, wo die relevanten Textstellen zitiert sind. III 491a, 4 9 7 a f . Diese Leistung wird auch von J . T . Clark, Pierre Gassendi and the Physics of Galilei, in: Isis 54, 1963, S. 352—369, anerkannt, der freilich zu Unrecht behauptet, daß die Analyse des Fallgesetzes Gassendi zur Entwicklung des Trägheitssatzes führte. Denn im ersten D e Motu-Brief, der das Trägheitsprinzip enthält, steht noch die falsche Erklärung, die die Trägheit gerade nicht berücksichtigt. Diese offensichtliche Tatsache kann wohl nur dann übersehen werden, wenn man methodologisch auf einen „Abstraktionsprozeß" im wissenschaftlichen Vorgehen fixiert ist. Im übrigen findet Gassendis Arbeit jedoch auffallend wenig Anerkennung: Dugas (Mechanics in the Seventeenth Century, a. a. Ο . ) , der Gassendi ansonsten recht wohlwollend behandelt, erwähnt die Fallgesetzinterpretation mit keinem Wort; Rochot (Les Travaux . . . a. a. O . S. 117) gibt nur eine kurze Beschreibung, die die Leistung in keiner Weise sichtbar macht; Bloch (Le philosophie de Gassendi, a. a. O . ) weist vor allem auf den Zusammenhang mit den „ontologischen
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Gassendis physikalische Methode
Uberblickt man diese Beispiele physikalischer Argumentation im ganzen, so wird unmittelbar deutlich, daß sie methodologisch weder empiristische noch gar sensualistische Züge tragen. Die angeblich reinen Sinnesdaten, von denen nach Meinung vieler Interpreten in der Kanonik Gassendis so häufig die Rede ist, spielen keine erkennbare Rolle; vielmehr scheint Gassendi sich darüber im klaren gewesen zu sein, daß Beobachtungen u n d Experimente häufig unterschiedlich interpretierbar sind und daher nicht stets eindeutig für oder gegen eine bestimmte Theorie sprechen, und daß es daher vor allem theoretischer Bemühungen bedarf, um ihnen Gewicht zu verleihen und zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen. Hier liegt offenbar der Schwerpunkt seiner physikalischen Arbeit; ob es sich um pneumatische Phänomene, Projektilbewegungen oder den freien Fall handelt, stets sehen wir ihn zunächst und vor allem um theoretische Klärung bemüht, die dann freilich auch zu gezielten Experimenten anleitet. Sinnliche Erfahrung entbehrt für ihn keineswegs der Bezugspunkte zu Theorien und entscheidet erst recht nicht allein über deren Wahrheit; nur das Zusammenspiel von Theorie und Erfahrung verspricht ihm Erfolg.
2.2. Methodologische
Abweichungen
Unsere bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, daß Gassendis Physik Elemente einer Methodologie sichtbar werden läßt, die man heute zuweilen „hypothetisch-deduktives Modell" nennt. Selbstverständlich kann man nicht erwarten, daß Gassendi diese Methodologie streng durchhält, denn schließlich setzt sie Interessen voraus, die im 17. Jahrhundert durchaus noch nicht allgemein verbreitet waren. Zum Abschluß sollen daher noch einige Beispiele für zwei charakteristische Formen der Abschwächung seiner Methodologie angegeben werden. Einerseits nämlich kann Gassendi zuweilen der Versuchung nicht widerstehen, in empiristischer Weise Beobachtungsdaten ein zu starkes Gewicht einzuräumen, etwa in seinen Überlegungen zur Farbenlehre, zum Magnetismus und zur Pendelschwingung; andererseits behandelt er mit Hilfe einer Aufweichung Grundlagen" (hier der Zeitdefinition) hin (S. 191 ff.); bei Koyre muß man lange suchen, um in den Etudes Galileennes folgende Fußnote zu finden: „II faudra attendre trente ans au moins, jusqu' au „De motu impresso a motore translato" de Gassendi (Paris 1643) — et encore! — pour retrouver une conception aussi claire du mecanisme de la chute" (S. 109 Anm. 1, zu Beeckman).
Methodologische Abweichungen
197
des Probabilismus nicht genuin physikalische Probleme innerhalb der Physik oder läßt theologische Grundsätze ihre Rolle spielen, so in einigen kosmologischen Fragen, in finalistischen Erklärungen und beim teleologischen Gottesbeweis.
2.2.1. Empiristische Tendenzen Als charakteristische Beispiele für unbefriedigende Theorienbildung sollen im folgenden Gassendis Hypothesen zur Entstehung der Farben, zum Magnetismus und zur Pendelbewegung analysiert werden. Auch in diesen Fällen dürfte eine kurze Darstellung der wissenschaftsgeschichtlichen Situation vorteilhaft sein. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts war der Kern der antiken Farbenlehre ohne bedeutsame Abweichungen in Geltung geblieben: die Farben wurden als Mischungen aus zwei (Weiß bzw. Licht, Schwarz bzw. Schatten) oder mehr einfachen Grundfarben angesehen, zu denen stets auch Weiß gehörte1. Der erste entscheidende Schritt zur Entstehung einer 1
Als Beispiel vgl. Antonius de Dominis, De radiis visus et lucis in vitris perspectivis et iride (Venedig 1611), ein 78-seitiger Traktat, in dem trotz nicht unbedeutender Fortschritte in der Erklärung des Regenbogens an der traditionellen Farbenlehre festgehalten wird. In seiner Jugendschrift Περί Χρωμάτων (Akad. Ausg. Bekker Bd. II, 791 a—799b), die auch von Goethe übersetzt wurde, geht Aristoteles noch von drei einfachen Grundfarben aus: weiß, schwarz und gelb. In Περί ΑΙσθήσεως και Αισθητών (in: Aristotelis Parva Naturalia, rec. G. Biehl, Leipzig 1898, S. 1 — 36) erfolgt jedoch die Reduktion auf Weiß und Schwarz (vgl. Kap. 3, 439b 1 8 - 4 4 0 b 2 5 ; 4, 442al2). In der Physik heißt es dann bündig: τά χρώματα έκ λευκοΰ καί μέλανος (Α5, 188b24). Die zugrundeliegende Vorstellung freilich, nach welcher die Farbe die Aktualität des Durchsichtigen (διαφανές), eines vielen Körpern zukommenden Vermögens, ist, die durch die Wirkung des Feuers auf dieses Vermögen hervorgerufen wird (το χρώμα κινητικόν έστι τοϋ κατ ένέργειαν διαφανούς, de an. Γ 7, 418a31, 419a9; dazu ausführlich die Untersuchung von Prantl, Aristoteles über die Farben, München 1849), wurde in der frühen Neuzeit vielfach zugunsten der von Empedokles inaugurierten Emissionstheorie aufgegeben (etwa bei Kepler und Jungius; dazu genauer F. Klemm, Geschichte der Emissionstheorie des Lichts, Weimar 1932). Vorläufer der aristotelischen Farbenlehre ist Piatons Hypothese im „Timaios" (67 c 4—68 d 7): Farben werden durch das Zusammentreffen von Sehstrahlpartikeln und Feuerpartikeln (die vom Körper ausgehen) erzeugt. Es werden Gegensatzpaare konstruiert: sind beide Arten von Partikeln gleich, so erscheint der Körper durchsichtig, sind sie ungleich, so erscheint er undurchsichtig. Sind insbesondere die Feuerpartikeln kleiner, so durchdringen und erweitern sie den Sehstrahl, und der Körper erscheint weiß; sind sie größer, so pressen sie den Sehstrahl zusammen, und der Körper erscheint schwarz. Die rote Farbe wird dann durch eine andere, nicht näher beschriebene Feuerart zusammen mit der Feuchtigkeit des Auges erzeugt. Piaton postuliert also insgesamt drei Grundfarben wie der junge Aristoteles, jedoch bereits mit eindeutiger Priorität des Gegensatzpaares Weiß/Schwarz. Demokrit hatte sich für vier Grundfarben (Weiß,
198
Gassendis physikalische Methode
neuen u n d besseren H y p o t h e s e w a r d a h e r die — d e r unmittelbaren e m p i r i schen E r f a h r u n g v ö l l i g fernliegende — theoretische Einsicht, daß das w e i ß e Licht sich aus F a r b e n z u s a m m e n s e t z t — aus denjenigen Farben nämlich, die m a n schon seit langem i m Regenbogen und a m Prisma hatte b e o b a c h ten k ö n n e n 2 : es galt, die z w e i t a u s e n d J a h r e alte U b e r z e u g u n g v o m f u n d a m e n t a l e n C h a r a k t e r der F a r b e n W e i ß u n d S c h w a r z zu eliminieren. D i e s e Einsicht begann sich in verschiedenen F o r m e n ab 1 6 3 7 d u r c h z u setzen, als D e s c a r t e s seine A b h a n d l u n g über die M e t e o r e v e r ö f f e n t l i c h t e 3 , u n d es ist aufschlußreich z u sehen, w e l c h e A r g u m e n t e d a f ü r ins Feld g e f ü h r t w u r d e n , b e v o r H u y g e n s und N e w t o n ernsthaft an einer quantitativen F a s s u n g d e r F a r b e n t h e o r i e z u arbeiten begannen. D e s c a r t e s hatte zunächst Prismaexperimente angestellt, u m die U r s a c h e der L i c h t b r e c h u n g genauer z u b e s t i m m e n 4 . Er ließ Lichtstrahlen senkrecht auf eine Seite des Prismas fallen, so daß an dieser O b e r f l ä c h e keine
2
3
4
Schwarz, Rot, Grün/Gelb) entschieden (vgl. Frg. 68 (55) A 135 (Theophr. De sensu 73 — 78) Diels). — Vgl. F. Birren, Color. A survey in words and pictures, from ancient mysticism to modern science, New Hyde Park, Ν. Y. 1963; ferner die Arbeiten von J. McLean: De kleurentheorie van Aristoteles, in: Scientiarum Historia 7, 1965, S. 107—117; De kleurentheorie der Arabieren, ibid. S. 143—155; De kleurentheorie in West-Europa van ca. 600—1200, ibid. S. 213—218; De kleurentheorie in West-Europa (1200-1500), ibid. 8, 1966, S. 3 0 - 5 0 ; Kleurentheorie in de periode 1600-1635, ibid. 9, 1967, S. 126—147; vor allem aber De kleurentheorie van de aanhangers der corpusculairtheorie, ibid. 12, 1970, S. 1—22 (hier S. 17—22 speziell zu Gassendi, allerdings mehr in Form einer Inhaltsparaphrase; der Autor weist besonders auf den Einfluß Beeckmans hin). Neben Κ. T. A. Halbertsma: A history of the theory of colour, Amsterdam 1949, vgl. noch Untersuchungen zur Geschichte der Optik, etwa E. Wilde, Geschichte der Optik, Wiesbaden 1968 (1. Aufl. 1838-43); E. Hoppe, Geschichte der Optik, Leipzig 1926; V. Ronchi, Histoire de la lumiere, Paris 1956; vor allem jedoch Α. I. Sabra, Theories of Light. From Descartes to Newton, London 1967 (rez. v. R. S. Westfall, The science of optics in the seventeenth century, in: History of Science 6, 1967, S. 150—156). Erst Maurolycus (1494—1577) allerdings hatte in einem 1575 erschienenen Traktat mit dem Titel „Photismi de lumine et umbra" zum erstenmal die Regenbogenfarben mit den durch Brechung am Glasprisma entstehenden Farben identifiziert. Sie wurde in Leyden als Anhang zum Discours de la methode zusammen mit der Dioptrik und der Geometrie publiziert und von Descartes als Beispiel seiner philosophischen Methode bezeichnet (Descartes (Euvres a. a. Ο. VI S. 325). Aber der Plan zur Abfassung wurde bereits 1629 gefaßt (vgl. den Brief von Descartes an Mersenne vom 8. 10. 1629, Descartes (Euvres a. a. Ο. I S. 23); ein Jahr später freilich ist die Schrift noch nicht halb fertig (Brief an Mersenne vom 25. 11. 1630, Descartes CEuvres a . a . O . I S. 179). Unmittelbarer Anlaß war ein parhelisches Phänomen, das am 20. März 1629 in Italien beobachtet wurde und große Aufmerksamkeit erregte (auch ein Erklärungsversuch von Gassendi liegt vor, unter dem Titel „Parhelia sive Soles Quatuor Spurii, qui circa verum apparuerunt Romae Anno MDCXXIX, Die XX. Martii" (Gass. Op. Om. III 651a—662 b)). Vgl. zum folgenden Descartes, Les Meteores VIII, in: CEuvres a . a . O . S. 329 ff. und A. Sabra, a. a. O. S. 60ff.
Methodologische Abweichungen
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Brechung stattfinden konnte; die andere Prismafläche, an der eine Brechung stattfand, deckte er bis auf eine kleine Öffnung ab. Hinter ihr zeigten sich auf weißem Papier die Regenbogenfarben. Daraus schloß Descartes, daß zu ihrer Entstehung keine runden Flächen notwendig sind (wie sie bei Wassertropfen vorliegen), daß der Winkel, unter dem die Strahlen austreten, keine Rolle spielt (denn er konnte ohne Wirkung verändert werden), und daß keine Reflexion und nur eine Brechung erforderlich ist. Experimentell wurden damit einige mögliche Ursachen für die Entstehung der Farben ausgeschlossen, aber eine positive Erklärung ließ sich noch nicht erkennen; insbesondere blieb die Frage unbeantwortet, warum die Farben stets in derselben Reihenfolge erschienen. Hier greift Descartes nun auf seine in der Dioptrik entwickelte Theorie des Lichts zurück, wonach Licht eine gewisse Bewegung ist, die sich durch die Äthermaterie fortpflanzt. Vor der Lichtbrechung haben die Ätherpartikeln nur ein Bewegungsmoment in Richtung der Fortpflanzung des Lichtes; durch die Brechung, d. h. das nicht senkrechte Aufprallen auf eine Oberfläche, erhalten sie jedoch eine Rotationsbewegung, in der sie von den umgebenden Partikeln beeinflußt werden. Da nun die Richtung der Rotation stets dieselbe ist, hat die Brechung die Wirkung, daß die äußeren Strahlen des Strahlenbündels die größten Unterschiede in der Rotationsgeschwindigkeit aufweisen (die für Rot verantwortlichen Lichtpartikeln drehen sich nach Descartes' Meinung besonders schnell, die für Violett verantwortlichen besonders langsam). Aufgrund rein theoretischer Annahmen waren damit die Unterschiede zwischen den Farben auf die Unterschiede der Rotationsgeschwindigkeit der Lichtkorpuskeln zurückgeführt. Das heißt aber gerade, daß nunmehr Farben als Bestandteil des Lichts aufgefaßt werden müssen. Die Autoren, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts Descartes' Meinung teilten, haben gleichfalls verschiedene theoretische Spekulationen zur Begründung herangezogen. Auch Marcus Marci hat Prismaversuche gemacht und u. a. in Vorwegnahme eines der Newton'schen experimenta crucis festgestellt, daß einmal gebrochenes farbiges Licht sich in einem zweiten Prisma nicht weiter zerlegen läßt. Aber erst die spekulative Hypothese, daß Verdichtung allgemein Farbveränderung zur Folge hat, führt ihn zu der Auffassung, daß der Ubergang von Lichtstrahlen aus einem dünneren in ein dichteres Medium Farbveränderungen hervorruft, weil dabei eine Beschränkung auf kleinere Brechungswinkel erfolgt; d.h. Licht verwandelt sich in andere Farben allein aufgrund der Brechung. Maignan entwickelt ein anderes Modell: die Lichtkorpuskeln, die auf einer senk-
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recht zur Fortpflanzungsrichtung gezogenen Geraden liegen, werden als starr verbunden gedacht. Damit kann analog zu einer Achse mit mehreren Rädern, die an einer Seite oder schief auf einen Gegenstand trifft, die Richtungsänderung, also die Brechung, illustriert werden. Es folgt aber, daß die Brechung auch von der Fortpflanzungsgeschwindigkeit abhängen muß; und diese Folgerung ist ebenfalls ein Ausdruck der Tatsache, daß die Farben im Licht enthalten sind. Eine recht abwegige Spekulation führt bei Isaak Voss gleichwohl zum selben Resultat: Schwefel, der allen Körpern beigemischt ist, soll der Stoff der Farben sein; seine Verbrennungen durch das Licht erzeugt die sichtbaren Farben. Insofern nun die Flammen bei der Schwefelverbrennung die Farben enthalten, Farben aber Licht sind, sind Farben Bestandteile des Lichtes. Grimaldi schließlich interpretiert Farben als innere Modifikation des Lichts, als „Erzitterung" des Lichtstoffes (was an eine zugrundeliegende Wellentheorie denken läßt), macht also die Farben von Art und Geschwindigkeit des Lichts abhängig5. Diese wissenschaftsgeschichtlichen Fakten zeigen einmal mehr, wie wichtig rigorose theoretische oder sogar spekulative Überlegungen für den Wissenschaftsfortschritt sein können und im Falle der Farbentheorie im frühen 17. Jahrhundert auch tatsächlich waren. Gassendi hätte aufgrund seiner atomistischen Emissionstheorie gleichfalls die Möglichkeit gehabt, neue Ansätze zu entwickeln; dennoch blieb er der traditionellen Auffassung in den wichtigsten Punkten verhaftet. Aufgabe der folgenden Überlegungen ist es daher, die Gründe für diese Einstellung aufzuspüren. Das zwölfte Kapitel des Buches De Qualitatibus Rerum des ersten Abschnittes der Physik, das von der Farbe handelt6, beginnt mit der vielversprechenden Behauptung, daß Farbe und Licht in gewisser Weise identisch sind. Ferner wird festgestellt, daß das Licht sich gemäß seinen Brechungen an der Oberfläche erleuchteter Körper (oder, wie man hier ergänzen muß, am Medium vor selbstleuchtenden Körpern) in Farben verwandelt 7 . Beide Aussagen sind durchaus noch vereinbar mit einer von 5
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Vgl. dazu Johannes Marcus Marci, Thaumantias. Liber de arcu coelesti deque colorum apparentium natura, Prag 1648; Emmanuel Maignan, Perspectiva horia sive De horographica gnomonica tum theoretica, tum practica . . . , R o m 1648 (bes. S. 628—632 mit Fig. S. 6 3 2 ) ; Isaak Voss, De lucis natura et proprietate, Amsterdam 1662; Franciscus Maria Grimaldi, Physico-mathesis de lumine, coloribus et iride, Bologna 1665. Boyle dagegen vertritt, zweifellos im Anschluß an Gassendi, in seinen Experiments and Observations upon Colours von 1663 noch die alte Schwarz/Weiß-Theorie. Gass. I, 4 3 2 b 2 - 4 4 1 a. Gass. I, 4 3 2 b 2 : Ut de colore iam dicamus, haud abs re insinuavimus videri illius essentiam non aliam esse quam ipsam lucem, quia cum constet nullum colorem visum absque luce
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der Tradition abweichenden Farbentheorie; aber es muß auch klargestellt werden, daß sie noch keine wissenschaftliche Hypothese darstellen, sondern einen kombinierten All- und Existenzsatz, der sich folgendermaßen formulieren ließe: (H) Zu jeder Farbe Α eines Körpers Κ existiert eine Oberflächenstruktur von Κ oder eine Mediumstruktur Α ' , die die von Κ ausgehenden Lichtstrahlen so reflektiert oder bricht, daß Α erzeugt wird. These (H) ist aufgrund ihrer logischen Form empirisch nicht prüfbar. Sie liefert ferner keine genuinen Erklärungen von Sätzen der Form „K hat die Farbe A*"; notieren wir sie nämlich symbolisch in der Form (A) ( 3 A') (A'(K) D Α (Κ)) (wo Κ über alle Gegenstände des Universums läuft), so ist sofort klar, daß zu ihr nur eine Antecedensbedingung denkbar wäre, die das Präfix „(A)" spezialisiert, d. h. aussagt, daß Κ eine bestimmte Farbe A:;" hat, womit das Explanandum in das Explanans hineinkommt und die Erklärung zirkulär wird. Schließlich ermöglicht sie keine tiefere Einsicht in die Mechanismen, die bei der Lichtreflexion und Brechung zur Erzeugung verschiedener Farben führt. These (H) ist demnach nichts weiter, als ein kleines Forschungsprogramm, das eine Behauptung über gewisse Abhängigkeiten von Variablen (Oberflächen- und Mediumstruktur einerseits, Farben andererseits) enthält, die erst noch spezifiziert werden muß. Weil jedoch (H) weder spezifiziert ist noch Gesetzesannahmen enthält, fällt es Gassendi leicht, schon hier durch den Ausdruck „ac intermistarum umbrarum varietatem" im zitierten Text die Lichtbrechung als Vermischung von Licht und Schatten zu interpretieren. Erst nach einem historischen Referat einiger traditioneller Farbentheorien soll (H) nach Gassendis Worten „genauer expliziert" werden 8 ; ob Gassendi damit jedoch auf die Spezifikation und Ausfüllung von (H) anspielt, ist noch zu prüfen. Zunächst wird die Unterscheidung zwischen selbstleuchtenden und erleuchteten Körpern dazu benutzt, um die atomistische Emissionstheorie des Lichtes einzuführen: ein Körper ist selbstleuchtend genau dann, wenn er Lichtkorpuskeln emittiert (Al), und erleuchtet genau dann, wenn er Lichtkorpuskeln reflektiert (A2) 9 . Ent-
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movere, oportet sane vel colorem nihil esse aliud quam lucem, quae, prout ex variis superficiebus corporum ac per varia media varie reflectitur refringiturque ac intermistarum umbrarum varietatem patitur, variorum colorum speciem subeat. Verum priusquam res explicetur, operae est pretium, cognoscere quid philosophi antiquiores de coloribus senserint (Gass. I 432 b2) . . . Caeterum, ut iam de colore aliquanto uberius dicatur . . . (I 434 a2). Zwischen diesen Sätzen liegt das historische Referat. I 434a2.
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scheidend ist aber die Interpretation, die Gassendi der Identität von Licht und Farbe unterschiebt: er faßt die Farben, empirisch durchaus naheliegend, als abgeschwächtes Licht auf. Licht oder weiße Farbe wird stets als heller Glanz gekennzeichnet, der bei farbigem Licht verlorengeht 10 . Genaugenommen ist es also der empirisch beobachtbare Intensitätsverlust der Farben gegenüber hellem Glanz, den Gassendi im Auge hat und den er dann zur Abschwächungsthese verallgemeinert. Jetzt kann die Abschwächung des Lichtes atomistisch als Hinderung an der (geradlinigen) Fortpflanzung der Lichtkorpuskeln durch andere materielle Körper interpretiert werden. Dieser Gedankengang läßt sich auch an einzelnen Beispielen illustrieren. Hinsichtlich selbstleuchtender Körper weist Gassendi ζ. B. auf die empirische Tatsache hin, daß Sonne und Sterne bei klarer Witterung hellweiß glänzen, daß dieser Glanz aber bei Dunst oder Nebel in matte rötliche oder gelbliche Farben übergeht 11 . Ebenso scheinen helle Flammen bei Rauchbildung „unreiner", d.h. dunkler zu werden und ihre Farbe abzuschwächen 12 . Helles Sonnenlicht wird durch die atomistische Struktur des Prismaglases zerstört, und nicht selbstleuchtende Körper mit besonders rauher Oberfläche zerstreuen und schwächen damit die einfallenden Lichtstrahlen nach der Reflexion 13 . Es ist nun wichtig zu erkennen, daß die Benutzung der Abschwächungsthese als Basis der Argumentation dazu führt, daß notwendige mit hinreichenden Bedingungen verwechselt werden. Materielle Hindernisse für Lichtkorpuskeln sind natürlich notwendig, um Brechung oder Reflexion 10
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Immer wieder wird lux mit candor in Zusammenhang gebracht: . . . adeo proinde, ut lux in sua f r o n t e nihil esse aliud quam candor candidansve color videatur (I 4 3 4 a 2 ) ; dictum iam est summam seu sinceram lucem in ipso suo fonte lucidove, ut sole, spectatam esse ipsum candorem seu albedinem candicantem, promicantem, comicantem, splendescentem (I 438 a 1). Entsprechend wird die Veränderung des Glanzes zur Farbe häufig mit den W ö r t e r n „degenerare" und „degener" beschrieben: Perveniunt (sc. radii lucis) ergo immisti umbris, ac proinde necesse est degenerem speciem candoris exhibeant (I 434 b 2 ) ; . . . inde fit, ut pro numero et conditione reflexionum refractionumve et quantitate umbellarum candor facile in pallorem livoremve degeneret (I 4 3 5 a 1). Aufschlußreich ist auch, daß Farbe als „non purus candor" bezeichnet wird (I 4 3 4 b 1). Nempe ex sole meridiano radii sinceri allabuntur, ex horizonte autem commisti umbellulis . . . solis speciem nonnihil obscuriorem faciunt coguntque in rubeam, flavam, lividam pallidamve degenerare (I 434 b 1). A u c h hier werden charakteristische Ausdrücke wie „obscuriorem facere" und „degenerare" verwendet. Erneut tauchen „impurus" und „degenerare" a u f : . . . lucidi c a n d o r . . . degenerat. . . etiam, cum interiiciuntur ob corpuscula non lucidas intra ipsum corpus lucidum interceptas. Nam flamma v . g. tanto minus Candida est, . . . quanto impurior est (I 4 3 4 b ) . Dazu I 435 a f. und I 434 b.
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und damit die Erzeugung von Farben hervorzurufen; aber Gassendi betrachtet sie aufgrund der Abschwächungsthese auch als hinreichend und glaubt damit der Erklärung der Farben bereits Genüge getan zu haben. Seine Explikation der Farbenhypothese (H) gipfelt also in den beiden Aussagen, daß alle selbstleuchtenden Körper, deren Lichtkorpuskeln im Medium teilweise abgelenkt werden, und alle erleuchteten Körper, deren Oberfläche so unregelmäßig ist, daß sie die einfallenden Lichtstrahlen nicht gebündelt reflektiert, farbig erscheinen (T). Weil in (T) die Ablenkung der Lichtkorpuskeln allein schon als hinreichend für die Entstehung der Farben angesehen wird, Ablenkung von Lichtkorpuskeln empirisch aber als Schattenbildung gedeutet werden kann, folgt aus (T) die traditionelle Farbentheorie, nach welcher jede Farbe als Mischung aus Licht und Schatten oder aus Weiß und Schwarz darstellbar ist 1 4 . D e m naheliegenden Einwand, daß dabei nur Grautöne entstehen können, begegnet Gassendi mit dem Hinweis, daß die Oberfläche farbiger Körper vermutlich viele Reflexionen und Brechungen hintereinander hervorruft, so daß endlich doch Farben erzeugt werden l s . Die Behauptung, daß zu jeder Farbe eine (durch eine endliche Reihe von Brechungen oder Reflexionen hervorgerufene) Mischung aus Licht und Schatten existiert, die sie erzeugt, ist jedoch logisch von derselben Struktur wie (H). Mit der vermeintlichen Angabe hinreichender Bedingungen in (T) wird schließlich die Frage nach weiteren ursächlichen Faktoren der Entstehung der Farben und damit nach den hier wirkenden Gesetzen abgeblockt. In (T) erfolgt keine Spezifikation der Abhängigkeitsbehauptung der in (H) genannten Variablen 1 6 ; (T) hat die Form ( 3 A ' ) A'(K) D (BA) A(K) und ist damit nur wenig schwächer als (H), aber ebenso unprüfbar und unanwendbar. Zu Unrecht glaubt Gassendi empirische Generalisationen zur Bestätigung angeben zu können. Ein Beispiel ist sein Hinweis auf die Tatsache, daß schwarze Körper sich unter Sonneneinstrahlung schneller 14 15
16
Vgl. I 438a—440a 1 über die Grundfarben, I 440a 2 f f . über die übrigen Farben. Ut vero etiam aliquid de coloribus caeteris dicamus, constare videtur, si fieret dumtaxat simplex quaedam lucis umbrarumque seu albedinis nigredinisque commistio, non futuros alios colores intermedios quam magis minusve album, magis minusve nigrum . . . At quia sunt praeterea alii, viridis, croceus etc., ideo adhibenda est reflexionum refractionumque varietas, qua lucem ac umbram iam commistas rursus commisceant (I 440a). Die Frage, wie Art und Zahl der Schattenmischung und entsprechend die Art und Zahl der Reflexionen und Brechungen mit bestimmten Farben zusammenhängen, wird von Gassendi sogar explizit als unbeantwortbar bezeichnet: Q u i s numerus sit quaeve temperatio umbrarum in singulis coloribus caeterisque huiusmodi, id operosius profecto est quam ut videatur humanae mentis coniectura percipi posse (I 440b 1).
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erwärmen als helle Körper 17 . Dies kann allenfalls die Behauptung stützen, daß schwarze Körper atomistisch eine unregelmäßige Oberflächenstruktur haben und daher mehr Strahlen auf diese Oberfläche selbst reflektieren; mit der Erzeugung der Farben hat das jedoch nichts zu tun. Aber auch als Forschungsprogramm schließt (T) ebenso wie (H) a priori schon die Vermutung aus, daß zusätzliche Eigenschaften oder Gesetze, die das Verhalten der Lichtkorpuskeln regeln, für die Farberzeugung verantwortlich sein können. Die Explikation von (H) besteht demnach insgesamt nicht in einer Spezifikation und Ausfüllung mittels Angabe von weiteren Gesetzen und ermöglicht deshalb auch keine empirische Prüfung; vielmehr macht Gassendi den Versuch, (H) fundamentalistisch zu sichern, indem er eine empirische Tatsache atomistisch reformuliert und sie dann zur Begründung von (H) verwendet. Die starke Fixierung auf die empirische Basis der Hypothesenbildung führt jedoch zu einer Verwechslung notwendiger und hinreichender Bedingungen und verhindert damit Ansätze zu einer genuinen Erklärung der Entstehung von Farben und zu einer Verbesserung der traditionellen Farbenlehre. Es dürfte deutlich geworden sein, daß Gassendis Vorgehen in diesem Punkt methodisch den Überlegungen einiger seiner Zeitgenossen (insbesondere von Descartes) unterlegen ist. Gassendis Hypothesen zum Magnetismus lassen sich im Gegensatz zur Farbenlehre weniger leicht vor dem Hintergrund zeitgenössischer Forschung analysieren. Denn für uns sind vornehmlich theoretische Einsichten über den Magnetismus von Interesse, während sich die Forschung bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hauptsächlich mit zahlreichen empirischen Generalisationen beschäftigt zu haben scheint, zweifellos nicht zuletzt unter dem Einfluß praktischer Probleme, die insbesondere bei der Navigation auf hoher See entstanden waren 18 . Das Phänomen des Magne-
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I 439 b 2 f. Bekannt geworden sind Columbus' Klagen und verzweifelte Erklärungsversuche zur Deklination der Magnetnadel. Auf seiner zweiten Amerikafahrt führte er daher verschiedene Kompasse aus Genua und Flandern mit, die unterschiedliche Deklinationen zeigten. Über die Geschichte der Hypothesen zum Magnetismus und ihren Zusammenhang mit praktischen Problemen in der Seefahrt informiert umfassend H . Balmer, Beiträge zur Geschichte des Erdmagnetismus, Aarau 1956, wo weitere Literatur angegeben und Ubersetzungen wichtiger Primärtexte (ζ. B. von Peregrinus und Gilbert) präsentiert werden. Einen Uberblick über alle wichtigen Primärtexte bietet auch P. Fleury Mottelay, Bibliographical History of Electricity and Magnetism, London 1922 (ebenfalls mit auszugsweisen Übersetzungen). Vgl. ferner E. Whittaker, A History of the Theories of Aether and Electricity, New York 1973 (1. Aufl. 1910), Bd. I Kap. 2, und F. Rosenberger,
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tismus, die Tatsache also, daß es spezielle metallische Steine gibt, die Eisen anziehen, war selbstverständlich seit dem frühen Altertum bekannt. Es gab auch teils animistische, teils materialistische Erklärungsversuche, von denen die der Epikureer für Gassendi am wichtigsten waren 1 9 . Epikur selbst scheint behauptet zu haben, daß die von Magnet und Eisen ausgehenden Atome einander ähnlich sind. Wenn daher Magnet und Eisen sich nahekommen, verhaken die von ihnen ausfließenden Atome sich ineinander, so daß sie beim Zurückprallen ihre Ursprungskörper mitreißen, also Eisen und Magnet sich aufeinander zu bewegen 20 . Diese Erklärungsskizze soll offenbar mit Hilfe des Ähnlichkeitspostulates nicht nur erklären, warum Magneten Eisen anziehen, sondern zugleich auch, warum Magneten nur Eisen anziehen. Die Darstellung bei Lukrez dagegen läßt in Gestalt mehrerer verschiedener Ansätze, die er freilich zusammenfaßt, die Diskussion unter den Epikureern erkennen. Diese Darstellung ist in drei Teile gegliedert. Zunächst werden die drei Prämissen eingeführt, daß alle Körper ständig Teilchen aussenden, daß diese Teilchen verschieden und von unterschiedlicher Wirkung sind, und daß verschiedene Körper unterschiedliche Poren haben. Dann wird erklärt, auf welche Weise Magneten Eisen anziehen: Die Magnetteilchen vertreiben die Luftteilchen zwischen Magnet und Eisen; die Eisenteilchen stürzen in den entstehenden leeren Raum und reißen, da sie mit ihrem Ursprungskörper stark verhakt bleiben, diesen mit sich; die verdrängte Luft übt von hinten her D r u c k aus. In der Lukrezischen Version wird also auf das epikureische Ähnlichkeitspostulat verzichtet; darum muß nun drittens begründet werden, warum Magneten nur Eisen anziehen. Lukrez weist darauf hin, daß nur Eisen eine Porenart und ein Gewicht hat, das die genannten Effekte ermöglicht — eine verschlüsselte Existenzbehauptung, die offenbar
Die Geschichte der Physik, Hildesheim 1965 (1. Aufl. 1882), Bd. II unter Stichwort „Magnetismus" im Index, der vor allem über das 17. Jahrhundert übersichtlich informiert. 19
Ein bekanntes literarisches Zeugnis für die Beschäftigung mit dem Magnetismus im klassischen Griechenland ist Piatons früher Dialog „ I o n " . Speziell zur Magnetismus-Forschung in der Antike vgl. A. v. Urbanitzky, Electricität und Magnetismus im Altertum, Wiesbaden 1967 (1. Aufl. 1887); R. A . Fritzsche, Der Magnet und die Atmung in antiken Theorien, in: Rheinisches Museum 57, 1902, S. 363 ff.
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So verstehe ich das Zeugnis von Galen (frg. 293 U s . ) : Ε π ί κ ο υ ρ ο ς μεν otiv . . . όμολογεί προς μεν της ' Ηρακλείας λίθον τον σίδηρον έλκεσθαι . . . και πειράται γε και την αίτίαν άποδιδόναι τοϋ φαινομένου - τάς γαρ άπορρεούσας άτόμους από των λίθων ταίς άπορρεοΰσαις άπο τοϋ σιδήρου τοις σχήμασιν οίκείαις είναι ψησιν, ώστε περιπλέκεσθαι φςώίως· προσκρουούσας ούν αύτάς τοίς συγκρίμασιν έκατέροις, τοις τε της λίθου και (τοίς) τοϋ σιδήρου, κάπειτ' εις το μέσον άποπαλλομένας οΰτως άλλήλοις τε περιΛλέκεσθαι καΐ συνεπισπάσθαι τον σίδηρον.
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ein Relikt der alten epikureischen Auffassung ist, daß die Magnetteilchen selber zur Anziehung aktiv beitragen 21 . Der Fortschritt, der zwischen 1200 und 1600 erzielt wurde, bestand hauptsächlich in wichtigen empirischen Entdeckungen. So stellte zu Beginn dieser Periode einer der wichtigsten Pioniere auf dem Gebiet der Magnetismusforschung, Petrus Peregrinus, fest, daß jeder Magnet zwei Pole hat, daß bei Teilung eines Magneten zwei neue mit je zwei Polen entstehen, daß gleiche Pole sich abstoßen, ungleiche sich anziehen, daß Magneten Eisenstücken auch über eine Entfernung hinweg magnetische Kraft vermitteln und daß die Magneten nicht von Erzgruben oder vom Polarstern gerichtet werden, sondern von Himmelspolen. Noch William Gilbert, im 17. Jahrhundert als führender Kopf in der Erforschung des Magnetismus angesehen, greift auf Peregrinus zurück. Seine bemerkenswerte Ansicht, daß die Erde selbst als großer Magnet anzusehen sei und daher eigene magnetische Pole habe, ist zwar eine theoretische Hypothese, sagt jedoch nichts über den Mechanismus der magnetischen Anziehung und Abstoßung aus 22 . Magnetische Kraft bleibt auch für Gilbert noch eine innere Energie (interna vigor), also etwas, das die Mechanisten im 17. Jahrhundert „okkulte Qualität" nannten 23 . Selbst als nach dreißigjähriger Pause zwischen 1630 und 1640 die Untersuchungen zum Magnetismus wieder aufgenommen werden, läßt sich kein theoretischer Fortschritt erkennen. Weiterhin beschäftigt man sich mit empirischen Phänomenen, etwa Kircher mit der Messung der magnetischen Kraft durch Wiegen von Magneten 24 , Gelibrand mit der Untersuchung der Veränderlichkeit der magnetischen Abweichung an einem und demselben Ort, und auch Cabeo läßt neue theoretische Impulse nicht erkennen 25 . Diese Situa-
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23 24
25
Vgl. Lukr. Rer. Nat. VI 9 0 6 - 1 0 8 9 mit den drei Teilen 9 0 6 - 1 0 0 1 / 1 0 0 2 - 1 0 5 5 / 1 0 5 6 - 1 0 8 9 . Vgl. Petrus Peregrinus, D e magnete seu rote perpetui motus libellus, 1269 (Ausg. v. Gasser, Augsburg 1558); William Gilbert, De magnete magneticisque corporibus et de magno magnete tellure physiologia nova, London 1600. Zum Einfluß von Gilbert auf seine Zeitgenossen vgl. J. Falseneer, Gilbert, Bacon, Galilee, Kepler, Harvey et Descartes: Leur relations, in: Isis 17, 1932, S. 1 7 1 - 2 0 8 . Vgl. Gassendis Kritik an Gilbert in II 129 b 2. Dazu R. Palter, Early Measurements of Magnetic Force, in: Isis 63, 1972, S. 544—558. Palter beschäftigt sich allerdings hauptsächlich mit Hooke. Vgl. Athanasius Kircher, Magnes sive de arte magnetica tripartitum, R o m 1634; Niccolo Cabeo, Philosophie magnetica, Ferrera 1639; Henry Gellibrand, A discourse mathematical on the variation of the magnetic needle, London 1635. Zu Cabeo bemerkt Rosenberger (Geschichte der Physik, a. a. Ο . Bd. II S. 92) sehr treffend, er habe „den allgemeinen Standpunkt noch nicht gefunden; ein Zeichen, daß auch die bloße Experimentirkunst allein wenig geeignet ist, einen wirklichen Fortschritt zu machen".
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tion hat sich übrigens auch nach 1650 nicht wesentlich geändert: während die empirische Erforschung magnetischer Phänomene weiterging und sogar intensiviert wurde, blieb das theoretische Interesse merkwürdig schwach. Die genannten Autoren vertraten allerdings nicht explizit einen mechanistischen oder atomistischen Standpunkt, der zweifellos wie auf so vielen anderen Gebieten der Physik im Prinzip auch hier die Möglichkeit bot, einen neuen Erklärungsanlauf zu unternehmen. Es ist nun zu prüfen, wie Gassendi diese Möglichkeit zu nutzen versuchte. Im ersten De Motu-Brief kommt Gassendi zum erstenmal ausführlicher auf den Magnetismus zu sprechen 26 , um seine atomistische Gravitationstheorie zu erläutern. Er konzentriert sich hier ganz auf die beiden aus der Antike überlieferten Fragen, warum (und auf welche Weise) Magneten Eisen anziehen und warum nur Eisen von Magneten angezogen wird und selber magnetisch gemacht werden kann. Weitere zu seiner Zeit bekannte empirische Gesetze über das Verhalten von Magneten werden an dieser Stelle nicht in die Betrachtung einbezogen. Die erste Frage scheint nach Gassendis Darstellung vom atomistischen Standpunkt aus leicht zu beantworten zu sein: Magneten ziehen Eisen an, weil sie Atome aussenden, die die Anziehung hervorrufen 27 . Durch die anschließende ausführliche Ausräumung des Einwandes, daß derartige Teilchen nicht beobachtbar seien, scheint die Plausibilität der Antwort noch erhöht. Aber Gassendi erkennt natürlich selbst, daß diese Antwort zunächst nichts weiter ist als die Spezialisierung der mechanistisch-atomistischen Grundhypothese über Anziehung von Körpern überhaupt auf den Fall von Magnet und Eisen. Diese Grundhypothese schließt einerseits Fernwirkungen zwischen Körpern aus, enthält andererseits aber noch Existenzpostulate über Teilchen und ihre Eigenschaften, die die Anziehung bewirken sollen 28 . Im weiteren Verlauf der Diskussion wird nun die Grundhypothese in zwei Punkten verändert bzw. ergänzt: erstens, die Existenzpostulate über Teilchen und Eigenschaften scheinen nur notwendige Bedingungen für die Anziehung zu sein; zweitens, das Existenzpostulat über 26 27
28
Gass. III 492 a ff. Vgl. etwa III 492a 2 : Et fas loco magnetis emissionem fieri ex ferro, fac ex utroque, perinde erit; satis est fieri aliquod effluvium, quod sit intra sensum et quo intercedente unum corpus pelliciatur ad aliud. Derartige Formulierungen konnten und können Leser leicht zu der Oberzeugung bringen, daß das Problem damit im wesentlichen geklärt ist. Gassendi formuliert diese Hypothese noch einmal im Anschluß an den in Anm. 27 zitierten Satz: Q u i d ni vero necesse sit aliquid intercedere, cum nulla actio physica sit sine agente physico neque physicum ullum agens, nisi instrumento intercedente agere possit in rem distantem? Vgl. ebenso III 492b 2.
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die E i g e n s c h a f t e n der T e i l c h e n w i r d ersetzt d u r c h ein etwas präziseres Existenzpostulat
mit dem
Inhalt,
daß
bei zwei
einander
anziehenden
K ö r p e r n die Strukturen der A t o m e des einen u n d der P o r e n des anderen einander ähnlich sein m ü s s e n 2 9 . W e n n nun ferner postuliert wird, daß dies gerade a u c h für M a g n e t e n u n d Eisenstücke zutrifft, so scheint damit eine etwas
genauere
Erklärungsskizze vorzuliegen30.
Eine logische
Analyse
zeigt freilich, daß das nicht der Fall i s t ; das E x p l a n a n d u m — der Satz, daß M a g n e t e n Eisen anziehen — kann i m m e r n o c h nicht hergeleitet w e r d e n , weil die E x i s t e n z p o s t u l a t e n u r notwendige Bedingungen s i n d 3 1 . Z u r E r klärung des z w e i t e n E x p l a n a n d u m lassen sich dieselben Sätze benutzen u n d z u s ä t z l i c h die A n n a h m e , daß n u r für Eisen und M a g n e t e n die geforderte S t r u k t u r e n t s p r e c h u n g g i l t 3 2 . A b e r selbst w e n n der Gassendische T e x t so interpretiert werden kann, d a ß f o r m a l eine H e r l e i t u n g d e r E x p l a n a n d a vorliegt, so bleibt, wie längst
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32
Die erste Veränderung geht klar aus der „nisi"-Konstruktion des folgenden Satzes hervor: Utcumque sit sane, ipse non percipio, quomodo, quicquid per sympathiam aut antipathiam perhibetur agere, agat reipsa, nisi immittendo in eam rem, quam allicit, abigit aut quomodocumque movet, tenuissima organula, quibus illam excitet et ad motum compellat (III 492b 2). Im folgenden Satz wird die zweite Veränderung angegeben: Id solum notandum, non excitari aut moveri rem ab hisce organulis, nisi eae particulae, quibus illa excipit, analogiam quandam seu proportionem cum ipsis habeant . . . (III 492 b 2 f.). Dieses Postulat findet sich in folgendem Satz: Atque ex hac quidem causa esse potest, cur prae caeteris ipsa magnetis organula reperire particulas analogicas debeant, ut vim in illas exprimant suam. Nimirum paleam, papyrum, lignum, lapidem . . . praetereunt, solummodoque sive ferrum sive magnetem alium afficere deprehenduntur (III 493a 1). Der zweite Satz stellt gleichzeitig das zweite Explanandum dar. Mit den Abkürzungen: A(x, y) : = χ zieht y an; M(x) : = χ ist ein Magnet; E(x) : = χ ist ein Stück Eisen; Em(x, y, ζ) : = χ emittiert y nach z; S ~ S' : = S entspricht (ist ähnlich mit) S'; können Gassendis Annahmen folgendermaßen formuliert werden: Explanandum 1: (x) (y) (M(x) Λ E(y) D A(x, y)) Grundhypothese: (x) (y) (A(x, y) ξ ( 3 Z[) Em(x, z;, y) Λ ( 3 Pj) (Pj(z,)) D A(z„y)) Erweiterungshypothese: (x) (y) (A(x, y) D ( 3 z.) Em(x, z„ y) Λ ( 3 S) ( 3 S') (S(y) Λ S'(z ; ) A S ~ S') Spezialisierte Hypothese: Nachsatz wie Erweiterungshypothese, jedoch mit Vordersatz: (x) (y) (M(x) Λ E(y) . . . Mit den letzten drei Hypothesen läßt sich das Explanandum offenbar nicht herleiten. Nur wenn man „nisi" in dem oben Anm. 29 zitierten Satz nicht so scharf interpretiert, sondern diesen Satz nur als Erläuterung der Grundhypothese ansieht, also wie (x) (y) ( ( 3 Zi) Em(x, z,, y) Λ ( 3 Pj) (Ρ;(ζ;) D A( Z i , y)) ξ ( 3 Zi ) Em(x, Zi , y) A ( 3 S) ( 3 S') (S(y) Λ S'(z;) Λ S ~ S')), läßt sich Explanandum 1 logisch herleiten. Das gilt auch für das zweite Explanandum, also für den Satz ( x ) ( y ) ( A ( x , y ) 3 (M(x) D E(y))). Zum Beleg vgl. oben Anm. 30.
Methodologische Abweichungen
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klar sein dürfte, dieser Erklärungsversuch dennoch ungenügend. Denn nicht nur sind die benutzten Existenzbehauptungen nicht widerlegbar, die Erklärungsskizze ist auch zirkelhaft; die Wahrheit der auf den Fall von Magnet und Eisen spezialisierten Hypothesen läßt sich ja nur aufgrund der Wahrheit der Explananda erweisen — die Strukturähnlichkeit zwischen Magneten und Eisen wird ζ. B. erst aufgrund der Tatsache behauptet, daß beide sich anziehen —, die Explananda sind also nicht unabhängig prognostizierbar. Behauptungen dieser Art sind nur dann sinnvoll, wenn zumindest theoretische oder andere Gründe dafür angegeben werden können, daß sie sich einmal in prüfbare theoretische Hypothesen werden umwandeln lassen; im Falle des Magnetismus wäre es nicht einmal abwegig gewesen, eine solche Umwandlung, also eine Ersetzung der Existenzsätze durch theoretische Allsätze auf mechanischer Grundlage, zu versuchen. Gassendis Argumentation läßt sich entnehmen, daß er sich darüber im klaren war, daß seine Erklärungsskizze ergänzungsbedürftig ist. Aber es ist nun methodologisch aufschlußreich zu sehen, wie er diese Situation zu entschärfen versucht. Zunächst erklärt er unmißverständlich, daß die Beantwortung detaillierter Fragen nach der Gestalt der Magnetteilchen und dem Mechanismus der durch sie bewirkten Anziehung das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigt; und wenn zugleich behauptet wird, daß hier nur noch Vermutungen angegeben werden können, so ist unmittelbar klar, daß Gassendi in diesem Kontext Vermutungen von (prüfbaren) Hypothesen unterscheidet 33 . Damit verschafft er sich die Freiheit, unter Heranziehung empirischer Tatsachen Vermutungen zu äußern, die seine Erklärungsskizze plausibel machen, ohne doch Gefahr zu laufen, sie zu gefährden. Betrachten wir zur Illustration ein Beispiel: Gassendi vergleicht die korpuskularen Magnetstrahlen hinsichtlich ihrer Festigkeit und Elastizität mit biegsamen Zweigen — hinsichtlich ihrer Festigkeit allein auch mit scharfen Wasserstrahlen — und stellt sich vor, daß derjenige Magnetstrahl,
33
Vgl. III 4 9 3 a 2 f . : Verum ubi concessum fuerit corpuscula quaedam ex magnete procedere, quae ferrum ad ipsum pelliciant, intelligine tarnen potest, aut qua forma sint, ut attractionis Organa fiant, aut quo modo quave ratione attractio per illa possit peragi? Heic sane praesertim coniectandum est, cum non modo difficile, sed impossibile etiam sit agnoscere germanum modum, quo intima rerum natura admirabiles illas suas operationes exsequitur . . . In hoc negotio cum videatur esse satis perspicuum non posse unum corpus attrahere aliquid nisi transmittatur aliquid, quo illud ad se pertrahat, ecquis est tarnen adeo solers, qui coniiciat aut explicet, cuiusmodi id sit, quod magnes quasi Organum, ut ferrum ad se accersat, transmittit? Die Tendenz zur Immunisierung der Grundhypothese gegen Kritik wird in dieser Passage gut erkennbar.
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der einen Durchmesser eines Eisenstückes trifft, direkt und geradlinig durchläuft, daß aber die übrigen seitlich auftreffenden Strahlen im dichteren Medium, welches das Eisenstück ja darstellt, jeweils zum Mittelstrahl hin gebrochen werden. So könnte nach Gassendis Meinung das Eisenstück zum Magneten hingedrückt werden, und zwar von den Magnetstrahlen selbst 34 . Damit versucht Gassendi in der Tat die Existenzbehauptungen über die Eigenschaften der Magnetteilchen zu ersetzen durch Angabe dieser Eigenschaften selbst (Festigkeit, Elastizität, Größe bezüglich der Eisensporen) und einiger Gesetze, die ihr Verhalten bestimmen sollen (Brechungsgesetze). Aber es ist wichtig festzuhalten, daß es sich nur um Analogien handelt, also um empirische Generalisationen, die in anderen Gegenstandsbereichen gelten, deren Geltung aber nun auf magnetische Phänomene übertragen wird. Da diese Analogien in ganz unverbindlicher Weise — grammatisch ζ. B. in Form von Fragesätzen — eingeführt werden, wirken sie nicht wie direkte Aussagen über magnetische Phänomene (die ja durchaus per analogiam gewonnen werden könnten), sondern wie Begründungen der Plausibilität der Grundhypothese — durch Hinweis von Möglichkeiten, die Existenzsätze zu präzisieren. Die Unverbindlichkeit dieser Vermutungen zeigt sich hier auch darin, daß der entscheidende Effekt, nämlich der Druck der Strahlen auf das Objekt, an dem sie sich brechen, durch die Analogie gerade nicht verständlicher wird; im Gegenteil, Gassendi muß die Analogie sogar in einem sehr wichtigen Punkt durchbrechen: der notwendige „Umarmungseffekt" tritt ja nur dann ein, wenn sich die Magnetstrahlen links vom Mittelstrahl nach rechts und rechts vom Mittelstrahl nach links hin brechen; dies ist jedoch unvereinbar mit den aus der Optik bekannten Brechungsgesetzen. Empirische Analogien haben sehr oft heuristischen Wert; in Gassendis Überlegungen zum Magnetismus spielen sie jedoch eine viel stärkere Rolle: sie dienen der Rechtfertigung oder Begründung von Hypothesen, 34
III 493 b 2—494 a 1. Gassendi gibt anschließend (in III 494 a 2) sogar noch ein Experiment an: eine Kugel, die entsprechend der Analogie mit Löchern durchbohrt ist, durch die dünne Seile geführt werden, die hinter ihr wieder zusammenlaufen, wird beim Anziehen der Seile nach vorn gedrückt. Aber das beweist nichts, weil die kritischen Annahmen über Stärke der Magnetstrahlen und ihre merkwürdige Brechung bereits in die Konstruktion dieses Analogie-Experimentes eingehen. Bezeichnend ist auch, daß Gassendi an anderer Stelle zu animistischen Vergleichen greift (Umarmung, Zunge eines Chamäleons, vgl. I 450a 2 f f . ) . Das bedeutet zwar nicht, daß er animistische Erklärungsversuche akzeptiert (er lehnt sie an dieser Stelle vielmehr explizit ab), aber zeigt doch seine Resignation in bezug auf mechanistische Erklärungsmöglichkeiten.
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die dazu noch aufgrund ihrer logischen Form unwiderlegbar sind. Die Unverbindlichkeit ihrer Einführung blockt andererseits kritische Fragen nach theoretischer Einbettung (warum haben die Magnetteilchen diese Eigenschaften?) und nach Erklärungsfruchtbarkeit (welche empirischen Phänomene lassen sich mittels dieser theoretischen Annahmen erklären?) ab 3 5 . Empirische Aussagen werden in diesem Zusammenhang nicht zur Prüfung, sondern zur Immunisierung theoretischer Hypothesen ausgenutzt, und Gassendis Hinweis auf die condition humaine, auf die Endlichkeit menschlichen Erkenntnisvermögens, spielt dabei eine verhängnisvolle Rolle, denn auch er verhindert hier die Präzisierung der Analogien und den Übergang zu direkten Aussagen. Die vorstehende kritische Analyse der Gassendischen Magnetismustheorie könnte dem Einwand ausgesetzt werden, daß in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch alle Grundlagen für eine gute Hypothese fehlten und daher kaum etwas anderes als unverbindliche Vermutungen möglich und sinnvoll waren. Dies ist sicher insofern richtig, als zu dieser Zeit keineswegs die Etablierung der „richtigen" Magnetismustheorie (etwa Faradayscher Prägung) erwartet werden konnte; aber unsere Kritik war auch nicht sachlich, sondern methodisch motiviert. Nicht der Wahrheitsgehalt, sondern Prüfbarkeit und Verbesserungsfähigkeit der Vermutungen Gassendis stand zur Diskussion; und daß in bezug auf diese Gesichtspunkte mit einiger Anstrengung auch vor 1650 Besseres geleistet werden konnte, zeigt das Beispiel von Descartes. Seine Magnetismustheorie, der er im vierten Teil seiner Principia Philosophiae nicht weniger als 50 Paragraphen widmet, ist ein eindrucksvoller Erklärungsversuch, der sich zwar auch als falsch erwiesen hat, dennoch aber methodisch einige Schwächen der Gassendischen Überlegungen vermeidet 36 . Eine ausführliche Analyse 35
36
Viel ausführlicher als im ersten D e Motu-Brief beschäftigt sich Gassendi im Syntagma Philosophicum mit dem Magnetismus (vgl. Gass. II 122 a 2—135 b 1). Die Hälfte dieses Textes (bis 127b 2) ist jedoch einer rein historischen Darstellung gewidmet; die andere Hälfte zählt neuere empirische Entdeckungen (seit Gilbert) auf, insgesamt sechzehn. Gassendi macht dabei auch zuweilen Erklärungsversuche; bezeichnend ist aber, daß sie nicht systematisch von seiner atomistischen Grundhypothese aus unternommen werden. Diese wird vielmehr als eine unter den 16 Entdeckungen diskutiert (unter N r . 7), hier jedoch wiederum nicht mit den übrigen empirischen Entdeckungen in Zusammenhang gebracht. Gassendi beschränkt sich an dieser Stelle darauf, die Existenz materieller Magnetteilchen plausibel zu machen, was seiner Argumentation in III 492 a entspricht. Auch hier sind seine Annahmen also weder direkt, noch theoretisch eingebettet, noch auf Erklärungsfruchtbarkeit angelegt. Vgl. Principia Philosophiae IV, §§ 1 3 3 - 1 8 3 (Descartes CEuvres a. a. Ο . VIII, 1, S. 2 7 5 - 3 1 1 ) .
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der cartesischen Hypothesen würde in diesem Rahmen zu weit führen; aber einige Bemerkungen zur Begründung ihrer methodologischen Beurteilung sind vielleicht angebracht. Wie Gassendi stand auch Descartes vor der Aufgabe, die magnetischen Phänomene auf mechanistischer Grundlage verständlich zu machen; aber im Gegensatz zu Gassendi läßt er es keineswegs bei einem Rechtfertigungsversuch der mechanistischen Existenzpostulate mit Hilfe empirischer Analogien bewenden, sondern versucht direkte Angaben über Eigenschaften und Gesetze der Magneten und ihrer Teilchen zu machen, die die Phänomene hervorrufen können. Bemerkenswert ist nun zunächst, daß er sich nicht darauf beschränkt, von mechanistischen Grundsätzen aus die beiden Fragen zu klären, warum Magneten Eisen und nur Eisen anziehen, sondern den Versuch macht, nicht weniger als 34 empirische Generalisationen über Magneten auf diese Weise verständlich zu machen, unter denen freilich auch die beiden genannten Probleme sich befinden 37 . Das heißt, Descartes versucht anders als Gassendi für seine mechanistischen Fundamentalhypothesen eine hohe Erklärungsfruchtbarkeit nachzuweisen. Weil er ferner nicht nur Analogien, sondern direkte Beschreibungen der Eigenschaften und Gesetze des Magneten angibt, entsteht die Aufgabe, diese Beschreibungen ihrerseits zu begründen, was ja nicht anders geschehen kann, als daß sie von noch allgemeineren und tieferen Hypothesen hergeleitet werden. Auch dieser Aufgabe stellt sich Descartes, und seine Lösung besteht keineswegs in ad hoc-Annahmen, sondern er ist in der Lage, auf frühere Abschnitte der Principia zurückzugreifen, die nicht speziell zur Erklärung magnetischer Phänomene entwickelt wurden, so daß eine bemerkenswert abgeschlossene theoretische Einbettung erzielt wird 38 . 37
38
Der Katalog dieser 34 Explananda findet sich in § 145 des oben Anm. 36 genannten Abschnittes. Grundlage der Erklärung ist die plenistische Wirbeltheorie. Das sog. zweite Element der Materie besteht aus ursprünglich eckigen, den gesamten Raum ausfüllenden Teilchen, die sich aufgrund der Wirbelbewegung jedoch gegeneinander abschleifen und Kugelgestalt annehmen. Aus den Bruchstücken bildet sich die feinere erste Materie. Größere dieser Bruchstücke befinden sich vor allem in derjenigen ersten Materie, die sich von den Polen nach der Himmelsmitte hin bewegen. Dabei vereinigen sie sich zu größeren Teilchen, die eine längliche Form mit dreieckiger Grundfläche annehmen und auf der Oberfläche drei spiralförmig gewundene Rinnen erhalten, weil sie sich stets durch den Zwischenraum zwischen je drei Kügelchen des zweiten Elements hindurchbewegen müsen. Weil nun die vom Südpol kommenden Teilchen aus der entgegengesetzten Richtung kommen wie die Nordpol-Teilchen, haben beide entgegengesetzt gerichtete Spiralrinnen. — Diese schon in Princ. Phil. III 87 ff. entwickelten Hypothesen werden dann für die Magnetismustheorie ausgenutzt, ζ. B. unter Benutzung von III 105 in IV 134—135 zur Erklärung der Tatsache, daß nur Eisen angezogen wird, in IV 153 zur Erklärung, warum zwei Magneten
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Vermutlich würde eine genauere Analyse dieser von einzelnen Hinweisen und Erklärungsansätzen strotzenden Argumentation auch Mängel sichtbar werden lassen, vereinzelte ad hoc-Annahmen etwa, fehlende Gesetzesangaben oder gar Inkonsistenzen; aber insgesamt ist deutlich, daß Descartes den ernsthaften Versuch unternimmt, erstens direkte theoretische Hypothesen zur mechanistischen Funktionsweise des Magnetismus zu formulieren, sie zweitens theoretisch einzubetten und drittens als erklärungsfruchtbar zu erweisen — daß Descartes also genau das versucht, was man bei Gassendi vermißt. Und es ist vermutlich kein Zufall, daß, wie die Wissenschaftshistoriker festgestellt haben, die Magnetismustheorie eine der am längsten anerkannten Hypothesen der cartesischen Physik gewesen ist, während die Vermutungen Gassendis keinerlei wissenschaftshistorische Wirkung gehabt haben dürften. Im Gegensatz zu Farbenlehre und Magnetismustheorie haben die im 17. Jahrhundert entwickelten Annahmen zur Pendelbewegung keine antiken Vorläufer 3 9 . Denn sie setzen die Gleichförmigkeit und Kontinuität der Pendelschwingungen voraus; nach der aristotelischen Physik würden Pendelschwingungen als sublunare Phänomene ungleichförmig und als aus gegensätzlichen Bewegungsarten zusammengesetzte Bewegungen diskret sein müssen 4 0 . Selbst wenn man sich also in der Antike mit Pendelschwin-
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in gleich gerichteter Stellung sich anziehen, und in IV 17t schließlich zur Erklärung, warum Magneten Eisen anziehen. Aber, soweit ich sehe, werden auch alle anderen Explananda aus dem Katalog in § 145 durchgenommen, der vermutlich die beste Zusammenfassung des damaligen empirischen Wissens über den Magnetismus darstellt. Soweit heute bekannt ist, hat sich vor Buridan und Oresme im 14. Jahrhundert niemand um die mit der Pendelbewegung zusammenhängenden Phänomene gekümmert. Vgl. dazu P. E. Ariotti, Aspects of the Development of the Pendulum in the 17th Century, in: Archive for History of Exact Sciences 8, 1971/72, S. 329—410. Ariotti bietet eine ausführliche Ubersicht und einzelne Analysen vor allem zur Argumentation Galileis und Huygens' und beschäftigt sich im ersten Teil seiner Arbeit hauptsächlich mit der Entstehung und Begründung der Hypothesen über isochrone Pendelschwingungen. Zum Stellenwert der Pendelversuche für die quantitative experimentelle Uberprüfung des Fallgesetzes vgl. H. Schimank, Pendelversuche und Fallversuche in Bologna, in: Sonne steh still. 400 Jahre Galileo Galilei, ed. E. Brüche, Mosbach 1964, S. 82-97. Die Pendelschwingung besteht in aristotelischer Terminologie zur Hälfte aus natürlicher und zur anderen Hälfte aus gewaltsamer Bewegung. Es gilt jedoch, daß der Ubergang zwischen gegensätzlichen Zuständen nicht kontinuierlich ist, daß also insbesondere der Ubergang zwischen gegensätzlichen Bewegungen die Einschaltung eines Ruhemomentes erfordert, weil sonst ein Gegenstand zugleich entgegengesetzte Zustände annehmen könnte (vgl. ζ. B. Aristot. Phys. VIII, 7, 261 bf., besonders den Satz: ώστ' εί άδύνατον αμα μεταβάλλειν τάς άντικειμένας, ούκ εσχαι συνεχής ή μεταβολή, άλλα μεταξύ εσται αίιτών χρόνος, 261b 5—7). Dies wird sogar insofern spezialisiert, als daß zwar in einem Kreis, nicht aber in einem Halbkreis kontinuierliche Bewegung möglich ist (ώστ , οϋδ' έν τω ήμικυκλίω ούδ' έν άλλη περιφερείς οϋδεμοα ένδέχεται συνεχώς κινεΐσθαι;
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gungen befaßt hätte, würden die Grundsätze der aristotelischen Physik die Etablierung von Gesetzmäßigkeiten von vornherein ausgeschlossen haben. Erst nachdem nicht zuletzt unter dem Einfluß der Impetuslehre die aristotelische Unterscheidung zwischen gewaltsamer und natürlicher Bewegung fragwürdig geworden ist, kann Benedetti Ende des 16. Jahrhunderts mit Hilfe einer einfachen geometrischen Konstruktion zeigen, daß die Bewegung auf einer begrenzten Strecke zwischen den Endpunkten kontinuierlich ist 41 . Auch Galilei hat kurz darauf in seiner Jugendschrift De Motu die Auffassung vertreten, daß zwischen Bewegungen, die Aristoteles „gegensätzlich" nennt, ein kontinuierlicher Ubergang stattfindet, und verteidigte sie in allen späteren Schriften 42 . Bereits 1602 beschäftigt er sich auch mit Pendelschwingungen und findet bis 1638 die wichtigsten Gesetze: daß Pendelschwingungen bei gleicher Pendellänge isochron sind, daß sich die Schwingungszeiten verhalten wie die Quadratwurzeln der Pendellängen, daß die Periode unabhängig vom Gewicht des Pendels (und damit von der Amplitude der Schwingung) ist, daß der Fall längs eines Viertelkreises bis zum tiefsten Punkt schneller ist als der Fall längs beliebiger Sehnen in diesem Kreissegment, die durch den tiefsten Punkt gehen, und schließlich den zur Begründung der Isochroniehypothese wichtigen Satz, daß der Fall längs beliebiger Sehnen eines Kreises durch seinen tiefsten Punkt stets dieselbe Zeit erfordert 43 .
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πολλάκις γαρ άναγκη ταϋτα κινεϊσθαι και τάς εναντίας μεταβάλλειν μεταβολάς, ibid. 8, 264 b24—27). Lateinische Formel: in puncto regressus mediat quies (so ζ. B. der Aristoteliker Simplicio in Galileis Dialogo, Opere a. a. Ο. VII S. 300). Vgl. Giovanni Batista Benedetti, Diversarum speculationum mathematicarum et physica-
sich von einem Beobachtungspunkt Β aus, der in derselben Ebene liegt wie ein Kreis ADEC, die Bewegung eines Punktes Α auf dem Kreis auf eine Sehne CD des Kreises projizieren und erscheint dann als Hin- und Herbewegung zwischen C und D. An Stellen vgl. Opere a. a. Ο. I S. 323-326 (De Motu von 1592), VII S. 175 , 260 - 263, 144 (Dialogo von 1632); dazu Ariotti a. a. O. S. 344-350. Vgl. Galileis Brief an Guidobaldo del Monte in Padua vom 29. 11. 1602 (Opere a. a. O. X, S. 97—100), wo Galilei die Isochronie gleich langer Pendel zu begründen versucht. Später vgl. zum Längengesetz ibid. VII S. 475 (Dialogo, Proportionalität zunächst von
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Diese Ergebnisse blieben zunächst nicht unbestritten. Riccioli verglich die Periodizität der Pendelschwingungen mit dem durch Himmelsbewegungen gesetzten Zeitmaß und fand, daß sie nicht exakt, sondern nur angenähert isochron sind. Schwerwiegende Einwände gegen die Unabhängigkeit der Schwingungsdauer von der Amplitude erhob Descartes, und auch Mersenne zeigte sich nicht völlig überzeugt 44 . Aber um die Mitte des 17. Jahrhunderts, als Christian Huygens sich für Pendelschwingungen zu interessieren beginnt, scheinen Galileis Annahmen Anerkennung gefunden zu haben, auch wenn sie immer noch nicht als hinreichend begründet angesehen werden konnten 45 . Gassendi teilt jedoch diese Bedenken nicht, soweit er sie überhaupt gekannt hat. Bereits in den vierziger Jahren verteidigt er Galilei uneingeschränkt, und das ändert sich bis zum Syntagma Philosophicum nicht mehr 46 . Andererseits ist er nicht in der Lage, neue Gesetzmäßigkeiten zu finden, sondern beschränkt sich darauf, die bekannten zu wiederholen und experimentell zu überprüfen; und doch enthält seine Argumentation einige zusätzliche Hinweise. Die aufgeführten Gesetze sind ja sämtlich empirische Generalisationen: Pendellänge, Schwingungsdauer, Amplitude, Pendelgewicht sind empirisch beobachtbare Größen. Gassendi unternimmt nun den Versuch, einige dieser Gesetze physikalisch zu erklären,
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Länge und Zeit), VII S. 149f. (Discorsi, Proportionalität genauer von Längen und Quadratwurzeln der Zeiten); zur Isochrome und Unabhängigkeit von der Amplitude ibid. VIII S. 128-130, zum Sehnen- und Kreisfallgesetz VIII S. 261. Vgl. dazu R. Naylor: Galileo's simple pendulum, in: Physis 16, 1974; St. Drake: New light on a Galilean claim about pendulums, in: Isis 66, 1975. Ob Galilei in allen Fällen Originalität beanspruchen kann, ist nicht immer eindeutig. So scheint Leonardo da Vinci das Kreisfallgesetz gekannt zu haben (vgl. dazu L. Reti, Die wiedergefundenen Leonardo-Manuskripte der Biblioteca Nacional in Madrid, in: Technikgeschichte 34, 1967, S. 193—209); das Längengesetz findet sich schon 1635 bei Mersenne ohne Beweis in De la nature des sons, des mouvements et leur proprietes und 1638 in Balianis De Motu Naturali Gravium Solidorum (bei Galilei zum erstenmal veröffentlicht in den Discorsi von 1638). Auch Beeckman behandelt bereits 1618 die Isochronie, behauptet aber, sie gelte genaugenommen nur im Vakuum (vgl. Journal a. a. Ο. I, S. 260). Vgl. Ricciolis Almagestum Novum (1651) II, Kap. XX Prop. 1; die Experimente fanden 1642 statt (dazu Koyre, Metaphysics and Measurement a. a. Ο. S. 103). Zu Descartes vgl. seine Briefe an Mersenne vom 8. 10., 13. 11. und 18. 12. 1629 (CEuvres a. a. Ο. I, S. 73f., 96), zu Mersenne seine Bemerkungen in der Harmonie Universelle pars I prop. XIX, XX, pars III prop. XVIII. Ariotti (a. a. O.) weist nach, welche Schwierigkeiten Galilei insbesondere mit der Begründung des Isochroniesatzes hatte, und äußert die Vermutung, daß er hauptsächlich aus Simplizitätsgründen akzeptiert wurde (S. 363 f.). Vgl. in den De Motu-Briefen III 495b, in den Briefen De Proportione III 570af., 574bf. Im Syntagma Philosophicum handelt das 5. Kapitel des 5. Buches des ersten PhysikAbschnittes De Motu Reflexo deque Pendulorum Vibrationibus (I 357b 2 - 3 6 2 a 2).
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d. h. theoretisch weiter einzubetten, und diese Erklärungsansätze sind es, die im folgenden kurz untersucht werden sollen. Das erste Problem, das Gassendi sich vorlegt, scheint trivial zu sein: es ist die Frage, warum überhaupt das Pendel nach seiner Anhebung zu schwingen beginnt. Die naheliegende Antwort, daß nach Anhebung des Pendels die Gravitation zu wirken beginnt, wird natürlich auch von Gassendi gegeben, ist aber unvollständig. Tatsächlich weist Gassendi richtig auf das Kräftegleichgewicht hin, dem ein Pendel in Ruhestellung unterliegt: Gravitation und die durch den Faden vermittelte entgegengesetzt gerichtete Kraft sind gleich groß. Aber dieser Hinweis wird im folgenden nicht ausgenutzt. Denn Gassendi bemerkt nur, daß das Pendel nach der Anhebung „frei wird für (die Einwirkung der) Gravitationskräfte" und sich daher nach unten bewegt 47 . Diese Antwort ist sogar mißverständlich, weil sich die auf das Pendel wirkende Gravitation nicht ändert, so daß offen bleibt, welche zusätzliche Kraft das Pendel in Bewegung setzt. Gassendis Hinweise sind nichts anderes als ein Apell an alltägliche Erfahrung: jedermann weiß, daß hochgehobene Gegenstände „frei werden für die Gravitation" und nach unten fallen, und daß Gegenstände unter entgegengesetzten gleich großen Kräften (ζ. B. unter Muskelkräften) in Ruhe bleiben. Seinen eigenen Überlegungen in den De Motu-Briefen hätte Gassendi jedoch den theoretischen Satz entnehmen können, daß allgemeiner der Bewegungszustand von Körpern unter gleich großen entgegengesetzt gerichteten Kräften unverändert bleibt, m. a. W. daß jede Änderung des Bewegungszustandes die Einwirkung einer neuen Kraft erfordert. Hätte sich Gassendi hier also vom Eindruck unmittelbarer Erfahrung befreit, so hätte er die ihm bekannten theoretischen Gesetze explizit formulieren können und sich dann die Frage stellen müssen, welche zusätzlichen Kräfte neben der Gravitation bei der Pendelschwingung im Spiele sind. Erst die Beantwortung dieser Frage schließlich gestattet die Lösung eines weiteren Problems, das in der Gassendischen Fragestellung mitschwingt, nämlich des Problems der sehr langen, ohne Reibungswiderstände sogar unendlich langen Dauer der Pendelschwingung48. Auch hier konnten end47
48
Formulierung des Problems in I 3 5 9 a l . Dann der Satz über das Gleichgewicht der Kräfte: Sed nimirum causa videtur, quia globus in perpendiculo constitutus veluti libratur inter duas oppositas vires, attractionem terrae et retentricem chordae, adeo ut axe gravitatis coeunte cum ductu chordae, attractio et retentio illum veluti ex aequo partiantur, unde et globus ibi quiescit. At extra perpendiculum axis fit attractioni liber, quare et motus deorsum fit (I 359 a 2). Es ist ja, in der Terminologie der späteren Mechanik, die Hubarbeit, also die Arbeit gegen die Schwerkraft, die dem Pendel zunächst eine Lageenergie verleiht, die sich dann in
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gültige Lösungen vermutlich von Gassendi nicht erwartet werden; aber präzise und gute Problemstellungen sind oft schon die halbe Lösung, und in diesem Fall hat eine allzu starke Fixierung auf unmittelbar beobachtbare Tatsachen die explizite Formulierung von Gesetzen und dadurch eine gute Problemstellung verhindert. Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen beschäftigt Gassendi sich mit den wichtigsten der von Galilei formulierten Gesetze, zunächst mit der Isochronie, und die Formulierung der Fragestellung zeigt, daß er eine Begründung anstrebt49. Sein erster Hinweis besteht in der Aussage, daß die Isochronie deshalb verständlich sei, weil (bei langsameren Schwingungen) die Abnahme des durchmessenen Raumes durch die Abnahme der Geschwindigkeit ausgeglichen wird. Man sieht sofort, daß dieser Hinweis keine Begründung enthält, sondern nur eine Reformulierung des empirisch beobachtbaren Explanandum ist50. Gassendi zieht zweitens aber das Sehnengesetz heran 51 , und zwar mit Recht, denn es besagt ja, daß die Zeit beim Fall längs aller Sehnen durch den tiefsten Punkt eines vertikalen Bewegungsenergie verwandelt. Weil nun ein Erhaltungssatz bezüglich der Summe von Lage- und Bewegungsenergie gilt, gibt es keinen Grund zum Nachlassen der Schwingung (unter idealen Bedingungen). Dieser für die Einsicht in diese Zusammenhänge sehr wichtige Erhaltungssatz folgt übrigens im Falle der Pendelbewegung schon unter Benutzung der mechanischen Grundgleichung (deren Formulierung Gassendi ziemlich nahe war) und dem Fallgesetz (das Gassendi kannte): Wird ein Pendel der Masse m um die Strecke h gehoben, so erhält es eine Lageenergie Gh. Sinkt es nun um die Höhe h' (h' < h), so sinkt seine Lageenergie Gh = mgh (nach der Grundgleichung) auf G(h — h') = mg(h — h'). Stattdessen erhält es die Geschwindigkeit ν = gt, oder nach dem Fallgesetz ν = g V 2 h ' / g = \ / 2 h ' g , mithin die Bewegungsenergie '/ 2 mv 2 = ' / 2 m · 2 h ' g = mgh'. Die Summe von Lage- und Bewegungsenergie nach dem Absinken des Pendels um h' ist also mg(h — h') + mgh' = mgh, d. h. bleibt konstant und ist gleich der ursprünglichen Hubarbeit. Auch Gassendi erwähnt einen Erhaltungssatz unter idealen Bedingungen, aber ohne zu versuchen, explizite Gesetze zu formulieren; er besagt nur, daß sich die Pendelschwingung erhalten würde: Ex quo sane efficitur, ut . . . consentaneum videatur fore, ut si chorda haberi posset immaterialis aut nihil ponderans ac aliunde medium nihil officeret, ut si res posset peragi in vacuo, tum vibratio secunda tarn altum eveheretur quam prima et tertia consimiliter, et omnes aliae consequenter: adeo ut motus semel coeptus videatur hoc casu futurus perpetuus et ex hoc quoque capite indebilis ex se conprobetur (I 360 b 2). 49
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Vgl. I 3 5 9 a 2 : Id vero admirabile, quod tametsi huiusmodi itus reditusque sint initio prolixiores . . . et sub finem breviores, . . . sint tarnen aequi-temporanei, seu, quod idem est, peragantur omnes aequalibus temporibus . . . Dennoch wird er wie eine Begründung formuliert: Porro id pulchre cum eo consentit, quod globus in posterioribus (sc. den langsamen Schwingungen) non emergens umquam ad parem cum prioribus (sc. den schnelleren Schwingungen) altitudinem sie ex inferiore semper ac inferiore loco (Text fehlerhaft: loce) digrediens movetur, ut decremento spatii cum decremento velocitatis compensato temporum aequabilitas constet (I 359b 1). Vgl. I 359b.
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Kreises stets gleich ist, d. h. unabhängig ist von dem Winkel, den die Sehnen mit dem vertikalen Durchmesser des Kreises bilden; wenn nun die Schnittpunkte der Sehnen mit dem Kreis als Ausgangspunkte der Pendelbewegungen interpretiert werden, so bedeutet dies, daß die Winkel die Schwingungsamplitude bestimmen, d. h. daß, wie im Isochroniegesetz behauptet, Periode und Amplitude der Schwingungen voneinander unabhängig sind. Diesen Zusammenhang stellt Gassendi jedoch nicht explizit her; vielmehr beschränkt er sich darauf, das Sehnengesetz zu rekapitulieren und die Existenz seines Zusammenhanges mit der Isochrome der Schwingungen zu behaupten. Damit bleibt aber auch dieser Hinweis auf empirischer Ebene. Dieses Vorgehen hat zur Folge, daß auch der folgende Erklärungsversuch inadäquat bleibt, der sich nicht, wie bisher, auf isochrone Schwingungen desselben Pendels, sondern verschiedener Pendel mit gleicher Fadenlänge, aber unterschiedlichem Gewicht bezieht. Hier verweist Gassendi auf das Fallgesetz, weil ja auch Pendelbewegungen, wie jeder sehen kann, Fallbewegungen sind; im freien Fall ist aber die Geschwindigkeit vom Gewicht unabhängig, also gilt das auch von Pendelbewegungen. Dieser Hinweis ist zweifellos nicht abwegig, aber doch ungenau; die entscheidende Voraussetzung der gleichen Fadenlänge wird ja überhaupt nicht berücksichtigt 52 . Dieselben empirischen Aussagen könnten deshalb ohne weiteres auch zur Begründung der falschen Behauptung verwendet werden, daß alle Pendel (sogar unabhängig von der Fadenlänge) isochron schwingen. Nur gleiche Fadenlänge der Pendel hat zur Folge, daß sich der Gewichtsunterschied auf den Unterschied der Schwingungsamplitude reduziert, von der, wie bereits erwähnt, die Periode unabhängig ist; gerade der explizite Hinweis auf die Amplitude fehlte aber, wie wir gesehen haben, im vorhergehenden Erklärungsversuch, ein Mangel, der sich hier negativ auswirkt. Nur die ausdrückliche Angabe der zur Anwendung 52
Wie oben mit dem Wort „admirabile", so zielt Gassendi hier mit „ m i r u m " auf eine Erklärung; weil diese Erklärung relativ kurz ist, sei ihr voller Wortlaut zitiert: sie vermittelt nämlich einen sehr guten Eindruck vom Vorgehen Gassendis: Rursus id mirum videri debet, quod si pro globulo unius unciae appendas globum centum librarum, ita ut globus una cum chorda paris longitudinis sit, non propterea tarnen erunt itus reditusque seu vibrationes celeriores, sed efficientur plane eiusdem sive aequalis durationis cum vibrationibus globuli uncialis (Explanandum). Verum istud quoque consentit cum eo, quod observavimus lapidem ingentem non cadere velocius quam lapillum quodque, si per totam altitudinem diametri, de qua mox ante sumus loquuti, non fuerit ingens globus celerius descensurus quam globulus, non debeat etiam chordae appensus percurrere citius aut quadrantem circuli aut quemlibet minorem arcum (Analogie-Erklärung ohne Berücksichtigung der Fadenlänge) (I 359b 2 - 3 6 0 a 1).
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kommenden Gesetze kann derartige Mißverständnisse verhindern53, die freilich in diesem Zusammenhang deshalb nicht erfolgt, weil der Verweis auf jedermann zugängliche Beobachtungen (der „freie Fall" der Pendel) zu vorschnellen Analogien führt, die die wichtigsten Fragen beantwortet und die Angabe weiterer Gesetze überflüssig erscheinen lassen. Insgesamt dürfte die Analyse dieser drei Beispiele gezeigt haben, daß der Mißerfolg der Gassendischen Erklärungsansätze hauptsächlich auf einer falschen Einschätzung des Stellenwertes und der Funktion empirischer Aussagen beruht. Darüber hinaus lassen die Beispiele drei verschiedene Typen dieser falschen Einschätzung erkennen: Gassendis argumentative Verwendung empirischer Aussagen führt dazu, daß notwendige Bedingungen als hinreichend und damit unvollständige Erklärungen als vollständig angesehen werden (Farbentheorie), daß unprüfbare theoretische Existenzpostulate annehmbar gemacht werden und damit ihre Präzisierung nicht mehr notwendig zu sein scheint (Magnetismustheorie) und daß vorschnelle Analogien konstruiert werden und damit die explizite Angabe von Gesetzen als überflüssig erscheint (Analyse der Pendelschwingungen). In allen drei Fällen wird die Leistung und Uberzeugungskraft empirischer Aussagen überschätzt, weil sie empiristisch als Ausgangspunkt der Uberlegungen angesehen werden, der allein schon die Hypothesen stützt.
2.2.2. Agnostische Tendenzen Eines der wichtigsten Kennzeichen scholastischen Philosophierens ist die Energie und Entschlossenheit, mit der man den Versuch unternommen hat, Glaubenssätze und wissenschaftliche Uberzeugungen so weit wie möglich miteinander zu vereinbaren. Historische Umstände mögen ihren Teil dazu beigetragen haben: die Bekanntschaft mit einer abgeschlossenen Theorie von hohem Niveau wie der aristotelischen Naturwissenschaft ließ vermutlich Anerkennung und Verarbeitung als unvermeidlich erscheinen und führte darüber hinaus zum Zwecke der Sicherung des wissenschaft53
Eine vollständige Erklärung erfordert die Verwendung der mechanischen Grundgleichung. Definiert man für beliebige Schwingungsfrequenzen ν = ' / 2 ) t V D / m (m Masse, D eine „Richtgröße" mit D = K/x mit Κ = Kraft, χ = x 0 · sin α der Ausschlag für Phasenwinkel α und Amplitude x 0 ), so ist beim Pendel D = K/1 (1 Fadenlänge) oder mit der Grundgleichung D = mg/1. Einsetzen in obige Definition liefert ν = Ά π \/g71 und damit für die Periodenzeit Τ (Τ = 1/v): Τ = 2 π V l / g · Damit ist zweierlei zugleich gezeigt: (i) Τ ist proportional zu νΊ> (ü) Τ ist unabhängig von m. Ferner ist ersichtlich, daß in diesem Nachweis die Berücksichtigung der Fadenlänge 1 entscheidend eingeht.
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lichen Niveaus zunächst zu einer Immunisierung vieler Hypothesen. Gleichwohl bleibt vor allem im Vergleich zu anderen bedeutenden Glaubenslehren die Bereitschaft bemerkenswert, mit der sich die christlichen Theologen der Bearbeitung naturwissenschaftlicher Probleme zugewandt haben. Denn diese Einstellung blieb eine Quelle permanenter Konflikte, auch wenn kein mittelalterlicher Forscher die fundamentale Gefährdung vieler Grundsätze christlichen Glaubens vorausgesehen haben dürfte, zu der der Fortschritt der Wissenschaft schließlich geführt hat. O b die Schwierigkeiten, die durch die Beziehung von Glaubenssätzen und wissenschaftlichen Hypothesen aufgeworfen wurden, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts besonders schwerwiegend waren, ist trotz des „Falles Galilei" nicht leicht zu entscheiden. Aber sicher ist, daß Gassendi, als Atomist, Mechanist und Priester, sie zumindest in den späteren Jahren seines Lebens keineswegs leicht genommen hat. Seine Philosophie ist insgesamt nicht zu Unrecht als ernsthafter, wenn auch nicht immer geglückter Versuch angesehen worden, die neuen mechanistischen und atomistischen Grundsätze mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen 1 . Freilich dringt Gassendi von Anfang an auf eine Trennung von Glaubenslehre und Wissenschaft. Bereits in den Exercitationes kritisiert er die Konfusion von religiösen und wissenschaftlichen Fragen in der Schulphilosophie; wenige Jahre später wird Fludd darauf hingewiesen, daß die Behauptungen der Physik nicht durch Rückgriff auf die Heilige Schrift gerechtfertigt werden dürfen, und umgekehrt wird Descartes gegenüber 1
Darüber scheint heute weitgehend Einigkeit zu bestehen. Vgl. ζ. B . G . Hess, Pierre Gassend, a. a. O . S. 1 1 6 : „ D a ß Gassends Philosophieren als Versuch zu verstehen ist, Wissen und Glauben trotz ihrer eigenen Gesetzlichkeit in Einklang zu bringen, und sein Geheimnis nicht einer rein laizistischen oder rein dogmatischen Deutung enthüllt, dürfte heute unbestreibar s e i n " ; E . J . Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, a. a. O . S. 4 7 6 : „Das Auftreten von Gassendi ist als ein mit äußerster Energie bewerkstelligter Versuch anzusehen, das unwiderruflich herannahende Auseinanderbrechen der Weltanschauungen noch zu verhindern oder, soweit es schon Tatsache war, zu bemänteln"; O . R . Bloch, La philosophie de Gassendi, sieht Gassendi diesen Versuch jedenfalls nach 1640 machen: „ L a philosophie gassendiste tend done, apparement, ä se mouvoir entre deux „systemes" possibles: Tun, qui se serait contente d'accompagner une conception de la connaissance et de la nature etrangere ä toute metaphysique religieuse, et parfois contraire a eile, de la seule position des affirmations orthodoxes, . . . l'autre, qui integrerait les verites physiques et humaines du materialisme et de l'utilitarisme dans une vision metaphysique d'ensemble, incluant en elle-meme des considerations philosophiques fondees sur des concepts communs ä la raison naturelle et ä la raison eclairee par la foi, permettant de contrebattre de l'interieur les affirmations tenues pour inacceptables". Den Ubergang vom ersten zum zweiten „ S y s t e m " datiert Bloch auf etwa 1640 (a. a. O . S. 476). Von den älteren Interpreten stellen vor allem Pendzig und Brett die Ausgleichsversuche Gassendis in den Vordergrund.
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betont, daß Glaubenswahrheiten einer Sicherung durch wissenschaftliche Argumentation nicht bedürfen. Noch im Syntagma Philosophicum unterscheidet Gassendi unzweideutig zwischen natürlicher Vernunft und auf Offenbarung beruhender „Weisheit" und versucht den Gegenstandsbereich der Physik durch Verweis auf die causae secundae einzugrenzen2. Diese Aussagen gelten jedoch nur für diejenigen Fälle, in denen sich die Gegenstandsbereiche von Theologie und Physik (Philosophie) nicht überschneiden; man kann daher Gassendis Äußerungen auch als Forderung nach möglichst scharfer Abgrenzung beider Gegenstandsbereiche verstehen. Keinesfalls darf seine Einstellung als Anerkennung der Lehre von der doppelten Wahrheit interpretiert werden; denn in den Fällen eines Konfliktes zwischen Theologie und Physik bezeichnet er niemals die physikalischen Hypothesen eindeutig als richtig, sondern erkennt letztlich stets die Gültigkeit der Glaubenssätze an 3 . 2
Vgl. folgende Stellenauswahl: Moneo solum in philosophiam derivatas esse quaestiones abstrusissimas ex Theologia seu scientia divina . . . Non noverunt illorum scripta, qui nesciunt passim disputari plurima Theologica et ad quae scientia ratioque naturae prorsus caligat . . . Quasi artium et scientiarum finibus regundis non sint praescribendae et servandae leges . . . Sed isti tum demum credunt se habendos philosophos graves, ubi de rebus altissimis atque ab intelligentia communi remotissimis superciliose declamaverint (Exercitationes, III 108 b). Itaque non videtur mihi constanter satis ac religiose illi facere, qui, si quid somniant in Physicis, patrocinium statim in Scriptura quaerunt (Fluddanae Philosophiae Examen, III 231b 2). Quam proinde abfuit sublimis Facultas, ut votis tuis annueret, quae decretis non argumenta, sed conclusiones sancire solet! Novit quam sit humana ratio inconstans atque imbecilla, quare et ex ea decretorum firmitudinem non exquirit. Momentum ex Sacra Scriptura aliisque Fidei canonibus quaerit; ipsas rationes (si aliquae sint) cum suis momentis (si aliqua habeant) intactas penitus relinquit . . . Habet illas ut quoddam genus probationis heterogeneum existimatque Sacram Fidem esse debere sibi ipsi solidissimum fundamentum (Disquisitio Metaphysica, III 276 a 2). Caeterum cum heic non agatur de illa seu sapientia seu philosophia primo parenti piisque aliis viris divinitus collata, sed de ea, quae solo lumine naturae parari potest ab homine, qui intellectu nascitur tabula rasa existente, ideo quaerendum est, quid facere illi occasionem originemque potuerit (Aufgabe des Kapitels De origine philosophiae, Syntagma Philosophicum I 7 b 2). Sed hoc non obstat, quin debeamus aliquam ut primam sie supremam causam religiose agnoscere, a qua series earum causarum, quas per physiologiam investigamus, dependeat . . . Quinetiam licet imperium regnumque Deo concedatur, non ideo pernegantur causae, quas ille esse voluit quasque agere suas vices sinit (ibid. I 326 a).
3
Vgl. dazu an allgemeinen Aussagen ζ. B. III 101 (Vorrede Exercitationes): Sed utcumque se res habeat, seu dogmatice quid defendo seu sceptico more quid experior, et seu profero quidpiam verum seu quidpiam dico probabile . . ., committo semper meque et mea omnia iudicio Unius Sanctae, Catholicae, Apostolicae Romanaeque Ecclesiae, cuius ego alumnus sum et pro cuius fide sum paratus fundere vitam cum sanguine; III 528b 1 (De Motu III): At hoc (sc. terram in quiete esse) credo praeter rationem? Ita sane est, quia Christianus homo non rationem sequi, qua scitur, sed fidem, qua creditur, debet . . . Sed nimirum loco validae rationis validam fidem habeo, cui nisi sit impius, suas aequiparare rationes non potest (sc. Cazraeus); I 29b 2f. (Syntagma Philosophicum): Occasione hac interim
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Die Frage, wie Gassendi das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft im einzelnen gesehen hat, ist ohne Zweifel ein wichtiges Thema und hat daher in der Gassendi-Interpretation einen breiten Raum eingenommen, einerseits hinsichtlich seiner persönlichen Einstellung (stand er wirklich auf dem Boden des Dogmas oder waren seine Glaubensbekenntnisse wie bei den libertins nur verbal ?) und andererseits hinsichtlich seiner theoretischen Leistung (inwieweit ist es ihm gelungen, Glaubenssätze und physikalische Hypothesen sachlich in Einklang zu bringen?). Die Klärung dieser Probleme macht jedoch eine ausführliche Erörterung erforderlich, die den Rahmen unserer Untersuchung sprengen würde. Wohl aber ist in unserem Zusammenhang die Tatsache bemerkenswert, daß Gassendi überhaupt Fragen, für deren Beantwortung er die Theologie für zuständig hielt, innerhalb seiner Physik gestellt und behandelt hat. Die bisher gegebene Darstellung der von ihm in der Physik befolgten Methodologie scheint ja die Möglichkeit auszuschließen, daß grundsätzlich nicht empirisch prüfbare oder theoretisch entscheidbare Hypothesen zum Fachgebiet der Physik gehören. Eine methodologische Untersuchung seiner Physik hat demnach Gassendis Vorgehen auch in den Grenzbereichen zwischen Theologie und Physik zu analysieren und insbesondere zu fragen, ob es sich methodologisch von den genuin physikalischen Überlegungen unterscheidet. Ein Uberblick über das Syntagma Philosophicum zeigt, daß drei verschiedene Themen zur Diskussion gestellt werden können: Gassendis Erörterung schwer entscheidbarer kosmologischer Probleme, seine teleologischen Argumentationen und die der natürlichen Theologie oder „Physikotheologie" zuzurechnenden Überlegungen zur Möglichkeit des Beweises der Existenz Gottes. Hier zeigen sich schließlich auch Elemente der allgemeinen „Weltanschauung" Gassendis, und es dürfte nicht abwegig sein, zum Abschluß unserer Untersuchung die Beziehung dieser Weltanschauung zur speziell physikalischen Methodologie kurz darzustellen. Die Frage nach der Anzahl der Welten ist ein Beispiel jener kosmologischen Probleme, für deren Lösung Gassendi die Behauptungen der insinuo . . . nulli me sectae nomen dare, qui omnibus honorem habeo, et nunc hanc, nunc illam, si quid habere prae caeteris probabile videatur, sequor. Sola nempe est Orthodoxa, hoc est, quam accepi a maioribus, Catholica, Apostolica, Romana Religio, cui unice haereo . . . Vgl. dazu ausführlicher O. R. Bloch, La philosophie de Gassendi, a. a. O. S. 319ff., der richtig bemerkt, daß Gassendi nur dann physikalische Aussagen theologischen vorzieht, wenn er glaubt, daß die theologischen Aussagen weder auf Offenbarung beruhen noch traditionelle Dogmen sind, sondern ungerechtfertigte Folgerungen aus ihnen darstellen.
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Theologie berücksichtigt. Im nicht publizierten vierten Buch der Exercitationes sollte die Annahme einer unendlichen Anzahl von Welten oder, was dasselbe ist, der unendlichen Ausdehnung des Universums als wahrscheinlich erwiesen werden, und zwar, wie man vermuten darf, vornehmlich aus physikalischen Gründen 4 . Bereits zu dieser Zeit also hielt Gassendi diese Annahme nur für hypothetisch, schloß deshalb aber keineswegs die Möglicheit aus, ernstzunehmende und vorläufig sogar entscheidende Gründe zu ihren Gunsten anzugeben. Erst im Syntagma Philosophicum kommt er auf das Problem zurück, und hier entscheidet er sich unzweideutig aus religiösen Gründen für die Behauptung der Einheit und Abgeschlossenheit der Welt 5 . Zwar referiert er, übrigens ohne wertenden Kommentar, einige Gründe, die eine Reihe griechischer Philosophen zugunsten der Einheit des Universums angeführt haben, aber er selbst enthält sich jeglicher physikalischer Argumentation, weist stattdessen auf die Heilige Schrift hin und benutzt einige theologische Überlegungen, etwa daß nichts außer Gott unendlich ist oder daß keine Wirkung ihrer Ursache gleich sein kann. Andererseits widmet er der Darstellung der gegnerischen Lehre, insbesondere ihrer modernen Fassung (Bruno), den weitaus größten Teil seiner Erörterung und weist darüber hinaus sogar nach, daß sie physikalisch und metaphysisch möglich ist, insofern einerseits ein unendlich großer Raum zur Verfügung steht, in dem unendlich viele Welten existieren könnten, und andererseits die Erschaffung unendlich vieler Welten durchaus in Einklang stünde mit der Omnipotenz Gottes 6 . Wenn Gassendi bei der Annahme der Möglichkeit unendlich vieler Welten stehenbleibt und ferner bemerkt, daß es nicht darum geht, ob unendlich viele Welten möglich sind, sondern ob sie real existieren, so geht er offenbar davon aus, daß in diesem Bereich überzeugende physikalische Begründungen nicht zu finden sind; und wenn er gesteht, daß die Falschheit dieser Annahme nicht beweisbar ist, so heißt das ja zugleich, daß ihre 4
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Liber IV . . . Exinde multiplicatas vel certe immensitas mundi probabilis arguitur (aus der Inhaltsangabe von Buch IV der Exercitationes in der Vorrede, III 102). Vgl. Buch I De Universo seu natura rerum des 1. Physikabschnittes, Kapitel II: Itaque priusquam de illis dicamus, qui opinione Fidei Sacrae consentanea nobisque tenenda defendere mundum esse unicum, age cognoscamus fabulas aliorum (I 139b 1). Veniendum iam est ad aliam sententiam, quam praediximus esse maxime principiis Fidei Religionisque consentaneam (I 141 a2, Verweis auf 139b 1). Vgl. O. R. Bloch, La philosophie de Gassendi, a. a. O. S. 334-338. Bloch ist allerdings der Meinung, daß Gassendi hier letztlich auf dem Boden der Lehre von der doppelten Wahrheit steht und diese Tatsache nur mühsam zu überspielen versucht.
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Negation, also die orthodoxe Lehre, nicht widerlegbar ist — daß also physikalische Argumente zu schwach sind 7 . Diese Einstellung läßt eine Abschwächung jener methodologischen Position deutlich werden, die er zur Zeit der Planung der Exercitationes eingenommen hatte: das kosmologische Problem der Anzahl der Welten ist nicht mehr vorläufig oder hypothetisch, sondern physikalisch überhaupt nicht entscheidbar. Der methodologische Ubergang vom Skeptizismus zum Agnostizismus ermöglicht die rein theologische Lösung des Problems. Dies gilt auch für Gassendis Stellungnahmen zur Erdbewegungsfrage, an der nach Galileis Verurteilung im Jahre 1633 der Konflikt zwischen Glaubenslehre und Wissenschaft am deutlichsten sichtbar wurde. Tatsache ist, daß Gassendi bis zum Anfang der dreißiger Jahre unmißverständlich für die heliozentrische Hypothese eingetreten ist, sich aber später ebenso eindeutig dem Diktum der Offenbarung und dem Dekret der Kirche unterworfen hat, ohne allerdings jemals die heliozentrische Hypothese aus wissenschaftlichen Gründen abgelehnt zu haben. Angesichts dieser Haltung hat man sich verständlicherweise gefragt, welches die „wahre" Auffassung Gassendis gewesen ist, und hat daher zunächst versucht, anhand der Zeugnisse seine Einstellung genauer zu beschreiben. Dabei hat sich ergeben, daß Gassendi auch nach 1633 wissenschaftlich überzeugter Kopernikaner gewesen ist, auch wenn er nun seine Meinung verschlüsselter formulierte — als Entkräftung der Argumente gegen die Erdbewegung etwa, als Lob der Galileischen Astronomie im allgemeinen oder als Hinweis auf die Klarheit und Einfachheit des copemicanischen Systems; andererseits hat er sich in dieser Zeit explizit stets aus Glaubensgründen zur Erdruhe und zum Braheschen System bekannt 8 .
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Constat vero quaestionem esse non pluresne mundi possibiles sint, verum sintne plures reipsa (I 143 a 2). Nam fatendum est quidem convinci demonstratione non posse non esse mundos praeter hunc alios (I 141 b 2). A m deutlichsten ist Gassendis agnostische Tendenz jedoch in folgender Stelle zu erkennen: Neque est, quod quis forte instet neminem adstitisse Deo consiliorum ipsius conscium, ut sciri possit, an-non Deus atomos alias aliosve Mundos praeter istum condiderit; nam et qui putant condidisse, non adsistere similiter consiliorum participes, ut asserere iam id valeant, resque eo saltem deducitur, ut non maiore ratione probent plures reipsa mundos esse, quam caeteri esse plures inficientur, cum nos insuper, dum asserimus mundum hunc esse unicum, loquamur de re, quam isti videamus et quam solam Deus voluerit . . . innotescere, isti vero loquantur de re et sibi plane incomperta et cuius neque Deum autorem neque omnino quempiam alium, qui tale quidpiam viderit, habeant (I 144b 1). Speziell mit der Erdbewegungsfrage und allen in Frage kommenden Zeugnissen beschäftigen sich ausführlich G. Hess, Pierre Gassend, a. a. O . S. 116 — 151 und O . R. Bloch, La philosophie de Gassendi, a. a. O . S. 326—334.
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Über diesen Interpretationsbefund ist heute weitgehend Einigkeit erzielt worden. Aber Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man dazu übergeht, Gassendis Haltung wenn nicht zu erklären, so doch zumindest verständlich zu machen, und zwar weniger im psychologischen als im theoretischen Sinne. Die Auffassung, er habe letztlich doch die Lehre von der doppelten Wahrheit vertreten oder sei gar libertin gewesen, ist zugleich das Eingeständnis, daß seine Einstellung widersprüchlich und damit theoretisch irrational ist 9 . Aber auch der Hinweis auf die „Tragweite des Entschlusses, die Uberzeugung der Erdbewegung der orthodoxen Behauptung der Erdruhe aufzuopfern", die erst im Hinblick auf seinen Versuch einer Trennung zwischen Glauben und Wissen verständlich wird, hilft kaum weiter, ebensowenig wie die Feststellung, Gassendi habe sich zur orthodoxen Lehre bekannt, weil er sein Lehrgebäude abschließend vereinheitlichen wollte 1 0 . Denn die Tragweite eines Entschlusses macht diesen nicht verständlicher, und Gassendis Absicht einer Systematisierung ist nicht unabhängig belegbar, sondern kann nur aus denjenigen Zeugnissen erschlossen werden, die es gerade zu erklären gilt. Richtig ist, daß Gassendi zunächst mit verschiedenen Mitteln den Widerspruch zu mildern versuchte, z . B . durch allegorische Bibeldeutung, durch den Hinweis, die Heilige Schrift sei für das Volk geschrieben und müsse daher die Erscheinungen darstellen, oder durch die Anmerkung, das Dekret gegen Galilei könne nicht als Glaubensartikel betrachtet werden 1 1 . Aber in der abschliessenden Darstellung im Syntagma Philosophicum sind diese Ansätze nicht mehr erkennbar; und wenn deshalb dieser endgültige Standpunkt Gassendis als totale Umkehr früherer Positionen gewertet wird 1 2 , so bringt gleichwohl auch diese Beurteilung keinen Aufschluß über die theoretischen Mittel, die ihm seine letzte Stellungnahme ermöglichten. Und schließlich darf auch die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, daß Gassendi selbst weder in seinen Schriften noch in seiner ausgedehnten Korrespondenz eine Änderung seiner Haltung angedeutet hat.
9
Dazu vor allem R. Pintard, Le libertinage erudit dans la premiere moitie du X V I T siecle, Paris 1943 (zu Gassendi S. 1 4 7 - 1 5 6 , 2 9 7 - 302 , 326 - 3 4 8 , 382 - 387, 403 - 414, 4 1 4 f . , 424 — 429, 477— 504); ders., Modernisme, Humanisme, Libertinage. Petite suite sur le „cas Gassendi", in: Revue d'Histoire Litteraire de la France 1948, S. 1—52. Ähnlich jetzt auch Tack (a. a. O . S. 2 1 0 f . ) .
10
So G. Hess, Pierre Gassend, a. a. O . S. 117, 146, 150. Vgl. ζ. B. III 5 1 9 a f „ IV 5 9 b f „ I 6 2 9 b ; IV 6 0 b , 1 6 3 0 a . So O . R. Bloch, La philosophie de Gassendi, a. a. O . S. 331 f. Hier wird aber mit Recht auf Gassendis Agnostizismus hingewiesen, den er mit seinen späten Äußerungen zur Erdbewegungsfrage verbindet.
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Betrachtet man nun aber seine Äußerungen zur Erdbewegungsfrage einmal unter methodologischen Gesichtspunkten, so läßt sich in der chronologischen Reihe der Zeugnisse eine Veränderung erkennen, die vielleicht ein wenig mehr Licht in dieses schwierige Interpretationsproblem bringen könnte. Insgesamt kann man drei zeitlich aufeinander folgende Phasen unterscheiden, in denen Gassendi jeweils unterschiedliche Stellungnahmen abgibt: zunächst die zwanziger und dreißiger Jahre, dann die frühen vierziger Jahre und schließlich die Abfassungszeit des Syntagma Philosophicum. In der ersten Phase bekennt Gassendi sich ohne Umschweife und Vorbehalte zur heliozentrischen Hypothese 13 . Nach der Verurteilung Galileis formuliert er seine Uberzeugung nicht mehr explizit, läßt sie aber noch deutlich genug durchblicken. Die Äußerungen in der zweiten Phase (vor allem in den Briefen De Motu und De Proportione) dokumentieren ohne Zweifel, daß Gassendi jetzt das Dekret der Kirche ernst nimmt und den Konflikt in voller Schärfe erkannt hat. Denn einerseits erkennt er dieses Dekret nun explizit an, andererseits vermeidet er jede positive Stellungnahme zugunsten des copemicanischen Systems. Stattdessen wird wiederholt betont, daß die vorgebrachten theoretischen Überlegungen und experimentellen Ergebnisse zwar viele derjenigen Argumente entkräften, die zugunsten der Erdruhe angeführt wurden, daß damit jedoch die heliozentrische Hypothese keineswegs bewiesen sei; genau deshalb hält Gassendi seine Argumentation für vereinbar mit der Glaubenslehre 14 . Nun ist dieser Hinweis zweifellos methodologisch korrekt; aber 13
14
Im Plan zu Buch IV der Exercitationes heißt es: Terrae vero, quasi uni ex planetis, conciliatur motus (III 102). An Peiresc schreibt Gassendi am 2 6 . 2 . 1632: Si vous avez aggreable que je vous die en peu de mots ma pensee, c'est que suivant l'opinion de Copernicus, je concoy le Soleil löge au centre du monde, et lä tournant sur son propre escieu dans l'espace de quelques vint huit jours (Lettres de Peiresc a. a. O . S. 259). Im folgenden Monat entschuldigt er sich in einem Brief an Galilei für die verfehlte Argumentation Morins gegen die Erdbewegung und betont, er habe ihn selbst schon auf ihre Schwäche hingewiesen (VI 4 5 b 2 f . ) . Zur Bedeutung der Argumentation in den De Motu-Briefen: Quippe intertexturus fueram . . . videri ex iis observatis, quae circa motum a motore translato impressum memorata sunt, infirmum reddi argumentum, quo solemus vulgo quietem asserere globo telluris. N o n quod exinde pronunciem moveri haud dubie tellurem . . ., sed quod amore veritatis . . . nihil prohibere existimem, quominus insinuem conquirendam esse rationem verisimiliorem (III 500 a 1). A c non dico propterea moveri terram, quiescere solem, sed quaerendas dico rationes meliores, quam quae ex sensu ipso petuntur (III 5 0 5 b 1). Quando aggressus dicere solum de imbecillitate eius argumenti, quod ad quietem terrae adstruendam familiare est petere ex motu rerum proiectilium, eo sensim deductus sum, ut videri possim praecipuas circa problema celebre attigisse difficultates. N o n exigis, ut repetam fecisse me id non ut telluri assererem motum, sed ut veritatis amore innuerem quietem ipsius firmiore ratione esse stabiliendam (Ende des 2. Briefes De Motu III
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auch wenn eine wissenschaftliche Hypothese nicht bewiesen ist (sie ist ja prinzipiell nicht beweisbar), so kann sie doch konfirmiert oder geschwächt werden, und im Sinne der von Gassendi selbst vertretenen Methodologie ist der Wissenschaftler verpflichtet, diejenige Theorie anzuerkennen, gegen die weniger oder für die mehr Argumente sprechen. Gerade diese Konsequenz will Gassendi jedoch vermieden sehen; vielmehr rückt er im Gegenteil die Tatsache in den Vordergrund, daß keine der Hypothesen bewiesen sei, um darauf hinweisen zu können, daß deshalb auch niemand aus wissenschaftlichen Gründen gehalten sei, eine von beiden anzuerkennen. Diese Strategie wird nun im Syntagma Philosophicum, also in der dritten Phase, durch die — äußerlich wieder methodologisch korrekte — Behauptung verschärft, daß die heliozentrische Hypothese nicht nur bisher nicht bewiesen sei, sondern als Hypothese, d. h. als Produkt des begrenzten und Irrtümern ausgesetzten menschlichen Verstandes, grundsätzlich nicht beweisbar, also niemals als endgültig gesichert anzusehen sei 15 .
15
519a2). Zur expliziten Anerkennung des Dekrets: Sed . . . in eo proinde sum, ut placitum illud reverear, quo Cardinales aliquot approbasse terrae quietem dicuntur (III 519a 2). Non ego terrae motum asserui professus potius eius quietem a Cardinalibus assertam (III 523 b 2). Videlicet, tametsi ego Deo bene propitio et corde sincero complector et ore aperto profitear, quidquid Sancta, Catholica, Apostolica Romanaque Ecclesia complectitur et profitetur, tametsi quod specialiter ad praesentem quaestionem spectat, apertissime dixerim reveri me placitum, quo terrae quies dicitur a Cardinalibus asserta, Stare me ab illis, quod sit tanta eorum in Ecclesia autoritas, . . . nihilominus ille (sc. Morinus) nihil non egit, ut me faceret Ecclesiae suspectum (III 527b 2). Daß Gassendi auf diese Weise Wissen und Glauben für vereinbar hält, zeigt folgende Stelle besonders deutlich: Itaque ubi concessum fuerit fidei esse articulum quiescere in centro terram, nihil vetat defendere idipsum ratione evidente non demonstrari, nihil, discutere rationes, quae pro demonstrationibus afferuntur, evidentesne an probabiles tantum sint, nihil ipsis tribuere idipsum quod sunt, ut, si aliquarum principia esse non modo inevidentia, sed falsa etiam convincantur, Fides certe sacra ex sese constitit, et cum interdum non respuat quaecumque ratio naturalis subministrare subsidia potest, non censendum est tarnen ipsam aut rationibus egere obscuris . . . aut postulare dubias, . . . cum, ut iam dictum est, sit firmamentum veritatis (III 542b 1). Vgl. ferner III 563a, 638b 2ff. Im Syntagma Philosophicum wird die Erdbewegungsfrage dreimal angeschnitten. Zunächst erfordert das Kapitel De Systemate seu compagine ac dispositione Mundi (I 145äff.) eine Darstellung des ptolemäischen, copernicanischen und braheschen Systems, an deren Ende sich Gassendi noch ohne agnostischen Hinweis für Tycho entscheidet: verum quia textus sacri sunt, qui terrae quietem et soli motum tribuunt, ac exsistere decretum ferunt, quo textus huiuscemodi non de apparente dumtaxat, sed de vera etiam quiete ac motione intelligendi esse iubentur, ideo superest, ut tale decretum reverentibus Tychonicum potius systema et probetur et defendatur (I 149a2). Aber im Buch De motibus siderum im zweiten Physikabschnitt De rebus caelestibus wird diese Entscheidung methodologisch begründet, wobei besonders wichtig ist, daß der für Gassendis Methodologie so zentrale verisimilitudo-Begriff eindeutig agnostisch interpretiert wird: Est tarnen (sc. decretum) profecto maximi faciendum, ac praeter pondus autoritatis suaderi vel ex eo debet, quod tametsi opinio de motu terrae probari videatur quibusdam verisimilibus argumentis, nulla
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Aber daraus folgt für Gassendi jetzt, daß keine Hypothese mit vollem Recht akzeptiert werden darf; der Hinweis auf die vorläufige und unvollkommene Sicherung von Hypothesen genügt allein schon, um jeden beliebigen Glaubenssatz, der einer beliebigen Hypothese widerspricht, mit gutem Gewissen vertreten zu können. Diese Verwandlung einer ihrer Intention nach hypothetisch-deduktiven Methodologie in puren Agnostizismus ermöglicht Gassendi also auch in diesem zweiten, wichtigeren Fall die Aufrechterhaltung eines Vereinbarkeitspostulates zwischen Wissenschaft und Glauben; sie erscheint um so geringfügiger, als beide methodologischen Standpunkte den Grundsatz der Unbeweisbarkeit wissenschaftlicher Hypothesen enthalten, ist aber in Wahrheit um so schwerwiegender, als damit dem Wissenschaftsfonschritt der Boden entzogen und das Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt gut bestätigter Theorien geschwächt wird. Gassendis endgültige Haltung zur Erdbewegungsfrage ist dadurch charakterisiert, daß um den Preis methodologischer Inkonsistenz die sachliche Inkonsistenz vermieden wird. Die mechanistischen Grundsätze, die Gassendi zeit seines Lebens anerkannt hat, definieren nicht nur sachlich ein Forschungsprogramm für einzelne physikalische Theorien, sondern sind auch methodologisch bedeutsam, weil sie zur Eingrenzung „eigentlicher" Ursachen auf causae efficientes führen und damit die (mechanistisch-) kausale Erklärung als zentrale Aufgabe der Physik erscheinen lassen 16 . Aber ähnlich wie der Einfluß christlicher Glaubenssätze auf Problemlösungen in der Physik für deren methodologische Beurteilung nicht unwichtig ist, darf auch die Tatsache nicht unberücksichtigt bleiben, daß Gassendi in seiner Physik
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est tarnen demonstratio, quae illem esse veram convincat, adeo ut exprobari non possit opinioni oppositae, quod demonstrationibus careat certitudineque ab ipsa vincatur. Adeo proinde, ut quibus tueri Coperniceam Hypothesin religio est, Braheana occurrat, quae verisimillima sit (I 630 a). Diese Begründung wird in Gassendis zeitlich letzter Stellungnahme wiederholt: U n o verbo, cum sit fatendum non esse ullam demonstrationem, quae plane convincat sitam esse terram quiescereque in medio mundi, nihilominus fatendum est etiam rationes, quibus stabilitur, non desinere, quicquid respondeatur, admodum probabiles esse, neque idcirco exsibilandas et ab illis quidem, qui defendentes moveri terram demonstratione etiam carent nihilque proferunt, ad quod responderi facile non valeat. Ex hoc autem efficitur, ut tametsi neutra opinio demonstratione, hoc est rationi naturali fulciri possit, nobis tarnen, quibus aliunde Sacrarum Literarum lux supranaturalis affulget declarans „Terram a D e o fundatam supra stabilitatem suam ac ideo in aeternum stare", opinio ilia est praeferenda, quae huic luci est consentanea (II 10a 2 f.). Hier wird die Kehrseite der Einengung der hypothetisch-deduktiven Methodologie auf den Agnostizismus sichtbar: die Beschränkung der ratio naturalis auf die Fähigkeit zur demonstratio. Vgl. I 283a—287a.
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neben mechanistischen Erklärungen teleologische zugelassen und verwendet hat 1 7 . Auch hier stellt sich auf den ersten Blick ein Vereinbarkeitsproblem: schließt ein konsequenter Mechanismus nicht die Möglichkeit teleologischer Erklärungen aus? 1 8 Diese Frage kann ohne Umschweife bejaht werden; aber daraus allein ergibt sich für die Gassendische Physik kein sachliches oder methodologisches Problem: es folgt nur, daß Gassendi kein konsequenter Mechanist war, weil er, anders als etwa Descartes, auf einigen Gebieten auch nicht-mechanistische Argumentationen für annehmbar gehalten hat. Diese Auffassung kann nur dann als problematisch empfunden werden, wenn man teleologische Erklärungen als unwissenschaftlich (hinsichtlich neuzeitlicher Standards) bewertet, also das Vereinbarkeitsproblem sehr viel schärfer interpretiert, nämlich als Frage nach der Vereinbarkeit von wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Verfahrensweisen. Eine solche Bewertung beruht jedoch auf einem MißVerständnis, denn grundsätzlich können teleologische Erklärungen durchaus als wissenschaftlich, d . h . als prüfbar und korrigierbar angesehen werden: eine Eigenschaft eines Systems hinsichtlich ihrer Funktion (ihres Zweckes) zu erklären bedeutet, vereinfacht formuliert, nachzuweisen, daß das Vorliegen dieser Eigenschaft stets von einer weiteren Bedingung begleitet ist, die ihrerseits f ü r das normale Funktionieren des Systems notwendig ist 1 9 . Wenn etwa, um ein von Gassendi selbst verwendetes Beispiel anzu17 18
19
Vgl. VI 20b, III 358bff., I 2 8 5 b f „ II 231b. Vgl. ζ. B. O. R. Bloch, La philosophie de Gassendi, a. a. O. S. 433: „Nous avons dit et rappele comment la physique gassendiste . . . ramenait toute causalite „seconde" ä la mobilite de la matiere active . . . nous avons laisse de cote, et meme passe completement sous silence, le probleme de la cause finale, c'est que l'attitude gassendiste sur ce point ne pouvait sans risque de confusion entrer dans le cadre exclusif des juxtaposition etudiees jusqu'ici" (womit Bloch auf das Nebeneinander von Glauben und Wissen verweist — ein ähnlich gewichtiges Problem soll also auch die Verbindung von Mechanismus und „Finalismus" bilden). Genauere logische Analysen haben allerdings ergeben, daß teleologische Erklärungen hinsichtlich ihrer Erklärungskraft schwächer sind als kausale (oder statistische) Erklärungen, vor allem deshalb, weil der Begriff „normales Funktionieren" (in einem System) sehr schwer präzisierbar ist und weil eine logische Deduktion des Explanandum aus den Prämissen dadurch erschwert ist, daß nur eine für das normale Funktionieren des Systems notwendige (nicht hinreichende) Bedingung in den Prämissen enthalten ist, so daß die Deduktion nur unter Abschwächung des Explanandum und einer Prämisse herstellbar ist. Aus der umfangreichen modernen Literatur sei hier verwiesen auf R. B. Braithwaite, Teleological Explanations: The Presidential Address, in: Proceedings of the Aristotelian Society 47, 1946/47, S. I - X X ; C. G. Hempel, The Logic of Functional Analysis, in: L. Gross (ed.), Symposion on Sociological Theory, New York 1959, S. 2 7 1 - 3 0 7 .
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führen 20 , das Schlagen des Herzens in Wirbeltieren funktionalistisch oder teleologisch erklärt werden soll, so kann darauf verwiesen werden, daß die rhythmische Bewegung der Herzmuskulatur den Blutkreislauf in Gang hält, der seinerseits eine notwendige Bedingung für das Überleben von Wirbeltieren ist (diese Erklärung war übrigens erst zu Gassendis Lebzeiten durch Harveys Entdeckungen möglich geworden). Derartige teleologische Erklärungen spielten und spielen noch heute in vielen Wissenschaften eine wichtige Rolle, und ihre Anerkennung neben kausaldeterministischen (z.B. mechanistischen) Erklärungen ist nicht a priori kritisierbar. Allerdings bleibt stets zu untersuchen, genau welchen Gebrauch einzelne Autoren von teleologischen Argumenten machen; hier freilich können methodologische Unstimmigkeiten auftreten. Eine Analyse des sog. Gassendischen „Finalismus" hat also im einzelnen Stellenwert, Zweck und Form teleologischer Argumentationen innerhalb seiner Physik zu berücksichtigen. Ausführlich äußert sich Gassendi zu den Finalursachen erst in der Disquisitio Metaphysica und im Syntagma Philosophicum. Aber sein Brief an van Helmont aus dem Jahre 1629 zeigt, daß er den Wert finalistischer Erklärungen schon sehr früh anerkannte21. In diesem Brief versucht Gassendi seine vegetarische Einstellung zu rechtfertigen, unter anderem mit dem Argument, die Verwertung fleischlicher Nahrung entspreche nicht der Struktur und Funktion der menschlichen Zähne. Die dabei verwendete finalistische Erklärungsform wird bei dieser Gelegenheit ausdrücklich gewürdigt und sogar als sicherste Möglichkeit bezeichnet, in der Physik zu annehmbaren Hypothesen zu kommen. Gassendis Formulierung macht darüber hinaus zwei wichtige Voraussetzungen dieser Auffassung deutlich: erstens, daß man annehmen kann, Gott habe aufgrund seiner unendlichen Weisheit alle geschaffenen Gegenstände mit spezifischen Zwecken versehen, und zweitens, daß gerade angesichts der begrenzten menschlischen Erkenntnismöglichkeit teleologische Erklärungsversuche angebracht sind 22 . Die Anerkennung teleologischer Erklä20 21 22
III 361b 1. Der Brief ist datiert vom 6. 7. 1629 (vgl. VI 1 9 b 2 - 2 4 a l ) . Vgl. VI 20b 1: Attamen vero non adeo sum solers, ut pervideam quare non liceat ex conformatione partium corporis humani coniecturas desumere ad functiones mere naturales, qualis est comestio. Deus certe naturae autor in eo maxime declaravit immensam quandam sapientiam, quod res omnes finibus suis sie accommodaverit, ut neque frustra quidquam factum sit neque nobis hommuncionibus tutius umquam argumentari in rebus Physicis liceat quam dum arguimus causam finalem. Anschließend werden Galens Bücher De usu partium sehr positiv bewertet, während die Auffassung
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rungen ist also von Anfang an verbunden mit agnostischen oder zumindest sekptischen Bemerkungen einerseits und dem Hinweis auf die Weisheit Gottes andererseits. Diese beiden Motive sind auch in Gassendis Auseinandersetzung mit der Auffassung von Descartes, daß die Suche nach und die Angabe von finalen Ursachen nicht Aufgabe der Physik sei und daß im übrigen finale Ursachen ohnehin wissenschaftlich nicht erkennbar seien, wirksam 23 ; sie werden nun jedoch präziser dargestellt. Gassendi stellt klar, daß zwar nicht alle, aber doch einige Finalursachen durchaus erkennbar sind, und daß ihre Erforschung in all jenen Gebieten ihre Berechtigung hat, in denen die Angabe kausaler (mechanistischer) Ursachen vorläufig unmöglich ist 24 . Ferner behauptet er, daß nur die Finalursachen die Weisheit und Voraussicht Gottes sichtbar werden lassen25. Einerseits also wird die Angabe von Finalursachen der Erkenntnis von Kausalursachen untergeordnet, nämlich hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Erklärungskraft, und ist insofern mit der Unvollkommenheit menschlichen Wissens untrennbar verbunden;
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Epikurs und anderer Philosophen, daß die Glieder der Tiere durch Zufall entstanden seien, kritisiert und als unvereinbar mit der empirischen Beobachtung der Funktion dieser Glieder erklärt wird. Vgl. Disquisitio Metaphysica, In Meditationem Quartam Dubitatio Prima, Responsio (Renati Cartesii), Instantia I - I V , III 3 5 8 a 2 - 3 6 2 b l . Nam verum est quidem esse aliquos fines Dei nobis penitus incompertos inque imperscrutabili sapientiae eius abysso reconditos . . . At verum perinde non est non fecisse Deum aliquos in propatulo, ut innumeri illi sunt, quos vel in uno hominis corpore attendere licet (III 361a2f. und die anschließenden Beispiele III 361b). Dices Physicas esse causas huiusmodi formae ac situs, quae investigari debeant ineptosque esse, qui ad finem potius quam ad agens aut materiam recurrant. Sed cum nemo mortalium possit intelligere necdum explicare, quod agens formet collocetque eo quo observamus modo valvulas illas, quae ad vasorum orificia in sinibus cordis constitutae sunt, cuius conditionis aut unde mutuetur materiam, ex qua illas elaborat, quomodo sese ad agendum applicet, quibus utatur organis aut quomodo illa usurpet, quid opus illi, ut eo temperie, consistentia, cohaerentia, flexilitate, magnitudine, figura, situ illas perficiat: cum, inquam, nemo Physicorum haec et alia perspicere declarareque valeat, quid est, cur non saltern miretur praestantissimum illum usum et ineffabilem providentiam, quae tarn apposite ad illum tales valvulas concinnavit? (III 358 b 2f.). Quod autem a Physica consideratione reiicis usum causarum finalium, alia fortassis occasione potuisses recte facere; at de Deo cum agitur, verendum profecto, ne praecipuum argumentum reiicias, quo divina sapientia, Providentia, potentia atque adeo existentia lumine naturae stabiliri potest (III 358b2). Ex quo proinde sequitur, non in Ethicis modo esse pium, ut ais, considerare quem finem coniicere possimus Deum sibi in regendo universo proposuisse, sed in Physicis quoque esse non ineptum, imo prorsus aptum ac laudabile id considerare, quatenus prorsus necesse est, si velimus quidem agnoscere regi a Deo universum, et quod praeterea requiritur, esse Deum causam universi (III 361 a). Es ist wichtig zu beachten, daß hier die teleologischen Erklärungen nicht in sich als notwendig oder förderlich dargestellt werden, sondern allein hinsichtlich der Möglichkeit, auf die Weisheit und andere Eigenschaften Gottes zu schließen.
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andererseits hat sie einen höheren Stellenwert, weil sie allein den Schluß auf einen weisen und allmächtigen Schöpfer zuläßt. Darüber hinaus wird dieser Schluß sogar als vorläufig befriedigender Ersatz für fehlendes kausales Wissen dargestellt. Weil Gassendi die menschliche Erkenntnissituation nicht mehr probabilistisch, sondern agnostisch beurteilt 26 , glaubt er die Suche nach Finalursachen rechtfertigen zu können; gleichzeitig führt dieser Ansatz jedoch dazu, daß das Ziel teleologischer Erklärungen vornehmlich im Erreichen einer nicht-physikalischen Einsicht gesehen wird. Diese Einstellung birgt offenbar die Gefahr in sich, daß man sich vorschnell auf die agnostische Position zurückzieht, wenn Probleme zunächst wissenschaftlich nicht lösbar zu sein scheinen, und damit die Motivation zu weiterer Forschung schwächt. Im Syntagma Philosophicum läßt sich keine Veränderung des Standpunktes erkennen. Die Berechtigung teleologischer Argumentation wird durch die Behauptung unterstrichen, daß in vielen Bereichen der Natur zielgerichtetes Verhalten beobachtbar ist 27 . Auch hier verbindet Gassendi agnostische Äußerungen mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, aus dem zielgerichteten Verhalten vieler natürlicher Dinge auf Gottes Weisheit zu schließen 28 . Deutlicher als in der Disquisitio Metaphysica kommt aber die 26
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Im vierten Abschnitt der Instantia kommt der agnostische Standpunkt besonders deutlich zum Vorschein. Gassendi weist hier darauf hin, daß die speziellen causae secundae fast niemals erkennbar sind: Quaestio est, an noris causam secundam et particularem, quae valvulas formet, collocet etc.; hanc scilicet nosse est operae pretium . . . Sed iterum vide, amabo, ne cum inter causas secundas aliae generales sint ac remotae, aliae singulares et propinquae, illas pro istis accipias, cum non illae tarnen, sed istae quaerantur. Etenim, cum nulla sit philosophantium secta, quae excogitatis rerum principiis non adnitatur omnia naturae effecta ex ipsis deducere, nulla est, quae non generales remotasque causas edisserat; sed cum singulares et propinquae poscuntur, quales nosse operae pretium est, nulla est, quae non obmutescat aut ineptissime garriat . . . Sic vero non diffiteor quidem, quin tu pro tua solertia verisimiliora, specialiora, propinquiora quaedam possis dicere, at ea dicere, ex quibus difficultates propositas in aperto statuas et non ipsas potius intra caliginem insuperabilem relinquas, hoc est, quod imbecillitatis humanae conscientia persuaderi non sinit. Et dicito in Physicis debere niti omnia firmissimis rationibus, addendum tarnen quatenus et quousque homini licet. Nam circa generalia quidem nemo non Geometrico progreditur more. At cum speciatim dicendum est, quae materia, quis motus, quod agens, quae caetera, nemo non prolabitur balbutitque infantium ritu (III 362 a 2 — b l ) . An diesem Text ist vor allem bemerkenswert, daß Gassendis Aussagen sich ganz allgemein auf die wissenschaftliche Erkenntnis der causae secundae beziehen, also nicht wie sonst zuweilen auf den organischen Bereich spezialisiert sind. Interim vero observari heic potest nullum esse videri naturale agens, quod non exemplari aliquo intra se defixo ducatur (I 285b 1). Idem porro est de fine dicendum. Nempe unumquodque naturale agens ad certum scopum ita contendit, ut ilium semper assequatur aut, si quid, quod obstet, intervenerit, assequi saltem quam proxime potest (I 285 b 2). Vgl. ζ . Β. I 284 a2 und den Fragenkatalog I 284b 2 f. zum Agnostizismus. Die wissenschaftliche Unterordnung der teleologischen unter die kausalen Erklärungen wird eben-
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Struktur der teleologischen Erklärungen, wie Gassendi sie im Auge hat, zum Ausdruck. Als erklärungsbedürftig gilt nämlich nicht das zielgerichtete Verhalten der Gegenstände selbst, sondern die Wohlordnung und Harmonie ihrer Funktionen im Gesamtzusammenhang des Universums. Die Funktionen sollen nicht erklärt, sondern nur beschrieben und ästhetisch interpretiert werden; erst die aus funktionaler Beschreibung und Interpretation resultierenden Behauptungen über die Zweckmäßigkeit und Schönheit des Naturgeschehens im ganzen bedürfen nach Gassendis Uberzeugung einer Erklärung, in der natürlich der Hinweis auf Gott als der prima et generalissima causa als Explanans fungiert 29 . Das bedeutet aber, daß die Form der teleologischen Erklärung verändert wird: die Darstellung des „normalen" oder „angemessenen" Funktionierens eines Systems bildet in gewöhnlichen teleologischen Erklärungen nämlich einen Teil des Explanans, bei Gassendi jedöch das Explanandum. Einerseits entfällt damit die Verpflichtung, wissenschaftlich zu argumentieren, d. h. überprüfbare Gesetze und andere Prämissen innerhalb der teleologischen Argumentation heranzuziehen; andererseits erfordert die Gassendische Teleologie die Interpretation des gegebenen zielgerichteten Verhaltens als eine Art zielintendier^en Handelns: Gott hat in seiner unendlichen Weisheit allen geschaffenen Dingen eine Art von Intelligenz eingepflanzt, aufgrund deren sie sich zielgerichtet verhalten. Es ist daher nicht überraschend, daß Gassendi gerade im Syntagma Philosophicum dem Animismus sehr nahe kommt, auch wenn er den Bezug auf „animae" im Erklärungskontext ablehnt 30 .
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falls formuliert: . . . utque tametsi pervidere aut texturam materiae aut actionem causae opis nostrae non sit, adscribendum tarnen foelicitati sit, quod fines saltern investigare et reperire concedatur (I 286a 1). Zum Erschließen der Herrlichkeit Gottes vgl. I 286a. Vgl. ζ. Β. I 286a 1: . . . explica ergo, quomodo ilia opera sua adeo exquisite perficiant, adeo constanter finibus certis singulas partes accommodent? . . . Instabis Deum potius esse, qui et proponat sibi fines et ad illos accommodet dirigatque res naturales, eaque ratione opus naturae esse opus intelligentiae. Verum id quidem est, quod contendo, omnem nempe talem industriam sapientiamque Deum habere autorem. Eine sehr schöne Zusammenfassung der Gassendischen Auffassung bietet der Text in II 231b 1, wo ebenfalls die Notwendigkeit teleologischer Erklärungen angesichts der condition humaine betont und als ihr Ziel die Erkenntnis einer intelligenten prima causa angegeben wird. Vgl. ζ. Β. I 285b2: Melius sane philosophi ex quibus derivatum est, quod dicitur opus naturae esse opus intelligentiae, quod factura fuit. Ad instinctum haec referunt, verumtamen ille instinctus, quo animalia agi dicuntur, aut intelligentia est mera aut, si nihil est aliud quam caecus quidam impetus, difficultas semper eadem remanet, quomodo causa aliqua caeca operisque sui non intelligens opus suum ita elaboret, ut perspicacissima et intelligentissima elaborare non possit melius. Diese Intelligenz ist freilich weder menschlich noch Menschen begreiflich: Respondebis, quia huiusmodi res sunt cognitionis incapaces; sed humanae videlicet cognitionis sunt incapaces, unde et humana non moliuntur opera, non sunt vero propriae (sc. cognitionis incapaces), et qua opera peragant, quae
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Insgesamt dürfte klar geworden sein, daß die Wendung vom ProbabiIismus zum Agnostizismus, die sich in Gassendis Physik zuweilen findet, nicht nur die Berücksichtigung von Glaubenssätzen, sondern auch die Verwendung teleologischer Argumente erlaubt. Allerdings verwandeln die agnostischen Voraussetzungen Charakter und Form teleologischer Erklärungen : sie dienen nicht mehr primär der Erkenntnis der Natur, sondern der Einsicht in die Herrlichkeit Gottes, und dies unter Konzessionen an animistische Ansätze. Diese spezifische Form teleologischer Argumentation, die im 17. Jahrhundert nicht nur sehr verbreitet war, sondern auch eine lange Tradition hatte 31 , gestattete Gassendi offenbar die Rehabilitation der natürlichen Theologie, zumindest in bezug auf den teleologischen Gottesbeweis. In den Exercitationes sollte nach dem Plan der Vorrede jedes auf natürlicher Vernunft beruhende Argument über Gott und andere „getrennte" Substanzen als nichtig erwiesen werden 32 . Im veröffentlichten zweiten Buch bezeichnet Gassendi Gott als Substanz und bemerkt gleichzeitig, daß eine sichere Wissenschaft von Substanzen nicht erreichbar ist 33 . Aber ob
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homo nec norit nec possit moliri (I 286a2). Vgl. dazu die bekannte „Animismus"-Stelle in I 336a2. Es würde im Rahmen dieser Untersuchung zu weit führen, die Geschichte teleologischer Argumente und Gottesbeweise darzustellen. Uber Verbreitung und Form christlicher (speziell theologischer) Apologetik zugunsten der Existenz Gottes und gegen den Atheismus informiert ausführlich H.-M. Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971 (zum teleologischen Gottesbeweis ibid. Teil B, Kap. III („Theologie der Physik"), S. 251—279. Barth unterscheidet, wohl mit Recht, zwischen natürlicher Theologie im allgemeinen, die nur undifferenziert auf Gottes Werke hinweist, und einer „Physikotheologie" im besonderen, die sich der Erkenntnisse der Physik bedient und so auf spezielle Organisationen einzelner Gegenstände oder Gegenstandsbereiche hinweisen kann, um auf Gottes Existenz zu schließen. Nach Barths Untersuchungen entsteht die Physikotheologie erst im 16. Jahrhundert und erreicht gegen Ende des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Mersenne erfährt als Physikotheologe eine besondere Behandlung; aber ohne Zweifel sind auch Gassendis teleologische Argumente überwiegend physikotheologisch. Zur Situation speziell in Frankreich zu Lebzeiten Gassendis vgl. ferner H. Busson, La pensee religieuse francaise de Charron ä Pascal, Paris 1933. Deinde vero Fidei Orthodoxae asseritur quaecumque cognitio habetur de Intelligentiis deque Deo ter-maximo, dum nimirum ostenditur quam vana sint argumenta, quibus philosophari solent de substantiis illis separatis ex naturali lumine (III 102). Hier wird natürlich die scharfe Trennung von Wissen und Glauben vorausgesetzt (vgl. dazu Anm. 2 dieses Kapitels). Vgl. III 168b —171b. Bloch glaubt an diesem Text nächweisen zu können, daß Gassendi gleichzeitig die Möglichkeit eines menschlichen Wissens von Gott sichtbar werden läßt, das versucht, das Unendliche unvollkommen in endliche Kategorien zu fassen (La philosophie de Gassendi, a. a. O. S. 415f.). Damit wäre die Differenz zu späteren Werken gemildert.
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Gassendi selbst seine Einstellung zur natürlichen Theologie so radikal geändert hat, wie dies gemeinhin behauptet wird, geht aus den Bemerkungen der Exercitationes nicht mit Sicherheit hervor. Wir wissen, daß er bereits 1629 teleologische Argumente anerkannte, und ob seine Kritik in den Exercitationes jene spezifische Form des teleologischen Gottesbeweises trifft, die er zumindest seit den vierziger Jahren vertrat (nämlich den Schluß auf die Existenz, nicht aber auf die Attribute Gottes aus der Zweckmäßigkeit des Naturgeschehens), ist keineswegs ausgemacht. Auffällig ist schließlich auch, daß zwischen den Darstellungen in der Disquisitio Metaphysica, die noch als „antimetaphysisches" Werk gilt, und im Syntagma Philosophicum keine wesentlichen Unterschiede erkennbar sind. Insofern Gassendis teleologische Argumentationen auf agnostischen Voraussetzungen beruhen, ihrerseits aber einen teleologischen Gottesbeweis ermöglichen, ist die methodologische Wende vom Probabilismus zum Agnostizismus letztlich auch für die Aufnahme dieses Teils der natürlichen Theologie in die Physik durch Gassendi mitverantwortlich. Aber darüber hinaus versucht Gassendi diese Aufnahme dadurch zu erleichtern, daß er den teleologischen Gottesbeweis in seine Methodologie der Wissenschaft einbettet. Unter welchen Bedingungen dieser Versuch möglich wird, gilt es nunmehr noch zu untersuchen. Die Disquisitio Metaphysica ist unter anderem deshalb als „antimetaphysisches Werk" bezeichnet worden, weil sie eine heftige und ausgedehnte Polemik gegen den cartesischen Gottesbeweis in der dritten der Meditationes de prima philosophia enthält. In der Tat besteht der Hauptteil des langen Gassendischen Kommentars in einer detaillierten Kritik jedes einzelnen Argumentationsschrittes sowohl der dritten Meditation selbst als auch, in der instantia, der Entgegnung Descartes' auf die dubitationes Gassendis34. Aber diese Tatsache darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch Gassendi selbst wiederholt eine klare und bestimmte Auffassung von derjenigen Gotteserkenntnis vertritt, die für Menschen erreichbar ist. Es gibt seiner Meinung nach zwei verschiedene Wege, die zu Aussagen über die Existenz und die Attribute Gottes führen: die Kenntnisnahme der Berichte von Eltern, Erziehern, aus Büchern, also der auf Offenbarung beruhenden Tradition, was später durch die epikureische Formel „ex anticipatione" (έκ προλήψεως) bezeichnet wird, und die Folgerung aus der Zweckmäßigkeit der Natur, die bereits in der Disqui-
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Vgl. III 314b—358a.
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sitio „via regia" genannt wird 3 5 . Diese Darstellung entspricht formal der Trennung von Glauben und Wissen: der erste Weg beruht auf einem Glaubensakt, der zweite auf natürlicher Vernunft. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Gassendi bereits in der Disquisitio der Annahme zuneigt, daß auf beiden Wegen letztlich nur die Existenz Gottes gesichert werden kann. Der teleologische Beweis führt ohnehin nur bis zur Einsicht in die Existenz einer ersten intelligenten Ursache; in den Glaubenssätzen werden Gott zwar Attribute zugesprochen, aber Gassendi hält sie für anthropomorphe Eigenschaften, also für ideale Hypostasierungen von positiv bewerteten menschlichen Eigenschaften 36 . Entscheidend auch in der Polemik gegenüber Descartes ist aber die methodologische Begründung, die Gassendi für seine Behauptungen über die Erkenntnismöglichkeit Gottes zu liefern versucht. Immer wieder weist er darauf hin, daß die Idee Gottes nicht eingeboren ist, sondern von außen an das menschliche Erkenntnisvermögen herangetragen wird, und zwar unter Vermittlung von sinnlichen Daten. Das gilt sowohl für den fideistischen als auch für den rationalistischen W e g : die orthodoxen Glaubenssätze werden durch das Gehör wahrgenommen, die Zweckmäßigkeit der Natur läßt sich nur mit Hilfe des Sehvermögens erkennen 37 . Wie immer man diese recht groben 35
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Vgl. z . B . III 3 3 9 a 2 : Quo eodem modo, cum decimo dicis „tantam (sc. Deum esse realitatem objectivam), ut non potuerit a te proficisci", id admitteretur quidem, si eiusmodi esse ideam intelligeres, ut sine parentibus, praeceptoribus, sacerdotibus, ceteris hominibus, quibuscum conversatus es, et a quibus saepe audiisti appellari Deum infinitum, aetemum, omnipotentem, creatorem caeli et terrae, eam in te habere non potueris; aut si fingas te talem fuisse, qualis fingi ab Ethnicis primos homines vidimus, habere eandam non potueris sine exsistentia et conversionibus siderum, sine ornatu, ordine perfectioneque universi et partium ipsius; at quia „tantam" intelligis, ut ne hoc quidem modo seu externis rebus menti tuae praeludentibus, non potuerit ex te proficisci, idcirco non admittitur. Zum anticipatio-Weg ferner III 323 b, 326 a 2 f., 335 b 2, zum teleologischen Argument III 327a2, 3 2 9 b 2 , 3 3 7 b 2 . Vgl. ζ. B. III 323 b 2 : Deinde cum maximae quaeque perfectiones soleant Deo attribui, videntur eae omnes desumptae ex rebus, quas vulgo miramur in nobis . . . Ebenso III 335b 2 f . Vgl. ζ. B. III 3 2 8 a 2 : Sed cum non negem ideam Dei in nobis, seu ex auditu seu ex contemplatione sit, ut iam dictum est, . . . dico tarnen non esse necessarium recurrere ad ideam Dei ut ingenitam. Oder zum anticipatio-Weg: Nam si idea Dei est accepta a Deo relevante, . . . id quidem arguit Deum esse, sed arguit tarnen simul ideam non innatam, ut tu contendis, sed relevatione habitam et infusam (III 3 2 6 a 2 f . ) ; und zum teleologischen Argument: Quippe vides tibi responderi posse neque illos (sc. primos homines) habuisse a seipsis (sc. ideam Dei) neque etiam nos habere a nobis, sed et illos potuisse et nos posse habere pari argumento, hoc est ex inspectione solis ordinisque universi, in quem nos Deus respicere voluit, dum iussit nos attendere non ad ideam ingenitam, sed ad exercitum caelorum, ad arcum caelestem, ad opera caetera, ex quorum contemplatione agnoscamus et benedicamus ilium, qui ipsa creavit (III 327a2). Die methodologische Vorstellung, die diese Einwände gegen Descartes leitet, wird jedoch zu Beginn auch direkt formuliert,
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Argumente beurteilen mag, wichtig bleibt, daß Gassendi im Gegensatz zu Descartes der Auffassung ist, daß die Einsicht in die Existenz Gottes grundsätzlich nur von sinnlich wahrnehmbaren Daten aus zu gewinnen ist. Dieser Standpunkt wird im Syntagma Philosophicum schließlich dadurch präzisiert, daß er in die Methodologie der Erkenntnis (von Natur aus) verborgener Gegenstände eingebettet wird. Die beiden in der Disquisitio genannten Wege zur Gotteserkenntnis bleiben auch im Syntagma in Geltung, wobei nochmals unmißverständlich der anticipatio-Weg als Glaubensakt, der contemplatio-Weg als Vernunftschluß gekennzeichnet wird 3 8 . In unserem Zusammenhang ist daher vor allem der teleologische Gottesbeweis interessant; aber es ist wichtig, zuvor darauf hinzuweisen, daß Gassendi im Syntagma deutlicher noch als in der Disquisitio betont, daß auch durch Anticipatio mit Sicherheit nur die Existenz, nicht die Attribute Gottes erschlossen werden können 39 . Denn gerade auf dieser Tatsache beruht, wie wir sehen werden, Gassendis methodologische Beschreibung der Gotteserkenntnis 40 . Auch der teleologische Gottesbeweis, im Syntagma untermauert durch eine ausführliche Beschreibung der Zweckmäßigkeit und Harmonie im Naturgeschehen 41 , zielt, wie bereits angedeutet, primär auf den Nachweis der Existenz Gottes, wenn er natürlich auch unmittelbar die Schöpfer-
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z. B. III 318a 1: Porro . . . adnotare placet videri omnes ideas esse adventitias procedereve a rebus extra ipsam mentem existentibus et cadentibus in aliquem sensum. Vgl. ζ. Β. I 2 9 0 a 2 : Ad rationes ut accedamus, quibus demonstratur Dei existentia, non est, cur omnes consectemur, quarum sunt plena volumina; duas, quas proposui, attingere sufficiet, cum et cetera ad eas possint non incommode revocari. Et prior quidem ex anticipatione generali deducitur, posterior ex rerum naturae tantique effectus, quantus mundus est, accurata contemplatione. Ferner I 2 9 3 a 2 : Habes exinde duplicem ipsamque generalem viam, qua ad cognitionem Dei pervenitur. Altera dici potest fides, altera vero ratio, . . . quod in priore id, quod nos proprie ad assensionem inducit, sola dicentis autoritas sit, in posteriore sola ratio. Gassendi beschreibt nicht direkt die Attribute Gottes, sondern berichtet ausdrücklich nur über die Art und Weise, wie die Menschen sich Gottes Eigenschaften vorgestellt haben (I 295 a 2). Sicherheit über Gottes Existenz und unvollkommene Kenntnis seiner Attribute werden als vereinbar erklärt: . . . ut mirum non fiat posse existentiae Dei certitudinem cum ignoratione naturae formaeve illius constare. Heine non quaerimus, qua forma sit Deus, sed qua forma apprehendatur, quoties de ipso loquimur (I 295b 1). Entsprechend wird die negative Theologie gebilligt (I 296a 1). Dieser Zusammenhang wird in I 300b 2 f . bereits angedeutet: Unde est quidem imperfectio in ipsa antieipatione, quod ad naturam attinet, non vero quod ad existentiam, quoniam ad intelligendum qualis sit (sc. Deus) natura imbecilles sumus nostraque imbecillitas eo nos adigit, ut humano modo et humanum quid concipiamus; ad intelligendum vero existentiam sumus magis idonei, quatenus effectum nosse sufficit, ut exsistere causam certi simus. Vgl. I 315äff.
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tätigkeit und Weisheit Gottes impliziert42. Im Syntagma erfährt er eine besonders hohe Bewertung. Denn als Ziel der Schöpfung des Universums insgesamt bestimmt Gassendi im Anschluß an die Tradition das Lob Gottes durch die Menschen 43 ; damit erfüllt jedoch gerade der teleologische Gottesbeweis das allgemeine Ziel der Schöpfung, kann also in diesem Sinne als höchstes Raisonnement angesehen werden, das Menschen erreichbar ist. Bemerkenswert ist aber vor allem, daß dieser Gottesbeweis nicht nur in der Physik des Syntagma anerkannt und benutzt wird, sondern auch in der Logik, also in Gassendis Wissenschaftsmethodologie, seine Berücksichtigung findet. Hier behandelt Gassendi ihn als Beispiel eines Schlusses von einem sinnlich wahrnehmbaren Zeichen (signum) auf einen verborgenen (nicht wahrnehmbaren) Gegenstand, und zwar gleichberechtigt neben genuin physikalischen Beispielen wie ζ. B. dem Schluß auf Magnetatome 44 . Diese Darstellung wird eingeleitet durch ein Referat skeptischer Thesen, insbesondere der Behauptung, daß nur Wahrnehmungsaussagen und die Hypothese über die Existenz hinter den Erscheinungen liegender Entitäten zuzulassen sind 45 . Damit werden offenbar die agnostischen Voraussetzungen klargestellt. Folgerichtig ist dann nach Gassendis Auffassung auch in bezug auf Seele und Gott von sinnlich gegebenen Data aus nur ein Existenzbeweis methodologisch akzeptabel46. Nun kann es zwar 42 43
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Vgl. ζ. Β. I 311a2 (Anfangssatz des Kapitels 5). Nunc circa finem, ad quem Deus mundum condens respexerit, non est, cur dubitetur Deum sui causa fecisse mundum . . . Finis, inquam, non utilitatis, quasi, ut melius degeret, re quapiam indiguerit, sed gloriae, qua ut carere potuit, ita cur careret, non fuit . . . Quare et cetera produxit et specialiter homines, non ex quibus emolumenti consequeretur aliquid, sed quibus munera, largitus, immensam liberalitatem et magnificentiam faceret perspectam (I 318 a 2). Vgl. I 80a2—83b2. Ideo utramque veritatem circa id quod apparet relinquunt (sc. Sceptici), prout et apparentiam exsistere non dubitant (imo et exsistere rem quampiam sub apparentia non ambiguunt, sed solum qualis ea sit minime sciri argumentantur) et vere enunciari iudicarique talem apparentiam exhiberi non controvertunt (I 80b 1). Afferimus autem animae exemplum, tum quia Vitalis actio proponitur etiam ab Empirico tanquam signum indicatorium, tum quia, tametsi non tarn ad naturam quam ad existentiam animae pertineat, ipsius tarnen instar veritas existentiae, quam plerumque nosse operae pretium sit, declaretur. Cum enim inter cetera quaeri videas, an Deus sit exstetve in rerum natura, veritas existentiae est, quam comprobare multum sit, tametsi non simul quid sit qualive natura Deus demonstretur. Cum sit porro eiusmodi Deus, ut cadere in sensum magis quam anima non possit, ut tarnen esse animam in corpore colligimus ex actionibus, quae in sensum cadunt, ac ita eius propriis, ut, si ipsa non adesset, non forent, sic esse in rerum natura Deum ex iis eius effectibus sensu pereeptis dedueimus, qui esse ab alio quam a Deo non possint quique pfoinde, nisi Deus in mundo adesset, non observarentur, cuiusmodi est tantus universi ordo, tantus decor, tanta
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heuristischen Wert haben, anhand empirischen Materials Existenzbehauptungen über nicht wahrnehmbare Entitäten zu machen, aber wenn nicht Aussagen über deren Eigenschaften hinzukommen, können umgekehrt keine Folgerungen aus ihnen gezogen werden, die empirische Relevanz haben, wie es bei guten physikalischen Hypothesen auch nach Gassendis eigener Meinung der Fall sein sollte. Daraus folgt, daß die Einbeziehung des teleologischen Gottesbeweises in die Methodologie der Physik nur durch deren Abschwächung erreicht werden kann: nur die einseitige Kennzeichnung der physikalischen Wissenschaftsmethode als eines Folgerns theoretischer Hypothesen aus empirischem Material unter Vernachlässigung des wichtigeren umgekehrten Weges läßt den teleologischen Gottesbeweis als ein Verfahren erscheinen, das der physikalischen Argumentation grundsätzlich gleichwertig ist. Kehren wir nun zu unserer Ausgangsfrage zurück, warum Gassendi Glaubenssätze, bestimmte teleologische Erklärungen und Argumente aus der natürlichen Theologie innerhalb seiner Physik berücksichtigt hat, so kann abschließend festgestellt werden, daß die entsprechenden Abschnitte seiner Physik von einer veränderten methodologischen Haltung begleitet sind: der Übergang vom Probabilismus zum Agnostizismus und die einseitige empiristische Interpretation der physikalischen Methode ermöglicht ihm die Behandlung nicht speziell physikalischer Probleme. Dieses Ergebnis erklärt sein Vorgehen natürlich nicht, denn die Abänderung seiner methodologischen Haltung kann keineswegs als Ursache dieses Vorgehens angesehen werden; dafür mögen andere Umstände verantwortlich sein, etwa daß traditionell derartige Probleme innerhalb der Physik behandelt wurden, oder daß es für einen Mechanisten und Atomisten im 17. Jahrhundert strategisch wichtig war, diese Probleme in die Physik einzubeziehen, oder schließlich daß es eines seiner persönlichen Grundanliegen war, den Glauben vor der Gefährdung durch Wissenschaft zu bewahren, ohne doch offensichtlich oder bewußt die Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens aufzugeben. Aber unsere Untersuchung macht Gassendis Versuch theoretisch verständlich, weil sie einige der Mittel beleuchtet, die er zur Realisierung eines Kompromisses benutzt hat — Mittel freilich, die vom streng methodologischen Standpunkt aus kaum gebilligt werden könnten. Vom sachlichen Gesichtspunkt aus braucht sein Versuch jedoch nicht, wie es häufig geschehen ist, als letztlich irrational
amplitudo, tanta constantia, ut nisi a sapientissima, optima, potentissima, inexhaustissima causa esse valeat (I 82 b 2).
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angesehen zu werden, zumal die methodologischen Inkonsistenzen manchem Leser entgehen können und entgangen sind. Gassendis Abschwächung seiner Methodologie in den Grenzgebieten zwischen Physik und Theologie hängt vermutlich auch mit den Elementen eines kontemplativen Wissenschaftsideals zusammen, die er zuweilen erkennen läßt. Auch wenn er die Möglichkeit einer technischen Anwendung der Erkenntnis der causae secundae nicht verkennt 47 , die Aufgabe der Physik, die Suche nach Wahrheit, wird als Betrachtung der Natur beschrieben und erreicht objektiv in der Einsicht in die übermenschliche Herkunft der Natur und subjektiv in der Bescheidenheit und Demut gegenüber Gott ihren Höhepunkt 48 . In diesem Rahmen ist der teleologische Gottesbeweis nicht nur äußerlich mit der Physik verbunden; das höchste Glück des Wissenschaftlers entsteht schließlich nicht aus dem Nutzen, den die Menschen von seiner Wissenschaft haben, sondern durch sein eigenes subjektives Vergnügen, das er beim Betreiben seiner Wissenschaft empfindet — ein ästhetisches Vergnügen, insofern es mit dem Wohlgefallen an der Herrlichkeit der Natur nahezu identisch ist 4 9 . Visionen von der Anwendung und technischen Nutzung der Naturwissenschaft sind zwar bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts sowohl von bedeutenden Autoren aus dem Bereich von Philosophie und Wissenschaft, wie Bacon, Descartes, Boyle und Wilkins, als auch in bekannten Staatsromanen, wie der Utopia des Thomas Morus, dem Sonnenstaat des Tommaso Campanella und dem Atlantis-Fragment Bacons, immer wieder explizit formuliert worden; nichtsdestoweniger ist aber der Einfluß der 47 48
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Vgl. I 126 a 2 . Vgl. die Definition der Physica als scientia naturae rerum contemplatrix; ferner die Verbindung dieser Wissenschaft mit der Einsicht in die Herkunft der Natur: Scientia yero omnis est contemplativa, ut Physica, quae mundum et quae in eo sunt contemplatur, non quod ista artis divinae seu naturae opera non sint, sed quod ipsius contemplantis opera esse minime possint ac liceat solum, qua ratione a Deo aut natura fiant fuerintve facta, speculari (I 123 b 1); zur Erzeugung von modestia vgl. den zustimmend zitierten Cicerotext in I 1 2 9 a 2 . Sed hoc ut praeteream, dicendum quidpiam videretur de incredibili illa voluptate, qua afficitur animus ex tarn magnis, tarn praeclaris spectaculis (I 129 b 2). Im März 1641 schreibt Gassendi an Ludwig von Valois: Maximi aestimo animi quietem et libera studia. Nullo certe cum auro commutatum velim, quam voluptatem iam percipio, dum quidpiam palatissime lego, meditor, comminiscor (VI 105 a). Vgl. ferner die Bemerkung im Liber Prooemialis des Syntagma Philosophicum: Ceteris dimissis id, quod postremo Cicero dicit effecisse philosophiam, ut omnia supera, infera, prima, ultima, media videremus, oblectationem indicat, qua fruuntur ii, qui philosophiae incumbentes non modo rerum humanarum historiam . . . , sed etiam ac praecipue rerum divinarum, caelestium, terrestrium totiusque adeo naturae, quantum quidem humanae menti datur assequi, cognitionem habent (I 5 b 2).
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Naturphilosophie und Naturwissenschaft auf die technische und industrielle Entwicklung noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bemerkenswert gering geblieben, und zumindest während des 17. Jahrhunderts waren die wichtigsten und fundamentalsten Theorien der Physik technisch noch nicht umsetzbar 50 . Dies bedeutet freilich keineswegs, daß auch umgekehrt die technische und ökonomische Entwicklung in Westeuropa seit dem 14. Jahrhundert nicht auf die reine Naturwissenschaft eingewirkt haben könnte; im Gegenteil: zumindest die Relevanz bestimmter Problemstellungen und die Selektion der wichtigsten Forschungsbereiche der Physik dürfte in der frühen Neuzeit in hohem Maße von technischen Erfordernissen bestimmt worden sein. Denn zur Entwicklung des Verkehrswesens, der Bergbauindustrie und der militärischen Ausrüstung waren vor allem physikalische Probleme der Hebegeräte, der Ballistik, der Übersetzungsmaschinen, der Kanalisation und der Navigation auf See zu lösen, und diesen Aufgaben entsprechen die vier wichtigsten Forschungsbereiche der frühneuzeitlichen Physik mit bemerkenswerter Eindeutigkeit: die Statik einschließlich der Analyse einfacher Maschinen und des Verhaltens von Körpern auf schiefen Ebenen, die Theorie des freien Falles und der Wurfbahn, die Hydrostatik und Aerostatik mit der Theorie des Luftdrucks, und die Himmelsmechanik mitsamt der Gezeitentheorie51. Zweifellos ist auch die Gassendische Physik in diese Fragestellung eingebunden ; zugleich erscheint aber der kontemplative Aspekt seines Wissenschaftsbildes als verständliche und realistische Reaktion auf die mangelnde 50
Zur Technikgeschichte allgemein vgl. M. Daumas (Hrg.): Histoire Generale des Techniques, 3 Bd., Paris 1962—68; M. Kranzberg, C. Pursell (Hrg.): Technology in Western Civilization, 2 Bd., N e w York 1967; K . H a u s e n , R. Rurup (Hrg.): Moderne Technikgeschichte, Köln 1976; W. Rammert: Technik, Technologie und technische Intelligenz in Geschichte und Gesellschaft, Bielefeld 1975. Speziell zur Frage der technischen Umsetzbarkeit der frühneuzeitlichen Physik vgl. R. Hall: Scientific Method and the Progress of Techniques (I—III), in: E . E . R i c h , C . H . W i l s o n (Hrg.): The Cambridge Economic History of Europe, Vol. IV, Cambridge 1967, S. 96—117; ders.: Science, Technology and Utopia in the Seventeenth Century, in: P. Mathias (Hrg.): Science and Society 1 6 0 0 - 1 9 0 0 , Cambridge 1972, S. 3 3 - 5 3 ; P. Mathias: Who unbound Prometheus? Science and technical change, ibid. S. 54—80.
51
Vgl. dazu den auch heute noch instruktiven Aufsatz von B. Hessen: Die sozialen und ökonomischen Wurzeln von Newton's „Principia", in: P. Weingart: Wissenschaftssoziologie 2, Frankfurt/M. 1974, S. 262—325 (in englischer Sprache vorgelegt auf dem International Congress of the History of Science and Technology in London, 29. 6 . - 3 . 7. 1931). Eine allgemeine Einführung in diesen Problemkreis bietet W. Büchel: Gesellschaftliche Bedingungen der Naturwissenschaft, München 1975 (im Blick vor allem auf die Entstehung der frühneuzeitlichen Physik). Eine umfassende Bibliographie findet man neuerdings bei W. Krohn (Hrg.): E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 2 5 1 - 2 7 4 .
242
Gassendis physikalische Methode
und zu seiner Zeit auch kaum absehbare Verwendbarkeit der Physik zur Lösung technischer oder gar gesellschaftlicher Probleme. In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich die Frage, ob nicht auch die Orientierung an neuen methodologischen Grundsätzen in der Physik der frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der zeitgenössischen technischen und ökonomischen Entwicklung zu sehen ist. Vorschläge zur Beantwortung dieser Frage sind aber erst dann sinnvoll, wenn der h i s t o r i s c h e Beleg einer neuen methodologischen Orientierung — also gerade das, was in der vorstehenden Untersuchung speziell für Gassendis Physik geleistet werden sollte — für alle wichtigen frühneuzeitlichen Autoren, die zum Fortschritt der Physik beigetragen haben, geliefert und allgemein akzeptiert werden könnte 52 . 52
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Klärung der Frage, ob die Entwicklung der frühneuzeitlichen Physik ein singuläres, einzigartiges Phänomen gewesen ist. In diesem Zusammenhang hat sich in der philosophie- und wissenschaftshistorischen Erforschung der frühen Neuzeit eine eigenartige Entwicklung vollzogen. Der ursprüngliche naive Eindruck von der Diskontinuität zwischen vorneuzeitlicher und frühneuzeitlicher Naturwissenschaft ist seit den epochemachenden Untersuchungen Pierre Duhems durch immer weitergehende Erhellung der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition schrittweise verwischt worden. In letzter Zeit hat man nun insbesondere den Einfluß all jener Strömungen und Schriften auf die Physik des 17. Jahrhunderts untersucht, die nach heutigen wissenschaftstheoretischen Standards als unwissenschaftlich und irrational gelten müssen: Strömungen und Schriften aus dem Bereich der Alchemie, Astrologie und des Corpus Hermeticum, die naturphilosophische und methodische Vorstellungen enthalten, die von den Pionieren der frühneuzeitlichen Wissenschaft aufgenommen wurden. So scheint, um ein Beispiel zu nennen, die Idee, durch Innovation und Experimente zum Ruhme Gottes und zum Nutzen der Menschheit die Natur zu studieren, bereits im Umkreis der paracelsischen Naturphilosophie ein Gemeinplatz gewesen zu sein, die aus drei für Paracelsus verbindlichen Grundananhmen folgte: daß die sichtbare Welt nur die äußere Seite einer unsichtbaren Welt von aktiven Mächten sei, die alles Sichtbare durchdringen; daß der Mensch ein Mikrokosmos sei, so daß man durch Analyse des Menschen die Natur studieren kann und umgekehrt; und daß Gott in seiner Schöpfung vornehmlich zwei Ziele habe — nichts verborgen zu lassen und alles Unvollständige zu vollenden —, die der Mensch durch Naturerkenntnis und alchemistische (experimentelle) Tätigkeit erfüllen könne; vgl. dazu P.M. Rattansi: The social interpretation of science in the seventeenth century, in: P. Mathias (ed.): Science and Society 1600—1900, Cambridge 1972, S. 1—32. Weitere Beispiele für diese Forschungsrichtung sind neuerdings publiziert in M. L. Righini Bonelli/W. R. Shea (ed.): Reason, Experiment, and Mysticism in the Scientific Revolution, London 1975, z. B. C. Vasoli: Alchemy in the Seventeenth Century: The European and Italian Scene (S. 49—58); R. Westfall: The Role of Alchemy in Newton's Career (S. 189—232), sowie die Einleitung von Shea (S. 1 — 18). Demgegenüber wenden sich Rossi (P. Rossi: Hermeticism, Rationality and the Scientific Revolution, ibid. S. 247—274) und R . H a l l ( R . H a l l : Magic, Metaphysics and Mysticism in the Scientific Revolution, ibid. S. 275—282) gegen die nunmehr drohende Gefahr, ein Verständnis der Singularität der Entstehung der frühneuzeitlichen Wissenschaft, das die historischen Studien ursprünglich gerade hat fördern sollen, durch eben diese Studien zu verbauen. Die Bedenken von Rossi und Hall verdienen besondere Beachtung. Uber-
3. Zusammenfassung und Indices Zum Abschluß unserer Überlegungen sollen die wichtigsten Untersuchungsergebnisse zusammengefaßt und die methodologischen Reflexionen aus der Einleitung im Rückblick auf die Untersuchungsergebnisse noch einmal aufgenommen werden.
3.1.
Untersuchungsergebnisse
Der im ersten Hauptteil durchgeführte Vergleich zwischen den expliziten methodologischen Aussagen und der Einführung und Darstellung der atomistischen Physik bei Epikur und Gassendi zeigt, daß sowohl die Methodologie Gassendis als auch seine Einführung und Sicherung der Atomistik erheblich von derjenigen Epikurs abweicht und Ansätze zu einer neuen Auffassung erkennen läßt, nach welcher theoretische Hypothesen durch empirische Daten nicht fundamentalistisch gerechtfertigt, sondern kritisch geprüft werden sollten. Was zunächst die expliziten Aussagen beider Autoren zur Methodologie der Physik betrifft, so hat die Interpretation ergeben, daß Epikur empirischer Fundamentalist ist, d. h. daß seiner Meinung nach theoretische Aussagen dadurch gesichert werden sollen, daß sie aus empirischen logisch gefolgert werden. Daher bemüht er sich nachzuweisen, daß Wahrnehmungen als Fundament aller Erkenntnis stets wahr sind. Eine genaue Analyse seiner Argumente läßt jedoch zwei Probleme erkennen, die nicht gelöst werden können: der Versuch, die Erkenntnisbasis zu sichern, führt zu einer Einschränkung dieser Basis, die sie als ungeeignet für die Rechtfertigung theoretischer Aussagen erscheinen läßt, und der Anspruch der Physik, kausales Wissen zu vermitteln, erweist sich als unvereinbar mit der Methodologie des empirischen Fundamentalismus (1.1.1.). zeugende Argumente für die Singularität der frühneuzeitlichen Physik liefert auch Krohn (im Anschluß an Zilsel) (vgl. W. Krohn (Hrg.): E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, a. a. O . S. 7ff.).
244
Zusammenfassung und Indices
Gassendis Darstellung seiner Methodologie zeigt nun, daß er diese beiden Probleme zu lösen versucht. Er verzichtet von vornherein auf die sensualistische Kennzeichnung der empirischen Basis und macht abweichend von Epikur deutlich, daß die Wahrheit empirischer Aussagen ihrerseits von theoretischen Annahmen abhängt. Seine Lehre von den Zeichen (signa) gestattet eine nicht-fundamentalistische Interpretation, nach welcher die Physik zwar von empirischen Beobachtungen ausgeht, jedoch von hier aus nicht durch logische Folgerung, sondern durch Induktion und Analogie zu einer Formulierung theoretischer Hypothesen gelangt, die umgekehrt durch Folgerung empirischer Aussagen abzusichern ist. SignaLehre und Kausalforschung sind daher vereinbar; aber Gassendi betont, daß auch auf diesem doppelten Weg Hypothesen nicht endgültig gerechtfertigt werden können, sondern stets als vorläufig anzusehen sind. Die probabilistische Untermauerung seiner Methodologie unterscheidet ihn deutlich von Epikur und läßt andere Interessen erkennen, die die physikalische Forschung leiten, als Epikur sie mit der Kennzeichnung der Seelenruhe als höchstem Ziel formuliert (1.1.2.). Auch in der Einführung und Darstellung der atomistischen Physik lassen sich deutliche Unterschiede zwischen Epikur und Gassendi erkennen. Denn die Analyse des naturwissenschafdichen Briefes, den Epikur an seinen Schüler Herodot geschrieben hat, zeigt eindeutig, daß Epikurs Vorgehen seiner Intention nach deduktivistisch ist, wenn dieses Verfahren im ganzen auch weder gelungen ist noch überhaupt gelingen konnte. Einerseits versucht er die fundamentalen atomistischen Aussagen über die Existenz von Vakuum und Atomen aus anderen sehr allgemeinen Annahmen, die teils metaphysischer, teils empirischer Natur sind, herzuleiten, und andererseits sollen alle weiteren speziellen Sätze aus den Grundhypothesen und einigen trivialen Zusatzannahmen folgen. Die Kehrseite dieses Vorgehens bilden die auffallend seltenen und dürftigen atomistischen Erklärungsversuche empirischer Phänomene. Offensichtlich hat Epikur den Nachweis der Erklärungskraft seiner Atomistik für überflüssig gehalten, weil er sie deduktiv für ausreichend begründet hielt (1.2.1.). Die Einführung der Atomistik bei Gassendi trägt demgegenüber dem fundamentalen Charakter dieser Theorie Rechnung, denn Gassendi verzichtet auf den Versuch, sie deduktiv zu sichern. Allerdings führt auch er nichtempirische Argumente zugunsten der Atomistik an; sie bestehen jedoch in dem Hinweis, daß sie als tiefe Theorie zu vielfältiger Forschung anregen und mit den christlichen und philosophischen Doktrinen der Tradition weitgehend in Einklang gebracht werden kann. Das heißt,
Untersuchungsergebnisse
245
Gassendi versucht seine physikalischen Grundannahmen zunächst so weit wie möglich in die bestehende Weltanschauung einzubetten, was methodologisch (und taktisch) durchaus vernünftig ist, statt wie Epikur den vergeblichen Versuch zu machen, sie fundamentalistisch zu sichern. Entsprechend erhält andererseits aber der Nachweis der Erklärungskraft der Atomistik bei Gassendi ein viel stärkeres Gewicht. Die Analyse des Buches De Qualitatibus Rerum zeigt, daß Gassendi viel stärker als Epikur daran interessiert ist, die empirischen Konsequenzen der Atomistik zu untersuchen und entsprechende Erklärungen zu liefern, auch wenn er zuweilen Begriffe mehrdeutig verwendet, Gesetze nicht explizit formuliert und über ad hoc-Erklärungen nicht hinauskommt (1.2.2.). Insgesamt bestätigen diese Untersuchungen auch die Ergebnisse des ersten Abschnittes: Epikur und Gassendi befolgen in der Diskussion der Atomistik ihre unterschiedlichen methodologischen Regeln, lassen damit aber den Unterschied zwischen einer empirisch-fundamentalistischen und einer probabilistischen Methodologie um so deutlicher hervortreten. Im zweiten Hauptteil wurden diejenigen physikalischen Arbeiten Gassendis methodologisch analysiert, die sich mit Themen neuzeitlicher Physik beschäftigen und daher keinen direkten Vergleich mit Epikur zulassen. Hier wurden deutlicher noch als in der atomistischen Physik Elemente einer neuen Methodologie sichtbar, und zwar gerade dort, wo Gassendis Arbeiten erfolgreich waren und Fortschritte ermöglicht haben: der Mut zu kühnen, alltäglicher Erfahrung fernliegenden theoretischen Spekulationen ebenso wie die Entschlossenheit zu kritischen Folgerungen, also die Verwendung empirischer Sätze nicht als Herleitungs-, sondern als Prüfungsbasis haben dazu beigetragen. Andererseits darf die Tatsache nicht unberücksichtigt bleiben, daß sich Gassendi zuweilen nicht an die neuen methodologischen Regeln hält. Darum wurden auch weniger befriedigende Erklärungsversuche analysiert sowie Argumente, die nach heutigen Standards überhaupt nicht zum Bereich der Physik gehören, von Gassendi jedoch innerhalb seiner Physik vorgetragen werden. Was zunächst Gassendis Überlegungen zu den mechanischen Grundbegriffen betrifft, so läßt sich nachweisen, daß er gegenüber einigen der bedeutendsten Physikern seiner Zeit weniger experimentell als vielmehr theoretisch oder spekulativ im Vorteil war. Denn Atomismus und Mechanismus zusammen gestatten die Konzeption einer Gravitationstheorie, die die Schwerkraft als von außen angreifende Kraft erscheinen läßt, die nur in
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Zusammenfassung und Indices
einem endlich großen Bereich von Sternen wirken kann. Erst von hier aus läßt sich in einem Gedankenexperiment die Vorstellung (empirisch nicht beobachtbarer) kräftefreier Körper entwickeln und in bezug auf sie der Trägheitssatz formulieren. Die Anerkennung des Trägheitssatzes erleichtert in einem ähnlichen Gedankenexperiment die Beschreibung der Wirkung von Kraftstößen und führt zu der Einsicht, daß Kraft der Beschleunigung und nicht der Geschwindigkeit proportional ist. Aufgrund rein theoretischer oder spekulativer Überlegungen also gelangt Gassendi zu seinen Aussagen über Trägheit und Kraft. Die zirkuläre Trägheitsbewegung hat er wahrscheinlich nicht als kräftefrei angesehen, so daß insgesamt durchaus konsistent genau die kräftefreie Inertialbewegung als geradlinig ausgezeichnet wird. Atomistischer und makrophysikalischer Kraftbegriff dagegen bleiben bei Gassendi unvereinbar; aber diese Inkonsistenz erweist sich als Folge der historischen Situation, aufgrund deren eine logische Verbindung zwischen atomarem und makrophysikalischem Gegenstandsbereich noch nicht erreichbar war, so daß genaugenommen Konsistenzfragen noch nicht gestellt werden konnten. Von hier aus erscheint die Orientierung der Konzeption des atomistischen Kraftbegriffes an allgemeinen philosophischen und theologischen Grundsätzen, wie Gassendi sie vorgenommen hat, methodologisch durchaus als vernünftig (2.1.1.). Die übrigen untersuchten physikalischen Diskussionen Gassendis schließlich zeigen, daß er das Verhältnis von Theorie und Erfahrung durchaus nicht naiv (d.h. vom Standpunkt des Sensualismus aus) beurteilt. Nirgends läßt er die — angeblich in seiner Logik formulierte — Auffassung sichtbar werden, daß es „reine" Sinnesdaten gibt, die stets eindeutig zugunsten oder gegen eine bestimmte Theorie entscheiden. So setzt ζ. B. die Art und Weise, wie er die horror-vacui-Theorie zu widerlegen versucht, die Einsicht voraus, daß empirische Beobachtungen und Experimente stets auf mehrfache Weise theoretisch interpretiert werden können und daß entscheidende experimenta crucis erst nach ausführlichen theoretischen Vorüberlegungen entworfen werden können; der Bericht über das von ihm selbst durchgeführte Schiffsmastexperiment dient keineswegs nur der bloßen Beschreibung der experimentellen Tatsachen, sondern hat im Gegenteil das Ziel, den Adressaten des Berichtes, der den Beobachtungen aus theoretischen Gründen mißtraut, theoretisch zu überzeugen: Gassendi erkennt ohne weiteres an, daß experimentelle Ergebnisse erst einer überzeugenden theoretischen Interpretation bedürfen, um überhaupt ausreichend Anerkennung zu finden; seine Bemerkungen zum Fallgesetz
Systematische Reflexionen
247
Galileis schließlich enthalten den ersten korrekten Erklärungsversuch dieses Gesetzes: auch hier versucht Gassendi die Hypothese vor allem dadurch zu sichern, daß er sie theoretisch einbettet (2.1.2.). Insgesamt ergibt sich, daß Gassendi keineswegs als eklektischer Sensualist oder systemloser Experimentator einzustufen ist, sondern daß er die theoretische Spekulation in der Physik stark zur Geltung bringt und den Stellenwert von Beobachtung und Experiment im wesentlichen richtig einzuschätzen weiß. Freilich entdeckt man immer dann, wenn sich bei Gassendi eine starke Fixierung auf alltägliche Erfahrung feststellen läßt, ungewöhnlich ungenaue oder vorschnelle Erklärungsversuche — sei es, daß fälschlich notwendige Bedingungen als hinreichend behandelt, daß theoretische Existenzpostulate plausibel gemacht oder daß allzu flink Analogien konstruiert werden. In diesen Fällen scheint Gassendi kein Vertrauen auf die Möglichkeit empirisch gehaltvoller Theorien zu haben und sich daher um so stärker an die Erfahrung zu klammern (2.2.1.). Die prinzipielle Unbeweisbarkeit theoretischer Hypothesen schließlich erleichtert Gassendi den problematischen Ubergang von Probabilismus zum Agnostizismus, den er immer dann vollzieht, wenn Fragen aus dem Grenzgebiet von Physik und Theologie zu behandeln sind. Es läßt sich zeigen, daß diese methodologische Veränderung in Gassendis Augen auch so schwierige Fälle wie die Erdbewegungsfrage oder die Möglichkeit des teleologischen Gottesbeweises wissenschaftlich wie glaubensmäßig befriedigend betrachten läßt. Denn der Agnostizist kann alle wissenschaftlichen Argumente zugunsten einer physikalischen Hypothese anführen, ohne sich doch verpflichtet zu fühlen, die Hypothese für wahr zu halten, ist dann also auch in der Lage, abweichende Glaubenssätze per fidem anzuerkennen (2.2.2.). Die methodologischen Abweichungen können jedoch insgesamt nicht den Eindruck verwischen, daß Gassendi in seinen Schriften zur Physik eine neue, weder epikureische noch empiristische noch fundamentalistische Methodologie zur Geltung und Anwendung zu bringen versucht.
3.2. Systematische
Reflexionen
Wie bereits in der Einleitung bemerkt, ging es in der vorliegenden Untersuchung zwar hauptsächlich, aber nicht ausschließlich um eine historische Korrektur des bisherigen Gassendi-Bildes zumindest unter methodolo-
248
Zusammenfassung und Indices
gischen Gesichtspunkten, sondern auch um den systematischen Versuch, einige elementare methodologische Grundsätze einer historischen Prüfung zu unterziehen. Diese Prüfung setzt unseren einleitenden Vorüberlegungen zufolge ein von den zu prüfenden methodologischen Regeln unabhängiges Erfolgskriterium voraus. Auch wenn man zugeben muß, daß die Wahl eines solchen Kriteriums durchaus problematisch ist, liegt es im Falle Gassendis nahe, als Maßstab für den Erfolg seiner wissenschaftlichen Bemühungen ihren Beitrag zur Ausarbeitung der klassischen Mechanik anzusehen, wie sie etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorlag. N u n kann im Rahmen dieser Arbeit die Wirkungsgeschichte einzelner Gassendischer Problemlösungsversuche im Bereich der Physik im einzelnen nicht mehr untersucht werden; dennoch dürften aufgrund der bisher bekannten Wissenschaftsgeschichte folgende Feststellungen kaum auf Widerspruch stoßen: (1) Das atomistische Programm hat sich im ganzen durchgesetzt, wenn es auch in Physik und Chemie lange Zeit zunächst nur als ontologischer Unterbau angesehen wurde und seine Erklärungsfruchtbarkeit erst viel später unter Beweis stellen konnte. Gassendis Arbeiten zum Trägheits- und Kraftbegriff müssen als wichtige Schritte auf dem Wege der Ausarbeitung der begrifflichen Grundlagen der klassischen Mechanik gewertet werden, auch wenn es ihm noch nicht gelang, einen adäquaten Massebegriff zu formulieren, und auch wenn manche seiner Ideen nicht völlig originell waren, sondern zum Teil nur der Durchsetzung, Verbreitung oder zusätzlichen Begründung vorgegebener Vorschläge dienten. Seine Widerlegung der horror-vacuiTheorie, die Interpretation des Schiffsmastexperimentes und die physikalische Deutung des Fallgesetzes schließlich sind gelungene Anwendungen und damit Bestätigungen der Angemessenheit der neuen physikalischen Grundbegriffe für einige der damals als wichtig angesehenen Probleme. (2) Gassendis Farbenlehre, Magnetismustheorie und Überlegungen zur Pendelbewegung andererseits sind Beispiele für physikalische Hypothesen, die weder historische Wirkung hatten noch das wissenschaftliche Niveau zeitgenössischer Hypothesenalternativen erreichten und daher die relevanten physikalischen Diskussionen kaum zu befruchten vermochten. Auch Gassendis
Systematische Reflexionen
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kosmologische Hypothesen, seine finalistischen Erklärungsversuche sowie die Wiederaufnahme der natürlichen Theologie bleiben von ihrem sachlichen Gehalt her im Rahmen der engeren Physik- und Chemiegeschichte weitgehend folgenlos und haben daher die Ausarbeitung der klassischen Mechanik wohl kaum gefördert. Die methodologische Analyse der Gassendischen Physik hat nun aber gezeigt, daß jedenfalls die in der Einleitung zugegebenermaßen noch recht grob formulierten Kennzeichen einer hypothetisch-deduktiven Methodologie von Gassendi gerade in den unter (1) genannten Fällen überwiegend beachtet worden sind, daß er dagegen in den unter (2) genannten Bereichen von diesem methodologischen Ansatz abgewichen ist. Im Sinne der in den methodologischen Vorüberlegungen angedeuteten Terminologie gestattet diese deskriptive Feststellung über die von Gassendi befolgten oder nicht befolgten Regeln zusammen mit der Angabe des oben genannten Erfolgskriteriums sowie der unter (1) und (2) formulierten normativen methodologischen Basissätze die systematische Feststellung, daß die angegebenen methodologischen Regeln jedenfalls durch das wissenschaftshistorische Beispiel der Gassendischen Physik durchaus als bestätigt gelten können. Dieses Ergebnis mag ebenso wie die ihm zugrunde liegende Fragestellung als nicht gerade weitreichend angesehen werden; andere wichtige und womöglich interessantere Fragen, beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaft, insbesondere auch nach dem Verhältnis von Metaphysik und wissenschaftlicher Methode, oder die Frage nach der Beziehung von Wissenschaft, Metaphysik und Gesellschaft, blieben ausgeblendet, weil sie nicht nur wesentlich präzisiert werden müßten, sondern weil ihre Beantwortung auch viele weitere Einzeluntersuchungen erforderlich machen würde. Aber selbst die Begründung unseres eingeschränkten Ergebnisses ist noch systematischen Bedenken ausgesetzt. Das vielleicht wichtigste dieser Bedenken kann in der F o r m eines Zirkelproblems formuliert werden. Jede wissenschaftliche Untersuchung sollte angemessene methodologische Regeln berücksichtigen; dies gilt insbesondere aber auch für eine Untersuchung, die die Angemessenheit methodologischer Regeln (historisch) zu überprüfen unternimmt. Daher besteht die Gefahr, daß eine derartige Untersuchung bereits die Angemessenheit eben jener methodologischen Regeln voraussetzt, die sie allererst prüfen soll.. Die Methode der Sicherung wissenschafts- und philosophiehistorischer Feststellungen anhand entsprechender
250
Zusammenfassung und Indices
Textdokumente muß darum unabhängig von der Geltung derjenigen methodologischen Regeln, zu deren Prüfung diese Feststellungen herangezogen werden, begründbar sein. Hier handelt es sich freilich um einen Zirkel, der nicht nur im Zusammenhang mit der Prüfung von Methodologien, sondern in analoger Weise auch im Zusammenhang mit der Prüfung von einzelwissenschaftlichen Theorien auftritt. Längst ist unter Wissenschaftstheoretikern die Uberzeugung verbreitet, daß die Basissätze, die zur Prüfung von Theorien verwendet werden, ihrerseits mit Hilfe von Theorien gesichert werden müssen. Dieser Zirkel, oder besser, diese Spirale hat das einzelwissenschaftliche Prüfungsverfahren jedoch nicht wesentlich beeinträchtigt. In ähnlicher Weise könnte man sich vorstellen, daß wissenschafts- und philosophiehistorische Feststellungen zunächst mittels einer plausiblen Elementarmethodologie (wie sie in der Einleitung der vorliegenden Arbeit auch angedeutet wurde) gesichert werden, sodann aber zur Prüfung anderer, weitergehender methodologischer Behauptungen verwendet werden, die im Falle ihrer Bestätigung ihrerseits wieder zur Begründung historischer Analysen herangezogen werden können, und daß dieses Verfahren und seine Fortsetzung das methodologische Prüfungsverfahren ebenfalls nicht wesentlich beeinträchtigt. Die vorstehenden methodologischen Untersuchungen zur Physik Pierre Gassendis sind ein Versuch, auch in diesem systematischen Rahmen einen kleinen Schritt vorwärts zu kommen.
3.3.
Literatur
(Das Literaturverzeichnis enthält nur Arbeiten, die sich speziell mit Gassendi beschäftigen, sowie die wichtigsten Standardwerke zur Entstehung der fieuzeitlichen Physik im 17. Jahrhundert. Spezialliteratur zu anderen Themenbereichen ist jeweils in den Anmerkungen angegeben).
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3.4. Alexander Aphrodisias In Aristot. De Sens. 2, 488 a 5ff. . 26 13 Aristoteles De An. 15, 411 a 5 - 7 III 7, 418 a 31 De Cael. I 7, 275 b 29ff II 1, 308 a 15ff III 4 III 7 IV 3, 310 b 7 De Demokr. Frg. 208 (Rose) . . . De Gen. Anim. V 8, 789 b 2 . . . .
25 10 1971 41 67 80 36 92 10 92 10 165* 737 725
Stellen* De Gen. et CorT. 18 I 8, 326 a 9ff II 2, 329 b lOff De Sens. 3, 439 b Iff Kat. 5, 2 a 11 ff Met. I 3, 984 a 29ff I 4, 984 b 4 IV 2, 1004 b 27ff V 1, 1012 b 34 ff Phys. I 4, 187 a 27 I 5, 188 a 27f I 5, 188 b 24 I 5, 205 b 24ff
* Die hochgestellten Ziffern bezeichnen die Anmerkungen.
92 10 79 34 11081 1971 738 72s 72, 98 34 7515,16 76 17 · 19 46 83 , 84 49 77 22 , 88 63 81 39 , 98 34 72 5 , 76 17 · 18 26 13 , 73 6a , 81 39 42 7s 22 28 29 , 30 , 42 75 88 63 26 1 3 · 1 5 31 33 , 3 9 " , 42 7S 25 9 , 29 2S , 38 60 85 51 , 88 63 88 63 , 116 102 77 25 · 27 , 78 29 42 75 , 76 20 , 78 30 74 10 10252 80 3 6 ' 3 7 80 38 82 43 42 71 73 6i , 98 34 2 5 " , 78 31 34 39 41 70 37 55 43 76 , 737 25 5 43 77 24 6 23 2 42 75 23 4 32 35 42 75 29 23 42 75 43 77 32 35 , 427S 32 3S , 43 77 32 35 , 42 75 42 7s 32 35
104 109 113 114 116 123 124 139 142 145f 146f 147 150 152f De Phys. Frg. 32 (10) Arr
42 71 88 63 43 77 32 35 25 11 34 46 34 40 · 41 34 46 23 2 · 3 41 70 25 12 33 3 1 , 39 62 34 46 43 34 , 39 62 30 28
Erotianus Gloss. Hipp. Praef. 34, 10 Kl. . . . 38 56 Eusebius
91 9
Galen De Fac. Nat. I 14 XVIII 851 Frg. 293 (Us.) Galilei Opere I 323 ff 334 IV 68 VI 545 VII 43 44 52 f 56 144 149 171 174 175 191 201 VII 202 f 218 220 240 260 f 300 . . 475 VIII 59ff 118 128 ff
87 60 42 71 205 20 214 42 11597 14662 1803S 13022 14765 12919 14765 „ .214 44 215 43 18035 13224 214 44 13021 . 13224 14661 13124 132 24 14764 14661 214 40 214 43 1666 14865 215 43
256
Zusammenfassung und Indices 198 203 215 261 274 f 278 283f 329 330 333 338 X 97ff XIV 124ff. 157 386 410
148 65 189 s 4 129 1 9 215« 133 26 133 2 6 133" 146 63 146 63 146" 147 64 214" 166 s 166 s 184 46 184 46
Gassendi O p e r a omnia I 5 b 2 . . 240 4 9 7b 2 221 2 10 a 2 69 8 8 13 b 2 . . . . 49 2 2 29 b 2 221 3 30 a f . . . . . 45«, 92 1 4 30 b 68 8S 52 bff 46 1 0 53 a f 45 7 53 a 2 50 24 53 a 2f 51 2 6 54 a 1 . . . 50 2S , 51 2 6 54 b 2 53 3 4 55 a 1 53 3 4 55 a 2 55 4 2 62 b 2f 91 7 67 a 2f 44 3 68 b 65 7 8 69 a 1 54 3 6 70 a 1 48 2 1 73 a 1 48 2 1 76 b 2 53 3 S 53 3S 79 b 45 s 79 bff 79 b 2 45 s 80 äff 45 6 23g44,45,46 80 a 2 ff 80 b 54 3 8 14 15 . . 46 · , 48 2 1 80 b 1 81 b 2 54" 1 28 81 b l . . . 5 1 , 54 4 0 81 b 2 59" 82 a 1 55 4 3 82 a 2 54 3 6
82 b 82 b 2 83 a 2 83 b If 84 b 2f 85 a 2f 85 b 2 86 b 1 87 b l 89 a 89 a 1 89 a 2 91 a I f f 103 bff 114a 116 a 2 ff 121 a 1 122 a 122 a 1 122 a 2 . . . 123 af 123 a 1 123 b 1 . . . 124 a 125 b 125 b 2 . . . 126 a 2 . . . 126b 1 . . . 129 a 2 . . . 129 b 2 . . . 132 a 139b 1 . . . 141 a 2 . . . 142 b 2 . . . 143 a 2 . . . 144 b 1 . . . 145 a ff 146 b 149 a 2 . . . 167 a 2 . . . 192 a 194 a 196 b 2 f f . . . 197a I f f . . . 197 a 2 f f . 198 a 2 f f . . . 200 a I f f . . . 203 bff 207 a 207 a 2 . . . 207 b 2 f . . . 211 bff
55 4 3 239 4 6 55 4 3 55 4 3 25 50 , 51 2 6 50 25 55 4 2 44 3 59 s 6 53 3 5 45* 58 5 3 44 2 45 6 60 s 8 56 4 5 63™ 45 6 50 2 s . 58 5 4 45 6 63 7 2 . 240 4 8 54 3 9 5 5 " , 63 7 1 . 54 3 7 240 4 7 . . 54 3 7 240 4 8 . . 240 4 9 81 66 , 67 8 2 . 223 s . 223 s . 162 98 . 224 7 . 224 7 227 1 5 174 23 . 227 1 5 . 67 8 3 s9 60 , 167 8 60 5 9 7 . 166 , 168 9 . 174 23 10 11 168 · , 169 12 . . . . . 154 81 , 169 13ff . 173 21
. .
179 32 149 68 62 6 6
257
Stellen 212 212 212 223 229 230 232 234 238 238 240 240 244 245 249 256 256 257 257 259 263 265 266 266 267 273 273 275 276 277 279 280 280 280 280 282 283 283 284 290 293 295 296 300 308 311 315 318 318 323 323 325
a 60 5 9 a If 154 8 1 b 1 154 8 1 bff 179 3 2 af 71 2 , 9 5 " a 2ff 9 5 " if. a2 95 2 0 a2 95 2 0 a 2f 101 4 6 b 2f 100 43 a 1 101 4 5 b 2ff 100 4 4 b 158 8 9 a2 96 2 6 a ff 104 5 9 aff 71 2 b ff 101 4 7 a Iff 101 47 b 2f 94" bff 102 4 9 bff 58« b 1 67s4 a2 59 2 0 , 102 4 8 a 2ff 103 5 4 a 98 3 S , 154 8 2 bff 103 5 4 b 2 155 8 4 b 2 103" b 2 155 8 4 af 157 8 8 b . . . 103 s 6 , 154 8 1 , 155 8 S , 158 8 9 a 1 162 1 0 0 a2 160 9 2 , 162 9 9 b 1 162 1 0 0 b 2 96 2 7 aff 57 4 9 aff 228 1 6 al 55 4 4 a 2ff 57 4 9 , 229ff. 1 7 f f a2 23 7 3 8 a2 237 3 8 a Iff 23P9 b 2 191 97 b 2f 237 4 0 a2 161 9 6 a2 238 4 2 aff 237 4 1 al 237 3 7 a2 238 4 3 a 2f 162 9 8 , 236 3 S b 1 162 9 8 , 236 3 5 a2 161 9 7
326 a 333 a 2 334 a 2f 334 b 2 f 335 aff 336 a 1 336 a 2 3 3 7 a I f . . 15 8 9 0 , 338 aff 340 a 1 343 a 2 343 b 1 343 b 2 344 b 2 345 a 1 346 aff 348 b 1 349 b 2 f 350 a 2 350 b I f . . 189 s 3 , 351 b 352 b 353 b 2 354 a 2 354 b 2 355 a I f 355 a f 356 b 1 357 a 2f 357 b 2ff 359 a 2ff 360 b 372 aff 372 b 1 375 aff 377 a 2 378 a 2ff 378 bff 380 b 381 a 1 381b 384 b 2 385 a 1 389 b I f f 390 a 2 392 a 2 394 b l 394 b 2 ff 395 a I f f 397 b 2 402 aff 402 b 2
65 7 5 , 221 2 , 236 3 5 160 93 160 9 4 117 1 0 7 , 161 9 5 104 5 9 156 8 6 , 158 8 9 , 234 3 0 234 3 0 160 9 3 , 161 9 S , 236 3 7 140 4 5 , 236 3 S 157 8 8 143 5 5 117 1 1 7 , 150 6 9 156 8 6 143 s 6 , 156 8 6 143 s 6 114 9 5 67 8 4 140 4 4 , 141 4 8 , 152 7 8 152 7 9 190 s s , 191 5 6 , 192 s 9 190 5 S 155 8 3 67 8 4 153 7 9 · 8 0 141 4 8 140 4 S , 141 4 8 · 4 9 184 4 6 184 4 6 140 4 6 215 4 6 2 1 647, 2 1 749, 2 1 8 « 60 6 0 , 216 4 8 94 1 9 , 104 5 8 97 3 1 .105" 65 7 7 67 8 4 108 7 1 106 6 3 106" 99 3 8 115 9 8 , 156 8 6 1 1 5 " , 156 8 6 114 9 5 107 6 5 150 6 9 117 1 0 8 158 8 9 117 1 1 0 116 1 0 5 HO 7 9 "· 168 1 1
258
Zusammenfassung und Indices 405 b 2 ff 406 a 407 a 2 ff 409 b Iff 415 a 424 b 425 a 1 427 b 430 a 432 b 2ff 450 a 466 äff 480 a 2 489 bff 493 bf 494 a 1 629 bf 631 äff 636 äff 639 a 2 ff
113 93 60 59 11494 116 101 60 60 60 60 67 M 60 60 60 59 200ff. 6 «· 210 34 10459 15686 . 1149S 162 100 162 100 . 225 11 , 228 15 141 50 14251 142 52 " 54
II 10 a 2f 122 a 2 ff 129 b 2 231 b 312 äff
228 15 211 35 206 23 229 17 , 233 29 17932
III 5 a 1 5a2 6 a 2f 7a 1 7a 2 10 a 2 101 102 108 b 113 a 168 bff 192 a 2 192 a 2ff 192 b 1 203 bff 207 a 207 a 2f 209 b 2 231 b 2 259 a 2 266 276 a 2 283 b 1 309 b 312 b 2
53 34 50 24 47 15 46 11 502S 55 44 2213 223 4 , 226 13 , 234 32 221 2 68 84 234 33 47 17 64 74 45 7 10459 657S 65 78 48 18 221 2 66 79 46 9 221 2 45 7 , 61 62 469 65 75
235 34 314 b f f . . . . 48 19 314b 2 . . . 318 a 1 . . . 45 7 59 57 322 b . . . . 236 35 323 b f f . . . . 332 b . . . . 45 7 231 23 358 a 2ff. . . 229 17 , 231 25 358 b f f . . . . 231 24 358 b 2 f . . . 23 1 2 4 · 2 5 361 a . . . . 230 20 , 231 24 361 b 1 . . . 362 a 2 . . . 65 7S , 232 26 46 9 382 af. . . . 48 19 388 a 2f. . . 64 74 412 b 2 . . . 48 20 413 a 1 . . . 413 b 2 . . . 657S 423 a 1 . . . 66 81 448 b 1 . . . 69 87 466 a . . . . 96 27 466 ä f f . . . . 104 s9 466 b . . . . 1558S 472 a 2f. . . 51 26 3 38 40 478 a Iff. . . . 181 »' , 182 , 18341 481 a 1 . . . 137 38 , 18341 481 a If. . . 115 100 481 b 2 f f . . . 13634 482 a 1 . . . 18446 483 a 2ff. . . 18446 484 a 2f. . . 149 67 , 18344 J4355.S6 488 a 2 . . . 488 b 2 f . . . 18345 136 34 " 37 489 a 2ff. . . 137 37 , 13839 489 b 2 f f . . . 491 a . . . . 19567 492 a f f . . . . 20726ff492 a . . . . 2113S 493 a 2ff. . . 209 33 59 87 493 b . . . . . . . . 60 , 69 , 210 34 494 b 1 . . . 67 84 , 18345 138 40 , 15070 494 b f f . . . . 495 a 2 . . . 67 84 495 b . . . . 215 46 13 8 40 , 18345 495 b 1 f. . . 496 a 2f. . . 13941, 18345 496 b 2 f . . . 15171 496 b f f . . . . 13942 497 a 1 . . . 151 72 · 73 497 af. . . . 19567 498 b 2 f . . . 15380 500 a 1 . . . 226 14 500 a 2 . . . 18549
259
Stellen 500 b 1 500 b 2f 503 a 2f 504 a 504 b 2 f 505 a 1 505 b 505 b 1 f 506 a 1 519 af 519 a 2 520 b 1 523 b 1 527 a 2 527 b 2 528 b 1 529 a 2 536 a 542 b 1 543 b 549 b 2 561 af 563 a 565 a 1 567 a 568 a 2 ff 570 a f 570 a 2f 570 b 1 571 b 2 574 bf 575 bf 577 b 2 f 579 a 2f 589 a 1 621 a 621 a 2 621 b 2 622 a 2f 632 b 634 a 2f 638 b 2 ff 651 äff 653 a
'
182 39 185 49 182 40 60 6 1 52 3 2 2 52 9 · 3 0 185 49 52 3 1 52 33 225 1 1 227 1 4 69 8 7 227 1 4 69 8 7 227 1 4 221 3 69 8 7 181 37 227 1 4 5 8 " , 66 8 1 , 6 7 M 144 56 46 1 1 227 1 4 189 s3 189 54 189 54 215 46 61 63 5 8 " , 62 6 4 , 67 84 67 84 215 4 6 191 S7 192 57 190 55 , 19 1 5 6 62 6 5 151 74 , 152 76 139 43 151 75 151 77 46 9 60 5 7 227 14 198 3 49»
IV 59 bf 405 a
225» 46 9
VI 2 a 1 10 a 2ff lib 15 a 2
65 7 8 228 1 5 92 14 92 14
17 b 2 19 b 2 ff 20 b 1 20 b 25 a 26 a Iff.. . 32 b 2 34 b 45 b 2 •53 b 60 a 1 60 a f 62 a 63 a 63 a 1 105 a 108 bf 109 a 110 b 2 145 a 2 146 a 1 147 b 2 148 a 148 a 2 149 b 1 150 a 2 152 a 2 152 b 153 a 1 156 448 äff
68 8 6 230 2 1 229 1 7 , 2 3 0 " 229 17 92 14 93 1 6 101 47 46 9 226 13 66 8 0 68 8 6 46 9 46 9 66 8 0 68 8 6 240 4 9 181 36 136 33 65 7 7 49 22 48 2 1 53 34 58 s 1 51 2 6 47 15 49 23 53 34 55 42 58 s 1 52» 189 53
Hobbes De Corpore IV, 29, 17
118 114
Johannes Buridanus Physik VIII Quaest. 12
124 4
Laktanz De Ira Dei ad Don. II, 10
91 9
Leukipp Frg. 67 Β 2
72 s
Lukrez De Rerum Natura I 180 ff 269 ff 329 ff 420 483 f 520 ff 574 ff
72 s 83 4 7 83 47 73 6a 74 9 102 so 88 63
260
Zusammenfassung und Indices 670 f 958 ff
75 13 75"
II 80 ff 95 ff 184ff 225 ff 229 ff 297ff 333ff 398 ff 444ff 451 ff 522 ff 757ff 826 ff 865 ff
83 47 85 , 8 8 " 87 59 79 34 81 40 75" 83 47 87 58 87 58 85 s o , 8 6 " 76 21 83 47 78 31 83 47
IV 51 f 230 ff 364 ff 379 ff 386 432 ff 435 478 f 482 ff 499 524 ff 541 ff 551 f 563 ff 615ff 622 ff 673 ff 722 ff 724ff 763 f
26" 88 63 87 17 27 1 7 27 1 7 31 34 27 17 27 17 27 17 27 1 7 88 63 85 53 85 53 85« 116 102 87 58 88 63 30 27 29 22 30 38
V 525 ff 1028 ff VI 335 ff 906 ff Mersenne Correspondence III 563 IV 168 ff .' 197 Harmonie Universelle I - X I X . . Nov. Obs. Phys.-Math. III 216f.
50
43 78 37 55 83 206 21
46
181 35 . 180 35 180 35 .215 4 4 .177 2 7
Olympiodor In Plat. Phaed. 125, 10 (Finckh). . 35 4 8 Origines Contra Celsum I 24 Pascal CEuvres II 43 ff 153 ff 478 ff V 99
37" 178 29 177 29 178 29 , 118 14 178 29
Philodem De Signo Col. VIII 26ff XV 25 ff XVI 15 ff XVII 19ff XXIV 4ff X X X I 30 ff X X X I I 18 ff X X X I V 5 ff XXXVII 27ff
42 73 42 7 4 42 73 42 73 41 7 0 30 27 33 37 34 45 41 7 0
Piaton Men. 80 d 5 - 7 Tim. 63 a 67 c 4ff
36" 80 36 1971
Plutarch Adv. Colot. 4, 1109 a 4f., 1109 äff 27 1 8 , 13, 1114 a 16,1116 c 25, 1121 a 28,1123 b Quaest. Conv. VIII 3, 1, 720 eff. .
33 3 7 30 3 1 75 14 74 12 29 2 2 30 31 86 5S
Polybios Hist. V 78, 2
42 7 1
Proklos In Plat. Crat. 17
37 55
Ptolemaeus Almagest I, 7 Sextus Empiricus Adv. Math. I 57 VII 22 203 f 206 207
182 39 35 18 41 7 0 26 14 27 1 8 28 1 9
261
Namen 207 ff 208 212 214 369
33 37 3134 39 60 · 64 41 69 25 12
VIII 9 185 314 329
30 30 2614 41 68 41 67
X 240
97"
Simplicius In Ar. De Cael. 269 a 13 277b Iff
88" 87 s9
3.5. Adelard v. Bath 91 Albert, Η. 1318 Albert v. Sachsen 1243 Anaxagoras 90, 10044 Antonius de Dominis 1971 Ariotti, Ρ. Ε. 2 1 3 39 , 2 1 5 4S Aristoteles 44, 64, 68 86 , 711, 79, 80 36 , 81 41 , 87, 88f., 902, 95, 96 Klemm, F. 197 1 Kleve, Κ. 30 2 8 , 40 6 6 a
Isidor v. Sevilla 91
Namen Koyre, A. 7 s , 8 7 , 9 1 0 , 123 2 , 128, 131«, 134 2 6 · 2 7 , 163 1 0 1 , 179 3 2 , 180 3 5 , 184 4 8 , 185 4 9 ' 5 0 , 1 8 8 " , 192 5 9 · 6 0 , 193 6 1 , 1 9 4 « , 195 6 5 , 196 6 8 , 215 4 4 Krafft, F. 138 3 '· 4 0 , 142 5 3 , 145 5 8 , 165 2 Kranzberg, 241 5 0 Krohn, W. 241 5 1 , 2 4 2 « Kuhn, Th. 20 de Lacey, E. 33 3 7 de Lacey, Ph. 33 3 7 , 41™, 43 7 9 Lakatos, I. 7 S , 20 Laktanz 91 Lange, F. A. 5 Lasswitz, K. 4f., 89 1 , 90 3 , 91 9 , 166 3 Laudan, L. 92 1 3 Leclerc, I. 89 1 Leonardo da Vinci 215 4 3 Leukipp 73 61 v. Leyden, W . 7 5 Lindsay, R. Β . 89 1 Locke, J . 92 1 3 Long, A.A. 33 3 8 , 72 5 Losee, J . 132 25 Ludwig v. Valois 48 2 1 , 4 9 " , 50 2 4 , 51 2 6 , 53 3 4 , 55 4 2 , 5 7 f „ 136 3 3 , 179( 33 ', 181 3 6 , 240 4 9 Lukrez 27, 66 7 8 , 78f., 81, 83 8 7 , 87, 88, 92, 100, 157 Mabilleau, L. 89 1 Mach, Ε. 190 5 4 Magnen, J . C . 91 6 Maier, Α. 123 2 , 128(18> Maignan, Ε . 166 5 , 199 Mandelbaum, M. 92 1 3 Marci, M. 124f., 146 6 0 , 199 Marx, Κ. 1 Mathias, P. 241 5 0 Matthieu, F. 177 2 9 Mau, J . 80 3 6 Maurolycus 198 2 McColley, G . 91 5 McGuire, J . Ε. M. 8 7 , 92 1 3 , 118 1 1 4 McLean, J . 198 1 McMullin, Ε. 89 1 Mersenne, M. 93, 9 4 ' 7 , 124f., 127 1 3 , 134 2 8 , 135 2 9 , 148 6 6 , 166 5 , 175 2 4 , 176f.( 27 ), 178, 192, 194 6 4 , 195 6 5 , 198 3 , 215 4 3 , 234 3 1 Metrodor 24 8 Middleton, W. Ε . Κ. 176 2 6 , 177 27
263
Mittelstraß, J . 92 1 3 Montaigne, M. de 65 7 8 Morin, J . - B . 152, 181 3 7 , 185 4 9 , 226 1 3 Morus, Th. 240 Naylor, R . 215 4 3 Newton, I. 2, 92 1 3 , 105, 128, 131 f., 135f„ 144(58))
145(59) (
1 5 3 )
1 8 2
40
>
1 8 5
49
j
1 9
g
Nicole, P. 44* Nicolaus v. Oresme 124 3 · 4 , 213 3 9 Noel, Ε . 178 3 1 Oppel, Η . 25 1 0 Oppermann, Η . 32 3 6 Palter, R. 206 2 4 Pappus 62 f. Paracelsus 90 2 Partington, J . Μ. 91 7 Pascal, Β. I I 1 7 , 114 9 5 , 178
(29-3ΐ)ι
118 1 1 4 ,
177,
17932
Pav, P. A. 7 6 , 122 l a , 163 1 0 1 Pecquet, J . 178 3 1 , 179 32 Peiresc, Ν . C. de 91", 92 1 4 , 179 3 3 , 226 1 3 Pendzig, P. 3, 220 1 Perier, F. 177 2 9 , 178 Petit, P. 177 Petrus Peregrinus 204 1 8 , 206 Philippson, R . 40 6 6 a Philodem 34, 42 Philon v. Byzanz 165