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German Pages 148 Year 1988
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 62
Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts
Von
Helmut Frister
Duncker & Humblot · Berlin
H E L M U T FRISTER
Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg
und Dr. Friedrich-Christian Schroetter ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 62
Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts
Von
Dr. Helmut Frister
Duncker & Humblot · Berlin
Z u r Aufnahme in die Reihe empfohlen von Prof. Dr. Gerald Grünwald, Bonn
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Frister, Helmut: Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts / von Helmut Frister. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 62) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1986 ISBN 3-428-06440-2 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06440-2
Vorwort der Herausgeber 1968 erschien der erste Band der „Strafrechtlichen Abhandlungen/Neue Folge"; die Reihe wurde durch ein Vorwort des bisher alleinigen Herausgebers eingeleitet. Mit der Schrift Helmut Fristers erscheint der 62. Band der Reihe. Sie wird im Einvernehmen mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten nunmehr von uns beiden gemeinsam herausgegeben. Das Ziel der Reihe ist es nach wie vor, den Arbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses eine angemessene Veröffentlichung zu sichern und damit der Strafrechtswissenschaft zu dienen. Hamburg und Regensburg, im Februar 1988 Eberhard Schmidhäuser
Friedrich-Christian
Sehr oeder
Vorwort Die Arbeit hat im Sommersemester 1986 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation vorgelegen. Das Manuskript wurde im Juni 1986 abgeschlossen; bis März 1987 erschienene Rechtsprechung und Literatur ist - soweit dies möglich war - noch in den Anmerkungen berücksichtigt. Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Gerald Grünwald, der die Arbeit mit großer persönlicher Anteilnahme betreut hat. Mein Dank gilt ferner Herrn Prof. Dr. Eberhard Schmidhäuser und Herrn Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme in die Reihe der Strafrechtlichen Abhandlungen. Helmut Frister
Inhaltsverzeichnis Zum Thema der Untersuchung
13
Teil
1
Das Schuldprinzip
1. Kapitel Vorüberlegungen I. Problemstellung und Gang der Untersuchung II. Die Grundbegriffe
14 14
1. Der Begriff der Strafe
16
2. Der Begriff der Schuld
16
2. Kapitel Verfassungsrechtliche Begründung der Schuld als Voraussetzung der Strafe I. Zur Begründung des Grundsatzes „keine Strafe ohne Schuld" aus dem Strafzweck (utilitaristische Begründung des Schuldprinzips)
19
1. Die verfassungsrechtliche Bedeutung einer utilitaristischen Begründung des Schuldprinzips
19
2. Die utilitaristischen Begründungsansätze
20
a) Der „einfache" Ansatz: Strafe ohne Schuld bringt keinen Nutzen . . .
20
b) Der „qualifizierte" Ansatz: Strafe ohne Schuld bringt mehr Schaden als Nutzen
22
3. Ergebnis II. Zur Begründung des Grundsatzes „keine Strafe ohne Schuld" aus dem Sinngehalt der Strafe (Begründung des Schuldprinzips aus dem Unwerturteil) . .
23
24
1. Die Argumentation aus dem Sinngehalt als solchem
24
2. Die Argumentation aus der sozialen Diskriminierungswirkung des Sinngehalts
25
8
Inhaltsverzeichnis
I I I . Zur Begründung des Grundsatzes „keine Strafe ohne Schuld" aus den in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffen
28
1. Bisherige Begründungsansätze
28
2. Eigener Begründungsansatz a) Die beiden Grundformen der materiellen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen
29
b) Die Anwendung auf die Strafe
29 30
aa) Keine Rechtfertigung der in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffe nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses
31
bb) Keine Zurechnung des mit der Strafe verfolgten öffentlichen Interesses ohne schuldhaftes Verhalten
34
c) Ergebnis
37
3. Kapitel Zur Schuld als verfassungsrechtlichem Maßprinzip der Strafe I. Die Abhängigkeit des Schuldüberschreitungsverbots von der Deutung des Schuldprinzips als Ausprägung des Gedankens ausgleichender Gerechtigkeit
39
II. Die beiden in Betracht kommenden Grundgedanken des Schuldprinzips . . .
40
1. Die Vermeidbarkeit der Bestrafung für den einzelnen
40
a) Das sich hieraus ergebende Legitimationsmodell der Strafe
40
b) Die Folgerungen für das Strafmaß
41
2. Die Idee ausgleichender Gerechtigkeit
43
a) Das sich hieraus ergebende Legitimationsmodell der Strafe
43
b) Die Folgerungen für das Strafmaß
44
III. Ergebnis
45
4. Kapitel Zur Vereinbarkeit schuldunabhängiger Strafvoraussetzungen mit dem Schuldprinzip I. Die allgemeine Problematik
46
1. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur
46
2. Die verfassungsrechtliche Begrenzung der Zulässigkeit schuldunabhängiger Strafvoraussetzungen als Folge der Zweckbindung von Zurechnungsprinzipien
47
Inhaltsverzeichnis II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
52
1. Die Begehung der Rauschtat in §323 a StGB
53
2. Der Eintritt des Todes oder einer schweren Körperverletzung in § 227 StGB
59
3. Die Zahlungseinstellung oder Konkurseröffnung bzw. Ablehnung der Eröffnung mangels Masse in den §§ 283 ff. StGB
61
4. Die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung in § 113 StGB bei Zumutbarkeit, sich gegen die Handlung mit einem Rechtsbehelf zur Wehr zu setzen . . .
62
5. Die (vermutete) Unwahrheit der ehrenrührigen Tatsache in § 186 StGB
64
6. Das Bestehen diplomatischer Beziehungen in § 104a StGB
66
7. Die Verbürgung der Gegenseitigkeit zur Zeit der Tat und zur Zeit der Strafverfolgung in § 104 a StGB
68
Teil
2
Das Verbot der Verdachtsstrafe
5. Kapitel Verfassungsrechtliche Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe I. Vorüberlegungen
69
II. Zur Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus dem Strafzweck (utilitaristische Begründung)
70
I I I . Zur Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus dem Sinngehalt einer solchen Strafe
71
1. Der Sinngehalt einer Verdachts-Schuldstrafe 2. Die beiden in der Literatur vertretenen Begründungsansätze
71 72
a) Die Begründung aus der Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen
72
b) Die Begründung aus der Ehre
75
I V . Die Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus den in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffen (Begründung aus dem Schuldprinzip) . . . .
77
10
Inhaltsverzeichnis 6. Kapitel Zur Zulässigkeit von Verdachtsmerkmalen als Voraussetzung der Strafbarkeit
I. Problemstellung
78
II. Die bisherigen Ansätze zur Lösung des Problems
79
1. Vereinbarkeit mit dem Verbot der Verdachtsstrafe bei Einschränkung einer verfassungsrechtlich zulässigen Strafbarkeit
79
2. Verbot der Schuld- oder Unrechtsbezogenheit von Verdachtsmerkmalen
81
I I I . Die verfassungsrechtliche Begrenzung der Zulässigkeit von Verdachtsmerkmalen als Folge der Zweckbindung von Zurechnungsprinzipien
81
1. Die Parallele zu den schuldunabhängigen Voraussetzungen der Strafbarkeit
81
2. Beispielhafte Anwendung auf einzelne Verdachtsmerkmale
82
a) Die Verwendungsabsicht im bis zum 24. 6. 1969 geltenden § 245 a I StGB
82
b) Das Abwiegeln im Entwurf der Bundesregierung zu § 125 StGB aus dem Jahre 1983
82
c) Die Unwahrheit der Tatsachenbehauptung in § 186 StGB
83
Teil
3
Die Unschuldsvermutung
7. Kapitel Die verfassungsrechtliche Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung I. Vorüberlegungen
84
1. Beschränkung der Untersuchung auf die Unschuldsvermutung als Schutz vor Eingriffen ohne rechtskräftige Verurteilung
84
2. Methodisches Vorgehen
86
II. Die möglichen Grundansätze zur Konkretisierung der Unschuldsvermutung
87
1. Die Unschuldsvermutung als Verbot der Verwertung des Tatverdachts . .
87
a) Bedeutung dieses Ansatzes
87
b) Zur verfassungsrechtlichen Begründbarkeit dieses Ansatzes
89
2. Die Unschuldsvermutung als verfahrensmäßige Sicherung des Schuldprinzips
89
Inhaltsverzeichnis a) Die Unschuldsvermutung als Verbot „strafähnlicher Eingriffe"
....
89
b) Die Unschuldsvermutung als Verbot einer „strafähnlichen Rechtfertigung" von Eingriffen
92
III. Die Bedeutung des Verbots einer „strafähnlichen Rechtfertigung" von Eingriffen
92
1. Die Bedeutung für Eingriffe mit unmittelbar generalpräventiver Zwecksetzung
93
a) Das grundsätzliche Verbot solcher Eingriffe ohne rechtskräftige Verurteilung
93
b) Die Ausnahme für Eingriffe mit Zustimmung des Beschuldigten - das Problem des § 153 a StPO
94
2. Die Bedeutung für Eingriffe mit mittelbar generalpräventiver Zwecksetzung
97
3. Die Bedeutung für sonstige Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten
. . 101
8. Kapitel Die Bedeutung der Unschuldsvermutung für die Inanspruchnahme des Beschuldigten zur Strafverfolgung im einzelnen I. Die Gewährleistung einer absoluten Opfergrenze
103
1. Die Opfergrenze bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit
104
2. Die Opfergrenze bei Freiheitsentziehungen
105
II. Das Erfordernis eines überwiegenden Eingriffsinteresses
107
III. Das Verbot der Benachteiligung des Beschuldigten aufgrund von Zurechnungserwägungen 109 1. Die Erörterung eines solchen Benachteiligungsverbots in der Literatur . . 109 2. Der Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbots
111
a) Die Eingriffe, deren Zweck an die Person des Beschuldigten gebunden ist 111 b) Die Bedeutung für die Eingriffe zur Beweisführung
112
3. Überprüfung der Regelung der Eingriffe zur Beweisgewinnung und Beweissicherung in der Strafprozeßordnung auf die Vereinbarkeit mit dem Benachteiligungsverbot 112 a) Körperliche Untersuchung und körperlicher Eingriff nach §§81a,81c StPO 113 aa) Körperliche Untersuchung
113
bb) Körperlicher Eingriff
114
12
Inhaltsverzeichnis b) Beschlagnahme und Durchsuchung nach §§ 94,102 f. StPO
114
c) Postbeschlagnahme und Telefonüberwachung nach §§ 99, 100 a StPO 116 aa) Postbeschlagnahme
116
bb) Telefonüberwachung
117
d) Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr nach § 1121 i. V.m. I I Nr. 3 StPO 117 4. Ergebnis
119
I V . Das Entschädigungsgebot
120
1. Die Entschädigungsregelung nach einem Freispruch des Beschuldigten . . 121 2. Die Entschädigungsregelung nach einer Einstellung des Verfahrens
. . . 122
a) Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses
122
b) Einstellung nach einer Ermessensvorschrift
125
3. Die Entschädigungsregelung nach einer rechtskräftigen Verurteilung
. . 127
Schlußbemerkung und Ergebnisse der Untersuchung
127
I. Der gemeinsame Grundgedanke von Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung 127 II. Die Ergebnisse der Untersuchung
129
1. Die spezifischen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Verhängung einer Strafe 130 a) Verfassungsrechtliche Begründung dieser Voraussetzungen
130
b) Die Bereiche, in denen die derzeitige gesetzliche Regelung diesen Voraussetzungen nicht genügt 130 aa) § 153 a StPO
130
bb) Die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
131
2. Die spezifischen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Verdächtigen zur Strafverfolgung a) Verfassungsrechtliche Begründung dieser Voraussetzungen
131 131
b) Die Bereiche, in denen die derzeitige gesetzliche Regelung diesen Voraussetzungen nicht genügt 132 aa) Dauer der Untersuchungshaft
132
bb) Strafprozessuale Zwangsmittel zur Beweisgewinnung und Beweissicherung 132 cc) Entschädigung des nicht verurteilten Beschuldigten Literaturverzeichnis
132 134
Zum Thema der Untersuchung Neben dem Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege" gelten das Schuldprinzip, das Verbot der Verdachtsstrafe und die Unschuldsvermutung als die wesentlichen Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Straf rechts. Zusammen beschreiben diese Prinzipien die spezifischen materiellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Inanspruchnahme des einzelnen zum Zwecke der Strafrechtspflege: das Schuldprinzip sowie das Verbot der Verdachtsstrafe für die Strafe selbst und die Unschuldsvermutung für die der Strafe vorausgehenden Maßnahmen gegen einen noch nicht rechtskräftig Verurteilten. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit sich diese Voraussetzungen aus dem Grundgesetz ableiten lassen. Gegenstand der Erörterungen wird also die verfassungsrechtliche Begründung und Bedeutung der genannten Grundprinzipien sein. Die Beschränkung auf die verfassungsrechtliche Fragestellung gilt auch für die in internationalen Menschenrechtserklärungen 1 und einigen Landesverfassungen 2 ausdrücklich gewährleistete Unschuldsvermutung. Insbesondere die Auslegung des innerstaatlich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes3 geltenden Art. 6 I I der Europäischen Menschenrechtskonvention ist damit nicht Gegenstand der Untersuchung.
1 Art. 11 I der allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10.12.1948; Art. 6 I I der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 I I S. 685 ff.); Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 (BGBl. 1973 I I S. 1534 ff.). 2 Art. 65 I I Beri. Verf.; Art. 6 I I I Brem. Verf.; Art. 20 I I 1 Hess. Verf.; Art. 6 I I I 2 Rh-Pfälz. Verf.; Art. 14 I I Saarl. Verf. 3 Die vor allem in der älteren Literatur vertretene Auffassung, der Europäischen Menschenrechtskonvention käme Verfassungsrang zu (z. B. Echterhölter, Die Europäische Menschenrechtskonvention im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, JZ 1955, S. 689 ff.), wird von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z. B. BVerfGE 10, 271 (274); 41, 88 (105 f.)) und der heute ganz überwiegenden Meinung in der Literatur (z. B. Dürig in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 2 Rdn. 58; v. Mangoldt / Klein / Stark, GG, Art. 1 Abs. 2 Rdn. 85; v. Münch, G G K , Vor. Art. 1-19 Rdn. 80; Klein in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, Art. 1 Rdn. 18; Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427 ff. (428)) zu Recht abgelehnt.
Teil
1
Das Schuldprinzip 1. Kapitel
Vorüberlegungen I. Problemstellung und Gang der Untersuchung Der Strafe kommt nach herkömmlicher Dogmatik gegenüber anderen Grundrechtseingriffen eine verfassungsrechtliche Sonderstellung zu. Diese Stellung beruht zum Teil auf ausdrücklichen Regelungen der Verfassung, vor allem Art. 103 I I GG; im wesentlichen geprägt wird sie aber durch die Annahme eines ungeschriebenen Verfassungssatzes: „Keine Strafe ohne Schuld". Anders als sonstige Eingriffe in Rechte des Bürgers soll eine Strafe nur dann zulässig sein, wenn dem Bürger der Vorwurf gemacht werden kann, schuldhaft gegen Rechtsnormen verstoßen zu haben. Die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Strafe versteht sich von selbst, wenn man von einer absoluten Straftheorie ausgeht. Dann unterschiede sich die Strafe von allen anderen Grundrechtseingriffen dadurch, daß sie nicht gesellschaftlichen Zwecken, sondern allein der Verwirklichung ideeller Werte 1 (Vergeltung, Sühne, Gerechtigkeit 2 ) diente. Das bedeutet: Strafeingriffe könnten nicht mit überwiegenden Interessen der Allgemeinheit, sondern nur aus dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit 3 , der Betroffene habe den Eingriff als Übelszufügung verdient, gerechtfertigt werden. Eine sol1 Die Bezeichnung „Strafzwecke" sollte insoweit vermieden werden; denn Vergeltung, Sühne oder Gerechtigkeit sind keine mittels der Straf eingriffe zu erreichenden Zwecke, sondern diesen Eingriffen zugeschriebene Eigenschaften: Die Zufügung des Strafübels ist keine Ursache von Vergeltung, sondern die Vergeltung selbst (so auch Neumann / Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 4 f.; Schmidhäuser·, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 49 Fn 6). 2 Vgl. zu den absoluten Straftheorien im einzelnen Neumann / Schroth (wie Fn 1), S. 11 f. 3 Mit diesem Begriff soll nicht auf die von Aristoteles begründete Unterscheidung von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit Bezug genommen, sondern nur der Gegensatz zu einem zweckorientierten Gerechtigkeitsbegriff deutlich gemacht werden (zu der Frage, ob die Strafe eher der ausgleichenden oder der austeilenden Gerechtigkeit im Sinne Aristoteles zuzuordnen ist: Engisch, A u f der Suche nach der Gerechtigk e i t ^ . 162 und S. 174 ff.).
II. Die Grundbegriffe
15
che Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ist mit der allgemeinen Dogmatik des Verfassungsrechts nicht vereinbar; denn es fehlt bereits an der Mindestvoraussetzung4 für die Rechtmäßigkeit aller Grundrechtseingriffe: der Verfolgung eines legitimen gesellschaftlichen Zwecks. Hält man die Rechtfertigung gleichwohl für möglich, so setzt dies notwendigerweise voraus, daß für die Verfassungsmäßigkeit von Strafeingriffen besondere, von der allgemeinen verfassungsrechtlichen Dogmatik abweichende Regelungen gelten. Der Frage, ob eine solche Abweichung überhaupt verfassungsrechtlich begründbar ist, eine absolute Straftheorie also verfassungsgemäß wäre 5 , soll hier nicht nachgegangen werden, zumal eine wahrhaft absolute Straftheorie dergestalt, daß die Strafe der Verwirklichung der Gerechtigkeit um ihrer selbst willen dient, heute nicht mehr vertreten wird und es sogar zweifelhaft ist, ob eine solche Theorie jemals vertreten wurde 6 . Vielmehr geht es um das Problem, wie der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld" ausgehend von einer relativen Straftheorie, nach der die Strafe ebenso wie die anderen Grundrechtseingriffe gesellschaftlichen Zwecken dient, verfassungsrechtlich begründet werden kann. Dieses Problem soll in den folgenden Kapiteln stufenweise erörtert werden. Zunächst gilt es darzulegen, daß die Schuld notwendige Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit einer Strafe ist. Sodann wird zu klären sein, ob die Schuld auch das verfassungsrechtliche Maßprinzip der Strafe, ein Überschreiten der schuldangemessenen Strafe also verfassungswidrig ist. Abschließend soll auf die Zulässigkeit schuldgelöster Bedingungen der Strafbarkeit eingegangen werden. I I . Die Grundbegriffe Vor der Erörterung dieser Fragen ist jedoch zunächst die hier zugrundegelegte Bedeutung der Begriffe Strafe und Schuld kurz zu erläutern. Dabei geht es nicht darum, ein auf irgendeine Weise vorgegebenes Wesen der Strafe oder Wesen der Schuld zu erfassen. Die Begriffsbestimmung soll vielmehr lediglich dazu dienen, die Thematik der Untersuchung präzise abzustecken. Methodisch handelt es sich um die Formulierung einer Bedeutungshypothese des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld", die für die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Begründbarkeit unerläßlich ist, da sich aus der Verfassung nicht die Namen, sondern nur die Inhalte von Rechtssätzen ableiten lassen.
4
Statt aller: Bleckmann, Staatsrecht I I , S. 256 ff. mwN. Das Bundesverfassungsgericht hat die absoluten Straf„zwecke" anerkannt und damit incidenter die Ausnahme von der allgemeinen Verfassungsdogmatik zugelassen (E 28, 264 (278); 32,98 (109); 45,187 (253 f.)). 6 Dazu näher: Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, S. 266 f. 5
16
1. Kap.: Vorüberlegungen 1. Der Begriff der Strafe
Strafe im Sinne dieser Untersuchung ist jeder staatliche Eingriff in Rechtsgüter einer Person, der mit der Intention der Übelszufügung aufgrund eines vergangenen Verhaltens vorgenommen wird. Diese Begriffsbestimmung entspricht der in der Literatur verbreiteten Definition der Strafe als dem Begriffe nach vergeltender Eingriff 7 , wenn unter Vergeltung nicht mehr verstanden wird als eine intendierte Übelszufügung aufgrund eines vergangenen Verhaltens. Da der Ausdruck Vergeltung aber leicht die Vorstellung eines ideellen oder geistigen Ausgleichs der Tat hervorruft, wird auf seine Verwendung hier verzichtet. Denn eine solche Vorstellung darf dem zugrundegelegten Begriff der Strafe nicht immanent sein, wenn die Untersuchung auch für ein reines Abschreckungsstrafrecht Gültigkeit haben soll. Der hier verwendete Begriff der Strafe erfaßt damit nicht nur die Kriminalstrafe des Strafgesetzbuches, sondern auch das Bußgeld und die Verwarnung nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz, die beamtenrechtlichen Disziplinarstrafen sowie die prozessualen und vollstreckungsrechtlichen Sanktionen Ordnungshaft und Ordnungsgeld. Die Beugemittel Zwangshaft und Zwangsgeld sind dagegen keine Strafen im Sinne dieser Untersuchung, da bei ihnen zwar eine Übelszufügung intendiert ist, diese aber nicht aufgrund eines vergangenen, sondern zur Erzwingung eines künftigen Verhaltens erfolgt. Auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung fallen nicht unter den hier verwendeten Strafbegriff. Bei ihnen fehlt es bereits an der Intention der Übelszufügung. Außerdem ist das vergangene Verhalten nur der Anlaß für die Verhängung einer Maßregel. Der Grund des Eingriffs liegt bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung in der in dem Verhalten zutage getretenen Gefährlichkeit des Inanspruchgenommenen. 2. Der Begriff der Schuld
Zu diesem Begriff ist zunächst festzustellen, daß die in neuerer Zeit im Vordringen befindliche, allein an Präventionszwecken orientierte Deutung der Schuld8 hier nicht zugrundegelegt werden kann. Das Verständnis der Schuld 7 ζ. B. Schlosser. Keine Strafe ohne Schuld, S. 15; Hellmuth Mayer, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 358; Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, S. 34 ff.; derselbe, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 25; Gallas, Gründe und Grenzen der Strafbarkeit, S. 4 f.; Klug, Phänomenologische Aspekte der Strafrechtsphilosophie von Kant bis Hegel, S. 219; Neumann / Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 6; Müller-Dietz, Integrationsprävention und Strafrecht, S. 815. 8 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 1 ff.; derselbe, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 394 ff.; Bierbrauer I Haffke, Schuld und Schuldfähigkeit, S. 165; sowie aus tiefenpsychologischer Sicht Streng, Schuld, Vergeltung, Generalprävention, ZStW 92 (1980), S. 664 f.; derselbe, Unterlassene Hilfeleistung als Rauschtat, JZ 1984, S. 114 ff. (119). Zur Kritik an dieser Konzeption: Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, S. 25 ff.; derselbe, Rezension von Jakobs, Schuld und Prävention, ZStW 92 (1980), S. 915 ff.; Schöneborn, Grenzen einer generalpräventiven Funktion
II. Die Grundbegriffe
17
als bloße Zuschreibung nach dem Maß des Präventionsinteresses 9 ist mit dem Ziel der vorliegenden Untersuchung, der verfassungsrechtlichen Begründung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld", nicht vereinbar. Denn dieser Schuldbegriff geht bereits davon aus, daß auf der Basis einer relativen Straftheorie eine solche Begründung gerade nicht möglich ist 10 und deutet deshalb den Begriff der Schuld um: die Schuld begründet nicht mehr die Zulässigkeit einer (zweckmäßigen) Bestrafung, sondern die Zweckmäßigkeit der Bestrafung begründet die Schuld. Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld" wird nur dem Namen nach beibehalten. In der Sache reduziert er sich bei einer allein an Präventionszwecken orientierten Deutung der Schuld auf die Aussage, daß die Bestrafung nur dann erfolgen darf, wenn sie zweckmäßig i s t 1 1 . Eine Untersuchung, die die Schuld als eigenständige Voraussetzung der Strafbarkeit verfassungsrechtlich begründen will, kann deshalb eine solche Deutung nicht zugrundelegen. Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist deshalb der traditionelle Schuldbegriff. Dieser bezeichnet drei Mindestanforderungen an ein Verhalten, auf das mit Strafe reagiert werden darf: - erstens muß es sich um ein eigenes Verhalten des Bestraften handeln; - zweitens muß das Verhalten eine Rechtsnorm verletzen; und - drittens muß der Bestrafte für sein rechtswidriges Verhalten verantwortlich sein. Die beiden ersten Voraussetzungen sind aus sich heraus verständlich, die dritte soll kurz erläutert werden: Der Begriff der Verantwortlichkeit knüpft an das dem menschlichen Denken und sozialen Leben immanente 12 Phänomen an, daß unter bestimmten empirischen (inneren und äußeren) Bedingungen das Verhalten einer Person als von ihr bzw. durch sie selbst bestimmt angesehen wird. Ob dieses Phänomen mit dem deterministischen Modell der Bestimmtheit durch den Charakter 13 oder mit dem indeterministischen Modell der freien Willensentscheidung des strafrechtlichen Schuldprinzips, ZStW 92 (1980), S. 682 ff.; Seelmann, Neue Entwicklung beim strafrechtsdogmatischen Schuldbegriff, Jura 1980, S. 505 ff.; Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, S. 179 ff.; Arthur Kaufmann, Schuld und Prävention, S. 892 ff.; derselbe, Unzeitgemäße Betrachtungen zum Schuldgrundsatz im Strafrecht, Jura 1986, S. 225 ff. (226); Kunz, Prävention und gerechte Zurechnung, ZStW Bd. 98 (1986), S. 823 ff. (836 ff.). 9 A m deutlichsten bei Jakobs, Schuld und Prävention, S. 9 und S. 31 f. ' 1 0 Deutlich bei Jakobs, Schuld und Prävention, S. 7 f. 11 Dementsprechend versteht Jakobs den Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld" nur als anderen Ausdruck für die Prinzipien der Geeignetheit und Erforderlichkeit (Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 399 f.). 12 Vgl. dazu Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 214 f.; Schiinemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, S. 163 ff. 2 Frister
18
2. Kap.: Schuld als Voraussetzung der Strafe
erklärt wird, ist im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung. Für die Definition der Schuld als Voraussetzung der Strafbarkeit kommt es nur auf die empirisch festzustellenden Bedingungen an, unter denen ein Verhalten als selbstbestimmt angesehen wird, und diese Bedingungen sind bei beiden Erklärungsmodellen gleich 14 . Bezüglich des hier in Frage stehenden rechtswidrigen Verhaltens lassen sie sich stichwortartig mit den Begriffen Fehlen eines inneren oder äußeren Zwangs, Vorsatz oder Fahrlässigkeit sowie Kenntnis oder Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit beschreiben. Ihre Bestimmung im einzelnen ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, da es nur um die prinzipielle Frage gehen soll, ob Strafe verfassungsrechtlich überhaupt Schuld voraussetzt. 2. Kapitel
Verfassungsrechtliche Begründung der Schuld als Voraussetzung der Strafe In Rechtsprechung und Literatur werden als verfassungsrechtliche Grundlagen des Schuldprinzips Art. 1 I GG und das Rechtsstaatsprinzip angeführt. Diesen unterschiedlichen Rechtsgrundlagen entsprechen aber keine unterschiedlichen Sachargumente. Fast alle zur Begründung des Schuldprinzips vorgetragenen, zum Teil sehr unterschiedlichen Gesichtspunkte werden sowohl mit Art. 1 I GG als auch mit dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung gebracht. Aufgrund dessen wäre es wenig sinnvoll, die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Schuldprinzips nach den für eine Ableitung in Frage kommenden Verfassungsgrundsätzen zu gliedern. Die zur Begründung der Schuld als verfassungsrechtlicher Voraussetzung der Strafe in Betracht kommenden Argumente werden im folgenden stattdessen danach geordnet, ob sie - an der Frage der Zweckmäßigkeit der Strafe, - an dem Sinngehalt der Strafe, oder - an dem Strafeingriff ansetzen1.
13 Dazu philosophisch grundlegend: Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, § 55, S. 337 ff.; aus der juristischen Literatur vgl. vor allem: Adolf Merkel, Verbrechen und Strafe, S. 89 ff.; Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit, S. 46 ff.; und zur neueren Diskussion Burkhardt, Utilitaristische Rechtfertigung des Schuldprinzips, S. 52 ff.; sowie Baurmann, Folgenorientierung und subjektive Verantwortlichkeit, S. 43 ff. mwN. 14 Dazu näher Baurmann (wie Fn 13), S. 43 ff.; zur Begründung der anerkannten Schuldvoraussetzungen auf deterministischer Grundlage ausführlich: Engisch (wie Fn 13), S. 56 ff.
I. Utilitaristische Begründung des Schuldprinzips
19
I . Z u r Begründung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld" aus dem Strafzweck (utilitaristische Begründung des Schuldprinzips) 2 1. Die verfassungsrechtliche Bedeutung einer utilitaristischen Begründung des Schuldprinzips Bereits i m Jahre 1780 hat Jeremy Bentham? den Versuch unternommen, das Schuldprinzip utilitaristisch, d . h . m i t der Erwägung zu begründen, daß allein eine an Schuld anknüpfende Strafe zweckmäßig sei. I n der Folgezeit hat es eine Vielzahl weiterer Begründungsversuche i n diese Richtung gegeben 4 . Sie sind nicht nur kriminalpolitisch, sondern wegen der i m Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zusammengefaßten Prinzipien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Proportionalität auch verfassungsrechtlich v o n Bedeutung 5 u n d deshalb m i t i n diese Untersuchung einzubeziehen. D a b e i ist allerdings zu beachten, daß der Gesetzgeber bei der Frage der Zweckmäßigkeit einer Strafe einen erheblichen Beurteilungsspielraum hat 6 . Wegen des Fehlens zuverlässiger empirischer Erkenntnisse über die W i r k u n gen v o n Strafe 7 k a n n eine gesetzgeberische Beurteilung nur auf ihre Vertret1
Dies wird sich vor allem im 3. Teil der Untersuchung, bei der Konkretisierung der Unschuldsvermutung aus dem Grundgedanken des Schuldprinzips, als sinnvoll erweisen (vgl. dazu 7. Kap. I I 2 b). 2 Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, daß eine utilitaristische Begründung des Schuldprinzips keine präventive Deutung des Begriffs der Schuld voraussetzt. Denn die Zwecklosigkeit einer Strafe ohne Schuld muß sich nicht schon aus dem Begriff der Schuld ergeben, sondern kann auch auf empirischen Gründen beruhen. 3 Bentham, A n Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S. 171 ff. 4 Einen guten Überblick zur aktuellen Diskussion geben Baurmann, Folgenorientierung und subjektive Verantwortlichkeit, S. 19-39 und Burkhardt, Zur Möglichkeit einer utilitaristischen Rechtfertigung des Schuldprinzips, S. 51 ff. Umfassende Literaturhinweise finden sich bei Jakobs, Zum Verhältnis von psychischem Faktum und Norm bei der Schuld, KrimGfr 15 (1982), S. 127 ff. (139 Fn 9). 5 Die häufig anzutreffende Gegenüberstellung von rechtlichen und kriminalpolitischen Gründen für die Geltung des Schuldprinzips (z. B. S tree, In dubio pro reo, S. 12 f.) wird der Problematik deshalb nicht gerecht. 6 BVerfGE 45,187 (257). 7 Zumindest über die generalpräventive Wirkung der Strafe lassen sich - jedenfalls nach dem gegenwärtigen Stand der Sozialwissenschaften - keine zuverlässigen Aussagen machen {Kaiser, Antrag auf Einrichtung eines DFG-Schwerpunkts, MonKrim 1977, S. 41 ff.; Neumann / Sehroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 36; Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, S. 43; Köberer, Läßt sich Generalprävention messen? MonKrim 1982, S. 200 ff. (213)). Zwar gibt es in den USA bereits seit Anfang der siebziger Jahre eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen zur Abschreckungswirkung der Strafe, die sich vor allem ökonometrischer Methoden bedienen (einen Uberblick gibt Otto, Generalprävention und externe Verhaltenskontrolle; bibliographische Nachweise finden sich bei Beyleveld, A Bibliography on General Deterrence Research), jedoch sind die Ergebnisse dieser Untersuchungen schon wegen der Vielzahl noch ungelöster methodenimmanenter Probleme (dazu im einzel2*
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2. Kap.: Schuld als Voraussetzung der Strafe
barkeit hin überprüft werden 8 . Utilitaristische Ansätze zur Begründung des Schuldprinzips vermögen eine verfassungsrechtliche Gewährleistung deshalb nur dann zu begründen, wenn sie keinen vernünftigen Zweifel daran zulassen, daß eine Strafe ohne Schuld nicht zweckmäßig ist. 2. Die utilitaristischen Begründungsansätze
Im wesentlichen lassen sich zwei utilitaristische Begründungsansätze unterscheiden: a) Der „einfache AnsatzStrafe
ohne Schuld bringt keinen Nutzen
Dieser Ansatz ist verfassungsrechtlich dem Prinzip der Geeignetheit zuzuordnen und besagt, daß Strafe ohne Schuld keine präventive Wirkung haben könne 9 . Begründet wird diese Behauptung u.a. mit der Überlegung, die Präventionswirkung des Strafrechts beruhe auf der Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten an Normen zu orientieren. Diese Fähigkeit bestehe nur im Falle schuldhaften Verhaltens; deshalb sei es präventiv sinnlos, schuldlos begangene Taten zu bestrafen 10. Diese Überlegung ist nicht überzeugend. Aus der Tatsache, daß die Präventionswirkung des Straf rechts die normative Ansprechbarkeit voraussetzt, folgt lediglich, daß schuldlos begangene Straftaten durch Strafrecht nicht verhindert werden können 11 . Die Möglichkeit, daß durch eine Strafe ohne Schuld die Anzahl der schuldhaft begangenen Straftaten gesenkt werden könnte, ist damit nicht ausgeschlossen12. nen Köberer, aaO, S. 213 ff.) mit Skepsis zu betrachten. Grundsätzliche Bedenken ergeben sich im übrigen daraus, daß die ökonometrische Methode auf dem bis vor kurzem noch allgemein als überholt angesehenen (vgl. Neumann / Schroth, aaO, S. 35 f mwN), Feuerbach'schen Modell der Generalprävention beruht. Untersuchungen zum empirischen Nachweis der positiven Generalprävention gibt es bisher kaum. Über Anfänge berichtet Schöch, Empirische Grundlagen der Generalprävention, S. 1085 ff. 8 Allgemein zur Überprüfung von Prognoseentscheidungen und zu dem Vertretbarkeitsmaßstab: Stein in: A K - G G , Einl. I I Rdn. 61 ff. mwN. 9 Bentham, A n Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S. 171 ff.; Noll, Schuld und Prävention unter dem Gesichtspunkt der Rationalisierung des Strafrechts, S. 220 ff.; Gimbernat-Ordeig, Strafrechtssystematik und Nichtbeweisbarkeit der Willensfreiheit, S. 163 u. S. 165; ebenso, aber nicht als alleinige Begründung des Schuldprinzips: Grünwald, Das Rechtsfolgensystem des Alternativ-Entwurfs, ZStW 80 (1968), S. 89 ff. (94); Roxin, „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, S. 186; derselbe, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, S. 297; Rudolphi, Zweck staatlichen Strafrechts und Zurechnungsformen, S. 72. 10 Bentham (wie Fn 9), S. 171 ff.; Noll (wie Fn 9), S. 220 ff.; Rudolphi (wie Fn 9), S. 72. 11 Auch insoweit kritisch: Burkhardt, Das Zweckmoment im Schuldbegriff, G A 1976, S. 321 ff. (336).
I. Utilitaristische Begründung des Schuldprinzips
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Zur Beurteilung der Präventionswirkung einer Strafe ohne Schuld ist man deshalb auf Plausibilitätserwägungen angewiesen. Diese sprechen m.E. insgesamt eher für eine präventive Wirkung: Was zunächst die Abschreckung angeht, so ist es - soweit man eine solche Wirkung der Strafe überhaupt für gegeben erachtet - auch durchaus plausibel anzunehmen, daß sich mit bestimmten Formen einer Strafe ohne Schuld ζ. B. der Bestrafung Angehöriger 13 - zusätzliche Abschreckungseffekte erzielen ließen. Entgegen einer verbreiteten Auffassung 14 ist aber auch ein Gewinn an positiver Generalprävention durch eine Strafe ohne Schuld nicht auszuschließen. Denn die Argumentation, die Schuld sei insoweit als Voraussetzung der Strafe unerläßlich, weil eine Einwirkung auf das Wertbewußtsein nur durch eine als gerecht angesehene Strafe erfolgen könne 15 , ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen ist schon zweifelhaft, ob das Schuldprinzip in all seinen Ausprägungen tatsächlich so im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung verankert ist, daß eine Strafe ohne Schuld stets als ungerecht empfunden wird. Der Freispruch eines Schuldunfähigen ζ. B. stößt in weiten Kreisen der Bevölkerung noch heute des öfteren auf Unverständnis 16 und wird außerdem in vielen Fällen wohl allein deshalb akzeptiert, weil die mit einem solchen Freispruch meist verbundenen freiheitsentziehenden Maßregeln als eine „ A r t Bestrafung" angesehen werden. Und zum anderen steht es auch keineswegs fest, daß eine Einwirkung auf das Wertbewußtsein nur durch eine als gerecht angesehene Strafe erfolgen kann. Die hinter dieser Behauptung stehende Überlegung, die Bevölkerung werde aus der Ungerechtigkeit einer Strafe auf die Ungerechtigkeit der strafrechtlichen Verbote schließen und diese deshalb nicht akzeptie12 Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, S. 76 f.; Baurmann, Folgenorientierung und subjektive Verantwortlichkeit, S. 27 f.; im Ergebnis auch Schöneborn, Schuldprinzip und generalpräventiver Aspekt, ZStW 88 (1976), S. 349 ff. (351 Fn 12). 13 Hart (wie Fn 12), S. 69, der als Beispiel auf die römische Lex Quisquis aus dem Jahr 397 n. Chr. verweist, die die Bestrafung der Kinder von Personen vorsah, die sich des crimen majestatis schuldig machten; Hoerster, Zur Generalprävention als dem Zweck staatlichen Strafens, G A 1970, S. 272 ff. (275); Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", S. 271. 14 Z.B.: Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 3 f., S. 7 u. S. 242; Blei, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 33. 15 In diese Richtung ζ. B. Welzel (wie Fn 14), S. 3 f.; Bockelmann, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 8; Noll, Schuld und Prävention unter dçm Gesichtspunkt der Rationalisierung des Straf rechts, S. 223; Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, S. 305; Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, S. 265; Müller-Dietz, Integrationsprävention und Strafrecht, S. 824. 16 Das spektakulärste Beispiel dafür gab es in jüngster Zeit in den USA. Im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen den Reagan-Attentäter Hinckley im Jahre 1982 gab es dort in mehr als 20 Staaten - zum Teil sogar erfolgreiche - Bestrebungen, die Verteidigung mit dem Argument der Schuldunfähigkeit einzuschränken oder gar ganz auszuschließen (vgl. den Bericht in Newsweek v. 24.5.1982, S. 56 ff.).
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2. Kap.: Schuld als Voraussetzung der Strafe
ren, wäre nur dann ohne weiteres plausibel, wenn es sich bei der Stärkung des Wertbewußtseins durch Strafe um einen den Normadressaten bewußtwerdenden, von ihnen reflektierten Prozeß handelte. Diese Voraussetzung trifft jedoch nicht zu. Die Strafe dient auch nach der Theorie der positiven Generalprävention nicht der argumentativen Beeinflussung des Menschen; sie ist vielmehr ein psychologisches17 Mittel der Verhaltenssteuerung 18. Ihre rechtsbewährende Funktion besteht nicht in der Orientierung über den Inhalt der Strafnormen 19 - dazu bedürfte es keiner Übelszufügung - , sondern beruht auf der Anknüpfung an die Vergeltungsvorstellung als psychologischer Regung des Menschen. Nur aufgrund der VergeltungsVorstellung wird eine Übelszufügung als Bewährung der durch das bestrafte Verhalten verletzten Rechtsnorm empfunden. Ob das Funktionieren dieser psychologischen Verhaltenssteuerung eine als gerecht angesehene Strafe zur Voraussetzung hat, ist durchaus offen. Denkbar wäre auch, daß sich mit einer nicht an die individuelle Vermeidbarkeit anknüpfenden Strafe - mag diese auch als ungerecht reflektiert werden - stärkere TabuisierungsWirkungen erzielen ließen 20 . b) Der „.qualifizierte" Ansatz: Strafe ohne Schuld bringt mehr Schaden als Nutzen Der zweite utilitaristische Begründungsansatz ist verfassungsrechtlich dem Proportionalitätsprinzip zuzuordnen, wobei es allerdings nicht um die bei diesem Prinzip ansonsten im Vordergrund stehende Abwägung zwischen der Intensität des Grundrechtseingriffs und dem mit dem Eingriff verfolgten öffentlichen Interesse, sondern um eine Abwägung zwischen dem Ziel des Eingriffs und seinen Nebenfolgen 21 geht. Strafe ohne Schuld könne zwar präventive Wirkung haben, aber der darin liegende Nutzen werde durch negative 17
Ob es sich - wie zumeist angenommen - um sozialpsychologische oder um tiefenpsychologische (dazu vor allem Haffke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, S. 87 ff.) Wirkungsmechanismen handelt, kann hier dahingestellt bleiben. 18 Deshalb ist die des öfteren anzutreffende Auffassung, die positive Generalprävention appelliere an die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung, während die Abschreckung ihn als beliebig dressierbares Objekt voraussetze (z. B. Rudolphi, Zweck staatlichen Strafrechts und Zurechnungsformen, S. 73; Noll, Schuld und Prävention unter dem Gesichtspunkt der Rationalisierung des Strafrechts, S. 227) durchaus fragwürdig. Kritisch dazu auch Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, S. 31 f. 19 So aber Noll (wie Fn 18), S. 223; Maurach, Das Unrechtsbewußtsein zwischen Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik, S. 317 f. 20 Für den Fall der Bestrafung von Angehörigen des Täters ebenso Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", S. 271. 21 Auch dies ist im Rahmen der Proportionalität zu prüfen (Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, NJW 1968, S. 1600 ff. (1604 f.).
I. Utilitaristische Begründung des Schuldprinzips
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gesellschaftliche Auswirkungen mehr als aufgehoben 22. Eine Strafe ohne Schuld vereitele eine rationale Lebensplanung, weil das Risiko, bestraft zu werden, nicht mehr kalkulierbar sei 23 . Als psychologische Auswirkung einer solchen Strafe ergäbe sich eine allgemeine Verunsicherung der Bevölkerung, da jeder zu jeder Zeit in der Angst lebe, bestraft zu werden 24 . Auch bei diesem Argumentationsansatz bleiben Zweifel, ob er hinsichtlich aller Schuldelemente Gültigkeit besitzt. Sicherlich hätte eine weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit voraussetzende Strafe eine erhebliche Verunsicherung zur Folge. Aber dies gilt nicht für jede Strafe ohne Schuld. Die Bestrafung von Personen, die aufgrund psychischer Krankheiten schuldunfähig sind, dürfte z. B. - gesamtgesellschaftlich betrachtet 25 - kaum eine verunsichernde Wirkung haben. Eine solche Strafe erhöhte für die große Mehrheit der Bevölkerung das Risiko, bestraft zu werden, schon objektiv nur in geringem Maße. Subjektiv würde diese Risikosteigerung wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen, weil die Möglichkeit einer eigenen psychischen Erkrankung meist verdrängt wird. 3. Ergebnis
Bei beiden utilitaristischen Begründungsansätzen bleiben also Zweifel, ob eine Strafe ohne Schuld in bestimmten Fällen und Grenzen nicht doch zweckmäßig sein kann. Der Gesetzgeber würde daher mit einer entsprechenden Prognose den ihm bei der Frage der Wirkungen von Strafe einzuräumenden Beurteilungsspielraum nicht überschreiten. Eine verfassungsrechtliche Gewährleistung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld" läßt sich deshalb mit utilitaristischen Argumenten allein nicht begründen.
22 So aus der deutschen Literatur vor allem Hoerster, Zur Generalprävention als dem Zweck staatlichen Strafens, G A 1970, S. 272 ff. (276 f.); derselbe, Artikel „Strafe", S. 460; ferner Jakobs, Schuld und Prävention, S. 24; Nachweise zur angloamerikanischen Literatur bei Burkhardt, Utilitaristische Rechtfertigung des Schuldprinzips, S. 70 Fn 37, S. 74 Fn 42 und S. 77 Fn 48. - Diesen Begründungsansatz gibt es in einer handlungs- und einer regelutilitaristischen Variante. Die handlungsutilitaristische behauptet, daß die Bestrafung eines Unschuldigen in jedem Fall mehr Schaden als Nutzen bewirken würde. Nach der regelutilitaristischen Spielart ist es dagegen möglich, daß die Bestrafung eines Unschuldigen im Einzelfall mehr nützt als schadet; entscheidend ist, daß eine gesellschaftliche Regel, nach der Strafe ohne Schuld verhängt werden soll, insgesamt mehr schaden als nützen würde (vgl. dazu näher Burkhardt, aaO, S. 64 f. und S. 75 f. mwN). Die Unterscheidung spielt im folgenden Argumentationsgang keine Rolle. 23
Hoerster, Zur Generalprävention als dem Zweck staatlichen Straf ens, G A 1970, S. 276 f.; Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, S. 82. 24 Hoerster (wie Fn 23), S. 276 f.; Jakobs, Schuld und Prävention, S. 24. 25 Die Frage, inwieweit die Interessen der Mehrheit eine Benachteiligung Einzelner rechtfertigen, läßt sich mit utilitaristischen Argumenten nicht lösen; auf sie wird unter I I I 2 b aa einzugehen sein.
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2. Kap.: Schuld als Voraussetzung der Strafe
Π . Zur Begründung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld" aus dem Sinngehalt der Strafe (Begründung des Schuldprinzips aus dem Unwerturteil) Der Versuch der Ableitung des Schuldprinzips aus dem Sinngehalt der Strafe erscheint auf den ersten Blick besonders erfolgversprechend. Denn natürlich liegt es nahe, den Grund dafür, daß gerade die Verhängung einer Strafe Schuld voraussetzt, in dem zu suchen, was die Strafe schon begrifflich von allen anderen Grundrechtseingriffen unterscheidet: ihr Sinngehalt „Übelszufügung aufgrund eines vergangenen Verhaltens". So wird denn auch bei der verfassungsrechtlichen Begründung des Schuldprinzips in Rechtsprechung und Literatur häufig nicht dem Strafeingriff, sondern dem Sinngehalt 26 der Strafe bzw. einem aus ihm abgeleiteten „Unwerturteil" 2 7 die entscheidende Bedeutung beigemessen. Idealtypisch lassen sich dabei zwei Argumentationsansätze unterscheiden: Der erste stellt auf die Beeinträchtigung der sittlichen Persönlichkeit durch den Sinngehalt der Strafe als solchen ab; der zweite knüpft an die gesellschaftlichen Wirkungen des Sinngehalts und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die soziale Stellung des Betroffenen an. 1. Die Argumentation aus dem Sinngehalt als solchem
Zunächst zum erstgenannten Begründungsversuch: Dessen Ausgangspunkt ist die Annahme, daß jede Strafe den Vorwurf persönlichen Fehlverhaltens enthalte 28 . Mit der Bestrafung werde im Namen der Rechtsgemeinschaft ein „sittlicher" 29 oder „sozialethischer" 30 Unwertvorwurf erhoben. Die Erhebung eines solchen Vorwurfs setze Vorwerfbarkeit und damit Schuld voraus. Dies ergebe sich sowohl aus dem Rechtsstaatsprinzip 31, nach dem Tatbestand und Rechtsfolge in einem angemessenen Verhältnis stehen müßten, als auch aus Art. 1 I G G 3 2 , der die Erhebung eines die sittliche Persönlichkeit beeinträch26
So ausdrücklich Blei, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 176. BVerfGE 20, 323 (331); 25, 269 (286); 27,18 (29); 45,187 (259 f.); aus der Literatur ζ. B. Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung, S. 17; Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 934 ff.; Zipf, Strafmaßrevision, S. 34 ff.; Lenckner, in: Schönke / Schröder, Vor § 13 Rdn 103; Miehe, Die Bedeutung der Tat im Jugendstraf recht, S. 97; Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, S. 31 f. 28 Besonders deutlich wird dieser Ansatz in BVerfGE 20, 323 (331); bei Müller-Dietz (wie Fn 27), S. 31 f. und bei Zipf (me Fn 27), S. 47 ff. 29 So z. B. Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 934; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 53; derselbe, In dubio pro reo, S. 16. 30 So z. B. BVerfGE 25, 269 (286); 27, 18 (29); Lenckner in: Schönke / Schröder, Vor § 13 Rdn 103; Miehe, Die Bedeutung der Tat im Jugendstrafrecht, S. 97. 31 BVerfGE 20, 323 (331); 25, 269 (286); 27, 18 (29); 45, 187 (259 f.); Zipf (wie Fn 27), S. 47 ff.; Lenckner (wie Fn 30), Rdn 103. 27
II. Begründung des Schuldprinzips aus dem Unwerturteil
25
tigenden personalen Unwertvorwurfs gegenüber einem Unschuldigen nicht zulasse. Bei näherer Analyse erweist sich bereits der Ausgangspunkt dieses Argumentationsansatzes als unzutreffend. Nicht jede Strafe enthält gegenüber dem Bestraften den Vorwurf persönlichen Fehlverhaltens: Aus dem Begriff der Strafe ergibt sich nur ein Unwerturteil über das Verhalten, aufgrund dessen dem Betroffenen ein Übel zugefügt werden soll. Welche Beziehung zwischen diesem Verhalten und dem Bestraften durch die Strafe ausgedrückt wird, hängt von den Voraussetzungen der Strafbarkeit ab. Nur in einem Schuldstrafrecht enthält die Strafe den Vorwurf persönlichen Fehlverhaltens. In einem reinen Erfolgsstrafrecht bedeutet die Strafe lediglich, daß der Bestrafte einen objektiv rechtswidrigen Erfolg herbeigeführt hat, und in einem Strafrecht mit Sippenhaft bringt die Bestrafung nur zum Ausdruck, daß der Betroffene mit jemandem verwandt ist, der eine strafbare Handlung begangen hat. Die Begründung des Schuldprinzips aus dem „personalen Unwerturteil" erweist sich damit als petitio principii: aus dem Sinngehalt der Strafe in einem Schuldstrafrecht wird die Schuld als Voraussetzung der Strafbarkeit abgeleitet. Mit dem personalen Unwerturteil ließe sich allenfalls begründen, daß unter Voraussetzung der generellen Geltung des Schuldprinzips die Bestrafung eines Unschuldigen nicht als Ausnahme vorgesehen werden darf 33 , weil bei einer solchen Regelung die Gefahr bestünde, daß der generelle Sinngehalt der Strafe in einem Schuldstrafrecht auf die Ausnahme "abfärbte" 34 , also auch die Strafe ohne Schuld in der Bevölkerung als Vorwurf persönlichen Fehlverhaltens verstanden würde. M.E. ließe sich diese Gefahr jedoch durch eine besondere Kennzeichnung der Strafen, die ohne Schuld verhängt werden dürfen, abwenden. Im einzelnen soll dem aber hier nicht näher nachgegangen werden, da Ziel der vorliegenden Untersuchung die verfassungsrechtliche Begründung der prinzipiellen Geltung des Schuldprinzips ist. 2. Die Argumentation aus der sozialen Diskriminierungswirkung des Sinngehaltes
Dieser Argumentationsansatz geht davon aus, daß jede Strafe den Betroffenen in der Gesellschaft diskriminiere 35 . Eine solche Diskriminierung sei nur 32
BVerfGE 45, 187 (259 f.); Lenckner (wie Fn 30), Rdn 103; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 53. 33 So Schlosser, Keine Strafe ohne Schuld, S. 69. 34 Schlosser (wie Fn 33), S. 69. 35 So besonders deutlich Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 52.
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2. Kap.: Schuld als Voraussetzung der Strafe
zulässig, wenn der Bestrafte schuldhaft gehandelt und sich den Verlust an sozialer Achtung deshalb selbst zuzuschreiben habe 36 . Dieser Argumentationsansatz beruht nicht auf einer petitio principii. Denn die Strafe hat nicht nur in einem Schuldstrafrecht sozial diskriminierende Wirkung. Jede Strafe stellt eine Beziehung zwischen dem durch die Intention der Übelszufügung als unwert gekennzeichneten Verhalten und dem Bestraften her: sie läßt ihn „für dieses Verhalten einstehen". Bereits darin liegt eine negative Kennzeichnung des Betroffenen, die gesellschaftliche Abwehrreaktionen hervorrufen und damit seine soziale Stellung beeinträchtigen kann. Aufgrund welcher Zurechnungsvorstellungen (Schuld, Verursachung, Familienzugehörigkeit etc.) die Stigmatisierung erfolgt, ist allenfalls für das Ausmaß der diskriminierenden Wirkung von Bedeutung. Die Problematik des zweiten Argumentationsansatzes liegt nicht in seinem Ausgangspunkt, sondern in der Annahme, daß staatliche Maßnahmen mit sozial diskriminierender Wirkung nur dann zulässig seien, wenn der Betroffene sich diese Maßnahmen selbst zuzuschreiben habe. Sozial diskriminierende Maßnahmen sind sicherlich eine Beeinträchtigung des durch Art. 1 I i.V.m. 2 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit ein Grundrechtseingriff. Aber daraus folgt noch nicht, daß sie nur bei schuldhaftem Verhalten gerechtfertigt werden könnten; denn bei anderen Grundrechtseingriffen wird allgemein angenommen, daß eine Rechtfertigung auch ohne schuldhaftes Verhalten, ζ. B. mittels eines überwiegenden öffentlichen Interesses, möglich sei. Ein prinzipieller Unterschied zwischen der sozial diskriminierenden Wirkung der Strafe und den realen Straf eingriffen bestände nur dann, wenn die in jeder Strafe enthaltene Diskriminierung nicht nur ein Grundrechtseingriff wäre, sondern darüberhinaus die Menschenwürde verletzte. Dies kann jedoch - entgegen der Auffassung von S tree 37 - nicht angenommen werden: Eine Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist keineswegs in jedem Fall auch S\s Verletzung der Menschenwürde anzusehen38. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht das Persönlichkeitsrecht unter anderem aus Art. 1 I GG abgeleitet 39 ; aber dies hängt damit zusammen, daß das Gericht der Menschenwürde nicht nur eine absolute Grenze für staatliches Handeln in jedem Einzelfall entnimmt, sondern ihr auch die Funktion eines obersten Stree (wie Fn 35), S. 52. Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 51 f. 38 Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 153 Fn 24; Dürig in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 30 u. Rdn 41; Herzog in: Maunz / Dürig, GG, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdn 248; Zippelius in: Bonner Kommentar, GG, Art. 1 Rdn 11; v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 78. 39 ζ. B. BVerfGE 30, 173 (194); kritisch dazu Hirsch, Richterrecht und Gesetzesrecht, JR 1966, S. 334 f. mwN. 37
II. Begründung des Schuldprinzips aus dem Unwerturteil
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Konstitutionsprinzips der Rechtsordnung beimißt 40 . Aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu den Einschränkungen des Persönlichkeitsrechts 41 geht deutlich hervor, daß dieses Recht nicht prinzipiell höher bewertet wird als andere Grundrechte. Dies ist auch sachgerecht. Denn ζ. B. die Freiheit der Person oder die körperliche Unversehrtheit sind für die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen mindestens ebenso wichtig wie sein Ansehen in der Gesellschaft. Eine soziale Diskriminierung ist deshalb nur dann eine Verletzung der Menschenwürde, wenn der Betroffene als grundsätzlich minderwertig gekennzeichnet und damit der ihm kraft seines Mensch-Seins zukommende, prinzipiell gleiche und unverlierbare Wert negiert wird, wie dies zum Beispiel durch die Verpflichtung zum Tragen des Judensterns geschehen ist 42 . Eine derartige Diskriminierung kann zwar - dafür gibt es historische Beispiele 43 - als besonderes Strafübel vorgesehen sein; aus dem Sinngehalt jeder Strafe ergibt sie sich jedoch nicht. Eine Person wird nicht schon dadurch als grundsätzlich minderwertig gekennzeichnet, daß sie für ein als unwert angesehenes Verhalten zur Verantwortung gezogen wird. Wäre dies anders, so dürfte im übrigen auch ein Schuldiger niemals bestraft werden. Denn da die gesellschaftlich diskriminierende Wirkung der Strafe anders als der Sinngehalt als solcher - nicht nach den Kriterien richtig und falsch, sondern nur als gerechtfertigt oder als ungerechtfertigt beurteilt werden kann, ändert die Schuld des Betroffenen nichts an der Art des Eingriffs, sondern kann nur für dessen Rechtfertigung von Bedeutung sein. Eine Rechtfertigung ist aber bei Eingriffen in die unantastbare und unverlierbare Menschenwürde in keinem Fall möglich 44 . Im Ergebnis ist damit festzustellen, daß sich die soziale Diskriminierungswirkung der Strafe nicht prinzipiell von den realen Strafeingriffen unterscheidet und damit eine Ableitung des Schuldprinzips speziell aus dem Sinngehalt der Strafe nicht möglich ist.
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Besonders deutlich: BVerfGE 54, 148 (153). BVerfGE 12,113 (125); 24, 278 (282); 30,173 (195). 42 Dürig in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 41. 43 Z u denken ist insbesondere an Regelungen, nach denen die Bestrafung den Verlust der Eigenschaft eines Rechtssubjekts nach sich zog: die deutschrechtliche Ächtung, die römische Straf sklavschaft und den in Frankreich bis 1854 eine Rolle spielenden sogenannten „bürgerlichen Tod" (vgl. dazu näher Esser, Die Ehrenstrafe, S. 88 f.). 44 v. Münch, in: v. Münch, G G K , Art. 1 Rdn 39 mwN. 41
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2. Kap. : Schuld als Voraussetzung der Strafe
I I I . Zur Begründung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld" aus den in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffen 1. Bisherige Begründungsansätze
In der Literatur finden sich für eine Begründung des Schuldprinzips aus den Straf eingriff en zwei Argumente: Das erste Argument knüpft an die von Dürig 45 unter Rückgriff auf die Kantsche Ethik entwickelte sogenannte46 „Objektformel" zur Auslegung des Art. 1 I GG an. Die Menschenwürde verbiete es, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen. Deshalb dürfe niemand allein aus Gründen kriminalpolitischer Zweckmäßigkeit bestraft werden 47 . Der Staat dürfe die Person in ihrer empirischen Existenz nur so als Mittel gebrauchen, daß ihr Tun oder Leiden entweder die Leistung oder die Verwirkung der sittlichen Person selbst ist 48 . Das zweite Argument stellt auf die Schwere des Eingriffs ab. Strafe sei das schärfste und einschneidenste Machtmittel des Staates und bedürfe von daher eines besonderen Legitimationsprinzips, das sie als eine auch gegenüber dem Betroffenen vertretbare und gerechte Maßnahme erscheinen lasse49. Als solches komme nur die Schuld in Betracht 50 . Beide Argumente sind zu wenig differenziert, als daß sie die Geltung des Schuldprinzips überzeugend begründen könnten: Das erste vermag nicht anzugeben, warum gerade eine Strafe nicht durch Zweckmäßigkeitsüberlegungen gerechtfertigt werden kann, wo doch außer Zweifel steht, daß Art. 1 I GG nicht jede Inanspruchnahme des einzelnen zur Verfolgung ihm äußerlicher Zwecke verbietet 51 : Röntgenreihenuntersuchun45 Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, A ö R 81 (1956), S. 117 ff. (127). 46 Dürig selbst hat sich in: Maunz / Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rdn 21 Fn 3 gegen diese Bezeichnung ausgesprochen. 47 z. B.: Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 241; Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, S. 265; Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, S. 10 u. S. 19; derselbe, Kriminalpolitische Überlegungen zum Schuldprinzip, MonKrim 1973, S. 316 ff. (319); Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 24; Lüderssen, Die generalpräventive Funktion des Deliktssystems, S. 57; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 39 f.; Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung, S. 18 f. 48 Schlosser, Keine Strafe ohne Schuld, S. 64 im Anschluß an eine Formulierung von Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 172. 49 z. B. Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, S. 171; Müller-Dietz, Integrationsprävention und Strafrecht, S. 814. 50 Schünemann (wie Fn. 49), S. 174. 51 So schon Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, S. 333 ff. (342).
I I I . Die Begründung aus den Straf eingriffen
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gen 52 oder die allgemeine Zeugnispflicht in Gerichtsverfahren verstoßen nicht gegen die Menschenwürde. Der Hinweis auf Kant kann die erforderliche Abgrenzung nicht ersetzen 53. Denn bei Kant ist das Gebot, den Menschen nicht als bloßes Mittel zum Zweck zu gebrauchen, identisch mit dem kategorischen Imperativ: Der Mensch sei Zweck, wenn er in die Handlung des anderen einstimmen könne, weil die Maxime dieser Handlung allgemeine Gültigkeit für alle vernünftigen Wesen habe 54 . Aus dem formalen Prinzip des kategorischen Imperativs lassen sich aber - darüber ist man sich heute einig 55 keine materialethischen Inhalte und damit auch keine Abgrenzungskriterien gewinnen 56 . Gegen das zweite Argument ist einzuwenden, daß Strafe nicht generell schwererwiegende Grundrechtseingriffe enthält als sonstige staatliche Maßnahmen: die Maßregeln der Besserung und Sicherung, aber auch die polizeiliche Inanspruchnahme eines Störers zur Gefahrenabwehr können erheblich belastender sein als eine Strafe. 2. Eigener Begründungsansatz
Eine an die Strafeingriffe anknüpfende Begründung des Schuldprinzips hat darzulegen, daß eine materielle Rechtfertigung der in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffe ohne Schuld verfassungsrechtlich nicht möglich ist. Dazu bedarf es zunächst eines Überblicks über die verschiedenen Formen der materiellen Rechtfertigung von Grundrecht seingriff en. a) Die beiden Grundformen der materiellen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen Die Inanspruchnahme von Rechten oder Rechtsgütern des einzelnen kann prinzipiell auf zweierlei Art und Weise gerechtfertigt werden: Zum einen gibt es die Rechtfertigung nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses ohne einen Anknüpfungspunkt in der Person des Betroffenen. Der Eingriff wird hier allein damit gerechtfertigt, daß dem prinzipiell in vollem Umfang anerkannten Interesse des einzelnen am Unterbleiben des Eingriffs ein höherwertiges öffentliches Eingriffsinteresse entgegenge52
Beispiel von Badura (wie Fn. 51), S. 342. So aber Dürig in: Maunz / Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rdn 21 Fn 3. 54 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429 f. u. S. 437. 55 Vgl. ζ. B. die von sehr unterschiedlichen Positionen ausgehende, aber insoweit übereinstimmende Kritik von Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 169 ff. und Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit, S. 368 ff. 56 Außerdem wäre es ohnehin unzulässig, Art. 1 I GG einseitig im Sinne einer bestimmten Philosophie zu interpretieren (vgl. dazu näher im 5. Kapitel unter I I I 2 a). 53
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2. Kap.: Schuld als Voraussetzung der Strafe
stellt wird. Klassisches Beispiel für einen so gerechtfertigten Grundrechtseingriff ist die polizeiliche Inanspruchnahme eines Nichtstörers. Zum anderen gibt es die Rechtfertigung mittels bestimmter Zurechnungsprinzipien. Der Eingriff wird hier nicht (nur) mit einem öffentlichen Interesse, sondern (auch) mit der Erwägung gerechtfertigt, das dem Eingriff entgegenstehende Interesse sei wegen einer bestimmten Beziehung des Betroffenen zu dem Grund des Eingriffs als weniger schutzwürdig zu bewerten 57 . Nach diesem Prinzip erfolgt ζ. B. die Rechtfertigung der gegen den Störer gerichteten Grundrechtseingriffe. Denn die Störerhaftung kann weder mit der Erwägung, die Inanspruchnahme eines Störers enthalte gar keinen konstitutiven Grundrechtseingriff, weil er nur in die Schranken seiner Rechte zurückgewiesen werde 58 , noch mit der Überlegung, der Störer sei am besten zur Beseitigung der Gefahr in der Lage, hinreichend erklärt werden. Gegen die erste Erwägung spricht, daß mit der Inanspruchnahme in aller Regel auch Eingriffe in solche Rechte verbunden sind, deren Grenze vom Störer nicht überschritten wurde 59 , und mit der zweiten Überlegung ließe sich allenfalls erklären, warum der Störer als erster in Anspruch genommen wird. Eine Erklärung dafür, daß er auch in stärkerem Maße und ohne Entschädigung in Anspruch genommen werden kann, ist aber nur mit der Überlegung möglich, sein dem Gefahrenabwehreingriff entgegenstehendes Interesse sei wegen seiner Verantwortlichkeit für die Gefahr geringer zu bewerten. b) Die Anwendung auf die Strafe Ausgehend von der Unterscheidung dieser beiden prinzipiellen Rechtfertigungsformen für Grundrechtseingriffe erweist sich die Schuld dann als zwingende Voraussetzung der Strafe, wenn - erstens eine Rechtfertigung der in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffe nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses nicht möglich ist, so daß die Rechtfertigung dieser Eingriffe die Zurechnung des mit der Strafe verfolgten Interesses voraussetzt (dazu unter aa); und - zweitens dieses Interesse nur bei schuldhaftem Verhalten zugerechnet werden darf (dazu unter bb).
57 Die gleiche Einteilung läßt sich im übrigen auch für die „privaten Eingriffsbefugnisse", die allgemeinen Rechtfertigungsgründe aufzeigen: §§ 904 BGB, 34 StGB regeln die Rechtfertigung nach dem Prinzip des überwiegenden Interesses; §§ 228 BGB, 32 StGB sind Anwendungsfälle einer Rechtfertigung nach Zurechnungsprinzipien. 58 Z u dieser Erwägung BVerwGE 38, 209 (218); Martens in: Drews/Wacke/Vogel/ Martens, Gefahrenabwehr, S. 279 mwN. 59 So grundlegend Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 119 ff.
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aa) Keine Rechtfertigung der i n der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffe nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses D e r M ö g l i c h k e i t , Rechte u n d Rechtsgüter des einzelnen allein nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses i n Anspruch zu nehmen, sind i n zweierlei Hinsicht Grenzen gesetzt. Dies w i r d am Beispiel der polizeilichen Inanspruchnahme eines Nichtstörers deutlich. Eine solche Inanspruchnahme darf erstens nicht m i t einer „erheblichen G e f ä h r d u n g " 6 0 des Betroffenen verbunden sein, also nur unter E i n h a l t u n g einer „ O p f e r g r e n z e " 6 1 erfolg e n 6 2 u n d ist zweitens aufgrund des bereits i n § 75 der Einleitung z u m A l l g e meinen Preußischen Landrecht z u m A u s d r u c k gekommenen Ausgleichsgedankens nur gegen Entschädigung zulässig 6 3 . Diese Einschränkungen ergeben sich nicht nur aus dem einfachen Gesetzesrecht, sondern haben eine verfassungsrechtliche Grundlage: D i e verfassungsrechtliche Geltung einer Opfergrenze für die Inanspruchnahme eines Nichtstörers w i r d i n der polizeirechtlichen L i t e r a t u r zumeist m i t dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begründet 6 4 . Dies ist i m Ansatz rich60
So die Formulierung in § 6 I 4 des Musterentwurfs für ein einheitliches Polizeigesetz und in den meisten Ländergesetzen; zu deren Regelungen im einzelnen, vgl. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, S. 116. « Götz (wie Fn. 60), S. 116. 62 Auch hier zeigt sich wieder die Parallele zu den allgemeinen Rechtfertigungsgründen: Rechtsgutsverletzungen, die eine bestimmte Opfergrenze überschreiten, können nach allgemeiner Auffassung nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt werden {Samson in: Systematischer Kommentar, StGB, § 34 Rdn 18; Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rdn 41; Hirsch in: Leipziger Kommentar (9. Aufl.), Vor § 51 Rdn 75; Maurachì Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Tbd. 1, S. 366; Jescheck, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 292; Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 332; Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil, Rdn 462; Baumann/Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 350; Blei, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 167; Bockelmann, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 102; Gallas, Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, S. 325 f.; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S, 117; derselbe, Der Grundsatz der Güterabwägung als Grundlage der Rechtfertigung, G A 1985, S. 295 ff. (297). Ob allerdings bei der in diesem Zusammenhang stets diskutierten Blutspende die Opfergrenze bereits überschritten ist, wie dies zumeist angenommen wird, kann hier dahingestellt bleiben (insoweit abweichend von der h. M . Baumann/Weber, aaO und Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 27). 63 z. B. § 45 I des Musterentwurfs für ein einheitliches Polizeigesetz, Nachweise zu den Länderregelungen bei Götz (wie Fn 60), S. 136. 64 Martens in: Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 335; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 6 Musterentwurf Rdn 7; Böckenförde in: Rietdorf/Heise/Böckenförde/Strehlau, Ordnungs- und Polizeirecht in Nordrhein-Westfalen, § 19 OBG Rdn 6; v. Mutius, Der Störer im Polizei- und Ordnungsrecht, Jura 1983, S. 298 ff. (302); Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdn 270; Hoffmann-Riem, Die polizeiliche Sistierung zur Feststellung von Personalien, DVB1 1967, S. 751 ff. (756); derselbe, „Anscheinsgefahr" und „Anscheinsverursacher" im Polizeirecht, S. 337; Burmann, Die Sicherungshaft gemäß § 453 c StPO, S. 32.
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2. Kap.: Schuld als Voraussetzung der Strafe
tig, bedarf aber der Ergänzung. Denn der maßgebliche Grund dafür, daß bei der im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vorzunehmenden wertenden Abwägung das dem Eingriff entgegenstehende Interesse des einzelnen bei Überschreiten einer Opfergrenze stets Vorrang hat, liegt nicht in dem formalen Prinzip der Verhältnismäßigkeit, sondern in der in Art. 1 I GG zum Ausdruck gebrachten Auffassung vom Verhältnis des einzelnen zum Staat und zur Gemeinschaft: Das Bekenntnis zur Menschenwürde ist im wesentlichen als Reaktion auf die den Wert des einzelnen negierende Ideologie des Nationalsozialismus ( „ D u bist nichts, Dein Volk ist alles") zu verstehen 65. In bewußter Abkehr von dieser Ideologie begründet Art. 1 I GG eine im Ausgangspunkt 66 individualistische Staatsauffassung: der einzelne Mensch, nicht der Staat oder die Volksgemeinschaft, ist der oberste Wert 6 7 . Mit einer solchen Staatsauffassung wäre es nicht zu vereinbaren, die Legitimität staatlichen Handelns allein am gesami-gesellschaftlichen Nutzen zu messen. Der prinzipielle Vorrang des Individuums ist nur dann gewahrt, wenn der Befugnis des Staates, die Rechtsgüter des einzelnen zum Wohle des Ganzen in Anspruch zu nehmen, Grenzen gesetzt sind, die ohne eine Legitimation in der Person des Betroffenen nicht überschritten werden dürfen 68 . Bei der Rechtfertigung nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses gibt es eine solche Legitimation nicht. Deshalb ist diese Rechtfertigungsform nur auf Grundrechtseingriffe anwendbar, die nach Ausmaß und Intensität eine bestimmte Opfergrenze nicht überschreiten. Wo diese Grenze im Einzelfall verläuft, läßt sich allerdings nicht begrifflich aus der Verfassung ableiten, sondern nur durch eine in Randbereichen dezisionistische Wertung entscheiden. Diese methodische Problematik ist aber mit der Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs wie der Menschenwürde notwendigerweise verbunden 69 und deshalb kein Grund, die verfassungsrechtliche Geltung einer solchen Grenze überhaupt abzulehnen. 65
Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 46; Podlech in: A K - G G , Art. 1 Rdn 9; v. Münch in: v. Münch, G G K , Art. 1 Rdn 2; v. Mangoldt/Klein/Starcfc, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 1 mwN. 66 Dies erkennen auch diejenigen an, die die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums betonen (ζ. B. Dürig (wie Fn 65) Rdn 46 mwN). 67 Art. 1 I des Herrenchiemseer Entwurfs brachte dies noch deutlicher zum Ausdruck. Seine der christlichen Lehre entnommene Formulierung lautete: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen". 68 Diese Konsequenz aus der Staatsauffassung des Grundgesetzes wird in der verfassungsrechtlichen Literatur nur selten erwähnt (angedeutet ist sie bei Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, S. 337 ff. (342), sowie bei Podlech in: A K - G G Art. 1 Abs. 1 Rdn 15). Der Grund dafür dürfte die Tatsache sein, daß die Unterscheidung der beiden Formen der materiellen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen bisher noch nicht ausdrücklich thematisiert wurde. 69 Zippelius in: Bonner Kommentar, GG, Art. 1 Rdn 11 mwN; Larenz, Methodenlehre, S. 214.
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Zur Konkretisierung der Opfergrenze seien einige Beispiele aus der Literatur angeführt: die Heranziehung zu Rettungsarbeiten bei bestehender Explosionsgefahr 70, die zwangsweise Vornahme mit der Gefahr erheblicher Gesundheitsbeschädigung verbundener medizinischer Experimente 71 und die zwangsweise Entnahme der Niere eines Lebenden zu Transplantationszwecken 72 sind Fälle, in denen ein allgemeiner Konsens darüber zu erzielen sein dürfte, daß die Opfergrenze überschritten ist. Wie bereits erwähnt, hat auch die zweite Einschränkung für die Inanspruchnahme eines Nichtstörers - das Entschädigungsgebot - Verfassungsrang. Denn einem Unbeteiligten wird durch die Inanspruchnahme ein besonderes Opfer im Interesse der Allgemeinheit auferlegt 73 . Er hat daher - je nach Art des in Anspruch genommenen Rechtsgutes - einen Anspruch auf Aufopferungs- oder Enteignungsentschädigung. Diese Ansprüche sind - jedenfalls für den Fall einer finalen Inanspruchnahme 74 - verfassungsrechtlich gewährleistet. Für den Anspruch auf Enteignungsentschädigung ergibt sich dies unmittelbar aus Art. 14 I I I GG. Für den Anspruch auf Aufopferungsentschädigung fehlt zwar eine ausdrückliche Rechtsgrundlage in der Verfassung; jedoch ist dieser Anspruch nach richtiger und heute auch überwiegend vertretener Ansicht als Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 I GG anzusehen75. Zwar ist die Auferlegung eines Sonderopfers für sich genommen noch kein Verstoß gegen Art. 3 I GG, da die Auswahl des Betroffenen nicht willkürlich, sondern aufgrund der Tatsache erfolgt, daß zufälligerweise gerade seine Inanspruchnahme zur Verfolgung eines öffentlichen Interesses erforderlich ist 76 . 70
Martens in: Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 335. Zippelius in: Bonner Kommentar, GG, Art. 1 Rdn 12. 72 Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 27 (zur entsprechenden Problematik bei § 34 StGB). 73 Wolff/ Bachof, Verwaltungsrecht Bd. I I I , § 127 Rdn 31; Götz, Allgemeines Polizei· und Ordnungsrecht, S. 136. 74 Inwieweit die vom Bundesgerichtshof vollzogene Ausweitung des Eingriffsbegriffs verfassungsrechtlich begründet ist, kann hier dahingestellt bleiben; vgl. dazu ζ. B. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 154 ff. mwN. 75 Grundlegend Dürig, Zurück zum klassischen Enteignungsbegriff, in JZ 1954, S. 4 ff. (5); derselbe, Grundfragen des öffentlich-rechtlichen Entschädigungssystems in JZ 1955, S. 521 ff. (522); derselbe, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde in AöR 81, (1956), 117 ff. (145); derselbe, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Rdn 56 f.; ferner Ossenbühl (wie Fn 74), S. 80; Friauf, Öffentliche Sonderlasten und Gleichheit der Staatsbürger, S. 6; Schiwy, Impfung und Auf Opferungsentschädigung, S. 3 u. S. 30 f.; Rittstieg in: A K - G G , Art. 14 Rdn 178. Der Bundesgerichtshof hat den Aufopferungsanspruch aus dem materiellen Rechtsstaatsprinzip abgeleitet ( B G H Z 13, 88 (96), so auch Wolff/ Bachof, Verwaltungsrecht, Bd. I § 61, 1 b und Krumbiegel, Der Sonderopferbegriff in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, S. 16 f.). 76 Rittstieg in: A K - G G , Art. 14 Rdn 178. 71
3 Frister
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Aber dieser Zufall vermag nur die Inanspruchnahme als solche, nicht aber die Durchbrechung des Grundsatzes der Lastengleichheit aller Bürger, sachlich zu rechtfertigen. Aus Art. 3 I GG ergibt sich deshalb die Verpflichtung, die Auferlegung eines Sonderopfers wenigstens vermögensrechtlich auszugleichen. Das Sonderopfer ist nur deshalb mit Art. 3 I GG vereinbar, „weil der Staat von vornherein will" 7 7 , daß es ausgeglichen wird. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Aufopferungsanspruchs wird außerdem noch durch die Überlegung bestätigt, daß wenn schon nach Art. 14 I I I GG Eingriffe in das Eigentum eine Entschädigungspflicht nach sich ziehen, erst recht Schäden ausgeglichen werden müssen, die infolge von Eingriffen in die durch Art. 2 I I GG besonders geschützten immateriellen Rechtsgüter entstehen78. Wendet man die vorstehend dargelegten Grundsätze auf die in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffe an, so ergibt sich, daß eine Rechtfertigung dieser Eingriffe allein nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses nicht möglich ist. Sie scheitert bei mehrjährigen Freiheitsstrafen schon am Überschreiten der Opfergrenze. Bei geringeren Strafen steht das verfassungsrechtliche Entschädigungsgebot der Rechtfertigung entgegen. Denn sieht man von Zurechnungsprinzipien ab, so wird dem Betroffenen mit der Bestrafung ein besonderes Opfer im Interesse des Rechtsgüterschutzes, also der Allgemeinheit auferlegt 79 . Eine Bestrafung wäre daher nur gegen eine der Intention der Übelszufügung widersprechende und den Zweck der Strafe aufhebende Entschädigung zulässig80. bb) Keine Zurechnung des mit der Strafe verfolgten öffentlichen Interesses ohne schuldhaftes Verhalten Zur Beantwortung der Frage, ob die Verfassung die Zurechnung des mit den Strafeingriffen verfolgten öffentlichen Interesses auch ohne schuldhaftes Verhalten zuläßt, ist zunächst dieses Interesse näher zu bestimmen. Nach den herkömmlichen Straftheorien könnte es sowohl speziai - als auch generalpräventiver Natur sein. Mit dem spezialpräventiven Interesse der Abwehr von Rechtsverletzungen, die speziell von Seiten des Inanspruchgenommenen drohen, ließe sich die Strafe jedoch nur dann rechtfertigen, wenn ihre Verhän77
Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rdn 57. Schiwy, Impfung und A u f Opferungsentschädigung, S. 79 f. 79 Insoweit gilt für die Strafe selbst nichts anderes als für die strafprozessualen Eingriffe, bei denen der gesetzlich vorgesehene Entschädigungsanspruch allgemein als Konkretisierung des Aufopferungsgedankens angesehen wird ( B G H Z 45, 58 (77 ff.); Schätzler, Strafentschädigungsgesetz, Einl. Rdn 238 mwN.). 80 Ähnlich schon Schlosser, Keine Strafe ohne Schuld, S. 66 f. 78
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gung voraussetzte, daß gerade von dem Betroffenen eine besondere Gefahr der Begehung weiterer Rechtsverstöße ausgeht. Eine solche Voraussetzung sieht das geltende Recht für die Verhängung von Kriminalstrafen, Bußgeldern, Verwarnungen, Disziplinarstrafen und Ordnungsmitteln aber gerade nicht vor, und wenn es sie vorsehen würde, so handelte es sich bei diesen Maßnahmen nicht mehr um Strafen im Sinne dieser Untersuchung 81 . Dann würden die Eingriffe nicht mehr aufgrund eines vergangenen Verhaltens, sondern wie bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung - nur noch aus Anlaß eines solchen Verhaltens wegen der darin zutage getretenen Gefährlichkeit des Täters vorgenommen. Im Gegensatz zu den polizeilichen Eingriffen und den Maßregeln der Besserung und Sicherung kann also eine Strafe nicht mit dem Interesse an der Abwehr künftiger Rechtsverletzungen von Seiten des Betroffenen gerechtfertigt werden 82 . Als intendierte Übelszufügung aufgrund eines vergangenen Verhaltens dient die Strafe entweder der Verwirklichung ideeller Werte - dies soll hier außer Betracht bleiben 83 - oder generalpräventiven Zwecken, d.h. der Abwehr von Gefahren, die sich aus einer Rechtsverletzung für die Anerkennung und Beachtung der verletzten Norm durch die Allgemeinheit ergeben (im folgenden als „Gefahren für die Normakzeptanz" bezeichnet). Die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Interesse an der Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz dem einzelnen zugerechnet werden darf, wirft das methodische Problem auf, daß sich dem Verfassungstext nichts über die Zulässigkeit von Zurechnungsprinzipien entnehmen läßt, weil das Grundgesetz die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen mittels solcher Prinzipien zwar voraussetzt 84, jedoch keine ausdrückliche Regelung darüber enthält. Auf den ersten Blick könnte man aus dem Fehlen einer solchen Regelung schließen, daß es Sache des Gesetzgebers sei, welcher Zurechnungsprinzipien er sich zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen bedient. Dagegen spricht jedoch, daß jede Zurechnung eine Ausnahme von den für die Aufopferung des einzelnen im Interesse der Allgemeinheit geltenden verfassungsrechtlichen Beschränkungen darstellt 85 . Die Begründung solcher Ausnahmen kann nicht im Belieben des Gesetzgebers stehen, da die Beschränkungen selbst auch und gerade für die gesetzlichen Eingriffsmöglichkeiten gelten sollen. Der Gesetzgeber ist deshalb in der Verwendung von Zurechnungsprinzi81
Zu dem hier zugrundegelegten Begriff der Strafe vgl. im 1. Kapitel unter I I 1. So auch Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 54; derselbe, Vom Sinn der Strafe, S. 59 f. 83 Dazu l.Kap. I. 84 Ohne diese Rechtfertigungsmöglichkeit könnte es weder das Polizeirecht noch das Strafrecht in seiner herkömmlichen Form geben. 85 So auch Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 122; die Ermächtigungen zur Gefahrenabwehr seien als ungeschriebene Annexe der jeweiligen Grundrechtsnorm zu denken. 82
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pien nicht frei; er darf vielmehr nur an solche Zurechnungsprinzipien anknüpfen, deren Geltung sich verfassungsrechtlich legitimieren läßt. Für eine solche Legitimation ist eine ausdrückliche Regelung im Verfassungstext nicht erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können auch nicht ausdrücklich gewährleistete Rechtsgrundsätze zum Verfassungsrecht gehören, wenn der Verfassungsgeber ohne Zweifel von ihnen ausgegangen ist, weil sie das „vorverfassungsmäßige Gesamtbild" geprägt haben 86 . Für die wesentlichen vom Verfassungsgeber vorgefundenen Zurechnungsprinzipien läßt sich dies ohne weiteres annehmen; denn das „Gesamtbild" einer Rechtsordnung wird durch die ihr zugrundeliegenden ZurechnungsVorstellungen in ganz entscheidender Weise bestimmt. Die Verwendung der vom Verfassungsgeber vorgefundenen Zurechnungsprinzipien ist deshalb stets verfassungsrechtlich legitimiert, so daß das Interesse an der Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz jedenfalls dann zugerechnet werden kann, wenn es aus einem schuldhaften Verhalten resultiert. Die für die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld" entscheidende Frage ist aber, ob sich eine solche Zurechnung auch bei nicht schuldhaftem Verhalten legitimieren läßt. Hierfür kann der Wille des Verfassungsgebers nicht herangezogen werden, weil bei Inkrafttreten des Grundgesetzes die Möglichkeit einer Bestrafung ohne Schuld zumindest als allgemeines Prinzip 87 - nicht anerkannt war. Eine Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne schuldhaftes Verhalten könnte daher nur dann verfassungsgemäß sein, wenn es möglich wäre, auch eine vom Verfassungsgeber nicht vorgefundene Zurechnung verfassungsrechtlich zu legitimieren. Die einzig in Betracht kommende Methode dafür ist die Analogie zu einem der vom Verfassungsgeber vorgefundenen Zurechnungsprinzipien. Denn auf die „sachliche Richtigkeit" einer Zurechnung kann schon deshalb nicht abgestellt werden, weil es keine sachlogischen und schon gar keine verfassungsrechtlich abgesicherten Kriterien gibt, nach denen die „Richtigkeit" einer Zurechnung beurteilt werden könnte. Als analog anzuwendendes Zurechnungsprinzip ließe sich allenfalls das der polizeilichen Handlungsstörerhaftung und den Maßregeln der Besserung und Sicherung zugrundeliegende Prinzip der unbedingten Zurechnung des Interesses an der Abwehr der unmittelbar 8 von dem Betroffenen ausgehenden 86 BVerfGE 2, 380 (403). 87 Zur Bedeutung einzelner Durchbrechungen des Schuldprinzips siehe am Ende des Kapitels unter c). 88 Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, daß das zurechnungsbeschränkende Kriterium der Unmittelbarkeit (vgl. zu diesem Kriterium ζ. B.: Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 4 M E Rdn 16; Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 212 f.; Wolff, Verwaltungsrecht Bd. I I I § 127 Rdn 10; Vieth, Rechtsgrundlagen der Polizeiund Ordnungspflicht, S. 33 ff. mwN.) nichts mit der zeitlichen Nähe der abzuwehren-
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Rechtsverletzungen heranziehen. Wenn das Interesse an der Abwehr von Rechtsverletzungen auch bei nicht schuldhaftem Verhalten zugerechnet wird, dann - so könnte man argumentieren - müsse auch das Interesse an der Abwehr der von Rechtsverletzungen ausgehenden Gefahr für die Normakzeptanz bei nicht schuldhaftem Verhalten zugerechnet werden können. Aber gegen diese Analogie spricht, daß die Zurechnung des Interesses an der Abwehr von Rechtsverletzungen für die Rechtsordnung von anderer Bedeutung ist als die Zurechnung des Interesses an der Abwehr der von Rechtsverletzungen ausgehenden Gefahren für die Normakzeptanz: Die Zurechnung des Interesses an der Abwehr von Rechtsverletzungen ist eine notwendige Voraussetzung für die Gewährleistung von Rechten. Gäbe es eine solche Zurechnung nicht, so wäre jeder Konflikt nicht nach abstrakten Rechtsnormen, sondern allein durch eine Güterabwägung im Einzelfall zu lösen; denn ein Vorrang des angegriffenen Rechts gegenüber den durch die Abwehr beeinträchtigten Rechten des Angreifers läßt sich nur durch die Zurechnung des Interesses an der Abwehr von Rechtsverletzungen begründen. Die Zurechnung des Interesses an der Abwehr der von Rechtsverletzungen ausgehenden Gefahren für die Normakzeptanz ist dagegen keine notwendige Voraussetzung für die Gewährleistung von Rechten, sondern betrifft allein die Effektivität einer solchen Gewährleistung. Durch den Verzicht auf die Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz wird nur die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung erhöht, die rechtliche Gewährleistung als solche aber nicht in Frage gestellt. Wegen dieses grundsätzlichen Unterschieds ist eine Übertragung der für die Zurechnung des Interesses an der Abwehr von Rechtsverletzungen geltenden Regeln auf die Zurechnung des Interesses an der Abwehr der von Rechtsverletzungen ausgehenden Gefahren für die Normakzeptanz nicht möglich, so daß die Zurechnung solcher Gefahren mit einer Analogie zu der unbedingten Störerhaftung des Polizeirechts nicht begründet werden kann. Im Ergebnis ist damit festzustellen, daß sich die Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne schuldhaftes Verhalten weder aus dem Willen des Verfassungsgebers noch auf andere Weise verfassungsrechtlich legitimieren läßt. c) Ergebnis Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld" ist somit verfassungsrechtlich gewährleistet. Es handelt sich bei diesem Grundsatz allerdings nicht - wie zumeist angenommen - um einen besonderen, aus der Menschenwürde oder den Gefahr zu tun hat. Die (bedenklich weite) Vorverlagerung der Gefahrenabwehr bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung ändert nichts daran, daß es bei diesen Eingriffen um die Abwehr unmittelbar von dem Betroffenen ausgehender Rechtsverletzungen geht.
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dem Rechtsstaatsprinzip positiv abzuleitenden Verfassungsrechtssatz. Das „Recht", nicht ohne Schuld bestraft zu werden, ist vielmehr in jeder Grundrechtsgewährleistung enthalten; es ergibt sich daraus, daß eine materielle Rechtfertigung der mit einer Strafe verbundenen Grundrechtseingriffe ohne Schuld nicht möglich ist. Diese dogmatische Struktur des Schuldprinzips ist vor allem deshalb zu betonen, weil sie die Möglichkeit ausschließt, im Wege der Abwägung ausnahmsweise auch eine Strafe ohne Schuld verfassungsrechtlich zu legitimieren. Wäre das „Recht", nicht ohne Schuld bestraft zu werden, ein zusätzliches, ungeschriebenes Grundrecht, so läge eine solche Möglichkeit zumindest nahe. Da der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld" aber - wie gezeigt bereits das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Abwägung zwischen den Grundrechten des einzelnen und den Belangen der Allgemeinheit ist, kann er im Wege der Abwägung nicht mehr relativiert werden. Die absolute Geltung dieses Grundsatzes läßt sich auch mit dem Hinweis auf vorkonstitutionelle Durchbrechungen 89 des Schuldprinzips nicht in Frage stellen. Die Tatsache, daß sich die Zulässigkeit der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz bei schuldhaftem Verhalten aus dem „vorverfassungsmäßigen Gesamtbild" ergibt, bedeutet nicht, daß auch eine Zurechnung bei nicht schuldhaftem Verhalten insoweit verfassungsrechtlich legitimiert sein müßte, als sie in der zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes geltenden Rechtsordnung als Ausnahme vorgesehen war. Denn nur die im allgemeinen Rechtsbewußtsein verankerten grundlegenden Strukturprinzipien der vom Verfassungsgeber vorgefundenen Rechtsordnung können als von seinem Willen umfaßt und damit als verfassungsrechtlich legitimiert angesehen werden. Für sonstige Regelungen gilt der Grundsatz des Art. 123 I GG, wonach vorkonstitutionelles Recht an der Verfassung zu messen ist und nicht umgekehrt den Inhalt der Verfassung bestimmt 90 . Das Verbot der Bestrafung ohne Schuld gilt also ohne jede Einschränkung. Eine Strafe ohne Schuld ist stets verfassungswidrig. 89 Ob und inwieweit es solche Durchbrechungen des Schuldprinzips zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes tatsächlich gab, sei hier dahingestellt. Die Antwort auf diese Frage hängt wesentlich von der Einschätzung der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit ab, auf die im 4. Kapitel eingegangen wird. 90 Es gibt allerdings eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 I I I GG, in der die Auffassung vertreten wurde, daß der Umfang der verfassungsrechtlichen Gewährleistung davon abhänge, wie das vorkonstitutionelle Recht im einzelnen ausgestaltet gewesen sei (BVerfGE 3, 248 (252)). Die Entscheidung wurde jedoch mit der besonderen Eigenart des Grundsatzes „ne bis in idem" begründet und ist deshalb nicht verallgemeinerungsfähig (vgl. ζ. B. BVerfGE 9, 89 (96), wo eine entsprechende Einschränkung für Art. 103 I GG ausdrücklich abgelehnt wurde). Sie ist im übrigen durch eine spätere Entscheidung des Verfassungsgerichts abgeschwächt (BVerfGE 23,191 (202)) und in der verfassungsrechtlichen Literatur zu Recht kritisiert worden (ζ. B. Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rdn 131; Wassermann in: A K GG, Art. 103 Rdn 55).
I. Die Abhängigkeit von der Deutung des Schuldprinzips
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3. Kapitel
Zur Schuld als verfassungsrechtlichem Maßprinzip der Strafe I. Die Abhängigkeit des Schuldüberschreitungsverbots von der Deutung des Schuldprinzips als Ausprägung des Gedankens ausgleichender Gerechtigkeit Nach ganz herrschender Meinung hat die Schuld nicht nur als Voraussetzung, sondern auch für die Höhe der Strafe verfassungsrechtliche Bedeutung; die Strafe dürfe das schuldangemessene Maß nicht überschreiten 1. Begründet wird dies mit der Erwägung, jede über das Maß der Schuld hinausgehende Strafe enthalte in Wahrheit eine Strafe ohne Schuld, weil der Straftäter einen Teil des Strafübels erleide, ohne ihn aufgrund seiner Schuld verdient zu haben2. Diese Argumentation beruht auf der Deutung des die Strafe legitimierenden verfassungsrechtlichen Zurechnungsprinzips der Schuld als Ausprägung des Gedankens ausgleichender Gerechtigkeit 3 : der Annahme, die Schuld sei deshalb Voraussetzung der Strafe, weil die Rechtfertigung der Straf eingriff e nur möglich sei, wenn der Betroffene die in dem Eingriff liegende Übelszufügung verdient habe. Diese Deutung des Schuldprinzips ist zwar möglich 4 , aber nicht zwingend. Der Grundsatz, Gefahren für die Normakzeptanz nicht uneingeschränkt, sondern nur dann zuzurechnen, wenn sie auf einer Rechtsverletzung beruhen, für die der Betroffene verantwortlich ist 5 , kann auch ohne Rückgriff auf den Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit damit erklärt werden, daß der ein1 BVerGE 6, 389 (439); 28, 386 (391); 34, 261 (267); 50, 125 (140); BayVerfGH, Verw. Rspr. 3, 146 (150); Nipperdey, Die Würde des Menschen, S. 32; Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 18; Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung, S. 17; Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 31 f.; Lange, Die Systematik der Strafandrohungen, in: Materialien I , S. 70; Bockelmann, Wie würde sich ein konsequentes Täterstrafrecht auf ein neues Strafgesetzbuch auswirken, in: Materialien I, S. 41; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 51; Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, S. 36; Zipf, Strafmaßrevision, S. 48; Bruns, Leitfaden des Strafzumessungsrechts, S. 73; Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, S. 18; Benda, Resozialisierung als Verfassungsauftrag, S. 308 u. S. 323; a. A . vor allem Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, S. 187 ff. 2 Bockelmann (wie Fn 1), S. 41; Stree (wie Fn 1), S. 51; Zipf (wie Fn 1), S. 48; Müller-Dietz (wie Fn 1), S. 36. 3 Zum Begriff: 1. Kap. I, Fn 3. 4 Zur Vereinbarkeit dieser Deutung mit einer relativen Straftheorie sogleich unter I I 2 a. 5 Zu dieser Formulierung des Schuldprinzips: 2. Kap. I I I 2 b bb.
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3. Kap.: Zur Schuld als verfassungsrechtlichem Maßprinzip der Strafe
zelne zumindest die Chance haben soll, der Inanspruchnahme seiner Person zur Abwehr solcher Gefahren planend zu begegnen6; denn nur bei Geltung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld" besteht die Möglichkeit, eine Bestrafung durch rechtmäßiges Verhalten zu vermeiden 7. Geht man von dieser Deutung des verfassungsrechtlichen Zurechnungsprinzips der Schuld aus, so erweist sich schon der Begriff einer schuldangemessenen Strafe als verfehlt. Wenn Schuld nur die Beherrschbarkeit eines rechtswidrigen Verhaltens ist, dann kann der Schuld als solcher überhaupt kein bestimmtes Strafmaß zugeordnet werden. Ohne den Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit gibt es kein der Schuld angemessenes Strafübel 8 und damit auch kein verfassungsrechtliches Verbot, die schuldangemessene Strafe zu überschreiten. Ein solches Verbot setzt also voraus, daß nicht nur das Schuldprinzip an sich, sondern auch seine Deutung als Ausprägung des Gedankens ausgleichender Gerechtigkeit Teil des vom Verfassungsgeber unausgesprochen vorausgesetzten „vorverfassungsmäßigen Gesamtbildes"9 ist. Dies wäre allenfalls dann anzunehmen, wenn das konkrete vom Verfassungsgeber vorgefundene Zurechnungsprinzip Schuld in einer Art und Weise ausgestaltet war, die nur aus dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit erklärt werden kann. Um das beurteilen zu können, ist es erforderlich, die sich aus den beiden möglichen Deutungen des Zurechnungsprinzips Schuld ergebenden Legitimationsmodelle der Strafe und deren Konsequenzen - insbesondere für die Begrenzung des Strafmaßes - näher zu untersuchen.
I I . Die beiden in Betracht kommenden Grundgedanken des Schuldprinzips 1. Die Vermeidbarkeit der Bestrafung für den einzelnen
a) Das sich hieraus ergebende Legitimationsmodell
der Strafe
Bei Deutung des Schuldprinzips als Gewährleistung der Möglichkeit, strafrechtlichen Sanktionen planend zu begegnen, ergibt sich die Legitimation, den Straftäter zur Abwehr der von seiner Straftat ausgehenden Gefahr für die Normakzeptanz in Anspruch zu nehmen, allein daraus, daß er diese Gefahr durch seine verantwortlich begangene Tat in vermeidbarer Weise geschaffen hat 10 . Die Schuld ist nach dieser Deutung also ein rein formaler, von dem 6 Darauf hat vor allem Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, S. 81, hingewiesen. 7 Näher dazu Hart (wie Fn 6), S, 81 f. 8 Ähnlich Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, S. 189. 9 Dazu: 2. Kap. I I I 2 b bb.
II. Die in Betracht kommenden Grundgedanken des Schuldprinzips
41
Inhalt der verletzten Rechtsnorm unabhängiger Zurechnungsgrund; sie ermöglicht keinerlei sittliche oder sozialethische Bewertung der Straftat. Das bedeutet aber nicht, daß bei Zugrundelegung dieser Deutung jedes beliebige Verhalten vom Gesetzgeber unter Strafe gestellt werden könnte. Die inhaltlichen Grenzen für die strafrechtlichen Verbotsnormen ergeben sich aus anderen Verfassungsnormen, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 11 : strafrechtliche Verbote enthalten stets einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit oder speziellere Grundrechte und sind deshalb nur dann verfassungsgemäß, wenn der Eingriff zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und proportional ist 12 . b) Die Folgerungen für das Strafmaß Den Ausgangspunkt für die Bestimmung des Strafmaßes bildet nach diesem Legitimationsmodell nicht die Schuld, sondern die von der Straftat ausgehende Gefahr für die Normakzeptanz 13 ; es kommt darauf an, welches Strafmaß zur Abwehr dieser Gefahr erforderlich ist. Wegen des Fehlens gesicherter Erkenntnisse über die präventiven Wirkungen unterschiedlicher Strafhöhen, hat dies in erster Linie der Gesetzgeber zu beurteilen 14 . Normativ begrenzt wird das Strafmaß durch den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Proportionalität. Das verfassungsrechtlich zulässige Strafmaß hängt danach von einer vergleichenden Bewertung des öffentlichen Interesses an den Strafeingriffen und des diesen Eingriffen entgegenstehenden Interesses des Betroffenen an der Wahrung seiner Rechtsgüter ab. Das öffentliche Interesse an den Strafeingriffen wird wesentlich durch das Erfolgsunrecht geprägt. Denn das Erfolgsunrecht ist entscheidend für das Gewicht der von der Straftat ausgehenden Gefahr für die Normakzeptanz 15 . Da eine Straftat gerade die verletzte Norm in ihrer Akzeptanz gefährdet, entspricht das verletzte Rechtsgut den durch die Gefährdung der Normakzeptanz bedrohten Rechtsgütern. Entsprechendes gilt für das Ausmaß der Rechtsverletzung: durch eine harmlose Prügelei wird das Rechtsgut der körperlichen Integrität weniger in Frage gestellt als durch eine schwere Körperverletzung. 10 So schon Nowakowski, Freiheit, Schuld, Vergeltung, S. 63. Im übrigen hat bereits Feuerbach der Möglichkeit, eine Bestrafung durch rechtmäßiges Verhalten zu vermeiden, für die Rechtfertigung der Strafe entscheidende Bedeutung beigemessen, nur daß er dies - aus heutiger Sicht unzutreffend - mit dem Rechtsinstitut der Einwilligung begründete (Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven Rechts, S. 53 ff.). 11 Zipf Kriminalpolitik, S. 101. 12 Dazu näher Günther, Die Genese eines Straftatbestands, JuS 1978, S. 8 ff. 13 Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, S. 188. 14 Zum Prognosespielraum des Gesetzgebers: 2. Kap. I 1. 15 Schünemann (wie Fn 13), S. 189.
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3. Kap. : Zur Schuld als verfassungsrechtlichem Maßprinzip der Strafe
Das öffentliche Interesse an den Strafeingriffen kann auch von dem Grad der Verantwortlichkeit abhängen. Aber daß einem geringeren Grad an Verantwortlichkeit stets ein geringeres öffentliches Interesse an der Bestrafung entspricht, ist nur nach der Theorie der positiven Generalprävention plausibel, weil die Anerkennung des Wertes eines Rechtsguts wohl am stärksten dadurch in Frage gestellt wird, daß dieses Rechtsgut bewußt und ohne psychische Zwangslage verletzt wird 1 6 . Unter Abschreckungsgesichtspunkten kann sogar das Interesse bestehen, bei geringerer Verantwortlichkeit - ζ. B. für den Fall einer psychischen Zwangslage17 - schwererwiegende Strafeingriffe anzudrohen, um ein stärkeres Gegenmotiv zu setzen18. Der Grad der Verantwortlichkeit ist aber für das dem Eingriffszweck entgegenstehende Interesse des Betroffenen an der Wahrung seiner Grundrechte von entscheidender Bedeutung: Da die Verantwortlichkeit für eine Rechtsverletzung das für die Strafeingriffe maßgebliche Zurechnungsprinzip ist, hängt die Bewertung dieses Interesses von der Verantwortlichkeit ab 19 . Dabei muß nach dem Grundgedanken dieser Zurechnung nicht nur das Ob, sondern auch der Grad der Verantwortlichkeit berücksichtigt werden 20 . Denn die Chance, eine Inanspruchnahme durch strafrechtliche Sanktionen zu vermeiden, ist gegenüber Straf eingriff en, die an einen geringen Grad von Verantwortlichkeit anknüpfen, erheblich vermindert. Das daraus resultierende Risiko für die individuelle Lebensplanung ist nur vertretbar, wenn auch die Schwere solcher Eingriffe verhältnismäßig geringer ist. Aus dem Grundsatz der Proportionalität läßt sich also ableiten, daß das zulässige Strafmaß verfassungsrechtlich sowohl vom Erfolgsunrecht als auch von dem Grad der Verantwortlichkeit abhängt. Dies stellt allerdings nur eine sehr unvollkommene Begrenzung des Strafmaßes dar: Schon für die zur Abstufung des Erfolgsunrechts erforderliche vergleichende Bewertung der verletzten Rechtsgüter gibt es nur verfassungsrechtliche Anhaltspunkte, die einen erheblichen Wertungsspielraum offenlassen 21. 16 Ähnlich Schünemann (wie Fn 13), S. 189, der statt Grad der Verantwortlichkeit den Begriff „Intensität der kriminellen Energie" verwendet. 17 Auf ähnlichen Erwägungen beruht z. B. § 35 I 2 StGB, der allerdings keine Strafschärfung vorsieht, sondern die Entschuldigung versagt (zu der Problematik dieser Vorschrift vgl. Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", S. 207 ff.). 18 Ohne Begründung a.A. Schünemann (wie Fn 13), S. 188 Fn 71. 19 Z u dieser Funktion von Zurechnungsprinzipien: 2. Kap. I I I 2 a. 20 Normlogisch zwingend ist dies allerdings nicht. Im Schadensersatzrecht ζ. B. ist regelmäßig das Ob, nicht jedoch das Maß der Verantwortlichkeit von Bedeutung. Aber dies erklärt sich aus der Besonderheit, daß es dort um die Verteilung eines konkreten Schadens geht, den einer der Beteiligten notwendig zu tragen hat. Außerdem sind die vom Schadensersatzrecht ausgehenden Risiken für die individuelle Lebensplanung ohnehin im Verhältnis zum Strafrecht gering, weil es nur um Vermögenseingriffe geht, gegen die man sich zudem versichern kann.
II. Die in Betracht kommenden Grundgedanken des S c h u l d p r i n z i p s 4 3
Dies gilt erst recht für die Frage, in welchem Verhältnis der Grad der Verantwortlichkeit das anhand des Erfolgsunrechts ermittelte Strafmaß modifiziert. Vor allem aber hängt die Bewertung des öffentlichen Interesses an den Strafeingriffen und damit das Ergebnis der im Rahmen der Proportionalität vorzunehmenden Abwägung auch entscheidend davon ab, wie hoch der Gesetzgeber die präventive Wirkung einer Strafe einschätzt. Insgesamt ist damit festzustellen, daß sich aus dem Grundsatz der Proportionalität zwar Ansatzpunkte für eine verfassungsrechtliche Begrenzung des Strafmaßes ergeben, aber nur in sehr krassen Fällen das Maß der Strafe wirklich als unverhältnismäßig wird angesehen werden können, weil bei dessen Bestimmung nicht objektivierbare Einschätzungen und Wertungen eine erhebliche Rolle spielen, die in erster Linie der Gesetzgeber als das demokratisch legitimierte Organ zu treffen hat 22 .
2. Die Idee ausgleichender Gerechtigkeit
a) Das sich hieraus ergebende Legitimationsmodell
der Strafe
Die Deutung der Schuld als Ausprägung der Idee ausgleichender Gerechtigkeit entspricht dem Gedanken der absoluten Straftheorien, läßt sich aber auch mit einer generalpräventiven Theorie verbinden. Es ergibt sich dann ein Legitimationsmodell der Strafe, in dem die Strafeingriffe in zweifacher Hinsicht einer Rechtfertigung bedürfen: zum einen einer personalen Legitimation aus dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit und zum anderen einer Rechtfertigung als staatliche Eingriffe aus dem Strafzweck 23. Der Straftäter darf insoweit zur Verfolgung des Strafzwecks, d.h. zur Abwehr der von seiner Tat ausgehenden Gefahren für die Normakzeptanz, in Anspruch genommen werden, wie er die in dieser Inanspruchnahme liegende Übelszufügung aufgrund seiner Schuld verdient hat 24 . 21
Zu der Problematik der vergleichenden Bewertung unterschiedlicher Rechtsgüter ausführlich: Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, insbesondere S. 154 ff. 22 BVerfGE 50,125 (140). 23 So ζ. B. Hellmuth Mayer, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 33; Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, S. 269 ff. (274); Maurach / Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Tbd. 1, S. 84 ff.. Armin Kaufmann, aaO, S. 266 f., hat gezeigt, daß eine entsprechende Unterscheidung sogar schon bei Kant angelegt ist. In einem Brief an Erhard unterscheidet Kant zwei Welten: Nur in einer von Gott regierten Welt seien Strafen kategorisch notwendig. Werde die Welt von Menschen regiert, so sei die Notwendigkeit nur eine hypothetische und die Strafwürdigkeit diene dem Regenten nur zur Rechtfertigung der Strafe (Kants gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 398 f.). 24 Die in der Literatur (ζ. B. Vanberg, Verbrechen, Strafe, Abschreckung, S. 8 f. mwN) oft anzutreffende Formulierung, die Strafandrohung bzw. das Straf recht als Institution werde generalpräventiv legitimiert, während sich die Legitimation der Strafverhängung aus der Schuld ergäbe, dürfte in der Sache nichts anderes bedeuten. Gleiches gilt für die Auffassung, die eigentliche Legitimation der Strafe ergäbe sich aus dem Strafzweck, die Schuld habe nur rechtsstaatliche Limitierungsfunktion (ζ. B. Noll, Die
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3. Kap. : Zur Schuld als verfassungsrechtlichem Maßprinzip der Strafe
Die Schuld ist nach diesem Legitimationsmodell nicht nur ein formales Zurechnungsprinzip, sie erfordert eine Bewertung des Rechtsverstoßes und damit auch der verletzten Rechtsnorm anhand der Gerechtigkeit als eines überpositiven Maßstabs; denn nur wer gegen eine gerechte Norm verstößt, hat Strafe verdient. b) Die Folgerungen für das Strafmaß Das Strafmaß wird nach diesem Legitimationsmodell nicht nur durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern vor allem durch die Idee ausgleichender Gerechtigkeit begrenzt 25 : das in den S traf eingriff en liegende Maß an Übelszufügung darf über den gerechten Ausgleich der in der Straftat enthaltenen Schuld nicht hinausgehen. Aber dies bedeutet nur in der Theorie eine zusätzliche verfassungsrechtliche Begrenzung des Strafmaßes; in Wirklichkeit läßt sich auch über die nach dem Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit angemessene Strafe nicht mehr sagen, als daß sie von dem Maß des Erfolgsunrechts und dem Grad der Verantwortlichkeit abhängt: Das Problem der Quantifizierung des Erfolgsunrechts stellt sich in gleicher Weise wie bei der Proportionalität, und auch die Frage, in welchem Verhältnis das Erfolgsunrecht und der Grad der Verantwortlichkeit das Maß der Schuld bestimmen, ähnelt den dort entstehenden Problemen. Außerdem fehlt - will man nicht das Talionsprinzip wiederbeleben - jegliches objektive Kriterium dafür, welches Strafmaß einem bestimmten Schuldquantum zuzuordnen ist 2 6 , so daß insoweit auf die Wertvorstellungen der Allgemeinheit zurückgegriffen werden muß 27 . Die Konkretisierung dieser Wertvorstellungen ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers als des demokratisch legitimierten Organs 28 . Solange sich der Gesetzgeber bei der Schaffung der Strafrahmen an der Bedeutung des verletzEthische Begründung der Strafe, S. 19 f.; Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, S. 20 ff.; AE-StGB Allgemeiner Teil (1966), S. 29 f.), sofern - was zumeist unklar bleibt - diese Limitierung auf den Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit zurückgeführt wird. Denn limitierend wirken kann die Schuld nur, wenn sie notwendige Bedingung für die Legitimation der Strafe ist (so zutreffend Arthur Kaufmann, Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldgedankens im Strafrecht, JZ 1967, S. 555). 25 Die Eigenständigkeit des Schuldprinzips gegenüber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betonen ζ. Β . Maurach / Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil, Tbd. 1, S. 85; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 27 ff.; derselbe, Schuld und Prävention, S. 890 ff. 26 Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, S. 189 Fn 13; Schreiber, Widersprüche und Brüche in heutigen Strafrechtskonzeptionen, ZStW 94 (1982), S. 279 ff. (291); Noll, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 17; und auch Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 269: es sei eine „Binsenweisheit", daß eine exakte Quantifizierung von Schuld nicht möglich sei. 27 So unter Bezugnahme auf Hegel ζ. B. Zipf, Strafmaßrevision, S. 44. 28 BVerfGE 50, 125 (140).
I I I . Ergebnis
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ten Rechtsguts orientiert und den Grad der Verantwortlichkeit berücksichtigt, wird eine Strafe deshalb ebensowenig als ungerecht wie als unverhältnismäßig bezeichnet werden können 29 . Aus der Legitimation der Strafe mit dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit ergibt sich also nur die aus dem Grundsatz der Proportionalität ohnehin abzuleitende verfassungsrechtliche Begrenzung des Strafmaßes 30. I I I . Ergebnis Die Untersuchung der sich aus den beiden möglichen Deutungen des Zurechnungsprinzips Schuld ergebenden Legitimationsmodelle der Strafe hat ergeben, daß zwar wesentliche Unterschiede in der theoretischen Begründung des Straf rechts bestehen, sich daraus aber keine praktisch unterschiedlichen Folgerungen für die verfassungsrechtlichen Grenzen der strafrechtlichen Inanspruchnahme ergeben. Deshalb scheidet die Möglichkeit, daß nur eine dieser Deutungen dem Willen des Verfassungsgebers entspricht, von vornherein aus; verfassungsrechtlich läßt sich nicht entscheiden, welches die richtige Interpretation des Zurechnungsprinzips Schuld ist 31 . Für das verfassungsrechtlich zulässige Strafmaß folgt daraus: Die Schuld ist zwar als Maßprinzip der Strafe verfassungsrechtlich nicht gewährleistet, weil sie auch als bloße Beherrschbarkeit des rechtswidrigen Verhaltens aufgefaßt werden kann, was zur Folge hat, daß das Strafmaß nicht nach dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit, sondern nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu bestimmen ist. Aber dies ändert nichts daran, daß dem Erfolgsunrecht und dem Grad der Verantwortlichkeit bei der Bestimmung des Strafmaßes entscheidende Bedeutung zukommt. Insofern wird die herrschende Meinung und insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den verfassungsrechtlichen Grenzen des Strafmaßes im Ergebnis bestätigt.
29 Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht nur, ob eine Strafe „schlechthin unangemessen" (BVerfGE 6, 389 (439)) bzw „schlechthin untragbar" (BVerfGE 50,125 (140)) ist; dies wurde noch für keine gesetzliche Strafdrohung angenommen (Nachweise zu den bisher ergangenen Entscheidungen: Bruns, Leitfaden zum Strafzumessungsrecht, S. 37 Fn 9). 30 Auch das Bundesverfassungsgericht (E 34, 261 (266); 50, 125 (140)) geht - allerdings ohne Begründung - davon aus, daß das Übermaß verbot und der Gedanke ausgleichender Gerechtigkeit insoweit zu gleichen Ergebnissen führen. 31 Z u der Frage, ob das einfache Gesetzesrecht, insbesondere die Grundlagenformel des § 46 StGB, nur mit dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit zu erklären ist: Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, S. 194 f.
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
4. Kapitel
Zur Vereinbarkeit schuldunabhängiger Strafvoraussetzungen mit dem Schuldprinzip I . Die allgemeine Problematik Die Zulässigkeit einer Bestrafung hängt nach geltendem Recht nicht nur von der Schuld des Täters, sondern auch von dem Vorliegen weiterer Voraussetzungen ab. Soweit diese Voraussetzungen dem Prozeßrecht angehören, gilt ihre Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip als unproblematisch. Umstritten ist dagegen die Zulässigkeit der materiellrechtlichen schuldunabhängigen Strafvoraussetzungen, insbesondere der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit 1. 1. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur
Ein Teil der Literatur vertritt die Auffassung, die Bestrafung dürfe materiellrechtlich nur von dem verwirklichten Unrecht abhängen2. Da nach dem Schuldprinzip eine Kongruenz zwischen Unrecht und Schuld bestehen, die Schuld sich auf den gesamten Unrechtsgehalt der Tat beziehen müsse3, dürften materiellrechtliche Strafvoraussetzungen niemals schuldunabhängig sein4. Die herrschende Meinung hält dem entgegen, die Rechtfertigung einer Strafe erfordere nicht nur schuldhaft verwirklichtes Unrecht, sondern auch ein öffentliches Interesse an der Bestrafung 5. Zumeist wird dies mit den Worten 1 Die meisten der zu dieser Streitfrage vorgetragenen Argumente betreffen jede Art von schuldunabhängigen materiellrechtlichen Strafvoraussetzungen; ausdrücklich erörtert wird die Frage aber zumeist nur für die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit. Lediglich bei Bemmann, Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, S. 53, findet sich der Hinweis, daß die persönlichen Strafausschließungsgründe - soweit sie sich nicht in Unrechts- oder Schuldmerkmale bzw. in Prozeßvoraussetzungen umdeuten ließen - genauso wie die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit zu behandeln seien. 2 Bemmann, (wie Fn 1), S. 52 ff.; Bockelmann, Niederschriften, Bd. V , S. 84 f. u. S. 237 f.; Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, JZ 1963, S. 425 ff. (430); derselbe, Das Schuldprinzip, S. 249. 3 Bemmann (wie Fn 1), S. 19; Bockelmann (wie Fn 2), S. 84 f. u. S. 237 f.; Arthur Kaufmann (wie Fn 2), S. 425 ff. (426); derselbe (wie Fn 2), S. 17; Haß, Die Entstehungsgeschichte der objektiven Strafbarkeitsbedingung, S. 4 u. S. 78. 4 Bemmann (wie Fn 1), S. 52 ff.; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 249 ff. und Bockelmann (wie Fn 2), S. 84 f. u. S. 237 f. sind zwar auch der Auffassung, schuldunabhängige materiellrechtliche Strafvoraussetzungen seien mit dem Schuldprinzip nicht vereinbar, meinen aber, das Schuldprinzip könne insoweit nicht voll durchgeführt werden. 5 Jescheck in: Leipziger Kommentar, Vor § 13 Rdn 79; Lenckner in: Schönke / Schröder, Vor § 13 f. Rdn 124; Rudolphi in: Systematischer Kommentar, StGB, Vor § 19 Rdn 12; Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil Rdn 195; derselbe, Objektive
I. Die allgemeine Problematik
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ausgedrückt, eine T a t müsse nicht nur „strafwürdig", sondern auch „strafbedürftig" sein, u m die Verhängung einer Strafe zu legitimieren 6 . I n der Regel ergebe sich zwar das öffentliche Interesse an der Bestrafung bereits aus dem schuldhaften Verhalten; i m Einzelfall könne es aber auch erst durch schuldunabhängige Umstände begründet werden. I n solchen Fällen sei es sachgerecht, die Bestrafung an den E i n t r i t t dieser Umstände zu knüpfen u n d damit schuldunabhängige Voraussetzungen der Strafbarkeit vorzusehen 7 . M i t dem Schuldprinzip sei dies solange vereinbar, wie sich aus den schuldbezogenen Strafvoraussetzungen noch eine zulässige, d.h. den Strafrahmen verfassungsrechtlich tragende, Unrechtsbeschreibung ergäbe 8 . 2. Die verfassungsrechtliche Begrenzung der Zulässigkeit schuldunabhängiger Strafvoraussetzungen als Folge der Zweckbindung von Zurechnungsprinzipien I n der Sache geht es bei dem Problem der schuldunabhängigen Strafvoraussetzungen u m die Frage, ob zur Rechtfertigung
der Straf eingriff e eine
bestimmte Beziehung zwischen der Schuld des Täters u n d dem öffentlichen Interesse an der Bestrafung erforderlich ist. V o n der herrschenden M e i n u n g w i r d dies incidenter verneint. Sie geht v o n der Vorstellung aus, es gäbe eine von der Zweckrichtung der Strafe unabhängige „ S t r a f w ü r d i g k e i t " , m i t der Strafbarkeitsbedingungen im Entwurf eines Strafgesetzbuches, ZStW Bd. 71 (1959), S. 563 ff. (567); Tiedemann, Objektive Strafbarkeitsbedingungen und die Reform des deutschen Konkursstrafrechts, ZRP 1975, S. 129 ff. (132). 6 ζ. B. Lenckner (wie Fn 5), Rdn 124; Rudolphi (wie Fn 5), Rdn 12; - die Terminologie ist insoweit allerdings nicht einheitlich (vgl. dazu Otto, Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit als eigenständige Deliktskategorien?, S. 56 Fn 13). 7 Lenckner (wie Fn 5), Rdn 124; Rudolphi (wie Fn 5), Rdn 12; Jescheck, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 449 f.; Blei, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 87 f.; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil Rdn 195; derselbe, Objektive Strafbarkeitsbedingungen im Entwurf eines Strafgesetzbuches, ZStW Bd. 71 (1959), S. 563 ff. (568). 8 BGHSt 16, 124 (125 f.); Jescheck in: Leipziger Kommentar, Vor § 13 Rdn 79; Lenckner in: Schönke / Schröder, Vor § 13 f. Rdn 124a; Hirsch in: Leipziger Kommentar (9. Aufl.), Vor § 51 Rdn 189; Maurach / Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 285; Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 485; derselbe, Objektive Strafbarkeitsbedingungen, ZStW Bd. 71 (1959), S. 545 ff. (548); Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil, Rdn 195; derselbe, Objektive Strafbarkeitsbedingungen im Entwurf eines Strafgesetzbuches, ZStW Bd. 71 (1959), S. 563 ff. (566 f.); Blei, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 87 f.; Stree, Objektive Bedingungen der Strafbarkeit, JuS 1965, S. 465 ff. (466 f.); Tiedemann, Objektive Strafbarkeitsbedingungen und die Reform des deutschen Konkursstrafrechts, ZRP 1975, S. 129 ff. (132). - Innerhalb der h. M. ist allerdings umstritten, ob dies bei allen im geltenden Recht enthaltenen objektiven Bedingungen der Strafbarkeit der Fall ist. Insbesondere für die in den §§ 323a, 227,186 StGB enthaltenen Strafvoraussetzungen wird häufig angenommen, daß es sich um „verkappte Unrechtsmerkmale", um sogenannte „unechte" Strafbarkeitsbedingungen handele (Jescheck, aaO, Rdn 79; derselbe, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 249 f.; Maurach / Zipf, aaO, S. 285; Baumann / Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 464; Tiedemann, aaO, S. 132).
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
eine schuldangemessene Strafe gerechtfertigt werden könne, sobald irgendein öffentliches Interesse an der Bestrafung, ein „Strafbedürfnis", bestehe. Dieser Ausgangspunkt erweist sich bei näherer Analyse als nicht haltbar: Wie im 2. Kapitel gezeigt, handelt es sich bei der Rechtfertigung der Strafeingriffe um einen Anwendungsfall der materiellen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen mittels Zurechnungsprinzip 9; sie erfolgt mit der Erwägung, der Betroffene habe die Strafeingriffe zu dulden, weil ihm die durch diese Eingriffe abzuwehrende Gefahr für die Normakzeptanz aufgrund seiner Schuld zuzurechnen ist 10 . Die sich aus Zurechnungsprinzipien ergebende Duldungspflicht des Grundrechtsträgers ist nun aber zweckgebunden. Sie besteht nur hinsichtlich solcher Eingriffe, die ihren Grund in dem Gegenstand der Zurechnung haben: ζ. B. darf im Polizeirecht ein Störer nur zur Abwehr derjenigen Gefahr in Anspruch genommen werden, die ihm nach den in diesem Rechtsgebiet maßgeblichen Grundsätzen zugerechnet wird. Ohne diese Zweckbindung wäre die materielle Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen mit Zurechnungsprinzipien nicht mit der sich aus Art. 1 I GG ergebenden Verpflichtung vereinbar, jeden Menschen als prinzipiell gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft anzuerkennen 11. Denn die erhöhte Duldungspflicht für einen Grundrechtseingriff stellt die prinzipielle Gleichwertigkeit der betroffenen Person nur dann nicht in Frage, wenn sie auf deren besonderer, sich aus der Zurechnung ergebenden Beziehung zu dem mit diesem Eingriff verfolgten Interesse beruht. Eine solche Beziehung besteht nur insoweit, wie sich der Grund des Eingriffs aus dem Gegenstand der Zurechnung ergibt. Eine erhöhte Duldungspflicht auch gegenüber Eingriffen mit anderer Zwecksetzung aufgrund des die Zurechnung begründenden Verhaltens wäre in der Sache nichts anderes als eine Verwirkung des Anspruchs, als prinzipiell gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden. Eine solche Verwirkung ist aber nicht möglich. Die Menschenwürde kommt dem Menschen allein kraft seines Mensch-Seins zu; sie ist nicht nur unantastbar, sondern auch unverlierbar 12 .
9 Vgl. 2. Kap. I I I 2 b bb. 10 Dies gilt ebenso wie die folgenden Erörterungen unabhängig davon, ob man das Zurechnungsprinzip der Schuld auf den Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit zurückführt oder es nur als Schutz vor unkalkulierbarer Inanspruchnahme interpretiert (vgl. zu diesen beiden Erklärungsmodellen, 3. Kap. II). 11 Z u dieser Ausprägung des Gebots der Achtung der Menschenwürde: BVerfGE 5, 85 (205); Dürig in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 18; Leibholz / Rinck / Hesselberger, GG, Art. 1 Rdn 2; Podlech in: A K - G G , Art. 1 Abs. 1 Rdn 29 f.; Klein in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 1 Rdn 2; Benda, Resozialisierung als Verfassungsauftrag, S. 312.
I. Die allgemeine Problematik
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Die Zweckbindung der sich aus Zurechnungsprinzipien ergebenden Duldungspflicht bedeutet für die Strafe: ein Straftäter darf nur zur Abwehr derjenigen Gefahr für die Normakzeptanz in Anspruch genommen werden, die sich aus den ihm zuzurechnenden Umständen ergibt; da ihm nun der Eintritt schuldunabhängiger Umstände nach dem für die Strafe maßgeblichen Zurechnungsprinzip der Schuld gerade nicht zugerechnet werden kann, ist die Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz, die auf solchen Umständen beruhen, kein verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck. Das öffentliche Interesse an der Bestrafung darf also nur aus Umständen abgeleitet werden, auf die sich die Schuld des Täters bezieht. Geht der Gesetzgeber davon aus, daß das verschuldete Unrecht allein kein solches Interesse begründet, so ist damit eine Bestrafung unzulässig. Mit einem Strafbedürfnis, daß sich erst aus dem Hinzutreten schuldunabhängiger Umstände, ζ. B. dem Eintritt nicht vorhersehbarer Folgen eines bestimmten Verhaltens, ergibt, kann eine Strafe nicht legitimiert werden. Deshalb verstoßen schuldunabhängige Strafvoraussetzungen dann gegen das Schuldprinzip, wenn sie „gefahrbegründend" sind, d.h. sich auf einen Umstand beziehen, dessen Eintritt notwendig ist, damit nach Art und Ausmaß diejenige Gefahr für die Normakzeptanz entsteht, deren Abwehr die Strafe bezweckt. Und zwar auch dann - und hier liegt der entscheidende Unterschied zur herrschenden Meinung - , wenn sie in einem Tatbestand enthalten sind, dessen Strafdrohung dem vorausgesetzten schuldhaften Verhalten angemessen ist. Denn die Angemessenheit der Strafdrohung ändert nichts daran, daß der Täter bei der Bestrafung aufgrund eines Tatbestands, der eine schuldunabhängige, gefahrbegründende Strafvoraussetzung enthält, zur Abwehr einer Gefahr für die Normakzeptanz in Anspruch genommen wird, die ihm nicht zuzurechnen ist. Daß es damit Tatbestände geben kann, bei denen die Möglichkeit besteht, einen Verstoß gegen das Schuldprinzip auch durch schlichte Streichung einer Strafvoraussetzung und damit durch eine Erweiterung der Strafbarkeit zu beseitigen, mag zunächst paradox erscheinen. Bei näherer Analyse zeigt sich jedoch, daß dieses Ergebnis nicht nur konstruktiv begründet, sondern mit dem Zweck des Schuldprinzips, den einzelnen vor der staatlichen Strafgewalt zu schützen, auch durchaus vereinbar ist. Es gibt auch andere dem Schutz des einzelnen dienende Rechtsprinzipien ζ. B. den Bestimmtheitsgrundsatz 13 -, denen der Gesetzgeber auch durch eine Erweiterung der Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen Rechnung tragen 12
Dürig in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 21; Zippelius in: Bonner Kommentar, GG, Art. 1, Rdn 40; Podlech in: A K - G G , Art. 1 Abs. 1 Rdn 72; v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdn 20. 13 Die Breite des Anwendungsbereichs eines Straftatbestandes hat - was allerdings manchmal verkannt wird - mit dessen Bestimmtheit unmittelbar nichts zu tun; ein unbestimmter Tatbestand kann durch Streichung der in ihm enthaltenen unbestimmten Voraussetzungen zu einem bestimmten werden. 4 Frister
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
kann. Solche Rechtsprinzipien haben eine relative Schutzfunktion; sie zwingen den Gesetzgeber zur Konsequenz: er kann eine bestimmte Einschränkung von Rechten des einzelnen nur dann erreichen, wenn er politisch dazu bereit ist, auch die mit dieser Einschränkung aufgrund verfassungsrechtlicher Wertung verbundenen Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Die Bedeutung eines solch relativen Schutzes sollte nicht unterschätzt werden; er ist vor allem in Bereichen wichtig, in denen dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs ein großer Beurteilungsspielraum zukommt, wie dies bei der Gestaltung der Strafdrohungen der Fall ist 14 . Die Unvereinbarkeit schuldunabhängiger, gefahrbegründender Strafvoraussetzungen mit dem Schuldprinzip bedeutet nun aber nicht, daß die Strafbarkeit - wie dies ein Teil der Lehre annimmt 15 - überhaupt nicht von schuldunabhängigen Umständen abhängen dürfe. Denn es kann sachliche Gründe dafür geben, eine aus einem schuldhaften Verhalten resultierende Gefahr für die Normakzeptanz in bestimmten Fällen nicht abzuwehren 16: Zum einen kann die Gefahr oder die Möglichkeit, sie durch Strafe abzuwehren, durch Eintritt bestimmter Umstände beseitigt oder erheblich gemindert sein. Die meisten ProzeßVoraussetzungen und Prozeßhindernisse lassen sich auf solche Umstände zurückführen; zum Beispiel beruht das Rechtsinstitut der Verjährung auf der Annahme, der Zeitablauf vermindere sowohl die von der Straftat ausgehende Gefahr für die Normakzeptanz als auch die Möglichkeit zur Aufklärung der Tat 1 7 . Aber auch der Rücktritt vom Versuch ist wenn man ihn nicht als Schuldausschließungsgrund interpretiert 18 - hier einzuordnen. Zum anderen kann es auch sinnvoll sein, eine schuldhaft herbeigeführte Gefahr für die Normakzeptanz aus übergeordneten, strafzweckunabhängigen Erwägungen nicht abzuwehren 19. Darauf beruht ζ. B. der in § 36 StGB gere14 Vgl. dazu 3. Kap. I I 1 b und I I 2 b. 15 Bemmann, Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, S. 19; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 249 ff.; Bockelmann, Niederschriften, Bd. V , S. 84 f. u. S. 237 f. 16 Wer will, kann natürlich wie Bemmann (wie Fn 15), S. 27, alle diese Fälle dem Prozeßrecht zuordnen, so daß der Grundsatz „keine schuldunabhängigen materiellrechtlichen Strafvoraussetzungen" gewahrt bleibt. Aus dem Schuldprinzip folgt eine solche Zuordnung aber nicht. 17 Diese Deutung entspricht der sogenannten „gemischten Verjährungstheorie" (vgl. ζ. B. Rudolphi in: Systematischer Kommentar, StGB, Vor § 78 Rdn 10 mwN); nach der materiellrechtlichen oder der verfahrensrechtlichen Theorie, die jeweils nur einen dieser Aspekte betonen, wäre das Rechtsinstitut der Verjährung nicht anders einzuordnen. 18 So ζ. B. Roxin, Über den Rücktritt vom unbeendeten Versuch, S. 273; Rudolphi in: Systematischer Kommentar, StGB, § 24 Rdn 6. 19 Eine ähnliche Systematisierung findet sich bereits bei Hegler, Die Merkmale des Verbrechens, ZStW Bd. 36 (1915), S. 184 ff. (229) und in neuerer Zeit wieder bei Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungs-
I. Die allgemeine Problematik
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gelte persönliche Strafausschließungsgrund der Indemnität 20 . Eine Abwehr der von der Straftat ausgehenden Gefahr für die Normakzeptanz unterbleibt in diesem Fall, weil sie mit einer Gefährdung der Redefreiheit der Abgeordneten verbunden wäre 21 . In bezug auf die Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip sind also Strafvoraussetzungen mit gefahrbegründender Funktion einerseits und Strafvoraussetzungen mit gefahrbeseitigender bzw. strafzweckunabhängiger Funktion andererseits zu unterscheiden. Es bietet sich an, die ersteren als Bedingungen der Strafbarkeit und die letzteren als Strafausschließungsgründe zu bezeichnen und damit diese überkommenen dogmatischen Kategorien mit einem von der Zufälligkeit einer positiven oder negativen Formulierung der Strafvoraussetzung 22 unabhängigen, sachlichen Gehalt zu füllen. Davon ausgehend ergibt sich für das Problem der Vereinbarkeit schuldunabhängiger Strafvoraussetzungen mit dem Schuldprinzip eine begrifflich klare und einfache Lösung: Strafausschließungsgründe sind stets, schuldunabhängige Bedingungen der Strafbarkeit dagegen niemals mit dem verfassungsrechtlichen Schuldprinzip vereinbar. Zu klären bleibt noch die Frage, wie die Funktion einer Strafvoraussetzung methodisch zu bestimmen ist. Es kommen zwei Möglichkeiten in Betracht: Zum einen wäre es denkbar, allein auf die Motive des Gesetzgebers abzustellen und eine Strafvoraussetzung immer dann als Bedingung der Strafbarkeit anzusehen, wenn sie aufgrund einer gefahrbegründenden Erwägung geschaffen wurde. Zum anderen kann man die Funktion objektiv bestimmen und eine Bedingung der Strafbarkeit nur dann annehmen, wenn sich eine Strafvoraussetzung mit keinerlei gefahrbeseitigender oder strafzweckunabhängiger Erwägung sachlich rechtfertigen läßt. Soweit es um die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung geht, ist die zweite Möglichkeit die allein richtige. Denn ein an sich verfassungsgemäßes Gesetz wird nicht dadurch verfassungswidrig, daß seine Entstehung auf verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen widersprechenden Erwägungen beruht, da Gegenstand der verfassungsrechtlichen Überprüfung nur die Gesetze selbst, nicht aber die ihrer Schaffung zugrundeliegenden Motive des Gesetzgebers gründe, S. 225, der statt des in dieser Untersuchung gewählten Begriffs „strafzweckunabhängig" den Ausdruck „strafrechtsfremd" verwendet. 20 So auch Bloy (wie Fn 19), S. 266. 21 Zum Sinn und Zweck der Indemnität vgl. Maunz in: Maunz / Dürig, GG, Art. 46 Rdn 6 mwN. 22 In der Literatur wird zu Recht darauf hingewiesen, daß mit diesem vordergründigen Kriterium eine unterschiedliche Sachbehandlung nicht begründet werden kann (z. B. Stree, Objektive Bedingungen der Strafbarkeit, JuS 1965, S. 465 ff. (467); derselbe in: Schönke / Schröder, § 186 Rdn 10 mwN). Die daraus gezogene Folgerung, zwischen Strafausschließungsgründen und objektiven Bedingungen der Strafbarkeit bestehe kein sachlicher Unterschied, ist jedoch nicht richtig. Mit dem im Text dargelegten Kriterium läßt sich durchaus eine sinnvolle Unterscheidung treffen. 4*
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
sind 23 . Solange eine schuldunabhängige Strafvoraussetzung mit irgendeiner gefahrbeseitigenden oder strafzweckunabhängigen Erwägung sachlich gerechtfertigt werden kann, ist sie deshalb als Strafausschließungsgrund und der sie enthaltende Tatbestand damit als verfassungsgemäß anzusehen24. I I . Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit Im folgenden sollen die herkömmlich als objektive Bedingungen der Strafbarkeit bezeichneten Strafvoraussetzungen darauf untersucht werden, ob es sich bei ihnen auch in der Sache um mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbarende, schuldunabhängige Bedingungen der Strafbarkeit oder in Wahrheit um Strafausschließungsgründe handelt. Einbezogen werden dabei alle im Strafgesetzbuch enthaltenen Voraussetzungen, die auch nur ein Teil der Rechtsprechung oder Literatur als objektive Bedingungen der Strafbarkeit bezeichnet 25 . Dies sind: - die Begehung der Rauschtat in § 323a StGB 2 6 , - der Eintritt des Todes oder einer schweren Körperverletzung in § 227 StGB 2 7 , - die Zahlungseinstellung oder Konkurseröffnung bzw. Ablehnung der Eröffnung mangels Masse in den §§ 283 ff. StGB 2 8 , - die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung in § 113 StGB bei Zumutbarkeit, sich gegen die Handlung mit einem Rechtsbehelf zur Wehr zu setzen 29 ,
23
Der von Haß, Die Entstehungsgeschichte der objektiven Strafbarkeitsbedingungen, S. 7 ff., geführte Nachweis, daß die meisten objektiven Strafbarkeitsbedingungen nur entstanden sind, um die kriminalpolitisch unerwünschte Berufung auf einen Tatbestandsirrtum auszuschließen, ist daher zwar rechtspolitisch interessant, verfassungsrechtlich aber nicht entscheidend. 24 Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 I GG: Das Gericht sieht den Gleichheitssatz erst dann als verletzt an, wenn sich eine Differenzierung nach keinem in Betracht kommenden Regelungsziel sachlich rechtfertigen läßt (ζ. B. BVerfGE 9, 291 (297); näher dazu Stein in: A K - G G , Art. 3 Rdn 35). 25 Nicht miteinbezogen wird allerdings der ausgehend von einer allein an der Handlung orientierten Unrechtslehre zuweilen als objektive Bedingung der Strafbarkeit bezeichnete (ζ. B. Armin Kaufmann, Zum Stand der Lehre vom personalen Unrecht, S. 411; Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 97) Eintritt des tatbestandlichen Erfolges. Denn dabei handelt es sich - solange sich der Vorsatz bzw. die verletzte Sorgfaltspflicht auf ihn beziehen - auch dann nicht um eine schuldunabhängige Strafvoraussetzung, wenn man mit der neueren Unrechtslehre (vgl. insbesondere Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, S. 200 ff.) davon ausgeht, daß der Erfolg nicht Teil des Unrechts und damit der Schuld, sondern nur dessen Manifestation sei. 2 * Vgl. ζ. B. BGHSt 32, 48 (55). 27 Vgl. z. B. BGHSt 16,130 (132). 28 Vgl. ζ. B. BGHSt 28, 231 (234).
II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
53
- die ( v e r m u t e t e ) 3 0 U n w a h r h e i t der ehrenrührigen Tatsache i n § 186 S t G B 3 1 , - das Bestehen diplomatischer Beziehungen i n § 104 S t G B 3 2 u n d - die Verbürgung der Gegenseitigkeit zur Z e i t der T a t u n d zur Z e i t der Strafverfolgung i n § 104a S t G B 3 3 . 1. Die Begehung der Rauschtat in § 323a StGB 34 D i e F u n k t i o n dieser Strafvoraussetzung hängt zunächst davon ab, ob als Z w e c k des Vollrauschtatbestands die Bewährung der durch die Rauschtat verletzten N o r m oder die Bewährung des Verbots, sich zu berauschen, angesehen wird: Nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ging es u m die Befriedigung des Vergeltungsbedürfnisses der Bevölkerung bezüglich der Rauschtat u n d damit u m die A b w e h r v o n Gefahren für die Akzeptanz der durch die Rauschtat verletzten N o r m . D e n n der Vollrauschtatbestand wurde m i t der Begrün29 Diese Strafvoraussetzung wurde vor der Neufassung durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 20.05.1970 von der herrschenden Meinung als objektive Bedingung der Strafbarkeit angesehen (vgl. ζ. B. BGHSt 21, 334 (364 f.)). Heute wird eine solche Einordnung überwiegend abgelehnt (vgl. Eser in: Schönke / Schröder, § 113 Rdn 18f. mwN). Zwingend ist diese Ablehnung aber nur für den Fall, daß es dem Widerstandleistenden nicht zuzumuten ist, sich mit einem Rechtsbehelf gegen die Diensthandlung zur Wehr zu setzen; denn in diesem Fall kann er gemäß § 113 I V S. 2, 1. HS StGB nur bestraft werden, wenn er bezüglich der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung zumindest fahrlässig handelte. Im übrigen ist die Einordnung als objektive Bedingung der Strafbarkeit noch immer möglich (ebenso Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 137 und in der Sache auch Thiele, Verbotensein und Strafbarkeit des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, JR 1979, S. 397 ff. (398)). 30 Auf die Frage, ob der Verzicht auf den Nachweis der Unwahrheit zulässig ist, wird erst bei der Behandlung der Verdachtsstrafe im zweiten Teil der Arbeit einzugehen sein. Hier geht es nur um die Problematik, die daraus entsteht, daß nach herrschender Meinung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit bezüglich der Unwahrheit erforderlich ist. 31 Vgl. z. B. BGHSt 11, 273 (274). 32 Vgl. ζ. B. Willms in: Leipziger Kommentar, § 104a Rdn 1. 33 Vgl. ζ. B. Willms (wie Fn 32) Rdn 1. 34 Im folgenden wird davon ausgegangen, daß es sich bei § 323a StGB um einen Straftatbestand und nicht - wie zum Teil angenommen - um eine Regelung der Schuldfähigkeit handelt. Die Interpretation der Vorschrift als Ausnahme zu § 20 StGB (so ζ. B.: Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", S. 125 ff.; Streng, Unterlassene Hilfeleistung als Rauschtat, JZ 1984, S. 114 ff. (118 f.)) ist m.E. weder mit dem Wortlaut noch mit der Gesetzessystematik vereinbar (näher dazu Dencker, § 323a StGB Tatbestand oder Schuldform, JZ 1984, S. 553 ff. (554 f.)). Die Frage, ob es de lege ferenda zulässig wäre, für den selbst herbeigeführten Rausch eine Ausnahmeregelung zu § 20 StGB zu schaffen, ist kein Problem der Zulässigkeit schuldunabhängiger Voraussetzungen der Strafbarkeit, sondern betrifft die im Rahmen dieser Arbeit nicht im einzelnen zu untersuchende inhaltliche Ausgestaltung des; Zurechungsprinzips Schuld (vgl. zu dieser Frage: Dencker, aaO, der die Auffassung vertritt, daß eine Ausnahmeregelung zu § 20 StGB noch innerhalb der Befugnis des Gesetzgebers „zur Grenzbestimmung des Gegenstands Schuld" läge).
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
dung geschaffen, daß ein Freispruch wegen Schuldunfähigkeit als unerträglich empfunden werde, wenn der Täter diesen Zustand durch die Einnahme von Rauschmitteln selbst herbeigeführt hat 35 . Danach hätte die Strafvoraussetzung der Rauschtat eindeutig gefahrbegründende Funktion. Wie im vorhergehenden gezeigt, sind die gesetzgeberischen Motive für die verfassungsrechtliche Beurteilung aber nicht entscheidend. Es ist deshalb auch zu untersuchen, welche Funktion der Strafvoraussetzung der Rauschtat ausgehend von dem zweiten denkbaren Regelungsziel, der Bewährung des Verbots, sich zu berauschen, zukommt. Auch von diesem Regelungsziel her ist eine gefahrbegründende Deutung naheliegend; denn die Strafvoraussetzung der Rauschtat läßt sich mit der Erwägung erklären, die Akzeptanz des Verbots, sich zu berauschen, sei durch einen folgenlosen, von der Allgemeinheit wenig beachteten Rausch in geringerem Maße gefährdet als durch einen Rausch, der zur Begehung einer Straftat geführt hat 36 . Zwingend ist diese Erklärung aber nur dann, wenn sich die Straflosigkeit eines folgenlos gebliebenen Rausches nicht auf andere Weise sachlich rechtfertigen läßt. Vereinzelt wird in der Literatur bereits die Beschränkung der Zahl der wegen Vollrausch verhängten Strafen als eine solche Rechtfertigung angesehen 37 . Damit wird jedoch verkannt, daß sich aus dem Ziel, einer „nicht gutzuheißenden Vielzahl von Strafen vorzubeugen" 38 , keine bestimmte Auswahl der mit Strafe bedrohten Fälle ableiten läßt. Eine nicht- gefahrbegründende Erklärung dafür, daß gerade dann gestraft wird, wenn es zu einer Rauschtat gekommen ist, könnte sich allenfalls aus der Bedeutung einer solchen Tat für die Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 323a StGB ergeben. In der Literatur gibt es zwei in diese Richtung gehende Deutungsversuche: Kusch 39 hat die Auffassung vertreten, die Strafvoraussetzung der Rauschtat lasse sich als Erkenntnismittel bezüglich des Tatbestandsmerkmals Rausch erklären. Der Rausch „als zum Zeitpunkt der Strafverfolgung oft nicht mehr existenter Zustand der Psyche" bereite erhebliche Beweisschwierigkeiten, die
35 In einer Entscheidung des Großen Senats (BGHSt 9, 390 (397)) hat dies der Bundesgerichtshof unter Verweis auf die Begründung der Gesetzentwürfe von 1925 (S. 174) und 1927 (S. 189) offen ausgesprochen. 36 In diese Richtung geht ζ. B. die Erklärung von Kusch, Der Vollrausch, S. 72 f.: „Die folgenlose Berauschung erschüttert die Gemeinschaftsgrundlagen nicht derart intensiv, daß sie geeignet wäre, beispielhaft die Unerträglichkeit der Berauschung im Sozialleben allgemein bewußt zu machen". 37 Schmidhäuser, Objektive Strafbarkeitsbedingungen, ZStW Bd. 71 (1959), S. 545 ff. (561); ihm folgend Kusch (wie Fn 36), S. 61. 38 So die Formulierung von Schmidhäuser (wie Fn 37), S. 561. 39 Kusch (wie Fn 36), S. 61 f.
II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
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sich - so Kusch 40 - eher überwinden ließen, wenn es zu einer Rauschtat gekommen sei, weil eine solche Tat immerhin die Chance biete, den psychischen Zustand bei ihrer Begehung aufzuklären. Dem ist entgegenzuhalten, daß der Begehung einer Straftat keine besondere Indizfunktion für das Vorliegen eines Rausches zukommt. Eine Straftat kann für die Feststellung eines Rausches nur insofern von Bedeutung sein, als es anläßlich der Tat zu Ausfallerscheinungen gekommen ist, aus denen auf eine Berauschung des Täters geschlossen werden kann. Diese Möglichkeit besteht aber in gleicher Weise bei nicht strafbaren Handlungen eines Berauschten. In Rechtsprechung und Literatur häufiger zu finden ist der Versuch, die Strafvoraussetzung der Rauschtat als Erkenntnismittel bezüglich der Gefährlichkeit des Rausches zu erklären 41 : Die Begehung der Rauschtat sei - wie es ζ. B. der Bundesgerichtshof in einer frühen Entscheidung 42 formulierte - ein „zwingendes Beweisanzeichen für die Gemeingefährlichkeit des Berauschten". Diese Erklärung setzt - was häufig übersehen wird 4 3 - zumindest voraus, daß die Gefährlichkeit des Rausches Tatbestandsmerkmal des § 323a StGB ist, und steht deshalb in Widerspruch 1 ζύ der herrschenden Auslegung 44 der Vorschrift als abstraktes Gefährdungsdelikt 45 . Nach dieser Auslegung besteht für eine Interpretation der Rauschtat als Erkenntnismittel zur Feststellung der Gefährlichkeit des Rausches von vornherein kein Raum, weil die Gefährlichkeit keine im Einzelfall festzustellende Strafvoraussetzung, sondern nur das gesetzgeberische Motiv für die Strafbarkeit des Vollrausches ist. In Betracht kommt eine solche Interpretation nur für die von einer Minderheit in der Literatur vertretene Auslegung des § 323a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt, nach der die Gefährlichkeit des Rausches im Einzelfall Tatbestandsmerkmal ist und der Täter deshalb straflos bleibt, wenn er nicht voraussehen konnte, « Kusch (wie Fn 36), S. 62. 4 1 ζ. B.: BGHSt 1, 124 (125); B G H bei Dallinger, M D R 1974, S. 12 ff. (15); B G H bei Spiegel, D A R 1979, S. 173 ff. (180) (Nr. 5c) und 1982, S. 194 ff. (200) (Nr. 3); Cramer in: Schönke/Schröder, § 323a Rdn 13; Spendel in: Leipziger Kommentar, § 323a Rdn 61 mwN. 42 BGHSt 1, 124 (125). 43 Als Beispiel sei nur die in Fn 42 zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs angeführt, die einerseits betont, daß es sich bei § 323a StGB um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt und andererseits die Rauschtat als „Beweiszeichen" für die Gefährlichkeit des einzelnen Rausches deutet. 44 Vgl. für die herrschende Auslegung ζ. B.: BGHSt 1, 124 (126); 2, 14 (18); 6, 89; 16, 124 (125); O L G Hamburg, JR 1982, S. 345; Horn in: Systematischer Kommentar, StGB, § 323a Rdn 2; Lay in: Leipziger Kommentar (9. Aufl.), § 330a Rdn 9 u. Rdn 15 ff.; Lackner, Strafgesetzbuch, § 323a Anm 4 b; Puppe, Die Norm des Vollrauschtatbestands, G A 1974, S. 98 ff. (104 f.); Kusch, Der Vollrausch, S. 42 f. mwN. 45 Auf diesen Widerspruch hat bereits Lange hingewiesen (Der gemeingefährliche Rausch, ZStW Bd. 59 (1940), S. 574 ff. (588) und Anmerkung zu B G H 4 StR 78/50, JZ 1951, S. 460 ff. (462)).
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
daß er im Rausch irgendeine Straftat begehen würde 4 6 . Ausgehend von dieser Auslegung wäre die Erklärung der Strafvoraussetzung der Rauschtat als Erkenntnismittel bezüglich der Gefährlichkeit des Rausches schlüssig, wenn es einen sachlichen Grund dafür gäbe, zur Feststellung dieses Tatbestandsmerkmals ein besonderes Erkenntnismittel in Gestalt der Begehung einer Rauschtat vorzusehen. Auf den ersten Blick scheint sich die Notwendigkeit eines solchen besonderen Erkenntnismittels bereits aus der in Rechtsprechung und Literatur verbreiteten Vorstellung ableiten zu lassen, der Rausch sei gerade durch die Unberechenbarkeit des Berauschten gekennzeichnet47. Wenn es keine gesicherten Erfahrungssätze gibt, nach denen sich das Verhalten eines Berauschten vorhersagen ließe, dann - so könnte man meinen - sei es nur zweckmäßig, die Gefährlichkeit eines Rausches ex post danach zu beurteilen, ob es zu einer Rauschtat gekommen sei oder nicht 48 . Mit dieser Argumentation setzte sich die eine konkrete Gefährlichkeit verlangende Auslegung des § 323a StGB jedoch in Widerspruch zu ihrem eigenen Ausgangspunkt: Da die Bestimmungsfunktion einer Norm die prinzipielle Erkennbarkeit des Vorliegens ihrer Voraussetzungen durch den Normadressaten voraussetzt, kann die Gefährlichkeit des Rausches nur dann Teil der dem Vollrauschtatbestand zugrundeliegenden Verbotsnorm sein, wenn es aus ex ante Sicht möglich ist, einen gefährlichen Rausch von einem ungefährlichen zu unterscheiden 49. Hält man eine solche Unterscheidung wegen des Fehlens gesicherten Erfahrungswissens nicht für möglich, so kann man § 323a StGB nur wie die herrschende Meinung als Verbot jeglicher, einen bestimmten Schweregrad überschreitender Berauschung interpretieren. Als sachlicher Grund für das Erfordernis eines besonderen Erkenntnismittels zur Feststellung der Gefährlichkeit eines Rausches läßt sich damit nur anführen, daß die tatsächlichen Umstände zur Beurteilung dieser Gefährlichkeit besonders schwierig festzustellen seien. Bezüglich der Neigung des Täters, im Rausch Straftaten zu begehen 50 , ist die Annahme solch besonde46
Vgl. für diese Auslegung vor allem Lange, Der gemeingefährliche Rausch (wie Fn 45), S. 574 ff.; und aus der neueren Literatur; Hirsch, Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 15 f.; Ranft, Grundprobleme des § 323a StGB, JA 1983, S. 193 ff. (194); sowie Spendelm: Leipziger Kommentar, § 323a Rdn 60 ff. 47 So z. B. BGHSt 1,124 (126); Kusch, Der Vollrausch, S. 42 mwN. 48 In diese Richtung geht die Erklärung der Strafvoraussetzung der Rauschtat bei Spendei in: Leipziger Kommentar, § 323a Rdn 61, der aber selbst betont, daß es sich dabei um eine „fragwürdige" Gesetzestechnik handelt. 49 Darauf hat bereits Puppe, Die Norm des Vollrauschtatbestands, G A 1974, S. 98 ff. (105 f.) hingewiesen. 50 Nach der in der neueren Literatur vertretenen Variante der Auslegung des § 323a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt kommt es für die Beurteilung der Gefährlichkeit nicht nur auf diese Neigung, sondern auch auf die tatsächlichen Umstände bei der Einnahme des Rauschmittels an (Ranft, Grundprobleme des § 323a StGB, JA 1983,
II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
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rer Schwierigkeiten durchaus plausibel; denn zur Feststellung einer solchen „Neigung zu Rauschtaten" wird oft eine umfassende, die Hinzuziehung von Sachverständigen erfordernde Würdigung der Persönlichkeit des Täters notwendig sein. Die Frage ist aber, ob die Rauschtat als Erkenntnismittel überhaupt geeignet ist, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Die Notwendigkeit, die Neigung des Täters zur Begehung von Rauschtaten festzustellen, entfiele nur dann, wenn aus der Begehung einer Rauschtat zwingend auf die Gefährlichkeit des Rausches geschlossen, die Rauschtat also nicht nur als notwendige, sondern auch als hinreichende Bedingung zur Feststellung der Gefährlichkeit angesehen werden könnte. Entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung 51 ist dies jedoch nicht möglich 52 : Da die Gefährlichkeit des Rausches Voraussetzung für die Tatbestandsmäßigkeit der Einnahme von Rauschmitteln sein soll, kommt es allein auf die Gefährlichkeit zu diesem Zeitpunkt an 53 . Damit liegt die für den Rückschluß von der Rauschtat auf die Gefährlichkeit des Rausches angeführte Überlegung, daß jeder Verletzung notwendigerweise eine konkrete Gefährdung vorausgeht54, neben der Sache, weil aus ihr nicht gefolgert werden kann, daß bereits bei Einnahme der Rauschmittel der Rausch als gefährlich anzusehen war. Zwar folgt aus der Begehung einer Rauschtat, daß auch zu diesem Zeitpunkt schon die Möglichkeit bestand, daß es im Rausch zu einer Straftat kommen würde. Aber eine solche Möglichkeit besteht bei jedem Rausch. Selbst wenn bei der Einnahme des Rauschmittels die vom 5. Senat des Bundesgerichtshofs geforderten „besonderen Zurüstungen" 55 getroffen werden, läßt sich nie ganz ausschließen, daß es aufgrund eines völlig außergewöhnlichen Geschehensablaufes doch zu einer Rauschtat kommt - so wie im übrigen auch niemals ausgeschlossen werden kann, daß eine nicht berauschte Person plötzlich eine Straftat begeht. Mit der bloßen Möglichkeit der Begehung einer solchen Tat kann die konkrete Gefährlichkeit eines Rausches deshalb keinesfalls begründet werden 56 . S. 193 ff. (194); Spendel in: Leipziger Kommentar, § 323a Rdn 60; anders noch Lange, Der gemeingefährliche Rausch, ZStW Bd. 59 (1940), S. 574 ff.). Bezüglich dieser Umstände sind besondere Feststellungsschwierigkeiten nicht ersichtlich. 51 Ausdrücklich: Spendel (wie Fn 50), Rdn 65; wohl auch Lange (wie Fn 50), S. 587. 52 So im Ergebnis auch: Hellmuth Mayer, Die folgenschwere Unmäßigkeit (§ 330a StGB), ZStW Bd. 59 (1940), S. 283 ff. (306); Bemmann., Welche Bedeutung hat das Erfordernis der Rauschtat in § 330a StGB?, G A 1961, S. 65 ff. (70); Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, JZ 1963, S. 425 ff. (431); Puppe, Die Norm des Vollrauschtatbestands, G A 1974, S. 98 ff. (106); Kusch, Der Vollrausch, S. 71. 53 Puppe (wie Fn 52), S. 106. 54 Spendel in: Leipziger Kommentar, § 323a Rdn 60. 55 BGHSt 10, 247 (251). 56 Wer wie Spendel (wie Fn 54), Rdn 62, jede noch so unwahrscheinliche Möglichkeit der Begehung einer Rauschtat ausreichen läßt, verzichtet in Wahrheit auf die Gefährlichkeit des Rausches als eigenständiges Tatbestandsmerkmal.
4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
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Das Erfordernis der Begehung einer Rauschtat vermag also nichts daran zu ändern, daß bei der Auslegung des § 323a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt schon zur Feststellung des objektiven Tatbestands die Neigung des Täters zur Begehung von Rauschtaten untersucht werden muß. Zur Feststellung des subjektiven Tatbestands ist es nach dieser Auslegung ohnehin erforderlich, die Erkennbarkeit einer solchen Neigung für den Täter festzustellen, was zumindest genauso schwierig wie die objektive Feststellung sein dürfte 57 . Die Strafvoraussetzung der Rauschtat ist also kein Erkenntnismittel, mit dem die Schwierigkeiten der Feststellung einer Neigung des Täters zur Begehung von Rauschtaten vermieden werden könnten. Zu überlegen ist allerdings noch, ob die Strafvoraussetzung nicht als ein „negatives" Erkenntnismittel verstanden werden kann, dessen Funktion darin besteht, die schwierigen Ermittlungen von vornherein auf die Fälle zu beschränken, in denen ein gesteigerter Verdachtsgrad für das Vorliegen eines gefährlichen Rausches besteht. Denn immerhin läßt sich nicht bestreiten, daß die Feststellung einer Rauschtat die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht, daß es sich um einen gefährlichen Rausch gehandelt hat. Letztlich vermag aber auch diese Deutung nicht zu überzeugen. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen sich auch ohne Rauschtat der Verdacht eines gefährlichen Rausches geradezu aufdrängt (ζ. B. wenn ein wegen Körperverletzung im Vollrausch mehrfach Vorbestrafter sich in einer Gaststätte betrinkt, in der es erfahrungsgemäß des öfteren zu Schlägereien kommt). Diese Fälle können auch unter Berücksichtigung der Befugnis des Gesetzgebers zur Typisierung nicht außer Betracht gelassen werden. Eine Typisierung muß die wesentlichen Fallgruppen erfassen und darf nur in besonders gelagerten Fällen zu Ungleichbehandlungen führen 58 . Die Fälle, in denen bei einem folgenlos gebliebenen Rausch die Neigung zur Begehung von Rauschtaten auf andere Weise hinreichend dokumentiert ist, sind zu zahlreich, als daß sie noch als besonders gelagerte Ausnahmefälle angesehen werden könnten, zumal im Strafrecht eher strengere Anforderungen an eine gesetzliche Typisierung zu stellen sein dürften als bei dem traditionellen Anwendungsbereich dieser Gesetzgebungstechnik, der Ordnung von Massenerscheinungen der gewährenden Verwaltung 59 . Im Ergebnis ist damit festzustellen, daß die Strafvoraussetzung der Rauschtat auch ausgehend von einer Auslegung des § 323a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt nicht als Erkenntnismittel erklärt werden kann. Es gibt daher keine Möglichkeit, diese Voraussetzung anders als gefahrbegründend 57
Darauf weist auch Spendei (wie Fn 54), Rdn 61, hin. 58 BVerfGE 26, 265 (275 f.); 27, 220 (230). 59 Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Problem betreffen zumeist diesen Bereich (vgl. die Nachweise bei Leibholz/Rink/Hesselberger, GG, Art. 3 Rdn 15).
II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
59
zu deuten, so daß es sich bei ihr nicht um einen Strafausschließungsgrund, sondern um eine Bedingung der Strafbarkeit handelt. Diese Bedingung ist bei jeder in Betracht kommenden Auslegung des Vollrauschtatbestands schuldunabhängig, da der Tatbestand gerade die Fälle erfassen soll, in denen der Täter nicht fahrlässig 60 bezüglich der konkret begangenen Rauschtat handelte, und die Erkennbarkeit der Tatsache, daß im Rausch irgendeine Straftat begangen werden könnte, nur einen Schuldbezug zur Gefährlichkeit des Rausches, nicht aber zu der Rauschtat selbst begründet 61 . § 323a StGB enthält also eine schuldunabhängige Bedingung der Strafbarkeit und verletzt damit das verfassungsrechtliche Schuldprinzip. Da es für diese Verletzung nicht auf die Höhe der angedrohten Strafe ankommt, sind auch die in der neueren Literatur aufgetauchten Überlegungen, den Strafrahmen des § 323a StGB auf sechs Monate zu beschränken, wenn sich die Schuld des Täters nur auf die Herbeiführung des Rausches bezieht 62 , nicht geeignet, die Vereinbarkeit des Vollrauschtatbestands mit dem Schuldprinzip zu begründen. Eine verfassungskonforme Auslegung 63 des Tatbestands ist deshalb nicht möglich. § 323a StGB ist verfassungswidrig. 2. Der Eintritt des Todes oder einer schweren Körperverletzung in § 227 StGB
Die Struktur der Problematik ist die gleiche wie bei der Begehung der Rauschtat in § 323a StGB: Geht man davon aus, daß der Zweck des § 227 StGB die Bewährung der durch die Tötung bzw. schweren Körperverletzung 60 Die Versuche, unterhalb der Fahrlässigkeit eine dritte Schuldform des „riskanten Verhaltens" zu begründen (ζ. B. Schweikert, Strafrechtliche Haftung für riskantes Verhalten, ZStW Bd. 70 (1958), S. 394 ff.; Hardwig, Der Vollrauschtatbestand, G A 1964, S. 140 ff.) werden heute zu Recht allgemein als gescheitert angesehen (vgl. zur Kritik ζ. B. Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 145 ff.; Wolter, Vollrausch mit Januskopf, NStZ 1982, S. 54 ff. (57); und Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", S. 118 ff.). Soweit heute noch die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit als Risikohaftung bezeichnet werden, soll damit gerade der Gegensatz zur Haftung für schuldhaftes Verhalten deutlich gemacht werden (so ζ. B. bei Baumann/Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 464; Jescheck in: Leipziger Kommentar, Vor § 13 Rdn 79, der allerdings nur von einer im Rahmen der Strafzumessung auszugleichenden „Einschränkung des Schuldprinzips" spricht). 61 Dies erkennen gerade die Vertreter einer solch einschränkenden Auslegung des § 323a StGB ausdrücklich an (ζ. B. Lange, Der gemeingefährliche Rausch, ZStW Bd. 59 (1940), S. 574 ff. (591); Spendelm: Leipziger Kommentar, § 323a Rdn 70). 62 So zuerst Wolter, Vollrausch mit Januskopf, NStZ 1982, S. 54 ff. (59); ferner Paeffgen, Actio libera in causa und § 323a StGB, ZStW Bd. 95 (1985), S. 513 ff. (535). 63 Bei den Überlegungen von Wolter und Paeffgen dürften die methodischen Grenzen der verfassungskonformen Auslegung (dazu z. B. BVerfGE 18, 97 (111)) ohnehin überschritten sein, da sich dem Gesetz keinerlei Anhaltspunkte für die von ihnen vorgeschlagene Aufspaltung des § 323a StGB in zwei unterschiedliche Straftatbestände entnehmen lassen.
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
verletzten Norm ist, so steht die gefahrbegründende Funktion der in Frage stehenden Strafvoraussetzung von vornherein außer Zweifel. Sieht man dagegen das Ziel der Vorschrift in der Bewährung des Verbots, sich nicht an einer Schlägerei zu beteiligen, so wäre eine nicht-gefahrbegründende Deutung möglich, wenn es einen sachlichen Grund dafür gäbe, die folgenlos gebliebene Schlägerei nicht zu bestrafen. Ein solcher Grund ist hier aber ebensowenig ersichtlich wie bei der entsprechenden Problematik des Vollrauschtatbestands. Insbesondere eine Deutung des Eintritts der schweren Folge als Erkenntnismittel bezüglich der Gefährlichkeit der Schlägerei 64 scheidet ebenfalls aus: Wenn man - was Voraussetzung für eine solche Deutung wäre 65 - die Gefährlichkeit der Schlägerei entgegen der herrschenden Meinung 66 als Tatbestandsmerkmal des § 227 StGB ansieht 67 , dann läßt sich die schwierige Feststellung von Art und Ausmaß der Schlägerei auch durch das Abstellen auf deren Folgen nicht vermeiden, weil aus dem Eintritt einer schweren Folge nicht zwingend auf die Gefährlichkeit der Schlägerei rückgeschlossen werden kann 68 . Und die Erwägung, daß durch die Notwendigkeit des Eintritts einer schweren Folge die schwierigen Ermittlungen von vornherein auf solche Fälle beschränkt werden, in denen ein gesteigerter Verdachtsgrad für die Gefährlichkeit der Schlägerei besteht, scheitert daran, daß es auch Fälle gibt, in denen sich die Gefährlichkeit einer noch einmal glimpflich verlaufenen Schlägerei - ζ. B. wegen der verwendeten Waffen - geradezu aufdrängt 69 . Die Strafvoraussetzung des Eintritts des Todes oder einer schweren Körperverletzung stellt damit keinen Strafausschließungsgrund, sondern eine Bedingung der Strafbarkeit dar. Diese Bedingung ist auch dann schuldunabhängig, wenn man mit Hirsch zur Erfüllung des Tatbestands die „Voraussehbarkeit hinsichtlich der Möglichkeit, daß durch den Raufhandel der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung verursacht wird" 7 0 verlangt. Denn durch die Vorhersehbarkeit irgendeiner schweren Folge wird nur ein Schuld64 Für eine solche Deutung bereits Frank, Strafgesetzbuch, § 227 I I 2; aus der neueren Literatur ζ. B. Stree, Beteiligung an einer Schlägerei, JuS 1962, S. 93 ff. (94); derselbe in: Schönke/Schröder, § 227 Rdn 1 u. Rdn 13. 65 Dazu soeben unter I I 1 S. 55. 66 Die ganz herrschende Meinung versteht § 227 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt; vgl. ζ. B.: BGHSt 14, 132 (134); 16,130 (132); 33,100 (103); Stree in: Schönke/ Schröder, § 227 Rdn 1 u. Rdn 16; Horn in: Systematischer Kommentar, StGB, § 227 Rdn 2. 67 So im Ergebnis Hirsch, Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, G A 1972, S. 65 ff. (74), und in: Leipziger Kommentar, § 227 Rdn 1, der die Frage allerdings nur als Problem des subjektiven Tatbestands ansieht. 68 Dazu soeben unter I I 1 S. 57. 69 Eine gesetzliche Typisierung ist hier aus den gleichen Gründen wie bei § 323a StGB nicht möglich (vgl. soeben unter I I 1 S. 58). 70 Hirsch in: Leipziger Kommentar, § 227 Rdn 13.
II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
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bezug zu der Gefährlichkeit der Schlägerei hergestellt. Eine Zurechnung des Eintritt der schweren Folge selbst scheitert schon an der ersten Voraussetzung des verfassungsrechtlichen Zurechnungsprinzips der Schuld, dem Erfordernis eigenen Verhaltens 71 , weil § 227 StGB nicht voraussetzt, daß der Täter für die schwere Verletzung oder Tötung in irgendeiner Weise ursächlich geworden ist 72 . Darüber hinaus wäre für eine solche Zurechnung in subjektiver Hinsicht nicht nur Vorhersehbarkeit irgendeiner schweren Folge, sondern Fahrlässigkeit bezüglich der eingetretenen Verletzung oder Tötung erforderlich. Auch § 227 StGB enthält also eine schuldunabhängige Bedingung der Strafbarkeit und ist deshalb wegen Verletzung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Schuldprinzips verfassungswidrig. 3. Die Zahlungseinstellung oder Konkurseröffnung bzw. Ablehnung der Eröffnung mangels Masse in den §§ 283 ff. StGB
Nur auf den ersten Blick scheint es sich auch hier um die gleiche Problematik zu handeln, denn anders als bei den §§ 323a, 227 StGB läßt sich die Strafvoraussetzung des Eintritts der Insolvenz in den §§ 283 ff. StGB ausgehend von der Annahme, die Bankrottatbestände dienten der Bewährung des Verbots, keine der in ihnen im einzelnen beschriebenen Handlungen während einer Krise vorzunehmen, mit einer strafzweckunabhängigen Erwägung sachlich rechtfertigen: Die Einleitung eines Strafverfahrens wegen des Verdachts der Begehung von Bankrotthandlungen kann nämlich die Kreditwürdigkeit des Betroffenen beeinträchtigen und dadurch gerade die Insolvenz und die damit verbundene Schädigung der Gläubigerinteressen herbeiführen, deren Schutz die §§ 283 ff. StGB letztlich dienen sollen 73 » 74 . Daher ist es sachlich gerechtfertigt, die von der Bankrotthandlung ausgehende Gefahr für die Normakzeptanz nur dann abzuwehren, wenn die Insolvenz ohnehin eingetreten ist. Diese strafzweckunabhängige Deutung der Strafvoraussetzung steht allerdings in Widerspruch zu der Auslegung der §§ 283 ff. StGB durch die Rechtsprechung und die herrschende Lehre. Diese fordern einen „tatsächlichen Zusammenhang" 75 zwischen der Tathandlung und dem Eintritt der Insolvenz 71
Siehe dazu im 1. Kap. unter I I 2. BGHSt 14, 132 (134); 16,130 (132); 33,100 (103); Hirsch in: Leipziger Kommentar, § 227 Rdn 10; Horn in: Systematischer Kommentar, StGB, § 227 Rdn 8. 73 Vgl. dazu näher die amtliche Begründung, BT-Drucksache 7/3441, S. 33. 74 Strafzweckunabhängig ist diese Erwägung insofern, als sie nicht die von der Tat ausgehende Gefahr für die Normakzeptanz betrifft. 75 RGSt 9, 134 (135); BGHSt 1, 186 (191); 28, 231 (234); Tiedemann, in: Leipziger Kommentar, Vor § 283 Rdn 87 ff. mwN. Welcher A r t dieser Zusammenhang sein muß, ist zweifelhaft; Kausalität ist nach der Rechtsprechung jedenfalls nicht erforderlich (dazu näher: Tiedemann, aaO, Rdn 87 ff. mwN). 72
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
und begründen dies damit, daß beim Fehlen eines solchen Zusammenhangs das Strafbedürfnis ebenso entfalle wie beim Ausbleiben eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs 76. Plausibel ist diese Begründung nur dann, wenn man annimmt, daß sich das Strafbedürfnis erst aus dem Eintritt der Insolvenz ergibt, die in Frage stehende Strafvoraussetzung also gefahrbegründende Funktion hat. Davon ausgehend wären die §§ 283 ff. StGB mit dem Schuldprinzip nicht vereinbar. Diese Auslegung der herrschenden Meinung ist aber durch den Wortlaut der Vorschriften in keiner Weise gefordert. Die Strafvoraussetzung des Eintritts der Insolvenz kann - wie gezeigt - auch strafzweckunabhängig erklärt werden und stellt damit einen mit dem Schuldprinzip zu vereinbarenden Strafausschließungsgrund dar.
4. Die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung in § 113 StGB bei Zumutbarkeit, sich gegen die Handlung mit einem Rechtsbehelf zur Wehr zu setzen
Die Funktion dieser Strafvoraussetzung hängt zunächst davon ab, was man als Regelungsziel des § 113 StGB ansieht: Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte der Tatbestand nur der Bewährung des Verbots dienen, gegen rechtmäßige Diensthandlungen Widerstand zu leisten 77 . Dementsprechend geht die herrschende Meinung 78 davon aus, daß die Durchführung rechtswidriger Diensthandlungen durch die Vorschrift nicht geschützt werde. Gegen solche Handlungen habe jedermann ein uneingeschränktes Notwehrrecht. Ausgehend von dieser Auffassung hat die Strafvoraussetzung der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung eindeutig gefahrbegründende Funktion.
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So oder ähnlich ζ. B. die Begründung bei: Tiedemann, Grundfragen bei der Anwendung des neuen Konkursrechts, NJW 1977, S. III ff. (782); derselbe in: Leipziger Kommentar, Vor § 283 Rdn 91; Otto, Der Zusammenhang zwischen Krise, Bankrotthandlung und Bankrott im Konkursstrafrecht, S. 281. 77 In den Beratungen der Großen Strafrechtskommission wurde ein Antrag Welzels, den Widerstand gegen rechtswidrige Diensthandlungen nur dann für erlaubt zu erklären, wenn eine Wahrung der Rechte durch das Einlegen von Rechtsmitteln nicht möglich ist, ausdrücklich zurückgewiesen (vgl. Niederschriften Bd. X I I I , S. 70 f. u. S. 622). 78 Insoweit übereinstimmend ζ.B. Eser in: Schönke / Schröder, § 113 Rdn 19f.; Dreher, Die Sphinx des § 113 Abs. 3, 4 StGB, S. 364, S. 368 u. S. 383 f.; Paeffgen, Allgemeines Persönlichkeitsrecht der Polizei und § 113 StGB, JZ 1979, S. 516 ff. (521); Sax, „Tatbestand" und Rechtsgutsverletzung, JZ 1976, S. 429 ff. (430); und wohl auch BGHSt 21, 334 (366 f.). A u f die Frage, wie die in Frage stehende Strafvoraussetzung dogmatisch eingeordnet, ob die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung als Tatbestandsmerkmal (so z. B. Eser, aaO, Rdn 20) oder als „objektive Strafwürdigkeitsvoraussetzung" (so Sax, aaO) oder die Rechtswidrigkeit der Diensthandlung als Rechtfertigungsgrund (so z. B. Dreher und Paeffgen, aaO) angesehen wird, kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an.
II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
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Nach anderer Ansicht 79 dient § 113 StGB der Bewährung einer Norm, die den Widerstand nicht nur gegen rechtmäßige, sondern auch gegen rechtswidrige Diensthandlungen verbietet, wenn die Einlegung eines Rechtsbehelfs zumutbar ist. Das Notwehrrecht sei gegenüber staatlichem Handeln auf die Fälle beschränkt, in denen es dem Bürger unzumutbar sei, sich gegen den Eingriff durch die Einlegung von Rechtsbehelfen zur Wehr zu setzen80. Ausgehend von dieser Auffassung wäre eine nicht-gefahrbegründende Deutung der in Frage stehenden Strafvoraussetzung möglich, wenn sich die Straflosigkeit bei Rechtswidrigkeit der Diensthandlung mit einer gefahrbeseitigenden oder strafzweckunabhängigen Erwägung sachlich rechtfertigen läßt. Die Erwägung, die Bestrafung des Widerstandleistenden könne als Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung aufgefaßt werden 81 , kann dafür nicht herangezogen werden. Denn durch die Berücksichtigung dieser Erwägung würde die Annahme, Zweck des § 113 StGB sei die Bewährung der Norm, auch bei einer rechtswidrigen Diensthandlung keinen Widerstand zu leisten, wieder in Frage gestellt: Die Bestrafung des Widerstandleistens stellt nur ausgehend von einem Normbewußtsein, nach dem Widerstand gegen rechtswidrige Diensthandlungen erlaubt ist, eine Bestätigung der Rechtmäßigkeit dieser Handlungen dar; der Gesetzgeber kann aber nicht die Anerkennung einer Norm bezwecken und zugleich Gegeninteressen berücksichtigen, deren Bestehen voraussetzt, daß die gegenteilige Norm anerkannt ist. Jedoch ergibt sich eine strafzweckunabhängige Erklärung der Strafvoraussetzung aus der Überlegung, der Widerstand gegen eine rechtswidrige Diensthandlung werde nicht bestraft, weil ihn der Staat durch das rechtswidrige Handeln seines Organs selbst mitverursacht hat 82 . Zwar ist die Straflosigkeit eines durch rechtswidriges Staatshandeln herbeigeführten Verhaltens allenfalls dann verfassungsrechtlich geboten, wenn dessen Herbeiführung bezweckt war 8 3 ; aber das bedeutet nicht, daß die Berücksichtigung der staatlichen Ver-
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Horn in: Systematischer Kommentar, StGB, § 113 Rdn 22; Thiele, Verbotensein und Strafbarkeit des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, JR 1979, S. 397 ff. (398). 80 Die bei Hirsch, Zur Reform des Widerstandsparagraphen, S. 248, anklingende Auffassung, dies stelle keine Einschränkung des Notwehrrechts dar, weil die Zumutbarkeit in § 113 I V StGB der Erforderlichkeit in § 32 StGB gleichzusetzen sei, ist nicht überzeugend. Gegenüber Angriffen Privater darf der Bürger regelmäßig auch dann Notwehr üben, wenn er die Möglichkeit hat, seine Rechte durch das Einlegen von Rechtsbehelfen zu wahren. Nur präsente staatliche Hilfe schließt das Notwehrrecht aus (ζ. B. Lenckner in: Schönke/Schröder, § 32 Rdn 41 mwN). 81 In diese Richtung Schmidhäuser, Objektive Strafbarkeitsbedingungen, ZStW Bd. 71 (1959), S. 545 ff. (561). 82 Auch diese Überlegung findet sich bei Schmidhäuser (wie Fn 81), S. 561. 83 Vgl. dazu die umfangreiche Rechtsprechung und Literatur zur Provokation durch Lockspitzel (ζ. B. BGHSt 32, 345; BGHStrVert. 1985, S. 309 ff.; Dencker, Zur Zulässigkeit staatlich gesteuerter Deliktsbegehung, S. 447 ff.)
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
ursachung in anderen Fällen verfassungsrechtlich unzulässig wäre. Da es sich jedenfalls nicht um einen willkürlichen Gesichtspunkt handelt, vermag er eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 I GG durchaus sachlich zu rechtfertigen. Die Strafvoraussetzung der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung kann also auch nicht-gefahrbegründend interpretiert werden und ist damit verfassungsrechtlich als Strafausschließungsgrund anzusehen. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, daß sich aus den schuldbezogenen Strafvoraussetzungen des § 113 StGB eine verfassungsrechtlich zulässige Unrechtsbeschreibung ergibt 84 , es also verfassungsgemäß ist, bei Zumutbarkeit des Ergreifens von Rechtsbehelfen auch den Widerstand gegen rechtswidrige Diensthandlungen zu verbieten. Dies wird in der Literatur zum Teil in Zweifel gezogen. Ein Verbot, gegen rechtswidrige Diensthandlungen Widerstand zu leisten, sei Ausfluß obrigkeitsstaatlicher Vorstellungen und mit rechtsstaatlichem Denken nicht vereinbar 85 . Aus dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich jedoch nur ableiten, daß der Bürger rechtswidrigem Staatshandeln nicht schutzlos ausgeliefert sein darf. Das bedeutet nicht, daß er stets die Befugnis haben muß, sich gegen rechtswidrige Diensthandlungen gegebenenfalls unter Anwendung von Gewalt selbst zu verteidigen. Soweit es ihm möglich und zumutbar ist, seine Rechte durch das Einlegen von Rechtsbehelfen zu wahren, steht das Rechtsstaatsprinzip einer Einschränkung des Notwehrrechts nicht entgegen. Auf die Frage, ob und inwieweit eine solche Einschränkung rechtspolitisch sinnvoll ist, kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. Entscheidend ist allein, daß sich eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, dem Bürger auch bei Zumutbarkeit des Ergreifens von Rechtsbehelfen zu erlauben, sich gegen rechtswidrige Diensthandlungen selbst zu verteidigen, nicht begründen läßt. § 113 StGB ist damit verfassungsgemäß. 5. Die (vermutete) Unwahrheit der ehrenrührigen Tatsache in § 186 StGB
Ausgehend von der heute wohl herrschenden Meinung, nach der § 186 StGB nur der Bewährung des Verbots dient, unwahre ehrenrührige Tatsachen zu behaupten oder zu verbreiten 86 , steht die gefahrbegründende Funktion 84 Z u dieser allgemein anerkannten verfassungsrechtlichen Grenze für die Verwendung objektiver Bedingungen der Strafbarkeit vgl. den Anfang des 4. Kapitels unter 11. 85 Bemmann, Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, S. 33 (allerdings zur alten Fassung des § 113 StGB, die noch keine Regelung für den Fall der Unzumutbarkeit des Einlegens von Rechtsmitteln enthielt). 86 Sogenannter „normativer Ehrbegriff": ζ. B. Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 45 ff.; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 303; Herdegen in: Leipziger Kommentar
II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
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dieser Strafvoraussetzung von vornherein außer Zweifel. Aber auch wenn die Bewährung des Verbots, ohne berechtigte Interessen (§ 193 StGB) keine wahren ehrenrührigen Tatsachen zu behaupten oder zu verbreiten, in den Schutzzweck der Vorschrift miteinbezogen wird 8 7 , ist keine nicht- gefahrbegründende Deutung möglich. Denn ausgehend von einer solchen Zweckbestimmung läßt sich die Straflosigkeit im Falle der Wahrheit der ehrenrührigen Tatsache weder mit einer gefahrbeseitigenden noch mit einer strafzweckunabhängigen Erwägung sachlich rechtfertigen. Die in Frage stehende Strafvoraussetzung stellt daher keinen Strafausschließungsgrund dar und verstößt damit gegen das Schuldprinzip, wenn man sie mit der herrschenden Meinung als schuldunabhängig ansieht. Mit den zur Legitimation ihrer Ausgestaltung als objektiver Bedingung der Strafbarkeit oft angeführten 88 Interessen des Verletzten kann dieser Verstoß nicht gerechtfertigt werden, da das Schuldprinzip einer Einschränkung im Wege der Abwägung nicht zugänglich ist 89 . Im übrigen kann dem Rehabilitierungsinteresse des Verletzten 90 bei objektiver Unwahrheit der Behauptung durch das Zivilrecht Rechnung getragen werden und der Gefahr, daß ein Freispruch als Bestätigung einer objektiv unrichtigen Behauptung aufgefaßt wird 9 1 , ließe sich ζ. B. durch die Einführung einer ausdrücklichen Feststellung der Unwahrheit im Urteilstenor begegnen92. § 186 StGB wäre nur dann mit dem Schuldprinzip vereinbar, wenn die Vorschrift im Wege der verfassungskonformen Auslegung dahingehend interpretiert werden könnte, daß die Strafbarkeit mindestens Fahrlässigkeit bezüglich der Unwahrheit der ehrenrührigen Tatsache voraussetzt. Entgegen einer in der Literatur im Vordringen befindlichen Auffassung 93 ist dies jedoch nicht möglich. Der Rechtsanwender darf aufgrund des Demokratieprinzips auch bei verfassungswidrigen Gesetzen nicht seine eigene Wertentscheidung an die (9. Aufl.), Vor § 185 Rdn 4 ff.; Rudolphi in: Systematischer Kommentar, StGB, Vor § 185 Rdn 2 ff.; Lenckner in: Schönke/Schröder, Vor § 185 Rdn 1. 87 So ζ. B. BGHSt 11, 67 (70 f.); Dreher/Tröndle, § 185 Rdn 2. «s Z.B. BGHSt 11, 273 (274). 89 Siehe dazu das 2. Kapitel unter I I I 2 c. 90 Die Bedeutung des Rehabilitierungsinteresses hebt ζ. B. Lackner, Niederschriften I X , S. 42 hervor. 91 Diese Erwägung findet sich bereits bei Glaser, Motive zum Entwurf eines Gesetzes über Vergehen und Übertretungen gegen die Sicherheit der Ehre, S. 331; in der neueren Diskussion wird sie zum Teil dahingehend formuliert, es müsse der Grundsatz „in dubio pro reo" bzw. die Unschuldsvermutung zugunsten des Verletzten beachtet werden (Jescheck, Niederschriften I X , S. 43; Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 8). 92 Z u den Möglichkeiten, den Interessen des Verletzten Rechnung zu tragen, näher: Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 177 ff. 93 Grundlegend Hirsch (wie Fn 92), S. 168 ff.; ihm folgend E. A. Wolff, Ehre und Beleidigung, ZStW Bd. 81 (1969), S. 886 ff. (907); Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 313; Rudolphi in: Systematischer Kommentar, StGB, § 186 Rdn 15. 5 Frister
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
Stelle der Entscheidung des Gesetzgebers setzen. Deshalb findet jede verfassungskonforme Auslegung ihre Grenze dort, wo sie zu dem Wortlaut des Gesetzes und dem „klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers" in Widerspruch treten würde 94 . So ist es bei der in Frage stehenden Auslegung des § 186 StGB. Denn dem Wortlaut dieser Vorschrift lassen sich keinerlei Anhaltspunkte für das Erfordernis der Fahrlässigkeit bezüglich der Unwahrheit der ehrenrührigen Tatsache entnehmen, und auch der Wille des Gesetzgebers spricht eindeutig gegen dieses Erfordernis, weil bei den Beratungen zur Strafrechtsreform nach ausführlicher Diskussion 95 bewußt davon abgesehen wurde, die Unwahrheit als schuldbezogene Strafvoraussetzung auszugestalten. Für eine verfassungskonforme Auslegung des § 186 StGB ist daher kein Raum. Die Vorschrift ist verfassungswidrig. 6. Das Bestehen diplomatischer Beziehungen in § 104 a StGB
Diese für die §§ 102-104 StGB geltende Strafvoraussetzung nimmt gegenüber den bisher erörterten eine Sonderstellung ein; denn die sie tragende Erwägung 96 , die Bundesrepublik Deutschland habe nur ein Interesse daran, die Repräsentanten und Symbole solcher Staaten zu schützen, zu denen zumindest diplomatische Beziehungen97 bestehen, läßt sich ausgehend von der Prämisse, die Vorschriften dienten wie andere Straftatbestände allein der Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz, überhaupt nicht erfassen: Eine gefahrbegründende Deutung dahingehend, daß Zweck der §§ 102-104 StGB nur die Bewährung des Verbots wäre, die Repräsentanten und Symbole von Staaten anzugreifen, zu denen die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen unterhält, wäre nur dann möglich, wenn die Strafbarkeit von dem Bestehen dieser Beziehungen zur Tatzeit abhinge. Gemäß § 104a StGB ist der Zeitpunkt der Tatbegehung aber gerade nicht maßgeblich. Vielmehr kommt es nach dieser Vorschrift darauf an, daß zur Zeit der Strafverfolgung diplomatische Beziehungen bestehen. Eine - danach naheliegend erscheinende - strafzweckunabhängige Deutung setzte voraus, daß bei Fehlen diplomatischer Beziehungen ein außenpolitisches Interesse der Bundesrepublik bestünde, die Tat nicht zu bestrafen und daß um dieses Interesses willen die Gefahr für die Normakzeptanz in Kauf 94 BVerfGE 18, 97 (111). 95 Vgl. Niederschriften I X , S. 42 ff. u. S. 124 ff. 96 Zu dieser Erwägung näher: Jescheck, Straftaten gegen das Ausland, S. 282; angedeutet ist sie auch bei Willms in: Leipziger Kommentar Vor § 102 Rdn 1; Rudolphi in: Systematischer Kommentar, StGB, § 104a Rdn 2 ff.; Dreher! Tröndle, § 104a Rdn 2. 97 Das ursprüngliche Reichsstrafgesetzbuch sah nur einen Schutz „befreundeter Staaten" vor (zur Entwicklung vgl. Jescheck (wie Fn 96), S. 277 Fn 10 u. S. 282.
II. Die Anwendung auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit
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genommen würde; in Wahrheit begründen die außenpolitischen Gesichtspunkte aber das Interesse an der Bestrafung und stehen ihm nicht entgegen. Daran wird deutlich, daß mit den §§ 102-104 StGB ein von den anderen Straftatbeständen abweichender Zweck verfolgt wird. Die Bestrafung soll nicht nur generalpräventiv wirken, sondern zumindest auch das Vergeltungsbedürfnis des betroffenen Staates befriedigen und damit dazu beitragen, eine infolge der Straftat drohende oder eingetretene Störung der Beziehungen zu verhindern bzw. zu beseitigen98. Es geht nicht (nur) um Abwehr von Gefahren für die Akzeptanz von Normen, die die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik schützen, sondern um die Abwehr der sich aus der Straftat unmittelbar ergebenden Gefährdung dieser Beziehungen. Die in der vorliegenden Untersuchung entwickelten Kriterien können auf diesen Strafzweck 99 zwar nicht unmittelbar, aber entsprechend angewendet werden: der Täter darf nur dann zur Abwehr einer Gefährdung der außenpolitischen Beziehungen in Anspruch genommen werden, wenn sich diese Gefährdung aus seiner Schuld ergibt; schuldunabhängige Strafvoraussetzungen sind nur zulässig, wenn sie mit einer nicht- gefahrbegründenden Erwägung sachlich gerechtfertigt werden können. Dabei ist allerdings zu beachten, daß hier ein bei der Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz nicht möglicher, zusätzlicher Typ von nicht-gefahrbegründenden Strafvoraussetzungen denkbar ist. Da nämlich das Interesse der Bundesrepublik an der Abwehr von Störungen der Beziehungen zu anderen Staaten anders als das Interesse an der Akzeptanz von Strafnormen kein unbedingtes ist, sondern von der außenpolitischen Situation abhängt, kann es Strafvoraussetzungen geben, die zwar für das öffentliche Interesse an der Bestrafung konstitutiv, aber gleichwohl nicht gefahrbegründend sind, weil sie nicht die Gefährdung der Beziehungen, sondern das Interesse an deren Abwehr betreffen. Um eine solche Strafvoraussetzung handelt es sich bei dem Erfordernis des Bestehens diplomatischer Beziehungen. Ihm liegt die eingangs schon angedeutete und nunmehr als nicht- gefahrbegründend einzuordnende Erwägung zugrunde, daß an der Abwehr der von einem Angriff auf Repräsentanten oder Symbole eines fremden Staates ausgehenden Gefährdung des Verhältnisses zu diesem Staat jedenfalls nur dann ein die Bestrafung rechtfertigendes außenpolitisches Interesse besteht, wenn die Bundesrepublik Deutschland zumindest diplomatische Beziehungen mit dem betroffenen Staat unterhält. 98 Nur daraus erklären sich auch die beiden besonderen in § 104a StGB enthaltenen Prozeßvoraussetzungen; das Strafverlangen der ausländischen Regierung und die Ermächtigung der Bundesregierung zur Strafverfolgung. 99 Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines solchen Strafzwecks kann wohl nicht in Frage gestellt werden, da die Straftaten gegen ausländische Staaten traditionell einen Platz im Strafrecht haben.
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4. Kap.: Schuldunabhängige Strafvoraussetzungen
Das Fehlen diplomatischer Beziehungen stellt also einen Strafausschließungsgrund dar. 7. Die Verbürgung der Gegenseitigkeit zur Zeit der Tat und zur Zeit der Strafverfolgung in § 104a StGB
Für diese Strafvoraussetzungen gelten die soeben zum Bestehen diplomatischer Beziehungen angestellten Überlegungen entsprechend. Ihnen liegt die nicht-gefahrbegründende Erwägung zugrunde, es bestehe kein außenpolitisches Interesse, dem Strafverlangen eines Staates Rechnung zu tragen, in dem nicht gewährleistet ist, daß die Repräsentanten und Symbole der Bundesrepublik Deutschland gleichfalls geschützt werden 100 . Zugleich soll wohl ein Anreiz für andere Staaten geschaffen werden, einen solchen Schutz vorzusehen 101 . Die fehlende Verbürgung der Gegenseitigkeit ist also gleichfalls als Strafausschließungsgrund anzusehen. Zusammenfassend kann damit festgestellt werden, daß sich die in den §§ 283 ff., 113, 104a StGB enthaltenen schuldunabhängigen Strafvoraussetzungen als verfassungsrechtlich unbedenkliche Strafausschließungsgründe interpretieren lassen, während es sich bei den in §§ 323a, 227,186 enthaltenen Strafvoraussetzungen um mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbarende schuldunabhängige Bedingungen der Strafbarkeit handelt.
100
So Jescheck, Straftaten gegen das Ausland, S. 282. Darauf führt Bemmann, Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, S. 31, diese Strafvoraussetzung allein zurück. 101
Teil
2
Das Verbot der Verdachtsstrafe 5. Kapitel
Verfassungsrechtliche Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe I . Vorüberlegungen
Unter einer Verdachtsstrafe wird im folgenden jede Strafe verstanden, die nicht aufgrund eines nachgewiesenen Verhaltens, sondern wegen des Verdachts eines bestimmten Verhaltens verhängt wird. Die Bedeutung des zu begründenden Verbots der Verdachtsstrafe erschöpft sich damit nicht in der bereits aus dem Vorbehalt des Gesetzes1 abzuleitenden Forderung, keine Strafe ohne den Nachweis ihrer gesetzlichen Voraussetzungen zu verhängen. Es geht vielmehr auch und in erster Linie um die Frage, ob der Gesetzgeber die Verhängung einer Strafe als Reaktion auf den Verdacht eines bestimmten Verhaltens vorsehen darf. Gegenstand der folgenden Erörterung ist dabei nur noch das Verbot einer Verdachts-Schuldstrafe, d. h. einer Strafe, die wegen des Verdachts schuldhaften Verhaltens verhängt wird; denn das Verbot anderer Verdachtsstrafen ergibt sich bereits aus dem Schuldprinzip. Der Aufbau der folgenden Darstellung entspricht dem des 2. Kapitels: Wie bei der Begründung der Schuld als verfassungsrechtlicher Voraussetzung der Strafbarkeit werden auch die für ein Verbot der Verdachtsstrafe in Betracht kommenden Argumente im folgenden danach geordnet, ob sie - an der Frage der Zweckmäßigkeit der Strafe, - an dem Sinngehalt der Strafe oder - an dem Straf eingriff ansetzen. 1
Die häufig anzutreffende Begründung des Grundsatzes „in dubio pro reo" aus dem Vorbehalt des Gesetzes (ζ. B.: Gollwitzer in: Löwe / Rosenberg, (23. Aufl.), § 261 Rdn 112; Krey, Grundsätze des Strafverfahrensrechts, JA 1983, S. 233 ff. (237); Stree, In dubio pro reo, S. 18) ist nur dann schlüssig, wenn der Grundsatz rein formal, als Forderung des Nachweises der gesetzlichen Voraussetzungen der Strafe verstanden wird. Bei einem solchen Verständnis ist er mit dem hier zu erörternden Verbot der Verdachtsstrafe nicht identisch.
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Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe
I L Zur Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus dem Strafzweck (utilitaristische Begründung) Soweit ersichtlich gibt es in der utilitaristischen Literatur keine Untersuchung, die sich speziell mit der Frage der utilitaristischen Begründung eines Verbots der Verdachtsstrafe befaßt. Man geht ohne nähere Erörterung überwiegend davon aus, daß die zu dem Problem der utilitaristischen Rechtfertigung des Schuldprinzips vorgetragenen Argumente für das Verbot der Verdachtsstrafe entsprechend gelten2. Dies ist bezüglich der prinzipiellen Begründungsstrukturen sicherlich richtig: auch bei dem Verbot der Verdachtsstrafe lassen sich ein allein auf die präventive Wirkung der Strafe abstellender und ein die gesellschaftlichen Nebenwirkungen miteinbeziehender utilitaristischer Begründungsansatz unterscheiden 3 . Die Plausibilität dieser Begründungsansätze im einzelnen hängt aber bei dem Verbot der Verdachtsstrafe zum Teil von anderen Erwägungen ab als beim Schuldprinzip: Der allein auf die präventive Wirkung der Strafe abstellende Begründungsansatz ist für das Verbot der Verdachtsstrafe noch weniger plausibel als für das Schuldprinzip. Denn eine Verdachtsstrafe erhöht die für die abschreckende Wirkung der Strafe heute weithin als entscheidend angesehene4 Sanktionswahrscheinlichkeit. Besonders in Deliktsbereichen, in denen aufgrund von Beweisschwierigkeiten die Aufklärungsquote gering ist 5 , könnte dies erhebliche Auswirkungen haben6. Entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung 7 ist nicht anzunehmen, daß diese zusätzliche Abschreckungswirkung durch einen Verlust an positiver Generalprävention ausgeglichen würde. Das für einen solchen Verlust vorgetragene Argument, eine Verdachtsstrafe fördere die Gleichgültigkeit gegenüber strafrechtlichen Vorschriften, weil sie die „Achtung vor der 2 In der utilitaristischen Diskussion wird der Begriff Schuld- bzw. Verantwortungsprinzip zumeist sowohl für das materiellrechtliche Schulderfordernis als auch für die Notwendigkeit des prozessualen Nachweises der Schuld verwendet (vgl. ζ. B. Burkhardt, Zur Möglichkeit einer utilitaristischen Rechtfertigung des Schuldprinzips, S. 85 u. S. 87; Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, S. 78). 3 Vgl. zu diesen beiden Ansätzen 2. Kapitel, I 2. 4 Vgl. statt aller: Kaiser, Kriminologie, S. 90; Nachweise empirischer Untersuchungen bei Beyleveld, A Bibliography on General Deterrence Research, S. 123 ff. 5 ζ. Β. die Tatbestände, bei denen die Bestrafung des Täters von einem bestimmten Alter der Opfer abhängt (§§ 174,175,180,182,184,184 b, 235,236 StGB); denn deren Anwendung dürfte vielfach daran scheitern, daß dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden kann, hinsichtlich des Alters vorsätzlich gehandelt zu haben (dazu näher Burkhardt, Utilitaristische Rechtfertigung des Schuldprinzips, S. 85 f.). 6 Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, S. 78; Burkhardt (wie Fn 5), S. 85; derselbe, Das Zweckmoment im Schuldbegriff, G A 1976, S. 321 ff. (335 f.). 7 ζ. B. Stree, In dubio pro reo, S. 13 mwN.
III. Zur Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus dem Sinngehalt
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Strafe" 8 zerstöre, beruht auf der zweifelhaften Annahme 9 , nur eine als gerecht empfundene Strafe könne normstabilisierend wirken, und ist deshalb wenig überzeugend. Gegen den die gesellschaftlichen Nebenfolgen miteinbeziehenden Begründungsansatz spricht zwar nicht die gleiche, aber eine ähnliche Erwägung wie gegen die entsprechende Begründung des Schuldprinzips: So wie nicht jede Strafe ohne Schuld in gleicher Weise zu einer Verunsicherung der Bevölkerung führt 1 0 , so hat auch nicht jede Verdachtsstrafe eine in gleichem Maß verunsichernde Wirkung. Es gibt Straftatbestände - ζ. B. die politischen Delikte und ein Teil der Sexualdelikte 11 - , bei denen typischerweise nur Personen in Verdacht geraten, die einem bestimmten sozialen oder politischen Milieu angehören. Die Einführung der Verdachtsstrafe für solche Tatbestände würde die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gar nicht oder jedenfalls nur in so geringem Maße verunsichern, daß im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Betrachtung dieser Nachteil durch den zu erwartenden Präventionsgewinn mehr als ausgeglichen sein könnte. Im Ergebnis ist die Möglichkeit einer utilitaristischen Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe also zumindest nicht weniger zweifelhaft als die einer utilitaristischen Begründung des Schuldprinzips. Wegen des dem Gesetzgeber in bezug auf die Wirkungen einer Strafe zukommenden Beurteilungsspielraums 12 , läßt sich deshalb auch eine verfassungsrechtliche Gewährleistung des Verbots der Verdachtsstrafe mit utilitaristischen Argumenten allein nicht begründen. I I I . Zur Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus dem Sinngehalt einer solchen Strafe 1. Der Sinngehalt einer Verdachts-Schuldstrafe
Zunächst sei festgestellt, daß eine derartige Begründung andere Probleme aufwirft als der im 1. Teil der Untersuchung 13 widerlegte Versuch, das Schuldprinzip aus dem Sinngehalt der Strafe abzuleiten. Denn für die Begründung des Schuldprinzips kommt es auf den allgemeinen, jeder Strafe innewohnenden Sinngehalt an; für die Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe in 8 Stree (wie Fn 7), S. 13; ähnlich Stein / Starke, Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des § 125 StGB, JR 1984, S. 97 ff. (102). 9 Vgl. zur Kritik dieser Annahme, 2. Kapitel, I 2 a. 10 Dazu 2. Kapitel, I 2 b. 11 Z u denken ist vor allem an die mit der Prostitution zusammenhängenden Delikte: §§ 180 a, 181 a, 184 a ff. 12 Vgl. dazu 2. Kapitel, 11. 13 Siehe dazu 2. Kapitel, II.
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Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe
einem Schuldstrafrecht 14 ist der spezifische Sinngehalt einer VerdachtsSchuldstrafe maßgebend. Eine solche Strafe enthält stets den Vorwurf (möglichen) persönlichen Fehlverhaltens; denn mit ihr wird zum Ausdruck gebracht, daß der Bestrafte möglicherweise schuldhaft gegen eine strafrechtliche Verbotsnorm verstoßen hat. 2. Die beiden in der Literatur vertretenen Begründungsansätze
In der Literatur gibt es zwei Versuche, an diesen Sinngehalt anknüpfend ein verfassungsrechtliches Verbot der Verdachtsstrafe zu begründen. Zum einen wird auf den ehrverletzenden Charakter des Vorwurfs strafbaren Verhaltens 15 und zum anderen auf eine sogenannte „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" abgestellt, nach der stets davon auszugehen sei, daß der Mensch sich im Zweifel rechtmäßig verhält 16 . a) Die Begründung aus der Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen Zunächst soll auf die Begründung aus der „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" eingegangen werden. Die Vertreter dieser Begründung gehen offenbar davon aus, daß es sich bei dieser Vermutung um ein im Verfassungsrecht allgemein anerkanntes Rechtsinstitut mit festumrissener Bedeutung handelt 17 . Das ist jedoch nicht richtig. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet die „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" überhaupt keine Erwähnung 18 , in der verfassungsrechtlichen Literatur wird der Begriff nur selten und dann in unterschiedlicher Bedeutung verwendet: 14
Zur thematischen Beschränkung auf das Schuldstrafrecht vgl. soeben unter I. So Stree, In dubio pro reo, S. 15 f. 16 So gleichfalls Stree (wie Fn 15), S. 17; ferner: Peter Schneider, In dubio pro liberiate, S. 270; Klug, Sexualstrafrecht, S. 31; Franke, Freispruch mangels Beweises und Unschuldsvermutung, S. 48. 17 Deutlich bei Stree (wie Fn 15), S. 17 Fn 14. 18 Die von Stree (wie Fn 15), S. 17 Fn 14 als Beleg für die „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" angeführten Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen E 6, 32 (42) und NJW 1961, S. 2011 ff. (2012) verwenden zwar den Begriff „grundsätzliche Freiheitsvermutung"; aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe wird aber deutlich, daß damit keine Vermutung gemeint ist, nach der; stets davon auszugehen sei, daß der Mensch sich rechtmäßig verhält: In der Entscheidung BVerfGE 6, 32 ff. ging es um die Frage, welche Anforderungen im Hinblick auf die in Art. 2 I GG gewährleistete Ausreisefreiheit an das Paßgesetz zu stellen sind. Das Gericht führte dazu aus, daß das Gesetz der „grundsätzlichen Freiheitsvermutung des Art. 2 I GG" Rechnung trage, indem es einen Rechtsanspruch auf Ausstellung des Passes einräumt und die Paßversagung nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zuläßt. Mit „grundsätzlicher Freiheitsvermutung" meint das Gericht hier also nur das aus dem Vorbehalt des Gesetzes folgende Verbot, die Möglichkeit der Wahrnehmung der Grund15
I I I . Zur Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus dem Sinngehalt
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Schneider und Maihofer sehen in der „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" die empirische Grundlage, die es ermöglicht, prinzipiell allgemeine Handlungsfreiheit zu gewähren und Beschränkungen dieser Freiheit nur soweit zuzulassen, wie dies zum gemeinen Wohl notwendig ist 19 . Danach ist die Ausgangsvermutung selbst also gar kein Rechtssatz, sondern nur die Erklärung des freiheitlichen Verfassungssystems. Zwar korrespondiert der Ausgangsvermutung nach Ansicht von Schneider und Maihofer ein normatives Prinzip, der Grundsatz „in dubio pro übertäte", nach dem - vorbehaltlich eines gesetzgeberischen Prognosespielraums 20 - Freiheitseingriffe nur dann zulässig sein sollen, wenn feststeht, daß sie aus Gründen des Gemeinwohls notwendig sind 21 ; aber dieser angebliche22 Grundsatz betrifft die bereits erörterte Frage der Zweckmäßigkeit einer Verdachtsstrafe und hat mit der Zulässigkeit des Vorwurfs (möglichen) schuldhaften Verhaltens nichts zu tun. Andere Autoren betonen, daß es sich bei der „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" um ein normatives Prinzip handelt, ohne allerdings dessen konkrete Bedeutung näher zu erläutern 23 . Zum Teil wollen sie mit dem Begriff wohl nur zum Ausdruck bringen, daß nach Art. 1 I GG der Mensch im „zeitlosen Spannungsverhältnis" zwischen Individuum und Staat grundsätzlich den Vorrang habe, der Staat um der Menschen willen da sei und deshalb jede Beschränkung der Menschenrechte einer Begründung bedürfe 24 . Zum Teil wird die Ausgangsvermutung wohl auch als Verbot verstanden, jemanden ohne konkrete Anhaltspunkte als potentiellen Rechtsbrecher zu behandeln 25 . rechte vom Ermessen der Verwaltung abhängig zu machen. In der Entscheidung NJW 1961, S. 2011 ff. (2012) wird als Inhalt der „grundsätzlichen Freiheitsvermutung" das Gebot angesehen, die Freiheit nicht weiter einzuschränken, als dies zum gemeinen Wohl unerläßlich ist. Die Freiheitsvermutung ist in dieser Entscheidung also nur ein anderer Ausdruck für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 19 Peter Schneider, In dubio pro liberiate, S. 268 f.; Maihofer, Menschenwürde im Rechtsstaat, S. 127 f. 20 Einen solchen Prognosespielraum räumt Peter Schneider (wie Fn 19), S. 290, ausdrücklich ein. 21 Peter Schneider (wie Fn 19), S. 290; Maihofer (wie Fn 19), S. 127. 22 Als generelle, für alle Freiheitseingriffe geltende Regel läßt sich ein solcher Grundsatz wohl kaum halten; man denke nur an die durch Art. 2 I GG gewährleistete Freiheit, ein Kernkraftwerk zu betreiben oder Arzneimittel zu verkaufen (kritisch z. B. Stern, Staatsrecht Bd. 1, S. 133 f.; v. Münch in: v. Münch, G G K , Vor Art. 1-19 Rdn 51 mwN). 23 Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, A ö R Bd. 81 (1956), S. 117 ff. (123); derselbe in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 I Rdn 15; Marcie, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 319. 24 In diesem Sinne dürften die Ausführungen Dürigs zu verstehen sein; ganz klar wird dies allerdings nicht. 25 So im Anschluß an die Entscheidung BVerfGE 26,169 (170 f.) (in der der Begriff „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" allerdings nicht verwendet, sondern direkt auf das Menschenbild des Grundgesetzes Bezug genommen wird) Sangenstedt, Gesetzessystematische und verfassungsrechtliche Probleme der strafprozessualen Kontrollstellenregelung (§ 111 StPO), StrV 1985, S. 117 ff. (122).
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Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe
Aber auch dies schließt nicht aus, bei begründetem Tatverdacht den Vorwurf (möglichen) schuldhaften Verhaltens zu erheben. Das Verbot der Verdachtsstrafe ließe sich nur dann als eine Ausprägung der „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" begründen, wenn diese Vermutung den Staat verpflichtete, so lange von der Rechtstreue jedes Bürgers auszugehen, bis ihm ein Rechtsverstoß nachgewiesen ist 26 . Soweit ersichtlich hat bisher nur Köster einen begründeten Versuch unternommen, eine derart weitgehende Verpflichtung verfassungsrechtlich zu begründen 27 . Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist Art. 1 I GG, aus dem sich das Bild des Menschen als eines auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung hin angelegten Wesens ergäbe 28. Dieses Menschenbild lasse sich mit Hilfe der Wertphilosophie konkretisieren: der durch den Zerfall angeborener Verhaltensweisen existentiell freie Mensch sei positiv dadurch charakterisiert, daß er sein Handeln nach den „Kriterien des Wahren, des Sinnes und des Wertes" 29 selbst steuern könne. Das Vermögen des Menschen, sein Handeln an überindividuellen Werten auszurichten, beinhalte auch die Fähigkeit, sich rechtmäßig zu verhalten, da die Rechtsordnung keinen bloßen Machtanspruch darstelle, sondern für den Menschen die auf „Verwirklichung drängende Lebensordnung" 30 sei. A n dem Menschenbild des Grundgesetzes festzuhalten bedeute daher, den Menschen so lange als ein Wesen zu achten, das der ihm aufgegebenen Sinngestaltung nachkommt und sich deshalb rechtmäßig verhält, bis ihm eine schuldhafte Rechtsverletzung nachgewiesen ist 31 . Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen: Schon ihr Ausgangspunkt, die Interpretation des Art. 1 I GG mittels der Wertphilosophie, begegnet durchgreifenden Bedenken. Der Begriff der Menschenwürde darf nicht einseitig im Sinne einer bestimmten Philosophie oder Weltanschauung interpretiert werden 32 ; denn mit Art. 1 I GG sollte kein Bekenntnis zu einem bestimmten geistesgeschichtlich überlieferten Würdebegriff 33 , sondern ein 26 Während der Aufklärung wurde der Begriff „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" zum Teil in diesem Sinne gebraucht, vgl. ζ. B.: Zachariä, Beantwortung der Preisfrage, Archiv des Criminalrechts Bd. 3 (1801), 4.Stück, S. 45 f., der in der Konsequenz auch jede Form von Sicherheitsleistung als Reaktion auf einen Verdacht für unzulässig hielt (aaO, S. 47). 27 Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 143 ff., der allerdings in diesem Zusammenhang nicht den Begriff der „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" verwendet, sondern direkt auf das Menschenbild des Grundgesetzes abstellt. 28 Köster, (wie Fn 27), S. 143. 29 Köster (wie Fn 27), S. 144. 30 Köster (wie Fn 27), S. 144 im Anschluß an eine Formulierung von Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 239. 3 1 Köster (wie Fn 27), S. 144 f. 32 Dazu näher: Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, S. 337 ff. (340). 33 Zippelius in: Bonner Kommentar, GG, Art. 1 Rdn 7.
I I I . Zur Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus dem Sinngehalt
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durch historische Erfahrungen über den Umgang mit Menschen geprägter ethischer Grundkonsens verschiedenster Weltanschauungen zum Ausdruck gebracht werden. Insbesondere die von Köster zur Interpretation der Menschenwürde herangezogene Kennzeichnung der staatlichen Rechtsordnung als den Menschen verpflichtende Lebensordnung gehört gewiß nicht zu diesem Grundkonsens. Hinzu kommt, daß die Argumentation auch in sich nicht schlüssig ist. Aus der Verpflichtung, am Bild des Menschen als eines zu rechtmäßigem Handeln fähigen Wesens festzuhalten, ergibt sich nicht, daß der Staat stets bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgehen müßte, daß der Mensch sich rechtmäßig verhalten hat. Die Fähigkeit zu rechtmäßigem Handeln wird durch den Vorwurf einer rechtswidrigen Tat überhaupt nicht in Frage gestellt. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, daß eine allgemeine verfassungsrechtliche Verpflichtung, so lange von der Rechtstreue jedes Menschen auszugehen, bis der Beweis eines Rechtsverstoßes erbracht ist, nicht begründet werden kann. b) Die Begründung aus der Ehre Es bleibt die Frage zu klären, ob sich aus dem ehrverletzenden Charakter des Vorwurfs (möglichen) strafbaren Verhaltens begründen läßt, daß ein solcher Vorwurf nur gegenüber demjenigen erhoben werden darf, dessen Schuld nachgewiesen ist. Bereits im ersten Teil der Untersuchung wurde gezeigt, daß Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht nicht stets die Menschenwürde verletzen, sondern unter prinzipiell den gleichen Voraussetzungen gerechtfertigt werden können wie sonstige Grundrechtseingriffe 34. Für den ehrbeeinträchtigenden Vorwurf eines nicht nachweisbaren persönlichen Fehlverhaltens gilt im Ergebnis nichts anderes: Ausgehend von einer sozialen Ehrauffassung 35 handelt es sich bei diesem Vorwurf nur um eine der möglichen Formen sozialer Diskriminierung, die sich nicht prinzipiell von den anderen denkbaren Formen unterscheidet. Aber auch nach der personalen Ehrauffassung 36 ist die durch den Vorwurf persönlichen Fehlverhaltens betroffene sittliche Integrität des Menschen nur Teil der Personenwürde, nicht aber der Menschenwürde des Art. 1 I G G 3 7 , die 34
Vgl. 2. Kap. I I 2. ζ. B. Maurach / Schroeder, Strafrecht Besonderer Teil, Tbd. 1, S. 199 f. 36 Grundlegend Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 45 ff.; ihm folgend Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 303; Herdegen in: Leipziger Kommentar (9. Aufl.), Vor § 185 Rdn 5 ff.; Rudolphi in: Systematischer Kommentar, StGB, Vor § 185 Rdn 2 ff. 37 Hirsch (wie Fn 36), S. 53 Fn 24; derselbe, Richterrecht und Gesetzesrecht, JR 1966, S. 334 ff. (335); Herdegen (wie Fn 36), Vor § 185 Rdn 12. 35
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Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe
selbstverständlich auch Personen mit „sittlichen Mängeln" in vollem Maße zukommt. Als Eingriff in die Personenwürde unterscheidet sich der Vorwurf persönlichen Fehlverhaltens nicht prinzipiell von anderen Grundrechtseingriffen; denn die Personenwürde umfaßt den gesamten Bereich der Respektierung des Menschen als Persönlichkeit und ist damit bei jedem Eingriff in Rechtsgüter der Person betroffen 38 . Der Gesetzesvorbehalt in Art. 2 I I GG zeigt, daß solche Eingriffe nicht schlechthin unzulässig sind 39 . Bezüglich des Vorwurfs persönlichen Fehlverhaltens wird dies insbesondere durch die Regelung des § 193 StGB bestätigt, die eine Rechtfertigung nicht nachweisbarer Behauptungen bei Wahrnehmung berechtigter Interessen vorsieht und deren Verfassungsmäßigkeit insoweit noch nicht in Zweifel gezogen wurde. § 193 StGB zeigt auch, daß die Möglichkeit, den in einem Vorwurf nicht nachweisbaren persönlichen Fehlverhaltens enthaltenen Eingriff in die Personenwürde zu legitimieren, nicht dadurch ausgeschlossen wird, daß Gegenstand des Vorwurfs eine Straftat ist 40 . Die Intensität der mit dem Vorwurf strafbaren Verhaltens verbundenen Ehrbeeinträchtigung steht einer prinzipiellen Rechtfertigungsmöglichkeit nicht entgegen. Es gibt andere mindestens genauso schwerwiegende Beeinträchtigungen der Ehre, die allgemein als zulässig angesehen werden. Man denke nur an die bei Zweifeln an der Schuldfähigkeit zur Begründung eines Freispruchs gesetzlich vorgesehenen Behauptungen, der Angeklagte sei möglicherweise schwachsinnig oder leide an einer anderen schweren seelischen Abartigkeit. Auch aus dem Recht auf Wahrung der Ehre läßt sich also kein prinzipielles Verbot ableiten, den Vorwurf, (möglicherweise) schuldhaft eine Straftat begangen zu haben, gegenüber einer Person zu erheben, deren Schuld nicht nachgewiesen ist. Ein solches Verbot ließe sich im übrigen gar nicht konsequent durchführen; denn bereits mit dem Strafverfahren zur Feststellung der Schuld wird notwendigerweise zum Ausdruck gebracht, daß der Beschuldigte sich möglicherweise strafbar gemacht hat. Im Ergebnis gilt also auch für das Verbot der Verdachtsstrafe die im ersten Teil der Untersuchung bereits für das Schuldprinzip getroffene Feststellung: Eine speziell auf den Sinngehalt der Bestrafung abstellende verfassungsrechtliche Begründung ist nicht möglich.
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Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 59. Die Zulässigkeit von Eingriffen in die Personenwürde betonen auch Hirsch (wie Fn 38), S. 53 Fn 24; Herdegen in: Leipziger Kommentar (9. Aufl.), Vor § 185 Rdn 12. 40 Zur Geltung des § 193 StGB bei der Behauptung strafbarer Handlungen vgl. ζ. B. Lenckner in: Schönke / Schröder, § 193 Rdn 18. 39
I V . Die Begründung aus den Strafeingriffen
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I V . Die Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe aus den in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffen (Begründung aus dem Schuldprinzip) Im ersten Teil der Untersuchung wurde dargelegt, daß die in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffe nur mittels des Zurechnungsprinzips der Schuld materiell gerechtfertigt werden können 41 . Daran anknüpfend scheint sich das Verbot der Verdachtsstrafe ohne Schwierigkeiten begründen zu lassen, wird doch bei einer solchen Strafe eine Bestrafung Unschuldiger bewußt in Kauf genommen. So sieht denn auch die herrschende Meinung das Verbot der Verdachtstrafe als prozessuale Kehrseite des materiellrechtlichen Schuldprinzips an 42 . Aber es gibt auch Stimmen in der Literatur, die einen Zusammenhang zwischen dem Schuldprinzip und dem Verbot der Verdachtsstrafe bestreiten. Vor allem Frisch hat im Anschluß an die Beweislastlehre Leipolds 43 die Auffassung vertreten, das Schuldprinzip besage nur, daß ohne wirkliche Schuld keine Strafe verhängt werden dürfe, liege also „ganz auf der materiellen Ebene des Seinsollenden" 44 . Wie bei unaufklärbaren Zweifeln in bezug auf die Wirklichkeit der Schuld zu entscheiden sei, könne man ihm nicht entnehmen 45 . Diesem Einwand ist ohne weiteres zuzugeben, daß die Lösung der Zweifelssituation nicht begrifflich aus den materiellen Normen deduziert werden kann 46 . Aber daraus folgt nicht, daß das Schuldprinzip für das Problem der Verdachtsstrafe ohne Bedeutung wäre; denn die für die Lösung dieses Problems entscheidende Frage, ob der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen eher hinzunehmen ist als die Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen 47 läßt sich aus der ratio des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Schuld" ein41
Vgl. dazu 2. Kap. I I I 2. BGHSt 18, 274 (275); Sax, Zur Anwendbarkeit des Satzes „in dubio pro reo" im strafprozessualen Bereich, S. 164 f.; derselbe, Anmerkung zu B G H - 5 StR 52 / 57 - , JZ 1958, S. 178 ff. (179); Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 352; Sulanke, Die Entscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen im Strafverfahren, S. 74; Michael, Der Grundsatz in dubio pro reo im Strafverfahrensrecht, S. 20 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 81; Stree, In dubio pro reo, S. 16 f.; Stein! Starke, Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des § 125 StGB, JR 1984, S. 97 ff. (102); Montenbruck, In dubio pro reo, S. 74. 43 Leipold, Beweislastregelungen und gesetzliche Vermutungen. 44 Frisch, Zum Wesen des Grundsatzes „in dubio pro reo", S. 284 f.; ähnlich Schröder, Zur Zulässigkeit gesetzlicher Beweisregeln im Strafrecht, NJW 1959, S. 1903 ff. (1904). 45 Frisch (wie Fn 44), S. 284. 46 Auf diese normtheoretische Feststellung kommt es Frisch wohl in erster Linie an (ausführlich zur normtheoretischen Problematik: Montenbruck, In dubio pro reo, S. 32 ff.). 47 Auch Frisch hält diese Frage für entscheidend, meint jedoch, sie sei nicht aus dem Schuldprinzip, sondern nur aus dem Grundsatz materieller Gerechtigkeit zu beantworten (wie Fn 44, S. 284 f.). 42
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6. Kap. : Verdachtsmerkmale als Voraussetzung der Strafbarkeit
deutig beantworten. Da nämlich dessen Geltung gerade darauf beruht, daß der ohne Zurechnungsprinzipien allein unter Berufung auf ein überwiegendes öffentliches Interesse erfolgenden Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen absolute Grenzen gesetzt sind 48 , hat er auch in der Zweifelssituation Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse, möglichst jeden Schuldigen zu bestrafen. Die in einer Verdachtsstrafe enthaltenen Grundrechtseingriffe könnten nur dann materiell gerechtfertigt werden, wenn der Verdacht als solcher bereits ein hinreichendes Zurechnungskriterium wäre, wenn schon die mögliche Schuld ausreichte, um die Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz zu begründen. Dem steht jedoch die ratio des Zurechnungsprinzips Schuld entgegen. Die mit diesem Prinzip bezweckte Einschränkung der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz läßt eine Zurechnung aufgrund des bloßen Verdachts schuldhaften Verhaltens nicht zu. Dies gilt unabhängig davon, ob man das Schuldprinzip als Ausprägung des Gedankens ausgleichender Gerechtigkeit oder als Schutz vor unkalkulierbarer Inanspruchnahme deutet; denn das „in Verdacht Geraten" ist weder für den einzelnen kalkulierbar, noch handelt es sich dabei um einen Umstand, der Strafe verdient. Im Ergebnis ist somit der herrschenden Meinung darin zuzustimmen, daß das Verbot der Verdachtsstrafe als prozessuale Kehrseite des materiellrechtlichen Schuldprinzips angesehen werden kann. Wie das Schuldprinzip, so ist daher auch das Verbot der Verdachtsstrafe verfassungsrechtlich gewährleistet.
6. Kapitel
Zur Zulässigkeit von Verdachtsmerkmalen als Voraussetzung der Strafbarkeit I. Problemstellung So wie es Straftatbestände gibt, die nicht nur eine schuldhafte Rechtsverletzung, sondern auch das Vorliegen schuldunabhängiger Umstände voraussetzen 1 , so sind auch Tatbestände denkbar, bei denen zwar ein bestimmtes Verhalten nachgewiesen werden muß, die Strafbarkeit aber außerdem von dem Verdacht weiterer Umstände, Verhaltensweisen oder Absichten abhängt. Als Beispiel für einen solchen Tatbestand sei der Absatz 1 des von den Nationalsozialisten eingeführten, bis zum 24.6.1969 geltenden § 245 a StGB angeführt. Nach dieser Vorschrift war der Besitz von Diebeswerkzeug durch einen einschlägig Vorbestraften strafbar, „sofern sich nicht aus den Umständen ergibt, 4
« Dazu 1. Teil, 2. Kap. I I I 2 b aa. Vgl. zu diesen Tatbeständen das 4. Kapitel.
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II. Die bisherigen Ansätze zur Lösung des Problems
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daß das Werkzeug nicht zur Verwendung bei strafbaren Handlungen bestimmt ist" 2 . Diese Formulierung wurde von der herrschenden Meinung dahingehend ausgelegt, daß Zweifel an der Verwendungsabsicht zu Lasten des Angeklagten gingen3; d.h. Voraussetzung der Strafbarkeit war der nicht auszuräumende Verdacht der Absicht, mittels des Werkzeugs eine strafbare Handlung zu begehen. Solche Verdachtsmerkmale wurden in Rechtsprechung 4 und Literatur 5 schon bald als verfassungsrechtlich problematisch angesehen. Im Zuge der Strafrechtsreform wurde dann der Tatbestand des § 245 a StGB ersatzlos gestrichen 6. Im geltenden Recht enthält nur noch der § 186 StGB mit der Nichterweislichkeit der Wahrheit der ehrenrührigen Behauptung ein Verdachtsmerkmal als Voraussetzung der Strafbarkeit 7. Allerdings wäre 1983 fast wieder ein weiterer Straftatbestand hinzugekommen; denn ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des § 125 StGB 8 sah die Strafbarkeit der Beteiligung an einer polizeilich aufgelösten Demonstration, aus der heraus Gewalttaten begangen werden, unter der Voraussetzung vor, daß ein Versuch der Einwirkung auf andere Demonstrationsteilnehmer zur Verhinderung der Gewalttätigkeiten nicht erweislich ist. I I . Die bisherigen Ansätze zur Lösung des Problems 1. Vereinbarkeit mit dem Verbot der Verdachtsstrafe bei Einschränkung einer verfassungsrechtlich zulässigen Strafbarkeit
Verdachtsmerkmale als Voraussetzung der Strafbarkeit sind sicherlich dann verfassungswidrig, wenn sich aus den nachzuweisenden Strafvoraussetzungen allein keine verfassungsrechtlich zulässige, den Strafrahmen tragende Unrechts- und Schuldbeschreibung ergibt; denn wie im vorhergehenden Kapitel dargelegt 9, muß die zur materiellen Rechtfertigung der in der Strafe enthal2
Eine entsprechende Regelung enthielt § 296 I StGB für die Wilderei. Vgl. ζ. B. Schröder in: Schönke / Schröder (14. Aufl.), § 245 a Rdn 10 mwN. 4 L G Heidelberg, NJW 1959, S. 1932. 5 ζ. B. Heimann-Troisien, Der vermutete Vorsatz in § 259 StGB, NJW 1952, S. 366 f.; Schorn, Menschenrechtskonvention, Art. 6 Abs. 2 Rdn 10; Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 4 ff. 6 Schon der E 1962 sah wegen rechtsstaatlicher Bedenken die Streichung des § 245 a StGB vor (Begründung Vor § 235 ff., S. 400). Darauf wurde bei den Beratungen des 1. Strafrechtsreformgesetzes, durch das die §§ 245 a, 296 StGB gestrichen wurden, ausdrücklich Bezug genommen (vgl. die Beratungen des Sonderausschusses Strafrechtsreform 5. Wahlperiode, S. 2474). 7 Dazu sogleich unter I I I 2 c. 8 BR-Drucksache 323 / 83 9 Vgl. 5. Kapitel I V . 3
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6. Kap. : Verdachtsmerkmale als Voraussetzung der Strafbarkeit
tenen Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich erforderliche Schuld jedenfalls nachgewiesen sein. Damit allein läßt sich die Unzulässigkeit von Verdachtsmerkmalen aber nur in seltenen Fällen begründen. Wegen des großen Ermessensspielraums des Gesetzgebers bei der Gestaltung der Straftatbestände 10 besteht zumeist die Möglichkeit, die Verdachtsmerkmale als Einschränkung einer verfassungsrechtlich zulässigen Strafbarkeit zu interpretieren: So wurde ζ. B. die Regelung des soeben erwähnten § 245 a StGB mit der Erwägung gerechtfertigt, daß schon der Besitz von Diebeswerkzeug durch einen Vorbestraften als solcher strafwürdig sei und der Staat im Falle des Nachweises fehlender Verwendungsabsicht lediglich aus kriminalpolitischen Gründen auf eine Bestrafung verzichte 11 . Zur Begründung des Entwurfs der Bundesregierung zur Reform des Landfriedenbruchs wurde angeführt, bereits das bloße Verweilen am Ort der Gewalttätigkeiten sei tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft, die Straffreiheit für den Fall nachweislichen Einwirkens auf andere Demonstrationsteilnehmer zur Verhinderung der Gewalttätigkeiten schränke deshalb die Rechtsstellung des Beschuldigten nicht ein, sondern gewähre ihm eine „Rechtswohltat, wie sie unser Strafgesetzbuch sonst kaum kennt" 1 2 . Und selbst zugunsten einer Regelung, nach der Diebstahl geringwertiger Sachen nur bestraft wird, wenn der Verdacht besteht, daß die Wegnahme mit Gewalt gegen eine Person begangen wurde, ließe sich geltend machen, daß das Verdachtsmerkmal eine bloße Einschränkung der verfassungsrechtlich zulässigen Strafbarkeit des Diebstahls geringwertiger Sachen darstelle. Entsprechendes gilt auch für strafschärfende Verdachtsmerkmale. Sofern es verfassungsgemäß wäre, die höhere Strafe schon für den nachzuweisenden Grundtatbestand anzudrohen, lassen sich solche Merkmale stets als Einschränkung der Strafbarkeit gegenüber dem verfassungsrechtlich zulässigen Strafmaß interpretieren. Möglich wäre dies ζ. B. bei einer Regelung, nach der sich das Höchstmaß der Freiheitsstrafe bei Körperverletzung auf 4 Jahre erhöht, wenn der Verdacht besteht, daß die Verletzung mit einer Waffe oder einem gefährlichen Werkzeug herbeigeführt wurde; denn der Gesetzgeber hielte sich sicherlich innerhalb seines Ermessensspielraums, wenn er schon für eine einfache Körperverletzung Freiheitsstrafe bis zu 4 Jahren androhen würde. A n dem zuletzt genannten Beispiel wurde spätestens deutlich, daß in Rechtsprechung und Literatur wohl kaum jemand wirklich jedes VerdachtsVgl. dazu 3. Kapitel I I 1 b u. 2 b. BGHSt 21, 306 (307 f.); Stree, In dubio pro reo, S. 46 Fn 96. 12 Justizminister Engelhard vor dem Deutschen Bundestag am 24.2.1984; abgedruckt in: Recht - Informationen des Bundesministers der Justiz, 1984, S. 43 f. 11
I I I . Begrenzung aus der Zweckbindung von Zurechnungsprinzipien
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merkmal, das als Einschränkung einer verfassungsrechtlich zulässigen Strafbarkeit interpretiert werden kann, als verfassungsgemäß ansehen würde. Im Ergebnis dürfte deshalb die Notwendigkeit einer weitergehenden Beschränkung der Zulässigkeit von Verdachtsmerkmalen allgemein anerkannt sein. Eine überzeugende verfassungsrechtliche Begründung dafür gibt es jedoch bisher nicht. 2. Verbot der Schuld- oder Unrechtsbezogenheit von Verdachtsmerkmalen
Auch die Argumentation von Stree, aus der Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe als prozessualer Kehrseite des Schuldprinzips folge, daß schuld- und damit auch unrechtsbezogene Strafvoraussetzungen niemals als Verdachtsmerkmale ausgestaltet werden dürften 13 , ist nicht überzeugend. Sie verkennt, daß die aufgrund des Schuldprinzips zur materiellen Rechtfertigung der Strafe verfassungsrechtlich erforderliche Schuld nicht mit der gesetzlich vorgesehenen Schuld identisch zu sein braucht. Aus der Begründung des Verbots der Verdachtsstrafe als prozessualer Kehrseite des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips folgt lediglich, daß die von diesem Prinzip geforderte Schuld nachgewiesen werden muß; die Notwendigkeit des Nachweises gesetzlich vorgesehener, aber verfassungsrechtlich nicht erforderlicher Strafvoraussetzungen läßt sich damit nicht begründen, unabhängig davon, ob diese Strafvoraussetzungen dogmatisch14 als Unrechts- bzw. schuldbezogen einzuordnen sind oder nicht. I I I . Die verfassungsrechtliche Begrenzung der Zulässigkeit von Verdachtsmerkmalen als Folge der Zweckbindung von Zurechnungsprinzipien 1. Die Parallele zu den schuldunabhängigen Voraussetzungen der Strafbarkeit
Die Lösung des Problems der Verdachtsmerkmale als Voraussetzung der Strafbarkeit ergibt sich aus dem Grundsatz, daß der Täter nur zur Abwehr solcher Gefahren für die Normakzeptanz in Anspruch genommen werden darf, 13
Stree, In dubio pro reo, S. 44; ihm folgend Sax, Anmerkung zu B G H 5 StR 52 / 57, JZ 1958, S. 177 ff. (178 f.); Volk, In dubio pro reo und Alibibeweis - BGHSt 25, 285, JuS 1975, S. 25 ff. (26); Starke / Stein, Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des § 125 StGB, JR 1984, S. 97 ff. (102). 14 Wenn man die Schuldbezogenheit einer Strafvoraussetzung nicht nach sachlogischdogmatischen Kriterien, sondern danach bestimmt, ob die Strafvoraussetzung aufgrund des Schuldprinzips zur materiellen Rechtfertigung der Straf eingriff e erforderlich ist, ist die Argumentation von Stree natürlich richtig; aber dann ergibt sich aus ihr keine weitergehende Beschränkung der Zulässigkeit von Verdachtsmerkmalen als die unter I I 1 dargelegte. - Nach welchen Kriterien Stree selbst die Schuldbezogenheit beurteilen will, läßt sich seinen Ausführungen nicht eindeutig entnehmen. 6 Frister
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6. Kap. : Verdachtsmerkmale als Voraussetzung der Strafbarkeit
die von ihm zuzurechnenden Umständen ausgehen15. Da der Verdacht kein verfassungsrechtlich zulässiges Zurechnungsprinzip in bezug auf Gefahren für die Normakzeptanz ist 1 6 , handelt es sich bei den Verdachtsmerkmalen genauso um zurechnungsgelöste Strafvoraussetzungen wie bei den schuldunabhängigen Bedingungen der Strafbarkeit. Auch Verdachtsmerkmale dürfen deshalb keine gefahrbegründende Funktion haben; sie sind nur dann verfassungsgemäß, wenn sie mit einer gefahrbeseitigenden oder strafzweckunabhängigen Erwägung sachlich gerechtfertigt werden können 17 . 2. Beispielhafte Anwendung auf einzelne Verdachtsmerkmale
Bei Anwendung dieses Kriteriums sind nicht nur die oben gebildeten fiktiven Beispielsregelungen verfassungswidrig; auch der frühere § 245 a StGB, der Entwurf zur Reform des § 125 StGB aus dem Jahr 1983 und der geltende § 186 StGB erweisen sich als unzulässige Verdachtstatbestände: a) Die Verwendungsabsicht im bis zum 24.6.1969 geltenden § 245 a StGB Die Verwendungsabsicht als Verdachtsmerkmal des früheren § 245 a I StGB hätte nur dann keine gefahrbegründende Funktion gehabt, wenn der Tatbestand nicht als strafbare Vorbereitungshandlung zum Diebstahl, sondern als abstraktes Gefährdungsdelikt mit dem Ziel der Bewährung des Verbots, kein Diebeswerkzeug zu besitzen, hätte aufgefaßt werden können. Dies war jedoch nicht möglich, weil es ausgehend von einem solchen Normzweck keinen sachlichen Grund dafür gegeben hätte, die Bestrafung an den Verdacht zu knüpfen, daß das Werkzeug zur Benutzung bei einer strafbaren Handlung bestimmt gewesen ist. b) Das Abwiegeln im Entwurf der Bundesregierung zu § 125 StGB aus dem Jahre 1983 Das fehlende Abwiegeln als Verdachtsmerkmal des Entwurfs zu § 125 StGB wäre dann nicht gefahrbegründend gewesen, wenn der vorgeschlagene Tatbestand den Zweck gehabt hätte, das verwaltungsrechtliche Gebot, einer polizeilichen Auflösungsanordnung Folge zu leisten, strafrechtlich zu bewähren. Davon ausgehend wäre die Abwieglerregelung aber sachlich nicht zu rechtfertigen gewesen. Die Privilegierung des A b wieglers ist nur damit zu
15 16 17
Zur Begründung dieses Grundsatzes vgl. im 4. Kapitel I 2. Dazu 5. Kapitel I V . Vgl. zu diesen Begriffen das 4. Kapitel I 2.
I I I . Begrenzung aus der Zweckbindung von Zurechnungsprinzipien
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erklären, daß der verwaltungsrechtlich stets rechtswidrige Ungehorsam gegenüber der polizeilichen Auflösungsanordnung nur dann als Verletzung einer strafrechtlich zu bewährenden Verhaltensnorm angesehen worden ist, wenn der Zuwiderhandelnde nicht auf andere Weise, nämlich durch Einwirkung auf die Versammlungsteilnehmer dazu beiträgt, daß keine Gewalttätigkeiten mehr begangen werden 18 . Das fehlende Abwiegeln ist damit zur Entstehung der Gefahr für die Akzeptanz der zu bewährenden Verhaltensnorm notwendig, also gefahrbegründend. c) Die Unwahrheit der Tatsachenbehauptung in § 186 StGB Die gefahrbegründende Funktion der Unwahrheit der ehrenrührigen Tatsache, des Verdachtsmerkmals in § 186 StGB, wurde bereits im 4. Kapitel dargelegt 19 . Aufgrund des Verbots der Verdachtsstrafe wäre der Tatbestand der üblen Nachrede also selbst dann verfassungswidrig, wenn sich die Verletzung des Schuldprinzips durch eine einschränkende Auslegung, nach der zumindest sorgfaltswidriges Verhalten bezüglich der Unwahrheit erforderlich ist, ausräumen ließe 20 . Dies gilt auch, wenn - wie von Hirsch vorgeschlagen 21 - für die Strafbarkeit nach § 186 StGB sogar der Nachweis einer solchen Sorgfaltspflichtverletzung verlangt würde. Denn auch die objektive Unwahrheit der ehrenrührigen Tatsache hat gefahrbegründende Funktion und darf deshalb nicht als Verdachtsmerkmal ausgestaltet werden 22 .
18 Nichts anderes sollte wohl auch die - allerdings wenig präzise - Begründung der Bundesregierung für die Abwieglerregelung bedeuten, Personen, die zwar der Aufforderung zum Auseinandergehen zuwiderhandelten, deren Verhalten aber auf anerkennenswerten Gründen beruhe, hätten eine Besserstellung verdient (BR-Drucksache, 323 / 83, S. 8). 19 Vgl. 4. Kap. I I 5. 20 Zu der methodischen Unzulässigkeit einer solchen Auslegung vgl. 4. Kap. I I 5 a.E. 21 Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 168 ff. 22 In diese Richtung geht auch die Kritik von Starke / Stein, Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des § 125 StGB, JR 1984, S. 97 ff. (102), an dem Vorschlag von Hirsch. Sie betonen, daß nicht nur das Handlungs-, sondern auch das Erfolgsunrecht nachgewiesen werden müsse.
6*
Teil
Die Unschuldsvermutung 7. Kapitel
Die verfassungsrechtliche Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung I . Vorüberlegungen 1. Beschränkung der Untersuchung auf die Unschuldsvermutung als Schutz vor Eingriffen ohne rechtskräftige Verurteilung D e r Unschuldsvermutung werden i n Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r zwei ganz unterschiedliche Schutzfunktionen beigemessen 1 . Z u m einen w i r d sie als Schutz vor einer ungerechtfertigten Verurteilung i m Strafverfahren u n d damit als Gewährleistung des bereits erörterten Verbots der Verdachtsstrafe u n d der Geltung v o n Verfahrensgrundsätzen, die der B i l dung einer falschen Überzeugung v o n der Schuld des Angeklagten entgegenw i r k e n , verstanden 2 . A u f g r u n d dieses Verständnisses werden ζ. B . die U n v o r eingenommenheit des Richters 3 u n d deren institutionelle Absicherung durch den Anklageprozeß 4 , das Prinzip der freien Beweiswürdigung 5 m i t der B i n 1 Die Unterscheidung dieser beiden Schutzfunktionen findet sich bereits bei: Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 118 ff.; Marxen, Medienfreiheit und Unschuldsvermutung, G A 1980, S. 365 ff. (373); und Trechsel, Struktur und Funktion der Vermutung der Schuldlosigkeit, SJZ 1981, S. 317 ff. (319). 2 Dieses Verständnis der Unschuldsvermutung entspricht vor allem der englischen Rechtstradition (vgl. dazu Köster (wie Fn 1), S. 79 ff.). 3 So ζ. B. die Europäische Menschenrechtskommission (Fall Huber), Recueil de Decisions (Ree.), Nr. 49, S. 99 ff. (106); Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 988 f.; Trechsel (wie Fn 1), S. 322, Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 19. 4 Sax (wie Fn 3), S. 988, der es sogar für möglich hält, der Unschuldsvermutung die Verpflichtung zur Einführung des anglo- amerikanischen Parteiprozesses zu entnehmen, um die richterliche Un Voreingenommenheit zu gewährleisten. In die gleiche Richtung gehen Überlegungen von Schubarth und Trechsel, die verschiedene Reformforderungen zur Sicherung der Unvoreingenommenheit des Richters (z. B. Subsidiarität der richterlichen Aufklärungspflicht, Trennung der Zuständigkeiten für Eröffnungsbeschluß und Durchführung der Hauptverhandlung) mit der Unschuldsvermutung begründen (Schubarth (wie Fn 3), S. 19, S. 20 f. u. S. 23; Trechsel (wie Fn 1), S. 323).
I. Vorüberlegungen
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dung des Richters an die Denkgesetze u n d die allgemeinen Erfahrungssätze 6 , das Beweisantragsrecht 7 , das Beweisantizipationsverbot 8 u n d selbst die unter dem A s p e k t der Unvoreingenommenheit oft problematisierte 9 gerichtliche Aufklärungspflicht 1 0 aus der Unschuldsvermutung abgeleitet. Z u m anderen w i r d i n der Unschuldsvermutung ein Schutz des Verdächtigen vor Eingriffen i n seine Rechte ohne rechtskräftige Verurteilung gesehen 1 1 . Dieses Verständnis liegt ζ. B . zugrunde, wenn aus der Unschuldsvermutung das V e r b o t vorweggenommener Schuldfeststellungen 1 2 oder Beschränkungen der strafprozessualen Z w a n g s m i t t e l 1 3 abgeleitet werden. D e r vorliegenden Untersuchung geht es - neben dem bereits erörterten V e r b o t der Verdachtsstrafe - allein u m den zweitgenannten
Aspekt14.
Untersucht werden soll die Unschuldsvermutung als verfassungsrechtliche Beschränkung v o n E i n g r i f f e n i n die Rechte eines nicht rechtskräftig V e r u r teilten.
5 Elibol, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 29; Hoefermann, Auslagenerstattung beim Freispruch mangels Beweises und die Menschenrechtskonvention, S. 95; Trechsel (wie Fn 1), S. 320 Fn 27. 6 Trechsel (wie Fn 1), S. 321, der dies „in dubio pro reo als Beweiswürdigungsregel" nennt; ähnlich auch Peters, Strafprozeß, S. 291. 7 Elibol (wie Fn 5), S. 55; Hoefermann (wie Fn 5), S. 100. 8 Elibol (wie Fn 5), S. 55; Hoefermann (wie Fn 5), S. 100; Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 988. 9 Vgl. dazu soeben Fn 4. 10 Elibol (wie Fn 5), S. 55; Hoefermann (wie Fn 5), S. 100; Denzel, Übermaß verbot und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, S. 62; Appell, Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer Bedeutung für das deutsche Strafrecht und Strafverfahrensrecht, S. 62. 11 Zur Geschichte dieses Verständnisses der Unschuldsvermutung vgl. Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 110 ff. 12 So z. B. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EuGRZ 1982, S. 297 ff. u. EuGRZ 1983, S. 475 ff.; Frowein, Zur Bedeutung der Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 557 mwN zur Rechtsprechung der Europäischen Menschenrechtskommission; Vogler, Straf- und strafverfahrensrechtliche Fragen in der Spruchpraxis der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZStW Bd. 89 (1977), S. 761 ff. (785); Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 18 f.; derselbe, Unschuldsvermutung und Einstellung des Strafverfahrens, NJW 1984, S. 1264 ff. (1267). 13 Vgl. dazu z. B. Sax (wie Fn 8), S. 986; Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 175 ff.; Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28. 14 Eine Erörterung der Frage, ob sich zum Schutz dés Angeklagten vor Fehlverurteilungen bestimmte Verfahrensprinzipien verfassungsrechtlich begründen lassen, paßt. nicht in den Gesamtzusammenhang dieser Untersuchung, da es bei dieser Frage nicht um spezifische materielle Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des einzelnen zum Zwecke der Strafrechtspflege geht.
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung 2. Methodisches Vorgehen
Bereits als Ausgangspunkt für diese Untersuchung bedarf es einer Vorstellung davon, welche Bedeutung der Unschuldsvermutung als Beschränkung von Eingriffen zukommen könnte. Denn aus der Verfassung lassen sich nicht Namen, sondern nur Inhalte von Rechtssätzen ableiten, und deshalb muß jeder verfassungsrechtlichen Untersuchung eines im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelten Rechtsgrundsatzes eine hinreichend bestimmte Vorstellung von dessen Inhalt zugrundegelegt werden 15 . Bei dem Schuldprinzip und dem Verbot der Verdachtsstrafe bereitete die Formulierung einer solchen Bedeutungshypothese16 keine Schwierigkeiten, da über die Bedeutung dieser Prinzipien nur in Randbereichen gestritten wird. Bei der Unschuldsvermutung als Schutz vor Eingriffen ohne rechtskräftige Verurteilung ist dies anders. Rechtsprechung und Literatur bieten hier ein auf den ersten Blick völlig unübersichtliches Bild. Dies liegt zwar zum großen Teil daran, daß häufig Auswirkungen der Unschuldsvermutung erörtert werden, ohne daß deutlich wird, welche allgemeine Konzeption dieses Rechtsgrundsatzes den Erörterungen zugrundeliegt. Eine wesentliche Rolle spielt aber auch die Tatsache, daß es zwei schon im Grundsatz völlig unterschiedliche Konzeptionen der Unschuldsvermutung als Schutz vor Eingriffen ohne rechtskräftige Verurteilung gibt. Zum einen wird die Unschuldsvermutung als Verbot der Verwertung des Tatverdachts (dazu sogleich unter I I 1) und zum anderen als verfahrensmäßige Sicherung des Schuldprinzips (dazu sogleich unter I I 2) verstanden. In Anbetracht dieser Sachlage wäre es verfehlt, bei der verfassungsrechtlichen Untersuchung der Unschuldsvermutung - so wie bei der Untersuchung des Schuldprinzips und des Verbots der Verdachtsstrafe - von vornherein nur von einer Bedeutungshypothese auszugehen. Es muß vielmehr für beide Konzeptionen der Unschuldsvermutung als Schutz vor Eingriffen ohne rechtskräftige Verurteilung untersucht werden, ob und inwieweit sie verfassungsrechtlich begründbar sind.
15 Das in der Literatur verbreitete Vorgehen, zunächst einmal den Verfassungsrang der Unschuldsvermutung festzustellen und sich dann Gedanken darüber zu machen, was sie wohl bedeutet (ζ. B. Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 153 ff.), ist deshalb methodisch verfehlt. 16 Siehe für das Schuldprinzip 1. Kap. I I und für das Verbot der Verdachtsstrafe 5. Kap. I.
II. Die möglichen Grundansätze zur Konkretisierung
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I I . Die möglichen Grundansätze zur Konkretisierung der Unschuldsvermutung 1. Die Unschuldsvermutung als Verbot der Verwertung des Tatverdachts
Bei dem Verständnis der Unschuldsvermutung als Verbot der Verwertung des Tatverdachts wird die Formulierung „gilt als unschuldig" 17 wörtlich genommen und die Unschuldsvermutung als Gebot verstanden, bei allen staatlichen Maßnahmen von der Unschuld eines nicht rechtskräftig Verurteilten auszugehen. Ein solches Verständnis der Unschuldsvermutung liegt - wenn auch zumeist unausgesprochen - vielen Äußerungen in der Literatur zugrunde. Als Beispiele seien hier nur die Auffassung, es verletze die Unschuldsvermutung, wenn Art und Ausmaß des Tatverdachts für die Bewertung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung herangezogen werden 18 , sowie die Ansicht, aufgrund der Unschuldsvermutung dürfe eine nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftat bei den im Rahmen der Strafzumessung zu treffenden Prognoseentscheidungen nicht berücksichtigt werden 19 , angeführt. a) Bedeutung dieses Ansatzes Eine allgemeine Formulierung und Begründung der Unschuldsvermutung als Verbot der Verwertung des Tatverdachts findet sich nur bei Köster 20. Nach seiner Auffassung begründet die Unschuldsvermutung die „gesetzliche Sicherheit" dafür, daß eine nicht rechtskräftig verurteilte Person unschuldig ist 21 . 17 Vgl. z. B. Art. 20 I I 1 Hess.Verf. und Art. 14 I I Saar.Verf. 18 Eine Berücksichtigung des Verdachtsgrades halten eine ganze Reihe von Autoren für eine Verletzung bzw. „Relativierung" der Unschuldsvermutung: Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 179; Trechsel, Struktur und Funktion der Vermutung der Schuldlosigkeit, SJZ 1981, S. 335 ff. (336); Schütz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei strafprozessualen Zwangsmaßnahmen, S. 81; sowie Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 172 Fn 49. Eine Berücksichtigung der Schwere der Tat bzw. der Höhe der zu erwartenden Strafe sieht zwar niemand als gänzlich unzulässig an; aber vereinzelt wird die Auffassung vertreten, es dürfe allein auf den gesetzlichen Strafrahmen abgestellt werden, jede Bewertung der konkreten Tat sei mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar (Köster, aaO, S. 180). Sogar relativ verbreitet ist die Ansicht, daß zumindest Strafzumessungsgründe, die in der Person des Verdächtigen liegen, bei der Prognose der zu erwartenden Strafe nicht berücksichtigt werden dürften (Krauß, aaO, S. 175; Trechsel, aaO, S. 336; Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28 f.). 19 Haberstroh, Unschuldsvermutung und Rechtsfolgenausspruch, NStZ 1984, S. 289 ff. (292); Vogler, Vor- und Nachtaten bei der Strafzumessung und Unschuldsvermutung, S. 439 ff.; zum Bewährungswiderruf auch Mrozynski, Die Wirkung der Unschuldsvermutung auf spezialpräventive Zwecke des Strafrechts, JZ 1978, S. 255 ff. (257 f.). 20 Köster (wie Fn 18), insbesondere S. 173 ff.; ähnlich neuerdings Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 46 u. 51. 2 1 Köster (wie Fn 18), S. 173.
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung
Für die Rechtsordnung bewirke diese Sicherheit ebensoviel wie die durch Beweis herbeigeführte tatsächliche Sicherheit 22 . Deshalb sei jede staatliche Maßnahme, die von der „realen Existenz" 23 der Straftat ausgehe, ohne eine rechtskräftige Verurteilung unzulässig24. Bei diesem Verständnis der Unschuldsvermutung ist bereits die Legitimation zur Durchführung des Strafverfahrens problematisch. Denn wenn die Unschuldsvermutung eine dem Beweis gleichstehende „gesetzliche Sicherheit" für die Unschuld eines Verdächtigen begründet, so schließt sie jede rechtliche Verwertung des Tatverdachts und damit an sich auch die Durchführung eines Strafverfahrens zur Bestätigung dieses Verdachts aus. Köster selbst hat zwar diese Folgerung nicht gezogen; aber seine dafür gegebene Begründung, die Unschuldsvermutung könne den Tatverdacht nicht ausschließen, da dieser gerade ihre Anwendungsvoraussetzung sei 25 , ist nicht schlüssig. Es geht nicht um den Ausschluß des Tatverdachts als empirischer Begebenheit, sondern um den Ausschluß seiner rechtlichen Verwertung. Und daß die Anwendung einer Rechtsnorm, die die rechtliche Verwertung eines Verdachts ausschließt, dessen tatsächliches Vorliegen voraussetzt, ist nicht unlogisch oder widersprüchlich, sondern im Gegenteil selbstverständlich. Eine Definition der Unschuldsvermutung als Begründung der „gesetzlichen Sicherheit" dafür, daß eine nicht rechtskräftig verurteilte Person unschuldig ist, läßt sich also allenfalls mit einer immanenten Einschränkung für Maßnahmen, die der Feststellung der Schuld dienen, aufrechterhalten. Die Unschuldsvermutung wäre dann das Gebot, bei allen staatlichen Maßnahmen, die nicht der Verfahrensdurchführung dienen, von der Unschuld eines nicht rechtskräftig Verurteilten auszugehen. Insbesondere für präventive Maßnahmen hätte aber auch ein auf diese Weise eingeschränktes Verbot der Verwertung des Tatverdachts noch weitreichende Konsequenzen27: jede präventive Maßnahme, die aus Anlaß des Verdachts der Begehung einer Straftat getroffen wird - ζ. B. die Suspendierung eines Lehrers, der im Verdacht steht, mehrfach Kinder im Unterricht geschlagen zu haben, oder eines Beamten, der wegen Bestechlichkeit angeklagt ist wäre eine Verletzung der Unschuldsvermutung. 22 Köster (wie Fn 18), S. 174. 23 Köster (wie Fn 18), S. 175. 24 Eine ähnliche Formulierung findet sich bei Marxen, Medienfreiheit und Unschuldsvermutung, G A 1980, S. 365 ff. (375): die rechtskräftige Verurteilung sei - normativ betrachtet - eine „Existenzbedingung der Straftat". 25 Köster (wie Fn 18), S. 178. 26 entfällt 27 Bei Köster selbst wird dies nur deshalb nicht deutlich, weil er die sich aus seiner Konzeption ergebenden Folgen für die Rechtsstellung des Tatverdächtigen nicht im einzelnen untersucht, sondern sich insoweit auf wenige, zumeist allgemein gehaltene Bemerkungen beschränkt (vgl. Köster (wie Fn 18), S. 178-182).
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II. Die möglichen Grundansätze zur Konkretisierung
b) Zur verfassungsrechtlichen
Begründbarkeit
dieses Ansatzes
Zur Beantwortung der Frage, ob ein solches Verständnis der Unschuldsvermutung verfassungsrechtlich begründbar ist, kann weitgehend auf bisherige Ergebnisse der Untersuchung zurückgegriffen werden. Denn die Unschuldsvermutung wäre bei einer Interpretation als allgemeines Verbot der Verwertung des Tatverdachts nichts anderes als eine strafrechtliche Ausprägung der bereits erörterten „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen", nach der so lange von der Rechtstreue eines Menschen auszugehen sein soll, bis der Beweis eines Rechtsverstoßes erbracht ist. Im zweiten Teil der Untersuchung wurde nun bereits dargelegt, daß eine solche „Ausgangsvermutung" verfassungsrechtlich nicht begründbar ist 2 8 , wobei auch schon die von Köster im Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung vorgetragene Argumentation berücksichtigt wurde. Der entscheidende Gesichtspunkt dabei war die Tatsache, daß das dem Grundgesetz entnommene Bild des Menschen als eines zur Selbstbestimmung fähigen Wesens durch die Annahme rechtswidrigen Verhaltens gar nicht in Frage gestellt wird. Dies gilt in gleicher Weise für die Annahme straf gesetzwidrigen Verhaltens, so daß auch eine strafrechtliche Ausprägung der „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" aus der Verfassung nicht abgeleitet werden kann. Eine Interpretation der Unschuldsvermutung als Verbot der Verwertung des Tatverdachts ist daher verfassungsrechtlich nicht möglich. 2. Die Unschuldsvermutung als verfahrensmäßige Sicherung des Schuldprinzips
Ausgangspunkt für das Verständnis der Unschuldsvermutung als verfahrensmäßiger Sicherung des Schuldprinzips ist die Überlegung, daß eine effektive Gewährleistung dieses Prinzips zumindest ein institutionalisiertes Verfahren zur Feststellung der Schuld und damit auch das Verbot voraussetzt, ohne eine in diesem Verfahren getroffene Schuldfeststellung eine Strafe zu verhängen. Die Idee besteht darin, die Unschuldsvermutung in Analogie zu dem aus dieser Überlegung folgenden Verbot der Bestrafung ohne rechtskräftige Verurteilung zu konstituieren. a) Die Unschuldsvermutung
als Verbot „strafähnlicher
Eingriffe"
Die dazu bisher vorliegenden Begründungsansätze knüpfen an die Tatsache an, daß es Grundrechtseingriffe gibt, die nach ihrer Art und Wirkung für den Betroffenen einer Strafe ähnlich sind: Die Unschuldsvermutung verbiete nicht 28 Vgl. 5. Kapitel I I I 2 a.
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung
nur die Bestrafung eines nicht rechtskräftig Verurteilten, sondern auch seine Belastung mit „strafähnlichen Maßnahmen" 29 . Was dies konkret bedeutet, hängt entscheidend davon ab, anhand welcher Kriterien die „Strafähnlichkeit" einer Maßnahme beurteilt wird. Dazu gibt es in Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Auffassungen. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Entscheidungen darauf abgestellt, ob die in Frage stehende Maßnahme eine der Strafe gleichartige Übelszufügung enthält: Die Unschuldsvermutung verbiete es „gegen den Beschuldigten im Vorgriff auf die Strafe Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung der Freiheitsstrafe gleichkommen" 30 . Die volle Entziehung der Freiheit durch Einschließung in eine Haftanstalt sei ein Übel, das grundsätzlich nur dem rechtskräftig Verurteilten zugefügt werden dürfe 31 . Lediglich die Untersuchungshaft müsse wegen des unabweisbaren Bedürfnisses einer wirksamen Strafverfolgung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hingenommen werden 32 . Nach einer in der Literatur verbreiteten Auffassung, die vor allem von KühP 3 ausführlich dargelegt wurde, soll dagegen die Straf ähnlichkeit einer Maßnahme nicht von der Art der Übelszufügung, sondern davon abhängen, daß sie ein der Strafe gleichartiges Unwerturteil enthält 34 . Die Strafe unterscheide sich von sonstigen staatlichen Reaktionen mit Übelszufügung durch die in ihr enthaltene sozialethische Mißbilligung, der deshalb auch die entscheidende Bedeutung bei der Bestimmung der Strafähnlichkeit zukommen müsse35. Straf ähnlich seien danach alle Maßnahmen, die der Strafe gleichartige soziale Diskriminierungen bewirkten. Dazu gehörten nicht nur vorweggenommene Schuldfeststellungen 36, sondern auch Verdachtsäußerungen, da von ihnen praktisch die gleiche oder zumindest eine ähnliche Diskriminierungswirkung ausgehe37. Allerdings seien nur vermeidbare Verdachtsbekundungen als Verletzung der Unschuldsvermutung anzusehen. Die in den zur Verbrechensaufklärung erforderlichen Ermittlungs- und Prozeßhandlungen notwen29 Insoweit übereinstimmend: BVerfGE 19, 342 (347); 35, 311 (320); Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 971 u. S. 987; Schorn, Der Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, S. 24; Elibol, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 25; Kühl, Zur Beurteilung der Unschuldsvermutung bei Einstellungen und Kostenentscheidungen, JR 1978, S. 94 ff. (100); derselbe, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 18 f. 30 BVerfGE 19, 342 (347); bestätigt in BVerfGE 35, 311 (320). 31 BVerfGE 19, 342 (347). 32 BVerfGE 19, 342 (347). 33 Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 13 ff. 34 Kühl (wie Fn 33), S. 14 f.; ähnlich schon Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 971; Schorn, Der Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, S. 24; Elibol, Die Vermutung der Unschuld im deutschen und türkischen Strafverfahren, S. 25. 35 Kühl (wie Fn 33), S. 14 f. 36 Dazu Kühl (wie Fn 33), S. 18 f. 37 Kühl (wie Fn 33), S. 21 ff.
II. Die möglichen Grundansätze zur Konkretisierung
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digerweise enthaltenen Verdachtsfeststellungen seien gerechtfertigt, „weil sich sonst die Strafrechtspflege aufgeben und damit die Freiheit und Sicherheit aller Bürger preisgeben würde" 3 8 . Im Ergebnis ist weder die Konzeption von Kühl noch die des Bundesverfassungsgerichts überzeugend. Beide sind - trotz ihres zum Teil gegensätzlichen Inhalts - dem gleichen prinzipiellen Einwand ausgesetzt: Da das Verbot strafähnlicher Eingriffe ohne rechtskräftige Verurteilung aus dem Schuldprinzip begründet werden soll, können nur solche Eingriffe als straf ähnlich angesehen werden, die alle Merkmale aufweisen, wegen derer eine Strafe Schuld voraussetzt. Nun liegt aber - wie im 2. Kapitel dieser Untersuchung gezeigt39 - der Grund für die Geltung des Schulderfordernisses gerade nicht in einer besonderen Eigenart der Strafe, insbesondere nicht in dem sozialethischen Unwerturteil, sondern in der Notwendigkeit einer besonderen Rechtfertigung der in der Strafe enthaltenen Grundrechtseingriffe. Auf die Art dieser Eingriffe kommt es für die Geltung des Schulderfordernisses gar nicht an, und daher kann die Eingriffsart auch nicht das entscheidende Kriterium für die Notwendigkeit einer rechtskräftigen Schuldfeststellung sein. Zu welchen Widersprüchen und Ungereimtheiten ein auf die Ähnlichkeit zu den Strafeingriffen abstellender Versuch der Konstituierung der Unschuldsvermutung notwendigerweise führt, läßt sich sowohl an dem Ansatz des Bundesverfassungsgerichts als auch an den Überlegungen von Kühl zeigen. Beide Konzeptionen sind gezwungen, das postulierte Verbot straf ähnlicher Eingriffe ohne rechtskräftige Verurteilung im Wege der Güterabwägung zu relativieren. Eine solche Relativierung widerspricht aber der Begründung des Verbots aus dem absolute Geltung beanspruchenden Schuldprinzip 40 und nimmt außerdem diesem Verbot jegliche eigenständige Bedeutung; denn die Verfassungswidrigkeit unverhältnismäßiger Freiheitsentziehungen oder Diskriminierungen folgt bereits aus Art. 2 I I G G 4 1 bzw. aus dem durch Art. 1 I i. V.m. 2 I GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht 42.
38 Kühl (wie Fn 33), S. 25. 39 Vgl. 2. Kapitel I I u. I I I . 40 Vgl. dazu 2. Kapitel I I I 2 c. 41 Bezeichnenderweise wird in einigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Untersuchungshaft gar nicht auf die Unschuldsvermutung, sondern stattdessen unmittelbar auf Art. 2 I I GG Bezug genommen, ohne daß dies eine sachliche Änderung der Argumentation zur Folge hätte (BVerfGE 20, 45 (49); 20,144 (147 f.). 42 Dies wird von Kühl durchaus gesehen. Er bezeichnet die Unschuldsvermutung als eine „Spezifizierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts . . . , die den Persönlichkeitsschutz des Nicht- Verurteilten gegenüber strafähnlichen Belastungen übernimmt" (Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 20).
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung
b) Die Unschuldsvermutung als Verbot einer „strafähnlichen Rechtfertigung" von Eingriffen Das Scheitern der bisherigen Versuche, die Unschuldsvermutung aus dem Verbot der Bestrafung ohne rechtskräftige Schuldfeststellung zu konstituieren, bedeutet nicht, daß dieser Ansatz prinzipiell fehlerhaft wäre. Für seine Durchführung kommt es nur darauf an, die ratio dieses Verbots richtig zu bestimmen. Ausgangspunkt muß dabei die ratio des Schuldprinzips selbst sein, aus dem das Verbot abgeleitet wird: Wie im 2. Kapitel gezeigt, ergibt sich das Schulderfordernis für die Strafe aus der Tatsache, daß wegen der Unzulässigkeit anderer als der vom Verfassungsgeber vorgefundenen Zurechnungsprinzipien eine Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne schuldhaftes Verhalten nicht möglich ist 43 . Das die Geltung des Schulderfordernisses auslösende Moment ist also die (verfassungsrechtlich notwendige) Rechtfertigung der Strafeingriffe mit der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz. Für das aus dem Schuldprinzip abgeleitete Erfordernis rechtskräftiger Schuldfeststellung kann nichts anderes gelten. Hinter dem Verbot der Bestrafung eines nicht rechtskräftig Verurteilten steht also die Erwägung, daß eine Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne rechtskräftige Schuldfeststellung nicht erfolgen darf. Aus dieser Erkenntnis läßt sich nun ohne weiteres eine die Unschuldsvermutung konstituierende Beschränkung von Grundrechtseingriffen ohne rechtskräftige Verurteilung ableiten. Die Unschuldsvermutung stellt danach nicht das Verbot einer bestimmten Art, sondern das Verbot einer bestimmten Rechtfertigung von Eingriffen dar: Die Inanspruchname eines nicht rechtskräftig Verurteilten darf nicht mit der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz materiell gerechtfertigt werden. I I I . Die Bedeutung des Verbots einer „strafähnlichen Rechtfertigung" von Eingriffen Die Auswirkungen dieses Verbots lassen sich nicht einheitlich beurteilen, sondern hängen entscheidend von der Zweckrichtung der in Frage stehenden Grundrechtseingriffe ab. Es ist zwischen Eingriffen mit unmittelbar generalpräventiver Zwecksetzung, Eingriffen zur Strafverfolgung und sonstigen Grundrechtseingriffen zu unterscheiden:
43
Vgl. 2. Kapitel I I I 2.
I I I . Bedeutung des Verbots einer „strafähnlichen R e c h t f e r t i g u n g " 9 3 1. Die Bedeutung für Eingriffe mit unmittelbar generalpräventiver Zwecksetzung
a) Das grundsätzliche Verbot solcher Eingriffe ohne rechtskräftige Verurteilung Gegen den Willen des Beschuldigten vorgenommene Eingriffe mit unmittelbar generalpräventiver Zwecksetzung sind aufgrund des Verbots der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne rechtskräftige Verurteilung stets unzulässig. Denn solche Eingriffe können nur mit einem Zurechnungsprinzip gerechtfertigt werden und dies setzt die Zurechnung der durch sie abzuwehrenden Gefahren für die Normakzeptanz voraus. Eine Rechtfertigung der Eingriffe nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses scheidet aus, da die angestrebte generalpräventive Wirkung sowie die den Eingriffen immanente Intention der Übelszufügung mit dem aus dieser Rechtfertigungsform folgenden Entschädigungsgebot nicht vereinbar ist 44 . Bedeutung hat dies vor allem für die Ausgestaltung des Strafprozesses. Die strafprozessualen Eingriffe dürfen weder der Abschreckung 45 noch der Bewährung der Rechtsordnung und damit auch nicht der Befriedigung von Vergeltungsbedürfnissen der Bevölkerung dienen. Eine Inhaftierung des Beschuldigten mit dem Ziel, dem verletzten Rechtsgefühl der Bevölkerung „vorweg Genüge zu tun" 4 6 , wäre deshalb eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht den Haftgrund der Tatschwere (§ 112 I I I StPO), der nach der gesetzgeberischen Intention diesem Ziel dienen sollte 47 , nur aufgrund einer den Willen des Gesetzgebers korrigierenden Auslegung 48 als verfassungsmäßig anerkannt 49 .
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Vgl. dazu 2. Kapitel I I I 2 b aa. Dies dürfte wohl allgemein anerkannt sein; vgl. ζ. B. Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 161; Mrozynski, Die Wirkung der Unschuldsvermutung auf spezialpräventive Zwecke des Strafrechts, JZ 1978, S. 255 ff. 45
(260). 46
So die Formulierung von Oppe, Der unbenannte Haftgrund des § 112 I V StPO, NJW 1966, S. 93 ff. (94), der dies ausdrücklich als ein legitimes Ziel strafprozessualer Maßnahmen ansieht. 47 Vgl. dazu die Nachweise zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift bei Dünnebier, Untersuchungshaft bei Verbrechen wider das Leben, NJW 1965, S. 231 ff. (232 f.); und Anagnostopoulos, Haftgründe der Tatschwere und der Wiederholungsgefahr, S. 19. 48 Zur Fragwürdigkeit dieses Verfahrens: Wendisch in: Löwe / Rosenberg, § 112 Rdn 52; sowie Deckers, Die Vorschrift des § 112 I I I StPO, sogenannter „Haftgrund der Tatschwere", AnwBl 1983, S. 420 ff. (421), der eine verfassungskonforme Auslegung des § 112 I I I StPO für nicht möglich hält. 49 BVerfGE 19, 342 (350).
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung
b) Die Ausnahme für Eingriffe mit Zustimmung des Beschuldigten - das Problem des § 153 a StPO Problematisch ist, ob das Verbot unmittelbar generalpräventiver Eingriffe auch für eine Inanspruchnahme mit Zustimmung des Beschuldigten gilt. Von Bedeutung ist diese Frage nicht nur für die Zulässigkeit eines vorläufigen Strafvollzugs, wie ihn eine Reihe von Kantonen in der Schweiz kennen 50 , sondern auch für die Beurteilung des § 153 a StPO; denn die in dieser Vorschrift vorgesehenen Auflagen 51 dienen der Befriedigung des öffentlichen Sanktionsinteresses und damit generalpräventiven Zwecken 52 . Theoretisch könnte eine Zustimmung des Beschuldigten zur Vornahme eines generalpräventiven Eingriffs in zweierlei Hinsicht von Bedeutung sein: zum einen als Verzicht auf die Unschuldsvermutung und zum anderen als unmittelbare Legitimation des Eingriffs selbst 53 . Da der einzelne auf das Erfordernis einer verfahrensmäßigen Schuldfeststellung nicht verzichten kann 54 , kommt nur der zweite Gesichtspunkt wirklich in Betracht. Die Frage ist, ob und inwieweit der Wille des Beschuldigten Eingriffe materiell rechtfertigen kann, so daß die Unschuldsvermutung als Verbot der Rechtfertigung mittels Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz gar nicht berührt wird. Bei der Lösung dieser Frage ist von der verfassungsrechtlichen Unterscheidung zwischen dem Grundrechtsverzicht mit Bindungswirkung für die Zukunft und einer frei widerruflichen Einwilligung in einen Grundrechtseingriff auszugehen55. Die Voraussetzungen für die Wirksamkeit eines Grundrechtsverzichts sind in den Einzelheiten sehr umstritten 56 . Einigkeit besteht jedoch darüber, daß 50 Dazu näher: Schubarth, Zur Rechtsnatur des vorläufigen Strafvollzugs, SchwZStr Bd. 96 (1979), S. 295 ff. 51 Zur Sonderstellung der Weisung nach § 153 a Abs. 1 Nr. 4 vgl. Kausch, Der Staatsanwalt - Ein Richter vor dem Richter?, S. 57 f. 52 Dies wird auch von Befürwortern der Regelung des § 153 a StPO nicht bestritten (vgl. ζ. B. Rieß in: Löwe / Rosenberg, § 153 a Rdn 8; Gössel, Überlegungen zur Bedeutung des Legalitätsprinzips im rechtsstaatlichen Strafverfahren, S. 138); zum Sanktionscharakter der Auflagen ausführlich: Kausch (wie Fn 51), S. 54 ff mwN. 53 In der Literatur werden diese beiden Gesichtspunkte manchmal vermengt, so daß dann (mißverständlich) von einer Verzichtbarkeit der Unschuldsvermutung die Rede ist (ζ. B. Trechsel, Struktur und Funktion der Vermutung der Schuldlosigkeit, SJZ 1981, S. 335 ff. (336)). 54 Selbstverständlich kann das Zustandekommen einer solchen Schuldfeststellung durchaus vom Willen des Beschuldigten abhängen (ζ. B. von der Einlegung eines Rechtsmittels). 55 Näher zu dieser Unterscheidung: Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsguts, S. 15 mwN. 56 Vgl. dazu z.B. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 92ff.; Pietzcker, Die Rechtsfigur des Grundrechtsverzichts, Der Staat Bd. 17 (1978), S. 527 ff.
I I I . Bedeutung des Verbots einer „strafähnlichen R e c h t f e r t i g u n g " 9 5
ein Verzicht nur in engen Grenzen zulässig ist und daß keinesfalls auf ein Grundrecht vollständig verzichtet werden kann 57 . Von daher läßt sich die Entziehung der Freiheit der Person sicherlich nicht mit einem Verzicht des Grundrechtsinhabers legitimieren 58 . Das bedeutet, daß ein vorläufiger Strafvollzug jedenfalls nur dann mit der Unschuldsvermutung vereinbar wäre, wenn bei Widerruf der Zustimmung des Beschuldigten seine sofortige Entlassung erfolgte. Mit dieser Maßgabe dürfte ein solches Rechtsinstitut aber kaum kriminalpolitisch sinnvoll sein 59 . Die Möglichkeit einer die materielle Rechtfertigung ersetzenden Einwilligung in Grundrechtseingriffe wird weitgehend anerkannt 60 . Voraussetzung für die rechtfertigende Wirkung ist, daß die Einwilligung freiwillig erfolgt 61 . Daran scheint es bei der Zustimmung zur Einstellung nach § 153 a StPO zu fehlen, da der Beschuldigte bei Erteilung dieser Zustimmung unter dem Druck steht, die Durch- bzw. Weiterführung des Strafverfahrens und die drohende Verurteilung abzuwenden62. In der Diskussion um den § 153 a StPO wird allerdings von den Befürwortern der Regelung darauf hingewiesen, daß es Fälle gibt, in denen eine unter Druck erteilte Einwilligung allgemein als wirksam angesehen wird. Als Beispiel führt Dreher 63 die Einwilligung des Verurteilten in die Erteilung bestimmter Weisungen zur Erlangung einer Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. §§ 56 c I I I , 183 I I I StGB) an. Ein noch krasseres Beispiel ist die Einwilligung in eine Kastration mit dem Ziel, eine ansonsten drohende Unterbringung abzuwenden ( § § 2 1 1 , I I , 3 I I KastrG) 64 . Die Besonderheit dieser Fälle besteht darin, daß die Einwilligung dazu dient, einen formell und materiell gerechtfertigten Grundrechtseingriff im Interesse des Betroffenen durch einen anderen Eingriff zu ersetzen. Die 57
Schwabe (wie Fn 56), S. 93; Pietzcker (wie Fn 56), S. 527 ff. (538); Amelung (wie Fn 55), S. 116. 58 Davon geht auch das Unterbringungsrecht der Länder aus, das für den Fall einer Unterbringung auf Antrag eine sofortige Entlassung bei Widerruf der Einwilligung vorsieht (z. B. § 6 I I des Baden-Württembergischen Gesetzes über die Unterbringung von Geisteskranken und Suchtkranken vom 16.5.1955 - GBl. S. 87). 59 Dazu: Schubarth, Zur Rechtsnatur des vorläufigen Strafvollzugs, SchwZStr Bd. 96 (1979), S. 295 ff. (301). In der Schweiz ist eine sofortige Entlassung im Falle des Widerrufs der Zustimmung offenbar nicht vorgesehen. 60 Vgl. ζ. B. Schwabe (wie Fn 56), S. 97; Amelung (wie Fn 55), S. 26 ff. Die Frage, ob durch eine wirksame Einwilligung bereits das Vorliegen eines Eingriffs ausgeschlossen (so Schwabe, aaO) oder ob der Eingriff nur gerechtfertigt ist (so Amelung, aaO, S. 25) kann hier dahingestellt bleiben. 61 Amelung (wie Fn 55), S. 79 ff mwN. 62 So ζ. B. Dencker, Die Bagatelldelikte im Entwurf eines EGStGB, JZ 1973, S. 144 ff. (149 f.); Kausch, Der Staatsanwalt - Ein Richter vor dem Richter?, S. 56 mwN. 63 Dreher, Die Behandlung der Bagatellkriminalität, S. 938. 64 Vgl. dazu Amelung (wie Fn 55), S. 112 f.
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung
eigentliche Eingriffsbefugnis ergibt sich in diesen Fällen also gar nicht aus der Einwilligung; die Einwilligung hat in der Sache keine eingriffsbegründende, sondern eine „eingriffsmildernde" Funktion 65 . Auf den ersten Blick scheint dies bei der Zustimmung nach § 153 a StPO nicht anders zu sein, dient sie doch dazu, die Belastung durch das Strafverfahren und eine Verurteilung zu vermeiden. Jedoch ist zu bedenken, daß aufgrund des Verbots der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz vor rechtskräftiger Verurteilung noch keine staatliche Befugnis zur Bestrafung besteht. Eine Einwilligung des Beschuldigten in einen generalpräventiven Eingriff hat daher allenfalls insoweit eingriffsmildernde Funktion, als es um die Abwendung der Belastung durch das Strafverfahren geht. Die mögliche Belastung durch die Strafe selbst hat aufgrund der Unschuldsvermutung außer Betracht zu bleiben. Daraus folgt, daß eine vor rechtskräftiger Verurteilung erteilte Einwilligung unwirksam ist, wenn sie unter dem Druck einer anderenfalls drohenden Bestrafung erfolgt, wenn also die vorgesehene Strafe schwerer wiegt als die Sanktion, zu deren Verhängung der Beschuldigte seine Zustimmung geben soll 66 . So ist es bei § 153 a StPO: Der Beschuldigte stimmt hier unter dem Druck einer drohenden formellen Bestrafung mit Strafregistereintragung und den sich daraus ergebenden Folgen der Verhängung einer milderen Sanktion zu.
Entgegen einer in der neueren Literatur verbreiteten Argumentation 67 läßt sich die rechtfertigende Wirkung der Zustimmung zur Einstellung nach § 153 a StPO auch nicht mit einer Parallele zu der Situation des Beschuldigten bei der Entscheidung über die Erhebung eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl begründen. Eine solche Parallele ist schon deshalb verfehlt, weil beim Strafbefehl nicht der Verzicht auf den Einspruch, sondern die infolge des Verzichts rechtskräftig werdende Schuldfeststellung die Sanktion materiell rechtfertigt. Im übrigen wird die Besonderheit der Zwangslage des Beschuldigten bei Erteilung der Zustimmung nach § 153 a StPO aber gerade dann besonders deutlich, wenn man diese Zustimmung als eine Art „Rechtsmittelverzicht" im weiteren Sinne auffaßt. Sie stellt dann nämlich den Verzicht auf einen Rechtsbehelf dar, für den nicht nur - wie für den Einspruch gegen einen Strafbefehl gemäß § 411 I V StPO - kein Verbot, sondern - bezüglich der Strafhöhe - ein „Gebot der reformatio in peius" gilt. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß die Zustimmung des Beschuldigten zur Einstellung des Verfahrens nach § 153 a StPO die materielle Rechtfertigung 65 Zur Unterscheidung zwischen der „gesetzesvertretenden" und der „eingriffsmildernden" Einwilligung vgl. Amelung (wie Fn 55), S. 105 ff. 66 Ist die nach Durchführung des Verfahrens vorgesehene Strafe genauso hoch oder gar milder, so geht nur ein Druck von der Belastung durch das Strafverfahren aus. 67 ζ. B. Herrmann, Diversion und Schlichtung in der Bundesrepublik Deutschland, ZStW Bd. 96 (1984), S. 455 ff. (471 f.); Rieß in: Löwe/Rosenberg, § 153 a Rdn 14.
I I I . Bedeutung des Verbots einer „strafähnlichen R e c h t f e r t i g u n g " 9 7
der Auflagen nicht zu ersetzen vermag. Im Grunde wird dies auch von den meisten, die Freiwilligkeit der Zustimmung nach § 153 a StPO behauptenden Befürwortern der Vorschrift anerkannt. Denn sie gehen davon aus, daß die Erfüllung der Auflagen dem Beschuldigten nur zugemutet werden darf, wenn seine Täterschaft zumindest wahrscheinlich 68 ist 69 . Neben der Einwilligung wird also doch der bestehende Tatverdacht als Zurechnungskriterium zur Rechtfertigung der Eingriffe herangezogen und damit das Verbot der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne rechtskräftige Verurteilung mißachtet. § 153 a StPO ist mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar 70 . 2. Die Bedeutung fur Eingriffe mit mittelbar generalpräventiver Zwecksetzung
Das Verbot der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz hat auch Bedeutung für die strafprozessualen Eingriffe zur Sicherung des Strafverfahrens. Diese Eingriffe haben zwar keine unmittelbar generalpräventive Zwecksetzung und können daher nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt werden. Sie dienen aber der Vorbereitung der Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz und sind deshalb unter Zurechnungsgesichtspunkten nicht anders zu behandeln als die Strafe selbst. Der der Einschränkung einer Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz zugrundeliegende Gedanke gilt für sie in gleicher Weise. Wenn der einzelne die Möglichkeit haben soll, eine Inanspruchnahme zur Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz durch sein Verhalten zu steuern, dann darf ihm auch das Interesse an vorbereitenden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nur auf68 Welcher Grad an Wahrscheinlichkeit vorliegen muß, ist umstritten. Nach einer im Vordringen befindlichen Ansicht (ζ. B. Schoreit in: Karlsruher Kommentar, § 153 a Rdn 16) reicht hinreichender Tatverdacht aus. Nach dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des § 153 a StPO wäre es aber wohl eher richtig, einen höheren Grad an Wahrscheinlichkeit oder sogar die Überzeugung von der Schuld des Beschuldigten zu verlangen (so ζ. B. Meyer-Goßner in: Löwe/Rosenberg (23. Aufl.). § 153 a Rdn 18; Hanack, Das Legalitätsprinzip und die Strafrechtsreform, S. 349). 69 So heißt es ζ. B. bei Rieß in: Löwe/Rosenberg, § 153 a Rdn 31: „Bevor dem Beschuldigten zugemutet werden kann, durch die Erfüllung der Auflagen und Weisungen eine ,Sanktion im weiteren Sinne4 zu erbringen, muß mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können, daß es im Falle der Weiterführung des Verfahrens nicht zu einer Verurteilung kommen würde". Ganz ähnliche Formulierungen finden sich bei Kleinknecht/Meyer, § 153 a Rdn 7; und Müller in: K M R § 153 a Rdn 2. Lediglich Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 74 f., vertritt die Auffassung, die Zustimmung des Beschuldigten sei die alleinige Legitimationsgrundlage der Auflagen. 70 So im Ergebnis schon Dencker, Die Bagatelldelikte im Entwurf eines EGStGB, JZ 1973, S. 144 ff. (150); Vogler, Fragen in der Spruchpraxis der Europäischen Kommission, ZStW Bd. 89 (1977), S. 761 ff. (786); Hirsch, Bagatellkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, ZStW Bd. 92 (1980), S. 218 ff. (233). Das Bundesverfassungsgericht ist allerdings in einem obiter dictum von der Verfassungsmäßigkeit des § 153 a StPO ausgegangen (BVerfGE 50, 205 (214)).
7 Frister
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung
grund ihm beherrschbarer Umstände, also aufgrund eines nachweislich schuldhaften Verhaltens zugerechnet werden. Das der verfahrensmäßigen Sicherung des Schuldprinzips dienende Verbot der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne rechtskräftige Verurteilung schließt deshalb auch die Zurechnung des Interesses an der Sicherung der Strafvollstreckung und der Durchführung des Strafverfahrens aus. Bezüglich des Interesses an der Verfahrensdurchführung wird dies allerdings in der Literatur bestritten. Vor allem Krauß 71 hat die Auffassung vertreten, daß für die Eingriffe zur Verfahrensdurchführung ein anderes Zurechnungskriterium gelte als für die Strafe selbst. Für die Zurechnung des Interesses an der Aufklärung einer Straftat reiche der auf pflichtgemäßer Überzeugung eines verständigen Beamten basierende Tatverdacht aus 72 . Begründet hat er diese Auffassung mit einer Parallele zur polizeilichen Gefahrenabwehr. Jede Straftat sei für die Rechtsordnung in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: vor ihrer Vollendung stelle sie als Bedrohung eines Rechtsguts eine polizeiliche Störung dar; danach sei die noch'ungesühnte Tat wegen ihrer die Strafzwecke in Frage stellenden Wirkung eine Gefährdung des Rechtsfriedens, die in einem weiteren Sinne gleichfalls als Störung bezeichnet werden könne 73 . Obwohl beide Störungen qualitativ so verschieden seien wie die Begriffe Rechtsgut und Rechtsordnung, stimmten die sie betreffenden Gesetzmäßigkeiten der Störungsabwehr grundsätzlich überein 74 . Eine Verhinderung oder Beseitigung der Störung erfolge durch Inanspruchnahme des Störers 74 . Im Polizeirecht sei dies diejenige Person, die polizeiwidrig eine Gefahr für ein Rechtsgut setze, im S traf recht sei es der Täter, von dem die Gefahr für den Rechtsfrieden ausgehe74. Der Begriff des Störers unterliege nun aber in beiden Rechtsgebieten einem Bedeutungswandel, je nachdem, in welchem Funktionszusammenhang er verwendet werde 75 : Nicht für jede polizeiliche Maßnahme sei es erforderlich, daß der als Störer Inanspruchgenommene „tatsächlich" eine Gefahr für ein Rechtsgut geschaffen habe 75 . Auf die „tatsächliche", ex post „eindeutig" zu beurteilende Sachlage komme es nur für die Frage an, wer im Ergebnis den Aufwand zur Beseitigung der Störung zu tragen habe 75 . Wo es um die Voraussetzungen eines 71 Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 167 ff. ; ihm folgend: Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 27; Mrozynski, Die Wirkung der Unschuldsvermutung auf spezialpräventive Zwecke des Strafrechts, JZ 1978, S. 255 ff. (256); Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 82; Rudolphi in: Systematischer Kommentar, StPO, Vor § 94 Rdn 10; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 222 f.. 72 Krauß (wie Fn 71), S. 170 f. 73 Krauß (wie Fn 71), S. 167 f. 74 Krauß (wie Fn 71), S. 168. 75 Krauß (wie Fn 71), S. 169.
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schnellen, unter Umständen durchaus vorläufigen Eingreifens gehe, sei derjenige Störer, der von einem verständigen Beamten nach pflichtgemäßer Prüfung für den Garanten der Gefahrenabwehr gehalten werde 76 . Als sogenannter 7 7 „Anscheinsstörer" habe er alle zur Störungsabwehr erforderlichen Maßnahmen - auch solche die über die Verdachtsklärung hinausgehen - zu dulden 78 . Für die strafrechtlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefährdungen des Rechtsfriedens gelte nichts anderes 79. Soweit es um die Verhängung der Strafe als der „endgültig" erforderlichen Maßnahme gehe, komme es auf die tatsächliche Sachlage an 79 . Für die - unter Umständen ebenfalls schnellen und vorläufigen - Maßnahmen zur Verdachtsklärung sei dagegen der auf pflichtgemäßer Überzeugung eines verständigen Beamten basierende Tatverdacht ein ausreichendes Zurechnungskriterium 80 . Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, daß die für die Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz (in der Terminologie von Krauß: Gefahren für den Rechtsfrieden) geltenden Gesetzmäßigkeiten in dem entscheidenden Punkt gerade nicht mit den Grundsätzen der polizeilichen Gefahrenabwehr übereinstimmen 81 : Im Polizeirecht gibt es kein Schuldprinzip; d.h. der einzelne hat dort ohnehin nicht die Möglichkeit, eine Inanspruchnahme durch Steuerung seines Verhaltens zu vermeiden. Das Problem einer Gewährleistung dieser Möglichkeit auch gegenüber vorbereitenden Maßnahmen der Gefahrenabwehr stellt sich dort also gar nicht. Abgesehen von diesem grundsätzlichen Einwand scheitert die Argumentation von Krauß auch daran, daß die Inanspruchnahme eines Verdächtigen im Strafverfahren allenfalls mit der Inanspruchnahme einer Person gleichgesetzt werden könnte, von der ein verständiger Polizeibeamter nach pflichtgemäßer Prüfung annimmt, sie sei möglicherweise Störer 82 . Eine solche Person wird im Polizeirecht gerade nicht als Anscheinsstörer angesehen, sondern darf nur als Nichtstörer in Anspruch genommen werden 83 . Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Ungewißheit über das Vorliegen der Störereigenschaft allein auf einer Ungewißheit bezüglich des Vorliegens einer 76
Krauß (wie Fn 71), S. 169 f. Krauß ist der Auffassung, daß der „Anscheinsstörer" strenggenommen gar keine eigenständige Kategorie sei, weil sich „Gefahr" und „Annahme einer Gefahr" gar nicht unterscheiden ließen. 78 Krauß (wie Fn 71), S. 169 f. 79 Krauß (wie Fn 71), S. 170. 8° Krauß (wie Fn 71), S. 170 f. 81 Dazu ausführlich: 2. Kap. I I 2 b bb. 82 Darauf hat bereits Burmann, Die Sicherungshaft gemäß § 453 c StPO, S. 31, hingewiesen. 83 Hoffmann-Riem, „Anscheinsgefahr" und „Anscheinsverursachung" im Polizeirecht, S. 337; Schwan, Identitätsfeststellung, Sistierung und Razzia, A ö R Bd. 101 (1976), S. 243 ff. (253); Sigrist, Probleme der Identitätsfeststellung und der polizeilichen Razzia nach dem Berliner ASOG, JR 1976, S. 397 ff. (398). 77
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung
Gefahr beruht 84 , also bei einem sogenannten „Gefahrenverdacht". In einem solchen Fall darf derjenige, der für die „mutmaßliche Gefahr" verantwortlich wäre, als Störer in Anspruch genommen werden, wobei nach ganz herrschender Meinung 85 auch endgültige Maßnahmen zur Abwehr der Gefahr zulässig sind, falls eine Aufklärung des Sachverhalts nicht oder nicht rechtzeitig möglich ist 86 . Die Grundsätze für die Behandlung des Gefahrenverdachts können aber auf die strafrechtliche Gefahrenabwehr keinesfalls übertragen werden. Dagegen spricht im. Ergebnis bereits, daß dann bei nicht aufklärbarem Sachverhalt auch Verdachtsstrafen zulässig sein müßten. Dogmatisch ist entscheidend, daß die Behandlung des Gefahrenverdachts im Polizeirecht - wie Krauß selbst darlegt 87 - darauf beruht, daß es wegen des prognostischen Charakters des Gefahrenurteils schon begrifflich nicht möglich ist, die Gefahr und den Gefahrenverdacht zu unterscheiden. Der Gefahrenverdacht ist in Wahrheit eine Gefahr, weil sich die zur begrifflichen Unterscheidung notwendige Trennung zwischen den gefahrbegründenden Tatsachen und der Gefahrprognose nicht durchführen läßt 88 . Für die strafrechtliche Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz stellt sich diese Problematik gar nicht, weil es zur Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit keiner Prognose bedarf. Der Kreis der gefahrbegründenden Tatsachen ist nicht wie im Polizeirecht prinzipiell offen, sondern durch die strafrechtlichen Tatbestände genau definiert; eine begriffliche Unterscheidung 84 Zur Verdeutlichung der Besonderheit dieser Fallgruppe seien zwei Beispiele angeführt: Die Inanspruchnahme einer Person A als Störer ist unzulässig, wenn die Polizei Gift im Rhein feststellt und lediglich vermutet, daß es von A eingeleitet wurde; sie ist dagegen nach h. M . zulässig, wenn die Polizei eine möglicherweise giftige Substanz im Rhein feststellt und sicher ist, daß A diese Substanz eingeleitet hat (dazu ausführlich: Hoffmann-Riem (wie Fn 83), S. 335 ff.). 85 BVerfGE 20, 351 (361); BVerwGE 12, 87 (92); 39, 190 (193 ff.); 45, 51 (58 ff.); BVerwG, NJW 1975, S. 2158 ff. ; Martens in: Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 327; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 M E Rdn 28; Hoffmann-Riem (wie Fn 83), S. 335; Schneider, Grundsätzliche Überlegungen zur polizeilichen Gefahr, DVB1 1980, S. 406 ff. (408); Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im technischen Sicherheitsrecht, S. 67. 86 Von einer Mindermeinung in der polizeirechtlichen Literatur wird im Anschluß an eine Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts (PrOVGE 77, 333 (338)) die Auffassung vertreten, daß im Falle eines Gefahrenverdachts nur Gefahrerforschungseingriffe und vorläufige Maßnahmen, aber keine endgültige Gefahrenabwehr zulässig sei (Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, S. 71; Wolff, Verwaltungsrecht I I I , § 125 Rdn 22). 87 Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 169 f. 88 Dazu ausführlich und sehr instruktiv: Schneider, Grundsätzliche Überlegungen zur polizeilichen Gefahr, DVB1 1980, S. 406 ff. mwN; zu der entsprechenden Problematik bei der Anwendung von § 34 StGB vgl. vor allem Schaffstein, Der Maßstab für das Gefahrenurteil beim rechtfertigenden Notstand, S. 89 ff.; Hirsch in: Leipziger Kommentar, § 34 Rdn 28 ff.; sowie Lenckner in: Schönke/Schröder, § 34 Rdn 13 f., der die Gegenansicht vertritt.
I I I . Bedeutung des Verbots einer „strafähnlichen Rechtfertigung"
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danach, ob diese Tatsachen wirklich vorliegen, oder ob nur ein dahingehender Verdacht besteht, bereitet keinerlei Schwierigkeiten. Selbst wenn die strafrechtliche Gefahrenabwehr grundsätzlich den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie die polizeirechtliche Gefahrenabwehr unterläge, müßte für sie deshalb die allgemeine Regel, nach der eine Person, die nur möglicherweise Störer ist, nur als Nichtstörer in Anspruch genommen werden kann, uneingeschränkt gelten. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, daß der Tatverdacht kein Zurechnungskriterium für die materielle Rechtfertigung der Eingriffe zur Durchführung des Strafverfahrens sein darf. Sowohl diese Eingriffe als auch die strafprozessualen Eingriffe zur Sicherung der Strafvollstreckung können deshalb nur nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt werden 89 . Welche Folgerungen sich daraus für die Zulässigkeit der Eingriffe ergeben, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein. 3. Die Bedeutung für sonstige Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten
Keine Bedeutung hat das Verbot der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne rechtskräftige Verurteilung für Eingriffe, die nicht dem Strafverfolgungsinteresse, sondern anderen, insbesondere präventiven Zwekken dienen. Denn solche Eingriffe können aufgrund der Zweckbindung von Zurechnungsprinzipien 90 ohnehin nicht mit der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz gerechtfertigt werden. Dies sei am Beispiel des oft als Verletzung der Unschuldsvermutung angesehenen91 Haftgrundes der Wiederholungsgefahr (§ 112 a StPO) näher erläutert: Dieser Haftgrund dient dem Ziel, die Gefahr von (weiteren) Straftaten des Verdächtigen abzuwenden. Die (möglicherweise) begangene Straftat ist nicht der Grund des Eingriffs, sondern nur ein Indiz für das Bestehen dieser Gefahr 92 . Da jedes Zurechnungskriterium nur eine erhöhte Duldungspflicht für solche Eingriffe begründet, die ihren Grund in dem Gegenstand der 89
Letzlich erkennt dies auch Krauß an, wenn er betont, daß die strafprozessualen Eingriffe so ausgestaltet sein müssen, daß die den Beschuldigten treffende Belastung im Falle eines Freispruchs ex post als gerade noch zumutbares Sonderopfer eines Unschuldigen angesehen werden könne (Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 176; ähnlich Haberstroh, Unschuldsvermutung und Rechtsfolgenausspruch, NStZ 1984, S. 289 ff. (290)). 90 Vgl. dazu im 4. Kap. I 2. 91 ζ. B. Klug, Rechtsstaatswidrige Vorbeugehaft, ZRP 1969, S. 1 f. (2); Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 175 mwN.; Wolter, Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen, ZStW Bd. 93 (1981), S. 452 ff. (485); vgl. auch Rudolphi, Strafprozeß im Umbruch, ZRP 1976, S. 165 ff. (170): der Haftgrund der Wiederholungsgefahr stehe „in einem gewissen Widerspruch" zur Unschuldsvermutung. 92 Dementsprechend wird bei § 112 a StPO allgemein von der „Anlaßtat" gesprochen (ζ. B. Wendisch in: Löwe/Rosenberg, § 112 a Rdn 15).
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7. Kap. : Begründung und Bedeutung der Unschuldsvermutung
Zurechnung haben 93 , dürfte also die Straftat, auch wenn sie rechtskräftig festgestellt wäre, kein Zurechnungskriterium für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr sein. Die Erwägung, einem Verdächtigen sei die Untersuchungshaft eher zuzumuten als einem Unschuldigen, wäre nicht erst aufgrund der Unschuldsvermutung, sondern schon deshalb verfassungswidrig, weil die Begehung der Straftat überhaupt nicht als Zurechnungskriterium zur Rechtfertigung dieses Eingriffs verwendet werden darf. Die Straftat kann nur als Indiz für die Gefährlichkeit des Inanspruchgenommenen herangezogen werden, und dies ist auch ohne rechtskräftige Verurteilung zulässig, da die Unschuldsvermutung - wie gezeigt94 - nicht allgemein die Verwertung des Tatverdachts ausschließt, sondern nur ein Verbot der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz begründet. Aus diesem Grund ist auch die Auffassung, die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr sei bereits aufgrund ihrer spezialpräventiven Zweckrichtung ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung 95 , nicht haltbar. Wäre sie richtig, so müßten im übrigen auch alle verwaltungsrechtlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der von einem noch nicht rechtskräftig Verurteilten ausgehenden Gefahr - ζ. B. die vorläufige Dienstenthebung eines Beamten nach § 91 BDO oder der Widerruf der Gaststättenerlaubnis nach § 15 I I GastG die Unschuldsvermutung verletzen, da eine solche Verletzung nicht davon abhängen kann, in welchem Gesetz die jeweilige Maßnahme geregelt ist 96 . Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, daß dies nicht etwa bedeutet, daß der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in jeder Hinsicht verfassungsrechtlich unproblematisch wäre. Eine Rechtfertigung dieses Haftgrundes nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses scheidet zumindest für die in § 112 a I Nr. 2 StPO aufgeführten Eigentums- und Vermögensstraftaten aus, da bei Außerachtlassung von Zurechnungserwägungen das Freiheitsinteresse des Beschuldigten nicht geringer bewertet werden kann als die durch diese Tatbestände geschützten reinen Vermögensinteressen. Die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr kann bei Vermögensstraftaten allenfalls wie die Maßregeln der Besserung und Sicherung mit der unbedingten Zurechnung des Interesses an der Abwehr der unmittelbar von dem Betroffenen ausgehenden Rechtsverletzungen 97 gerechtfertigt werden. In Anbetracht 93
Zur Begründung siehe 4. Kapitel I 2. Soeben unter I I 1. 95 So ζ. B. Wolter, Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen, ZStW Bd. 93 (1981), S. 452 ff. (485) mwN. 96 Die „Systemwidrigkeit" der Regelung der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr in der Strafprozeßordnung ist verfassungsrechtlich allenfalls im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz des Bundes problematisch. Aber eine solche Kompetenz wird man mit BVerfGE 19, 342 (350) kraft Sachzusammenhangs annehmen können (dazu Wendisch in: Löwe/Rosenberg, § 112 a Rdn 13). 94
I. Die Gewährleistung einer absoluten Opfergrenze
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der Tatsache, daß die Wiederholungsprognose aufgrund des Verdachts der Begehung von Straftaten mit besonderen Unsicherheiten belastet ist 9 8 , erscheint aber auch diese Rechtfertigungsmöglichkeit fragwürdig 99 . 8. Kapitel
Die Bedeutung der Unschuldsvermutung für die Inanspruchnahme des Beschuldigten zur Strafverfolgung im einzelnen Aus der Verpflichtung, die dem Strafverfolgungsinteresse dienenden Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten ohne Zurechnungserwägungen zu rechtfertigen, ergeben sich im einzelnen folgende Konsequenzen: Erstens sind die Eingriffe nur unter Einhaltung der für die Inanspruchnahme nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses geltenden 1 Opfergrenze zulässig; ihre Intensität darf - auch bei höchstem Strafverfolgungsinteresse - ein bestimmtes Maß nicht überschreiten (dazu unter I.). Zweitens darf die Verhältnismäßigkeit der Eingriffe nicht mit Zurechnungserwägungen begründet werden; die Eingriffe sind deshalb nur zulässig, wenn das Strafverfolgungsinteresse höherwertig ist als das in Anspruch genommene Rechtsgut (dazu unter II.). Drittens darf eine Differenzierung zwischen den Voraussetzungen für Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten und den Voraussetzungen für Eingriffe in die Rechte Nichtverdächtiger nicht mit Zurechnungserwägungen gerechtfertigt werden; eine stärkere Inanspruchnahme des Beschuldigten ist deshalb nur zulässig, wenn die Ungleichbehandlung mit einem höheren Strafverfolgungsinteresse legitimiert werden kann (dazu unter III.). Und viertens ist die Inanspruchnahme des Beschuldigten als ein prinzipiell entschädigungspflichtiges Sonderopfer 2 anzusehen (dazu unter IV.). I. Die Gewährleistung einer absoluten Opfergrenze Der Grundsatz, daß die Inanspruchnahme des Beschuldigten auch bei höchstem Strafverfolgungsinteresse ein bestimmtes Maß nicht überschreiten darf, 97
Vgl. dazu im 2. Kapitel I I I 2 b bb. Zur Problematik der Wiederholungsprognose vgl. ζ. Β . Ender, Zur erneuten Reform des Haftrechts - insbesondere-zur Vorbeugehaft, NJW 1969, S. 867 ff. (868). 99 Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings den Haftgrund der Wiederholungsgefahr auch für Taten nach § 243 StGB für verfassungsgemäß erklärt (BVerfGE 35, 185 (191)). 1 Vgl. dazu im 2. Kapitel unter I I I 2 b aa. 2 Vgl. dazu im 2. Kapitel unter I I I 2 b aa. 98
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
ist i n der L i t e r a t u r m i t unterschiedlichen Formulierungen bereits mehrfach aus der Unschuldsvermutung abgeleitet w o r d e n 3 . 1. Die Opfergrenze bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit Für Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit ist er i m Ergebnis heute allgemein anerkannt. Dies zeigt die Regelung des § 81 a I 2 StPO, nach der körperliche Eingriffe zur Feststellung verfahrenserheblicher
Tatsachen
nur dann zulässig sind, wenn keine Gesundheitsbeschädigung 4 zu befürchten ist 5 , und w i r d auch an den i n Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r entwickelten K r i terien für die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten deutlich. Nach allgemeiner Auffassung liegt Verhandlungsunfähigkeit nicht nur vor, wenn der Angeklagte der Verhandlung nicht mehr folgen kann, sondern ist selbst bei „schwerstem Schuldvorwurf" 6 auch dann anzunehmen, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung i n Anwesenheit des Beschuldigten m i t einer schwerwiegenden Gefährdung von dessen Gesundheit verbunden
wäre 7 .
Sofern nicht die Anwesenheit nach den §§ 231 a bis 233 StPO ausnahmsweise entbehrlich ist, m u ß i n diesen Fällen das V e r f a h r e n gegebenenfalls auch endgültig eingestellt u n d damit auf die Strafverfolgung gänzlich verzichtet werden.
3 So meint ζ. B. Schubarth, Maßnahmen gegen den Verdächtigen dürften in ihrer Intensität und Dauer nicht den Charakter einer Strafe erhalten (Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 28); Köster ist der Auffassung, dem Tatverdächtigen dürfe niemals ein Sonderopfer auferlegt werden (Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 175); und selbst Krauß vertritt - obwohl er eine besondere Duldungspflicht des Verdächtigen annimmt - die Ansicht, die den Verdächtigen treffende Belastung müsse im Falle eines Freispruchs ex post als noch zumutbares Sonderopfer eines Unschuldigen angesehen werden können (Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 176). 4 Schmerzen und andere vorübergehende Beeinträchtigungen sind nach herrschender Meinung nicht als gesundheitlicher Nachteil im Sinne des § 81 a I 2 StPO anzusehen (Kleinknecht / Meyer, Strafprozeßordnung, § 81 a Rdn 17). Ob deshalb auch die früher vieldiskutierten Eingriffe der Liquorentnahme und der Hirnkammerluftfüllung zur Aufklärung schwerwiegender Straftaten gerechtfertigt werden können (für die Liquorentnahme bejahend: BVerfGE 16, 194 (201); für die Hirnkammerluftfüllung offengelassen: BVerfGE 17, 108 (117)), ist heute nicht erst bei der Frage der Opfergrenze, sondern aufgrund der Möglichkeit einer Computer-Tomographie schon wegen der Verpflichtung zum Einsatz des mildesten Mittels problematisch (vgl. dazu: Ostertag / Sternsdorff, Die Computer-Tomographie, NJW 1977, S. 1482 ff. (1485 f.), aber auch die Erwiderung von Stöppler / Vogelsang, Zur Leistungsfähigkeit der ComputerTomographie, NJW 1978, S. 577 f.). 5 Zur verfassungsrechtlichen Begründetheit der absoluten Eingriffsgrenze bei § 81 a StPO: BVerfGE 16, 194 (201). 6 So wörtlich: BVerfGE 51, 324 (349). 7 Vgl. neben der soeben erwähnten Verfassungsgerichtsentscheidung ζ. B. Kleinknecht / Meyer, Strafprozeßordnung, Einl. Rdn 97; Treier in: Karlsruher Kommentar, § 205 Rdn 4.
I. Die Gewährleistung einer absoluten Opfergrenze
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2. Die Opfergrenze bei Freiheitsentziehungen
Für Freiheitsentzug ist das Bestehen einer Opfergrenze dagegen noch nicht allgemein anerkannt. Zwar wird in der Literatur - zum Teil unter ausdrücklicher Berufung auf die Unschuldsvermutung - schon seit längerem eine absolute Begrenzung der Untersuchungshaftdauer gefordert 8. In der Praxis konnte sich diese Forderung jedoch bisher nicht durchsetzen. Nach dem Ergebnis der vorliegenden Arbeit erweist sich eine absolute Begrenzung der Dauer der Untersuchungshaft als verfassungsrechtliche Notwendigkeit; denn zumindest langjähriger Freiheitsentzug, der die Lebensplanung des Betroffenen vereiteln und mitunter sogar zu Persönlichkeitsveränderungen führen kann 9 , läßt sich keinesfalls ohne Zurechnungsprinzip allein aufgrund eines überwiegenden öffentlichen Interesses rechtfertigen 10 . Da die Unschuldsvermutung bis zur rechtskräftigen Verurteilung gilt, muß auch die absolute Haftbegrenzung für die gesamte Dauer der Untersuchungshaft gelten. Eine Begrenzung für einzelne Verfahrensabschnitte mag zwar rechtspolitisch sinnvoll sein, ist aber zur Wahrung der Unschuldsvermutung weder ausreichend noch erforderlich. In der Diskussion um die Einführung absoluter Haftfristen wird dies oft nicht hinreichend beachtet. So sieht ζ. B. der Entwurf des Arbeitskreises Strafprozeßreform in § 22 nur eine Begrenzung der Dauer der Untersuchungshaft bis zum Beginn der Hauptverhandlung vor, obwohl die Notwendigkeit einer solchen Begrenzung mit der Unschuldsvermutung begründet wird 1 1 , und auch den in der Literatur unter Berufung 8 Mahler, Die Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer nach der Menschenrechtskonvention, NJW 1969, S. 353 ff. (355 f.); Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 176 f.; Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 181; Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 29; Wolter, Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen, ZStW Bd. 93 (1981), S. 452 ff. (455 und 458 f.); Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft - Gesetzentwurf mit Begründung, S. 113 f.; und zu diesem Entwurf: Schubarth, Die zeitliche Begrenzung von Untersuchungshaft, AnwBl 1984, S. 69 ff. (71). 9 Zu den psychischen Auswirkungen des Freiheitsentzugs vgl. vor allem die Sachverständigengutachten zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Freiheitsstrafe (BVerfGE 45,187 ff.) und die Untersuchung von Ohm, Persönlichkeitswandlungen unter Freiheitsentzug, die sich auf S. 1-64 speziell mit den Auswirkungen der Untersuchungshaft befaßt. 10 Vgl. dazu schon im 2. Kapitel unter I I I 2 b aa. 11 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft - Gesetzentwurf mit Begründung, S. 113. Die Verfasser wollen ihren Entwurf allerdings nicht als Stellungnahme gegen eine absolute Haftfrist bis zur rechtskräftigen Verurteilung verstanden wissen, sondern rechtfertigen die Beschränkung auf den Zeitraum vor der Hauptverhandlung mit der Erwägung, daß sich eine Begrenzung für die Zeit danach nur im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Hauptverhandlung erörtern lasse, die nicht Gegenstand ihres Entwurfs sei (aaO, S. 114). Bei der Vorstellung des Entwurfs auf dem Forum des Deutschen Anwaltsvereins hat Schubarth betont, daß eine Einbeziehung der Hauptverhandlung in die absolute Haftfrist in der Konsequenz der Gesamt-
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
auf die Unschuldsvermutung geforderten absoluten Haftfristen von 6 Monaten 1 2 und einem Jahr 13 dürfte die Vorstellung zugrundeliegen, daß diese Fristen nur für das Ermittlungsverfahren oder jedenfalls nur bis zur erstinstanzlichen Verurteilung gelten sollen. Eine Antwort auf die für die Bemessung der Haftfrist entscheidende Frage, ab welcher Dauer der Freiheitsentzug die Opfergrenze überschreitet, läßt sich - wie an anderer Stelle bereits erwähnt 14 - nicht begrifflich aus der Verfassung ableiten. Von daher ist dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber bei der Bestimmung der Höchstdauer der Untersuchungshaft ein erheblicher Ermessensspielraum einzuräumen. Jedoch darf seine Entscheidung das Verbot der uneingeschränkten Aufopferung des einzelnen zugunsten der Allgemeinheit nicht im Ergebnis aufheben. Ein Freiheitsentzug von 4 Jahren 15 erscheint mir als die äußerste Grenze dessen, was als Sonderopfer im Interesse der Allgemeinheit verfassungsrechtlich noch zu rechtfertigen ist. Auch bei dieser schon recht großzügig bemessenen Frist kann es selbst bei größten Anstrengungen zur Beschleunigung des Verfahrens insbesondere aufgrund erfolgreicher Revisionen dazu kommen, daß ein des Mordes oder anderer schwerer Delikte dringend Verdächtiger wegen Fristablaufs vor Rechtskraft des Urteils freigelassen werden muß und dadurch die Strafverfolgung vereitelt wird 1 6 . A n der verfassungsrechtlichen Beurteilung vermag dies jedoch nichts zu ändern. Denn das Verbot der uneingeschränkten Aufopferung des einzelnen besagt gerade, daß auch zur Wahrung des Strafverfolgungsinteresses erforderliche Maßnahmen nicht in jedem Fall zulässig sind 17 . Die Möglichkeit einer Vereitelung der Strafverfolgung ist mit der Anerkenkonzeption des Entwurfs liege (Schubarth, Die zeitliche Begrenzung von Untersuchungshaft, AnwBl 1984, S. 69 ff. (71)). 12 ζ. B. Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 175. 13 ζ. B. Wolter, Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen, ZStW Bd. 93 (1981), S. 452 ff. (455). 14 Vgl. 2. Kapitel I I I 2 b aa. 15 Rechtspolitisch wäre m.E. eine kürzere Frist wünschenswert. 16 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rechtsentwicklung in Italien, dem - soweit ersichtlich - einzigen Land, dessen Strafprozeßrecht absolute Fristen für die Untersuchungshaft bis zur rechtskräftigen Verurteilung vorsieht (vgl. die Übersicht bei Jescheck / Krümpelmann, Die Untersuchungshaft in rechts vergleichender Darstellung, S. 960 f.): Dort war ursprünglich eine absolute Höchstdauer der Untersuchungshaft von vier Jahren vorgesehen. Als dann mehrere Fälle auftraten, in denen der Angeklagte wegen Überschreitens der Höchstfrist freigelassen werden mußte, wurde im Zuge von Maßnahmen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität die Frist auf insgesamt mehr als 10 Jahre verlängert. Diese Regelung stieß jedoch auf heftige Kritik und wurde dann auch durch das Gesetz Nr. 398 vom 28.7.1984 teilweise wieder zurückgenommen. Seitdem gilt gemäß Art. 272 CPP eine Höchstfrist von insgesamt 5 1/2 Jahren für die Untersuchungshaft bis zur rechtskräftigen Verurteilung (vgl. zum Ganzen: Sgubbi, Das organisierte Verbrechen in Italien, SchwZStrR 1985, S. 241 ff. (247 ff.)). 17
Ähnlich schon Mahler, Die Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer nach der Menschenrechtskonvention, NJW 1969, S. 353 ff. (355 f.).
II. Das Erfordernis eines überwiegenden Eingriffsinteresses
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nung einer Opfergrenze notwendigerweise verbunden und muß zum Schutz der Freiheit des Beschuldigten genauso in Kauf genommen werden wie zum Schutz seiner Gesundheit. I I . Das Erfordernis eines überwiegenden Eingriffsinteresses Die Verpflichtung, die dem Strafverfolgungsinteresse dienenden Eingriffe nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses zu rechtfertigen, hat zur Folge, daß strafprozessuale Zwangsmaßnahmen nur dann zulässig sind, wenn das Strafverfolgungsinteresse höher zu bewerten ist als das beeinträchtigte Rechtsgut. Dieses Erfordernis steht in Widerspruch zu der Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch die Strafprozeßordnung und die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur, nach der nur zu prüfen ist, ob der Wert des betroffenen Rechtsguts „außer Verhältnis" zu dem Wert des Strafverfolgungsinteresses steht 18 , und ein Eingriff deshalb als verhältnismäßig anzusehen ist, wenn das ihm entgegenstehende Interesse nicht „wesentlich schwerer" 19 wiegt als das Strafverfolgungsinteresse. Der Widerspruch läßt sich jedoch auflösen, wenn zwischen der materiellen Abwägung selbst und der Frage ihrer Überprüfbarkeit durch den Rechtsanwender unterschieden wird. Die in Frage stehende Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stellt nämlich keine Modifizierung des materiellen Abwägungsmaßstabs aufgrund von Zurechnungserwägungen dar, wie schon die Tatsache zeigt, daß sie in gleicher Weise für Eingriffe in Rechte Nichtverdächtiger gilt 2 0 . Sie ist vielmehr als Einschränkung der Überprüfbarkeit der gesetzgeberischen Abwägung zu verstehen, die sich ohne Zurechnungserwägungen sachlich rechtfertigen und deshalb mit der Unschuldsvermutung vereinbaren läßt: Bei der Verhältnismäßigkeit der Eingriffsnormen ergibt sich diese Einschränkung daraus, daß die Abwägung verschiedenartiger Interessen nur begrenzt objektivierbar und deshalb in erster Linie von dem Gesetzgeber als demokratisch legitimiertem Organ vorzunehmen ist 21 . Eine verfassungsrechtliche Überprüfung der Abwägung kann sich lediglich auf die Vertretbarkeit beziehen, und damit kommt es stets nur darauf an, daß der Wert des in Anspruch genommenen Rechtsguts „nicht außer Verhältnis" zu dem Wert des mit dem Eingriff verfolgten öffentlichen Interesses 22 steht. 18 §§ 81 I I 2,112 I 2,120 I 1 2. HS StPO; BVerfGE 27, 211 (219); Pfeiffer in: Karlsruher Kommentar, Einl. Rdn 19, Sax in: K M R , Einl. I I Rdn 15; Kleinknecht / Meyer, Einl. Rdn 20. 19 So die Formulierung in BVerfGE 51, 324 (346). 20 § 163 b I I 2 1. HS StPO; BVerfGE 44, 353 (373 u. 378); BayOblG NJW 1979, S. 2624; ebenso der am 1.4.1987 inkraftgetretene § 163 d I 1 StPO. 21 Vgl. dazu näher 3. Kapitel I I 1 b.
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
Bei der Verhältnismäßigkeit des einzelnen Eingriffs erklärt sich die beschränkte Überprüfung aus der Tatsache, daß die abstrakte Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse und dem Interesse des Beschuldigten bereits vom Gesetzgeber bei der Formulierung der strafprozessualen Eingriff sgrundlagen vorzunehmen ist. Mit der Verabschiedung einer zu Eingriffen in die Rechte des Beschuldigten ermächtigenden Norm bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, daß in den durch diese Norm geregelten Fällen das Strafverfolgungsinteresse das Interesse des Beschuldigten regelmäßig überwiegt 23 . Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch den Rechtsanwender dient nur dazu, das Ergebnis der notwendigerweise abstrakten Interessenabwägung des Gesetzgebers darauf zu überprüfen, ob es auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls aufrechterhalten werden kann 24 . Von der Erfüllung der positiven gesetzlichen Voraussetzungen einer Eingriffsgrundlage geht deshalb eine Indizwirkung für ein Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses aus 25 , die nur dann aufgehoben wird, wenn ein Eingriff im Einzelfall „außer Verhältnis" zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des Tatverdachts steht. Es gibt allerdings auch strafprozessuale Ermächtigungsgrundlagen, bei denen - trotz des gesetzgeberischen Abwägungsspielraums - die Annahme einer von dem Vorliegen der positiven Eingriffsvoraussetzungen ausgehenden Indizwirkung für das Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses verfassungsrechtlich nicht möglich ist. Paradebeispiel für eine solche Vorschrift ist der § 81 a StPO 26 , der für Eingriffe in das hocheinzustufende Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit keinerlei Anforderungen an die das Strafverfolgungsinteresse bestimmenden Kriterien enthält: nach dem Gesetzeswortlaut ist weder eine bestimmte Schwere der Tat, noch ein bestimmter Verdachtsgrad, noch eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, daß der Eingriff zur Aufklärung der Tat beitragen wird, erforderlich. Wenn solche Normen schon nicht als verfassungswidrig angesehen werden 27 , so darf zumindest bei ihrer Anwendung die Beschränkung der Verhält22
Dementsprechend wendet das Bundesverfassungsgericht auch in seiner nicht strafprozessualen Rechtsprechung stets nur diesen Prüfungsmaßstab an; vgl. dazu die Rechtsprechungsanalyse von Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, NJW 1968, S. 1600 ff. (1604) mit Nachweisen in Fn 36 u. 37. 23 Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, S. 114 u. S. 117; für die entsprechende Problematik im Polizeirecht: Vogel in: Drews / Wacke / Vogel / Martens, Gefahrenabwehr, S. 392. 24 Ähnlich Degener (wie Fn 23), S. 117. 25 Degener (wie Fn 23), S. 117. 26 Ein weiteres - allerdings weniger krasses - Beispiel dürfte § 102 StPO sein. 27 Das Bundesverfassungsgericht (E 16, 194 (200 f.)) hat § 81 a StPO wegen des Korrektivs der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall für verfassungsgemäß erklärt. Degener weist gegenüber dieser Argumentation m.E. zu Recht darauf hin, daß der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall auf diese Weise leicht eine Alibifunktion zukommen kann. Vor allem in neuerer Zeit neigt - wie Degener an einer Reihe von
I I I . Verbot der
enachteiligung aufgrund von Zurechnungserwägungen
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nismäßigkeitsprüfung nicht eingreifen. Wegen des Fehlens der indizierenden W i r k u n g k a n n sich die Prüfung nicht auf die Frage beschränken, ob der E i n griff „außer Verhältnis" zu der Bedeutung der Sache u n d der Stärke des Tatverdachts steht, sondern muß den gesamten Abwägungsvorgang umfassen. D e r Rechtsanwender hat die v o m Gesetzgeber versäumte abstrakte A b w ä gung mitvorzunehmen u n d ausnahmsweise jeweils i m Einzelfall festzustellen, ob das Strafverfolgungsinteresse die Interessen des Beschuldigten überwiegt 2 8 .
I I I . Das Verbot der Benachteiligung des Beschuldigten aufgrund von Zurechnungserwägungen 1. Die Erörterung eines solchen Benachteiligungsverbotes in der Literatur Das V e r b o t , dem Beschuldigten aufgrund v o n Zurechnungserwägungen ein höheres M a ß an Rechtsgutsbeeinträchtigungen als einem Nichtverdächtigen zuzumuten, ist von Sax schon früh als Ausprägung der Unschuldsvermutung erkannt w o r d e n 2 9 . Gleichwohl ist ein solches V e r b o t heute nicht allgemein anerkannt. Z u m T e i l w i r d sogar die Geltung eines allgemeinen Grundsatzes behauptet, wonach dem Beschuldigten stets mehr zugemutet werden dürfe als einem Nichtverdächtigen 3 0 . Beispielen belegt - der Gesetzgeber dazu, im Vertrauen auf die einschränkende Wirkung des Verhältnismäßigkeitskorrektivs von gesetzlichen Einschränkungen der Zwangsbefugnisse der Strafverfolgungsorgane abzusehen. Die These Degeners, dies führe im Ergebnis zu einer Ausweitung der Zwangsbefugnisse, erscheint mir in hohem Maße plausibel (zum Ganzen näher: Degener, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, S. 185 ff.). 28 Ebenso neuerdings Dencker, Das „Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus", StrV 1987, S. 116 ff. (120). Bemerkenswerterweise findet sich in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu § 81 a StPO keine negative, sondern eine positive Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: der Eingriff müsse in „angemessenem Verhältnis" zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des Tatverdachts stehen (BVerfGE 16,194 (201); 17,108 (117)). Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß dies auf Zufall beruht. 29 Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 986; für den Spezialfall der Berichterstattung über Straftaten ihm folgend Wellbrock, Persönlichkeitsschutz und Kommunikationsfreiheit, S. 80: Zwischen dem Persönlichkeitsschutz des Beschuldigten und dem dritter Personen dürfe nicht differenziert werden, weil der Beschuldigte nicht vor rechtskräftiger Verurteilung als Täter behandelt werden dürfe. 30 Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 166; Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, S. 27; Mrozynski, Die Wirkung der Unschuldsvermutung auf spezialpräventive Zwecke des Strafrechts, JZ 1978, S. 255 ff. (256); Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 82; Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, S. 71; Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, S. 67; Hassemer, Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft, StrV 1984, S. 38 ff. (40); Lenckner, Der Grundsatz der Güterabwägung als Grundlage der Rechtfertigung, G A 1981, S. 295 ff. (298).
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
Den Ausführungen von Sax wird - soweit sie überhaupt Beachtung finden 31 - entgegengehalten, die Interpretation der Unschuldsvermutung als Gebot der Gleichbehandlung von Beschuldigten und Nichtverdächtigen laufe im Ergebnis darauf hinaus, den Differenzierungsverboten des Art. 3 I I u. I I I GG ein weiteres hinzuzufügen, das Verbot einer Berücksichtigung des Tatverdachts 32 . Dies sei schon deshalb nicht möglich, weil dann der Beschuldigte auch nicht günstiger behandelt werden dürfte als ein Nichtverdächtiger, wie dies z. B. bei der Frage der Aussagepflicht geschehe33. Außerdem spreche gegen eine solche Interpretation, daß dann auch die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Berücksichtigung der Stärke des Tatverdachts und der Schwere des Schuldvorwurfs als Limitierungsgesichtspunkte strafprozessualer Zwangsmittel mit der Unschuldsvermutung nicht zu vereinbaren wäre 34 . Diese Einwände verkennen die Bedeutung eines Verbots der Differenzierung aufgrund von Zurechnungserwägungen. Ein solches Verbot ist keinesfalls ein absolutes Differenzierungsverbot im Sinne des Art. 3 I I u. I I I GG: Absolute Differenzierungsverbote schließen die Verwendung bestimmter Merkmale als Differenzierungskriterien in jeder Hinsicht aus; in ihrem Anwendungsbereich kann nicht jeder sachliche Grund, sondern nur ein zwingendes Bedürfnis eine Ungleichbehandlung rechtfertigen 35 . Das aus der Unschuldsvermutung folgende Verbot der Differenzierung aufgrund von Zurechnungserwägungen bedeutet dagegen nur eine relative Beschränkung der Verwendung des Tatverdachts als Differenzierungskriterium. Soweit sich aus dem Tatverdacht irgendein nicht auf Zurechnungserwägungen beruhender sachlicher Grund für eine Differenzierung ergibt, darf er uneingeschränkt als Differenzierungskriterium verwendet werden. Deshalb ist es mit dem Differenzierungsverbot aufgrund von Zurechnungserwägungen natürlich vereinbar, bei der Frage der Aussagepflicht zwischen Beschuldigten und Zeugen zu differenzieren, und deshalb bedeutet es auch keineswegs eine Verletzung dieses Verbots, daß bei der Zulässigkeit strafprozessualer Zwangsmittel auf den Grad des Tatverdachts und die Schwere des Schuldvorwurfs abgestellt wird 3 6 ; denn von diesen Faktoren hängt ja - unab31 Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 81 a StPO mit den von Sax insoweit erhobenen Bedenken gegen die Gültigkeit dieser Vorschrift überhaupt nicht auseinandergesetzt (vgl. BVerfGE 16, 194 ff.). 32 Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, S. 166. 33 Krauß (wie Fn 32), S. 166; Burmann, Die Sicherungshaft gemäß § 453 c StPO, S. 21. 34 Krauß (wie Fn 32), S. 166; Burmann (wie Fn 33), S. 21. 3 5 BVerfGE 12, 59 (73); 15, 337 (343); Dürig in: Maunz / Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3 Rdn 1; Stein in: A K - G G , Art. 3 Rdn 85; Gubelt in: v. Münch, G G K , Art. 3 Rdn 79 f. 36 Die in der Literatur vereinzelt anzutreffende Auffassung, eine Berücksichtigung dieser Faktoren widerspreche der Unschuldsvermutung (so z. B. Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, S. 180; Trechsel, Struktur und Funktion der Vermutung der
I I I . Verbot der
enachteiligung aufgrund von Zurechnungserwägungen
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hängig von allen Zurechnungserwägungen - das Gewicht des Strafverfolgungsinteresses in erster Linie ab. 2. Der Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbots
Bei der Anwendung des Benachteiligungsverbots ist zwischen Grundrechtseingriffen, deren Zweck an die Person des Beschuldigten gebunden ist, und Grundrechtseingriffen mit einer von der Person des Beschuldigten unabhängigen Zwecksetzung zu unterscheiden. a) Die Eingriffe, deren Zweck an die Person des Beschuldigten gebunden ist Zu der ersten Gruppe gehören die Eingriffe zur Sicherung der Strafvollstreckung, die Eingriffe zur Feststellung der Identität des Beschuldigten und zur Sicherung seiner Anwesenheit am Verfahren sowie die Eingriffe zur Feststellung seiner Schuld- und Verhandlungsfähigkeit. Bei diesen Eingriffen ergibt sich aus der Natur der Sache, daß der Eingriffszweck am besten durch eine Inanspruchnahme des Beschuldigten erreicht werden kann. Dessen stärkere Belastung läßt sich deshalb stets sachlich rechtfertigen, so daß ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot von vornherein ausscheidet. Zur Klarstellung sei noch darauf hingewiesen, daß ein solcher Verstoß nicht etwa damit begründet werden kann, daß zur Feststellung der Identität eines Zeugen und zur Sicherung von dessen Anwesenheit am Verfahren weniger weitgehende Maßnahmen zugelassen sind. Die Person des Beschuldigten ist für das Strafverfahren von anderer Bedeutung als die eines Zeugen. Ohne den Beschuldigten kann überhaupt kein Verfahren stattfinden; auf einen Zeugen kann dagegen notfalls verzichtet werden, da gemäß §§ 261, 244 StPO das Gericht seine Überzeugung aufgrund der tatsächlich und rechtlich zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten zu bilden hat, eine Sachentscheidung also nicht voraussetzt, daß sämtliche theoretisch denkbaren Beweismittel herangezogen werden konnten. Die Existenz von Einzelfällen, in denen ohne einen bestimmten Zeugen eine Sachaufklärung überhaupt nicht möglich ist, ändert nichts an diesem prinzipiellen Unterschied, zumal nie ganz ausgeschlossen werden kann, daß sich noch nachträglich andere Beweismöglichkeiten ergeben.
Schuldlosigkeit, SJZ 1981, S. 335 ff. (336); Schütz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei strafprozessualen Maßnahmen, S. 81), beruht auf der unzutreffenden Interpretation der Unschuldsvermutung als strafrechtlicher Ausprägung einer „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen" (dazu soeben 7. Kap. I I 1).
112
8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
b) Die Bedeutung für die Eingriffe
zur Beweisführung
Die zweite Gruppe besteht aus den Eingriffen zur Gewinnung und Sicherung von Beweismitteln 37 . Bei diesen Eingriffen läßt sich nicht von vornherein sagen, daß der Eingriffszweck am besten durch eine Inanspruchnahme des Beschuldigten zu erreichen ist; als Beweismittel können die Person und die Rechtsgüter eines Nichtverdächtigen prinzipiell in gleicher Weise in Betracht kommen. Die zu Beweiszwecken vorgenommenen Grundrechtseingriffe bilden daher den eigentlichen Anwendungsbereich des ΒenachteiligungsVerbots. Bei ihnen ist jede stärkere Inanspruchnahme des Beschuldigten im einzelnen darauf zu überprüfen, ob sie mit einem nicht auf Zurechnungserwägungen beruhenden sachlichen Grund gerechtfertigt werden kann. Dies soll im folgenden Abschnitt geschehen. Vorab sei noch darauf hingewiesen, daß den Motiven des Gesetzgebers bei dieser Prüfung keine entscheidende Bedeutung zukommt. Eine bei objektiver Betrachtung sachlich zu rechtfertigende stärkere Inanspruchnahme des Beschuldigten ist auch dann verfassungsgemäß, wenn sie vom Gesetzgeber mit - der Unschuldsvermutung widersprechenden - Zurechnungserwägungen begründet wurde, da nur das Gesetz selbst, nicht aber die gesetzgeberischen Motive Gegenstand verfassungsrechtlicher Überprüfung sind 38 . 3. Überprüfung der Regelung der Eingriffe zur Beweisgewinnung und Beweissicherung in der Strafprozeßordnung auf die Vereinbarkeit mit dem Benachteiligungsverbot
In der Strafprozeßordnung sind als Eingriffe zur Beweisgewinnung und Beweissicherung vorgesehen: - körperliche Untersuchung und körperlicher Eingriff nach §§ 81 a, 81 c StPO (dazu unter a); - Beschlagnahme und Durchsuchung nach §§ 91,102 f. StPO (dazu unter b); - Postbeschlagnahme und Telefonüberwachung nach §§ 99,100 a StPO (dazu unter c); sowie - Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 I i.V.m. I I Nr. 3 StPO (dazu unter d). 37 Mit Ausnahme der Unterbringung zur Vorbereitung eines psychiatrischen Gutachtens nach § 81 StPO, da diese nur der Feststellung der Schuld- und Verhandlungsfähigkeit (bzw. für Maßregeln: der Gefährlichkeit) des Beschuldigten dient (Kleinknecht / Meyer, Strafprozeßordnung, § 81 Rdn 1) und damit an dessen Person gebunden ist. 38 Vgl. dazu näher die Erörterung der entsprechenden Problematik bei der Funktionsbestimmung von schuldunabhängigen Strafvoraussetzungen im 4. Kap. I 2 a.E.
I I I . Verbot der Β enachteiligung aufgrund von Zurechnungserwägungen
a) Körperliche Eingriff
113
Untersuchung und körperlicher nach §§ 81 ay 81 c StPO
aa) Körperliche Untersuchung Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten ist gemäß § 81 a I 1 StPO zur Feststellung aller verfahrenserheblichen Tatsachen zulässig, während ein Nichtverdächtiger gemäß § 81 c StPO nur zu bestimmten Zwecken untersucht werden darf, nämlich zur Feststellung der Abstammung sowie zur Feststellung der Tatsache, ob sich an seinem Körper eine bestimmte Spur oder Folge einer Straftat befindet. Dieser Unterschied beruhte dann auf Zurechnungsgesichtspunkten, wenn ihm die Erwägung zugrundeläge, einem Nichtverdächtigen sei eine körperliche Untersuchung nur bei einem erhöhten Strafverfolgungsinteresse zumutbar. Gegen eine solche Deutung des Gesetzes spricht jedoch die Tatsache, daß die bei Nichtverdächtigen zugelassenen Eingriffszwecke praktisch alle Fälle erfassen, in denen die körperliche Untersuchung eines Nichtverdächtigen der Strafverfolgung dienen kann. Die unterschiedliche Regelung der Eingriffszwecke läßt sich deshalb wohl einfach daraus erklären, daß der körperliche Zustand des Beschuldigten unter mehr Aspekten als der eines Nichtverdächtigen für das Strafverfahren von Bedeutung sein kann und ist von daher sachlich gerechtfertigt. Problematischer ist die Tatsache, daß das Gesetz nur für die Untersuchung eines Nichtverdächtigen verlangt, daß sie zur Erforschung der Wahrheit notwendig (§ 81 c I StPO) und dem Betroffenen bei Würdigung aller Umstände zumutbar ist (§ 81 c I V StPO). Sofern man diese Regelung als Gebot einer besonderen Zurückhaltung bei Untersuchungen Nichtverdächtiger versteht 39 , ist sie mit dem Benachteiligungsverbot nicht vereinbar; denn unterschiedliche Anforderungen an die Erforderlichkeit und Zumutbarkeit eines Grundrechtseingriffs lassen sich nur mit Zurechnungserwägungen erklären. Eine solche Interpretation ist jedoch nicht zwingend. Die Regelung kann auch als bloßer Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstanden werden, der körperliche Untersuchungen ohnehin nur dann zuläßt, wenn sie zur Durchführung des Verfahrens erforderlich sind und die Beeinträchtigung in angemessenem Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des Tatverdachts steht 40 . Mit dieser Maßgabe ist die Regelung der körperlichen Untersuchung mit dem Benachteiligungsverbot vereinbar.
39 So ζ. B. Becker, Blutentnahmepflicht im Prozeß, JR1953, S. 453; Dzendzalowski, Die körperliche Untersuchung, S. 97. «o BVerfGE 16, 194 ff.; 17, 108 ff.
8 Frister
114
8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
bb) Körperlicher Eingriff Eingriffe in die körperliche Integrität des Beschuldigten sind gemäß § 81 a I 2 StPO in der Regel zulässig, sofern keine gesundheitlichen Nachteile zu befürchten sind. Bei einem Nichtverdächtigen sind körperliche Eingriffe dagegen regelmäßig unzulässig; eine Ausnahme gilt nur für die Blutprobe, die gemäß § 81 c I I 1 StPO entnommen werden darf, wenn sie „zur Erforschung der Wahrheit unerläßlich" ist. Diese Ungleichbehandlung läßt sich nicht damit begründen, daß der körperliche Zustand des Beschuldigten unter mehr Aspekten als der eines Nichtverdächtigen für das Strafverfahren von Bedeutung sein kann; denn diese Tatsache vermag nur eine unterschiedliche Regelung der zulässigen Eingriffszwecke zu rechtfertigen, erklärt aber nicht, warum bei Nichtverdächtigen auch körperliche Eingriffe zur Feststellung der Spuren oder Folgen einer Straftat - in Betracht kämen ζ. B. Röntgenreihenuntersuchungen - regelmäßig unzulässig sind. Dies ließe sich nur rechtfertigen, wenn die körperlichen Eingriffe bei dem Beschuldigten nur zur Feststellung der Schuld- und Verhandlungsfähigkeit, also zur Beantwortung von Fragen, die allein für seine Person von Bedeutung sind, zugelassen wären. Da § 81 a StPO einen Eingriff jedoch zur Feststellung aller verfahrenserheblichen Tatsachen gestattet, ist die Differenzierung nur mit Zurechnungserwägungen zu erklären. Die Regelung der körperlichen Eingriffe in §§ 81 a, 81 c StPO ist daher - wie Sax bereits richtig erkannte 41 - mit dem aus der Unschuldsvermutung folgenden Benachteiligungsverbot nicht vereinbar.
b) Beschlagnahme und Durchsuchung nach §§ 94, 102 f. StPO Bei der Beschlagnahme von Beweismitteln gibt es keine Differenzierung zwischen den Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Beschuldigten und den Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Nichtverdächtigen. Die Beschlagnahme ist gemäß § 94 I I StPO bei jedem zulässig, der ein Beweismittel in Gewahrsam hat und nicht bereit ist, es freiwillig herauszugeben. Gleiches gilt für die in erster Linie der Durchsetzung der Beschlagnahme dienende Durchsuchung zur Sicherung bestimmter, den Ermittlungsbehörden bereits bekannter Beweismittel. Auch hier differenziert das Gesetz nicht nach dem Tatverdacht; denn gemäß § 103 I StPO ist auch bei Nichtverdächtigen eine Durchsuchung stets zulässig, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß
41
Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 986.
I I I . Verbot der Benachteiligung aufgrund von Zurechnungserwägungen
115
sich Spuren 42 oder bestimmte Gegenstände in den zu durchsuchenden Räumen befinden. Ein Unterschied besteht bei der Durchsuchung zur Ermittlung von Beweismitteln. Eine solche Durchsuchung ist bei einem Verdächtigen in der Regel zulässig; denn gemäß § 102 StPO reicht die Vermutung aus, daß die Durchsuchung zur Auffindung eines - zur Zeit der Anordnung noch unbestimmten Beweismittels führen werde 43 . Bei Nichtverdächtigen ist eine Ermittlungsdurchsuchung dagegen regelmäßig unzulässig; eine Ausnahme gilt gemäß § 103 I I StPO nur für Räume, in denen der Beschuldigte ergriffen worden ist oder die er während der Verfolgung betreten hat. In der Literatur wird diese Differenzierung zum Teil auf Zurechnungserwägungen zurückgeführt: dem Verdächtigen sei zur Aufklärung der Straftat eine größere Einbuße an Rechtswerten zuzumuten als einem Nichtverdächtigen 44 . Diese Interpretation vermag jedoch nicht zu erklären, warum bei einer Person, die in der eigenen Wohnung Opfer einer Straftat geworden ist oder deren Wohnung ein Straftäter bei seiner Flucht zufällig betreten hat, gemäß § 103 I I StPO unter den gleichen Voraussetzungen durchsucht werden darf wie bei einem Verdächtigen. Außerdem läßt sie sich nicht mit der allgemein anerkannten Auslegung 45 des § 102 StPO vereinbaren, nach der die Anwendung dieser Vorschrift nicht voraussetzt, daß der Verdächtige Inhaber des Hausrechts ist, sondern es sogar ausreicht, daß er eine Wohnung unbefugt benutzt. Die richtige Erklärung für die Differenzierung ergibt sich aus der Bedeutung des Tatverdachts als Prognoseindiz für die zur Rechtfertigung des Eingriffs erforderliche Auffindungswahrscheinlichkeit: Da bei der Ermittlungsdurchsuchung das gesuchte Beweismittel den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt ist, läßt sich die Auffindungswahrscheinlichkeit nicht aus einer Beziehung des Beweismittels zu den zu durchsuchenden Räumen oder deren Inhaber ableiten, so daß auf die allgemeinere Beziehung zwischen der Straftat und diesen Räumen zurückgegriffen werden muß. Von daher ist es sachgerecht, bei der Regelung der Zulässigkeit einer solchen Durchsuchung in erster Linie auf die Benutzung der Räume durch den Tat ver dächtigen abzustellen. Die Regelung der Durchsuchung in §§ 102, 103 StPO ist also mit dem Benachteiligungsverbot vereinbar.
42
Es muß sich auch um bestimmte Spuren handeln, da nicht erkennbar ist, warum für die Spuren etwas anderes als für Gegenstände gelten sollte (so zutreffend Müller in: K M R § 103 Rdn 5; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I I , § 103, Rdn 7). 43 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I I , § 102 Rdn 13; Meyer in: Löwe / Rosenberg (23. Aufl.), § 102 Rdn 20. 44 Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmelde Verkehrs, S. 71. 45 z. B. Kleinknecht / Meyer, Strafprozeßordnung, § 102 Rdn 7 mwN. 8*
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
c) Postbeschlagnahme und Telefonüberwachung nach §§ 99, 100 a StPO aa) Postbeschlagnahme Postsendungen und Telegramme, deren Adressat der Beschuldigte ist, können gemäß § 99 S. 1 StPO, 13 F A G zu Beweiszwecken beschlagnahmt werden; bei Nichtverdächtigen ist eine Postbeschlagnahme gemäß § 99 S. 2 StPO nur zulässig, wenn anzunehmen ist, daß die Postsendung Nachrichten enthält, die für den Beschuldigten bestimmt sind oder von ihm herrühren 46 . Welp erklärt auch diese Differenzierung damit, daß dem Verdächtigen zur Aufklärung der Straftat eine größere Einbuße an Rechtswerten zuzumuten sei als einem Nichtverdächtigen: nur gegenüber dem Verdächtigen und seinem Nachrichtenmittler sei die Postbeschlagnahme legitim; bei unbeteiligten, nicht verdächtigen Personen übersteige dieser Eingriff die Opfergrenze 47. Gegen diese Deutung spricht jedoch, daß die Zulässigkeit der Postbeschlagnahme nicht von der Bösgläubigkeit des Nachrichtenmittlers abhängt. Auch wenn dieser gar nicht weiß und auch nicht wissen kann, daß unter Benutzung seiner Anschrift Nachrichten für den Beschuldigten übermittelt werden, ist nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes eine Postbeschlagnahme zulässig. Denkbar wäre zum Beispiel, daß ein Beschuldigter den Briefkasten des Wochenendhauses eines Unbeteiligten als Deckadresse benutzt. Die an diese Adresse gerichtete Post darf dann beschlagnahmt werden, obwohl der Bewohner des Hauses hierzu keinerlei Veranlassung gegeben hat. Die richtige Erklärung für die Differenzierung zwischen Beschuldigten und Nichtverdächtigen ergibt sich auch hier nicht aus Zurechnungserwägungen, sondern aus der Bedeutung des Tatverdachts als Prognoseindiz für die zur Rechtfertigung des Eingriffs erforderliche Auffindungswahrscheinlichkeit. Mangels anderer Anhaltspunkte kann die Untersuchungsrelevanz des Inhalts einer Postsendung im wesentlichen48 nur danach beurteilt werden, in welcher Beziehung die an dem Postverkehr beteiligten Personen zu der Straftat stehen. Die aktive oder passive Beteiligung des Beschuldigten am Postverkehr begründet von daher noch die größte Wahrscheinlichkeit für die Untersu46 Obwohl sich der Wortlaut des § 99 S. 2 StPO auf die Postsendung als solche bezieht, ist es nach h.M. nicht erforderlich, daß sie „in corpore" für den Beschuldigten bestimmt ist oder von ihm herrührt (vgl. dazu Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmelde Verkehrs, S. 73 mwN). 47 Welp (wie Fn 46), S. 71 ff. 48 In aller Regel haben die Ermittlungsbehörden keine Kenntnis davon, daß bestimmte Gegenstände mit der Post verschickt werden. Ist dies im Einzelfall einmal anders, so besteht die Möglichkeit, den Gegenstand bereits vorher beim Absender oder nachher beim Empfänger zu beschlagnahmen, so daß es einer Postbeschlagnahme für diese Fälle nicht bedarf (vgl. dazu Welp (wie Fn 46), S. 87).
III. Verbot der
enachteiligung aufgrund von Zurechnungserwägungen
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chungsrelevanz des Inhalts der Postsendungen, so daß es sachgerecht ist, auf dieses Kriterium abzustellen. bb) Telefonüberwachung Bei der Telefonüberwachung differenziert das Gesetz nach dem gleichen Prinzip wie bei der Postbeschlagnahme. Gemäß § 100 a S. 1 StPO ist eine Überwachung des Anschlusses des Beschuldigten zulässig, wenn sich aus bestimmten Tatsachen der Verdacht einer Katalogtat ergibt und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Der Anschluß eines Nichtverdächtigen darf gemäß § 100 a S. 2 StPO nur überwacht werden, wenn anzunehmen ist, daß der Beschuldigte diesen Anschluß benutzt oder daß über den Anschluß Nachrichten für den Beschuldigten übermittelt werden. Auch diese Differenzierung beruht nicht auf Zurechnungserwägungen 49; denn auch die Untersuchungsrelevanz des Inhalts eines Telefongesprächs kann mangels anderer Anhaltspunkte nur aus einer Beziehung zwischen der Straftat und dem Telefonanschluß, über den das Gespräch geführt wird 5 0 , bzw. dessen Inhaber beurteilt werden, und aus dieser Beziehung ergibt sich noch die größte Wahrscheinlichkeit für eine Untersuchungsrelevanz des Gesprächsinhalts, wenn über den Anschluß Nachrichten von oder für den Beschuldigten übermittelt werden. Im Ergebnis ist also sowohl die Regelung der Postbeschlagnahme in § 99 StPO, als auch die Regelung der Telefonüberwachung in § 100 a StPO mit dem Benachteiligungsverbot vereinbar 51 . d) Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 I i.V. m. II Nr. 3 StPO Gemäß § 112 I i.V.m. I I Nr. 3 StPO darf der Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und sein Verhalten den dringenden Verdacht begründet, er werde die Ermittlung der Wahrheit durch in den lit. a-c des § 112 I I StPO im einzelnen beschrie49 Bei der Telefonüberwachung räumt auch Welp ein, daß eine Erklärung mit Zurechnungserwägungen zu Widersprüchen führt, weil gemäß § 100 a S. 2 StPO sogar öffentliche Telefonzellen, von denen ein Beschuldigter regelmäßig telefoniert, überwacht werden können (Welp (wie Fn 46), S. 76). 50 Für die Telefonüberwachung gilt dies in noch stärkerem Maße als für die Postbeschlagnahme, weil sich die Anordnung der Telefonüberwachung stets auf künftige Gespräche bezieht, deren Inhalt spontan bestimmt wird und daher den Ermittlungsbehörden im voraus gar nicht bekannt sein kann (dazu Welp (wie Fn 46), S. 89). 51 Entsprechendes gilt für die Auskunftserteilung über den Fernmeldeverkehr nach § 12 FAG.
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
bene, unzulässige Einwirkungen auf Beweismittel erschweren. Gegen einen Nichtverdächtigen ist die Untersuchungshaft dagegen niemals zulässig. Aus der Zweckrichtung des Zwangsmittels läßt sich diese unterschiedliche Behandlung nicht erklären, denn Verdunkelungshandlungen können auch von Seiten nicht verdächtiger Personen drohen 52 . Die Differenzierung wäre deshalb nur zu rechtfertigen, wenn die Beschuldigteneigenschaft - wie bei der Ermittlungsdurchsuchung und den Eingriffen in das Post- und Fernmeldegeheimnis - als gesetzliches Prognoseindiz aufgefaßt werden könnte. Zwischen der Auffindungsprognose bei diesen Eingriffen und der Verdunkelungsprognose bei der Untersuchungshaft besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied: Zur Begründung der Verdunkelungsprognose muß nicht - wie zur Begründung der Auffindungswahrscheinlichkeit bei den genannten Eingriffen - auf die sehr allgemeine Beziehung zwischen dem Eingriffsadressaten und der Straftat zurückgegriffen werden. Die zuverlässigste Verdunkelungsprognose ergibt sich vielmehr aus der Vornahme bzw. der Vorbereitung konkreter Verdunkelungshandlungen und ist insofern unabhängig davon, in welcher Beziehung die handelnde Person zu der aufzuklärenden Straftat steht. Dem besonderen Interesse des Beschuldigten an der Verdunkelung der Tat und dem Umstand, daß der Beschuldigte selbst für die Vornahme von Verdunkelungshandlungen nicht wegen Strafvereitelung bestraft werden kann, kommt auch im Vergleich zur Vornahme oder Vorbereitung konkreter Verdunkelungshandlungen durch einen Nichtverdächtigen eine deutlich schwächere Indizwirkung zu. Der Beschuldigteneigenschaft dürfte deshalb allenfalls 53 dann entscheidende Bedeutung beigemessen werden, wenn es noch nicht zu konkreten Handlungen gekommen ist, aus denen sich die Absicht der Verdunkelung ableiten läßt 54 . Für die Fälle, in denen solche Handlungen 52 Anders ist dies bei der Untersuchungshaft wegen Flucht oder Fluchtgefahr; hier ergibt sich die Rechtfertigung der Differenzierung bereits aus der Zweckrichtung (vgl. dazu soeben unter 2 a). 53 Die besondere Indizwirkung der Beschuldigteneigenschaft ist auch insoweit zweifelhaft: Die Straflosigkeit wegen Strafvereitelung dürfte praktisch kaum ins Gewicht fallen, weil die meisten Verdunkelungshandlungen ohnehin als Urkundsdelikte oder als Anstiftung bzw. Verleitung zur Falschaussage strafbar sind. Außerdem haben nahe Angehörige oft ein genauso hohes Interesse an der Verdunkelung der Tat und können gemäß § 258 V I StGB gleichfalls nicht wegen Strafvereitelung bestraft werden. 54 Das geltende Recht erlaubt auch in solchen Fällen eine Anordnung der Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr. Der Gesetzeswortlaut ist zwar insoweit nicht eindeutig, aber die Absicht des Gesetzgebers von 1972, den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gegenüber der einschränkenden Regelung des Strafprozeßänderungsgesetzes vom 19.12.1964 (vgl. zu dieser Regelung ζ. B.: Dahs, Untersuchungshaft wegen erkennbarer Absicht der Verdunkelung, NJW 1965, S. 889 ff.) wieder auszudehnen, läßt keine andere Auslegung zu (zur Entstehungsgeschichte: Wendisch in: Löwe / Rosenberg § 112 Rdn 42). Ob dies rechtspolitisch sinnvoll ist, sei hier dahingestellt (kritisch ζ. B. A K Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft - Gesetzentwurf mit Begründung, S. 69).
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enachteiligung aufgrund von Zurechnungserwägungen
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bereits vorgenommen wurden, läßt sich die alleinige Inanspruchnahme des Beschuldigten nicht aus der Bedeutung des Tatverdachts als Prognosekriterium erklären. Dies wird bei der Regelung des § 112 I I Nr. 3 c StPO ganz besonders deutlich. Dort ist ein Fall der Verdunkelungsgefahr durch nicht verdächtige Dritte berücksichtigt. Begegnet werden darf der Gefahr nach dieser Regelung nur durch Inhaftierung des Beschuldigten als potentiellem Anstifter. Ist es bereits zur Anstiftung gekommen, so darf der Angestiftete selbst dann nicht inhaftiert werden, wenn er sich zur Vornahme der Verdunkelungshandlungen bereit erklärt hat, obwohl die Verdunkelungsgefahr in diesem Fall - da die Sache schon weiter fortgeschritten ist - eher höher einzuschätzen sein dürfte. Die alleinige Inanspruchnahme des Beschuldigten bei der Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr läßt sich also nur mit Zurechnungserwägungen erklären und ist daher mit dem aus der Unschuldsvermutung folgenden Benachteiligungsverbot nicht vereinbar. 4. Ergebnis
Als Gesamtergebnis der vorstehenden Überlegungen ist jedoch festzuhalten, daß die Regelungen der strafprozessualen Eingriffe überwiegend mit dem Benachteiligungsverbot vereinbar sind. Ein allgemeines Prinzip, nach dem dem Beschuldigten stets mehr zugemutet würde als einem Nichtverdächtigen, läßt sich in der Strafprozeßordnung nicht nachweisen. Lediglich bei der Regelung der körperlichen Eingriffe und bei der Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr ist eine Verletzung des Benachteiligungsverbots festzustellen. Bei den körperlichen Eingriffen ließe sich diese Verletzung bereits dadurch beseitigen, daß andere Eingriffe als die Blutprobe nur zur Feststellung der Schuld- und Verhandlungsfähigkeit zugelassen würden. Praktisch hätte dies kaum Auswirkungen, da die Eingriffe bereits heute in aller Regel nur zu diesem Zweck vorgenommen werden 55 . Denn der vor allem in der älteren Literatur außerdem noch angeführte Zweck der Erlangung von in den Körper des Täters gelangten Beweismitteln 56 (ζ. B. eines verschluckten Diamanten oder der Kugel im Körper eines auf der Flucht angeschossenen Bankräubers) dürfte wohl nur von theoretischem Interesse sein. Gravierender sind die Konsequenzen für die Untersuchungshaft. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr muß entweder abgeschafft oder - zumindest für den Fall des Vorliegens konkreter Vorbereitungshandlungen zur Verdun55 Vgl. dazu die rechtstatsächliche Untersuchung von Dzendzalowski, Die körperliche Untersuchung, S. 50 ff., und die Übersicht bei Meyer in: Löwe / Rosenberg (23. Aufl.), § 81 a Rdn 33-51. 56 z. B. Eb. Schmidt, Lehrkommentar I I , § 81 a Rdn 7.
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
kelung - auch auf Nichtverdächtige ausgedehnt werden. Da ersteres kaum durchsetzbar sein dürfte, kommt es zu dem zunächst sicher befremdlichen Ergebnis, daß sich aus der Unschuldsvermutung die Notwendigkeit zu einer Erweiterung der strafprozessualen Zwangsbefugnisse ergibt. Der Struktur nach erinnert dieses Ergebnis an die bei den schuldunabhängigen Strafvoraussetzungen bestehende Möglichkeit, dem Schuldprinzip durch eine Erweiterung der Strafbarkeit Rechnung zu tragen. Bereits bei der Erörterung dieser Möglichkeit 57 wurde gezeigt, daß es nicht notwendigerweise einen Widerspruch bedeutet, wenn der Gesetzgeber einem dem Schutz des einzelnen dienenden Rechtsprinzip auch durch eine Erweiterung der Eingriffsbefugnisse genügen kann. Das gilt auch für das aus der Unschuldsvermutung folgende Benachteiligungsverbot. Dieses Verbot entfaltet zugunsten des Beschuldigten eine relative Schutzwirkung, indem es Eingriffe verbietet, wenn der Gesetzgeber nicht wirklich bereit ist, diese Eingriffe bei gleicher Sachlage einem Nichtverdächtigen zuzumuten. Auch bei der Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr könnte dieser Mechanismus durchaus wirksam werden. Die durch das Benachteiligungsverbot gebotene Erweiterung des Haftgrundes auf Nichtverdächtige wäre wahrscheinlich nur bei einer gleichzeitigen Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs, insbesondere der Einführung absoluter Höchstfristen für die Dauer der Haft 5 8 , politisch durchsetzbar. I V . Das Entschädigungsgebot Der Grundsatz, daß die Inanspruchnahme des Beschuldigten zur Strafverfolgung als ein prinzipiell entschädigungspflichtiges Sonderopfer anzusehen ist, wird in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt 59 . Auch der 57 Vgl. 4. Kapitel I 2. 58 Vgl. dazu ζ. B. den Vorschlag des A K Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft - Gesetzentwurf mit Begründung, S. 109 (§ 20). 59 ζ. Β. Β G H Z 72, 302 (305); Meyer, Strafrechtsentschädigung und Auslagenerstattung, Einl. Rdn 12 mwN.; Schätzler, Strafentschädigungsgesetz, Einl. Rdn 23. Dieser bislang allgemein akzeptierte Ausgangspunkt ist allerdings nach Fertigstellung der Arbeit durch Paeffgen grundsätzlich in Frage gestellt worden (Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 211 ff.). Paeffgen bestreitet den Sonderopfercharakter der Untersuchungshaft im wesentlichen mit zwei Argumenten. Erstens sei die Untersuchungshaft als Inanspruchnahme eines (Anscheins-) Verfahrensstörers anzusehen, da sie zur Durchsetzung prozessualer Pflichten des Beschuldigten erfolge und die Auferlegung dieser Pflichten zur Aufklärung des Tatverdachts ebensowenig ein Sonderopfer darstelle wie die Gefahrerforschung im Polizeirecht (aaO, S. 220 ff.). Und zweitens sei der Freiheitsentzug der Untersuchungshaft wesensgemäß, falle also nicht aus der „gesetzlichen Zwangstypik" heraus, was nach den „richterrechtlichen Aufopferungskriterien" Voraussetzung für die Annahme eines Sonderopfers sei (aaO, S. 224 ff.). Beide Argumente sind nicht überzeugend. Das erste beruht auf der in der vorliegenden Untersuchung bereits widerlegten Annahme einer Parallele zwi-
I V . Das Entschädigungsgebot
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Gesetzgeber hat diesem Grundsatz Rechnung getragen. Die Entschädigung des Beschuldigten für die finanzielle und zeitliche Belastung durch das Verfahren selbst erfolgt durch die Erstattung seiner notwendigen Auslagen nach den Regelungen der Strafprozeßordnung. Für Belastungen durch einzelne Strafverfolgungsmaßnahmen ist das Strafentschädigungsgesetz maßgeblich. Nach beiden Regelungskomplexen hängt das Bestehen eines Entschädigungsanspruchs wesentlich von dem Ergebnis des Strafverfahren ab.
1. Die Entschädigungsregelung nach einem Freisprach des Beschuldigten
Endet das Verfahren mit einem Freispruch oder mit der Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens, so steht dem Beschuldigten regelmäßig ein Entschädigungsanspruch zu. Mit einer Ausnahme lassen sich aile in diesem Fall anwendbaren Ausschluß- oder Versagungsgründe auf den bei Aufopferungs- und Enteignungsansprüchen allgemein zu berücksichtigenden 60 Gedanken des Mitverschuldens zurückführen und sind deshalb mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Im einzelnen handelt es sich dabei um die schuldhafte Säumnis61, den Verstoß gegen Haftauflagen 62 und die Veranlassung der Strafverfolgung durch Selbstanzeige63, falsche Einlassung64 oder anderweitiges vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten 65 . Verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist allerdings die nur im Strafentschädigungsgesetz vorgesehene Möglichkeit, eine Entschädigung auch dann zu versagen, wenn der Beschuldigte nur deshalb freigesprochen wurde, weil er im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt hat (§ 6 I Nr. 2 1. Alt. StrEG). Dieser Versagungsgrund ist nicht erst mit der Unschuldsvermutung, sondern sehen polizeilicher und strafrechtlicher Gefahrenabwehr (vgl. dazu 7. Kap. I I I 2), und dem zweiten ist entgegenzuhalten, daß das Kriterium der Zwangstypik von der Rechtsprechung nur zur Lösung gewisser Abgrenzungsfragen entwickelt wurde, einer Verallgemeinerung jedoch keinesfalls zugänglich ist. Dies zeigt sich sofort, wenn man versucht, dieses Kriterium auf den Bereich der Enteignung zu übertragen. Gerade die klassischen Enteignungsfälle, die Entziehung privaten Eigentums zur Verwirklichung öffentlicher Bauprojekte, wären dann nicht mehr als Sonderopfer anzusehen, da der Eingriff in das Eigentum diesen Maßnahmen ohne jeden Zweifel wesensgemäß ist. Mit derselben Logik, mit der Paeffgen das Risiko, in Untersuchungshaft genommen zu werden, als allgemeines, jeden gleich treffendes Risiko ansieht (aaO, S. 226 f.), könnte man auch das Risiko, daß das eigene Grundstück in öffentliche Planungen einbezogen wird, als jedermann gleich treffendes, allgemeines Lebensrisiko ansehen. 60 B G H Z 63, 209 (213); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 86 mwN. §§ 467 I I 2 StPO, 5 I I I StrEG. 62 § 5 I I I StrEG. 63 § 467 I I I 1 StPO. 64 §§ 467 I I I 2 Nr. 1 StPO, 6 I 1 Nr. 1 StrEG. 65 § 5 I I Nr. 1 StrEG.
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
schon mit dem Grundgedanken des Schuldprinzips nicht vereinbar. Denn die Begehung einer rechtswidrigen Tat durch einen Schuldunfähigen kann die Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz und damit auch die Zurechnung des Interesses an der Strafverfolgung selbst dann nicht rechtfertigen, wenn sie rechtskräftig festgestellt ist. Der angerichtete Schaden, der in der Literatur zur Rechtfertigung des Versagungsgrundes angeführt wird 6 6 , hat mit der Strafverfolgung nichts zu tun und vermag den Ausschluß der Entschädigung daher gleichfalls nicht zu legitimieren. 2. Die Entschädigungsregelung nach einer Einstellung des Verfahrens
Endet das Strafverfahren mit einer Einstellung wegen Gesetzesänderung nach § 206 b StPO, so wird der Beschuldigte wie bei einem Freispruch entschädigt67. Im übrigen gelten für das Bestehen des Entschädigungsanspruchs im Falle einer Einstellung des Verfahrens jedoch einschränkende Voraussetzungen. a) Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses Bei der Einstellung aufgrund eines Verfahrenshindernisses kann die Entschädigung versagt werden, wenn der Beschuldigte nur wegen des Verfahrenshindernisses nicht verurteilt worden ist (§§ 467 I I I 2 Nr. 2 StPO, 6 I Nr. 2 2. Alt. StrEG). Die Rechtsprechung und die herrschende Lehre legen diese Vorschriften entsprechend ihrem Wortlaut („nur") dahingehend aus, daß die Schuld des Beschuldigten feststehen muß 68 . Der Grund für die Möglichkeit, die Entschädigung zu versagen, besteht danach in der Erwägung, daß dem Beschuldigten das Strafverfolgungsinteresse zuzurechnen ist, weil er die Straftat begangen hat. Diese Erwägung läßt sich mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbaren: Durch eine gerichtliche Schuldfeststellung in einer Nebenentscheidung wird das Verbot der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz nicht auf66 Meyer, Strafrechtsentschädigung und Auslagenerstattung, § 6 Rdn 25; Schätzler, Strafentschädigungsgesetz, § 6 Rdn 16; Boing, Das Recht des Beschuldigten auf Entschädigung für unschuldig erlittene Haft, Beiheft der ZStW 1974, S. 73 ff. (86). 67 Auf die Einstellung nach § 206 b StPO sind die §§ 467 I I I 2 Nr. 2 StPO, 6 I Nr. 2 2. Alt. StrEG nach allgemeiner Meinung nicht entsprechend anwendbar (Schikora in: Karlsruher Kommentar, § 467 Rdn 10; Kleinknecht / Meyer, Strafprozeßordnung, § 467 Rdn 17, Meyer, Strafrechtsentschädigung und Auslagenerstattung, § 6 Rdn 32). 68 ζ. B. BGHSt 29, 168 (171); O L G Hamm, NJW 1986, S. 734 f. (735); Schäfer in: Löwe / Rosenberg, (23. Aufl.), § 467 Rdn 56; Schikor a in: Karlsruher Kommentar, § 467 Rdn 10; Kleinknecht / Meyer, Strafprozeßordnung, § 467 Rdn 16; Schätzler, Strafentschädigungsgesetz, § 6 Rdn 19; Meyer, Strafrechtsentschädigung und Auslagenerstattung, § 6 Rdn 25.
I V . Das Entschädigungsgebot
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gehoben. Eine Widerlegung der Unschuldsvermutung ist nur durch die auf der Grundlage eines vollständig durchgeführten Strafverfahrens gewonnene Überzeugung des Gerichts und damit nur durch eine rechtskräftige Verurteilung möglich 69 . Gerade bei Vorliegen eines Verfahrenshindernisses wird besonders deutlich, daß es entscheidend darauf ankommt, auf welcher Grundlage das Gericht seine Überzeugung gewonnen hat. Denn es gibt Verfahrenshindernisse, denen gerade der Gedanke einer Gefährdung der Wahrheitsfindung zugrundeliegt. So beruht z.B. das Erfordernis der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten sicherlich auch 70 auf der Erwägung, daß die Zuverlässigkeit der Schuldfeststellung in Frage gestellt ist, wenn der Angeklagte körperlich oder geistig nicht in der Lage ist, seine prozessualen Rechte wahrzunehmen. Zur Vermeidung einer Verletzung der Unschuldsvermutung haben Liemersdorf und Miebach eine andere Auslegung der §§ 467 I I I 2 Nr. 2 StPO, 6 I Nr. 2 2. Alt. StrEG vorgeschlagen. Die Anwendung dieser Vorschriften soll danach lediglich voraussetzen, daß die Unschuld des Beschuldigten nicht positiv festgestellt ist 71 . Dies ergäbe nur dann einen Sinn, wenn die Verletzung der Unschuldsvermutung allein darin bestünde, daß die Begründung der Auslagen· bzw. Entschädigungsentscheidung eine ausdrückliche Schuldfeststellung enthält 72 . Da aber nicht die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Schuld- oder Verdachtserwägungen, sondern die Versagung der Entschädigung aufgrund der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz den Verstoß gegen die Unschuldsvermutung begründet, wird die Verletzung dieses Verfassungsgrundsatzes durch die von Liemersdorf und Miebach vorgeschlagene Auslegung sogar noch intensiviert. Kühl ist der Auffassung, die Unschuldsvermutung könne dadurch gewahrt werden, daß bei Anwendung der §§ 467 I I 2 Nr. 2 StPO, 6 I Nr. 2 2. Alt. StrEG auf Schuld- und Verdachtserwägungen gänzlich verzichtet werde 73 . Als 69 So auch Kühl, Haftentschädigung und Unschuldsvermutung, NJW 1980, S. 806 ff. (809); derselbe, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 129 ff.; Haberstroh, Unschuldsvermutung und Rechtsfolgenausspruch, NStZ 1984, S. 289 ff. (294); Peukert in: Fro wein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 6 Rdn 111; ausdrücklich a.A. O L G Hamm, NJW 1986, S. 734 f. (735). 70 Daneben spielt auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs eine wesentliche Rolle. 71 Liemersdorf / Miebach, Strafprozessuale Kostenentscheidungen im Widerspruch zur Unschuldsvermutung, NJW 1980, S. 371 ff. (373). 72 So im Anschluß an einige ältere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Liemersdorf ! Miebach (wie Fn 71), S. 371 ff. Im Fall Minelli hat der Europäische Gerichtshof allerdings nunmehr zu erkennen gegeben, daß er die ausdrückliche Begründung nicht für entscheidend hält. Für eine Verletzung des Art. 6 I I M R K reiche es aus, wenn „schlüssige Beweisstücke" zeigten, daß eine Kostenentscheidung auf Schulderwägungen beruht. (EuGHMR, EuGRZ 1983, S. 475 ff. (479)). 73 Kühl, Der Tod des Beschuldigten oder Angeklagten während des Strafverfahrens, NJW 1978, S. 977 ff. (980); derselbe, Haftentschädigung und Unschuldsvermutung, NJW 1980, S. 806 ff. (808 f.); derselbe, Anmerkung zu O L G Frankfurt - 2 Ws 90/80 - ,
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
Entscheidungskriterien schlägt er stattdessen das Prozeßverhalten des Beschuldigten, den Zeitpunkt des Eintritts des Verfahrenshindernisses und die Verantwortlichkeit für dessen Entstehen vor 7 4 , ohne allerdings näher zu erläutern, wie diese Kriterien angewendet und aus welchem Grund sie geeignet sein sollen, die Versagung der Entschädigung zu rechtfertigen. Diese Zurückhaltung dürfte darin begründet liegen, daß auch Kühl von der Vorstellung ausgeht, die Unschuldsvermutung könne nur durch die ausdrückliche Begründung einer Auslagen- oder Entschädigungsentscheidung verletzt werden 75 . Denn wenn diese Vorstellung zuträfe, käme es zur Wahrung der Unschuldsvermutung nur darauf an, bei Anwendung des Gesetzes nicht auf Schuld- oder Verdachtserwägungen abzustellen. Die Frage, ob die gesetzliche Regelung selbst auf solchen Erwägungen beruht, wäre dann ohne Bedeutung. Bei richtigem Verständnis der Unschuldsvermutung kommt es aber gerade auf diese Frage entscheidend an. Die §§ 467 I I 2 Nr. 2 StPO, 6 I Nr. 2 2. Alt. StrEG sind mit dem Verbot, die Entschädigung aufgrund einer Zurechnung des Strafverfolgungsinteresses zu versagen, nur dann vereinbar, wenn die in ihnen geregelte Versagungsmöglichkeit auf andere Weise gerechtfertigt werden kann. Aus dem von Kühl als Entscheidungskriterium vorgeschlagenen Zeitpunkt des Eintritts des Verfahrenshindernisses läßt sich eine solche Rechtfertigung sicherlich nicht ableiten. Auch das Prozeßverhalten des Beschuldigten kann dafür nicht herangezogen werden, da es bereits durch die allgemeinen, auch im Fall eines Freispruchs geltenden Versagungsgründe berücksichtigt wird und es keinen Grund dafür gibt, ihm im Fall einer Einstellung des Verfahrens darüberhinausgehende Bedeutung beizumessen. Übrig bleibt also nur der dritte von Kühl genannte Gesichtspunkt, die Verantwortlichkeit des Beschuldigten für den Eintritt eines Verfahrenshindernisses. Ob dieses, insbesondere wegen der schwierigen Abgrenzung zu legitimem Prozeßverhalten sehr problematische Kriterium wirklich geeignet wäre, die Versagung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Entschädigungsanspruchs zu rechtfertigen, braucht im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht entNStZ 1981, S. 114 f.; derselbe, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 122 ff.; derselbe, Unschuldsvermutung und Einstellung des Strafverfahrens, NJW 1984, S. 1264 ff. (1267 f.). 74 Kühl, Anmerkung zu O L G Frankfurt - 2 Ws 90/80 - , NStZ 1981, S. 114 f.; derselbe, Unschuldsvermutung, Freisprach und Einstellung, S. 128. 75 Ganz eindeutig ist die Position von Kühl insoweit allerdings nicht. In der Regel stellt er zwar entsprechend seiner dogmatischen Konzeption der Unschuldsvermutung als besonderer Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts allein auf die Begründung der Entscheidungen ab (ζ. B.: Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 120); es gibt aber,auch einige Äußerungen, die den Eindruck vermitteln, daß er eine vermögensrechtliche Schlechterstellung aufgrund des fortbestehenden Verdachts gleichfalls als unzulässig ansieht (ζ. B. Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 125 f.).
I V . Das Entschädigungsgebot
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schieden zu werden. Denn die §§ 467 I I I 2 Nr. 2 StPO, 6 1 2 2. Alt. StrEG lassen sich auch im Wege einer verfassungskonformen Auslegung nicht dahingehend interpretieren, daß es für die Versagung der Entschädigung allein auf eine - wie auch immer geartete - Verantwortlichkeit des Beschuldigten für den Eintritt des Verfahrenshindernisses ankäme. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt 76 , findet jede verfassungskonforme Auslegung ihre Grenze dort, wo sie zu dem Wortlaut des Gesetzes und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch träte. Der Gesetzgeber wollte mit den in Frage stehenden Regelungen nur eine Versagungsmöglichkeit für die Fälle schaffen, in denen ohne den Eintritt des Verfahrenshindernisses eine Verurteilung zu erwarten gewesen wäre 77 , und hat dies durch die Verwendung des Wortes „nur" im Wortlaut der Vorschriften auch eindeutig zum Ausdruck gebracht. Die Verfassungswidrigkeit einer solchen Regelung berechtigt den Recht san wender nicht dazu, mit der Verantwortlichkeit für den Eintritt des Verfahrenshindernisses ein völlig anderes Kriterium an die Stelle der Verurteilungswahrscheinlichkeit zu setzen. Die Einführung neuer Versagungsgründe ist Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 467 I I I 2 Nr. 2 StPO, 6 I Nr. 2 2. Alt. StrEG scheidet daher aus. Die durch diese Vorschriften eingeräumte Möglichkeit zu einer Versagung der Entschädigung bei der Einstellung aufgrund eines Verfahrenshindernisses verletzt die Unschuldsvermutung. b) Einstellung nach einer Ermessensvorschrift Bei einer Einstellung des Verfahrens aufgrund einer Ermessensentscheidung hat der Beschuldigte keinen Entschädigungsanspruch. Sofern die Einstellung nicht nach § 153 a StPO erfolgt ist, können ihm allerdings seine notwendigen Auslagen erstattet werden (§§ 467 I V , V StPO). Auch kann - selbst bei einer Einstellung nach § 153 a StPO - Entschädigung nach dem Strafentschädigungsgesetz gewährt werden, wenn dies der Billigkeit entspricht (§ 3 StrEG). In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob bei der Entscheidung über die Billigkeit und bei der Ermessensausübung Schuld- oder Verdachtserwägungen zu berücksichtigen sind. Vor allem die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte geht davon aus, daß diesen Erwägungen entscheidende Bedeu76
Im 4. Kap. unter I I 5 a.E. Die Regelung wurde vom Berichterstatter des Vermittlungsausschusses mit der Erwägung begründet, die Bevölkerung würde es nicht verstehen, wenn der Staat einem „Verbrecher" der nur aus „rein formellen Gründen" nicht verurteilt werden könne, auch noch die Anwaltskosten bezahlen müßte (BT-Prot. V , S. 9249 f.). 77
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
tung zukommen muß 78 . Ohne ein Abstellen auf die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung sei eine sinnvolle Anwendung des Gesetzes nicht möglich 79 . In der neueren Literatur ist dagegen als Reaktion auf einige Entscheidungen der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 80 , die Auffassung im Vordringen, daß Schuld- oder Verdachtserwägungen keine Rolle spielen dürften 81 . Stattdessen könne auf das prozessuale Verhalten des Beschuldigten, ζ. B. auf bewußte Verfahrensverzögerungen, Verdunkelungshandlungen, wahrheitswidrige Angaben oder die mißbräuchliche Ausnutzung von Verfahrensrechten, abgestellt werden 82 . Nach dem Ergebnis der vorstehenden Erörterungen kommt es auf diese Frage nicht entscheidend an. Die Regelung der Entschädigung bei Einstellungen aufgrund von Ermessensentscheidungen verletzt auch dann die Unschuldsvermutung, wenn bei der Entscheidung im Einzelfall nicht auf Schuld- oder Verdachtserwägungen abgestellt wird, weil schon die Versagung des Entschädigungsanspruchs durch den Gesetzgeber auf solchen Erwägungen beruht 83 . Denn das prozessuale Verhalten allein könnte die Versagung nur in gleichem Maße wie bei einem Freispruch rechtfertigen. Auch soweit zur Einstellung des Verfahrens die Zustimmung des Beschuldigten erforderlich ist, läßt sich die Versagung des Entschädigungsanspruchs 78 ζ. B. O L G Hamm, NJW 1969, S. 1448; O L G Frankfurt, NJW 1980, S. 2031; aus der Literatur ζ. B. Schäfer in: Löwe / Rosenberg (23. Aufl.), § 467 Rdn 67; Schikor a in: Karlsruher Kommentar, § 467 Rdn 11; Schätzler, Strafentschädigungsgesetz, § 3 Rdn 17. 79 O L G Frankfurt, NJW 1980, S. 2031. 80 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat allerdings bisher nur positive Schuldfeststellungen, nicht aber bloße Verdachtserwägungen als Verletzung des Art. 6 I I M R K angesehen (EuGHMR, EuGRZ 1982, S. 297 ff. (Fall Adolf) und EuGRZ 1983, S. 475 ff. (Fall Minelli)). Die Europäische Kommission hat wohl neuerdings auch Beschwerden gegen Einstellungsbescheide, die nur Verdachtserwägungen enthielten, für zulässig erklärt (vgl. die Berichte in EuGRZ 1985, S. 48, S. 80 und S. 556). Der Gerichtshof hat diese allerdings nunmehr (nach Drucklegung der Arbeit) als unbegründet zurückgewiesen (EuGHMR, EuGRZ 1987, S. 399ff.). 81 Kleinknecht / Meyer, Strafprozeßordnung, § 467 Rdn 19; Rieß in: Löwe / Rosenberg, § 153 Rdn 77 mwN; Liemersdorf / Miebach, Strafprozessuale Kostenentscheidungen im Widerspruch zur Unschuldsvermutung, NJW 1980, S. 371 ff. (374); Kühl, Zur Beurteilung der Unschuldsvermutung bei Einstellung und Kostenentscheidungen, JR 1978, S. 94 ff. (98); derselbe, Haftentschädigung und Unschuldsvermutung, NJW 1980, S. 806 ff. (808 f.); derselbe, Die Auslagen des Nebenklägers bei Einstellung des Verfahrens, NJW 1980, S. 1834 f. (1835); derselbe, Anmerkung zu O L G Frankfurt - 2 Ws 90/80 - , NStZ 1981, S. 114 f.; derselbe, Unschuldsvermutung und Einstellung des Strafverfahrens, NJW 1984, S. 1264 ff. (1267 f.); für Einstellungen, die ohne Zustimmung des Beschuldigten erfolgen, auch Haberstroh, Unschuldsvermutung und Rechtsfolgenausspruch, NStZ 1984, S. 289 ff. (294). 82 Liemersdorf I Miebach, Strafprozessuale Kostenentscheidungen im Widerspruch zur Unschuldsvermutung, NJW 1980, S. 371 ff. (374); Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, S. 128 f. 83 So im Ergebnis auch Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 78.
IV. Das Entschädigungsgebot
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nicht mit der Unschuldsvermutung vereinbaren 84 . Denn die Zustimmung erfolgt unter dem Druck einer anderenfalls drohenden Bestrafung und hat deshalb - wie an anderer Stelle dargelegt 85 - keine materiell rechtfertigende Wirkung. Im Ergebnis ist damit festzustellen, daß die gesetzliche Regelung der Entschädigung des Beschuldigten bei einer Einstellung des Strafverfahrens dem aus der Unschuldsvermutung folgenden Entschädigungsgebot nicht gerecht wird. 3. Die Entschädigungsregelung nach einer rechtskräftigen Verurteilung
Endet das Verfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung, so wird der Beschuldigte für seine Inanspruchnahme im Strafverfahren regelmäßig nicht entschädigt. Nur in wenigen Fällen kann eine Billigkeitsentschädigung gewährt werden (§§ 465 I I S. 3 StPO, 4 StrEG). Zu beachten ist allerdings §51 StGB: Nach dieser Vorschrift hat der rechtskräftig Verurteilte einen Anspruch darauf, daß bestimmte Strafverfolgungsmaßnahmen, vor allem die Untersuchungshaft, auf die Höhe der Strafe angerechnet werden. Der grundsätzliche Entschädigungsausschluß bei rechtskräftiger Verurteilung läßt sich mit der Unschuldsvermutung vereinbaren, wenn der Verurteilung insofern rückwirkende Bedeutung zukommt, als durch sie auch Eingriffe, die vor Eintritt der Rechtskraft erfolgt sind, nachträglich mit der Zurechnung der Gefahren für die Normakzeptanz gerechtfertigt werden können. Gegen eine solche Rückwirkung der Widerlegung der Unschuldsvermutung werden in der Literatur aber Bedenken geltend gemacht. Vor allem Dencker hat die Auffassung vertreten, aus der Unschuldsvermutung ergäbe sich, daß auch der später Verurteilte die strafprozessualen Zwangsmaßnahmen als - vermutlich Unschuldiger erleide; die Unschuldsvermutung könne sich nur als falsch herausstellen, aber nicht rückwirkend entfallen 86 . Dem ist entgegenzuhalten, daß der Sinn und Zweck der Unschuldsvermutung nur in der verfahrensmäßigen Sicherung des Schuldprinzips besteht. 84 A . A . Haberstroh, Unschuldsvermutung und Rechtsfolgenausspruch, NStZ 1984, S. 289 ff. (294), der bezüglich der Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung danach differenzieren will, ob die Einstellung mit oder ohne Zustimmung des Beschuldigten erfolgt. Auch das O L G Frankfurt (NJW 1980, S. 2031) und Meyer (Strafrechtsentschädigung und Auslagenerstattung, § 3 Rdn 5) weisen zur Legitimation der Regelung auf das Zustimmungserfordernis hin, ohne allerdings die Regelung im übrigen für mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar zu halten. 85 Vgl. 7. Kap. I I I 1. 86 Dencker, Die Anrechnung der Untersuchungshaft, M D R 1971, S. 627 ff. (627); ihm folgend Ruedin, Die Anrechnung der Untersuchungshaft nach dem schweizerischen Strafgesetzbuch, S. 74; Burmann, Die Sicherungshaft gemäß § 453 c StPO, S. 36 f.; ähnlich auch schon Schröder, Anmerkung zu B G H - 4 StR 241/70 - , JR 1971, 28.
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8. Kap. : Unschuldsvermutung und strafprozessuale Inanspruchnahme
Diesem Schutzzweck wird durch das Verbot einer Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne rechtskräftige Schuldfeststellung in vollem Maße Rechnung getragen. Ein Verbot, der rechtskräftigen Schuldfeststellung rückwirkende Bedeutung beizumessen, hat mit der Sicherung des Schuldprinzips nichts zu tun und ist daher aus der Unschuldsvermutung nicht begründbar. Die Unschuldsvermutung besagt nicht, daß der Beschuldigte für die Zeit vor rechtskräftiger Verurteilung als unschuldig gilt, sondern bedeutet lediglich, daß bis zur rechtskräftigen Verurteilung davon auszugehen ist, daß er als Unschuldiger in Anspruch genommen wird. Ein Verbot rückwirkender Zurechnung läßt sich auch nicht mit Vertrauensschutzerwägungen begründen 87 ; denn irgendein schutzwürdiges Vertrauen des Schuldigen darauf, daß er auch nach rechtskräftiger Verurteilung bezüglich der Maßnahmen vor Verurteilung wie ein Unschuldiger behandelt wird, ist nicht ersichtlich. Der Ausschluß der Entschädigung für die Inanspruchnahme im Strafverfahren im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung ist deshalb mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Damit kann auch die Anrechnung der Untersuchungshaft auf die verhängte Strafe nicht auf der Unschuldsvermutung als verfahrensmäßiger Sicherung des Schuldprinzips beruhen. Der Anrechnung liegt vielmehr das Schuldprinzip selbst in seiner verfassungsrechtlich allerdings nicht gewährleisteten 88 Deutung als Beschränkung der strafrechtlichen Eingriffe auf das Maß ausgleichender Gerechtigkeit zugrunde. Wenn der einzelne nur soweit zur Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz herangezogen werden soll, wie die ihn treffende Belastung noch als gerechter Ausgleich für seine Schuld angesehen werden kann, dann müssen bei der Vollstreckung der Strafe Belastungen angerechnet werden, die dem Täter bereits zur Vorbereitung der Gefahrenabwehr auferlegt wurden. Außerdem läßt sich die Anrechnung auch mit der Erwägung erklären, daß die Vollstreckung der verhängten Strafe zum Erreichen der generalpräventiven Wirkung nicht erforderlich ist, wenn der Täter bereits eine entsprechende Zeit in Untersuchungshaft verbracht hat 89 .
87 Aus diesem Grund kennt auch das Polizeirecht kein Verbot rückwirkender Zurechnung. Einem Störer wird dort auch dann die Entschädigung versagt, wenn er ursprünglich als Nichtstörer in Anspruch genommen wurde (.Hoffmann-Riem, „Anscheinsgefahr" und „Anscheinsverursacher" im Polizeirecht, S. 337). 88 Vgl. 3. Kap. I I I . 89 Der von Dreher, Zweifelsfragen zur Anrechnung der Untersuchungshaft nach der Neufassung des § 60 StGB, M D R 1970, S. 965 ff. (967 f.), gegen eine Erklärung mit Strafzwecküberlegungen erhobene Einwand, damit werde der Untersuchungshaft Straf Charakter beigemessen, ist nicht begründet. Mit der Berücksichtigung solcher Erwägungen zieht der Gesetzgeber nur die Konsequenz aus der Tatsache, daß das Sanktionsbedürfnis de facto auch durch die Untersuchungshaft erfüllt wird.
Schlußbemerkung und Ergebnisse der Untersuchung I. Der gemeinsame Grundgedanke von Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung Die Untersuchung hat die traditionelle Auffassung bestätigt, nach der für die Inanspruchnahme des einzelnen zum Zwecke der Strafrechtspflege spezifische, materielle, verfassungsrechtliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen gelten. Die herkömmliche Erklärung dieser besonderen RechtmäßigkeitsVoraussetzungen mit dem Vorwurfscharakter der strafrechtlichen Inanspruchnahme hat sich jedoch als falsch erwiesen 1. Die Geltung des Schuldprinzips, des Verbots der Verdachtsstrafe und der Unschuldsvermutung ist nicht aus der Art der strafrechtlichen Grundrechtseingriffe, sondern aus dem mit diesen Eingriffen verfolgten öffentlichen Interesse zu erklären. Nach ihrem Grundgedanken bedeuten diese Prinzipien nicht mehr und nicht weniger, als daß die Zurechnung des generalpräventiven Interesses an der Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz nur dann zulässig ist, wenn sich dieses Interesse aus einem durch rechtskräftige Verurteilung nachgewiesenen, schuldhaften Verhalten ergibt. Das wird die folgende zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse dieser Untersuchung nochmals verdeutlichen. I I . Die Ergebnisse der Untersuchung Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich in zwei Grundthesen zusammenfassen: - Die Verhängung einer Strafe ist nur dann zulässig, wenn sich das mit der Bestrafung verfolgte öffentliche Interesse aus einem durch rechtskräftige Verurteilung nachgewiesenen, schuldhaften Verhalten ergibt (dazu sogleich unter 1). - Die Inanspruchnahme eines Verdächtigen zur Strafverfolgung ist nur insoweit zulässig, als sie ohne Zurechnungserwägungen nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt werden kann (dazu sogleich unter 2).
1
Dazu: 2. Kap. I I , 5. Kap. I I I und 7. Kap. I I 2 a.
9 Frister
Schlußbemerkung
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1. Die spezifischen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Verhängung einer Strafe
a) Verfassungsrechtliche
Begründung dieser Voraussetzungen
2
Strafe kann als intendierte Übelszufügung aufgrund eines vergangenen Verhaltens3 nicht ohne Zurechnungserwägungen nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt werden. Ihre Verhängung setzt deshalb die Zurechnung des mit der Bestrafung verfolgten Interesses voraus. Dieses Interesse ist generalpräventiver Natur; es besteht in der Abwehr der von einer Rechtsverletzung ausgehenden Gefahr für die Normakzeptanz. Seine Zurechnung bedarf - wie jede andere Zurechnung - als Ausnahme von den für die Aufopferung des einzelnen zum Wohl der Allgemeinheit geltenden Beschränkungen der verfassungsrechtlichen Legitimation. Wegen des Fehlens einer ausdrücklichen Regelung im Verfassungstext kann sich eine solche Legitimation nur aus den vom Verfassungsgeber vorausgesetzten grundlegenden Strukturprinzipien der Rechtsordnung ergeben. Nach diesen Prinzipien ist nur das Interesse an der Abwehr künftiger Rechtsverletzungen von Seiten des Betroffenen unbedingt zurechenbar (woraus sich die Legitimation für die polizeilichen Eingriffe und die Maßregeln der Besserung und Sicherung ergibt); die Zurechnung des generalpräventiven Interesses an der Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz setzt dagegen voraus, daß der Betroffene die Gefahr durch schuldhaftes Verhalten geschaffen hat. Da mit dieser Voraussetzung dem einzelnen die Möglichkeit gegeben werden soll, eine Inanspruchnahme zur Abwehr solcher Gefahren durch rechtmäßiges Verhalten zu vermeiden, folgt daraus zugleich, daß deren Zurechnung nur dann erfolgen darf, wenn die Schuld in einem institutionalisierten Verfahren positiv festgestellt, d. h. durch rechtskräftige Verurteilung nachgewiesen wurde. b) Die Bereiche, in denen die derzeitige gesetzliche Regelung diesen Voraussetzungen nicht genügt aa) § 153 a StPO 4 Die in der Vorschrift des § 153 a StPO vorgesehenen Auflagen dienen unmittelbar generalpräventiven Zwecken. Sie stellen einen Grundrechtseingriff mit der Intention der Übelszufügung aufgrund vergangenen Verhaltens dar und haben damit Straf Charakter. Die Zustimmung des Beschuldigten vermag daran nichts zu ändern, da sie nur unter dem Druck einer anderenfalls 2 Dazu: 2. Kap. I I I 2 b. 3 Zum Begriff: 1. Kap. I I 1. 4 Dazu: 7. Kap. I I I 1 b.
II. Die Ergebnisse der Untersuchung
131
drohenden schwereren Bestrafung abgegeben wird. § 153 a StPO sieht also eine Bestrafung ohne rechtskräftige Verurteilung vor. bb) Die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit 5 Da sich das öffentliche Interesse an der Bestrafung aus dem nachgewiesenen, schuldhaften Verhalten ergeben muß, ist die herkömmliche Legitimation der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit aus der Unterscheidung zwischen Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit eines Verhaltens hinfällig. Schuldunabhängige oder nicht nachzuweisende Strafvoraussetzungen sind nur dann zulässig, wenn sie auch für die Entstehung des Strafbedürfnisses ohne Bedeutung sind. Eine dahingehende Interpretation ist bei den in den §§ 323 a, 227,186 StGB enthaltenen Strafvoraussetzungen ausgeschlossen. 2. Die spezifischen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Verdächtigen zur Strafverfolgung
a) Verfassungsrechtliche
Begründung dieser Voraussetzungen
6
Die Inanspruchnahme eines Verdächtigen zur Strafverfolgung dient der Vorbereitung der Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz und ist deshalb unter Zurechnungsgesichtspunkten nicht anders zu behandeln als die Strafe selbst. Das Verbot der Zurechnung von Gefahren für die Normakzeptanz ohne rechtskräftige Schuldfeststellung schließt auch die Zurechnung des Interesses an der Sicherung der Strafvollstreckung und der Durchführung des Strafverfahrens aus. Die diesen Interessen dienenden strafprozessualen Eingriffe können daher nur nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesse materiell gerechtfertigt werden. Dem steht nicht entgegen, daß im Polizeirecht bereits bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts eine Inanspruchnahme als Störer zulässig sein kann. Denn für die polizeiliche Gefahrenabwehr gelten bereits im Grundsatz andere Regeln als für die strafrechtliche Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz: Im Polizeirecht gibt es kein Schuldprinzip und deshalb hat der einzelne dort ohnehin nicht die Möglichkeit, eine Inanspruchnahme durch Steuerung seines Verhaltens zu vermeiden. Außerdem beruht die Behandlung des Gefahrenverdachts im Polizeirecht auf dem prognostischen Charakter des polizeilichen Gefahrbegriffs und läßt sich auch aus diesem Grund auf die Abwehr von Gefahren für die Normakzeptanz nicht übertragen.
5 6
9*
Dazu: 4. Kap. und 6. Kap. Dazu: 7. Kap. I I I 2.
Schlußbemerkung
132
b) Die Bereiche y in denen die derzeitige gesetzliche Regelung diesen Voraussetzungen nicht genügt aa) Dauer der Untersuchungshaft 7 Da die Inanspruchnahme des einzelnen nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses nur unter Wahrung einer Opfergrenze zulässig ist, erweist sich eine absolute Begrenzung der Höchstdauer der Untersuchungshaft bis zur rechtskräftigen Verurteilung als notwendig. Zumindest ein Freiheitsentzug von mehr als vier Jahren kann nicht mehr nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt werden. bb) Strafprozessuale Zwangsmittel zur Beweisgewinnung und Beweissicherung 8 Aus dem Verbot der Zurechnung des Strafverfolgungsinteresses vor rechtskräftiger Verurteilung folgt, daß eine Differenzierung zwischen den Voraussetzungen für Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten und den Voraussetzungen für Eingriffe in die Rechte Nichtverdächtiger nicht mit Zurechnungserwägungen gerechtfertigt werden kann. Eine stärkere Inanspruchnahme des Beschuldigten ist deshalb nur zulässig, wenn die Ungleichbehandlung mit einem höheren Strafverfolgungsinteresse sachlich zu legitimieren ist. Das bedarf bei den Zwangsmaßnahmen zur Beweisgewinnung und Beweissicherung besonderer Begründung, da diese Eingriffe von ihrer Zweckrichtung her nicht an die Person des Beschuldigten gebunden sind. Eine solche Begründung ist für die Regelung der körperlichen Eingriffe i n § § 8 1 a , 8 1 c StPO und für die Regelung der Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr in § 112 I, I I Nr. 3 StPO nicht möglich. cc) Entschädigung des nicht verurteilten Beschuldigten9 Da eine Inanspruchnahme nach dem Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses ein Sonderopfer des Betroffenen darstellt, ist der nicht verurteilte Beschuldigte für seine Inanspruchnahme zur Strafverfolgung grundsätzlich zu entschädigen. Die Entschädigung darf nur aufgrund eines etwaigen Mitverschuldens, nicht aber aufgrund einer Zurechnung des Strafverfolgungsinteresses versagt werden. Damit nicht zu vereinbaren sind die besonderen Möglichkeiten zur Versagung der Entschädigung beim Freispruch wegen Schuldunfähigkeit (§ 6 I Nr. 2 1. Alt. StrEG), bei der Einstellung aufgrund 7
Dazu: 8. Kap. 12. β Dazu: 8. Kap. I I I 9 Dazu: 8. Kap. I V .
II. Die Ergebnisse der Untersuchung
133
eines Verfahrenshindernisses (§§ 467 I I I 2 Nr. 2 StPO, 6 1 Nr. 2 2. Alt. StrEG) sowie bei der Einstellung nach einer Ermessensvorschrift (§§ 467 I V , V StPO, 3 StrEG). Selbst wenn bei der Anwendung dieser Versagungsgründe auf Schuld- und Verdachtserwägungen verzichtet werden könnte, änderte dies nichts daran, daß die Regelungen selbst nur mit der Zurechnung des Strafverfolgungsinteresses zu erklären sind.
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