Schrei laut zum Herrn!: Die Klagelieder als programmatischer Diskurs über die Grenzen eines gerechten Gerichts [1 ed.] 9783737011273, 9783847111276


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German Pages [459] Year 2020

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Schrei laut zum Herrn!: Die Klagelieder als programmatischer Diskurs über die Grenzen eines gerechten Gerichts [1 ed.]
 9783737011273, 9783847111276

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Osnabrücker Studien zur Jüdischen und Christlichen Bibel

Band 5

Herausgegeben von Georg Steins

Albrecht von der Lieth

Schrei laut zum Herrn! Die Klagelieder als programmatischer Diskurs über die Grenzen eines gerechten Gerichts

With a Comprehensive English Summary

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen bei V&R unipress. Die Arbeit wurde 2019 vom Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6339 ISBN 978-3-7370-1127-3

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Fragestellung und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Stand der Forschung: Der Drang zur Einheit . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Fünf paradigmatische Zugänge zu den Klgl . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Klgl als Einzeltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 »Die Threni sind nicht Literatur …« . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Das Buch der Klgl als kunstvolle Literatur . . . . . . . . . . 2.1.4 Das Buch der Klagelieder als literarische Einheit . . . . . . . 2.1.4.1 Ein Autor – ein Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4.2 Redaktionsgeschichtliche Ansätze . . . . . . . . . . Exkurs: Peter Rabinowitz’ Unterscheidungsmodell Narrativer Audiences als Basis synchroner Bezugnahmen in diachron geschichteten Textkomplexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Dialogizität in den Klgl – Bachtinsche Kategorien als Interpretationshilfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Plädoyer für eine einzeltextübergreifende Exegese des Buches der Klagelieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte 3.1 Drei exemplarische Textkomplexe . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Von der Psalmenexegese zur Psalterexegese – und zur Psaltertheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 »Vom Propheten hin zum Prophetenbuch« . . . . . . . 3.1.3 Das Hohelied zwischen Poesie, Drama und Narration . . 3.2 Auswertung: Probleme und Perspektiven . . . . . . . . . . . . 3.2.1 »Ein Tempel aus Worten«: Sprachliche Bilder als Beschreibungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.2.2 Quasi-Narrativität und literary unity – zur Frage des angemessenen Textbegriffs . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Begriffsvorschlag Arrangement als konnotationsarme Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 »Was im Kleinen funktioniert …« . . . . . . . . . . 3.2.5 Figuren als »Träger« narrativer Erwartungen . . . . . 3.3 Schlussfolgerungen für die eigene Untersuchung . . . . . .

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4 Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten 4.1 Poetologische Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Akrostichie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Parallelismus membrorum vs. Parataxie . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Enjambement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Qinah-Metrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Strophische Anlage in Sektionen, Stanzen und Sub-Stanzen . 4.2 Stichwort- und Motivverknüpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Bezüge zwischen Klgl 1 und 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Verklammerung von Klgl 3 mit Klgl 1 und 2 . . . . . . . . 4.2.3 Der Anschluss von Klgl 4 an Klgl 1–3 . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Die Verkettung von Klgl 5 mit Klgl 1–4 . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Schaubild der Stichwort- und Motivbezüge . . . . . . . . . . . 4.3 Die Klgl – ein Arrangement von Einzeltexten . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zur konzentrischen Anordnung der Lieder . . . . . . . . .

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5 Zweiter Zugriff: Die Programmatik des Buches der Klagelieder 5.1 Die dramatische Dimension der Klagelieder . . . . . . . . 5.1.1 Das Drama als Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Dramatische Elemente in den Klgl – ein Überblick . 5.1.2.1 Lexis – Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.2 Opsis – Rollenspiel . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.3 Mythos – Plot . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Dramatische Elemente in den Klgl – ein erstes Fazit . 5.1.4 Die personae dramatis der Klgl . . . . . . . . . . . . 5.1.4.1 Der Sprecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4.1.1 Szenisches Setting: Zeit und Raum 5.1.4.1.2 Personifizierung Zions . . . . . . . 5.1.4.1.3 Inhaltliche Entwicklung . . . . . . 5.1.4.1.4 Der Sprecher in Klgl 4 . . . . . . . 5.1.4.2 Frau Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4.3 Der Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Exkurs: Zur Identität und Funktion des Mannes . . . 5.1.4.4 Die Kollektive in Klgl 3–5 . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Die Klgl – ein Drama? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Auf dem Weg zu einem Interpretationsvorschlag: Ein thematischer Vergleich der Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Der Anfang und das Ende: Ein thematisch-motivischer Vergleich von Klgl 1–2 und Klgl 4–5 . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.1 Die Stadt-Frau Zion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.2 Das Leid der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.3 Trauer als Emotion und Ritual . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.4 Die Feinde Zions – Erfüllungsgehilfen oder eigenständige Akteure? . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.5 Der Zorn Gottes als Deutungshorizont des Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.6 Bekenntnis der eigenen Schuld . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.7 Formale Textgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.8 Kommunikationsstrukturen: Sprecher, Adressaten, Zitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.9 Intensität, Expressivität und Emotionalität der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.9.1 Klgl 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.9.2 Klgl 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.9.3 Klgl 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.9.4 Klgl 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.9.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . 5.2.1.10.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . 5.2.1.10.2 Der Anfang und das Ende – eine »Kompositionsskizze« für Klgl 1–2 und Klgl 4–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Klgl 3: Zentrales Lied – zentrale Aussage? . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Formale Textgestaltung und Kommunikationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.2 Der Anschluss von Klgl 3 an Klgl 1–2 . . . . . . . . . 5.2.2.2.1 Thematische Weiterführungen . . . . . . . 5.2.2.2.2 Neue Themen und Motive . . . . . . . . . . 5.2.2.2.3 Nicht weiter verfolgte Linien . . . . . . . . 5.2.2.2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Die Weiterführung von Klgl 3 in Klgl 4 . . . . . . . . . . . . . 5.2.3.1 Aufnahmen und Auslassungen aus Klgl 1–2 . . . . . .

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Inhalt

5.2.3.2 Aufnahmen aus Klgl 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3.3 Neue Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3.3.1 Der Verkehrte-Welt-Topos . . . . . . . . 5.2.3.3.2 Soziale Desintegration . . . . . . . . . . . 5.2.3.4 Die Weiterführung von Klgl 3 in Klgl 4 – eine (funktionale) Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Klgl 5: Das Schlusswort des Buches . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.1 Die tägliche Schmach . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.2 Differenzierung zwischen Verantwortung der Väter und eigener Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.3 Die Umkehr JHWHs zur Gemeinde . . . . . . . . . 5.2.4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Fazit: Das Programm der Klgl – ein Interpretationsvorschlag . . . 6 Dritter Zugriff: Die Klgl als programmatischer Diskurs über die Grenzen eines gerechten Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Klgl 1 – Ouvertüre und Problemexposition . . . . . . . . . . 6.1.1 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Exegetische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Die Funktion von Klgl 1 im Rahmen des Buches . . . . 6.1.3.1 Das Machtgefälle zwischen Sprecher und Zion 6.1.3.2 Auswahl und Darstellung der theologischen Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.3 Die Balance zwischen Sünde und Gerechtigkeit 6.1.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Klgl 2 – Gott beschädigt sich selbst . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Exegetische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Die Funktion von Klgl 2 im Rahmen des Buches . . . . 6.2.3.1 Historische Situierung . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.2 Zuspitzung des Konfliktes . . . . . . . . . . . 6.2.3.3 Festigung des dramatischen Settings . . . . . . 6.2.3.4 Der Zorn Gottes als Deutungskategorie des Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Klgl 3 – Hoffnung als Überlebensstrategie . . . . . . . . . . 6.3.1 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Exegetische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Die Funktion von Klgl 3 im Rahmen des Buches . . . . 6.3.3.1 Die Dramaturgie von Klgl 1–2 zu Klgl 3 . . . .

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Inhalt

6.3.3.2 Thematische Neujustierungen . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.2.1 Hoffnung als Überlebensstrategie . . . . . . 6.3.3.2.2 Der Zorn Gottes als Deutungskategorie des individuellen Leidens? . . . . . . . . . . . . 6.3.3.2.3 Konstruktiver Umgang mit der eigenen Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Klgl 4 – Vertrauen in einer unlebbaren Welt? . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Exegetische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Die Funktion von Klgl 4 im Rahmen des Buches . . . . . . . . 6.4.3.1 Dramaturgische Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.2 Das menschliche Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.3 Die Welt im Chaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.4 »Größer als die Sünde Sodoms…« . . . . . . . . . . . 6.4.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Klgl 5 – Eine radikal offene Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Exegetische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.3 Die Funktion von Klgl 5 im Rahmen des Buches . . . . . . . . 6.5.3.1 Wir-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.3.2 Aufnahmen aus den bisherigen Liedern . . . . . . . . 6.5.3.2.1 Schicksal der Bevölkerung . . . . . . . . . . 6.5.3.2.2 Die Unzugänglichkeit Gottes . . . . . . . . 6.5.3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 Übersetzung Klgl 1 . . . . Klgl 2 . . . . Klgl 3 . . . . Klgl 4 . . . . Klgl 5 . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Die Arbeit wurde im Sommersemester 2019 vom Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Sie hat zwar nur einen Autor, doch trugen viele Personen zu ihrem Gelingen bei. Ihnen danke ich für Ihre Unterstützung, kreativen Input, konstruktive Kritik und ihre immer wieder vermittelte Bestärkung und Aufmunterung. Ich danke an erster Stelle Prof. Dr. Georg Steins, der dieses Projekt von Anfang an begleitet hat. Wann immer nötig, stand er mir mit Rat und Weisung zur Seite – und gab mir ansonsten die Freiheit und großes Verständnis ob der immer wieder eintretenden Verzögerungen auf dem Wege zu einem Abschluss der Arbeit. Die Mitglieder des alttestamentlichen Oberseminars in Osnabrück/Dortmund gaben mir die Möglichkeit, meine Überlegungen schon in einem frühen Stadium zur Diskussion zu stellen, und halfen mir durch ihre Nachfragen, das Ineinanderpassen der verschiedenen Teile der vorliegenden Untersuchung zu präzisieren. Ich danke neben Egbert Ballhorn insbesondere Uta Zwingenberger und Regina Wildgruber für ihre Nachfragen, ihre Bestärkung und Ermunterung. Ich danke Johannes Schulz, der große Teile dieser Arbeit kritisch gegengelesen hat und mit zuweilen vernichtender Kritik nicht sparte. Die jetzige Arbeit ist durch ihn besser geworden. Dresden, im Februar 2020

PS: So spät, fast zu spät, wie dieses Postscriptum waren die Anmerkungen und Hinweise von Florian Giersch. Sei’s drum! Obwohl das letzte i schon getüpfelt schien, ermöglichten sie es mir, die Arbeit an einigen Punkten noch einmal deutlich zu verbessern. Herzlichen Dank dafür!

1

Fragestellung und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit vertritt die These, dass die einzelnen Lieder des Buches der Klagelieder in einer sinnvoll rezipierbaren Abfolge stehen, ihre Anordnung einem inhaltlich-theologischen Programm verpflichtet ist. Neben die jeweiligen Einzeltexte tritt das Buch als auslegungsrelevanter Kontext. Ist eine solche Auffassung in der Klgl-Forschung noch recht neu, kann sie doch auf zwei unabhängige Tendenzen verweisen und sich als deren Weiterführung begreifen. Zum einen kann man auf das seit der Jahrtausendwende deutlich gestiegene Bewusstsein um den künstlerischen Charakter der Klgl verweisen, das dazu führte, dass neben der bemerkenswerten Poetik der Lieder auch immer deutlicher Beziehungen zwischen den einzelnen Texten diskutiert werden. Diese Beobachtungen erfolgten bis jetzt eher kursorisch – hier zeigt sich die Notwendigkeit einer umfassenden Bestandaufnahme und Systematisierung der Beobachtungen. Verbunden damit stellt sich die Frage, ob die einzelnen Beobachtungen in eine plausible Gesamtdeutung integrierbar sind. Zum zweiten sei auf die in anderen Exegesekontexten (so beispielsweise in der Psalter- oder Dodekaprophetonexegese) schon seit Längerem mit Erfolg betriebene Gesamttextexegese verwiesen, bei der die Anordnung der Einzeltexte und die sich im Verlauf einer kontinuierlichen Lesung ergebenen Rück- und Querverweise schon länger als auslegungsrelevante Größe begriffen und in der Exegese der jeweiligen Einzeltexte berücksichtigt werden. Die Klgl wäre damit nur ein weiteres alttestamentliches Textkorpus, bei dem sich neben der Aussage der einzelnen Texte auch die Frage nach der Gesamtaussage des Buches stellt. Dass dieser Fragehorizont in der Klgl-Exegese erst jetzt aufgemacht wird, macht es möglich, aus den Erfahrungen, die in vergleichbaren Exegesekontexten gesammelt wurden, zu lernen. Die Anlage der Arbeit spiegelt dies wider: In einem ersten Kapitel wird an ausgewählten Stationen der Forschungsgeschichte verdeutlicht, dass die untersuchte These zwar in dieser Deutlichkeit für die Klgl bislang noch nicht diskutiert wurde, allerdings auf nennenswerte Vorarbeiten und Teildiskurse in anderen Forschungsbereichen aufbauen kann. Der Versuch

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Fragestellung und Aufbau der Arbeit

einer einzeltextübergreifenden Auslegung ist, wenngleich noch neu, so doch eine naheliegende Weiterführung der bestehenden Tendenzen der Klgl-Exegese. Anschließend wird in einem heuristischen Zwischenschritt der derzeitige methodologische Forschungsstand in vergleichbaren Exegesekontexten erhoben. In der Psalter- und Dodekaprophetonexegese wird seit erheblicher Zeit mit Erfolg das praktiziert, was nunmehr auch für die Klgl vorgeschlagen wird. Die Hld-Exegese befasst sich schon seit längerem mit der Frage, wie mit einem kohäsiven, jedoch nur teilweise kohärenten Text angemessen umzugehen ist. In allen drei Textkorpora spielt die Frage eine Rolle, inwiefern eine Exegese einer Sammlung von Einzeltexten möglich ist – und welche Konsequenzen eine solche Gesamtdeutung für die Auslegung der jeweiligen Einzeltexte hat. Durch eine Bestandaufnahme des methodischen Herangehens in diesen Exegesebereichen werden erste Schlussfolgerungen für das eigene Vorgehen gezogen und die im weiteren Vorgehen verwendeten Begrifflichkeiten definiert. Im zweiten Teil der Arbeit wird das Gros der Textanalyse erbracht. Hier geht es darum, die anfangs formulierte These inhaltlich zu begründen. Dazu wird in drei aufeinander aufbauenden Schritten der Text untersucht. Zunächst werden Indizien gesammelt, die belegen, dass die Anordnung der einzelnen Lieder ein bewusstes Gliederungsinteresse erkennen lässt. Hierzu werden die vielfältigen Bezüge der einzelnen Lieder zueinander dargestellt – von recht offensichtlichen Beobachtungen, wie der in Klgl 1–4 wiederkehrenden akrostichischen Anlage, bis hin zu einer umfassenden Analyse von Stichwortbezügen zwischen den Liedern. In einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, die auf struktureller Ebene planvolle Anordnung der Lieder auch inhaltlich nachzuvollziehen. Konkret geht es darum, einen buchübergreifenden inhaltlichen Gedanken- bzw. Argumentationsgang, eine Gesamtprogrammatik nahezulegen, durch die sich die Sinnhaftigkeit der formalen Anlage auch auf inhaltlicher Ebene fortsetzt. In einem dritten Schritt wird das derart entwickelte Interpretationsprogramm in einem vollständigen Durchgang durch das Buch am Text überprüft bzw. illustriert. Mit der Untersuchung werden zwei primäre Ziele ins Auge genommen, die zugleich auch den Ertrag der Arbeit für den allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs umreißen: Einerseits wird eine Klgl-Interpretation vorgeschlagen, die nicht zuletzt die faktische Gegebenheit der Texte als Teile des Buches der Klgl ernst nimmt. So ist es z. B. für Klgl 3 recht unwahrscheinlich, dass es je als eigenständiger Text existiert hat – doch dann ist eine Interpretation des Liedes ohne Augenmerk auf den Sitz im Buche unvollständig. Dieser Blick über die Grenzen der einzelnen Texte hinaus führt zu teilweise erheblichen Umakzentuierungen in der Bewertung einzelner Lieder bzw. Verse. Als eine frische Perspektive auf die Klgl kann dies den wissenschaftlichen Diskurs nur bereichern.

Fragestellung und Aufbau der Arbeit

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Daneben wird der alttestamentliche Survey des Kap. 3 zeigen, dass eine der Schwächen der derzeitigen Diskussion um die Exegese größerer Textkomplexe in der häufig noch wenig differenzierten methodisch-systematischen Reflexion des exegetischen Vorgehens sowie der verwendeten Begrifflichkeiten liegt. Hier bieten die Klgl einen außergewöhnlich guten test case, um grundlegende methodische Fragen zu klären. An diesem Punkt geht der Ertrag der Arbeit über den Kontext der Klgl hinaus und wendet sich an alle, die sich mit vergleichbaren Textkomplexen exegetisch beschäftigen.

2

Stand der Forschung: Der Drang zur Einheit

Setzt eine exegetische Untersuchung mit einem forschungsgeschichtlichen Abriss ein, muss sie erklären, warum ein Verweis auf bestehende Forschungsüberblicke nicht genügt hätte.1 Dies gilt insbesondere für die Klgl, die bis vor kurzem noch in einer Art exegetischem Dornröschenschlaf schlummerten: Zwar erschienen in regelmäßigen Abständen neue bzw. aktualisierte Kommentare; eine intensivere Auseinandersetzung jenseits dessen, was in den Kommentaren unter »Einleitungsfragen« firmiert, blieb indes aus. Nur vereinzelt machten Exegeten die Klgl zu einem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit.2 Es gibt zwei Gründe, warum nachfolgend erneut exemplarische Stationen der Forschungsgeschichte diskutiert werden. Erstens lässt sich so zeigen, wie die Exegese der Texte vom jeweils vorausgesetzten Exegeseparadigma beeinflusst wird. Es zeigen sich Stärken, aber auch Schwächen und blinde Flecken der jeweiligen Herangehensweise. Damit werden erste Schlussfolgerungen hinsichtlich der Ausrichtung einer eigenen Auslegung möglich, die die Vorzüge der bisherigen Ansätze bewahren, jedoch deren Beschränkungen umgehen will. Zweitens lässt sich so zeigen, dass der eigene Ansatz eine naheliegende Fortführung der bisherigen exegetischen Entwicklung ist, und lediglich schon bestehende Ansätze und Einsichten weiterdenkt und konsequenter auf einen neuen Textkomplex anwendet.

1 Schon etwas älter ist die Zusammenfassung von Gous (1992); aktuellere Forschungsüberblicke bieten Miller (2002), sowie die Monographien von Boase (2006) und Bier (2015). Einen sehr guten Überblick über die ältere Forschung gibt Brandscheidt (1983). 2 Im deutschsprachigen Raum sind hier neben Ulrich Berges, Christian Frevel und jüngst Klaus Koenen nur noch Hermann Wiesmann und Max Löhr zu nennen, die beide Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Veröffentlichungen zu unterschiedlichsten Aspekten der Klgl Stellung genommen haben.

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2.1

Stand der Forschung: Der Drang zur Einheit

Fünf paradigmatische Zugänge zu den Klgl

2.1.1 Die Klgl als Einzeltexte Lange Zeit drehte sich die Klgl-Diskussion um die Fragen, die durch die Methodenschritte der klassischen historisch-kritischen Exegese vorgegeben waren. Beispielsweise war die Frage nach der ursprünglichen Textgestalt einer der wichtigsten Forschungsschwerpunkte.3 Durch neue Textfunde und eine sich dadurch verbreiternde Basis an Vergleichstexten, kam zugleich die Frage nach der Beeinflussung der Klgl durch die Gattung der mesopotamischen Stadtuntergangsklagen auf.4 Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Diskussion um die Existenz eines Metrums in hebräischer Poesie im Allgemeinen und des QinahMetrums in den Klgl im Speziellen.5 Mit dem Erscheinen umfassender Handbücher zur hebräischen Poesie treten diese Fragen mittlerweile eher in den Hintergrund.6 Insgesamt unter dem Einfluss eines Exegeseparadigmas stehend, das in der Rekonstruktion der intentio auctoris des biblischen Erstautors den eigentlichen Zweck exegetischer Beschäftigung sah, blieb das Interesse bis etwa Mitte der 1980er Jahre oft darauf beschränkt, die Klgl als Beispieltexte eines Prozesses der Geschichtsbewältigung zu sehen, die vor dem historischen Hintergrund der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. und auf diesen hin zu lesen seien. Entsprechend interessierten neben der historischen »Unterfütterung« der Liedverse vor allem die klassischen Einleitungsfragen, also die zeitliche und örtliche Einordnung der Texte, die Frage nach dem (bzw. den) Autor(en), die traditionsgeschichtliche Einordnung der einzelnen Lieder, der Sitz im Leben, der Sinn und Zweck der Akrostichie usw.7 Der poetische Charakter der Lieder wurde dabei zwar zur Kenntnis genommen, jedoch nicht intensiver diskutiert; gleiches gilt für die dramatischen Elemente, die zwar schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemerkt wurden, jedoch keine intensivere Beschäftigung erfuhren. 3 Zu nennen ist hier insbesondere Albrektson (1963), daneben Gottlieb et al. (1978) und Wünsche (1967). Ugaritische Parallelen wurden von McDaniel (1968a), McDaniel (1968b) und Dahood (1978) diskutiert. Die qumranischen Zeugnisse werten Cross (1983), Schäfer (2000) und kürzlich ausführlich Kotzé (2013) aus. Im Zuge des Projektes LXX.D fand auch der griechische Text in den Veröffentlichungen von Kotzé (2009a), Kotzé (2009b), Kotzé (2011) und Maier et al. (2011) erneute Beachtung. 4 Vgl. hierzu Kramer (1955), McDaniel (1968c), Gwaltney (1983), Dobbs-Allsopp (1993) und Wischnowsky (2001). 5 Vgl. zum Qinah-Metrum: Budde (1882), Jahnow (1923), Garr (1983), zur Frage der Metrik der Klgl allgemein: Freedman (1972), Hillers (1974) und Loretz (1986). 6 Exemplarisch: Watson (1984), Alonso Schökel (1988), Berlin (1992). 7 Westermann (1990), 56–81 bietet einen kurzen Überblick der diesbezüglich erzielten Ergebnisse der Forschung bis ca. Mitte der 1980er Jahre.

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Die Kommentare von Kraus (BK, 1983) oder Groß (NEB, 1986) sind dafür gute Beispiele.8 Die Kommentierung von Klgl 2,20–22 zählt jeweils die wichtigsten alttestamentlichen Teknophagie-Texte auf (Klgl 4,10; 2Kön 6,28f; Lev 26,27–33; Dtn 28,49–57, Jer 19,6–9; Ez 5,8–10), es werden eine Reihe biblischer Parallelen zum Ausdruck ‫ יום מועד‬Festtag beigebracht (Jer 46,10; Zef 1,7; Am 2,14–16), und überlegt, ob die Aussagen des V 20b die historische Realität widerspiegelten. Kraus merkt an, dass dem Lied eine Bitte um Vergeltung des Handelns der Feinde (wie etwa in Klgl 1,21f) fehlt, denkt aber hier nicht weiter. Ebenso wenig thematisiert er die dramaturgische Funktion des abrupten Endes. Eingehendere Analysen zu Wortspielen, Lexik, dramatischen Elementen usw. sucht man in beiden Kommentaren vergebens. Das abschließende Fazit verrät viel über die theologische Heimat der Exegeten, jedoch wenig über den Text selbst. Exemplarisch Groß: »Trotz aller Frage, aller Anfechtung bleibt dem Volk nur, sich vor dem Herrn zu beugen, der das geplant und gewirkt hat, wenn auch tiefes Dunkel die Frage nach dem Warum zunächst unbeantwortet läßt und sich wie ein bohrender Stachel ins lebendige Fleisch frißt. Der Ernst dieses Liedes liegt zutiefst im Ernst der Sünde, die den Zorn und das Gericht Gottes herausfordert. Ein Gericht, das die Propheten angekündigt haben, dem das Volk durch echte Hinwendung zu Gott hätte entgehen können! Ein Gericht also, das das Volk sich selbst zuzuschreiben hat! Um den Rückweg aus dem Gericht zu finden, gilt es für Jerusalem damals und immer, auf die eigene Schuld zu blicken, sie zu erkennen und auf sich zu nehmen.«9

Die Grenzen derartiger Exegesen liegen auf der Hand. (1) Die Gestalt des Textes tritt hinter seine historischen Bezüge zurück. Die hohe poetische Kunst der Klgl wird nicht angemessen wahrgenommen und kann somit auch nicht die Frage nach der intentio auctoris der Texte beeinflussen. Diese Kritik gilt erst einmal unabhängig von der Frage, wie sinnvoll sich die Frage nach der intentio auctoris überhaupt stellen lässt. (2) Das interpretationsleitende Interesse der Exegesen ist zum einen historisch, zum anderen theologisch enggeführt. Alternative Deutungen der Texte, etwa als »reine« Kunstgedichte oder als Drama, kommen so zu wenig in den Blick und können die Deutung nicht bereichern. (3) Interpretiert man die Texte primär als Dokumente der Verarbeitung eines historischen Ereignisses, liegt es nahe, die Dissonanzen der Darstellung entweder künstlerischer Freiheit oder unmittelbarer persönlicher Betroffenheit zuzuschreiben, sie jedenfalls nicht als stilistische Mittel mit inhaltlichem Kalkül aufzufassen. Geht man etwa davon aus, dass die Texte unter dem noch frischen Eindruck der Katastrophe entstanden sind, erübrigt sich die Suche nach subtilen Anspielungen, motivischen Bezügen und tieferer theologischer Kritik fast von selbst, da 8 Um die Diskussion kurz zu halten, wird jeweils die Auslegung von Klgl 2,20–22 diskutiert, die sowohl den Höhepunkt von Klgl 2 darstellen, als auch den »Schlussakkord« des ersten Abschnittes Klgl 1–2. Der Umgang mit diesem Spitzentext der Klgl illustriert sehr gut die verschiedenen Zugänge zur Auslegung der Klgl allgemein. Zur eigenen Auslegung von Klgl 2,20– 22 s.u. Kap. 6.2. 9 Groß et al. (1986), 24.

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implizit angenommen wird, für eine derartig reflektierte Beschäftigung sei es noch »zu früh«.10 Die Konsequenz ist eine Auslegung in klassischer Vers-fürVers-Manier, bei der die Einzelexegese häufig nur wenig mehr ist, als eine um biblische Parallelen und historische, lexematische und zeitgeschichtliche Details angereicherte Paraphrase des Textes.

2.1.2 »Die Threni sind nicht Literatur …« Die Gattungsbestimmung der Klgl ist schwierig; Elemente der Leichenklage, der mesopotamischen Stadtuntergangsklagen, der Klagelieder des Einzelnen und des Volkes formen Texte, die sich einer einfachen Gattungszuordnung entziehen. Zudem steht mit der Kritik, wie sie seit Mitte der 1990er Jahre von Erich Zenger und anderen an der formgeschichtlichen Methode insgesamt formuliert wurde,11 die Tragfähigkeit formkritischer Studien generell in Zweifel, so dass Fragen der Form- und Gattungskritik in den meisten neueren Kommentaren keine hervorgehobene Rolle mehr spielen. Allerdings gibt es auch Forscher, die versuchen, die Klgl formkritisch zu analysieren und auszulegen. Am konsequentesten hat Claus Westermann diesen Ansatz durchgeführt,12 aber auch der Kommentar von Gerstenberger ist formkritisch angelegt.13 Die beiden Kommentare verdeutlichen gut die Stärken und Schwächen des Ansatzes. Entscheidend ist für beide, zuerst einmal das den Klgl augenscheinlich zugrunde liegende Genre richtig zu fassen. Gerstenberger beschreibt dieses als »Communal Mourning Agenda«, Westermann als »besondere Gruppe der Volksklagen«.14 Klage, so Westermann, sei die Sprache des Leids; Klage wolle primär gehört werden und habe in ihrer biblisch tradierten Form primär Gott als Adressaten. Sie sei als solche in erster Linie eine mündliche Gattung, die erst in späterer Zeit schriftlich festgehalten und in den Traditionsschatz der Glaubensgemeinschaft überführt worden sei.15 Auffälligste und problematischste Konsequenz dieses Ansatzes ist, dass Westermann ohne größere Bedenken zu Versumstellungen greift, wann immer er der Meinung ist, die vormals mündliche Klageform sei durch die spätere akrostichische Überformung in Unordnung

10 Exemplarisch Boecker (1985), 54: »Noch ist das Geschehen dem Dichter so nah, daß er damit voll beschäftigt ist, die Ereignisse, die sich im Zusammenhang der Eroberung und Zerstörung Jerusalems und seines Tempels abgespielt haben, in Klage und Gebet auszubreiten.« 11 Vgl. z. B. Zenger et al. (1996), Zenger (1998) und Zenger (1999). 12 Westermann (1990). 13 Gerstenberger (2001). 14 Gerstenberger (2001), 483; Westermann (1990), 90. 15 Westermann (1990), 82–86.

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gebracht worden.16 So sieht sein Gliederungsvorschlag für Klgl 2,20–22 vor, V 22b an V 21b anschließen zu lassen: V 20–21b.22b.21c.22ac. Allerdings kann er aus dieser Umstellung keinen weiteren Erkenntnisgewinn schöpfen – ganz im Gegenteil. Seine Überlegungen zu Klgl 2,20–22 verbleiben bei Erwägungen zum historischen Ort der Bikola und ihrer Einordnung anhand der jeweils erkennbaren Gattungsmerkmale. V 20 gehöre demgemäß zur Bitte um Zuwendung, V 21ab würde nochmals die Elendsschilderung von V 9–13 aufgreifen, und da V 22b hierzu einen guten Abschluss bilde, sei es für das Verständnis besser, diesen Teilvers an V 21b anschließen zu lassen. V 22ac schließlich sei nochmals ein Stück Gott-Klage. Inhaltlich hilft dies nicht weiter. Auch die Diskussion Gerstenbergers bleibt vor einer tatsächlichen Exegese der Verse stehen. Er meint ebenfalls, in V 20–22 einen »petitionary thrust« erkennen zu können, der zwar konkret nur in V 20 – und dort nicht als Bitte um Hilfe sondern nur als Bitte um Aufmerksamkeit, »a surrogate petition, so to speak«17 – deutlich werde, jedoch seine inhaltliche Kraft von V 21–22 erhalte. Anders als Westermann verortet er den Sitz im Leben eher im liturgischen Bereich. Erstaunlich bedeckt halten sich beide Kommentare hinsichtlich Überlegungen zu den Inhalten der Verse. Hinweise auf Querverweise, biblische Zitate, besondere sprachliche Stilmittel usw. fehlen fast völlig. Beispielsweise erwähnt Westermann die in V 20b zur Sprache kommende Teknophagie nur ganz am Rande; Gerstenberger weist ausschließlich darauf hin, dass Hunger eine allgegenwärtige Gefahr und somit häufiges Klagemotiv war.18 Überlegungen zur Dramaturgie von Klgl 2, in dem die V 20–22 den krönenden Abschluss bilden, überhaupt inhaltliche Überlegungen jeglicher Art, bleiben Mangelware.

Der formgeschichtliche Ansatz ist in der Forschung nicht aufgegriffen worden,19 wohl nicht zuletzt, weil die Kommentare von Westermann und Gerstenberger die inhärenten Probleme des Ansatzes in wünschenswerter Klarheit offengelegt haben: Ihrem Wesen nach muss Form- und Gattungskritik verallgemeinern, um die für die jeweilige Gattung typischen Elemente herausstellen zu können. Sie droht dadurch, den Blick für die charakteristische Eigenart des Texts zu verlieren. »Dadurch kommt bei aller Umsicht des Gattungsforschers die Einzelexegese nicht zu ihrem vollen Recht. Das wiederum macht auch die Ergebnisse im allgemeinen [sic] fragwürdig.«20 Andererseits ist gerade bei Westermann die Wertschätzung von Klage als Klage erstmals in aller Deutlichkeit formuliert worden. Der bleibende Wert seines Kommentars liegt im Plädoyer für das Ernstnehmen von Klage als kreativ-heilsamem Vorgang. Seine Zurückhaltung gegenüber einer theologischen Verbrämung der Texte im Sinne einer auf Klgl 3 rekurrierenden »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«-Ideologie eröffnet die Möglichkeit einer Deutung jenseits

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Westermann (1990), 92. Gerstenberger (2001), 490. Gerstenberger (2001), 489f. Vgl. die Rezension von Dennison (1996). So schon Ende der 1960er Jahre Reventlow (1967), 304.

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einer Logik, die angesichts des Leidens unschuldiger Kinder nur die je-größere Gerechtigkeit Gottes und die frühere Schuld des Volkes anzuführen vermag.

2.1.3 Das Buch der Klgl als kunstvolle Literatur Im Zuge des sich ab Mitte der 1970er Jahre öffnenden Methodenarsenals der Exegese, in deren Zusammenhang auch literaturwissenschaftliche Ansätze immer mehr Beachtung fanden, nahm auch die Klgl-Exegese neue Fahrt auf. Neue Fragestellungen und Ansätze wurden nun intensiv diskutiert und führten zu einer deutlich gesteigerten Anzahl von Einzelstudien und Monographien, vorrangig im angloamerikanischen Raum. Feministische Arbeiten setzten sich intensiv mit der Protagonistin von Klgl 1–2, Frau Zion, auseinander. Die Beschäftigung mit den poetischen Mitteln des biblischen Hebräisch sorgte für eine differenzierte Wahrnehmung des zutiefst künstlerischen Charakters der Lieder. In den letzten zehn Jahren wurde insbesondere die Frage der Anwendbarkeit bachtinscher Kategorien intensiv diskutiert. Eine differenziertere Wahrnehmung der »dunkleren« Passagen des Alten Testaments führte zu einem gesteigerten Interesse an den Klgl als »Problemtext« – aber auch als Beispiel ungezügelter, und im besten Sinne schamloser Klage. Spätestens seit den Ereignissen des 11. September 2001 erreichte das Buch eine Aktualität, die nicht nur im Thema des Textes begründet lag, sondern auch in der neuen Wertschätzung von Klage als anthropologischer Grundkonstante und als kreativ-heilsamem Verarbeitungsprozess traumatischer Erlebnisse. Kurz nach dem 11. September erschienen im angloamerikanischen Raum drei neue Klgl-Kommentare, die diesen neuen Ansatz in die Praxis umsetzten. In den Kommentaren von Adele Berlin, F. W. Dobbs-Allsopp und Kathleen O’Connor zeigt sich der gewandelte exegetische Horizont schon in der Art, wie die klassischen Einleitungsfragen behandelt werden. So enthält der einleitende erste Teil des Kommentars von Adele Berlin eigene Abschnitte zur poetischen Gestalt des Buches, zu Genderfragen, zur Klage als religiösem Konzept und eine ausführliche Einleitung in den literarischen Kontext des Textes. Auch O’Connor stellt ihrem Kommentar ein längeres Kapitel voran, in dem sie die poetische Gestalt des Buches eingehend diskutiert; es gibt gar einen Abschnitt zur Rezeption der Klgl in der Musikgeschichte. Die »klassischen« Einleitungsfragen werden zwar diskutiert, treten aber zurück; neuere Facetten kommen gleichberechtigt hinzu und machen das geweitete Fragespektrum der Klgl-Exegese deutlich. Zudem geben sowohl O’Connor wie auch Dobbs-Allsopp ein klares Bekenntnis zu einer programmatischen Exegese ab: Während Dobbs-Allsopp die Klgl ausdrücklich vor dem Hintergrund des Holocausts liest, interpretiert O’Connor die Lieder als Aufruf gegen Nihilismus und Indifferenz, die gerade für

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eine Leserschaft aus den Industrienationen ein Weg sein könne, eine neue Form von Menschlichkeit, Demut und Empathie zu entwickeln, die die vielfältigen, auch systemischen Ungerechtigkeiten unserer Existenz nicht einfach hinnimmt.21 Beide Kommentare bekennen sich damit von vornherein zu einer Exegese, die nicht mehr primär glaubt, »Anwalt des Textes gegen jede vorschnelle Vereinnahmung«22 sein zu sollen, sondern Anwälte der Leser*innen des Textes, und die primär die Anschlussfähigkeit des biblischen Textes an die Lebenswirklichkeit der Rezipient*innen aufzeigen will. Der größere Stellenwert poetischer und literarischer Stilmittel in der Auslegung macht sich bei der Diskussion von Klgl 2,20–22 unmittelbar bemerkbar. Berlin und Dobbs-Allsopp diskutieren jeweils ausführlich poetische Mittel wie Wortspiele und Assonanzen, Besonderheiten der Satzstruktur oder Enjambements. Frau Zion, die in diesen Versen als figura dramatis auftritt, nimmt in allen drei Kommentaren einen wichtigen Platz ein. Die Diskussion der biblischen Bezüge, der sonstigen biblischen Teknophagie-Texte, als der auch etwaigen historischen Hintergründe bleibt dabei nicht außen vor, wird jedoch bereichert um die rhetorisch-dramatische Wahrnehmung des Textes, in dem Zions Worte dann nicht mehr klagend, sondern »cold and pointed« wirken, »steeled … by the flames of Zion’s own anger that … has evidently been simmering underneath and at last boils over.«23 Der Blick auf die übrigen Lieder schärft zudem die Wahrnehmung für die dramatische Dynamik von Klgl 1 zu Klgl 2 und dann weiter zu Klgl 3. Die Berücksichtigung feministischer und befreiungstheologischer Aspekte erlaubt es dabei trotzdem, dem Text eine hoffnungsvolle Note abzugewinnen, ohne in moralisierende Auslassungen zu verfallen. So schließt Dobbs-Allsopp etwa: »The image that lingers after this poems final word is that of a defiantly alive woman, hurt and broken though she may be, and it is the hope that inheres in such defiance that haunts this poems silent aftermath and revivifies our retrospective experience of the suffering otherwise figured in the poem.«24

Die Würdigung der poetischen und literarischen Mittel in den Kommentaren von Berlin, Dobbs-Allsopp und O’Connor macht den poetischen Reichtum der bis dahin recht stereotyp behandelten Texte deutlich. Sie zeigen, dass die Texte sehr viel farbiger und vielstimmiger sind, als bis dahin wahrgenommen. Die Klgl primär als Poesie, als Kunst, zu verstehen, ermöglichte außerdem, die verschiedenen Teildiskurse, innerhalb derer die Klgl mittlerweile diskutiert werden, zu bündeln und in ein kreatives Gespräch miteinander zu bringen. Stellenweise wurden dabei die Grenzen des einzelnen Liedes schon überschritten und der Blick auf das ganze Buch gerichtet. Beispielsweise kommt bei einer Diskussion der Figur Zions ganz von selbst die Frage auf, wie sich ihre Darstellung in Klgl 1 und Klgl 2 zueinander verhalten – und in welchem Ver21 22 23 24

O’Connor (2002), xiv. Becker (2011), 207. Dobbs-Allsopp (2002), 99. Dobbs-Allsopp (2002), 104.

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hältnis sie zum ‫ גבר‬Mann aus Klgl 3 steht. Und wenn Dobbs-Allsopp seinen Kommentar ausdrücklich als post-holocaust-Lektüre verstanden wissen will, ist es gar nicht anders denkbar, als dass Bezüge zwischen den Liedern aufgezeigt, und Differenzen und Akzentverschiebungen diskutiert werden. Allerdings erfolgt dieser Zugriff dann doch eher sporadisch und wird insgesamt zu wenig methodisch reflektiert. Alle drei Kommentare gehen von unabhängig voneinander entstandenen Liedern aus, die schon einzeln von nur begrenzter inhaltlicher Kohärenz sind, geschweige denn einen übergreifenden Gedankengang entwickeln. Dann ist aber doch methodenkritisch zu fragen, ob die Verweise auf angrenzende Lieder mehr sind als (in letzter Konsequenz) freie Assoziationen.25 Die literaturtheoretische Herausforderung, die mit dem Versuch verbunden ist, einzeltextübergreifende Bezüge mit einer jeweils eigenständigen Genese der Einzeltexte zusammenzudenken, wird zu wenig wahrgenommen, geschweige denn gelöst.

2.1.4 Das Buch der Klagelieder als literarische Einheit Will man die Bezüge zwischen den einzelnen Liedern systematisch auswerten und dabei theoretisch sauber arbeiten, bieten sich zwei Wege an. Die eine Möglichkeit besteht darin, die einzelnen Texte einem einzigen Autor zuzuschreiben, d. h. das Buch schon von der Genese her als Einheit zu denken. Diese These steht mit der Frage der jeremianischen Autorschaft seit alters im Raum. In jüngerer Zeit hat Renkema einen ähnlichen Ansatz vorgelegt, wobei er jedoch statt eines einzelnen Autors ein Autorenkollektiv postuliert, das die vielfältigen Bezüge zwischen den Liedern plante und dann im Text realisierte. Die andere Möglichkeit besteht darin, die individuelle Genese der Lieder mit ihrer späteren Zusammenstellung als Gesamtwerk zusammenzudenken, wie es primär in redaktionsgeschichtlichen Ansätzen geschieht. Problematisch an diesen Ansätzen ist, dass sie nur eine »Einwegkommunikation« abbilden: Ein früher Text wird durch spätere kommentiert, weitergeführt, etc. Eine umgekehrte Beeinflussung ist nicht denkbar. Zum Teil existieren aber auch schon Überlegun-

25 Beispielsweise will O’Connor (2002), 43 im Sprecher von Klgl 2 den in Klgl 1 erwähnten, abwesenden ‫ מנחם‬Tröster erkennen, fasst Sprecher und Zion also ausdrücklich als literarischdramatische Figuren auf, die in einer funktionalen Beziehung zueinanderstehen. Das setzt sich jedoch nicht fort. Stattdessen sieht sie im Mann von Klgl 3 einen anonymen »strongman«, der aus der Ich-Perspektive »yet another picture of the catastrophe« (a. a. O., 44) zeichnet. Es unterbleibt vollkommen, nach dem Verhältnis des »strongman« zu den Figuren Zion bzw. Sprecher zu fragen; die in Klgl 1–2 eingeführte Sichtweise wird nicht konsequent durchgeführt, sondern von einem Vers zum nächsten fallen gelassen.

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gen, die darüber hinausgehen und versuchen, einen tatsächlichen Dialog zwischen den Liedern zu denken. 2.1.4.1 Ein Autor – ein Buch Die Frage der jeremianischen Autorschaft der Klgl, die sich traditionell auf 2Chr 35,25 beruft, ist so alt wie die Klgl-Forschung selbst. Erste Zweifel an ihr wurden schon im 18. Jahrhundert laut; seitdem wird die Identität des Autors bzw. die Anzahl der Autoren des Buches – und damit die Frage nach dessen Einheitlichkeit – intensiv diskutiert.26 Grosso modo vertreten jene, die dem Buch Einheitlichkeit unterstellen, die These eines einzelnen Autors,27 die breite Mehrheit, die eine solche Gesamtanlage eher nicht nachvollziehen konnte, optiert für mehrere Autoren.28 Die Vertreter, die die Einheit des Buches stark machen wollen, stehen dabei vor der Herausforderung, das Ungleichgewicht zwischen strukturellen und inhaltlichen Bezügen zu erklären: Entweder die von ihnen vertretene Buchkonzeption verharrt weitgehend auf der strukturellen Ebene – womit sich die Frage nach ihrer interpretatorischen Relevanz stellt.29 Oder sie postulieren inhaltliche Bezüge – und müssen dann erklären, warum die vermeintlich sorgfältig abgestimmte Struktur zu so wenigen zweifelsfreien strukturellen literarischen Bezügen führt (die wichtigsten: Klgl 1,7c – Klgl 3,19; Klgl 2,19d – Klgl 4,1b; Klgl 2,11f – Klgl 4,4), und warum diese Stellen von doch begrenzter inhaltlicher Relevanz sind. Johan Renkema ist daher in jüngerer Zeit der Einzige geblieben, der sich der Herausforderung gestellt hat, eine buchübergreifende Struktur zu erweisen, die 26 Vgl. Berges (2002), 31–36 für einen historischen Abriss der Diskussion. 27 Zu nennen wären hier Shea (1979), Johnson (1985), Dorsey (1988) und Renkema (1998). Brandscheidt (1983) geht ebenfalls von einer klar konzipierten Gesamtanlage der heute vorliegenden Sammlung aus, nimmt aber für Klgl 1, Klgl 2 und Klgl 5 jeweils unterschiedliche Verfasser an, sowie einen Redaktor, der Klgl 3 und Klgl 4 auf die zu schaffende Sammlung hin komponiert hat. 28 Zugleich ist natürlich festzuhalten, dass zwischen Beidem keine notwendige Beziehung besteht. Ein einzelner Autor kann ebenso fünf unabhängige Lieder schreiben, wie fünf unabhängige Lieder durch (möglicherweise sehr behutsame) redaktionelle Bearbeitung zu einer Einheit geformt werden können (Assis [2009], 308). 29 So etwa bei Shea, der die Einheit des Buches mit der These begründet, die fünf Lieder des Buches repräsentieren in ihrem 3 + 2 nochmals das in den Liedern präsente Qinah-Metrum. Der aus dieser Beobachtung folgende inhaltliche Ertrag bleibt gering. Das Postulat einer Gesamtanlange, die sich nur auf strukturelle Beobachtungen stützt, bleibt somit die Antwort schuldig, warum diese Struktur überhaupt angelegt wurde. Eine ganz ähnliche Kritik entwickelt Wagner (2007), 545f. für das Hld – auch hier existieren eine Reihe strukturanalytischer Entwürfe, die das Ziel haben, das Hld als einheitliches Werk zu erweisen. Allerdings bleiben auch sie »auf den Aufweis rein formaler Strukturen beschränkt und konnten keine interpretatorisch befriedigende inhaltliche Entsprechung bieten« (ebd.).

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von eminent interpretatorischer Relevanz ist.30 Unter der Prämisse, dass alttestamentliche Poesie keiner spontanen Laune entsprang,31 sucht er nach Strukturmarkern sowohl auf der Ebene der einzelnen Lieder als auch des gesamten Buches. Das sich erweisende Netz wechselseitiger Bezüge konstituiert für ihn den primären Kontext der Interpretation und wird dementsprechend unmittelbar für die jeweilige Auslegung der Verse fruchtbar gemacht. Seine Exegese von Klgl 2,20–22 illustriert die Vorgehensweise: Renkema legt für Klgl 2 eine Gliederung in zwei Cantos V 1–10.11–22 zugrunde; V 11–22 untergliedert er dabei weiter in zwei Sub-Cantos V 11–17.18–22 und letztere nochmals in zwei Canticles V 18–19.20–22.32 Für die insgesamt konzentrische Struktur von Klgl 2 macht er Stichwortaufnahmen, wie z. B. V 1: ‫ – ביום אפו‬V 22: ‫ ;ביום אף יהוה‬V 2: ‫ – לא חמל … לארץ‬V 21: ‫ לארץ … לא חמלת‬usw., geltend. Die V 11–22 offenbaren ebenfalls konzentrische Bezüge: V 11: ‫ – כלו‬V 22: ‫ ;כלם‬V 11: ‫ – עולל ויונק‬V 21: ‫ בתולתי ובחורי‬usw. Ähnliche Bezüge kann er für V 18–22 und schließlich für V 20–22 erkennen. Ist damit die Struktur von Klgl 2 als mehrfach geschachtelte Konzentrik erkannt, wendet er sich anschließend der Situierung von Klgl 2 im Buch zu. Renkema geht dabei von zwei Kategorien gegenseitiger Bezüge aus. Zum einen sei es Ziel der akrostichischen Anlage, die jeweils korrespondierenden Verse aufeinander zu beziehen.33 So wäre die ‫ר‬-Strophe von Klgl 2 im Kontext von Klgl 1,20; 3,58–60; 4,20; 5,20 zu lesen. Darüber hinaus sei jedoch auch das Buch insgesamt konzentrisch geformt, so dass sich Bezüge von Klgl 2 insbesondere zu Klgl 4 ergäben. So listet er etwa für V 20: ‫ תאכלנה‬den Bezug zu Klgl 4,5.11: ‫האכלים‬, ‫ ותאכל‬auf. Damit ist erst einmal nur der primäre Kontext umrissen, innerhalb dessen Klgl 2,20–22 auszulegen wäre. Die Exegese besticht dabei durch eine Vielzahl von Detailbeobachtungen und interessanten Gedanken und kann hier unmöglich umfassend dargestellt werden. Zur Darstellung des zugrunde gelegten Exegeseansatzes seien daher nur drei Details herausgegriffen: (1) Er deutet Zions Anklage in Klgl 2,20 (»Dürfen essen Frauen ihre Leibesfrucht …«) vor dem Hintergrund des in Klgl 1,20 von Zion beschriebenen inneren Leidens. Die Anklage und der Ärger, der aus Klgl 2,20 spricht, gehen dabei unter. Bezeichnenderweise 30 Vgl. aber Assis (2009), der ebenfalls von einem einzigen Autor und einer sorgfältig abgestimmten Gesamtkomposition ausgeht. 31 Renkema (1998), 73: »Old Testament poetry … came into existence in a quite different manner. Having designed a framework, the ancient poets then proceeded to establish divisions and formulate themes and focal points with respect to the material upon which they intended to elaborate. As they fleshed out their work they introduced points of accent by way of repetition and by way of their use of language they paved the way for the emergence of coherence and division between the various component parts of their composition.« Ähnlich schon in Renkema (1988d), 390f.: »[T]he poets versified the strophes of each song with an eye to the strophes on the same or the nearest level in the other songs. For that reason again it becomes highly unlikely that … we are dealing with … independent songs, versified in different times by different poets. It is far more likely that we are dealing with a well-thoughtout composition. Because theology depends on dialogue it is possible that numerous poets contributed to the composition of Lamentations. In that case they have done so at the same time, in careful teamwork.« 32 Renkema (1988a), 307–320. 33 Renkema (1995b).

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fehlt ein Hinweis auf die ‫ר‬-Bikola von Klgl 3: Ist die aus den dortigen Versen sprechende Zuversicht dann doch etwas zu viel Optimismus? (2) In V 20b übersetzt er ‫עללי טפחים‬ sorgsam umhegte Kinder gegen die Mehrzahl der Exegeten mit the children they carried upon their hands. Zur Begründung verweist er auf Klgl 2,11 (konzentrischer Bezug auf Canto-Ebene) und Klgl 4,2 (konzentrischer Bezug auf Buch-Ebene). Aus beidem leitet er ab, dass die fraglichen Kinder keineswegs gepflegt und wohlgenährt seien, vielmehr hungernd und elend. Klgl 4,5, das als Responsorium zu Klgl 4,2 diene (Bezug auf CanticleEbene innerhalb von Klgl 4), spreche darüber hinaus von Kindern, die einst von Ammen getragen wurden. (3) Die Rede vom ‫ יום מועד‬Festtag in Klgl 2,22 bringt er ins Gespräch mit Klgl 4,20–22 und dem dort beschriebenen Jubel der Tochter Edom. Erstaunlicherweise fehlt auch in der Diskussion von V 22 ein Hinweis auf Klgl 3,64–66, obwohl dort doch dem Vertrauen Ausdruck verliehen wird, dass JHWH das Tun der Feinde vergelten werde. Zusammen mit Klgl 4,22 würde so V 22b: ‫ ולא היה ביום אף־יהוה פליט ושריד‬und es war niemand am Tag des Zorns JHWHs, der entkam und entronn eine Deutung ermöglichen, die auch die in V 22 zum Fest gerufenen Angreifer mit einschließt.

Das Beziehungsgeflecht sich gegenseitig überlagernder Mikro- und Makrostrukturen, das Renkemas Auslegung zugrunde liegt, ist überwältigend. Nähme man sämtliche Bezüge gleichermaßen ernst, wäre Klgl 2,20–22 mit Blick auf Klgl 1,20–22; 2,1–3.11–13.18–20; 3,58–66; 4,2.5.10–11.13.20–22; 5,20–22 zu lesen. Schon daraus folgt zumindest eine Konsequenz: Unterscheidende Charakteristika der einzelnen Lieder stehen in der Gefahr, zugunsten der vorausgesetzten Gesamtbotschaft nivelliert zu werden. Die Abschwächung der Anklage Gottes durch Zion in Klgl 2,20 mit dem Hinweis auf ihre inneren Schmerzen aus Klgl 1 ist beispielhaft dafür. Wenn alles mit allem zusammenhängt, ist nichts mehr relevant. Problematischer noch sind die Fälle, bei denen die jeweils korrespondierenden Verse mit ursächlich für die jeweils gewählte Übersetzung eines Verses sind. Auch dies zeigte sich schon in Klgl 2,20; es gibt jedoch noch deutlichere Beispiele. So erkennt Renkema in Klgl 4,22 an, dass seine Übersetzung von ‫תם־עונך‬: »Your iniquity has amplified itself!« höchst ungewöhnlich ist und gegen eine praktisch einhellige opinio comunis steht, die ‫ תם‬mit zu Ende/vollendet übersetzt. Jedoch: »In spite of the evident scholarly unanimity on this question, we are of the opinion that such an understanding of the text is incorrect. There is absolutely no evidence that Lady Zion’s punishment is at an end. Indeed the parallel contexts offer powerful witness to the contrary …«.34 Beide Beispiele deuten auf zwei tiefere Probleme des Ansatzes hin. Zum einen ist ein gewisser Systemzwang unübersehbar. Die von Renkema vorausgesetzte Textgenese zwingt regelrecht dazu, entsprechende Gliederungselemente dann tatsächlich auch aus dem Text zu erheben. Ist die Struktur des Textes erst einmal »erkannt«, ist es von nur noch sekundärer Relevanz, welche strukturellen Be34 Renkema (1998), 564; Herv. AvdL.

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obachtungen zu ihrer Begründung herangezogen werden. Das Dass der Argumente gewinnt Vorrang über dem Was. So unterscheiden sich denn auch die Begründungen für bestimmte Gliederungsentscheide signifikant in den einzelnen Veröffentlichungen,35 wie auch die Qualität einzelner Gliederungsmerkmale untereinander. Zum anderen verwundert der naive Glaube an die Beweiskraft derartiger Strukturmarker. Abgesehen davon, dass schon ihre schiere Anzahl für Misstrauen sorgen sollte (immerhin müssen die meisten Verse strukturelle Hinweise für eine Vielzahl verschiedener Gliederungsebenen bereit halten), ist es doch mittlerweile eine recht triviale Einsicht, dass alles Hinweis auf jede Struktur sein kann – und auch wird, wenn man nur hinreichend entschlossen ist, entsprechende Hinweise auch zu finden. So verwundert es nicht, dass Renkemas Ansatz weitgehend auf Ablehnung gestoßen ist,36 wenngleich sein Kommentar an Ausführlichkeit und Kreativität für lange Zeit alles in den Schatten stellte, was sonst zu den Klgl publiziert wurde. Renkemas Ansatz zeigt zugleich die Stärken und Schwächen der These der Einheit des Buches. Die Stärken liegen in der Möglichkeit, die sich im Leseprozess ergebenden Bezüge als bewusste Textsignale auffassen und damit auch konsequent zueinander in Beziehung setzen zu können. Hinzu kommt, dass die Texte von Anfang an und in erster Linie als Kunstwerke wahrgenommen werden, so dass neuere Exegesemethoden automatisch als angemessenere und fruchtbarere Mittel der Analyse erscheinen.37 Dem steht die begrenzte Plausibilität entgegen, die die für seinen Ansatz notwendigen Prämissen hinsichtlich poetischer Literaturgenese und -rezeption im biblischen Israel für sich beanspruchen können.

2.1.4.2 Redaktionsgeschichtliche Ansätze Redaktionsgeschichtliche Ansätze sind die naheliegende Alternative zu Renkemas »Autorenkollektiv«. Schon 1988 entwickelte Renate Brandscheidt ein derartiges Modell, in dem Klgl 2 als das älteste der Lieder galt, gefolgt von Klgl 1 und schließlich Klgl 5.38 In einem anschließenden Redaktionsprozess seien dann Klgl 3 und Klgl 4 von einem einzigen Autor bewusst auf die konzentrische Buchanlage hin 35 Vgl. z. B. die sich erheblich unterscheidenden Begründungen für den diptychischen Charakter von Canticle I und VI von Klgl 3 in Renkema (1988b), 332 und Renkema (1998), 336. 36 Bosman (1992), 79f., Salters (1998), 97f., Salters (2000), 295, Redditt (2000), 284f., Berges (2002), 81. 37 Dem entsprechend kommt auch Miller (2002), 20 zu dem Fazit, dass die interessantesten Fragen und aufregendsten Antworten innerhalb der Klgl-Exegese durchweg durch neuere Herangehensweisen an den Text geliefert werden. 38 Brandscheidt (1983), 228–235. Ob hierfür je verschiedene Autoren anzunehmen wären, lässt sie offen.

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verfasst worden.39 Dabei wurde Klgl 3 nicht nur in die Mitte der zu schaffenden Sammlung platziert, sondern auch bewusst an Klgl 2 angeschlossen.40 Klgl 4 wiederum sei deutlich als Komplementär zu Klgl 2 verfasst worden.41 Klaus Koenen geht ebenfalls von einer gestaffelten Entstehung aus.42 Auch für ihn gilt Klgl 2 als das älteste Lied, um welches anschließend mit Klgl 1 und 4 ein Rahmen gelegt wurde, primär, um die massive Anklage Gottes in Klgl 2 durch den Hinweis auf die Schuld Zions in Klgl 1 und 4 zu entschärfen. Klgl 4 sei dabei in relativer Chronologie das zweitälteste Lied, gefolgt von Klgl 1.43 Wie Brandscheidt, enthält sich Koenen einer Entscheidung darüber, ob Klgl 1 und 4 von ein und demselben Verfasser stammen. Klgl 5 sei dann eine spätere Aktualisierung, die die Nöte der nachfolgenden Generation in die Klage einbringt. Klgl 3, das die scharfen Anschuldigungen von Klgl 2 nochmals korrigiert, bilde schließlich den Schlussstein der Sammlung. Eine in den wesentlichen Zügen gleiche Entstehungsgeschichte wird von Christian Frevel vertreten. Ein ursprüngliches Klgl 2, und ein ohne direkten Bezug darauf gedichtetes Klgl 4 werden von den Dichtern von Klgl 1 herangezogen und zu einer Proto-Einheit zusammengefügt. Klgl 3 sei bewusst als Reaktion auf Klgl 2 gedichtet und an dieses angefügt worden, während Klgl 5 eine zunächst unabhängige Komposition darstellte, die erst später als Abschluss hinzukam.44 Es ist leicht zu sehen, wie derartige Vorschläge die Probleme Renkemas umgehen: Statt eine fragwürdige Einheitlichkeit schon während des Entstehungsprozesses postulieren zu müssen, kann das entstandene Buch als redaktionelle Einheit aufgefasst werden, ohne dabei auf die weitgehend unabhängige Entstehung der einzelnen Texte verzichten zu müssen. Damit wären sowohl die auf Einheitlichkeit hinweisenden Strukturhinweise erklärbar, wie auch die relativ wenigen konkreten literarischen Bezugnahmen. Die Annahme eines redaktionsgeschichtlichen Entstehungsmodells scheint daher grundsätzlich sinnvoll. Allerdings geben Brandscheidts, Koenens und Frevels Thesen auch Fragen auf: Sollten Klgl 1 und 4 tatsächlich als Rahmen um Klgl 2 gelegt sein, so verwundern die deutlichen strukturellen und inhaltlichen Unterschiede zwischen beiden Liedern, sowie die wenigen Stichwortbezüge zwischen Klgl 1 und 4.45 Selbst bei der von beiden Liedern für wichtig gehaltenen Schuldthematik fällt auf, 39 40 41 42 43

Brandscheidt (1983), 225. Brandscheidt (1983), 220f. Brandscheidt (1983), 225. Koenen et al. (2015), 43*–45*. Ähnlich Diller (2007), 491. Anders Berges (2002), 237f., der in relativer Chronologie die Abfolge Klgl 2 – Klgl 1 – Klgl 4 ansetzt. 44 Vgl. Frevel (2017), 38–45. 45 Dies gilt insbesondere für das Modell von Frevel, nach dem Klgl 1 als Reaktion auf Klgl 2 unter Hinzuziehung von Klgl 4 entstanden ist.

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dass Klgl 4 gerade nicht die ‫פשע‬-Terminologie von Klgl 1 verwendet, sondern den in Klgl 2 benutzten Begriff ‫ עון‬aufgreift. Es spricht somit einiges dafür, dass Klgl 1 und 4 von unterschiedlichen Verfassern stammen, und erst anschließend von einem Redaktor um Klgl 2 gruppiert wurden. Zudem basiert die These, es ginge primär um den Nachtrag der in Klgl 2 recht unterbelichteten Schuldthematik, in erster Linie auf dem höheren Stellenwert dieses Themas in Klgl 1 und 4. Das übersieht jedoch, dass dies keineswegs die einzige thematische Verschiebung zwischen Klgl 1 über Klgl 2 zu Klgl 4 ist – man denke nur an die Entwicklung von personifizierter Zion zu einem selbst die Stimme ergreifenden Kollektiv in Klgl 4. Es sind also auch andere inhaltliche Gründe für eine entsprechende Rahmung denkbar. Die Skepsis hinsichtlich der Dominanz des Schuld-Themas verstärkt sich, wenn man Klgl 3 und 5 mitbedenkt, in denen die Schuld-Thematik keinesfalls eine hervorgehobene Stellung einnimmt. Um hierzu ein qualifiziertes Urteil abgeben zu können, bedürfte es einer grundlegenden Untersuchung thematischer Bezüge und Entwicklungen zwischen den Liedern. Erst basierend auf einem solchen Befund wäre es möglich, eine These hinsichtlich des Grundes der Rahmung von Klgl 2 durch Klgl 1 und 4 zu formulieren. Derartige Untersuchungen existieren allerdings bisher nur in Ansätzen. Zumindest teilweise dafür verantwortlich ist sicherlich, dass redaktionsgeschichtliche Modelle im Kern weiterhin diachron strukturiert denken: Spätere Hinzufügungen sind als Kontextualisierungen oder Rahmungen früherer Texte denkbar – aber nicht umgekehrt. Um zu unseren Beispielversen zurück zu kehren: Da Klgl 2 gemeinhin als ältestes der Lieder gilt, kann Klgl 2,20–22 weder bei Brandscheidt noch bei Koenen als Kommentar des Kontextes fungieren – als ältester Text kann Klgl 2 jeweils nur selbst kommentiert werden. Dementsprechend fassen beide daher auch die anschließenden Lieder als Rahmung und Korrektur von Klgl 2 auf. Eine umgekehrte Bezugnahme, in der Klgl 2 als das älteste der Lieder ausdrücklich auch die leidend-demütige Haltung Zions aus Klgl 1 konterkariert und einen bleibenden Gegenentwurf zur Haltung des Mannes aus Klgl 3 darstellt, scheidet in »klassischen« redaktionsgeschichtlichen Modellen aus. Ein redaktionsgeschichtliches Entstehungsmodell des Buches der Klgl ist somit sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung, muss allerdings ergänzt werden um einen theoretischen Rahmen, der es erlaubt, zumindest auf der Ebene des Endtextes buchübergreifend synchron lesen zu können. Exkurs: Peter Rabinowitz’ Unterscheidungsmodell Narrativer Audiences als Basis synchroner Bezugnahmen in diachron geschichteten Textkomplexen

Die theoretische Schwierigkeit, in redaktionsgeschichtlichen Modellen eine bidirektionale, synchrone, Bezugnahme diachron entstandener Texten denken zu können, lässt sich durch die von Peter J. Rabinowitz 1977 zur Interpretation fiktionaler Texte eingeführte Unter-

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scheidung verschiedener Audiences auflösen.46 Rabinowitz’ Ansatz wurden von ihm und anderen weiterentwickelt und präzisiert,47 und jüngst von Bier auch schon für die Analyse der Klgl herangezogen.48 Er ist darüber hinaus auch imstande, ähnliche Leserkonzepte (z. B. der Intendierte Leser Erwin Wolffs49 oder der Narratee Gerald Prince’50), zu inkorporieren.51 Rabinowitz unterscheidet insgesamt vier Publikum- bzw. Leseinstanzen: (1) Bei der ersten handelt es sich um das reale Publikum, d. h. die je-wechselnde Gruppe von Menschen, die einen Text zu einem gegebenen Zeitpunkt tatsächlich liest.52 (2) Ein Autor kommt beim Schreiben nicht umhin, Annahmen über sein avisiertes Publikum zu treffen. Er muss sich entscheiden, welches Vorwissen er bei seiner Leserschaft voraussetzen kann. Diese, vom Autor während des Schreibens vorgestellte Leserschaft bezeichnet Rabinowitz als autoriales Publikum.53 Dieses Publikum kann mit dem realen Publikum koinzidieren – es ist jedoch nicht notwendig. Wichtig ist dabei: Der reale Leser kann nicht umhin, während des Lesens die Charakteristika des autorialen Publikums bestmöglich zu rekonstruieren, da dies eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dem Werk inhaltlich folgen zu können. (3) Die dritte Leserschaft bezeichnet Rabinowitz als narratives Publikum.54 Sie tritt am deutlichsten zutage, wenn man an fiktionale Texte denkt, die phantastische oder unmögliche Ereignisse schildern. Im Gegensatz zum autorialen Publikum der Verwandlung beispielsweise, von dem Kafka sicher voraussetzt, dass ihm die Verwandlung eines Menschen in ein Insekt gänzlich unmöglich erscheint, scheint das narrative Publikum eine solche Verwandlung nicht nur für möglich sondern nicht einmal der Rede wert zu halten.55 Auch bei der Lektüre von veralteter Science Fiction wird das narrative Publikum deutlich erkennbar. Ein heutiger Leser von Jules Vernes Von der Erde zum Mond ist als Teil des realen Publikums von der Möglichkeit einer Mondreise überzeugt. Als Lesender des Romans rekonstruiert er ein autoriales Publikum, das eine solche Reise für unmöglich hält, um sich dann 46 Vgl. Rabinowitz (1977). 47 Vgl. Rabinowitz (1987), Booth (1961), 422f. nimmt Rabinowitz’s Unterscheidungen in der zweiten Edition auf, unterschlägt aber das sog. ideale narrative Publikum; Phelan (1996), 138– 153 findet jenes jedoch nachdrücklich relevant und ergänzt es um den Prince’schen Narratee, da in Rabinowitz’s ursprünglicher Analyse der Fall nicht beachtet ist, dass der Adressat des Erzählers nicht immer das narrative Publikum ist, sondern auch eine davon verschiedene dritte Partei sein kann. 48 Bier (2015), 20. 49 Wolff (1971), 166: »… die Leseridee, die sich im Geiste des Autors bildet.« 50 Vgl. Prince (1971), Prince (1980), und Prince (1985). Der Narratee stellt in Prince’ Überlegungen die vom Erzähler angesprochene Gruppe dar. 51 Prince (2009), 406. 52 Rabinowitz (1977), 126. 53 Rabinowitz (1977), 126f. 54 Rabinowitz (1977), 127f. 55 Kafkas Erzähler setzt unvermittelt damit ein, dass Gregor Samsa als Insekt aufwacht und hierüber in gewisse Beunruhigung gerät. Dies berichtet der Erzähler mit vollständigem Gleichmut; er berichtet von Gregors Unglauben – gibt jedoch nicht zu erkennen, dass er selbst eine solche Verwandlung bemerkenswert fände, noch, dass er die Notwendigkeit sieht, sein Publikum erst noch der Möglichkeit einer solchen Verwandlung überzeugen zu müssen. Der Mangel an Aufhebens, den der Erzähler um die Verwandlung Gregors macht, zeigt: Sein, des Erzählers, Publikum muss nicht überzeugt werden.

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als Mitglied des narrativen Publikums von der Durchführbarkeit des Unterfangens überzeugen zu lassen.56 (4) Rabinowitz führt anschließend noch eine vierte Leserkategorie ein, die er das ideale narrative Publikum nennt.57 Hier geht es darum, dass der Erzähler, als vom Autor erdachte Fiktion, natürlich auch mit Intentionen, Vorstellungen und Annahmen ausgestattet sein kann. Ein derart mit Intentionalität versehener Erzähler kann lügen, irren oder unwissend sein. Doch wen lügt er an? Das Publikum, das eine solche Erzählerfigur vor Augen hat, ist gleichsam eine idealisierte Version des narrativen Publikums, das seine Äußerungen unkritisch übernimmt.58 Rabinowitz bezeichnet es daher als ideales narratives Publikum,59 das sich zum narrativen Publikum in etwa so verhält, wie das autoriale zum realen Publikum. Die vier Publikumsinstanzen Rabinowitz’ basieren auf der Einsicht, dass ein Publikum jeweils aus zwei Perspektiven beschrieben werden kann bzw. muss: So wie es »ist«, und so, wie es vom Autor bzw. Erzähler vorgestellt wird. In Bezug auf den Autor korrespondieren hierzu das reale und das autoriale Publikum, auf der Ebene des Erzählers hingegen das narrative und das ideale narrative Publikum. Rabinowitz’ Publikumsinstanzen nehmen somit unaufgebbare Perspektiven narrativer Texte auf und wenden sie auf die Autor- und Erzählerposition an.

56 Das autoriale Publikum, d. h. das von Jules Verne beim Schreiben des Romans voraussetzte Bürgertum des ausgehenden 19. Jhd., war der Meinung, dass Raumfahrt unmöglich ist. Ebenso das narrative Publikum, welchem der Erzähler daher im Verlaufe des Romans ausführlich auseinandersetzt, wie genau eine Reise zum Mond machbar wäre. Das narrative Publikum wird von der Möglichkeit des Unterfangens überzeugt – das autoriale Publikum hingegen nicht. Erkennbar ist dies z. B. daran, dass der Autor es nicht für nötig befand, mittels eines Epilogs vor den Folgen einer Mondreise via Kanone zu warnen. Er konnte selbstverständlich davon ausgehen, dass das autoriale Publikum nach wie vor von der Unmöglichkeit des Unternehmens überzeugt ist. Das heutige reale Publikum hingegen, das sowohl von der Machbarkeit einer Mondreise allgemein, als auch der Suizidalität einer Mondreise per Kanone überzeugt ist, versetzt sich im Leseprozess in das (skeptische) autoriale Publikum hinein und lässt sich als Teil des narrativen Publikums von der Machbarkeit der Kanonenreise zum Mond überzeugen. Der Eindruck der Künstlichkeit der Analyse rührt daher, dass sich aus heutiger Sicht ein von Verne selbst (und mithin seinem autorialen Publikum) für unmöglich gehaltenes Vorhaben als durchaus machbar herausgestellt hat, die Fiktion der Science Fiction sich überholt hat. 57 Vgl. Rabinowitz (1977), 134. 58 In der Judenbuche von A. v. Droste-Hülshoff berichtet der Erzähler von einem Mord, der im Dorf für Aufregung sorgt und Ermittlungen nach sich zog. Später berichtet der Erzähler, dass der Mord nie aufgeklärt wird, gibt aber anschließend ein Gespräch wieder, in dessen Verlauf einer der Gesprächspartner implizit des Mordes überführt wird. Der Erzähler wird somit selbst der Lüge überführt! Die Unterscheidung, auf die es Rabinowitz ankommt, ist dabei weniger auf der moralischen Ebene angesiedelt, wie es Mayordomo-Marín (1998), 39f fälschlich annimmt – und Rabinowitz ist hier zugegebenermaßen terminologisch unklar. Der springende Punkt ist vielmehr, dass ein Erzähler, der als intentionales Subjekt im literarischen Werk präsent ist, irren oder lügen kann (wiewohl dies selten vorkommt). Ein solcher Erzähler basiert seine Worte seinerseits auf bestimmte Annahmen über sein Publikum. Worauf es Rabinowitz ankommt, ist die Beobachtung, dass der Erzähler auf der narrativen Ebene wiederum ein »reales« und ein »autoriales« Publikum hat. 59 Vgl. Rabinowitz (1977), 134–136.

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Die Chance von Rabinowitz’ Analyse für redaktionsgeschichtlich orientierte Exegesen liegt darin, dass mit dem narrativen Publikum eine Ebene vollkommener Fiktionalität erreicht ist – eine Ebene, auf der Fragen relativer Chronologie (und davon abhängiger synchroner bzw. diachroner Textbezüge) nicht mehr sinnvoll gestellt werden können.60 Die Ebene des narrativen Publikums ist einer historisch ausgerichteten Analyse per definitionem nicht zugänglich, da sie eine mittels der Erzählerfiktion geschaffene (Publikums-)Fiktion ist, deren Konturen lediglich aus den im Text angelegten Hinweisen erhoben werden kann. Zugleich ist diese Fiktion allerdings eine in jedem narrativen (und, im Falle der Klgl, dramatischen) Text angelegte unaufgebbare Publikumsinstanz, auf die im Leseprozess Bezug genommen wird. Im konkreten Fall der Klgl handelt es sich beim narrativen Publikum um eine recht generische Größe, da eine Erzählerfiktion im üblichen Sinne fehlt. Dementsprechend bleiben die Konturen des narrativen Publikums weitgehend konstant. Auf der Ebene dieses, des narrativen, Publikums ist die synchrone, einzeltextübergreifende Bezugnahme problemlos möglich, ohne sich von der vorausgesetzten relativen Chronologie die historisch »möglichen« bzw. »plausiblen« Bezüge diktieren lassen zu müssen. Rabinowitz betont, dass nicht in jedem narrativen Werk jede der vier Leseperspektiven anzutreffen sind. Das ideale narrative Publikum z. B. setzt eine Erzählerfigur voraus, die ein derartiges Maß innerer Differenzierung aufweist, dass sie nur in wenigen Werken verwirklicht sein dürfte. Daraus jedoch die Anwendung seines Modells auf biblische Literatur als »mit Kanonen auf Spatzen schießen«61 zu beurteilen, würdigt die inhaltlichen Stärken des Modells nicht. Insbesondere folgende Punkte sind erwähnenswert: (1) Rabinowitz bietet ein Modell an, keine Methode. Seine Differenzierungen sind daher nicht auf eine bestimmte interpretative Schule beschränkt, und kritische Rückfragen bewegen sich auf der Ebene der Produktivität des Modells, nicht seiner formalen Anwendbarkeit. Dies gilt auch hinsichtlich der Frage der Anwendbarkeit eines für narrative Texte konzipierten Modells auf poetische Texte ohne klar erkennbare Erzählerfiktion. Die Differenzierung von verschiedenen Audiences erweist sich trotzdem als fruchtbar – wenngleich in der konkreten Anwendung z. B. das narrative Publikum mit dem autorialen weitgehend deckungsgleich sein können. (2) Das Konzept des autorialen Publikums ist offensichtlich rückgebunden an die Intentionalität des historischen Autors. Gleichzeitig vermeidet es die Probleme, die sich bei der Rede von Autorenintentionen stricte dictum ergeben.62 So kann vermieden werden, über prinzipiell unwissbare psychologische Zustände anderer Menschen zu sprechen. Statt60 Rabinowitz (1977), 130: »The distance between autorial and actual audiences … may be inevitable – but … it is generally undesirable; and authors usually try to keep the gap narrow. The narrative audience, on the other hand, is truly a fiction; the author not only knows that the narrative audience is different from the actual audience, but he rejoices in this fact and expects his actual audience to rejoice with him. For it is this difference which makes fiction fiction, and makes the double-leveled aesthetic experience possible.« 61 So Mayordomo-Marín (1998), 40. 62 Vgl. Rabinowitz (1987), 22f.: »[M]y perspective allows us to treat the reader’s attempt to read as the author intended, not as a search for the author’s inner psyche, but rather as the joining of a particular social/interpretive community; that is, the acceptance of the author’s invitation to read in a particular socially constituted way that is shared by the author and his or her expected readers.«

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dessen wird die Rede von Autorenintentionen in drei Momente aufgespalten: Einerseits in das dem produktiven Leseprozess zugrunde liegende Postulat der Intentionalität des Autors.63 Zweitens in die durch soziale Konventionen u. ä. vorgegebenen Beschränkungen, denen sich der Autor unterordnen muss, will er, dass sein Werk verstanden werden kann.64 Und drittens, das Werk im Iserschen Sinne als »Konstituiertsein des Textes im Bewußtsein des Lesers«65. Von dieser Dreiheit ist das Intentionalitäts- und Konsistenzpostulat unaufgebbar. Die den Autor lenkenden Normen und Gepflogenheiten sind aus heutiger Sicht nur noch zu konjizieren, jedoch mit prinzipiell höherer Belastbarkeit und Genauigkeit als Geisteszustände toter Personen: Da man gefahrlos unterstellen darf, dass Autoren verstanden werden wollen, müssen die sozialen, kulturellen etc. Gepflogenheit, denen er sich beim Schreiben unterworfen sieht, allgemeiner Natur sein und durch Vergleiche und ähnliches eruierbar sein. Damit ist die Rede von Autorenintentionen methodisch sauber übersetzbar. Aus der notwendig zu unterstellenden Intentionalität eines Autors wiederum folgen die rabinowitzschen Publikumsinstanzen und insbesondere das narrative Publikum. (3) Rabinowitz bietet ein Modell, das die Interpretation von Makrostrukturen wie Psalmengruppen, Hld, Klgl oder auch das Zwölfprophetenbuch befruchten kann. Unabhängig von der Frage um etwaige Endredaktionen ist es unleugbar, dass sämtliche jener Texcorpora schon von früher Zeit an zumindest auch als zusammenhängende Werke aufgefasst wurden. Doch wenn dem so ist, dann ist eine Interpretation mit der undifferenzierten Kategorie »Leser« immer in die Dichotomie zwischen historischem Erstleser und »heutigem« Leser gezwungen. Vonseiten diachroner Exegeten wird zu Recht gegen die Rede von »dem« Leser (einer Psalmengruppe, des Dodekapropheton, des Hld etc.) der Vorwurf der Ahistorizität vorgebracht: Historisch existiert zwar eine (Erst-)Leserschaft der Psalterstruktur, jedoch kann es sich hierbei bestenfalls um die Menge der Leser handeln, die die zusammenhängende Psalmengruppe nach ihrer Endredaktion gelesen haben. Jene ist jedoch zumindest potentiell Generationen von der Entstehungswirklichkeit der einzelnen Psalmen entfernt. Die Rede von »dem Leser« ist somit ungenau. Demgegenüber übersehen diachrone Exegeten, dass die einzelnen Texte während des Leseprozesses ein praktisch konstant bleibendes narratives Publikum voraussetzen. Auf dieser Ebene ist die Rede von »dem« Publikum wiederum systematisch angemessen. Die Differenzierung von Audiences ist damit insbesondere geeignet, Texte bzw. Textgruppen, die vermutlich keinen einzelnen historisch individierbaren Autor haben, inhaltlich zu analysieren. (4) Rabinowitz’ Modell kann erklären, inwiefern anachronistische Lesarten einer diachron geschichteten Gruppe von Texten nicht nur möglich sind, sondern potentiell gar die bevorzugt angemessenen Lesungen sein können. Am Beispiel der Klgl: Sofern sich die Schaffung des Buches der Klgl als bewusste Entscheidung eines oder mehrerer Redaktoren erweist, stellt sich die Frage nach dem avisierten Publikum: Eine historisch-kritisch fundierte redaktionsgeschichtliche Herangehensweise hätte keine Wahl, als hier eine dem Endredaktor kontemporäre Leserschaft zu postulieren – das autoriale Publikum des – je nach Datierung von Klgl 3 – 4. Jahrhundert v. Chr. Auf der Textebene ist dies jedoch 63 Vgl. Suleiman (1980), 11: »…necessary fictions, guaranteeing the consistency of a specific reading …«; vgl. auch Ballhorn (2007), 21f., Krispenz (2001), 182f. 64 Rabinowitz (1987), 23: »the constraints within which writers write«. 65 Iser (1975), 253.

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offenbar falsch: Der Text versetzt die Leser*innen zurück in die Gegenwart des belagerten und zerstörten Jerusalems und die Zeit des Gerichts. Vor dem Hintergrund des ergangenen Gerichts in Klgl 2 wird das »Glaubensformular« des Mannes aus Klgl 3 entwickelt – und vor dem Hintergrund des belagerten Jerusalems und des dort grassierenden grässlichen Hungers in Klgl 4 evaluiert. Statt historisch »korrekt« von Klgl 3 aus in die Vergangenheit von Klgl 1–2 und Klgl 4 zu schauen, wird aus der Perspektive und historischen Gegenwart von Klgl 1–2 und Klgl 4 auf Klgl 3 geschaut. Dies ist allerdings nur auf der Ebene des narrativen Publikums möglich. (5) Durch die Reformulierung des Konzepts der Autorenintention auf systematisch saubere Weise kann eine Auffassung von verbindlicher Werkinterpretation bewahrt werden, die sowohl der Einsicht, dass der Leser bei der Kreation des Werkes substanziellen Anteil hat, Rechnung trägt, wie der Intuition, dass die verschiedenen vorstellbaren Interpretationen eines Werkes nicht prinzipiell gleichwertig sind, dass insbesondere die vom historischen Autor intendierte Interpretation (so unwissbar sie sein mag) eine wie auch immer geartete hervorgehobene Stellung verdient.

Ende des Exkurses

2.1.5 Dialogizität in den Klgl – Bachtinsche Kategorien als Interpretationshilfen? Insbesondere in der angloamerikanischen Exegese ist seit einiger Zeit die Tendenz zu beobachten, bei der Analyse der Klgl auf bachtinsche Kategorien wie Polyphonie und Dialogizität zurückzugreifen.66 Nach Bachtin handelt es dabei um zwei aufeinander bezogene Konzepte, die jeweils die Offenheit eines Textes für alternative, z. T. sich gar widersprechende Interpretationen betreffen, dabei jedoch jeweils unterschiedliche Aspekte akzentuieren: Während Polyphonie eher die Ko-Existenz verschiedener Stimmen meint, geht es bei Dialogizität um ihre Wechselwirkung, ihre Beziehungen zueinander.67 Mithilfe dieser Kategorien suchen die jeweiligen Autor*innen, die Mehrstimmigkeit der Klgl ernst zu nehmen und trotzdem die Möglichkeit einer vereinheitlichenden Interpretation zu eröffnen. So kritisiert Miller die häufig anzutreffende Aufwertung des Sprechers und die Gleichsetzung seines Standpunktes mit dem des Dichters: »When critics read Lamentations 1 in this way, they, in effect, privilege the narrator’s viewpoint and silence Jerusalem’s voice by subordinating it to that of the narrator. The

66 Exemplarisch: Boase (2006), Mandolfo (2007), und Bier (2015). Diese in der Diskussion der Klgl zu beobachtende Tendenz spiegelt einen allgemeinen Trend angloamerikanischer Exegese wider; vgl. grundlegend Newsom (1996). 67 Vgl. hierfür einführend Sasse (2010), 84–91.

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poem becomes … a monologic text: it permits only one point of view and creates a world that gives forth a single ideology, belief system, and purpose.«68

Stattdessen weist er auf die zwei Sprecherrollen in Klgl 1 hin, und sieht z. B. in der Dynamik der V 9–11 ein Beispiel bachtinscher Dialogizität, wodurch Klgl 1 zum »locus of conflict and struggle between two equally weighted voices«69 werde. Ähnlich interpretiert Boase die Klgl als dialogischen Text, in dem eine Vielheit von Sichtweisen und Standpunkten präsentiert wird, ohne dass eine einheitliche, monologische Stimme dominiere: »Central to the discussion is the insight that Lamentations asks its audience to read and weigh the respective viewpoints against the others.«70 Bier sieht im Fehlen eines Erzählers in den Liedern den Grund, weswegen bachtinsche Kategorien eine sinnvolle Herangehensweise an den Text darstellen: »[H]ow is one to determine the prevailing perspective, when neither God, nor his usually appointed agents speak? When there is no narrator to adjudicate how various speakers’ voices should be assessed, but instead a company of characters presenting points of view in competition? Bakhtin’s dialogism of the idea provides a framework for understanding these competing perspectives, as equally important integral points of view, interacting dialogically in a polyphonic text. In their plurality they grasp at dialogic truth, truth that need not be subservient to a single monologic message.«71

In der Verwendung bachtinscher Kategorien liegt zunächst noch nichts, was eine Interpretation der Klgl als Einheit zwingend macht. Denn selbst bei einer konsequenten Verwendung bachtinscher Kategorien wäre erst noch zu klären, inwiefern sich die liedinterne Polyphonie auch buchübergreifend manifestiert und in eine einheitliche Gesamtaussage integrieren ließe. Tatsächlich unternimmt auch keine*r der genannten Autor*innen einen solchen Versuch. Allerdings lässt sich bei einer bachtinschen Lesung ein übergreifender Gestaltungssinn auch dort vermuten, wo vordergründig divergente Standpunkte aneinandergereiht sind. Selbst radikale Brüche können als Charakteristika eines polyphonen Textes verstanden werden. Bachtin ermöglicht hier eine bemerkenswerte Quadratur des Kreises, die insbesondere für evangelikal sozialisierte Theolog*innen attraktiv erscheinen mag: Brüche und Spannungen, sowie die sich daran entzündenden literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Debatten können sachlich anerkannt werden, während zugleich darauf bestanden werden kann, dass es gerade der Endtext mit seinen Brüchen ist, der die Einheit der dialogisch gedachten göttlichen Offenbarung wahrt.

68 69 70 71

Miller (2001), 394. Miller (2001), 408. Boase (2006), 208f. Bier (2015), 110f.

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Allerdings gilt es zu bedenken, dass Bachtin seine Kategorien an und für narrative Texte entwickelt hat. Polyphonie meint dabei nicht primär eine Vielheit von Sprechern bzw. Stimmen, sondern die Nicht-Privilegierung einzelner Stimmen und Standpunkte, sowie die »Mehrstimmigkeit« der je einzelnen Stimmen für sich: »Polyphonie nimmt Bachtin auf der Ebene des Romans als Polyphonie gleichwertiger und vollständiger Stimmen und zudem innerhalb einer Stimme wahr.«72 Es genügt somit nicht, auf die Mehrzahl der sprechenden Figuren beispielsweise in Klgl 1 hinzuweisen; vielmehr müsste gezeigt werden, dass diese Stimmen tatsächlich gleichberechtigt sind. Exegetinnen wie Deryn Guest, die Klgl 1 einer vernichtenden Ideologiekritik unterzieht, würden eine solche Einschätzung wohl weit von sich weisen.73 Auch Dialogizität meint weniger das Nacheinander verschiedener Stimmen, sondern die gleichzeitige Wechselwirkung polyphoner Elemente.74 Dabei ist mit ›Elemente‹ bewusst ein weiter Begriff gewählt, denn Bachtin denkt hier nicht nur an die Dialoge der handelnden Figuren: »Der polyphone Roman ist durch und durch dialogisch. Zwischen allen Elementen der Romanstruktur bestehen dialogische Beziehungen, d. h. sie sind einander kontrapunktisch gegenübergestellt.«75 Charakteristikum der Romane Dostojewskis ist das Interagieren und gegenseitige Beeinflussen, das Nicht-Verweilen auf einem Standpunkt, sondern das Antizipieren und Reagieren auf Einwände, Gegenreden, usw. Das bestimmende Moment ist gerade der Wille zur Nicht-Harmonisierung: »Man könnte sagen: der künstlerische Wille der Polyphonie ist der Wille zur Verbindung vieler Willensakte, der Wille zum Ereignis.«76 Es geht also um den Versuch, einen Text zu schaffen, in dem trotz der Präsenz eines auktorialen Erzählers eine wahre Gleichberechtigung alternativer Stimmen erzeugt wird. 72 Sasse (2010), 85. 73 Dies soll nicht heißen, dass es in den Klgl keine Beispiele echter Polyphonie im bachtinschen Sinne gäbe. Man denke z. B. an Klgl 1,5.22. Während der Sprecher in V 5 das Gericht mit ‫על‬ ‫ רב־פשעיה‬wegen der Vielzahl ihrer Verbrechen begründet, rekurriert Zion in V 22 darauf mit ‫ על כל־פשעי‬wegen all meiner Verbrechen. Zions Worte sind polyphon: Eine Stimme formuliert den zustimmenden Rückverweis auf V 5. Die Differenz zwischen ‫ רב‬und ‫ כל‬ist hier nur stilistische Variation. Eine andere Stimme legt hingegen Wert auf diese Differenz und betont nur den Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe: »Alle« Verbrechen können genauso gut auch nur zwei oder drei sein. Inwiefern Schuld und Strafe in einem angemessenen Verhältnis stehen, bleibt dabei ungesagt. Ein noch deutlicheres Beispiel findet sich in Klgl 3,34–36. Die Pendens-Konstruktion hängt vom Hauptsatz ‫ אדני לא ראה‬Der Herr, er sieht es nicht in V 36b ab, dessen Übersetzung in den Kommentaren zwischen Frage und Aussage changiert. Hier zeigt sich wahre Polyphonie: In ein und demselben Satz kommen zwei Stimmen mit vollständig gegensätzlicher inhaltlicher Aussage zu Wort. 74 »Sich in der Welt zurechtzufinden, bedeutete für ihn [=Dostojewski], alle ihre Inhalte als gleichzeitig zu denken und ihre Beziehungen zueinander in einem einzigen Augenblick zu erraten.« (Bachtin [1971], 35; Herv. i. Orig.) 75 Bachtin (1971), 48. 76 Bachtin (1971), 27.

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Eine solche Intention und Textstruktur für die Klgl nahezulegen, scheint, wenngleich nicht unmöglich, so doch eher gezwungen und in jedem Fall unnötig. Die historische Situation der Abfassung der Lieder spricht eher gegen eine Textkonzeption, die auf den bewussten Verzicht auf auktoriale Autorität basiert. Stattdessen scheint es zielführender, die Mehrdimensionalität und Vielstimmigkeit zumindest mancher der Klgl durch eine historisch und genretypologisch sehr viel näherliegende Beschreibungssprache zu fassen (s. u. Kap. 5.1).

2.2

Plädoyer für eine einzeltextübergreifende Exegese des Buches der Klagelieder

In einer Rezension des 2011 erschienenen Klgl-Kommentars von R. Salters schreibt Eleuterio Ruiz: »[I]f his suggestion to consider the book as a Psalter-like collection of poems is valid, then it becomes essential to ask whether there is enough editorial work involved in the collecting task that would justify the search for a structure of the whole book and for a consistent theology in it. This question has long been raised and researched in the Psalter, a much more complex and heterogeneous work.«77

Damit sind wichtige Stichwörter genannt: Die Tendenz von der Exegese der Einzeltexte hin zu einem Blick auf Makrokorpora ist in der derzeitigen alttestamentlichen Exegese nichts Neues oder Außergewöhnliches. Nicht nur für den Psalter, auch für das Dodekapropheton, das Hohelied, selbst für das Buch der Sprüche liegen mittlerweile Untersuchungen vor, die jene Makrostruktur zum Ziel der Untersuchung machen. Es ist also naheliegend, eine solche Untersuchung auch für die Klgl zu wagen. Der kurze Abriss der Forschungsgeschichte hat allerdings deutlich gemacht, dass vergleichbare Ansätze in der Klgl-Exegese bisher keine überzeugenden Antworten haben liefern können. Autor*innen, die weitgehend unabhängig voneinander entstandene Einzeltexte annehmen, bleiben bei ihren Bezugnahmen auf benachbarte Lieder eher assoziativ. Sie gewannen dadurch zwar einen facettenreichen Blick auf den jeweiligen Einzeltext, konnten aber nicht die These einer buchübergreifenden Gesamtdeutung begründen. Geht man andererseits von einem einheitlichen Werk aus, muss man entweder erklären, warum die in einem solchen Modell vorausgesetzten Bezüge bei Lichte besehen doch wenig eindeutig und dünn gesät bleiben, oder man ist gezwungen, in der Nachfolge Renkemas die wohldurchdachte Komposition des Werkes am Text zu erweisen – mit allen daraus folgenden Problemen. 77 Ruiz (2012).

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Deutlich wurde allerdings, dass in der neueren Forschung die Einsicht einer zumindest gewissen Einheitlichkeit zunehmend Raum gewinnt. Es ist somit an der Zeit, die bisherigen eher kursorischen Ansätze in eine umfassende These der Buchinterpretation zu integrieren zu versuchen. Peter Rabinowitz’ Unterscheidung von Publikums-Instanzen bieten hierfür ein Modell an, mit dem die häufig anzutreffende Dichotomie zwischen produktionsästhetisch orientierter redaktionsgeschichtlicher Exegese und rezeptionsästhetisch orientierter Endtextexegese überwunden werden kann. Sein Modell kann erklären, warum es möglich ist, eine gestufte Entstehungsgeschichte der einzelnen Lieder und des Gesamtbuches anzunehmen, und zugleich auf der Ebene des Endtextes die einzelnen Lieder des Buches gegenseitig ins Gespräch zu bringen, unabhängig von ihrer jeweiligen relativen Chronologie zueinander. Damit sind erste Entscheidungen hinsichtlich der methodologischen Konzeption der Untersuchung gefällt: die Annahme einer gestaffelten Buchgenese und trotzdem ein synchroner Exegeseansatz. Wie das Projekt darüber hinaus methodologisch zu situieren ist, wird im folgenden Kapitel geklärt: In einem Survey vergleichbarer Exegeseprojekte sollen Probleme identifiziert, Potentiale und Erfahrungen gesammelt werden, die in exegetischen Kontexten auftraten wurden, in denen biblische Makrostrukturen schon länger untersucht wurden. Basierend auf diesen Erkenntnissen wird anschließend das eigene methodische Herangehen entwickelt.

3

Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

Kap. 2 hat gezeigt, dass die bisherigen Versuche der Interpretation des Buches der Klgl nicht von Erfolg gekrönt waren, ganz im Gegensatz zu einigen anderen Bereichen alttestamentlicher Exegese. Der Blick über den Einzeltext hinaus ist z. B. bei der Exegese des Psalters, des Dodekaprophetons oder des Hld mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden. Im vorliegenden Kapitel wird an drei exemplarischen Textkomplexen der derzeitige Stand der Forschung skizziert. Der Fokus soll dabei insbesondere auf den methodischen Vorentscheidungen liegen, die bei dieser Art der Herangehensweise an den Text gewählt wurden. Welche Erfahrungen wurden gemacht? Welche methodischen und exegetischen Probleme zeigten sich? Welche vorher unbeachteten Potentiale erschlossen sich? Ziel ist es, die in jenen Exegeseprojekten gesammelten Erfahrungen für die Konzeption des eigenen Zugangs nutzbar zu machen.

3.1

Drei exemplarische Textkomplexe

3.1.1 Von der Psalmenexegese zur Psalterexegese – und zur Psaltertheologie Das »Programm« der Psalterexegese, neben den einzelnen Psalmen auch die Anordnung der Psalmen in größeren Gruppen zu untersuchen, wurde ansatzhaft schon Anfang der 1970er Jahren von Brevard Childs im Rahmen seines canonical approach eingefordert.78 Auch Walther Zimmerli wies schon früh auf Psalmen hin, die offenbar als »Zwillinge« verfasst und auch als solche zu interpretieren seien.79 Ebenfalls schon seit geraumer Zeit wird auf die Technik der iuxtapositio 78 Childs (1971), 137 verweist darauf, dass die Psalmenüberschriften eine redaktionelle Tätigkeit darstellen, die schon während des Prozesses der Psaltergenese den Psalter selbst als interpretatorischen Bezugsrahmen wählte, und damit die Grenzen des Einzeltextes überschreitet. Sie seien somit Ergebnis einer exegetischen Tätigkeit, die schon während der Buchgenese eingesetzt habe und müsse als solche bei der Exegese der einzelnen Psalmen beachtet werden. 79 Zimmerli (1972).

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Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

als planvoller Anordnung oder concatenatio als gezielter redaktioneller Verkettung aufeinanderfolgender Psalmen hingewiesen.80 Erste Versuche, derartige Beobachtungen zu systematisieren und in ein umfassenderes exegetisches Programm zu integrieren, datieren aus der Mitte der 1980er Jahre81 und wurden im deutschsprachrigen Raum seit Mitte der 1990er Jahre von Norbert Lohfink82 und insbesondere Erich Zenger mit einer grundsätzlichen Methodenkritik an der bis dahin vorherrschenden formgeschichtlichen Exegese verbunden und inhaltlich breit entwickelt.83 Was als Hinweis auf eine bislang übersehene Facette der Psalmenexegese begonnen hatte, war zu einer fundamentalen Neuausrichtung der exegetischen Beschäftigung mit den Psalmen geworden. Nach dem neuen Paradigma ist der Psalter insgesamt eine sinnvoll rezipierbare Größe, in der der einzelne Psalm neben einem hypotetischen Sitz im Leben einen jeweils ganz klaren »Sitz im Buch« hat, der bei der Exegese berücksichtigt werden muss.84 Die Diskussion bewegt sich dabei grosso modo entlang dreier Fragen. (1) Werden durch eine Berücksichtigung des größeren Kontextes neue inhaltliche Einsichten ermöglicht, die einem umfassenderen Verständnis des Einzelpsalms wie auch des entsprechenden Kontextes dienen? Diese Diskussion scheint inzwischen weitgehend zum Positiven entschieden, wenngleich kritische Stimmen nicht vollständig verstummt sind.85 Eine Vielzahl von Studien belegen den Mehrwert, den der Blick über die Grenzen eines einzelnen Psalmes hinaus ermöglicht.86 (2) Wie ist diese Form der Exegese theoretisch und methodisch zu

80 Vgl. die Hinweise zu früherer Literatur in Zenger (1991), 399, Anm. 9; eine kurze Diskussion entsprechender Beispielpsalmen bietet Zenger (1998), 12–18. 81 So z. B. Wilson (1984) und Wilson (1986), aber auch Brueggemann (1991). 82 Lohfink (1988), Lohfink (1992). 83 Zenger et al. (1996), Zenger (1998), Zenger (1999), Zenger (2001), Zenger (2004). Die systematische Berechtigung dieser Neuausrichtung zieht er dabei aus den Begrenzungen des formgeschichtlichen Ansatzes, der insbesondere den konkreten Buchkontext des individuellen Psalms vernachlässige. Zenger formuliert drei Problemkomplexe: (1) Die meisten Psalmen stellen Mischgattungen verschieden deutlicher Ausprägung dar; das nötigt entweder zum Definieren immer spezifischerer Sub-Gattungen oder zum Hantieren mit sehr allgemeinen Gattungskriterien – in beiden Fällen zerrinnt der Erkenntnisgewinn zwischen den Fingern. (2) Durch den Fokus auf Psalmengattungen droht das individuelle Profil eines Psalms nicht genügend oder gar nur als Abweichung von einem postulierten Gattungsideal in den Blick zu kommen; entsprechend bestehe die Gefahr, Mischgattungen stilistisch und theologisch abzuwerten. (3) Der Psalter insgesamt komme nicht oder nur ungenügend in den Blick, weder als Größe sui generis, noch als Deutungshorizont der einzelnen Psalmen. 84 So etwa Ballhorn (2004), 19f. 85 Vgl. Müller (2003), 119f. oder Gerstenberger (2010). 86 Eine Auswahl: Mays (1987), Lohfink (1988), Lohfink (1992), Hossfeld et al. (1992), Hossfeld et al. (1993), Miller (1993), Hossfeld et al. (1994), Zenger (1994a), Schröten (1995), Koenen (1995), Hossfeld (1998), Uehlinger (2001b), Zenger (2004) und Uehlinger et al. (2005).

Drei exemplarische Textkomplexe

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fundieren?87 Sucht man den Psalter als Ganzes anderen Texten gleichzustellen,88 d. h. ihm Kategorien wie Textualität, Narrativität, Kohärenz usw. zuzuschreiben?89 Oder beschränkt man den Ansatz auf die Exegese kleinerer Psalmengruppen, die als ›Bereiche höherer Kohärenz‹ innerhalb eines ansonsten eher locker thematisch oder motivisch geordneten Buch-Ganzen existieren? (3) Unter der Annahme einer bewussten Gruppierung der Psalmen zu Psalmengruppen, aus der erst Teile des Psalters und schließlich der Gesamtpsalter erwuchsen, stellt sich die Frage nach der redaktionsgeschichtlichen Modellierung der entsprechenden Genese.90 Innerhalb des durch diese Fragen abgesteckten Horizontes hat sich eine breit gefächerte Forschung entwickelt, von Studien einzelner Psalmen und Psalmengruppen angefangen, über redaktionsgeschichtliche Untersuchungen verschiedensten Umfanges bis hin zu Diskussionen der durch neuen Forschungsansatz aufgeworfenen methodischen Fragen und Probleme. Es ist insbesondere dieser letzte Bereich, der für die Exegese der Klgl von Interesse ist. Angesichts der Leistungsfähigkeit der psalterexegetischen Untersuchung einzelner Psalmen sowie kleinerer Psalmengruppen liegt es nahe, den Ansatz sukzessive auszuweiten: Wenn der Psalter Resultat einer längeren, komplexen Redaktionsgeschichte ist, sollten doch (mutatis mutandis) die gleichen gliedernden und sinnstiftenden Mechanismen, die für kleinere Psalmengruppen gelten, auch für größere Einheiten gelten können. Auch etwaige methodische Herausforderungen sollten hier am deutlichsten zu Tage treten. Es sei daher zuerst ein Blick auf diejenigen Versuche geworfen, die die psalterexegetische Herangehensweise auf ganze Psalmenbücher ausgeweitet haben. Die ausführlichste methodische Grundlegung bietet hier Ballhorns Versuch, das vierte und fünfte Psalmenbuch als Teil eines Gesamtspalters mit »implizitem Lesekonzept« zu deuten.91 Ballhorn beginnt seine methodischen Ausführungen mit einer Differenzierung von Textebenen. Die grundlegendste Ebene stelle der Text der Psalmencorpora dar, in diese eingebettet fänden sich dann Zitate, 87 Überlegungen hierzu bei Müller (2003), Weber (2007) und Weber (2010). Bislang am ausführlichsten hat sich Ballhorn (2004), 11–37 derartigen Fragen gestellt. Vgl. auch die Überlegungen in Hartenstein (2010), 229–236. 88 Die an dieser Stelle offensichtlichen Formulierungsprobleme – was sind ›andere Texte‹? – werden weiter unten noch ausführlicher diskutiert. 89 So redet z. B. Ballhorn (2004), 36 in Anlehnung an Iser vom »impliziten Lesekonzept« des Psalters. Ähnliche Formulierungen bieten z. B. Janowski (2010), 304, der dem Psalter einen »quasi-narrativen Geschehensbogen« zuspricht, oder Weber (2010), 738f., der von einem »semi-autonomen Status« der Psalmen innerhalb des Psalters sowie einer »Quasi-Narrativierung der Poesie« spricht. 90 Auch hier nur eine Auswahl: Wilson (1992), McCann (1993), Millard (1994), Zenger (1994b), Koch (1994), Creach (1996), Leuenberger (2004), Süssenbach (2005). 91 Ballhorn (2004), 36; Ballhorns Projekt hatte in Barbiero (1999) einen Vorgänger, der sich mit dem ersten Psalmenbuch beschäftigt.

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wörtliche Rede usw.92 Auf einer Ebene über dem Text seien die Psalmenüberschriften und Schlussdoxologien anzusiedeln. Diese Textebenen seien durch strukturbildende und richtungsweisende Merkmale auf Buchebene gegliedert; sie ermöglichen dem Leser das Nachvollziehen vormals bewusst geschaffener Beziehungen zwischen Texten, die praktisch das ganze Buch umspannen.93 Ballhorn ist skeptisch gegenüber Versuchen, auktoriale Intentionen aus der Anordnung einzelner Psalmen zu eruieren. Er schlägt daher vor, die kompositionskritische Frage: »Wie und zu welchem Zweck ist diese Anordnung entstanden?« zugunsten der rezeptionsästhetischen Fragestellung: »Zu welchem Ziel führt die Komposition dieses Textes?« zurücktreten zu lassen.94 Während erstere sich in zahlreichen Unwägbarkeiten verfängt, sei letztere mittels der »im Text feststellbaren Strukturen und internen Verweissysteme« vergleichsweise gut überprüfbar. Hierzu greift er Isers Konzept des Impliziten Lesers auf. Da die Forschungsgeschichte deutlich gemacht hat, dass diese Bezeichnung nicht nur anthropomorph klingt, sondern häufig auch in dieser Hinsicht falsch verstanden wurde,95 schlägt Ballhorn eine Umbenennung in »Implizites Lesekonzept« vor, bei weitgehender Beibehaltung des theoretischen Gehaltes des Begriffes.96 Ganz im Gegensatz zu Iser, bei dem der Implizite Leser als Chiffre für sämtliche Vororientierungen aller denkbaren Leser dient,97 konzentriert sich Ballhorn für seine Untersuchung auf eine konkrete Lesart unter vielen möglichen: diejenige, die den Psalter als »Buch in seinem Textzusammenhang wahrzunehmen erlaub[t]«98. Hierfür seien einerseits die schon angesprochenen Gliederungssignale auf der makrostrukturellen Ebene, andererseits aber insbesondere semantische Vernetzungen zwischen einzelnen Psalmen heranzuziehen. Der Psalter biete somit Strukturen, »die ihn als sinnvollen, gegliederten Text wahrnehmen helfen«99. Insofern Stichwörter während der Lektüre des Psalters wiederholt werden und in bestimmten Kontexten gehäuft vorkommen, entstehe eine Erwartungshaltung und ein Verstehenshorizont, die den jeweiligen Einzeltext

92 Ballhorn (2004), 12. 93 Ballhorn weist hier auf das Phänomen hin, dass späte Psalmen ausdrücklich auf frühere Bezug nehmen: So z. B. Ps 90 auf Ps 89, Ps 96 auf Ps 26, Ps 108 auf Ps 57 und Ps 60 usw. 94 Ballhorn (2004), 18. 95 Vgl. etwa Erbele-Küster (2001), 51–62, die vom Impliziten Leser zum Impliziten Beter übergeht und diesen zudem noch mit der Person Davids als Beterfiktion verbindet (a. a. O., 85). 96 Ballhorn (2004), 22. 97 Iser (1976), 60: Der Implizite Leser, »verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet«. Das Konzept fungiert als Chiffre für die Rede von allen denkbaren Vororientierungen eines Textes für sämtliche denkbare Leser. Er stellt ein »transzendentales Modell [dar], durch das sich allgemeine Wirkungsstrukturen fiktionaler Texte beschreiben lassen« (a. a. O., 67). 98 Ballhorn (2004), 23. 99 Ballhorn (2004), 25.

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übersteigt, »so daß im Verlauf der Psalmenlektüre ein Lexem seine eigene Geschichte erhält und damit eine sukzessive semantische Anreicherung erfährt«100. Damit komme dem Psalter insgesamt etwas zu, was Ballhorn versuchsweise als »narrative Struktur«101 bezeichnet. Zwar sei der Psalter primär eine Sammlung aus Einzeltexten und werde durch die Beachtung makrostruktureller Gliederungssignale auch nicht zu einer fortlaufenden Erzählung, jedoch weise er »einen Duktus als gesamter Text auf«102, die sich auf vielfältige Art (seiner nicht-beliebigen Buchgestalt, der kanonischen Reihenfolge der Einzelpsalmen, der Asymmetrie von Anfang und Ende, etc.) äußere. Ballhorns Vorgehen wirft methodologische Fragen auf. (1) So mag man berechtigt fragen, warum eine Struktur »narrativ« genannt werden sollte, wenn sie doch sämtliche Eigenschaften narrativer Strukturen – Plot, handelne Figuren, syntaktische Kohäsion, inhaltliche Kohärenz usw. – offenkundig vermissen lässt. (2) Auch seine Heranziehung von Isers Konzept des Impliziten Lesers ist nicht ohne Probleme. Angedeutet seien drei Schwierigkeiten: (a) Es ging Iser nicht darum, eine Rezeptionstheorie, verstanden als eine Theorie der Interpretation von Texten, zu formulieren, sondern eine allgemeine Wirkungstheorie von Textverständnis.103 Das Projekt, das Iser in »Der Akt des Lesens« unternimmt, kann man in zwei Fragen fassen: Wie sind fiktionale Texte beschaffen und welche Funktionen resultieren daraus?104 Daran anschließend: Wie realisieren sich diese Funktionen im Leser?105 Es stünde also zuerst einmal zu klären, inwiefern das Isersche Beschreibungsmodell dessen, was beim Lesen fiktionaler Texte »passiert«, in ein operationalisierbares Interpretationsverfahren konkreter Texte überführbar ist.106 (b) Es fehlt eine Diskussion darüber, inwiefern ein Modell, dass anhand und für fiktionale Texte entwickelt wurde, auf den Psalter als Sammlung von Einzeltexten anwendbar ist.

100 101 102 103 104 105 106

Ballhorn (2004), 30. Ballhorn (2004), 30. Ballhorn (2004), 30. Iser (1980), 61. Iser (1976), 88. Iser (1976), 38. Eine Frage, die breit diskutiert, aber nie überzeugend beantwortet wurde. Die Probleme können kurz an Isers Rede von »Leerstellen« im Text verdeutlicht werden. Isers Rezeptionsmodell beruht darauf, dass ein Text Leerstellen aufweist, die im Leseprozess kreativ zu füllen seien (Iser [1976], 284.327). Damit muss jedoch zwischen »festen« textlichen Vorgaben und Leerstellen, an denen Leser*innen kreativ tätig werden müssen, unterschieden werden können. Nach Isers Auffassung konkretisieren sich Texte zwar erst im Leseprozess – allerdings ist jene Konkretisierung darauf angewiesen, wenigstens zwischen Leerstellen und »festem« Text unterscheiden zu können. Doch wie soll dies ohne vorherige Interpretation möglich sein? (Schmitz [2002], 104f.) Eagleton (1983), 84 bringt es auf den Punkt: »[T]here can be no category of the ›given‹ if by given one means what is there before interpretation begins. … If one considers the ›text in itself‹ as a kind of skeleton, a set of ›schemata‹ to be concretized in various ways by various readers, how can one discuss these schemata at all without having already concretized them?«

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Fiktionale Texte im Iserschen Sinne sind grundsätzlich narrative Texte; die Narrativität wahrt nicht nur allgemein die Kohärenz des Textes, sie stellt auch die für den Rezeptionsprozess essentiellen und in ihm aufgegriffenen Textrepertoires und Textstrategien bereit.107 Doch wie lässt sich dies auf den Psalter übertragen? Gerade die in Isers Modell grundlegend narrativ fundierte Textualität steht beim Psalter zur Diskussion. (c) Das für das Konzept des Impliziten Lesers grundlegende Moment eines transzendentalen Modells scheint bei Ballhorn schnell verloren zu gehen. So formuliert er kurz nach Einführung des Modells: »Die fortlaufende Lektüre des Psalters bringt jedoch den Vorteil, daß dieses Vorgehen dem vom Psalter in seiner Buchgestalt erforderten Textgebrauch besonders gemäß ist und insofern das implizite Lesekonzept des Psalters realisiert.«108 Hier scheint der Begriff dann aber im Sinne einer im Buch angelegten »Rezeptionsstruktur« verwendet zu werden und läuft damit Gefahr, unzulässig konkretisiert und enggeführt zu werden.109

(3) Schließlich sei noch die uneinheitliche Verwendung des Textbegriffes angemerkt. So finden sich einerseits Formulierungen wie »der Psalter bleibt immer noch eine Sammlung von Einzeltexten«110, Ballhorn redet von den »Textgrenzen der Einzelpsalmen« und von Einzelpsalmen als »distinkte Texte«111. Andererseits redet er vom »Text des Psalters«, »größeren Textstrecken«112 und vom »Buch in seinem Textzusammenhang«113. Offenbar wird hier mit unterschiedlich restriktiven Textbegriffen operiert, ohne dies weiter zu reflektieren. Prinzipiell spricht nichts dagegen, einen relativ weiten Textbegriff zu bevorzugen, dem zufolge auch ein Werk wie der Psalter fraglos ein Text wäre. Bekanntlich eignet in strukturalistischen Theorien letztlich jedem sozial-semiotischen Prozess Textualität.114 Allerdings wäre dann zu klären, inwiefern die herangezogenen Interpretationsmethoden auf einen derart definierten Text anwendbar sind.115 Auch die Bezie107 Nach Iser verfügen Texte über ein Textrepertoire und Textstrategien. »Das Textrepertoire bezeichnet das selektierte Material, durch das der Text auf die Systeme seiner Umwelt bezogen ist, die im Prinzip solche der sozialen Lebenswelt und solche vorangegangener Literatur sind.« (Iser [1976], 143) Hierunter zählen soziale und historische Normen und Konventionen, der sozio-kulturelle Kontext, aber auch »Bruchstücke vorangegangener Literatur.« (a. a. O., 118) Textstrategien hingegen zeichnen »jene Bahnen vor, durch die die Vorstellungstätigkeit gelenkt und damit der ästhetische Gegenstand im Rezeptionsbewußtsein hervorgebracht werden kann.« (a. a. O., 154). 108 Ballhorn (2004), 27; Herv. AvdL. 109 Gänzlich verloren geht die dem Begriff eigentlich zukommende Transzendentalität dann in der Rezeption bei Weber (2007), 87. 110 Ballhorn (2004), 30. 111 Ballhorn (2004), 22. 112 Ballhorn (2004), 25. 113 Ballhorn (2004), 23. 114 Knobloch (1990), 81f. 115 Ein triviales Beispiel: Eine genügend weite Textdefinition vorausgesetzt, wäre auch ein Comic als Text zu fassen (vgl. die Diskussion bei Vater [2001], 10–22). Isers Beschreibungsmodell wäre jedoch zur Interpretation dieses Rezeptionsprozesses vollständig unangemessen. Damit ist schon angedeutet, an welchem Punkt der Hinweis auf begriffliche Unschärfe zu einer Kritik an methodischer Stringenz wird: Beschreibungen, sprachliche

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hung der Rede vom Psalter als Buch zur Rede vom Psalter als Text wird nicht deutlich: Die Lektüre eines Gedichtbandes als Gedichtband verpflichtet keinesfalls zu der Auffassung, die im Band enthaltenen Gedichte repräsentieren zumindest auch einen wie auch immer gearteten Gesamttext. Bei Ballhorn scheint ein solcher Konnex häufiger impliziert. Skizzieren wir kurz seine inhaltlichen Erkenntnisse.116 Ballhorn identifiziert drei große inhaltliche Bögen: einen Mosepsalter (Ps 90–100[.101–107]), einen schon in Ps 104 erkennbar werdenden Bogen von Halleluja- und ‫הודו‬-Psalmen (Ps 104–136), der seinerseits weitere Teilsammlungen beinhaltet, sowie einen David-Psalter (Ps 136–145), der zusammen mit dem Schlusshallel Ps 146–150 das Ende des Gesamtpsalters markiert. Der Gedankengang stellt sich ihm dabei wie folgt dar: Ab Ps 90 tritt Mose als exemplarischer Beter auf, wodurch versucht wird, »das bisher im Psalter vorherrschende Davidkonzept durch ein Mosekonzept und die damit verbundene Theokratie«117 abzulösen. Moses wird somit als eine die Davidpsalmen und das darin propagierte Königtum kritisch aufnehmende Figur eingeführt. Dieses Mosekonzept wird ab Ps 101 auf eine charakteristisch geänderte DavidGestalt hin reflektiert und der kritische Impuls der Mose-Figur in das Konzept des davidischen Königtums integriert. Ab Ps 105 gewinnt der Blick in die Geschichte Israels größeres Gewicht; die Exoduserfahrung wird als erfahrungs- und identitätsstiftender »Lernort« des Volkes mit der anhaltenden Sünde Israels (Ps 106) kontrastiert. Die Großgruppe von Ps 105–136 beinhaltet ihrerseits drei Kleinsammlungen, die nur wenige Verbindungen zum Kontext aufweisen (Ps 108–110; Ps 119 sowie Ps 120–132). Insgesamt ist ein Fokus auf das Exodus- bzw. Landnahmethema erkennbar. Insbesondere Ps 119 »ist durch keinerlei redaktionelle Strukturen in seine Umgebung eingebunden, so daß er als erratischer Block dasteht«118. Der »Wallfahrtspsalter« bzw. »Zionspsalter« (Ps 120–134) fokussiere auf Jerusalem: »Mit Ps 122 ist die Bewegung auf Jerusalem bereits an ihr Ziel gekommen, von nun wird das Thema ›Zion‹ meditierend umkreist.«119 Mit Ps 138 beginnt die letzte Davidsammlung des Psalters, die damit im Leseprozess letztverbindliche Aussagen zum Davidbild des Psalters machen. »Indem David zu Beginn von Ps 145 Gott als seinen König anredet, verzichtet er angesichts der universalen Königsherrschaft Gottes auf sein Königtum. David legt seine Königskrone nieder und verschwindet in der Menge der vielen ›Frommen‹, die Gott und sein Reich loben (v.10).«120 Damit wird gleichzeitig zum Schlusshallel übergeleitet.

116 117 118 119 120

Bilder und Begriffe schaffen Realitäten – und fordern Realitäten ein. Die Verwendung einer Umschreibung oder eines Begriffes mag dem Augenblick geschuldet sein – sie hat aber (methodische) Konsequenzen. Wo man anschließend nicht gewillt ist, sich diesen zu stellen, wird die Begrifflichkeit unspezifisch und letztlich unwissenschaftlich. Vgl. für die folgende Zusammenfassung Ballhorn (2004), 361–382, bes. 361–369. Ballhorn (2004), 363. Ballhorn (2004), 366. Ballhorn (2004), 366. Ballhorn (2004), 369.

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Ballhorn bleibt in seinen Schlussfolgerungen meist durchaus zurückhaltend.121 Dadurch wird aber zugleich deutlich, wie wenig folgenhaft die einleitenden methodischen Grundlegungen bleiben. Die aufgezeigten Beziehungen, die er als als »vielgestaltigen und spannungsreichen Dialog« charakterisisert,122 verpflichten nur dazu, die Psalmen in ihrer intertextuellen Bezogenheit – primär hinsichtlich des Psalters als »privilegiertem Auslegungskontext«123, dann aber auch dem AT allgemein – wahrzunehmen. Die Rede vom Psalter »als Text«, von der »narrativen Struktur« des Psalters, und von der Lesung des Psalters »als Buch« bleibt für den Gegenstand seiner Untersuchung weitgehend folgenloses Beiwerk. Ein ähnliches Fazit gilt auch für die zweite größere Studie dieser Art, Barbieros Untersuchung des ersten Psalmenbuches.124 Auch hier vermisst man eine theoretische Reflexion der methodischen Voraussetzungen und Konsequenzen des eigenen Tuns;125 die Überlegungen zur tatsächlichen Buchlektüre des ersten Psalmenbuches finden sich in Form eines »Ausblicks« auf insgesamt zwölf des mehr als siebenhundertseitigen Werkes zusammengefasst. Dabei entwirft Barbiero ein inhaltlich durchaus faszinierendes Bild: Ähnlich der Technik des Mise en abyme rekonstruiert er ein formkritisches Muster, bestehend aus Klage – Lob – Danksagung – Klage, welches er sowohl in Ps 3–14 wie auch im gesamten ersten Psalmenbuch Ps 3–41 repliziert findet.126 Hierin identifiziert Barbiero vier Struktureinheiten, die unter den Überschriften »Reich des Menschen«, »Reich des Gesalbten«, »Reich JHWHs« und »Der Knecht JHWHs« stehen. Er kann eine allgemeine thematische Entwicklung deutlich machen, die durchaus auch inhaltliche Folgerichtigkeit aufweist – allerdings ist nicht klar ob (und inwiefern) diese Beziehungen über »normale« intertextuelle Beziehungen zwischen Texten hinausgehen.

Neben diesen beiden größeren Studien thematisieren auch einige kleinere Beiträge die Gesamtgestalt des Psalters und stellen grundlegendere Überlegungen über die Textgestalt des Gesamtpsalters an. Auch hier herrscht die Tendenz vor, auf eher assoziative Weise und selten mit klar definierten Begrifflichkeiten über die Gesamtgestalt des Psalters zu reden. (1) So bezieht sich Janowski in einem Artikel zur »theologischen Architektur« des Psalters ausdrücklich auf die Metaphern und Vergleiche, die in der Ver-

121 Das ist eine der großen Stärken seiner Untersuchung. So gibt er z. B. unumwunden zu, dass sich Ps 119 »auf vielerlei Weise gegen eine Einbeziehung in den Duktus des Psalters sträubt.« (a. a. O., 220) Es wird nicht versucht, zu beschönigen oder in Metatheorien zu flüchten. 122 Ballhorn (2004), 361. 123 Steins (1999), 34. 124 Barbiero (1999). 125 Entsprechende Bemerkungen finden sich zwar in der Einleitung, beschränken sich jedoch auf wenige Seiten. 126 Barbiero (1999), 719–721.

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gangenheit herangezogen wurden, um die spirituelle Qualität des Psalters deutlich zu machen. Eine dann doch naheliegende Diskussion der Begrenzungen und Probleme derartiger Vergleiche unterbleibt jedoch und der Ertrag für die Frage der angemessenen Beschreibung des spezifischen Textzusammenhangs des Psalters bleibt gering. Vielmehr werden verschiedene Metaphern nebeneinander gestellt. So entwickelt er anfangs die Metapher des »großen Hauses«, das der Leser durch das »Hauptportal« von Ps 1–2 betritt,127 und von wo aus sich anschließend der Blick auf die »inneren Räume« öffnet, »die sich … hinter den »Türen« der einzelnen Psalmen, Psalmengruppen und Teilsammlungen auftun und dem Betrachter den Blick auf weitreichende Zusammenhänge … freigeben.« Schon im nächsten Satz wechselt die Metaphorik: »Am Ende steht gleichsam als »Schlussstein« das Schlußhallel Ps 146–150«. Und in den anschließenden Einzelerläuterungen wird wieder eine andere Metaphorik benutzt. Nun werden die oben angesprochenen »inneren Räume« als »theologisches Itinerar« bezeichnet.128 Schließlich kommt noch ein viertes Bild hinzu: der Psalter als »Tempel aus Worten«.129. Hier wird der »quasi-narrative Geschehensbogen«130, der dem Bild des theologischen Itinerars zueigen war, mit der Intuition eines prinzipiell genauso gut selektiv und eklektisch (ob nun auf der Ebene des Einzelpsalms oder der Psalmengruppe) zu rezipierenden Psalters zusammengedacht: Das Schreiten durch den Tempelbau verdeutlicht die Gerichtetheit – die innere Weite des Tempels die räumlich-funktionale Gleichwertigkeit der Psalmen bzw. Psalmengruppen. (2) Das Stichwort der Quasi-Narrativität taucht auch in einem Aufsatz von Beat Weber auf. Darin versucht er, die Psalterexegese auf ihre bibeltheologischen Implikationen hin zu reflektieren. So fordert er insgesamt, »die Bedeutungsfülle des Psalters buchtheologisch und kanonhermeneutisch zu erheben«131. Diesem Ziel nähert er sich über eine Reflexion der literarischen Besonderheit des Psalters an, die darin liege, dass viele Einzeltexte in ein kanonisches Buch-Ganzes integriert werden. »Durch die Inkorporation verlieren nämlich die Psalmen … ihren Status als autonome Texte und werden zu Subtexten eines neuen Makrotextes: des Psalters. Im Vergleich zu Abschnitten und Perikopen anderer biblischer Bücher behalten die Psalmen allerdings auch im Buchkontext eine gewisse Autarkie. Es ist daher von einem semi-autonomen Status der Psalmen innerhalb des Psalters auszugehen.«132

127 128 129 130 131 132

Janowski (2010), 281. Janowski (2010), 288–304. Janowski (2010), 304–306. Janowski (2010), 304–306. Weber (2010), 738. Weber (2010), 738.

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Während man in den bisher diskutierten Positionen jeweils noch ein »Primat des Einzeltextes« erkennen kann, so scheint hier fast schon das Gegenteil angedeutet: Nicht mehr ist der Psalter eine Realität, die erst aus einem bestimmten (arrangierten) Sosein der einzelnen Psalmen resultiert, nunmehr sind es die Psalmen, die ihre Individualität in Abgrenzung vom Psalter finden, ja fast möchte man sagen: verteidigen müssen. Wie begründet Weber diese Sichtweise? Psalmen seien nicht ausschließlich linear konzipiert, sondern bekämen durch Stichwortverknüpfungen, Kehrreime usw. eine »Sinnkomplexität« eingestiftet, die eine »zyklische Erfassung«, d. h. eine Mehrfachlesung einfordere.133 Andererseits werde diese kreisend-zyklische Bewegung in der Gruppierung und Sequenzierung der Psalmen aufgenommen und in eine lineare Bewegung eingebettet: »Die Gebets- und Lieddichtung wird überführt in die Gestalt einer ›Erzählung‹ (Quasi-Narrativierung der Poesie).«134 Ähnlich wie bei Ballhorn wird darauf hingewiesen, dass der Begriff Narrativität in spezifischer Weise gebraucht wird. Doch auch hier zeigt sich Webers deutlich stärkerer Fokus auf den Gesamttext. So schreibt er: »Wenn hier von »Erzählung« (oder »Narration«) im Zusammenhang des Psalters gesprochen wird, ist gegenüber dem üblichen Verständnis literarisch gesehen natürlich stets eine Sonderform gemeint. Die Verwendung des Begriffs soll zum Ausdruck bringen, dass der Psalter nicht als »Anthologie« im Sinne einer zusammengestellten und (nur) lose verknüpften Sammlung poetischer Einzeltexte aufgefasst wird, sondern als »Komposition« , bei der in die [sic] lineare Anordnung der Psalmen Abfolge, Verknüpfung, Progression und sogar Personkonstellationen (vgl. die Überschriften) zum Tragen kommen, also Momente, die – neben anderen – den Duktus einer Erzählung bestimmen.«135

Vor diesem Hintergrund ist es jedoch problematisch, weiterhin vom »Neben- und Miteinander der beiden Textsorten«, »Textsortenwechsel« usw. zu sprechen136 und auch im weiteren Verlauf immer wieder eine nicht näher spezifizierte Erzählrhetorik zu verwenden.137 Auch Webers Ausführungen stellen eher weitere Fragen, als dass sie bisherige beantworteten. (3) In dieser Hinsicht weit luzider stellen sich die Überlegungen Hartensteins dar.138 Ebenfalls mit der Frage befasst, wie konkret die Lesung des Psalter als Buch

133 134 135 136 137

Weber (2010), 739. Weber (2010), 739. Weber (2010), 739, Anm. 25. Weber (2010), 739. Weber (2010), 743: »Ein weiteres, bestimmendes Moment … ist die (Tora-)Weisheit. Mit seiner quasi-narrativen Struktur ›erzählt‹ der Psalter Tora und lässt die Psalmenpoesie als Gottes Wille und Wort verstehen.«, »Der Psalter als ›unterweisende Erzählung‹ geschieht betend und umgekehrt dienen seine Gebete zugleich der Unterweisung.« 138 Hartenstein (2010).

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zu denken sei, geht er einerseits von dem Grunddatum aus, dass sich im Psalter vielfältige und unzweifelhafte Spuren bewusster und durchdachter Redaktorentätigkeit finden, andererseits aber dadurch über die »einzeltextübergreifende[n] und kompositorisch gewollte[n] Inhalte noch nicht wirklich entschieden [ist]. Denn die Texte geben ja in der Regel vorrangig ihre Eigenständigkeit zu erkennen und können problemlos für sich gelesen werden.«139 Die sich ergebenden Beziehungen innerhalb von Psalmengruppen beschreibt er »als ein[en] Übergang von der Fläche in den Raum, von der Zwei- in die Dreidimensionalität …: Bestimmte Stichworte und semantisch verwandte Begriffe, die unter Umständen größere Konzepte evozieren, überlagern sich. Hintereinanderstehende Psalmen bzw. Einzelelemente daraus werden aufeinander transparent und bilden unterschiedlich weit durchlaufende Linien.«140 Das entstehende Bild gleicht »einer Art ›Super-Struktur‹ über der Ebene der Einzeltexte«.141 Leider bleibt es bei diesen wenigen Anmerkungen, jedoch zeigt sich schon so, dass seine Begrifflichkeit weit weniger problematisch ist: Statt der Rede von einem inhaltlich wenig konkret definierten Gesamttext beharrt er auf Einzeltexten, die hinsichtlich ihrer Stichwortbeziehungen, thematischen Linien usw. eine »über« den Texten liegende Verweisstruktur etablieren. Insofern sich diese Verweisstruktur nicht als Textbedeutung realisiert, sondern als sinnstiftende Beziehungen zwischen Stichwortbeziehungen, thematischen foci, usw., braucht sie auch nicht auf eine »Textmaterie« rückgebunden werden, die dementsprechend auch nicht kontinuierlich gedacht werden muss. Insgesamt skizziert Hartenstein damit ein Konzept, das die Beziehung zwischen den Einzelpsalmen als intensive, »privilegierte« Intertextualität auffasst. Anfang des Jahrtausends verortete Zenger das Projekt der Psalterexegese als »noch in der Phase methodischen Experimentierens«142 begriffen. Diese Einschätzung trifft wohl nach wie vor zu. Die fraglose Fruchtbarkeit des Exegeseansatzes hatte bislang zur Folge, dass die Klärung methodischer und terminologischer Grundsatzfragen auf später vertagt wurde. Insgesamt scheint es, dass die Forschung einerseits noch in der Phase ist, angemessene Beschreibungskategorien für die zu untersuchenden Texte zu etablieren, zugleich aber schon die fraglose Wirkmächtigkeit einer psalterexegetischen Behandlung kleinerer Einheiten zum Anlass nimmt, sie auch auf größere Bereiche anzuwenden. Insbesondere die Frage, inwiefern ein Ansatz, der »im Kleinen« funktioniert, ebenso auch »im Großen« funktionieren kann oder muss, wird bislang zu wenig diskutiert. 139 140 141 142

Hartenstein (2010), 230. Hartenstein (2010), 230. Hartenstein (2010), 230. Zenger (1999), 445.

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3.1.2 »Vom Propheten hin zum Prophetenbuch« Ist das Bewusstsein dafür, dass einzelne Psalmen und Psalmengruppen innerhalb des Psalters in einer sinnvollen Abfolge angeordnet sind, insgesamt eine doch eher junge Entwicklung, gehen die Indizien, die auf eine Rezeption des Zwölfprophetenbuchs143 als ein Buch hindeuten,144 bis in die Antike zurück und stellten auch immer wieder Anknüpfungspunkte für entsprechende exegetischen Überlegungen dar.145 Auf der anderen Seite werden seit ebenso langer Zeit Gründe vorgebracht, die gegen eine solche Gesamtlesung sprechen.146 So blieb für den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts denn auch die Einzelexegese der zwölf Schriften die vorherrschende Herangehensweise. Die seit den beginnenden 1990er Jahren von Nogalski entfachte neuere Diskussion147 ist entlang ähnlicher Fragen strukturiert, wie sie auch schon in der Psalterexegese eine Rolle spielten: Einerseits hat sich eine breite redaktionsgeschichtliche Debatte etabliert, die die gestufte Genese des Zwölfprophetenbuches zu rekonstruieren sucht.148 Daneben finden sich Studien zu einzelnen Schriften, 143 Dem Vorschlag von Schart (2008), 228 folgend, wird der Begriff »Schriften« verwendet, wenn von den einzelnen Prophetenbüchern die Rede ist, während »Buch« für die Schriftensammlung vorbehalten ist. 144 Vgl. Schart (2008), 228f. und Beck (2006), 575f. für eine kurze Zusammenfassung. 145 So nahm etwa Budde (1921), 225 eine übergreifende Redaktion des Zwölfprophetenbuchs an. Wolfe (1935), 122f., Buddes Ansatz aufnehmend, identifizierte nicht weniger als 13 Schichten, die im Laufe der Redaktionsgeschichte des Buches zu einem Werk zusammenwuchsen. 146 Vgl. das Fazit von Beck (2005), 318–323, das in Beck (2006) weiter ausgeführt wird. Noch deutlicher ist Ben Zvi (1996), 154, der die Idee einer Textsammlung, die ab einem bestimmten Punkt als ein Werk aufgefasst wurde, rundheraus ablehnt. 147 Nogalski (1993a) und Nogalski (1993b). In ihnen geht er von der Beobachtung aus, dass die jeweiligen Buchübergänge signifikante Wortverbindungen aufweisen. Andere fügten ähnliche Beobachtungen hinzu (so z. B. schon Bosshard [1987] oder Shepherd [2008]). Insgesamt gilt, dass sie in ihren Untersuchungen weitgehend deskriptiv bleiben (müssen). Zudem engt der Fokus auf die Verbindungstexte der jeweiligen Schriften die Untersuchung unnötig ein und führt zu einem erheblichen Systemzwang. So wurde schon bald zu Recht eingewandt, dass nicht alle Stichwortverbindungen gleichermaßen überzeugen (Ben Zvi [1996], 139f.) und Stichwortverbindungen insgesamt nur von relativer Beweiskraft sind (Cuffey [2000], 203). Dementsprechend untersuchen neuere Arbeiten auch eher einzelne, die Schriften durchziehende, Motivkomplexe. Beispielhaft hierfür sind etwa Untersuchungen zu den TagJHWH-Dichtungen (Rendtorff [2001], Beck [2005], Schwesig [2006]), zum Priester- und Prophetenbild des Zwölfprophetenbuches (Scoralick [2006]), den Herrschaftsverheißungen bzw. -aussagen (Leuenberger [2005]) oder der Landthematik (Braaten [2000]). Auch diese Untersuchungen bleiben meist deskriptiv und einer im weitesten Sinne redaktionsgeschichtlichen Fragestellung verpflichtet, liefern jedoch die Materialbasis, aufgrund derer sich im Anschluss über eine übergreifende Leseperspektive, ein verbindendes Thema oder theologische Argumentation diskutieren ließe. 148 Neben den eben genannten Arbeiten wären im deutschen Bereich noch die Monographien von Schart (1998), Wöhrle (2006), Bosshard-Nepustil (1997) und Roth (2005) zu nennen.

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Teilkorpora und dem Zwölfprophetenbuch als Ganzem. Wie bei der Psalterexegese existieren hier zwei komplementäre Fragezugänge: Worin besteht die Eigenart und Funktion einer Schrift im Kontext des Zwölfprophetenbuches insgesamt?149 Und: Worin besteht die Bedeutung bzw. Gesamtaussage des Zwölfprophetenbuches insgesamt, verstanden als einer über die Summe der Teilaussagen ihrer einzelnen Schriften hinausgehenden theologischen Botschaft? Sucht man nach Inspiration für eine sinnvolle methodische Grundlegung einer Buch-Exegese der Klgl, sind erneut insbesondere letztere Arbeiten von Interesse. Bislang existieren hierzu zwei sehr unterschiedliche Entwürfe. Einerseits die Habilitation von Ruth Scoralick,150 die das Zwölfprophetenbuch als einen theologischen Argumentationszusammenhang über die Gottesprädikation aus Ex 34,6f. deutet, sowie die Monographie von Paul House,151 der das Buch konsequent mit narrativen Kategorien analysiert. Beide sollen kurz diskutiert werden. House setzt voraus, dass das Zwölfprophetenbuch als Einheit aufzufassen sei. Den Umstand, dass bislang keine überzeugende Interpretation der zwölf Schriften als Einheit vorliege, weist für ihn auf ein methodisches Problem hin: »If the normally accepted methods of approaching the prophets have either not considered or not discovered the unity of the Twelve, then some new tool of analysis must be sought. … [T]wo methodologies offer promise for discovering possible unity in the minor prophets. The first, canonical criticism, asks the right questions to discover unity, while the second, literary criticism, provides the actual means of uncovering unity.«152

Als Anhänger des New Criticism geht es ihm gerade nicht darum, das Buch als historisches Dokument innerhalb eines bestimmten historischen und soziokulturellen Kontextes zu lesen, sondern als Literatur, die in sich die notwendigen und hinreichenden Kategorien zum Textverständnis bereit hält.153 House hält daher ein Close Reading des Textes für erfolgversprechend, wobei er glaubt, dass insbesondere narrative und poetologische Kategorien die angemessenste Begrifflichkeit zur Beschreibung des Textes bereitstellen. In einem ersten Schritt skizziert er seine Auffassung vom Genre des Zwölfprophetenbuches als »written prophecy«154. Prosa und Poesie seien je nach Botschaft und Anlass gewählt worden, weswegen die Heranziehung auch narrativer Kategorien gerechtfertigt sei.155 Anschließend skizziert er seine Auffas149 Eine Auswahl: Kim (2007), Sweeney (2005a), Sweeney (2005b), Kessler (2002), Rendtorff (2002) und Scoralick (2002a). 150 Scoralick (2002b). 151 House (1990). 152 House (1990), 30. 153 House (1990), 32. 154 House (1990), 32. 155 Die Kritik, die Entscheidung für narrative Kategorien sei ohne Reflektion des vorwiegend poetischen Charakters des Buches geschehen (Schart [1998], 10), greift daher offenbart zu

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sung der Struktur des Buches als dreiteilige Grundkonzeption prophetischer Verkündigung: »The first six of the prophecies examine the covenant and cosmic nature of sin. … Following this section, the next three books capture the essence of covenantal and cosmic punishment. Hope is not absent, but it is definitely muted. Finally, the last three prophecies relate the possibility of restoration. Restoration is portrayed as past, present, and future, much as God’s covenant relationship and judgment of any breach of that relationship is past, present, and future oriented.«156

Im Folgenden wird diese Struktur von House anhand der einzelnen Schriften inhaltlich entfaltet; anschließend werden weitere Elemente narrativer Gestaltung (wie Handlung, Charaktere und Erzählperspektive) diskutiert. Houses Versuch wird in der Literatur praktisch einmütig mit dem Hinweis verworfen, dass er den höchst disparaten Stoff in ein unzulässig vereinfachendes Schema presst.157 In der Tat bleibt ein Großteil seiner Untersuchung eher allgemein und letztlich wenig überzeugend. Der Ertrag liegt einerseits darin, dass er nolens volens auf die Probleme hinweist, die einer Interpretation des Zwölfprophetenbuches »als Text« – zumal als Erzähltext – entgegenstehen: Es bedürfte eines überzeugenden Vorschlages für einen Plot des Buches, es bedürfte überzeugender Überlegungen hinsichtlich charakteristischer Wechsel im Erzählduktus (etwa von Obd über Jona zu Mi). Der Umstand, dass House den Erzähler im Zwölfprophetenbuch auf letztlich nie genau geklärte Weise mit den Prophetenfiguren der einzelnen Schriften verbindet,158 deutet darauf hin, dass die angemessene Modellierung der Erzählerfigur deutlich mehr Aufmerksamkeit benötigte; gleiches gilt für die die »Handlung« tragenden Figuren. So lässt sich House gleichsam als warnendes Beispiel dafür auffassen, was passiert, wenn unspezifische Beschreibungen – wie z. B. die in der Psalterexegese wiederkehkurz. Zudem hat jüngst Fischer entsprechende Überlegungen auch für das Hld angestellt (s. u.); die Anwendung narrativer Kategorien auf poetische Texte ist keinesfalls so problematisch, wie Schart zu glauben scheint. 156 House (1990), 72. Einen ähnlichen Vorschlag unterbreitete unabhängig von ihm auch Coggins (1994), demzufolge das Zwölfprophetenbuch in seinem Aufbau dem der großen alttestamentlichen Propheten ähnelt: Einem längeren Abschnitt des Schuldaufweises (Hos bis Mi), der ca. die Hälfte des Gesamtumfanges des Buches ausmacht (entsprechend den großen Propheten: Jes 1–33; Jer 1–25; Ez 1–24), folge ein Abschnitt, der sich hauptsächlich mit den Fremdvölkern beschäftigt (Nah bis Zef 2) und anschließend ein Abschnitt mit Worten der Hoffnung und des Zuspruches (Coggins [1994], 64). 157 So Scoralick (2002b), 132, Anm. 5, Wöhrle (2006), 8, Schart (1998), 10f. 158 So wird z. B. für Hos 1–3 die Existenz gleich dreier Erzählertypen angenommen: Für Hos 1 wird ein auktorialer Erzähler postuliert, für Hos 2 ein Ich-Erzähler aus der Perspektive JHWHs und für Hos 3 ein Ich-Erzähler aus der Perspektive des Propheten (House [1990], 231f.). In der Zusammenfassung des Unterkapitels spricht House einerseits davon, dass »the dramatized prophet acts as co-revelator, or narrator agent«, andererseits aber auch, dass der Erzähler as prophet präsentiert werde (House [1990], 236).

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rende Rede von der Quasi-Narrativität des Psalter– plötzlich zu ernst genommen werden. Einen insgesamt vielversprechenderen Ansatz bietet der von Ruth Scoralick weiter entwickelte Vorschlag van Leeuwens,159 der in Ex 34,6f. den Schlüssel zur Interpretation des Buches sieht: »Exodus 34:6–7, in the final form of the Twelve, is used as the redactors’ crucial commentary on the bitter eighth-century prophets, … thus combining judgment with theodicy and hope for the future«160. Das in Ex 34,6f. dyadisch bestimmte Wesen Gottes als gleichermaßen barmherzig, jedoch den Sünder gerecht strafend, gab den Redaktoren die Möglichkeit, nicht nur die harschen Worte der frühen Gerichtspropheten abzumildern, sondern auch eigentlich widersprüchliche Positionen als Konsequenz der komplexen Dynamik göttlicher Theodizee zu verstehen. Scoralick führte diesen Ansatz weiter aus und verband ihn mit Überlegungen zum Motivkomplex des Tages JHWHs, der zwischenzeitlich von verschiedenen Autoren untersucht wurde. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass zwischen Ex 32–34 und dem Zwölfprophetenbuch durch sprachliche und konzeptionelle Übereinstimmungen ein ›kanonisches Gespräch‹ entstehe, in dem Ex 34,6f. für die in den einzelnen Schriften entwickelte prophetische Theologie vielfältige Anknüpfungspunkte biete.161 So zeige sich, »daß die Gottesprädikationen aus Ex 34,6f. mit ihrer polaren Metaphorik als Verstehenshintergrund und Interpretationshilfe der prophetischen Theologie dienen, die das Zwölfprophetenbuch als Ganzes entfaltet«162. Die Schwäche ihrer Studie liegt im deutlichen Ungleichgewicht, das den beiden untersuchten Polen – Ex 34,6f. für sich (und im Rahmen der Sinaiperikope) vs. Ex 34,6f. im Zwölfprophetenbuch – zukommt. So widmet sie sich ersterem auf etwa 120 Seiten, und behandelt die Bezüge aus dem Zwölfprophetenbuch auf etwa 60 Seiten. Zudem beschränkt sie sich in ihren Ausführungen zum Großteil auf Hos und Joel, und diskutiert die nachfolgenden Schriften eher zusammenfassend-kursorisch. Es häufen sich Formulierungen wie »Die vielen Rückgriffe … können hier nicht ausführlich dargestellt werden«163, »Ich möchte wiederum nur auf einige Grundzüge der Lektüre aufmerksam machen«164 und u. ä. Wenngleich ein derartiges Vorgehen angesichts des Umfangs des Stoffes verständlich ist, bleibt damit ein qualifiziertes Urteil über die Valenz des Ansatzes an sich, wie auch die Frage, inwiefern ihre Beobachtungen durch die Integration der Erkenntnisse z. B. zu den ‫יום־יהוה‬-Texten weiter gestärkt und auf eine solidere Textbasis gestellt werden können, bis auf Weiteres unmöglich. Scoralick bietet damit zwar den bisher überzeugendsten und ausführlichsten Versuch, das Zwölfprophetenbuch als zusammenhängende Größe zu le159 160 161 162 163 164

van Leeuwen (1993) und Scoralick (2002b). van Leeuwen (1993), 33. Scoralick (2002b), 204. Scoralick (2002b), 205. Scoralick (2002b), 198. Scoralick (2002b), 183.

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sen, zugleich zeigt ihre Studie das Ausmaß der noch zu leistenden Arbeit auf diesem Gebiet auf.

Deutlich ist jedoch, dass Scoralick das einheitsstiftende Moment nicht in der narrativen Natur des Zwölfprophetenbuches sucht, sondern in einer über die zwölf Schriften hinweg stattfindenden inhaltlich-thematischen Auseinandersetzung. Damit kann sie die Schwierigkeiten des Ansatzes von House vermeiden: Inhaltlich disparate Schriften müssen nicht mehr geglättet oder in einen narrativen Zusammenhang gezwängt werden, die Vielzahl von Propheten-»Erzählern« wirkt nicht mehr verwirrend sondern (verstanden als Diskutanten mit je eigenen Meinungen und Sichtweisen) naheliegend, verschiedene Aussagen über Gott lassen sich als in der dyadischen Natur Gottes begründet lesen, usw. Aus diesem Grund bedarf es in ihrer Studie auch keiner umfassenden methodischen Diskussionen textlinguistischer Fragen. Wie schon bei Hartensteins Überlegungen wird Buchbedeutung nicht als Textbedeutung konzipiert, sondern als sinnvolles Beziehungsgeflecht thematischer foci, Stichwörter, Zitate, Referenztexte usw. Da dieses Beziehungsgeflecht nicht selbst Text ist (vielmehr aus diesem erhoben wird), muss die sich auf dieser Ebene etablierende Einheit auch nicht auf die zugrunde liegenden Texte übertragen werden. Im Unterschied zur Psalterexegese, in der die Kritik an der grundsätzlichen Berechtigung der psalterexegetischen Fragestellungen weitgehend verstummt ist, herrscht in der Zwölfprophetenbuchexegese diesbezüglich nach wie vor eine lebhafte Debatte.165 So fürchtet z. B. Beck, dass eine synchrone Lesart zu einer Auf- oder Abwertung bzw. Engführung einzelner Texte auf die erkannten Leselinien hin führe.166 Zugleich werfe sie die Frage nach dem Status der jeweils nicht gleichermaßen berücksichtigten Texte bzw. Textteile auf. »Damit aber scheint es schwierig zu werden, die Subjektivität des Exegeten … unter Kontrolle zu halten«167. Ferner bleibe ungeklärt, in welchem Verhältnis das Profil der Einzelschrift zu ihrer Funktion im Buch zu bestimmen sei.168 Wöhrle bemängelt an Scoralicks Vorschlag insbesondere die Abstraktheit der Interpretation und ihre Verortung auf einer theologischen Metaebene. Es bleibe zu fragen, »ob dies dem Zwölfprophetenbuch insgesamt mit seinem Nebeneinander der verschiedenen doch auch sehr konkreten Themen entspricht«169. Es liegt auf der Hand, dass beide Kritikpunkte zusammengenommen einen unerfüllbaren Anspruch formulieren. Es ist nur schwer vorstellbar, dass es eine 165 Freilich ist es Zeugnis der sich nachhaltig gewandelten Forschungslage, dass Beck (2006), 581 meint, es wäre mittlerweile nötig, eine Lanze auch für die Exegese einzelner Schriften als Einzeltexte brechen zu müssen. 166 Ähnlich auch Schart (1998), 20. 167 Beck (2005), 19f. 168 Beck (2005), 20. 169 Wöhrle (2006), 11.

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Interpretation des Zwölfprophetenbuches geben könne, die einerseits sämtliche Einzelschriften gleichermaßen integriert, sowohl Haupt- als auch Nebenthemen zu ihrem Recht kommen lässt, dabei nicht abstrakt oder auf einer theologischen Metaebene operiert – andererseits den Text aber auch mit seinen »verschiedenen doch auch sehr konkreten Themen«170 nicht presst. Als Fazit kann man demnach festhalten: Forschungsgeschichtlich ist die Zwölfprophetenbuchexegese noch am Anfang. Wie schon in der Psalterexegese findet sich einerseits die Tendenz, Interpretationsansätze, die bei einzelnen Texten gute Ergebnisse erbracht haben, auf das Gesamtwerk auzudehnen (so z. B. die Vorschläge von Coggins oder House). Die Kritik greift einerseits auf, dass die bisher präsentierten Interpretationsvorschläge nicht auf ganzer Linie überzeugen können, verbinden dies jedoch mit einem Anspruch an eine Buchinterpretation, der seinerseits wenig plausibel ist. Entsprechend dominant sind redaktionsgeschichtliche Forschungen, die die systematischen Grundfragen einer Buchexegese nicht thematisieren (müssen). Der bisher recht undifferenzierte Begriff von Gesamt- bzw. Synchronlesung, sowie die rhetorisch häufig recht naive Dichotomie zwischen redaktionsgeschichtlich informierter Einzeltextauslegung und vermeintlich nivellierender Synchronlesung behindern eine differenziertere Verortung des Zwölfprophetenbuches als Sammlung von Einzeltexten, die gleichwohl eine sinnvolle Abfolge haben, der wiederum inhaltlich eine übergreifende theologische Argumentation entspricht. Auch in der Zwölfprophetenbuchexegese ist ein nur unbefriedigendes Bewusstsein für die jweiligen Implikationen und Begrenzungen der vorgeschlagenen Lösungen und benutzten Begrifflichkeiten zu bemerken und die Modellierung der Beziehung zwischen Einzelschriften, dem Buch und der entsprechenden Buchaussage ist häufig ähnlich un(ter)bestimmt wie in der Psalterexegese. Allerdings zeigte sich, dass in Scoralicks Ansatz das Konzpt eines auf intensivierter Intertextualität beruhenden Referenzsystems über ein erhebliches Maß an Plausibilität und Erklärungskraft verfügt.

3.1.3 Das Hohelied zwischen Poesie, Drama und Narration In der Psalter- und Dodekaprophetonexegese war die grundlegende Fragestellung: Kann eine Anzahl von Einzeltexten als ein Sinnzusammenhang gelesen werden? Daran anschließend dann: Wie wäre eine solche Lesung methodisch zu konzipieren? Im Vergleich dazu geht die Hld-Exegese von anderen Voraussetzungen aus: Die heutige Unterteilung des Textes in acht Kapitel bzw. Lieder ist anerkanntermaßen sekundär, so dass sich der Text auf den ersten Blick als eine 170 Wöhrle (2006), 11.

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homogene Größe präsentiert, in der nur wenige deutliche Unterteilungen und Brüche erkennbar sind.171 Dies führt zu einer intensiven Diskussion über Abgrenzungs- und Gliederungsfragen, die in dieser Art weder für den Psalter noch das Zwölfprophetenbuch existiert.172 Zudem sind eine Reihe von buchübergreifenden narrativen Elementen sehr viel deutlicher vorhanden als bei Psalter oder dem Zwölfprophetenbuch: Man findet wiederkehrende bzw. gleich bleibende Figuren,173 es lassen sich zumindest »Bausteine eines Plots«174 identifizieren, und ein in groben Linien verständliches und gleichbleibendes Setting schafft zumindest den Eindruck einer durchgehenden Darstellung.175 Andererseits ist ein deutlich nachvollziehbarer Gedankenfortschritt im Hld nicht ohne weiteres erkennbar, es gibt eine ganze Reihe konkurrierender Vorschläge zur Gliederung des Textes,176 und die ausschließlich direkte Rede des Werkes lässt – insbesondere vor dem Hintergrund des sich augenscheinlich öfter ändernden Settings – regelmäßig essentielle Informationen zur Deutung des Textes vermissen. Kurz: »The text of the Song … constantly invites the reader into a narrative-like context that never quite takes shape.«177 Anders als in der Psalter- und Dodekapropheton-Exegese ist die Einheitlichkeit des Textes somit keine theoretische Frage (im Sinne einer textlinguistisch 171 Sehr alt und trotzdem treffend Deliztsch (1851), 4: »Der Eindruck der Einheit, den das Hohelied macht, ist übrigens ebenso unabweisbar, als der Nachweis dieser Einheit schwierig ist.« 172 Eine Auswahl: Zakovitch et al. (2004), 30–33 legt sich erst gar nicht auf eine genaue Anzahl von Liedern fest, gliedert seine Auslegung jedoch entlang der jeweils als Einheiten begriffenen Abschnitte. Davon identifiziert er mehr als zwanzig, von welchen er annimmt, dass sie zuweilen nur als Fragmente von wenigen Versen erhalten sind (z. B. Hld 2,14.15). Goulder (1986) unterteilt in 14 Lieder, Fischer (2010), 83–87 gliedert in neun Makroeinheiten. Exum (1973), 77f. gliedert in nur sieben Lieder, Shea (1980) identifiziert sechs Abschnitte. Keel (1986) wiederum gliedert in 42 Abschnitte, Krinetzki (1981) gar in 52. 173 Hier sind neben der liebenden Frau und ihrem Geliebten vor allem die Töchter Jerusalems (Hld 1,5f.; 26f; 3,7–11; 5,2–6,3 u. ö.) zu nennen. Dann aber auch die Brüder der Liebenden (Hld 1,6; 8,8f.), die Wächter der Stadt (Hld 3,3; 5,7f.) und die Freunde des Mannes (Hld 1,7; 8,13f.). 174 Fischer (2010), 230. 175 Vgl. die ausführliche Analyse in Fischer (2010), 88–210. 176 Fischer (2010), 54–87, bes. 78–87 verdeutlicht sehr schön, dass das Hld sowohl Indizien für eine konzentrische, wie auch lineare Gliederung bietet. Seinem eigenen Strukturentwurf zufolge basieren die konzentrischen Gliederungsmerkmale vor allem auf der Rahmung durch Hld 1,2–2,7 und Hld 8,8–14, dem Zentrum des Buches in Hld 4,8–15.16–5,1 sowie dem Umstand, dass sämtliche Teilabschnitte der ersten Hälfte des Buches in der zweiten in abgewandelter Form wiederkehren. Die lineare Lesart hingegen nimmt die aufeinander aufbauende und in Hld 4,8–5,1 seinen Höhepunkt findende Darstellung der ersten Buchhälfte ernst. Seine Gliederung »stimmt mit einer Ringkomposition damit nur begrenzt überein, da sie zwar eine Konzentrik aufweist, diese aber durch eine Verschränkung von Themenblöcken durchbrochen wird, die sich nur in der ersten Makroeinheit linear auf die strukturelle Mitte Hld 4,16–5,1 zu bewegen.« (a. a. O., 86). 177 Sparks (2008), 277.

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angemessenen Verwendung von Beschreibungskategorien), vielmehr steht zur Debatte, ob dem Text über Kohäsion hinaus auch Kohärenz zukommt.178 Zugespitzt könnte man formulieren: Renkema, Weber, Ballhorn und House fragten, ob ein nur streckenweise kohäsiver Text Kohärenz haben kann; die Hld-Exegese hingegen diskutiert, ob der insgesamt kohäsive Text auch Kohärenz haben muss. Es ist dies der Grund, warum uns im Folgenden primär die sog. dramatische Auslegung des Hld interessieren wird. Hierzu werden Versuche gezählt, die glauben, im Text eine zusammenhängende Handlungsstruktur bzw. eine nachvollziehbare inhaltliche Abfolge ausmachen zu können.179 Für eine solche Deutung wird üblicherweise geltend gemacht, dass schon die Anlage des Hld als ausschließlich aus Figurenrede bestehend auf ein dramatisches Genre hindeute; zudem seien die zuweilen abrupten Ausdrucks- und Stimmungswechsel zwischen einzelnen literarischen Einheiten plausibel als Szenenwechsel o. ä. erklärbar. Neben einigen älteren derartigen Interpretationen180 sind hier vor allem die Untersuchungen von Heinevetter und Bosshard-Nepustil, die kürzeren Beiträge Uehlingers und Barbieros zu nennen, sowie daneben noch die ebenfalls in die gleiche Richtung gehenden Studien von Gerhards und Fischer.181 Heinevetter plädiert dafür, sowohl den einheitlichen Charakter des Hld, und die in ihm enthaltenen dramatischen Elemente zur Kenntnis zu nehmen, aber auch den fragmentarischen Charakter mancher Passagen nicht auszublenden. Das Modell, das beide Einsichten vereinen kann, ist eine Kompositionsthese, die aus vormalig unabhängigen Einzeltexten eine zusammenhängende Komposition schafft, die dann immer noch an manchen Stellen stärker oder schwächer geknüpft sein kann. Im Ergebnis deutet Heinevetter das Hld als programmatische Komposition, die »gezielte Zivilisationskritik beabsichtigt«182. Dabei geht er von drei größeren literarischen Einheiten aus (Hld 1,2–2,7; 2,8–5,1; 5,2–8,6), wobei im ersten Hauptteil die meisten inhaltlichen Aspekte eingeführt werden, während der zweite Hauptteil in die ethische Aufforderung von Hld 5,1, und der dritte in der theologischen Spitze Hld 8,5 gipfelt.183 Die sozialkritische Ausrichtung wird entlang dreier gegensätzlicher Relationen entwickelt: den Gegensätzen König – Landmädchen, Kultur – Natur sowie Tod – Leben. Sexualität wird dabei als eine

178 Zur Definition von Kohäsion und Kohärenz s. u. 179 Gerhards (2010), 154–164 gibt einen Überblick über die diesbezügliche Forschungsgeschichte. 180 Ewald (1826), davor schon Jacobi (1771), aber auch anschließend Deliztsch (1851). 181 Heinevetter (1988), Bosshard-Nepustil (1996), Uehlinger (2001a), Barbiero (01. 09. 2015), Gerhards (2010), Fischer (2010). 182 Heinevetter (1988), 40. 183 Heinevetter (1988), 189.

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Kraft verstanden, die konträr zur gesellschaftlichen Realität Antrieb für Veränderung sein kann. »Während die Realität der ›Stadt‹ Abgrenzung, Kälte, Anonymität beinhaltet und als Ort des Nicht-Findens und Geschlagenwerdens erlebt wird, stellt sich die Wirklichkeit der Liebe als öffnend, wärmend, Vertrauen schaffend dar«.184

Bosshard-Nepustil wählt einen anderen Zugang. Er unterscheidet zwei Sachbereiche: auf der einen Seite den urbanen Bereich, in dem sich eine Liebesbeziehung zwischen Frau und König vollzieht, auf der anderen Seite eine Liebesbeziehung zwischen Frau und Hirte, die sich im ländlichen Bereich abspielt.185 Beide Bereiche bleiben voneinander narrativ getrennt und verfügen über eine je für sich nachvollziehbare szenische Abfolge, die einmal König Salomo als Zentrum hat, das andere Mal im ländlichen Bereich zwischen Hirten und seiner Freundin spielt.186 Die Gewichtung dieser nebeneinander stehenden Liebesgeschichten ist für Bosshard-Nepustil nachrangig: »[Es] wird keine der beiden Linien verurteilt. Weder, wie eben gesehen, diejenige von Frau und Hirt, trotz ihres Verlaufes, noch aber auch diejenige von König und Königin … Beide Linien haben ihre Vorteile, beide Linien haben ihren Preis.«187

An dieser Stelle nimmt Uehlinger188 den Faden auf und unterscheidet insgesamt nur drei Figuren, indem die zwei Frauen der Konzeption Bosshard-Nepustils zu einer einzigen verschmolzen werden. Damit entwickelt sich die Dichtung zwischen einer jungen Frau, die zu Beginn des Liedes in Salomos Harem aufgenommen wird, Salomo selbst, sowie einem dritten, dem »eigentlichen« Geliebten, der sich außerhalb der Stadt aufhält.189 Entlang dieser Dreierkonstellation entwickeln sich nun »zwei ineinander verschlungene und in Spannung zueinander stehende Beziehungen …, die durch die Geliebte, die in beiden Strängen ein und dieselbe ist, dramatisch zusammengehalten werden«190. Seiner »quasidramaturgischen Lesart«191 zufolge lassen sich sechs Szenen unterteilen, die sich

184 185 186 187 188 189

Heinevetter (1988), 184. Bosshard-Nepustil (1996), 51. Bosshard-Nepustil (1996), 59. Bosshard-Nepustil (1996), 65. Uehlinger (2001a). Diese Personenkonstellation hatten schon die Kommentare von Jacobi (1771) und Ewald (1826) vorausgesetzt; bei Deliztsch (1851), 80 wird der Hirte und Salomo miteinander idealisierend identifiziert: »Wir sehen eine Jungfrau von niedriger Herkunft zur Königin erhoben werden, ohne daß sie ihre kindliche Einfalt verliert, und Salomo von seinem Throne in die Hütte der Armuth herabsteigen und gerade dadurch seine königliche Würde in das wohltuendste mildeste Licht treten.« 190 Uehlinger (2001a), 38. 191 Uehlinger (2001a), 38.

Drei exemplarische Textkomplexe

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im Großen und Ganzen an der Strukturanalyse Exums192 orientieren. Textliche Kohärenz wird in diesen Entwürfen also dadurch generiert, dass der Stoff unterschiedlichen Sachebenen und Szenen zugeordnet wird, in denen die handelnden Figuren jeweils unterschiedliche, aber in sich stimmige und nachvollziehbare Handlungsoptionen und -ziele haben. Kürzlich hat Gerhards vorgeschlagen, das Buch »inhaltlich als Traumdichtung und formal als Monolog der Sprecherin vor den Töchtern Jerusalems«193 aufzufassen. Damit glaubt er, methodisch sämtliche Fliegen mit der gleichen Klappe schlagen zu können: Er kann das Überwiegen der wörtlichen Rede erklären, muss keine durchgehende Handlung unterstellen, braucht aber andererseits ebenfalls keine Sammlung atomisierter und damit stellenweise unverständlicher Bruchstücke vorauszusetzen.194 Damit stellt sich jedoch die Frage: Wozu die Einheit des Werkes behaupten, wenn damit kein nennenswertes inhaltliches Konzept einhergeht? Die von ihm vertretene These operiert ebenfalls mit der Annahme unverständlicher Bruchstücke – nun eben verstanden als flüchtige Traumbilder. Damit scheint nicht viel gewonnen. Etwa zeitgleich publizierte Fischer eine Untersuchung des Hld, die, als Erzähltextanalyse konzipiert, die Aufmerksamkeit besonders auf die Aspekte des Textes richtete, die den Zusammenhalt des Hld als (zumindest teilweise) narrativen Text sichern. Das besondere Verdienst seiner Studie liegt darin, die verschiedenen narrativen Kategorien, wie Zeit, Modus, Stimme, Fokalisierung usw. ausführlich zu untersuchen und am Text zu erheben. Dabei kommt er zu dem Fazit, dass dem oben von Sparks formulierten ähnelt: »In der linearen Leseweise, welche sich als die naheliegende erweist, werden zwar Handlungsstrukturen entfaltet, jedoch fehlt es an Textsignalen, um aus den verschiedenen Geschehen eine verbindliche Geschichte zu machen. Dennoch unterliegt die lineare Leseweise nicht der Beliebigkeit, sie stellt einzelne als Schlüsseltexte für die Interpretation heraus. Auch wenn dadurch nicht eine einheitliche Interpretation geboten wird, kommt es zu einer begrenzten Anzahl von Handlungselementen, aus denen sich die Handlungsoptionen erschließen.«195

Auch Barbiero fasst das Hld als Sammlung von Liebesliedern auf, geht allerdings von einem einheitlichen Gedicht mit einheitlicher Sprache, Symbolik und vielfältige Elemente narrativer Kohärenz aus. Damit werde das Hld zwar nicht zu einer Erzählung, »es ist aber einheitlich als Poesie, als Lyrik. Die einzelnen Lieder

192 Exum (1973). 193 Gerhards (2010), 27. Aus dieser Charakterisierung ergebe sich, dass trotz Einheitlichkeit kein konsequenter Gedanken- und Handlungsfortschritt erkennbar sei. 194 Gerhards (2010), 322. 195 Fischer (2010), 231.

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Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

sind nicht willkürlich aneinandergereiht, ihre Ordnung ist nicht verwechselbar«196. Der homogeneren Textgestalt des Hld ist es geschuldet, dass in der Forschung Gliederungs- und Abgrenzungsfragen eine sehr viel größere Rolle spielen, als in den beiden anderen untersuchten Textkorpora. Im Vergleich zu der in der Psalter- und Dodekapropheton-Exegese noch recht unreflektierten Debatte über die Frage der Textlichkeit des jeweils postulierten Gesamttextes ist in der HldExegese ein größeres Problembewusstsein erkennbar – nicht zuletzt durch die grundlegende Untersuchung Fischers. Deutlich erkennbar ist, dass eine höhere Textkohäsion einerseits zu einer gesteigerten Plausibilität von Versuchen führt, das Hld als einheitlichen Text zu erweisen, andererseits jedoch allein nicht ausreicht, eine solche These zu begründen. Die für die Exegese der Klgl aus der HldExegese zu ziehende Lehre ist somit nicht zuletzt, dass das Vorhandensein wiederkehrender Figuren und nachvollziehbarer Settings zwar Hinweise auf eine mögliche Gesamtinterpretation liefern können und »Anker« sind, an denen sich eine derartige Deutung orientieren kann, sie jedoch allein nicht ausreichend zu stützen vermögen.

3.2

Auswertung: Probleme und Perspektiven

Der alttestamentliche Survey hat gezeigt, dass die Tendenz, den Blick über die Grenzen des jeweiligen Einzeltextes hinausgehen zu lassen, mittlerweile verbreitet und anerkannt ist. Eine vergleichbare Untersuchung auch für die Klgl zu unternehmen, ist damit nicht nur eine naheliegende Fortführung der Entwicklung der Klgl-Exegese, sondern auch vor dem Hintergrund der exegetischen Diskussion in vergleichbaren alttestamentlichen Textkomplexen ein angemessenes Unterfangen. Zugleich zeigten sich eine Reihe von offenen methodischen Fragen. Sie weisen darauf hin, dass die texttheoretischen Fragen, die im Zusammenhang von Gesamtdeutungen derartiger Textkorpora aufkommen, bisher nur ungenügend in den Blick genommen wurden.

196 Barbiero (01. 09. 2015). So auch schon in Barbiero et al. (2011), 505: »The unity in question is a lyrical, not a narratival one: there is no coherent love story here. Undoubtedly, however, the sequence of the individual songs is not accidental; rather it obeys a clever compositional design.«

Auswertung: Probleme und Perspektiven

63

3.2.1 »Ein Tempel aus Worten«: Sprachliche Bilder als Beschreibungskategorien Besonders in der Psalterexegese war auffällig, dass das Verhältnis zwischen Einzelpsalm und Psalter in Vergleichen, sprachlichen Bildern und Metaphern gefasst wurde; sauber definierte texttheoretische Kategorien blieben fast vollkommen außen vor. »Metaphorische Rede durchbricht und verfremdet die alltägliche Welt, um in der alltäglichen Welt eine »andere« Welt sichtbar zu machen und diese im Hörer/Leser zu konstituieren.«197 Sprachliche Bilder und Metaphern sind keine unschuldigen Beschreibungen einer unabhängigen Realität, sondern schaffen diese im Prozess der Interpretation gleichsam mit. Häufig sind die dabei evozierten Konnotationen allerdings wenig spezifisch, weit vielfältiger und disparater als dem Thema zuträglich und nicht selten gar in Spannung zum zugrundeliegenden Vergleichspunkt. Bisweilen wecken die verwendeten Bilder auch Erwartungen, die die Textbasis nicht erfüllen kann. Die Gefahr ist dabei eine doppelte: Einerseits operiert eine solche Sprache immer und vollkommen offen »als ob« – man vergleicht ja, und erhebt die mangelnde begriffliche Präzision somit regelrecht zum positiven Merkmal. Zugleich suggerieren die Beschreibungen jedoch, dass sie relevante inhaltliche Einsichten ermöglichen, ja zuweilen gar, dass bestimmte Realitäten bevorzugt oder gar ausschließlich durch diese Form von Begrifflichkeiten gefasst werden können. Beides zusammen führt zu einer Sprache, die nie sagen kann bzw. muss, wie ernst es ihr mit den verwendeten Vergleichen eigentlich ist. Janowskis oben diskutierte Rede vom Psalter als »großem Haus«, »theologischem Itinerar« und »Tempel aus Worten« verdeutlicht gut das Problem: Die Verwendung dieser Begriffe basiert auf der Interpretation von Ps 1 und 2 als Eröffnung (»Türen/Tore«) des Psalters. Der Psalter strukturiert sich intern in Psalmengruppen und Teilpsalter (»Zimmer«), es gibt intertextuelle Bezüge zum restlichen biblischen Kanon (»Fenster«) sowie eine prinzipielle Gleichzugänglichkeit sämtlicher Texte zueinander, so wie Zimmer von Flur und Treppenhaus aus erreicht werden können. Andererseits zeichnet sich ein Haus bzw. eine Wohnung eben auch dadurch aus, dass die Zimmer funktional differenziert sind, in unveränderlicher räumlicher Relation zueinanderstehen, durch klar definierte Öffnungen betreten und verlassen werden müssen, häufig nur unter erheblichem Aufwand »reinterpretiert« werden können, usw. Viele zum Bild des Hauses bzw. der Wohnung auch gehörenden Elemente und Assoziationen sind hinsichtlich des Psalters nicht weiterführend – ohne dass von vornherein klar wäre, welche konkret

197 Zenger (2002), 33. Eco et al. (2004), 195 spricht davon, dass metaphorische Interpretation Ähnlichkeiten nicht entdecke, sondern konstruiere.

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Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

hilfreich sind und welche nicht.198 Ähnliches ließe sich für die Metapher des »theologischen Itinerars« und des »Tempel aus Worten« sagen.

Ähnliche Probleme gibt es bei der Verwendung von Begriffen wie Quasi-Narrativität, Semi-Autonomie, quasi-dramaturgischer Lesung usw. Jeweils wird die inhaltliche Angemessenheit der verwendeten Terminologie nicht nur nicht begründet. Vielmehr suggeriert das einschränkende »quasi« bzw. »semi«, dass eine Begründung nicht notwendig wäre. Das Ergebnis können neben argumentativen Fehlern auch methodische Unwägbarkeiten sein. Ein Beispiel bietet folgendes Zitat Zengers: »Falls das Psalmenbuch in seiner Endgestalt oder gar schon auf Vorstufen seiner Entstehung als eine Art Lesebuch zusammengestellt wurde: ist es eine Art Archiv … oder ist es ein planvoll strukturiertes Ganzes? Ist es also ein Buch sui generis … oder ist es schlußendlich ein Buch, das wie alle oder zumindest die meisten biblischen Bücher nun auch als Textzusammenhang gelesen werden will?«199

Zenger impliziert hier zwei im Folgenden nicht näher begründete Thesen. Zum einen wird ein Konnex postuliert zwischen der Anlage als »planvoll strukturiertem Ganzen« und einer zu verfolgenden Lesestrategie »als Textzusammenhang«. Doch eine solche Beziehung folgt nicht automatisch, wie jedes Telefonbuch verdeutlicht. Es wäre somit zu klären, welche Art planvoller Strukturierung eine Lesung als Textzusammenhang erlaubt oder fordert, ob und wie diese im Psalter realisiert ist und worin genau ein Lesen als Textzusammenhang besteht. An dieser Stelle träfe Psalterexegese auf Textlinguistik und würde möglicherweise zu sehr präzisen Erkenntnissen darüber gelangen, inwiefern der Psalter »als Text« gelten könnte und welche Konsequenzen sich daraus für die Interpretation von Psalmengruppen und Teilpsaltern ergäben. Dies unterbleibt jedoch. Zum anderen suggeriert Zenger mit dem Hinweis auf »die meisten biblischen Bücher«, dass narrativ strukturierte Texte der angemessene Vergleichspunkt für den behaupteten Textzusammenhang des Psalters wären. Auch diese These erfährt keine weitergehende Begründung. Das jeweils vorausgesetzte Textverständnis erfordert zu seiner Begründung jeweils unterschiedlich starke Indizien – die jedoch nicht erbracht werden. Die methodischen Unwägbarkeiten äußern sich insbesondere darin, dass durch die wenig präzise Terminologie verschleiert wird, inwiefern die vorgebrachten Indizien die jeweils vorgeschlagene These tatsächlich stützen können. 198 So wäre es ja z. B. durchaus denkbar, dass eine sinnvolle Lektüre des Psalters nur mittels ganz spezifischer »Schlüssel- bzw. Eingangstexte« möglich ist, oder dass der Psalter keinerlei psalterinternen Bezüge (»Fenster«) aufweist, sondern sich in seinen intertextuellen Verknüpfungen ausschließlich »nach außen« wendet. Es ist also nicht von vornherein klar, wie angemessen das Bild der Wohnung bzw. des Hauses zur Beschreibung des Psalters ist. 199 Zenger (1998), 1.

Auswertung: Probleme und Perspektiven

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Im obigen Zitat würde es etwa zum Erweis eines »planvoll strukturierten Ganzen« ausreichen, dass in einer näher zu definierenden Dichte und Prägnanz strukturelle Marker im Text erkennbar sind. Wäre hingegen zu erweisen, dass der Psalter eine »structured theological story«200 sei, die also »nun auch als Textzusammenhang gelesen werden will«, so bedürfte es mehr und vor allem kategoriell anderer Indizien: Man müsste für Textkohäsion argumentieren, und darauf aufbauend eine inhaltlich-narrative Textkohärenz erweisen. Strukturargumente wären hier zu wenig. Exemplarisch für den Versuch, literarische Einheit ausschließlich strukturell zu begründen, steht der Ansatz Renkemas.201 Die häufig ungenaue Begrifflichkeit verschleiert, wofür genau argumentiert wird, und welche Art von Indizien demzufolge beizubringen wären.

3.2.2 Quasi-Narrativität und literary unity – zur Frage des angemessenen Textbegriffs In der Psalter- und Zwölfprophetenbuch-Exegese war spürbar, dass der zugrunde gelegte Textbegriff bislang nicht hinreichend reflektiert wurde.202 Wenn man beispielsweise mit House versucht, das Zwölfprophetenbuch als Erzählung zu deuten, dann ist damit zumindest implizit ein Textbegriff vorausgesetzt, der praktisch sämtliche der nachfolgend diskutierten Kriterien für Textualität erfüllt. Ein solcher Textbegriff ist allerdings für das Dodekapropheton nur begrenzt haltbar. In der Literatur lassen sich vier Ansätze der textlinguistische Definition des Mediums »Text« unterscheiden.203 Der grammatische Ansatz »geht von der Hypothese aus, daß Texte im Grunde als einfache Kombination von Sätzen bestimmt werden können, zwischen denen kohärente Beziehungen bestehen.«204 Dabei liegt das Augenmerk primär auf der Wohlgeformtheit der Satzabfolge. Der semantische Ansatz geht über diese Ebene hinaus und versucht, Texte primär von ihrer semantischen Kohärenz her zu definieren. Der pragmatisch-kommunika200 So Koorevaar (2010). 201 Gleiches gelte für Webers Rede, dass Einzelpsalmen zumindest teilweise »ihren Status als autonome Texte« zugunsten eines neuen Daseins als »Subtexte eines neuen Makrotextes« aufgäben. (Weber [2010], 738). Auch hier wäre eine aus textlinguistischer Sicht erhebliche Beweislast zu erbringen. 202 Vgl. Knobloch (1990) für einen kurzen Überblick zur Geschichte des Begriffes »Text«. 203 Heinemann et al. (2002), 98–100 bietet eine Übersicht von Definitionen; die im Folgenden referierte Unterscheidung wird auch dort zugrunde gelegt. 204 Heinemann et al. (1991), 27. Dabei werden üblicherweise eine lineare Abfolge von Sätzen, relative Abgeschlossenheit des Satzkorpus, Kohärenz innerhalb der Satzfolgen sowie semantische Beziehungen zwischen den Oberflächenkonstituenten des Textes vorausgesetzt. (ebd., 28).

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Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

tive Ansatz stellt auf die grundsätzlich kommunikative Funktion von Texten ab und versteht Texte als »geordnete Mengen von Illokutionen«205. Schließlich setzt der kognitive Zugriff an der Wurzel der Textgenese an und fasst Texte »als eine primär psychisch gegründete Einheit«, als »Resultat mentaler Prozesse«206. Zu letzterer Auffassung zählen die von de Beaugrande/Dressler vorgeschlagenen sieben Kriterien der Textualität; der durch diese Kriterien skizzierte Textbegriff soll nachfolgend zugrunde gelegt werden.207 Textualität wird hier an den Kriterien Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität festgemacht.208 Die sieben Kriterien lassen unschwer Merkmale jeder der vier obigen Ansätze erkennen: Kohäsion ist das primäre Kriterium des textgrammatischen Ansatzes. Der Fokus auf Kohärenz kennzeichnet den semantischen Ansatz. Der pragmatisch-kommunikative Ansatz stellt auf die Kriterien Informativität, Situationalität und Akzeptabilität ab, während der kognitive Ansatz die Aspekte Intentionalität und Intertextualität herausstreicht. Nicht alle Kriterien scheinen dabei gleich grundlegend zu sein. So geht es bei Informativität darum, ob die Textelemente die Informationserwartungen des Interpreten erfüllen, enttäuschen oder übertreffen. Textelemente, die keinerlei 205 Heinemann et al. (2002), 83. 206 Heinemann et al. (2002), 91. 207 Dass damit auf einen Textbegriff rekurriert wird, der mittlerweile über dreißig Jahre alt ist, ist aus zweierlei Gründen gerechtfertigt. Zum einen ist er einer der forschungsgeschichtlich einflussreichsten Definitionen, die auch heute noch Aktualität und Relevanz hat (vgl. Scherner [2000], 187 für eine Würdigung des Ansatzes; kritisch Feilke [2000], 76). Zum anderen stellt er durch die Heranziehung mehrerer Kriterien den Versuch dar, verschiedene Ansätze zu integrieren. Er richtet sich somit bewusst gegen Einseitigkeiten und ermöglicht es, die Frage nach der Textualität des Psalters, des Zwölfprophetenbuches bzw. der Klgl auf einer umfassenden Ebene zu thematisieren. Die einzelnen Kriterien müssen dabei nicht als Ausschlusskriterien verstanden werden, sondern können als Anhaltspunkte zur Formulierung verschieden starker Textbegriffe aufgefasst werden. 208 Vgl. Beaugrande et al. (1981), 3–13. Kohäsion »… betrifft die Art, wie die Komponenten des OBERFLÄCHENTEXTES, d. h. die Worte, wie wir sie tatsächlich hören oder sehen, miteinander verbunden sind.« (ebd., 3f.), Kohärenz »… betrifft die Funktionen, durch die die Komponenten der TEXTWELT, d. h. die Konstellation von KONZEPTEN (Begriffen) und RELATIONEN (Beziehungen) welche dem Oberflächentext zugrunde liegen, für einander gegenseitig zugänglich und relevant sind.« (ebd., 5), Intentionalität »… bezieht sich auf die Einstellung des Textproduzenten, der einen kohäsiven und kohärenten Text bilden will …« (ebd., 8), Akzeptabilität »… betrifft die Einstellung des Text-Rezipienten, einen kohäsiven und kohärenten Text zu erwarten, …«, (ebd., 9), Informativität bezieht sich auf »… das Ausmaß der Erwartetheit bzw. Unerwartetheit oder Bekanntheit bzw. Unbekanntheit/Ungewißheit der dargebotenen Textelemente …«, (ebd., 11), Situationalität »… betrifft die Faktoren, die einen Text für eine Kommunikations-SITUATION RELEVANT machen.« (ebd., 12), und schließlich Intertextualität »… betrifft die Faktoren, welche die Verwendung eines Textes von der Kenntnis eines oder mehrerer vorher aufgenommener Texte abhängig macht.« (ebd., 13).

Auswertung: Probleme und Perspektiven

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Informationsgehalt transportieren, konstituieren keinen Text. Situationalität fragt, ob ein Text in einer Kommunikationssituation als relevant und aussagekräftig angesehen wird. Eine chinesische Zeitung würde für einen afghanischen Vorschüler demnach keinen Text enthalten, da dieser für das Kind weder informativ noch situationsangemessen ist. Es scheint daher sinnvoll, die letzten fünf Kriterien als höherstufige Textmerkmale zu fassen, da sie jeweils schon das Vorhandensein einer kohäsiven und kohärenten textlichen »Basismaterie« voraussetzen, und auch nicht alle in jedem Fall gleichermaßen zur Anwendung kommen. Fraglos ist, dass keinem der genannten Kriterien der Status eines sine qua non zukommt. Was also ist unter einem kohäsiven und kohärenten Text zu verstehen? De Beaugrande/Dressler beschreiben Kohäsion als »die Art, wie die Komponenten des OBERFLÄCHENTEXTES … miteinander verbunden sind.«209 Damit ist in erster Linie die Ebene grammatikalisch-syntaktischer Verknüpfung von Satzelementen angesprochen; darüber hinaus aber auch stilistische Muster wie z. B. Rekurrenzen, Parallelismen oder Paraphrasen. Davon unterschieden, betrifft Kohärenz »die Funktionen, durch die die Komponenten der TEXTWELT, d. h. die Konstellation von KONZEPTEN (Begriffen) und RELATIONEN (Beziehungen), welche dem Oberflächentext zugrunde liegen, für einander gegenseitig zugänglich und relevant sind.«210 Gemeint ist damit die Beziehungshaftigkeit der im Text verwendeten Begriffe zueinander – kurz: die Sinnhaftigkeit eines Textes.211 In narrativen Texten ist dieses Beziehungsgeflecht häufig als Handlungskausalität dargestellt (d. h. h als eine nachvollziehbare Abfolge von verursachenden Handlungen und daraus resultieren Reaktionen), in argumentierenden Texten ist die relevante Kategorie eher die der argumentativen Logik des im Text entwickelten Gedankenganges. Damit stellt sich in Bezug auf Psalter und Zwölfprophetenbuch die Frage, wie insbesondere die Übergänge zwischen den einzelnen Texten zu bewerten sind, da hier in aller Regel die Kohäsion zwischen den Einzeltexten unterbrochen wird. Dies zum Anlass zu nehmen, die Textualität des Psalters vollständig abzulehnen,212 greift zu kurz. Auch in Romanen oder Fachbüchern gibt es Kapitelgren209 Beaugrande et al. (1981), 4. 210 Beaugrande et al. (1981), 5. 211 Fischer (2010), 10 beschrieb das Verhältnis von Kohärenz und Kohäsion treffend wie folgt: »Kohärenz und Kohäsion verhalten sich zueinander wie Handlung und Darstellung einer Erzählung.« 212 Müller (2003), 129: »An erster Stelle bei den Kriterien zur Textualität steht die Syntax. Nur sie macht, dass aus einer Reihe von Wörtern Sätze werden und dass aus einer Anhäufung von Sätzen ein Text wird. Es gibt keine Textkonnektoren … zwischen den einzelnen Psalmen, und es gibt keinen textkonstitutiven Rahmen der Zeit oder der Handlungsträger, der die Grenze eines Psalmes überschreitet. Es gibt nur auf der semantischen Ebene Verbindungslinien zwischen den Psalmen, aber nicht auf der grammatikalisch-syntaktischen.

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zen, die nicht grammatikalisch-syntaktisch überbrückt werden, jedoch die Textualität des Buches nicht gefährden.213 Mehr noch: In systematischer Hinsicht stellen Kapitelunterteilungen eine Gliederungsstrategie dar, die sich von der Gliederung auf Satzebene (z. B. durch Interpunktionen) primär durch die Hierarchiestufe unterscheiden und dem Leser oftmals kohärenzsteigernde Gliederungssignale bieten.214 Andererseits machen diese Beispiele deutlich, dass Brüche in der Textkohäsion normalerweise ausgeglichen werden – zum Beispiel durch entsprechende semantische Kohärenz. Kohäsion und Kohärenz stehen somit häufig in einem interdependenten Verhältnis zueinander: Die Kapitelunterteilungen eines Romans, die auf Satzebene die Kohäsion des Textzusammenhangs unterbrechen, verlieren diesen trennenden Charakter, da es zum »Formular« eines Romans gehört, durch Unterkapitel Szenenwechsel anzudeuten und die Handlung zu strukturieren.215 Gleichzeitig wird durch die Kontinuität auf inhaltlich-narrativer Ebene sichergestellt, dass die Kohärenz des Textes gewahrt bleibt. Wo hingegen derartige Unterbrechungen nicht zum »Formular« gehören oder die Kontinuität des Textes nicht durch andere Mittel gewahrt bleibt, wäre der zunehmend deutliche Verlust von Kohäsion die Folge, was ab einem gewissen Punkt zur Folge hätte, dass ein (Gesamt)text in eine Reihe von Einzeltexten »zerfiele«. Es ist das Verdienst von Müller, die textlinguistische Dimension der Rede vom Gesamttext zumindest in die Diskussion eingebracht zu haben; umso bedauerlicher ist, dass dieser Ansatz bislang wenig bis gar nicht aufgegriffen wurde. Dabei ist nicht vorschnell von einem negativen Resultat derartiger Überlegungen auszugehen: Die Textlinguistik ist davon abgekommen, vermeintlich allgemeingültige Textbegriffe zu postulieren, sondern geht inzwischen eher von einem »Kernbereich von Textphänomenen« aus, »für den das ›Texthafte‹ in vollem Umfang zutrifft«, akzeptiert daneben aber auch einen Zone, »für die die Merkmale der Textualität nur in begrenztem Umfang gegeben sein müssen«216. Texte kann man demnach als »Merkmalsbündel« beschreiben, bei denen einzelne Merkmale mehr oder weniger vorhanden sein können, ohne dass dies der Textualität des Textes Abbruch täte. Dennoch wäre für Psalter, Dodekapropheton und dann auch die Klgl jeweils individuell zu bestimmen, ob das jeweils vor-

213 214 215 216

Ohne diese lässt sich aber kein Text konstituieren.« Damit gibt sich Müller als Anhänger eines grammatischen Textbegriffes zu erkennen, der Textualität auf der Ebene der Kohäsion verortet. Heinemann et al. (2002), 189f. Vollständig zu kurz greift ein Kriterium syntaktisch-grammatikalischer Kohäsion daher bei der Behandlung von Zwillingspsalmen, wie sie von Zimmerli (1972) beschrieben wurden. Zudem ist z. B. in der Poesie das bewusste Stören oder gänzliche Fehlen von Kohäsion ein nicht unübliches Stilmittel (Vater [2001], 11), durch welches Kohärenz und damit Textlichkeit nicht automatisch gefährdet wird. Heinemann et al. (2002), 103.

Auswertung: Probleme und Perspektiven

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handene Maß an Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität usw. ausreicht, um von einem (Gesamt-)text sprechen zu können. Im Falle des Zwölfprophetenbuches, das schon hinsichtlich der jeweiligen Einzelschriften ein Textmodell zugrunde legen muss, das eine zuweilen »zerklüftete« Sprache und Gedankenfolge, unvermittelte Genrewechsel, alternierende Sprecher und Settings usw. in einen intuitiv plausiblen Textbegriff integrieren kann, ist es beispielsweise gut vorstellbar, dass ein Textbegriff, der auf der Ebene der Einzelschriften verwendbar ist, mit nur geringen Änderungen auf das Buch insgesamt angewendet werden könnte. Daraus ließe sich möglicherweise die Schlussfolgerung gewinnen, dass die ja auch innerhalb der einzelnen Schriften nur teilweise narrativ kreierte Kohärenz des Zwölfprophetenbuches insgesamt ebenfalls eher auf argumentativ-struktureller Seite zu suchen sei. Für den Psalter wären hier insbesondere die Psalmenüberschriften zu diskutieren. Trennende und verbindende Momente scheinen zugleich vorzuliegen: Während auf der Ebene der Textkohäsion der Textfluss zweifellos unterbrochen wird, ist es durchaus denkbar, dass die in den Überschriften enthaltenen strukturierenden und situierenden Angaben andererseits kohärenzsteigernd wirken.217 Auch hier wäre daher vor einer vorschnell skeptischen Bewertung zu warnen. Andererseits ist jedoch auch deutlich geworden, dass der Textbegriff, der in weiten Teilen der Diskussion weitgehend unkritisch vorausgesetzt zu werden scheint, keineswegs so unproblematisch und folgenlos ist, wie es bislang häufig den Anschein hat. Für beide Korpora versteht es sich von selbst, dass die Entscheidung über die Textualität des Buches keine Auswirkungen auf die Berechtigung und Notwendigkeit der Exegese der jeweiligen Einzelpsalmen bzw. -schriften hat. Im Falle des Hld stünde zu fragen, ob die im Oberflächentext enthaltende Kohärenz stark und prägnant genug ist, um von einem Gesamttext reden zu können. Wie auch immer die Diskussion für die jeweiligen Korpora verlaufen mag – sie würde sich anhand etablierter Begrifflichkeiten und nachvollziehbarer Kriterien entwickeln, und hätte damit die Chance, zu (auch interdisziplinär) belastbaren Ergebnissen zu kommen. Zugleich wäre damit eine Basis etabliert, auf der anschließend die Kriterien der jeweils vorgeschlagenen Interpretationsthese – sei es, das Dodekapropheton als literary unity, sei es, den Psalter als quasinarrativen Text zu lesen – etabliert werden könnten. Hinsichtlich der Klgl ist damit zu prüfen, inwiefern dem Buch als Ganzem Textlichkeit zugeschrieben werden kann. Fraglos ist, dass die jeweiligen Einzeltexte in sich kohäsiv und kohärent sind. Anders stellt sich die Sache dar, wenn 217 Ob diese Kohärenzsteigerung ausreichend genug ist, um von einem einheitlichen Text in einem nennenswert qualifizierten Sinne zu sprechen, wäre dann eine sich daran anschließende Frage.

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Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

man die jeweiligen Liedübergänge betrachtet, sowie allgemeiner nach der kohäsiven Vernetzung der Lieder insgesamt fragt. Hier ist der Befund nicht einheitlich. So lässt sich beispielsweise Klgl 2,1 zwanglos als Fortsetzung von Klgl 1 lesen: Die Nennung der ‫ בת־ציון‬ist vertraut; das Bild des »Verdunkelns« nimmt das Bild des »von oben« Feuer schickenden JHWH aus Klgl 1,13 kontrastierend auf. Dass nun der Sprecher wieder das Wort ergreift, nachdem vorher Zion sprach, ist aus der Perspektive der Hörer*innen nur eine Fortsetzung des in Klgl 1 insgesamt etablierten Schemas abwechselnder Rede. Auch das einleitende ‫איכה‬ Ach!, das damit neu beginnende akrostichische Schema und die Trennung der Lieder durch eine Petucha müssen nicht als trennend empfunden werden. Der Übergang von Klgl 2 zu Klgl 3 enthält demgegenüber mehr trennende Elemente. Zwar findet sich mit ‫ בשבט עברתו‬durch die Rute seines Zornes der einzige Fall eines liedübergreifenden syntaktischen Verweises, allerdings bleibt die Einführung des Mannes unvermittelt; ein tatsächlicher Dialog mit Zion oder Sprecher von Klgl 1–2 kommt nicht zustande und mit der ebenso unvermittelten Einführung wie Aufhebung einer kollektiven Perspektive in V 40–47 kommt noch eine weitere Gruppe in den Blick, die aus der Sicht von Klgl 1–3,39 ohne Bezug zum Ganzen steht. Gänzlich unvermittelt ist dann der Übergang zu Klgl 4 und anschließend zu Klgl 5, nicht nur hinsichtlich der jeweils sprechenden Figur, sondern auch hinsichtlich des vorgestellten »Settings«, der angesprochenen Themen und des jeweils vorausgesetzten zeitlichen Kontextes. Das somit eher negative Urteil über die These der Klgl als Gesamttext sieht sich im Übrigen auch in der Forschungsliteratur wiedergespiegelt: Während es mittlerweile eine Reihe von Untersuchungen gibt, die Frau Zion zum Gegenstand haben und damit Klgl 1–2 implizit als eine mehr oder minder dichte Einheit lesen, fehlen entsprechende Untersuchungen zu Klgl 3–5. Diese Lieder bleiben meist als recht eigenständige Stücke stehen und werden als solche behandelt.

3.2.3 Begriffsvorschlag Arrangement als konnotationsarme Alternative Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die mit einer Begrifflichkeit verbundenen inhaltlichen Assoziationen erhebliche terminologische, häufig aber auch methodische und argumentative Konsequenzen haben. Die Begriffe Gesamttext und Anthologie lassen sich diesbezüglich als Maximal- und Minimalvorschläge begreifen. Während die Rede vom Gesamttext dort verbreitet ist, wo der sehr enge Bezug der einzelnen Texte zueinander betont werden soll, wird der Begriff Anthologie dort verwendet, wo diese weitgehend bestritten werden soll. Beide Begriffe sind damit wenig hilfreich: Die mit der Rede vom Gesamttext implizierten Konnotationen lassen sich aus der Textbasis nur begrenzt erweisen,

Auswertung: Probleme und Perspektiven

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die Verwendung des Begriffes Anthologie wäre nur dann angemessen, wenn sich nur wenige nennenswerten einzeltextübergreifende Gedankengänge und Bedeutungskontexte ergäben. Ähnlich problematisch erweisen sich einige der sonst häufig verwendeten Begriffe wie Komposition, Zyklus oder Sammlung: (1) Komposition bedeutet zwar wörtlich nicht mehr als »Zusammenfügung«, jedoch ist der Begriff so eng mit dem Vorgang der Musikkomposition verbunden, dass unwillkürlich das Bild einer sorgfältig skizzierten, dann in Reinschrift entwickelten musikalischen Notation evoziert wird, in der der Blick von Anfang an »aufs Ganze« geht und die einzelnen Teile jeweils im Dienst des Gesamten stehen. Zudem verweist eine Komposition in aller Regel auf eine/n Komponisten/ in zurück, was für alttestamentliche Korpora mit ihrer zum Teil sehr komplexen Entstehungsgeschichte weder notwendig noch immer sachgemäß ist. (2) Zyklus trägt hinsichtlich der Verwendung in Worten wie Lieder- oder Gedichtszyklus ebenfalls signifikante Konnotationen einer klaren Planung von Anfang bis Ende. Dass es neben Liederzyklen wie die Schöne Müllerin auch eher lose thematisch geordnete Liederzyklen gibt, tut dem kein Abbruch. (3) Auf der anderen Seite sind derartige Konnotationen beim Begriff Sammlung fast völlig ausgeschlossen; in der Tat entzündete sich Becks Kritik an der abwertenden Verwendung des Begriffs »Anthologie« daran, dass er häufig praktisch synonym mit dem Begriff »Sammlung« verwendet wird, und somit eine weitgehend planlose Aggregierung von Texten meint. Gesucht wäre somit eine Beschreibung, die gleichsam »zwischen« Komposition und Sammlung steht, auf der einen Seite verdeutlichend, dass die vorliegende Anordnung der Einzeltexte durchaus interessegeleitet ist, dabei aber nicht sofort Assoziationen eines durchgeplanten, einheitlichen Werkes weckend. Der Begriff »Arrangement« scheint diesen Anforderungen recht nahe zu kommen: Zum einen handelt es sich um keinen vordergründig literarischen Begriff – Steine, Skulpturen, Blumen können ebenso arrangiert werden, wie Texte, Bilder, Worte oder Instrumentalstimmen. Damit entfallen die irrigen Konnotationen von Textualität. Zudem konnotiert ein Arrangement nicht automatisch die Existenz eines »Autors«. Die Steintürmchen, die im Gebirge zur Wegmarkierung oder auf Berggipfeln entstehen, haben keinen »Urheber« im eigentlichen Sinne – alle Vorbeikommenden tragen bei und fügen einen Stein zum nächsten. Das verbindende, »kreative« Moment ist hier die sich im Arrangement der Steine manifestierende Idee der Weg- oder Gipfelmarkierung. Damit ist schon angedeutet, dass die »Bedeutung« oder »Aussage« eines Arrangements weitgehend unspezifisch bleibt. Ein Blumenarrangement hat eine primär ästhetische »Aussage«, ein Arrangement von Texten oder Fotos möglicherweise eine pädagogische, rhetorische oder polemische. Der Inhalt der Aussage oder Bedeutung kann dabei sehr allgemein oder höchst konkret sein.

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Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

Dem Begriff eignet somit gleichermaßen Klarheit wie Offenheit: Ein Arrangement konnotiert Intentionalität und gegenseitige Aufeinanderbezogenheit der jeweils arrangierten Elemente, der Begriff unterscheidet klar zwischen konstituierenden Elementen und resultierendem Objekt. Zugleich trifft er keine Aussage über die konkrete Art der jeweiligen Bezogenheit: Es ist möglich, dass ein Arrangement von Texten lediglich im Sinne einer thematisch-motivischen Sortierung aufeinander verweist. Es ist aber auch denkbar, dass Texte mittels deutlicher thematischer Aufnahmen, narrativer oder dramatischer Verbindungen, oder gar sämtliche derartiger Arten von Bezügen zugleich ein dichtes Netz gegenseitiger Bezüge und Assoziationen etablieren. Schließlich ist damit ein Begriff vorgeschlagen, der eine ähnliche Beziehung zwischen Einzeltext und Gesamtaussage nahelegt, wie er oben in den Entwürfen Hartensteins und Scoralicks schon angedeutet war. In beiden Fällen wurde die Gesamtaussage, das »Programm« einer Psalmengruppe bzw. des Zwölfprophetenbuches nicht seinerseits wiederum als Textbedeutung konzipiert, sondern als ein sinnvolles Beziehungsgeflecht von thematischen foci, Motivgruppen und biblischen Verweisen, das zwar aus den Einzeltexten erhoben wurde, und als sinnvolle Gesamtaussage, Gedankengang o. ä. aufgefasst werden konnte, jedoch selbst keinen Text darstellte. Textbedeutung existiert damit nur auf der Ebene der Einzeltexte, »Buchbedeutung« dagegen nicht auf der Ebene eines postulierten Gesamttextes, sondern der Ebene intertextueller Beziehungen.

3.2.4 »Was im Kleinen funktioniert …« Insbesondere in der Psalterexegese hat der offenkundige Erfolg von Auslegungen kleinerer Psalmengruppen dazu geführt, dass auch größere Psalmengruppen, Teil- und Gesamtpsalter auf diese Weise untersucht werden.218 Dabei wurde nicht weiter thematisiert, ob und inwiefern eine sich verbreiternde Textbasis zu ganz neuen text-, und literaturtheoretischen Herausforderungen führt. Das ist bedauerlich, denn es kann dazu führen, dass die an sich plausiblen Elemente des Ansatzes angesichts ihrer nur mäßig überzeugenden Ergebnisse bei der An218 Dieses Vorgehen scheint zunächst naheliegend, ist aber bei näherem Hinsehen unplausibel. Die Welt ist voll von Gegenbeispielen, die deutlich machen, dass im Hinblick auf Beschreibungskategorien durchaus die Größenrelationen von Wichtigkeit sind. Die Newtonsche Mechanik scheitert an der Beschreibung von subatomaren Vorgängen; die Quantenphysik hingegen taugt nicht zur Berechnung von Planetenbahnen. Begriffe wie Schwarmintelligenz und Gruppendynamik weisen darauf hin, dass das Verhalten größerer Menschenmengen kategorial anderen Regeln folgt, als Entscheidungsprozesse von Einzelpersonen. Wissenschaftszweige wie die Meteorologie basieren auf der Einsicht, dass sich das Beschreibungsarsenal von Teilchenphysik und Molekularchemie nicht zur Unwettervorhersage eignet.

Auswertung: Probleme und Perspektiven

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wendung auf eine verbreiterte Textbasis generell in Frage gestellt werden. Drei Problemfelder seien angedeutet: (1) Es ist zumindest denkbar, dass ein relativ »klassischer« Textbegriff auf der Ebene kleinerer Psalmengruppen vertretbar wäre. Möglicherweise wird dort (etwa durch eine weitgehend einheitlich gezeichnete Beterfigur, ein konstantes Thema, Refrains, situierende Psalmenüberschriften, Stichwortaufnahmen usw.) ein Maß an Kohäsion erzeugt, das manche Psalmengruppen dann auch als inhaltlich kohärenten Text begreifbar machen könnten. Wenn sich die Psalterexegese jedoch auf dieser Ebene an die Exegese des Gesamtpsalters macht, stößt sie auf die in den vorherigen Abschnitten angedeuteten Probleme; die Modellierung des Gesamtpsalters als einen in textlinguistischer Hinsicht einheitlichen Text ist jedenfalls nur unter einer Zugrundelegung eines recht weiten Textbegriffes möglich. (2) Aus literaturtheoretischer Sicht ist es häufig der Fall, dass eine Verbreiterung der Textbasis zu einer sich verändernden Textrezeption führt. Schon allein der längere Text – und die damit verbundene zeitlich längere Rezeptionsphase – führen dazu, dass Inhalte anders strukturiert und aufbereitet werden müssen, um von den Leser*innen angemessen aufgefasst zu werden.219 Damit stellen sich ganz praktische Fragen, etwa nach den »Wahrnehmungsgrenzen« im Rezeptionsprozess.220 Es scheint, als ob beispielsweise Ballhorn dieses Problem damit lösen will, dass er von einer zyklischen Lesung des Psalters ausgeht, bei der »der Text beim Leser in eine ›Gleichzeitigkeit‹ der Wahrnehmung hinein[gerät]«221. Abgesehen davon, dass man sich an dieser Stelle unwillkürlich an den Strukturentwurf Renkemas erinnert fühlt, setzt es erneut einen relativ spezifischen Textbegriff voraus, der weniger vom Element narrativer oder argumentativer Folgerichtigkeit geprägt ist,222 denn von etwas, was man möglicherweise als »pervasives Assoziationsnetz« bezeichnen könnte. 219 Beispielsweise finden sich in Romanen häufig Zwischenkapitel eingeschoben, die aus narrativer Hinsicht wenig folgenhaft bleiben und eher die Funktion haben, den Rezeptionsprozess des Lesers zu beeinflussen: Spannung soll auf-, oder Pausen in die Darstellung eingebaut werden. 220 (Weber [2007], 89–91, hier 90 beweist diesbezüglich Problembewusstsein: »Folgt man Ballhorns Ausführungen, kommt es im linearen Lesefluss von Psalm zu Psalm zu ständigen Modifikationen und Reaktualisierungen von Verstehenshorizonten und theologischen Interpretationen, welche durch die Lektüre zurückliegender Psalmen(-gruppen) aufgebaut wurden. Hier stellen sich neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Grundfragen nach der Wahrnehmungs-, Leistungs- und Organisierungsfähigkeit in Sachen Memorierung und Verknüpfung.« 221 Ballhorn (2004), 26. 222 Ein Element, dass Ballhorn mit dem Hinweis auf die Leserichtung des Textes, das Vorhandensein eines »impliziten Lesekonzeptes« und das Insistieren darauf, dass die Psalmen in einer nachvollziehbaren und nicht-willkürlichen Reihenfolge arrangiert sind, eigentlich wahren will.

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Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

(3) Die Ausweitung der Textbasis führt häufig zu einer zunehmenden Abstraktion hinsichtlich der jeweils erhobenen Textaussage. Angesichts dieser zunächst vollkommen unkontroverse Beobachtung (man überlege nur, welcher Anteil der Inhaltsangabe eines Romankapitels sich in der Inhaltsangabe des Gesamtromans wiederfände) muss man aber fragen, ab wann der Mehrwert, der durch den geweiteten Blick über die Grenzen des Einzelpsalms, die Psalmengruppe hinaus gewonnen wurde, durch die notwendige Abstraktion der eruierten thematisch-argumentativen Linie aufgehoben wird.

3.2.5 Figuren als »Träger« narrativer Erwartungen Am Beispiel der Hld-Exegese, aber z. T. auch im Falle des Zwölfprophetenbuches wurde deutlich, dass das Vorhandensein literarischer Figuren im Text fast automatisch die Frage nach narrativen Strukturen aufkommen lässt. Textlinguistisch gesprochen stiften literarische Figuren sowohl grammatikalische Kohäsion als auch semantische Kohärenz. Einerseits fungieren sie als innertextliche Bezugspunkte, auf die mittels ana- und kataphorischer Verweise rekurriert werden kann, was die Kohäsion zwischen den Sätzen stärkt. Zugleich sind die Figuren Handlungsträger des Plots und dienen als »Projektionsfläche« für Überzeugungen, Einstellungen oder Überlegungen. Sie festigen damit die Kohärenz des Textes, insofern sie es den Leser*innen ermöglichen, den Handlungsfortschritt auf bestimmte Figuren zu beziehen bzw. an diese rückzubinden. Aus den recht deutlich gezeichneten Figuren des Hld, zusammen mit der Gestaltung des Textes als Figurenrede, resultierte eine lange Tradition dramatischer Deutungen; auch der Deutungsversuch von House basierte im Kern darauf, die in den Schriften des Zwölfprophetenbuches erkennbaren Figuren als Hinweise für eine narrative Interpretation des Buches aufzufassen. Dieser Befund ist zuerst einmal zur Kenntnis zu nehmen: Soweit literarische oder dramatische Figuren im Text mit hinreichender Prägnanz entwickelt sind, stellt sich die Frage einzeltextübergreifender Kohärenz mit höherer Berechtigung. Zugleich sind die Grenzen jener Sichtweise nicht aus den Augen zu verlieren: Die Schwierigkeit der Hld-Exegese war gerade, dass trotz der im Text vorhandenen Figuren kein durchgehendes narratives Setting etabliert wird, vielmehr der narrative Eindruck immer wieder unterbrochen wird. Beim Dodekapropheton kam hinzu, dass die vorhandenen Figuren teilweise von Schrift zu Schrift wechselten, wodurch die kohärenzstiftende Funktion dieser Figuren immer wieder konterkariert wurde. Für die Diskussion der Klgl wäre auch hier eine differenzierte Beurteilung von Klgl 1–2(.3) vis-à-vis Klgl 4–5 zu treffen: Während die Figuren des Sprechers, Zions und des Mannes in Klgl 3 in diesen drei Liedern fraglos zu einer Steigerung

Schlussfolgerungen für die eigene Untersuchung

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der einzeltextübergreifenden Kohärenz beitragen, treten Klgl 4–5 demgegenüber zurück. Die Präsenz des Sprechers als literarische Figur mit Gefühlen, Überzeugungen usw. nimmt ab, Frau Zion ist nur noch in Andeutungen als Figur erkennbar, die in Klgl 3,40–47; 4,17–20 und anschließend in Klgl 5 zu Wort kommenden Kollektive lassen sich nur begrenzt als weitere literarische Figuren in die Darstellung integrieren. Sollte somit auch in der Weiterführung von Klgl 3 über Klgl 4 zu Klgl 5 einzeltextübergreifende Kohärenz erweisbar sein, so dürfte diese sich nicht in erster Linie auf das Vorhandensein literarischer Figuren berufen.

3.3

Schlussfolgerungen für die eigene Untersuchung

Für sämtliche diskutierte Textkorpora (einschließlich der Klgl) gilt, dass einfache Lösungen nicht zu haben sind. Schon aus diesem Grund sollten Deutungsversuche, die versuchen, ein Buch unter eine bestimmte poetische oder literarische Gattung zu verbuchen, mit Skepsis betrachtet werden. Die nachfolgenden Überlegungen sind somit als erste Systematisierungen aufzufassen: (1) Der Ansatz einer einzeltextübergreifenden Exegese hat in vergleichbaren Textkorpora sein Potential erwiesen. Es ist somit durchaus vielversprechend, seine Anwendbarkeit auch für die Klgl-Exegese auszuloten. (2) Insbesondere bei der Beschreibung des Verhältnisses von Einzeltext zu Gesamtwerk bedarf es begrifflicher Präzision. Eine von Vergleichen, sprachlichen Bildern oder Metaphern geprägte Begrifflichkeit tendiert dazu, Erwartungen zu wecken, die nicht erfüllt werden können, und damit die inhaltliche Diskussion zu erschweren. (3) Hinsichtlich der Untersuchungen Johan Renkemas und Nogalskis ist auf die Beschränkungen struktureller Bezüge und Stichwortverknüpfungen hinzuweisen. Beide Untersuchungen verdeutlichten sehr gut, dass strukturelle Bezüge allein nicht ausreichen, eine inhaltliche These zu begründen. Sie sind mithin zwar Indizien für das Vorliegen eines programmatischen Arrangements von Einzeltexten, und sie können ein etwaiges Programm durch ihre einzeltextübergreifenden Verweise stützen und »verdichten« – sie können es aber nicht allein begründen. (4) Die Rede von einem Gesamttext sollte vermieden werden. Sie weckt Erwartungen, die zumindest bei Psalter und Zwölfprophetenbuch, sowie vermutlich auch bei den Klgl, nicht ohne weiteres einzulösen sind. Die diesbezüglich vielversprechenderen Ansätze im Bereich des Hld geben Hinweise, warum solche Lektüren aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern: Die formal und inhaltlich individuellen Einzeltexte weisen nur wenige Pro- und Analepsen auf; eine thematische, räumliche und zeitliche Ähnlichkeit, verbunden mit wiederkehrenden

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Vom Einzeltext zum Buch: Survey vergleichbarer Exegeseprojekte

literarischen Figuren reichen zwar aus, um ein gewisses narratives Gefühl zu evozieren, erreichen jedoch nicht den Status wahrer Narrativität. (5) Die unbestreitbaren inhaltlich-thematischen Korrespondenzen zwischen den einzelnen Texten, ihre inhaltlichen Aufnahmen und Korrekturen, die in der Gesamtlesung durchaus den Status von Rede, Widerrede usw. erreichen, sind sowohl für die Klgl wie auch den Psalter und das Dodekapropheton besser mit dem Begriff Intertextualität zu fassen, denn mit inhaltlich diffusen Beschreibungen wie z. B. Quasi-Narrativität. (6) Literarische oder dramatische Figuren fungieren als wichtige Ankerpunkte »verdichteter« bzw. intensivierter Kohärenz. Für die Klgl wird hier insbesondere für Klgl 1–3 das durch Sprecher, Zion und Mann generierte Maß an Kohärenz zu diskutieren sein – aber auch, was das weitgehende Fehlen derartiger Figuren in Klgl 4–5 in Bezug auf die Gesamtthese aussagt. (7) In den Klgl wird fraglos ein gewisses dramatisches Setting kreiert, das die Exegese nicht einfach ignorieren kann. Der Text selbst verfügt somit über Signale, die eine Lesung der fünf Lieder als Arrangement nahelegen. Dies umso mehr, als dass die Texte ein bestimmtes historisches Geschehen poetisch verarbeiten. Somit ist auch auf der Ebene des behandelten Themas eine gewisse Kontinuität und dramatische Dimension vorhanden, die von der Exegese zu berücksichtigen sind. Inwiefern hieraus eine Lesung der Klgl »als Drama« begründet werden könnte, wäre dann noch einmal gesondert zu erörtern (s. u. Kap. 5.1). (8) Die überzeugendsten Ansätze der Psalter- wie auch Zwölfprophetenbuchexegese konzipierten ihre Gesamtdeutung als eine »über« dem Text liegende Struktur intertextueller Bezüge. Diese Beziehungsstruktur kann durchaus durch narrative oder dramatische Elemente ergänzt und gestützt werden – sie beruht allerdings nicht ausschließlich auf ihnen und ist nicht genötigt, sämtliche Aspekte einer Gesamtdeutung in ein narratives oder dramatisches Deutungsschema einfügen zu müssen. Für die Exegese der Klgl deutet dies darauf hin, dass der vermutlich vielversprechendere Ansatz der ist, die Bedeutung, Argumentation, Gesamtbotschaft nicht wiederum auf der Ebene von Textbedeutung zu suchen, sondern eher auf der theologisch-argumentativen Ebene. Ein naheliegender Kandidat einer solchen einzeltextübergreifenden Erörterung wäre die aus dem Gericht erwachsende Theodizee-Problematik.

4

Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten

Dieses Kapitel trägt formale Indizien zusammen, die dafürsprechen, die Klgl als eine sinnvoll arrangierte Abfolge von Texten zu lesen. Derartige Indizien bewegen sich eher auf der »Oberfläche« der Texte; sie können von ihrer Natur her erst einmal nur die Annahme einer bewussten Anordnung – ein interessegeleitetes Arrangieren der Texte – nahelegen. Der Erweis eines inhaltlichen oder thematischen Programms, das sich in der Lesung der so arrangierten Texte erweist, bleibt dem nächsten Kapitel vorbehalten. Da die hier zusammen gestellten Indizien in der Literatur meist ausführlich behandelt wurden, kann sich die Darstellung teils auf eine zusammenfassende Nennung beschränken.

4.1

Poetologische Kontinuitäten

4.1.1 Akrostichie Der akrostichische Aufbau der Klagelieder ist eines der auffälligsten Merkmale, das einerseits die Ähnlichkeit der einzelnen Lieder hervorhebt, zugleich jedoch auch trennenden Charakter hat: Während auf der einen Seite die Ähnlichkeit des Phänomens Einheit zwischen den Liedern schafft, signalisiert ein Erreichen des letzten Buchstaben des Alphabets auch jeweils das Ende des aktuellen Textes sowie seine Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit.223 Das Phänomen wird in der Literatur zu den Klgl ausführlich behandelt.224 Der Befund ist schnell beschrieben: Klgl 1–4 sind 22-strophige Alphabetakrosticha. Klgl 1 und 2 sind aus Versen zu jeweils drei Bikola der Art ‫ – א‬x – y, ‫ – ב‬x – y, ‫ – ג‬x – y aufgebaut. Klgl 3 intensiviert dieses Schema zu ‫א – א – א‬, ‫ב – ב – ב‬, 223 Grossberg (1989), 83f. macht unter anderem die Akrostichie für die »dynamic tension and balance« zwischen – wie er es nennt – zentrifugalen und zentripedalen Tendenzen des Buches verantwortlich. 224 Außerbiblische Akrosticha werden in Soll (1988), Brug (1990) und Eshel et al. (2000) diskutiert. Dort jeweils auch weitere Literatur.

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Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten

‫ ג – ג – ג‬und in Klgl 4 findet sich ein verkürztes ‫ – א‬x, ‫ – ב‬x, ‫ – ג‬x. Klgl 5 nimmt zumindest in der 22-versigen Anlage noch das Alphabet auf.225 Auffällig ist die nur in Klgl 1 dem heutigen Alphabet entsprechende Buchstabenabfolge ‫פ – ע‬. In Klgl 2; 3 und 4 findet sich hingegen ‫ע – פ‬. Eine inhaltliche Deutung dieser Abweichung wurde immer wieder versucht, bleibt jedoch Spekulation.226 Verschiedene Versuche, auch in Klgl 5 ein Akrostichon zu entdecken, überzeugten nicht.227 Eine Reihe von Erklärungen des Phänomens sind vorgeschlagen worden:

225 Zum Teil ist diese Beurteilung natürlich durch den Kontext vermittelt: Ohne die Assoziation mit Klgl 1–4 würde die Anlage nicht automatisch als alphabetisierend aufgefasst werden. Vgl. allerdings Freedman (1972), der für biblische Akrosticha insgesamt zwei charakteristische Längen identifiziert: Eine kürzere, mit Zeilen von 13–14 Silben Länge, und eine längere, mit 16–17 Silben Länge. Klgl 5 passt sich harmonisch in letztere Gruppe ein, was zumindest darüber nachdenken lässt, ob die Anlage für einen biblischen Leser nicht auch in Isolation schon als alphabetisierend aufgefasst wurde. 226 So vermutet Berges (2002), 76f., die der heutigen Praxis entsprechende Abfolge in Klgl 1 sei dem Streben geschuldet, die Sammlung nicht mit einer ungewöhnlichen Buchstabenfolge beginnen zu lassen, die durch Klgl 2 als ältestem Lied gegeben war. Über die Ähnlichkeit zu Klgl 2 wurde dann die unübliche Abfolge ‫ ע – פ‬in Klgl 4 eingetragen, und durch die Inklusion von Klgl 2 und 4 konnte sich auch Klgl 3 dieser Tendenz nicht entziehen. Problematisch an dieser Erklärung ist insbesondere das damit vorausgesetzte Modell einer bewussten Abfassung der einzelnen Lieder auf ein zu schaffendes Ganzes hin. Zudem wendet Schäfer (2006), 244, Anm. 18 berechtigt ein, dass im Falle einer als störend empfundenen Anordnung ‫ ע – פ‬die Annahme einer redaktionellen Änderung in Klgl 1 sehr viel näherliegt als eine von Klgl 2 ausstrahlende kompositionelle Eigenheit in Klgl 3 und 4. Heater (1992), 313–315 diskutiert das Problem ausführlich und vermutet, dass sich in der unterschiedlichen Anordnung das Motiv der Verkehrung des Schicksals im Text sichtbar niederschlägt. Assis (2007), 710, Anm. 1 sieht in den zwei Varianten ein Indiz dafür, dass eine verbindliche Buchstabenfolge zur Zeit der Abfassung der Lieder noch nicht etabliert war (bzw. es zwei unterschiedliche Traditionen gab) und untermauert dies mit weiteren archäologischen Hinweisen (ähnlich First [2014]). Heikens (1996), 192 macht hierfür die ähnliche Buchstabenform verantwortlich. Eine originelle Erklärung bietet Boehmer (1908): Es sei möglich, die alphabetische Buchstabenfolge zu sinnvollen Wörtern zu verbinden: ‫ – אב‬Vater, ‫ – גד‬Glück; ‫ – הו‬Wehe! usw. Allerdings breche dieses Schema an der Stelle ‫ פ – ע‬zusammen: So müsste ‫סע‬ folgen, anschließend dann ‫פצ‬. Ersteres ergebe jedoch kein sinnvolles Wort. Die Lage ändere sich allerdings, wenn man die Buchstabenfolge umdreht: Nun würde ‫ – סף‬Becken/Schale/ Schwelle gefolgt von ‫ – עצ‬Holz/Baum, anschließend weiter ‫ – קר‬Kälte bzw. brüllen/knurren und ‫ – שת‬Seth bzw. Pfeiler/Gesäß. 227 Der umfassendste Versuch stammt von Bergler (1977) und gilt allgemein als gescheitert. Er will ein Satzakrostichon entdecken, bei dem die Anfangsbuchstaben der Verse den Spruch »Die Abtrünnigen, (nämlich) das Volk verschmähe ich, (es) strafend mit Verachtung, wie dein Gott klagt« ergeben. Berges (2002), 273 urteilt zutreffend: »Die gekünstelte Hypothese, die Waghalsigkeit des Hebräischen und die Schwachheit der Gesamtaussage sprechen dagegen.« Weitere Kleinakrosticha stammen von Rossenfeld, der in den ersten beiden Versen aus den Anfangsbuchstaben der Halbverse die Abfolge ‫ זכריה הנביא‬erkennen will und dies auf Secharja, Sohn des Hohepriesters Jojada (2Chr 24), bezieht (zitiert nach Assis [2007], 711, Anm. 2), sowie Heater (1992), 310f., der in Klgl 5,19f. durch die Buchstabenfolge ‫כסאך – אתה‬, ‫ תעזבנו – למה‬die gleiche Zweiteilung des Alphabets vorfinden will, wie sie in Klgl 1–4 in der Gesamtanlage der Lieder dargestellt ist. Kürzlich versuchte Guillaume (2009) nochmals, ein

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– Die Anordnung fungiert als Gedächtnisstütze oder Lernhilfe.228 Dies scheint bei näherer Betrachtung zweifelhaft. Einerseits ist fraglich, ob es überhaupt zu einem Memoriereffekt kommt. Dies ist schon beim ‫ – א‬x – y-Schema von Klgl 1 und 2 fraglich, noch mehr jedoch bei Klgl 3 oder gar Ps 119. Zuletzt scheint die Akrostichie eher für Leser*innen denn für Sprecher*innen relevant, da zum einen der Lautwert des Wortes ‫» איכה‬ejcha!« wenig Rückschlüsse auf den Anfangsbuchstaben ‫» א‬Aleph« erlaubt,229 und zudem ja (zumindest bei Klgl 1 und 2) noch zwei weitere Bikola zu memorieren wären, für die keine alphabetische Stütze vorhanden wäre. – Die Abfolge von ‫ א‬bis ‫ ת‬symbolisiert Vollständigkeit bzw. Vollendetheit (des Gerichts; der Klage etc.).230 Zwar gibt es sehr früh derartige rabbinische Deutungen,231 diese bleiben jedoch Einzelmeinungen (s. u.). Schließlich stimmt skeptisch, dass innerhalb der einzelnen Lieder von einer Begrenzung oder Beendung des Gerichts oder der Klage nicht bzw. nur in Ansätzen die Rede ist. – Der akrostichischen Anlage wurde eine gewisse magische Kraft zugeschrieben.232 Diese Deutung wird heute weitgehend abgelehnt.233 – Die Akrostichie gibt subtile einzeltextübergreifende Lesehinweise auf »horizontaler« Ebene.234 Dieser Vorschlag wurde insbesondere von Johan Renkema eingebracht. Nach Renkema würden beispielsweise die ‫א‬-Strophen der einzelnen Lieder gegenseitige Interpretationshinweise liefern, die ‫ב‬-Strophen, usw. (s. o. Kap. 2.1.4). Da dieser Vorschlag eine Textgenese voraussetzt, bei der die einzelnen Lieder gleichsam »am Reißbrett« entworfen wurden, fand er in der Forschung keine Zustimmung. – Das Akrostichon gibt der Klage Halt und Kontur.235 Auch dieser Vorschlag erklärt das Phänomen weniger, als er den vorliegenden Befund liedkonform

228 229

230 231 232 233 234 235

Satzakrostichon (»Zechariah the prophet [says]: your God is greatly exalted!«) nachzuweisen. So Gottwald (1962), 26–28, Hillers (1992), 26, Rudolph (1962), 191. Hierzu auch Soll (1988), 318–322. Ähnlich skeptisch Berges (2002), 75, Renkema (1995b), 379 und jüngst auch wieder Salters (2010), 19. Allerdings macht Assis (2007), 712, Anm. 8 geltend, dass jüdische Kantoren aus der Akrostichie durchaus mnemotechnischen Nutzen ziehen. So Berges (2002), 76, Dobbs-Allsopp (2002), 18, Rudolph (1962), 191, Plöger (1969), 128, Boecker (1985), 11 u. ö. Vgl. die Belege bei Assis (2007), 713, Anm. 10. Löhr (1906), VII–IX, mit einigen Hinweisen auf apotropäische Bedeutungen des Alphabets. Gottwald (1962), 25: »That this kind of magical potency was attributed to letters in the sixth century B.C. by the community of devout Jews is really unthinkable.« Renkema (1995b), 379. Diese Auffassung stellt eines der Grundprinzipien Renkemas KlglAuslegung dar. Hier gibt es verschiedene Gewichtungen. Während O’Connor (2002), 13 auf die strukturierende Form der Klage abhebt (so auch Berges [2002], 76 und Joyce [1993]), 316), tendiert Assis (2007), 717 dazu, die Strukturierung hervorzuheben: »Those who grieve tend not to cry

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Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten

deutet. So wird gerade für die Klgl ein klarer Gedankenfluss der Lieder häufig bestritten. Auf der anderen Seite gibt der Psalter beredetes Zeugnis dafür, dass auch nichtakrostichische Klage Halt und Kontur haben kann. Das akrostichische Schema scheint hierzu also nicht notwendig zu sein und bestenfalls unterstützende Funktion zu haben. Ein letzter Vorschlag lautet, dass Akrosticha schlicht als kunstvoll und ästhetisch galten.236 Damit wäre zugleich Vorkommen, wie auch relative Seltenheit erklärt: Nicht jeder kann ein derartiges Lied dichten, aber auch nicht jeder will es überhaupt. Die Schlichtheit der These ist attraktiv; zudem finden sich zusätzliche Argumente: Zum einen hat Salters kürzlich detailliert dargelegt, dass talmudische und midraschige Quellen, wie auch die mittelalterlichen rabbinischen Ausleger, das Phänomen der Akrostichie allgemein recht wenig beachteten.237 Zwar gibt es den einen oder anderen Hinweis, jedoch sind sie insgesamt doch recht selten und bleiben kurz und beiläufig. »The main medieval Jewish exegetes, Rashi, Ibn Ezra, David Kimchi, and Joseph Kara, are almost silent on the subject of acrostics; and this silence must correspond to the comparative silence in Midrash and Talmud. Even at Psalm 119 (which is surely the test case) little is said. Kimchi and Ibn Ezra note the alphabetic arrangement of the psalm but do not draw any significance from the fact, while Rashi is quite silent. Rashi does note in his commentary (on 1:1) on Lamentations that the book is composed of alphabetic acrostics but he makes nothing of it, while Ibn Ezra and Kara are silent.«238

Dies könne schwerlich Zufall sein, zumal die Rabbinen ansonsten durchaus willens seien, exegetischen Gewinn aus recht esoterischen Spekulationen zu ziehen. Zudem weist Salters darauf hin, dass Ibn Ezra seinerzeit selbst akrostichische Gedichte verfasste. Dass selbst er keine Schlüsse aus der Akrostichie zieht, sei deutliches Zeichen, dass sie als rein stilistisches Phänomen angesehen und damit auf der gleichen Stufe wie sonstige poetische Phänomene wie Metrum oder Parallelismus verortet wurde. »I suggest that some poets who enjoyed writing poetry found in the alphabet an attractive container for their thoughts, and a challenge to their literary skills; and just as Shakespeare and others (and not every English poet!) used the sonnet … so they thought that they had found a ready-made structure to convey their feelings and passions.«239

236 237 238 239

in rhythm. … An author who is able to create art is able also to express well-structured thoughts.« (ähnlich auch Berlin [2002], 5). So z. B. Westermann (1990), 91 und Salters (2011). Salters. (2011), 434. Salters (2011), ebd. Salters (2011), 440.

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Diese These gewinnt weitere Unterstützung durch eine Beobachtung, die Salters an anderer Stelle macht. Traditionell werden die Klgl am Tisha B’Av in der Synagoge verlesen. Zusätzlich wird jedoch eine Vielzahl sonstiger Gebete vorgetragen, die teilweise Jahrhunderte alt sind. Diese Gebete imitieren nicht nur Ton und Stimmung der Klgl, sondern häufig auch die akrostichische Anlage. Salters zitiert eine Vielzahl möglicher Strukturen, von sehr einfachen bis höchst komplexen, die offenbar nicht zuletzt darauf zurückzuführen sind, dass die akrostichische Form die Dichter immer wieder aufs Neue inspirierte, die durch die Klgl vorgegebene Form variierend weiter zu entwickeln.240 Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Akrostichie weitgehend als ein Mittel künstlerischer Darstellung ohne eigenständige inhaltliche Bedeutung zu bewerten ist. Gerade dann ist sie jedoch ein poetisches Mittel, das auf der Textebene für Kohäsion sorgt. Sie ist eine poetische Konstante, die auf formaler Ebene die Lieder zueinander in Beziehung setzt und Kontinuität stiftet.

4.1.2 Parallelismus membrorum vs. Parataxie Die Konstanz der Akrostichie in den Klgl kontrastiert auffällig mit der Variabilität des Aufbaus der Verszeilen. Häufig finden sich Zeilen, in denen eine kurze Pause den Vortrag unterbricht, daneben finden sich aber Zeilen ohne eine solche Unterbrechung, sowie Sätze und Gedanken, die sich über mehrere Zeilen erstrecken. Grundlegendes Kennzeichen hebräischer Poesie ist die aus Gliedern gebildete Textzeile, bei der die Glieder in einem (häufig komplementären) Verhältnis zueinanderstehen: der sogenannte Parallelismus membrorum. »Die Doppelung soll die Aussage nicht nur hervorheben und verstärken, sondern die Perspektive durch Variation des Gedankens erweitern und dadurch eine assoziative Denkbewegung lostreten, um letztlich einen dynamischen hermeneutischen Prozess in Gang zu setzen.«241 Der Parallelismus kann naturgemäß verschiedene Formen annehmen, nicht nur hinsichtlich seiner inhaltlichen Gestaltung, sondern auch seines Umfanges.

240 Salters (2001), 108: »The alphabetic structures seemed to appeal to author after author of those prayers, so that, for example, we have one where a first line may begin with a letter of the alphabet, and much more sophisticated ones where, for example, every stanza begins with the word echah, the first strophe of the first stanza has five alephs, the second strophe six beths; the first strophe of the second stanza has five gimmels, the second strophe six daleths etc.« 241 Koenen et al. (2015), 13*.

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Hinsichtlich der Gestaltung unterscheidet man »klassisch« den synonymen, antithetischen und synthetischen Parallelismus,242 allerdings hat die neuere Forschung diese Dreiteilung deutlich differenziert.243 Ein eingängiges Beispiel eines synonymen Parallelismus findet sich in Klgl 5,11: Frauen vergewaltigt man in Zion – Jungfrauen in den Städten Judas. Hier korrespondieren die einzelnen Elemente der Kola in der Form AB – A′B′ und sorgen für Kohäsion, geben aber auch die Möglichkeit thematischer Entwicklung. Ein (relativ seltenes) Beispiel für einen antithetischen Parallelismus bietet Klgl 5,8: Knechte herrschen über uns – niemand entreißt aus ihrer Hand. Recht häufig findet sich der synthetische Parallelismus, in dem die jeweiligen Glieder unterschiedliche Aussagen formulieren (Klgl 3,28: Er sitze einsam und schweige – denn er hat es ihm auferlegt.). Der Parallelismus kann schließlich innerhalb eines Kolons gebildet werden, auf der Ebene eines Bikolons, oder durch kunstvolle Anordnung mehrerer Bikola nacheinander. Die konzentriertesten Parallelismen finden sich naturgemäß eher in Klgl 4–5, z. B. in Klgl 5,5b: Wir sind erschöpft – nicht ist uns Ruhe vergönnt. Ein Beispiel für einen Parallelismus auf Bikolon-Ebene bietet Klgl 2,7a: Verstoßen hat der Herr seinen Altar, verworfen sein Heiligtum. Und gerade in Klgl 1–3 finden sich häufig zwei oder gar drei Bikola zu einem Parallelismus verbunden. Beispielsweise ist Klgl 1,1 insgesamt als A – B // A′ – B′ // B′′ – A′′ konstruiert und bildet damit eine Form synthetischer Parallelismus. Da der Parallelismus in den Klgl häufig die Grenzen eines Bikolons überschreitet, wird gerade dann ein erheblicher poetischer Fokus geschaffen, wenn der Parallelismus bewusst durch Parataxen unterbrochen wird. Beispielsweise findet sich in Klgl 3,20–21 der unvermittelte Umschwung von V 20: Immerfort nachdenkend zerfließt in mir meine Seele zu V 21: Dies lasse ich zurückkehren in mein Herz, darum harre ich aus. Der unvermittelte inhaltliche Umschwung, der nicht durch eine Kopula geglättet wird, lässt die Leser*innen gleichsam stolpern, animiert aber zugleich zum Weiterlesen (im vorliegenden Beispiel wird dies noch durch die anaphorischen Verweise »dies« und »darum« verstärkt). Die kunstvolle und variable Verwendung des Parallelismus gibt den Liedern »a palpable sense of cohesion and [they] project a feeling of progression and directionality. The repetition of form … has a strongly integrating force«244.

242 Eine ausführliche Darstellung der Geschichte und gegenwärtigen Diskussion kann unterbleiben; vgl. hierfür die einschlägigen Kommentare, sowie zur Einführung Watson (1984), 114–159, Kugel (1998) und Berlin (1992). 243 Collins (1978). 244 Dobbs-Allsopp (2001a), 370f.

Poetologische Kontinuitäten

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4.1.3 Enjambement Als Enjambement bezeichnet man das dichterische Mittel, einen Satz oder Sinnzusammenhang über die Kolongrenze hinaus fortzuführen. Die Existenz derartiger Zeilen ist prinzipiell nichts Überraschendes; wenn sich jeder Satz bzw. jede Sinneinheit an den Kolongrenzen orientierte, würde eine Dichtung schnell repetitiv und ermüdend. Es ist daher auch weniger die Existenz denn die Häufigkeit, die Enjambements zu einer signifikanten poetologischen Konstante, zumindest für Klgl 1–4, machen. Dobbs-Allsopp ist bislang der Einzige, der dem Vorkommen von Enjambements in den Klgl ausführliche Aufmerksamkeit gewidmet hat,245 wobei er zwischen Enjambements auf der Satzebene,246 sowie Enjambement, die über einen Satz hinausgehen,247 unterscheidet. Dobbs-Allsopp findet in jeweils etwas über 50 Zeilen von Klgl 1 und 2 Enjambements verschieden starker Form, was einer Häufigkeit von knapp 80 % entspricht. Für Klgl 3 und 4 kommt er immerhin noch auf über 60 %. Für Klgl 5 dagegen nur auf 15–25 %.248 Damit stellen Enjambements gerade für Klgl 1–4 ein wichtiges poetisches Mittel dar, das zusammen mit dem sog. Qinah-Metrum (s. u.) die Lieder auf metrisch-syntaktischer Ebene, wie auch hinsichtlich Leserhythmus und des lesenden Textnachvollzugs als ähnlich erscheinen lässt: »Thus, whatever more can be said about the enjambing line in Lamentations, its sheer repetition plainly provides a distinctive and unifying texture for these poems.«249 Dass der Befund zudem in Klgl 5 deutlich abfällt, kann aus Sicht der Leser*innen als ein weiterer Interpretationshinweis aufgefasst werden – nämlich auf das bevorstehende Ende des Buches. Die Funktion bzw. der Effekt von Enjambements wird verschieden bestimmt. Watson zählt vor allem zwei Effekte auf: Neben dem Element der Abwechslung sei vor allem die mit Enjambements verbundene Annäherung der Poesie an das gesprochene Wort von Bedeutung. Da Enjambements über die »eigentliche« 245 Dobbs-Allsopp (2001b) und Dobbs-Allsopp (2001a). Vgl. auch Watson (1984), 332–336. 246 Ein prägnantes Beispiel findet sich in Klgl 4,10a: ‫ ידי נשים רחמניות בשלי ילדיהן‬Die Hände liebevoller Frauen – kochen ihre Kinder. 247 Naturgemäß spielt bei dieser Kategorie der jeweilige subjektive Eindruck eine etwas größere Rolle, da die Übergänge zwischen Enjambement und dem sog. synthetischen Parallelismus fließend sind. Relativ deutlich ist der Befund in Fällen, wo Partikeln wie ‫ו‬, ‫ כי‬oder ‫על־כן‬ verwendet wurden. So z. B. sehr deutlich in Klgl 1,8b: ‫ כי־ראו ערותה‬/ ‫ כל־מכבדיה הזילוה‬All ihre Verehrer verachten sie, / denn sie sahen ihre Scham. Aber es gibt auch eine Reihe von Fällen, in denen offensichtliche syntaktische Marker fehlen, so z. B. in Klgl 1,17a: ‫ אין‬/ ‫פרשה ציון בידיה‬ ‫ מנחם לה‬Ausgestreckt hat Zion ihre Hände, / es gibt keinen Tröster für sie. Ein Beispiel für ein Bikolon, bei dem die Einteilung in Enjambement oder Parallelismus gleichermaßen möglich erscheint, wäre Klgl 3,33: ‫ ויגה בני־איש‬/ ‫ כי לא ענה מלבו‬Denn nicht von Herzen erniedrigt er / und betrübt die Menschen. 248 Dobbs-Allsopp (2001a), 373f. 249 Dobbs-Allsopp (2001a), 371.

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Grenze eines Kolons hinausgehen, bleibt es allein dem Können der Vortragenden überlassen, durch angemessene Pausierung und Betonung den Sinngehalt des Verses zu vermitteln. Der Vortrag erhält damit einen weniger künstlichen Duktus.250 Dobbs-Allsopp fügt zu diesen beiden Punkten noch eine Anzahl Überlegungen hinzu. Zum einen eignet enjambierten Zeilen ein gewisses Vorwärtsdrängen. »The lack of complete stasis at line’s end propels reader and listener ever forward.«251 Daneben eignen sich Enjambements sehr gut, die Aufmerksamkeit der Leser*innen zu lenken. Dies kann auf mindestens zwei Arten passieren. Zum einen hat schon der Umstand, dass bei Enjambements die syntaktische oder semantische Grenze der Sinneinheit über die metrische Kolongrenze hinausgeht, zur Folge, dass mehr Aufmerksamkeit erforderlich ist.252 Zuweilen wird dieser Effekt auch über mehrere Zeilen ausgedehnt und damit nochmals intensiviert. Ganz deutlich zeigt sich dies z. B. in Klgl 3,34–36, wo die drei in sich enjambierten Zeilen zusammen nochmals von der Aussage in V 36b abhängen. Andererseits ist aber gerade in den Klgl der häufige Fall anzutreffen, dass die »semantische Erwartungshaltung« mittels Enjambements enttäuscht oder gar ins Gegenteil verkehrt werden. Der oben schon zitierte V 10 aus Klgl 4 ist ein deutliches Beispiel: Die Erwartungshaltung nach »Die Hände liebevoller Frauen …« geht in Richtung eines Verbes der Fürsorge oder Zuneigung. Stattdessen wird über die Kolongrenze hinweg fortgesetzt mit »… kochten ihre Kinder«. Das entsetzliche Bild gewinnt seine Kraft nicht nur aus dem semantischen Gehalt des Satzes; vielmehr schafft gerade die Verdrehung der Erwartungshaltung den Eindruck des Horrors und vermittelt damit die Stimmung eines Menschen, der in einer erschreckenden, brutalen und unverständlich gewordenen Welt nach Haltung ringt. Ein ähnlicher Effekt ist in den häufigen Einst-Jetzt-Vergleichen anzutreffen. So wird in Klgl 1,1c »Die Fürstin über die Provinzen …« das Bild einstiger Herrschaft evoziert, und mittels »… kam Frondienst zu« in das gegenteilige Bild des derzeitigen Zustands gewendet.

250 Watson (1984), 335. 251 Dobbs-Allsopp (2001a), 371. 252 Fish (1970) hat diesen Aspekt der reading experience immer wieder hervorgehoben: Eine undurchsichtige syntaktische Struktur, ein übermäßig langer Satz, eine Häufung spröder Hauptsätze haben über den semantischen Wert der Aussage jeweils auch eine experientielle, affektive Bedeutung, die bei der Analyse und Interpretation eines Textes mit beachtet werden muss. Im Falle von Enjambements führt die Ausweitung der syntaktischen bzw. semantischen Einheit über die Kolongrenze hinaus zu einer gewissen interpretatorischen Unsicherheit, die zu erhöhter Aufmerksamkeit beim Lesevorgang führt.

Poetologische Kontinuitäten

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4.1.4 Qinah-Metrum Zuweilen wird der Effekt des Enjambements durch das sog. Qinah-Metrum unterstützt.253 Die Suche und Diskussion metrischer Strukturen in der hebräischen Poesie hält bis heute an, und ist trotz großer Anstrengungen zu wenig allgemein akzeptierten Ergebnissen gekommen. So votiert Berges dafür, eher von »wechselnden rhythmischen Strukturen«254 auszugehen, um die Diskussion rhythmischer Phänomene biblischer Poesie nicht an Erwartungen zu knüpfen, die sie nicht erfüllen kann. Gleiches gilt auch für das Qinah-Metrum, das als erstes von Budde ausführlicher beschrieben wurde.255 In »klassischer« Form ist darunter das Verhältnis von 3:2 Gliedern zu verstehen, jedoch subsummiert Budde auch sonstige Varianten ungleicher Versglieder darunter (4:2; 4:3 usw.).256 Der relevante Punkt sei jeweils, dass das Vorderglied länger sei als das zweite Kolon: »Das Entscheidende und Charakteristische an dieser Versart [ist] nicht eine bestimmte Länge der Glieder, nach Worten, Hebungen, Silben abgezählt, … sondern das Verhältniß des ersten Gliedes zum zweiten, das Ueberwiegen desselben, die Geltung des zweiten als eines kürzeren Nachhalls.«257

Zwar ist die Existenz derartig ungleicher Zeilen nicht strittig, jedoch setzt sich seit jüngerer Zeit das Bewusstsein durch, dass die Bezeichnung als Qinah-Metrum eigentlich unzutreffend ist. So sind insgesamt nur etwas mehr als die Hälfte der Zeilen des Buches der Klgl im Qinah-Metrum verfasst, eine Häufigkeit, hinter der auch Ps 119 nicht zurückstehen muss.258 Auch in Hld 1,9f. finden sich Verse, die die »schluchzende« Form des 3:2 aufweisen. Schließlich stimmt auch skeptisch, dass gerade Klgl 1, was nach Dobbs-Allsopp die höchste Frequenz enjambierter Zeilen aufweist, die niedrigste Anzahl von Zeilen im Qinah-Metrum enthält.259 Unabhängig jedoch von der genauen Häufigkeit des Qinah-Metrums sind drei Beobachtungen festzuhalten: Auch wenn sich der Befund von Lied zu Lied ändert – es ist unzweifelhaft, dass ein derartiges »unregelmäßiges« Metrum eine signi253 Dobbs-Allsopp (2001b), 219: »In this kind of couplet intralinear dynamics are governed not by the play of matching as in parallelism but by the play of syntax; lineation and syntax as they counterpoint each other provide these poems’ general prosody.« 254 Berges (2002), 78f. 255 Budde (1882). Schon dort urteilte Budde zu Versuchen, in der hebräischen Poesie metrische Formen zu erweisen: »[D]as Resultat war Ablehnung aller bisherigen Versuche und weitgehende Skepsis betreffs aller in Zukunft noch zu erwartenden.« (ebd., 1). 256 Budde (1882), 6. 257 Budde (1882), 19. 258 Nach de Hoop (2000), 84 sind in Ps 119 ebenfalls 53 % der Zeilen formal dem Qinah-Metrum zuzurechnen. 259 De Hoop (2000), 84. Er findet für die einzelnen Lieder folgende Prozentzahlen: Klgl 1: 34 %; Klgl 2: 63 %, Klgl 3: 71 %; Klgl 4: 54 %; Klgl 5: 36 %.

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fikante Anzahl von Zeilen der Lieder umfasst. Durch den häufigen Wechsel zwischen ausgeglichenen und unregelmäßigen Zeilen wird die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen konstant herausgefordert und neu geweckt, ein Effekt, der durch eingeschobene Parataxen noch erhöht wird.260 Auffällig ist weiterhin, dass die unterschiedlichen Häufigkeiten eine gewisse Konzentrik aufweisen: in Klgl 1 und 5 weisen nur etwa 35 % der Zeilen ein Qinah-Metrum auf, Klgl 3 hat dagegen das höchste Vorkommen. Schließlich ist unstrittig, dass der öfter als »schluchzend« oder »hinkend« (»limping«) beschriebene Rhythmus des Qinah-Metrums den Effekt des Enjambements zusätzlich verstärken kann: Wenn etwa Klgl 2,22c endet mit: Die ich gepflegt und großgezogen – mein Feind hat sie vernichtet!, wird der »schluchzende« Rhythmus durch das kontrastierende Enjambement noch unterstützt.

4.1.5 Strophische Anlage in Sektionen, Stanzen und Sub-Stanzen Schon sehr früh haben einzelne Forscher auf bemerkenswerte Symmetrien in einigen Liedern hingewiesen, die immer wieder auch zur Vermutung einer konzentrischen Anlage einiger oder aller Lieder führte.261 Die damit hervorgehobene Mitte (samt der angedeuteten Zweiteilung) der Lieder findet sich dementsprechend auch in den meisten Gliederungsvorschlägen von Klgl 1; 2; 4 und 5 wieder, egal, ob sie formgeschichtlich, inhaltlich-thematisch oder strukturanalytisch orientiert sind. Zu Recht gilt sie in der Auslegung als wichtiges Strukturmerkmal. Damit stellt sich die Frage, ob in den Liedern weitere regelmäßige Gliederungsebenen, zwischen der Einteilung in Verse einerseits und der Untergliederung in Hälften andererseits, vorzufinden sind. Eine erste Unterscheidung ist die zwischen Stanze und Strophe: »The stanza can be broadly defined as a subdivision of a poem – or better, a major subdivision of a poem – which comprises one or more strophes. Intentionally, the aspect of regularity is omitted from the definition; it is not excluded nor yet is it prescribed.«262 In alternativer Terminologie wurde dieser Ansatz von Korpel und de Moor ausgeweitet und verallgemeinert und dann von Renkema in die KlglExegese eingeführt.263 Korpel/de Moor bezeichnen Watsons stanza als Canticle 260 Vgl. hierzu Berlin (2002), 5; auch Dobbs-Allsopp (2002), 26 und Bier (2015), 28 weisen darauf hin. 261 Condamin (1906), (Klgl 1 und 2), Schäfer (2006) (Klgl 1); Brandscheidt (1983) (Klgl 3); Cooper (2001) (Klgl 3 und 4); Renkema (1988a) (Klgl 1–5). Auch der Vorschlag von Johnson (1985) zielt letztlich auf eine konzentrische Anlage der Lieder. 262 Watson (1984), 161. 263 Vgl. grundlegend: de Moor (1978a), de Moor (1978b) und de Moor (1980) sowie als erste Systematisierung und Zusammenfassung: Korpel et al. (1986).

Poetologische Kontinuitäten

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und weisen ihnen eine Länge von üblicherweise zwei bis drei Versen zu.264 Für die nächst höheren Einheiten schlagen sie die Bezeichnungen Sub-Canto und Canto vor – wobei Canto die Bezeichnung der jeweiligen Liedhälften von Klgl 1; 2; 4 und 5 ist, ein Sub-Canto eine Einheit mehrerer Canticles. Korpel/de Moor machen hierzu keine genaueren Angaben, jedoch wäre es naheliegend, auch hier jeweils eine Anzahl von zwei bis drei Canticles pro Sub-Canto anzunehmen, da ansonsten die gliedernde Funktion verloren zu gehen droht.265 Im deutschsprachigen Bereich hat Berges die Terminologie Sub-Stanzen, Stanzen und Sektionen etabliert, die für die vorliegende Arbeit übernommen wird. Damit ist ein poetisches Aufbauschema der einzelnen Lieder skizziert: Ein bis vier Bikola266 formen Verse; üblicherweise zwischen zwei und drei Verse bilden als nächst höhere Einheit Sub-Stanzen,267 diese bilden Stanzen von einer Länge von normalerweise zwei, zuweilen aber auch drei Sub-Stanzen268 und (in Klgl 1; 2; 4; 5) konstituieren diese Stanzen jeweils zwei Sektionen, die den schon angesprochenen zwei Liedhälften entsprechen. Die Berechtigung derartiger Gliederungsentwürfe, die inhaltliche oder formgeschichtliche Beobachtungen weitgehend ignoriert, resultiert aus den nur wenig überzeugenden Gliederungsvorschlägen, die die linear orientierte Auslegung produziert. Häufig kann diese nur sehr grobe voneinander abgegrenzte inhaltliche Blöcke unterteilen und hat am zuweilen scheinbar erratischen Gedankenfluss der Lieder ihre liebe Not. Formgeschichtliche Gliederungen verbieten sich angesichts der komplexen Gattungsmischung der Lieder von selbst. Die eigenen Gliederungsvorschläge für die jeweiligen Lieder werden weiter unten noch ausführlich begründet. Festzuhalten gilt es vorerst, dass neben Akrostichie, Enjambement und Qinah-Metrum auch der Aufbau der Lieder aus strophischen Einheiten eine poetologische Konstante ist, die den Liedern eine Balance zwischen Regelmaß und dessen Durchbrechung geben: »Was auf den ersten Blick ungeordnet erscheint, erweist sich in der Gesamtbetrachtung des Gedichtes als ein wohl ausgewogenes Verhältnis seiner Bestandteile. Die Merkmale, die zu diesen Einteilungen führen, sind meist inhaltlicher, aber in nicht wenigen Fällen auch formaler Art. Vielfach sind es Inklusionen, Wortfeldgruppen, Subjekt- und Sprecherwechsel, die den Beginn und das Ende von Stanze bzw. Sub-Stanze anzeigen. Gerade in der Balance der Proportionen erweist sich die prosodische Kraft der Dichter des biblischen Israel.«269

264 265 266 267

Korpel et al. (1986), 201. Vgl. die von Korpel et al. (1986), 202–212 diskutierten Beispiele. Auch hier gibt es in Klgl 4,15, das aus zwei Trikola aufgebaut ist, eine Ausnahme. Die Ausnahme bildet Klgl 3, wo durch die Zählung jedes Bikolons als eigener Vers die Canticles eine Länge von sechs Versen haben. 268 Beispiele für Stanzen, die aus drei Sub-Stanzen bestehen, liefern Klgl 3, aber auch Klgl 5. 269 Berges (2002), 81f.

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4.2

Stichwort- und Motivverknüpfungen

Es waren Nogalskis Untersuchungen zu Verklammerungen der jeweiligen Enden und Anfänge von Prophetenschriften, die die neuere Exegese des Zwölfprophetenbuches ins Rollen brachte. Dabei erstellte er nicht ein vollständiges Inventar der lexematischen Bezüge zwischen den einzelnen Schriften, sondern beschränkte sich auf die Schriftenübergänge, da dort lexematische und motivische Bezüge nicht nur aus rezeptionsorientierter Sicht relevant sind, sondern auch aus »produktionsorientierter« Sicht als Hinweise einer bewussten Verklammerung einzelner Schriften aufgefasst werden können. Hinsichtlich der Klgl hat sich vor allem Renkema um das Aufzeigen struktureller Bezüge zwischen den einzelnen Liedern verdient gemacht. Wenngleich Renkemas Ansatz insgesamt nicht als Grundlage einer Klgl-Exegese überzeugen konnte, liefern seine Analysen doch eine Fülle von Material und können gut als Ausgangspunkt eigener Beobachtungen dienen. Renkema fasst seine Analysen wie folgt zusammen: »It appears that the second and the fourth song are most strongly connected. In view of the other connections the inclusion between the first and the last song is also a strong one. The central position of the third song appears from the almost equal distances between 3 and 2 and 3 and 4, which is about the same as the distance between 1 and 4 and 2 and 5. Besides 1 and 2 are also strongly connected, as are 4 and 5. So one could say that Lam. 3 is included by two blocks, i. e. Lam. 1+2 and Lam. 4+5.«270

Eine graphische Darstellung, bei der die Häufigkeit der Bezüge ins Verhältnis zur Länge der einzelnen Lieder gesetzt wurde, würde folgendermaßen aussehen:271 1,4 1,6 1,5 Klgl 1

1,3 Klgl 2

Klgl 3

Klgl 4

Klgl 5

1,8 1,9 1,2 1,5 Übersicht 1: Häufigkeit der Bezüge zwischen den einzelnen Liedern nach Renkema

270 Renkema (1988d), 388. 271 Renkema (1988d), 388.

Stichwort- und Motivverknüpfungen

89

Eine auffallend hohe Anzahl von Bezügen gibt es zwischen Klgl 2 und Klgl 4 (in der Grafik durch den sehr niedrigen Quotient 1,2 verdeutlicht: praktisch auf jedes der 67 + 44 = 111 Bikola kommt ein struktureller Bezug), dicht gefolgt von Klgl 4 und 5 (1,3). Klgl 1 und 2 (1,5), sowie Klgl 3 und 5 (1,4) sind ähnlich stark verknüpft wie Klgl 1 mit 5 (ebenfalls 1,5). Auffallend gering sind die Bezüge zwischen Klgl 3 und 4 (1,9), aber auch zwischen Klgl 2 und 3 (1,8). Ähnlich gering (und aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht mit aufgeführt) sind die Bezüge zwischen Klgl 1 und 4 bzw. Klgl 2 und 5. Aus einer vollkommen anderen Richtung kommend hat auch Marcus wichtige Hinweise zu Stichwortbezügen zwischen den Liedern geliefert.272 Marcus widmet seine Studie einer sehr speziellen literarischen Figur, die er »non-recuring doublets« nennt. Die Frage der Anordnung der einzelnen Lieder ist bei ihm überhaupt nicht im Blick, was seine Ergebnisse, die Renkemas Resultate im Großen und Ganzen bestätigen, umso interessanter macht. Als non-recurring doublets bezeichnet er dabei Lexeme, die im Verlaufe des Buches exakt zweimal auftauchen. Mehrfachnennungen, wie etwa die häufig vorkommenden Begriffe »Feind« oder »Zorn« bleiben außen vor.273 Eine graphische Veranschaulichung, die den Befund ebenfalls ins Verhältnis zur Länge der einzelnen Lieder setzt, sieht folgendermaßen aus:

272 Marcus (1986). 273 Für die vorliegende Frage hat ein solches Vorgehen sowohl Vorzüge wie auch Nachteile. Offensichtlicher Nachteil ist, dass wichtige Wortfelder und prägnante Bezüge (etwa, wenn die refrainartige Wiederholung ‫ אין־לה מנחם‬kein Tröster ist ihr aus Klgl 1,2.9.(16.)17.21 in Klgl 2,13 durch den Sprecher aufgenommen wird) so nicht in den Blick kommen. Zudem kann man berechtigt fragen, ob es das Stilmittel einer non-recurring doublet überhaupt, und insbesondere in der von Marcus postulierten Form, gibt. Die schiere Anzahl der von ihm gefundenen Dubletten spricht eher dagegen. Viele der aufgeführten Dubletten sind denn auch von fragwürdiger Qualität. So listet er das Verb ‫ גדל‬als Dublette für Klgl 1,9 (‫ )הגדיל‬und 4,6 (‫)ויגדל‬. Doch was ist über den Verbstamm hinaus vergleichbar? Schließlich setzen nonrecurring doublets eine Textgenese voraus, die dem Vorschlag Renkemas (s. o.) ähnelt. Dem steht entgegen, dass die erhobenen Daten objektiv sind. Anders als bei den z. T. eher fragwürdigen Bezügen, die Renkema auflistet, fragt Marcus konsequent nach lexematischer Übereinstimmung. Ist jene gegeben, und findet sich der Stamm nur noch ein weiteres Mal, handelt es sich um eine non-recurring doublet. Der Befund kann somit einfach abgezählt werden. Zudem ist die Frage, inwiefern sich aus diesen Bezügen Rückschlüsse auf die strukturelle Anlage des Buches ziehen lassen, in der Untersuchung Marcus’ gar nicht im Blick. Wenn seine Untersuchung somit auf vollständig anderem Weg, unter Absehung der von Renkema untersuchten Frage, trotzdem vergleichbare Ergebnisse liefert, sollte dies zu denken geben. Schließlich sei mit Krispenz (2001), 181 daran erinnert, dass eine Belegbasis, die auf alltäglichen syntaktischen Phänomenen beruht, sehr viel eher geeignet ist, statistisch belastbare Aussage über Textbeziehungen zu treffen. Gerade die stereotype Anwendung einer sehr einfachen Heuristik sorgt dafür, dass die Verteilung der Belege belastbare Aussagen ermöglicht.

90

Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten

Klgl 1

Klgl 1 22 / 67 = 0,33

Klgl 2 13 / 67 = 0,19

Klgl 3 14 / 66 = 0,21

Klgl 4 7 / 44 = 0,16

Klgl 5 9 / 22 = 0,41

Klgl 2 Klgl 3

13 / 67 = 0,19 14 / 67 = 0,21

28 / 67 = 0,42 23 / 67 = 0,34

23 / 66 = 0,35 19 / 66 = 0,29

14 / 44 = 0,32 6 / 44 = 0,14

4 / 22 = 0,18 10 / 22 = 0,45

Klgl 4 Klgl 5

7 / 67 = 0,10 9 / 67 = 0,13

14 / 67 = 0,21 4 / 67 = 0,06

6 / 66 = 0,09 10 / 66 = 0,15

2 / 44 = 0,05 7 / 44 = 0,16

7 / 22 = 0,32 3 / 22 = 0,14

Übersicht 2: Verhältnis von non-recurring doublets zwischen den einzelnen Liedern nach Marcus

Natürlich sind nicht alle Relationen gleichermaßen bemerkenswert. Allerdings sind doch einige interessante Beobachtungen möglich: – Es sollte wenig verwundern, wenn die Anzahl von Dubletten innerhalb der einzelnen Lieder relativ hoch ist, da die Wiederaufnahme schon verwendeter Lexik ein naheliegendes Mittel ist, um Kohärenz zu erzeugen. Bemerkenswert ist dann jedoch die praktisch vollständig fehlenden Stichwortbezüge innerhalb von Klgl 4 (und, etwas weniger deutlich, in Klgl 5). Wenn die Stimmung von Klgl 4 in der Literatur häufig mit Adjektiven wie »erschöpft«, »unemphatisch«, »detached« beschrieben wird, dann mag dies unter anderem daran liegen, dass sich das durch Stichwortaufnahmen erzeugte Gefühl inhaltlicher Geschlossenheit nicht einstellt. – Wie bei Renkema weist Klgl 4 auch in der Analyse Marcus’ die höchste Anzahl von Dubletten zu Klgl 2 auf. Erstaunlich wenige Dubletten existieren hingegen zwischen Klgl 4 und 3, wie auch den übrigen Liedern. Der eigentümlich »fremdartige« Eindruck, den Klgl 4 im Kontext des Buches macht, sieht sich hier bestätigt. – Auch hinsichtlich Klgl 5 korrespondieren die Ergebnisse: Die größte Anzahl von Dubletten von Klgl 5 existieren mit Klgl 1 und 3. Auch die zahlreichen Bezüge zwischen Klgl 5 und 4 sind erkennbar. – In einigen Fällen kommen Renkema und Marcus zu erstaunlich unterschiedlichen Ergebnissen: So scheint es eine signifikante Anzahl von Dubletten zwischen Klgl 2 und 3 zu geben, obwohl nach Renkema beide Lieder relativ wenige Bezüge zueinander aufweisen. Andererseits hätte man erwartet, dass sich zwischen Klgl 1 und 2 mehr Dubletten finden lassen. Wenn Renkema somit zu einer insgesamt konzentrischen Anordnung der Lieder kommt, bei dem Klgl 3 als verbindende Mitte fungiert, findet sich dies in den von Marcus gefundenen Dubletten im Großen und Ganzen bestätigt. Eine andere Beobachtung ist aber noch auffälliger: Dubletten zwischen dem Schluss eines Liedes und dem Beginn des nächsten existieren fast überhaupt nicht. Nimmt man jeweils die letzte Sub-Stanze eines Liedes und die erste Sub-Stanze des folgenden Liedes als Referenz, so listet Marcus nur eine einzige (einigermaßen belanglose)

Stichwort- und Motivverknüpfungen

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Dublette, nämlich zwischen Klgl 3,64 (‫ מעשה ידיהם‬Werk ihrer Hände) und Klgl 4,2 (‫ מעשה ידי‬Werk von [Töpfer-]Händen). Gleiches gilt für Renkema, der hinsichtlich der Liedübergänge ebenfalls fast keine Bezüge listet. Grundsätzlich ist das nicht verwunderlich: Wenn die Klgl jeweils unabhängig voneinander entstanden sind, und wenig oder keine redaktionelle Überarbeitung erfahren haben, wäre es eher erstaunlich, wenn derartige Bezüge in Häufung existierten. Im Gegenteil: Diejenigen, die eine Komposition einzelner Lieder auf ein schon vorhandenes Teilkorpus hin vertreten, müssen erklären, warum derartige Bezüge weitgehend fehlen, obwohl sie doch eine sehr naheliegende und (ausweislich der gleichen Technik im Zwölfprophetenbuch und Psalter) bekannte Technik der Verklammerung einzelner Lieder in ein zu schaffendes Ganzes sind. Auch wenn Renkemas und Marcus’ Untersuchungen einen guten ersten Eindruck über das Maß an thematischen Bezügen zwischen den Liedern verschaffen, ist auch darüber hinaus eine Vielzahl an Stichwort- und Motivverknüpfungen zu finden, gerade dann, wenn man die Beschränkungen der jeweiligen Herangehensweisen aufgibt. Die wichtigsten werden nachfolgend kurz gesammelt.

4.2.1 Bezüge zwischen Klgl 1 und 2 Wenngleich die stärkste Kontinuität zwischen Klgl 1 und 2 im weitergeführten Setting und den sprechenden Figuren besteht, gibt es doch eine ganze Reihe auffälliger lexematischer Bezüge, die Klgl 2 an Klgl 1 anschließen lassen. (1) In Klgl 2,2.3 wird das einzige Mal in Klgl 2 Jakob genannt, in V 3 zudem zusammen mit dem Adverb ‫ סביב‬ringsum. Beides verweist zurück auf Klgl 1,17, wo JHWH gegen Jakob seine Feinde von ringsum befahl (‫צוה יהוה ליעקב סביביו צריו‬ befohlen hat JHWH gegen Jakob seine Bedränger ringsum). Innerhalb der Klgl wird die Bezeichnung Jakob nur an diesen drei Stellen verwendet, ‫ סביב‬taucht zudem nur hier und in Klgl 2,22 auf. (2) Im folgenden V 4 lässt die Formulierung ‫ כל מחמדי־עין‬alle Kostbarkeiten des Auges an die doppelte Verwendung in Klgl 1,7.10 erinnern. Die ‫ מחמדי‬Jerusalems (Klgl 1,7) umfassen dabei neben Schätzen auch die »Pracht« der Stadt in Form ihrer reichen und zufriedenen Bevölkerung. Demgegenüber ist bei den ‫ מחמדי‬der Bevölkerung in Klgl 1,10, die sie für Brot geben, sicherlich in erster Linie an Schmuck gedacht. In Klgl 2,4 ist ebenfalls eher die Konnotation der Bevölkerung im Vordergrund. (3) Der in Klgl 1,12 durch die Formulierung ‫ יום חרון אפו‬Tag seiner Zornesglut etablierte Konnex der Motive göttlicher Zorn und Feuer wird in Klgl 2,1–8 ausführlich entwickelt. Nicht nur ist das Zorn-Motiv allgegenwärtig (V 1ac.2b.3a.4c.6c), es wird auch hier mit der Feuer-Metaphorik verbunden (V 3ac.4c).

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Auch die Rede vom ‫( יום אפו‬V 1.21.22) verweist zurück nach Klgl 1,12. Schließlich findet sich das Motiv Feuer von oben aus Klgl 1,13 in der vertikalen Bewegung, die V 1.2bc.3a dominiert, ebenso aufgenommen wie in Formulierungen wie V 4c: ‫ באהל בת־ציון שפך כאש חמתו‬im Zelt der Tochter Zion vergoss er wie Feuer seinen Grimm. (4) V 4a.5a beschreiben, dass JHWH sich ‫ כאויב‬wie ein Feind und ‫ כצר‬wie ein Bedränger verhalte. Damit wird das in Klgl 1 wichtige Thema des Verhaltens der Feinde (‫אויב‬: V 2c.5a.9c.16c.21b; ‫צר‬: V 5ac.7cd.10a.17b.20a; ‫רודף‬: V 3c.6c) zugleich aufgenommen und intensiviert: Zwar ist auch in Klgl 1 deutlich, dass der eigentlich Handelnde JHWH ist, allerdings bleiben die Feinde Zions als autonome Agenten präsent – und die Beschreibung ihres Handelns nimmt (bei insgesamt 14 Nennungen) erheblichen Raum ein. Im Gegensatz dazu werden Feinde in Klgl 2 nur relativ selten erwähnt (‫אויב‬: V 3b.7b.16a.17c; ‫צר‬: V 17c) und erscheinen dort auch nur als Handlanger und Nutznießer des eigentlich handelnden Gottes. In V 22c wird schließlich Gott selbst als Feind bezeichnet und damit die Ineinssetzung vom feindlichen Handeln Gottes und dem feindlichen Gott vollendet. (5) Einer der wichtigsten Rückverweise ist die Aufnahme des Stichwortes ‫מועד‬ Fest. Schon in Klgl 1,4.15 fungierte das Lexem durch die kontrastierende Verwendung (in Klgl 1,4 ist ‫ מועד‬positiv konnotiert, in Klgl 1,15 hingegen – offenbar als sarkastische Aufnahme von Klgl 1,4 – in negativer Hinsicht als Fest für die Feinde) als wichtiges Motiv. Die Verwendung in V 6ab.7c.22a knüpft an diese Kontrastierung an. In V 6 wird zwar die Zerstörung des Festortes berichtet, jedoch steht dahinter die Erinnerung an die einstige Zeit, in der JHWH ‫מועד ושבת‬ Fest und Sabbat noch nicht vergessen gemacht hatte. Im folgenden V 7 wird dann das Lärmen der Feinde im Tempel ‫ כיום מועד‬wie an einem Festtag berichtet. V 22 ‫ תקרא כיום מועד‬du riefst wie zum Festtag nimmt dann nochmals deutlich die Formulierung von Klgl 1,15: ‫ אדני … קרא עלי מועד‬der Herr … rief gegen mich ein Fest aus auf. (6) In diesem Zusammenhang wird mit der Nennung des ‫ מקדש‬Heiligtum in V 7 ebenfalls auf Klgl 1,10 zurückverwiesen. Zusammen mit V 20 sind dies die einzigen Vorkommen des Lexems innerhalb des Buches (in Klgl 4 spielt der Tempel keine Rolle, in Klgl 5 existiert er nur noch als blasse Erinnerung des jetzt verödet daliegenden ‫ הר־ציון‬Berg Zion). (7) Die in V 8 genannten trauernden (‫ )אבל‬Wälle und Mauern verweisen zurück auf Klgl 1,4, wo es die ‫ דרכי ציון‬Wege Zions waren, die trauerten. Die Wurzel ‫ אבל‬taucht nur in diesen beiden Versen innerhalb des Buches auf. Zudem verweist die in V 1–10 sehr häufig thematisierte städtische Infrastruktur (V 1bc.2b.4c.5b.6a.7abc.8ac.9a) zurück auf die in Klgl 1,4 genannten Tore (Klgl 1,4; 2,9; 4,12; 5,14), aber auch die Knochen (‫ )עצם‬Zions in Klgl 1,13.274 274 Sonstige Hinweise auf Infrastruktur finden sich in Klgl 1 nur noch in V 20, allerdings mittels

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(8) Ab Klgl 2,11 ändert sich der Fokus der Darstellung: weg von der Stadt und hin zum persönlichen Befinden des Sprechers. Auch hier finden sich signifikante Stichwortbezüge zu Klgl 1. So wählt der Sprecher mit ‫ חמרמרו מעי‬es glühen meine Eingeweide die gleiche Formulierung, die auch Zion in Klgl 1,20 benutzte (dort: ‫)מעי חמרמרו‬. Auch die Tränen (‫)דמעה‬, die er vergießt, spiegeln das Verhalten Zions in Klgl 1,2 (‫ בכו תבכה בלילה ודמעתה על לחיה‬Weinend weint sie des Nachts, und ihre Tränen auf ihrer Wange), und tauchen in V 18 als Aufforderung an Zion wieder auf: ‫ הורידי כנהל דמעה‬Lass herabstürzen wie ein Wadi die Tränen! Wenngleich auch in Klgl 3,48f. (und Klgl 1,16; 2,19; 5,17) vom Weinen die Rede ist, findet sich der Ausdruck ‫ דמעה‬jedoch nur hier. (9) Eines der auffälligsten Motive von Klgl 1 ist die refrainartige Wiederholung ‫ אין־לה מנחם‬es gibt für sie keinen Tröster (Klgl 1,2.9.17.21; in Klgl 1,16 zudem noch ‫ כי־רחק ממני מנחם‬denn fern von mir ein Tröster), die Zions Verlassenheit und soziale Isolation in eine kurze, prägnante Formel fasst. An dieses wiederkehrende Motiv sieht man sich in V 13 erinnert, wenn der Sprecher nach dem Beschreiben seines eigenen Aufruhrs die hilflose Frage stellt: ‫ מה אשוה־לך ואנחמך‬was dir gleichstellen, dass ich dich tröstete? (10) In den anschließenden Versen, gleichsam als Illustration der ‫מנחם‬-Formel aus Klgl 1, beschreibt der Sprecher, wie Zion durch die Propheten nicht gewarnt, von den Vorbeigehenden verspottet, von Feinden bedrängt und schließlich von JHWH verurteilt wurde.275 Das schadenfreudige Verhalten der ‫ עברי דרך‬Vorbeigehenden ruft Klgl 1,12 in Erinnerung und steigert die dortige Aussage: Wandte sich Zion dort direkt an die Vorbeigehenden in der Hoffnung, bei ihnen Mitgefühl und Solidarität zu finden, ist eine solche Hoffnung in Klgl 2,15f. nicht mehr im Blick. (11) Eine der wichtigen Botschaften von Klgl 2 ist es, das göttliche Handeln einerseits als brutal und unverhältnismäßig grausam darzustellen, andererseits allerdings die bewusste Planung des Gerichts zu betonen. Klgl 2 verdeutlicht dies neben V 8a: ‫ חשב יהוה להשחית‬JHWH plante zu zerstören insbesondere in V 17a: ‫ אשר צוה מימי־קדם‬/ ‫ בצע אמרתו‬/ ‫ עשה יהוה אשר זמם‬JHWH tat, was er geplant, erfüllte sein Wort, das er befohlen seit den Tagen der Vorzeit. Die Wurzel ‫צוה‬ befehlen verweist zurück auf zwei Kernaussagen von Klgl 1: Einerseits, dass Bedränger entgegen JHWHs Gebot den Tempel betraten (Klgl 1,10: ‫גוים … אשר‬ ‫ צויתה לא־יבאו בקהל לך‬Völker … denen du geboten, sie träten nicht ein in die

der Ortsangaben ‫ קרבה‬innen/inmitten und ‫ חוץ‬draußen/Gasse, die in Klgl 4,13.18 bzw. Klgl 2,19.21; 4,1.5.8.14 wieder aufgegriffen werden. 275 Man beachte die in der Abfolge von Propheten, Vorbeigehenden und Feinden stetig zunehmende Distanz und Feindschaft. Wenn als letztes Glied in dieser Reihung JHWH auftaucht, ist dies in der Textdynamik ein gewichtiges Indiz dafür, die mehrdeutige Formulierung aus V 22c: ‫ איבי כלם‬auf JHWH zu beziehen.

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Gemeinde zu dir). Daneben noch Klgl 1,17, wo deutlich gemacht wird, dass JHWH selbst es war, der gegen Jakob die Bedränger befohlen (‫ )צוה‬hat. (12) Der göttliche Zorn wird in Klgl 2 sechsmal mit dem Begriff ‫ אף‬beschrieben (V 1[bis].3.6.21.22) und nimmt damit die Formulierung aus Klgl 1,12 (‫יום חרון אפו‬ Tag seiner Zornesglut) auf. (13) Zion forderte in Klgl 1 wiederholt sowohl JHWH wie auch die Vorbeigehenden und die Völker auf, ihr Elend zur Kenntnis zu nehmen (Klgl 1,9c: ‫ראה‬ ‫ יהוה את־עניי‬Sieh, JHWH, mein Elend!; Klgl 1,11c: ‫ ראה יהוה והביטה‬Sieh, JHWH, und schau her!; Klgl 1,12a: ‫ הביטו וראו‬Seht und schaut her!; Klgl 1,18b: ‫שמעו־נא כל־עמים‬ ‫ וראו מכאבי‬Hört doch, alle Völker, und seht meinen Schmerz!; Klgl 1,20a: ‫ראה יהוה‬ ‫ כי־צר־לי‬Sieh, JHWH, bang ist mir!). Das gleiche Motiv, in gleicher Formulierung, taucht dann auch in V 20 auf, dem Höhepunkt von Klgl 2: ‫ראה יהוה והביטה למי‬ ‫ עוללת כה‬Sieh, JHWH, und schau her, an wem du so gehandelt! Die Formulierung »an wem du so gehandelt« ist dabei ebenfalls schon aus Klgl 1,22b (‫)כאשר עוללת לי‬ vertraut.

4.2.2 Die Verklammerung von Klgl 3 mit Klgl 1 und 2 Dass Renkema weniger Bezüge zwischen Klgl 3 und den rahmenden Klgl 2 bzw. 4 fand, liegt sicher zum Teil daran, dass der in Klgl 2 und 4 vorherrschende Jerusalemkontext fehlt. Viele der sonst möglichen und naheliegenden Bezüge und Ähnlichkeiten entfallen damit. Zudem hat Klgl 3 eigene Themenschwerpunkte, die in den übrigen Liedern nur wenig Widerhall finden. Trotzdem zeigt ein näherer Blick, dass es zwischen Klgl 3 und Klgl 2, aber auch Klgl 1, viele Verbindungen gibt, wenngleich die Bezüge häufig eher motivischer denn lexematischer Art sind.276 (1) Eine der offensichtlichsten Stichwortverbindungen zwischen Klgl 3 und 2 findet sich gleich in V 1: ‫ אני הגבר ראה עני בשבט עברתו‬Ich bin der Mann, der Elend sah, durch die Rute seines Zornes. Zum einen ist die Possessivverbindung ‫עברתו‬ insofern auffällig, als dass vorerst nicht aufgelöst wird, wessen Zorn es ist, dem der Mann hier ausgeliefert ist.277 Das Nomen ‫ עברה‬als Ausdruck für den göttli276 Vgl. auch Koenen et al. (2015), 202 für eine vergleichbare Liste von Bezügen. 277 Die Kommentare übergehen diesen Umstand meist, da der Bezug auf JHWH trivial erscheint. Allerdings gilt es zu bedenken, dass Klgl 3 selbst weder Zion noch Tempel, deren Zerstörung oder die lebensbedrohliche Not der Stadtbevölkerung erwähnt und der (fehlende) Bezug erst in V 18 aufgelöst wird. Würde Klgl 3 ohne jeglichen Kontext stehen, wäre der Bezug auf JHWH an dieser Stelle nicht unmittelbar klar, zumal die Formulierung ‫שבט‬ ‫ עברתו‬in dieser Form nur noch in Spr 22,8 auftaucht und dort ein menschliches Subjekt hat. Als Instrument der Züchtigung zielt ‫ שבט‬auch sonst eher in die menschliche Sphäre (Zobel [1993], 968). Erst über den Konnex zum Hirtendienst wird der Bezug zu Gott hergestellt (paradigmatisch: Ps 23; Erst über diesen Umweg taucht dann der Stab als Instrument der

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chen Zorn ist innerhalb des Buches nur noch in Klgl 2,2 belegt; sehr viel häufiger findet sich ansonsten der Begriff ‫אף‬.278 Dass der Mann ‫ ראה עני‬Elend sah, verweist zudem zurück auf Klgl 1,9c, wo Zion JHWH aufforderte, ihre ‫ עני‬zu sehen (‫עני‬ auch schon in Klgl 1,3.7, sowie später noch einmal in V 19). (2) Auch die nächsten Verse enthalten immer wieder Bezüge zu Klgl 1 und 2: So verweist ‫ בלה‬schwinden lassen in V 4 als Paronomasie auf das in Klgl 2,2a.5ab.8b.16b vorkommende Verb ‫ בלע‬verschlingen.279 Die Assoziation, die mit ‫ בלע‬zu Klgl 2 gezogen wird, findet sich durch das nachfolgende ‫ עצמותי‬meine Knochen auch auf Klgl 1,13 ausgeweitet, wo es die Knochen Zions sind, in die JHWH Feuer schickt. Das Zerbrechen der Knochen greift zudem die in Klgl 1–2 etablierte Parallelität zwischen den Gliedmaßen Zions und der Infrastruktur der Stadt auf. Schließlich ist auch die Wurzel ‫( שבר‬zer)brechen aus V 4 ein wichtiger Begriff, um in Klgl 1,15; 2,9.11.13 das Schicksal der Bewohner Zions und der Stadt zu beschreiben. Klgl 3,1–4 sind ein instruktives Beispiel dafür, wie in Klgl 3 Kontinuität zu Klgl 1–2 gewahrt wird: Eine Fülle von Assoziationen und Bezügen, die je für sich relativ schwach sind, spannen insgesamt ein dichtes Geflecht aus Rückverweisen auf. So taucht auch der Ausruf ‫ אך‬Ja, fürwahr! in V 3 schon in Klgl 2,16 auf, das in V 2 genannte Dunkel (‫ )חשך‬greift die Motive der Nacht aus Klgl 1,2; 2,1.18f. auf, und den Ausdruck ‫ יהפך ידו‬er wandte seine Hand aus V 3 evoziert Klgl 2,3.8. Dieses Wenden der Hand geschieht zudem ‫ כל־היום‬den ganzen Tag, eine Wendung, die vorher nur in Klgl 1,13 verwendet wurde. (2) Nachdem dann V 5 keine Rückbezüge aufweist, lässt V 6 den Mann im Dunkeln (‫ )במחשכים‬sitzen (‫ – )ישב‬womit erneut an die einsam sitzende und nachts weinende Zion aus Klgl 1,1–2 erinnert wird. Der Vergleich mit ewigen Toten (‫ )כמתי עולם‬ruft zudem nicht nur Klgl 2,20–22 in Erinnerung, sondern auch die Formulierung aus Klgl 1,20: ‫ מחוץ שכלה־חרב בבית כמות‬draußen macht kinderlos das Schwert – drinnen gleicht es dem Tod. (3) Die in V 10 erfolgende Zeichnung JHWHs als eines wilden Tieres, das Jagd auf den Mann macht, lässt an Klgl 1,13 denken, wo Zion sich in den Netzen JHWHs gefangen sah. In V 11 spricht der Mann davon, dass JHWH ihn ‫ שמם‬verödet gemacht hat, was nicht nur die Selbstbeschreibung Zions aus Klgl 1,13 (‫נתנני שממה‬ er machte mich verstört/verödet) anklingen lässt, sondern auch Klgl 1,4.16, wo die Tore, bzw. die Kinder Zions als ‫ שממין׀ם‬bezeichnet werden. Die Formulierung ‫דרך‬ ‫ קשתו‬er trat/spannte seinen Bogen aus V 12 findet sich ebenfalls schon in Klgl 2,4. Vergeltung auf: vgl. Jes 10,5: ‫ שבט אפי‬Rute meines Zornes; Ps 89,33; 2Sam 7,14). Es ist somit primär der Kontext des Buches und insbesondere der durch ‫ עברתו‬gegebene anaphorische Verweis auf Klgl 2, der den Vers vereindeutigt. 278 Klgl 1,12; 2,1ac.3.6.21.22; 3,43.66; 4,11.20. Dies korrespondiert mit dem Befund im AT generell: während ‫ אף‬über 400 Vorkommnisse zählt, sind es für ‫ עברה‬weniger als 40. Der Begriff hat dementsprechend einen signifikanten Wiedererkennungswert. 279 Berges (2002), 136.

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Und wie in V 13 (‫ כליה‬Niere) wurde auch schon in Klgl 1,20ab; 2,11ab mit dem Hinweis auf innere Organe höchste emotionale Aufruhr angezeigt. (4) Dass der Mann zum Gespött (V 14; ‫ )שחק‬wurde, erfuhr ebenfalls schon Zion in Klgl 2,15–16.280 Und die Rede vom Sättigen und Tränken mit Bitternis (‫ )במרורים‬im folgenden V 15 erinnert zum einen an Klgl 1,4 (‫ והיא מר־לה‬und sie – bitter ist ihr), aber auch an Klgl 1,20, wo die Ableitung von ‫ כי מרו מריתי‬aus inhaltlichen Gründen zuweilen auf ‫ מרר‬bitter/verbittert sein statt auf ‫ מרה‬trotzen zurückgeführt wird.281 (5) Schon in V 5.15 war das Wortfeld Bitterkeit/Bitternis/Gift vertreten. In V 19 taucht es erneut auf; hier ist die Beziehung zwischen V 19 ‫זכר־עניי ומרודי לענה וראש‬ An mein Elend und meine Unrast zu denken ist Bitterkeit und Gift und Klgl 1,7 ‫ זכרה ירושלם ימי עניה ומרודיה‬Es gedenkt Jerusalem der Tage ihrer Not und Heimatlosigkeit so eng, dass häufig angenommen wird, zwischen den Versen bestehe eine literarkritische Abhängigkeit. Fast noch deutlicher als die vorhandenen Bezüge sind die fehlenden Hinweise zu einer Situierung des in Klgl 3 erzählten Geschehens. Im Gegensatz zu Klgl 1, Klgl 2 sowie Klgl 4 machen die ersten Verse von Klgl 3 praktisch keine Aussagen zur Identität des Mannes, seiner »realen« Situation jenseits der metaphorischen Beschreibung, seinem feindlich gesinnten Gegenüber usw. Es fehlt an dieser Stelle praktisch jegliche zeitliche und örtliche Einordnung des Geschehens.282 Zugleich macht der Mann mit Formulierungen wie »führte mich ins Dunkel, nicht zum Licht« deutlich, dass seine Rede nicht als realweltliche Schilderungen verstanden werden wollen. In gewisser Weise sind die inhaltlichen Leerstellen von Klgl 3 die prägnantesten Elemente, die zu Klgl 1–2 Kontinuität stiften, da sie dazu nötigen, das bisherige Setting (soweit möglich) auch zu Beginn von Klgl 3 weiter vorauszusetzen. In leichter Überspitzung ließe sich formulieren, dass die Art, in der die Eingangsverse von Klgl 3 konzipiert sind, ohne die szenische und motivische Vorbereitung von Klgl 1–2 in dieser Form gar nicht denkbar wäre, da der Leseerfolg ansonsten durch die vielen Leerstellen in Gefahr geriete.283 280 Der Topos der Verspottung bzw. der Häme durchzieht Klgl 1–2 (vgl. hierzu Anderson [1991], 72f.): vgl. Klgl 1,7f.17.21; 2.15–17, aber auch Klgl 3,61.63. 281 Seow (1985). Auffällig (und im AT singulär) ist die Begründung des emotionalen Schmerzes in V 20abα mit der Rebellion gegen Gott. Eine Zugrundelegung von ‫ מרר‬würde diese Besonderheit aufheben. 282 Vgl. aber V 14: ‫ הייתי שחק לכל־עמי‬Ich wurde zum Gelächter meinem ganzen Volk, sowie V 48: ‫ על־שבר בת־עמי‬ob des Zusammenbruchs der Tochter ›Mein Volk‹ und V 51: ‫ כל בנות עירי‬alle Töchter meiner Stadt. 283 Diese Beobachtung wird auch durch die in der Forschung immer wieder gemachten Versuche einer näheren Bestimmung des Mannes gestützt. So beruft sich z. B. Lanahan (1974), 45 ausschließlich auf Klgl 1–2, wenn er begründen will, warum er den Mann ausgerechnet als Soldaten identifiziert. Das impliziert, dass für Lanahan Klgl 3 seinerseits wiederum die Lektüre von Klgl 1–2 voraussetzt.

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(6) Ab V 22 beginnt ein neuer Abschnitt innerhalb des Liedes, der bis V 39 reicht. Das Thema des rechten Ausharrens unter dem Zorn Gottes, das so in Klgl 1–2 nicht auftaucht, sorgt dafür, dass die Stichwortbezüge nicht mehr so zahlreich zu finden sind. V 26 propagiert das schweigende (‫ )דומם‬Ausharren als Tugend – als Antwort auf Zions schweigendes Abwenden in Klgl 1,8 und die verstummten (‫ )דמם‬Ältesten Zions in Klgl 2,10, bei denen dieses Schweigen keinesfalls als »freudige Pflicht« dargestellt wurde? Der Mann begrüßt es in V 27, ein ‫ על‬Joch zu tragen; Zion trug schwer am Joch ihrer Verbrechen (Klgl 1,14: ‫על‬ ‫)פשעי‬. Das erste Kolon von V 28, ‫ ישב בדד וידם‬er sitze einsam und schweige, lässt deutlich Klgl 1,1 anklingen (‫( ישבה בדד העיר‬wie) einsam sitzt die Stadt), aber auch Klgl 2,10 (‫ ישבו לארץ ידמו זקני בת־ציון‬es setzen sich zu Boden, es schweigen, die Ältesten der Tochter Zion). Im nächsten Vers wird mit ‫ עפר‬Staub wiederum Klgl 2,10 in Erinnerung gerufen, nicht nur durch die Lexik, sondern auch durch die in den dortigen Klageriten vorgestellte Bewegung der Köpfe nach unten in den Staub. Der Begriff ‫ חרפה‬Schmach, der anschließend in V 30 (und nochmals in V 61) verwendet wird, wird sich später als einer der programmatischen Leitbegriffe erweisen, mit denen Klgl 5,1 den Konnex zurück zu Klgl 3 zieht. Zugleich wird erneut assoziativ auf die Selbstbeschreibung Zions in Klgl 1,11c erinnert. (7) Auch die nächsten Verse erinnern an Klgl 1. So bieten V 32.33 zweimal das Verb ‫ יגה‬betrüben und entfalten geradezu eine Klein-Theodizee des göttlichen Gerichtshandelns. Wurde in Klgl 1,4.5.12 die Betrübung der Stadt und ihrer Bevölkerung angesprochen, deuten V 32f. diesen Umstand in einem weiteren Horizont göttlicher Gerechtigkeit. Dass dies nur unzureichend gelingt, deutet schon die schwierige Syntax der folgenden Verse an. Der Konflikt wird offen gemacht mit dem Ausdruck ‫ אדני לא ראה‬der Herr, er sieht es nicht!? in V 36b. Deutlich verweist dies zurück auf Klgl 1,9c.11c.20a; 2,20a. (8) Auch in der dritten Sektion, V 40–66, finden sich Bezüge zu Klgl 1–2. Die Aufforderung in V 41: ‫ נשא לבבנו אל־כפים אל־אל בשמים‬Erheben wir unser Herz und Herz zu Gott im Himmel erinnert an die ganz ähnliche Aufforderung des Sprechers an Zion in Klgl 2,19 (‫ שאי אליו כפיך‬erhebe zu ihm deine Hände). Auch in Klgl 1,17 (‫ פרשה ציון בידיה‬Ausgestreckt hat Zion ihre Hände) mag eine ähnliche Geste im Hintergrund stehen. Im folgenden V 42 kommt das Thema eigener Schuld bzw. Sünde zur Sprache. Dabei werden die beiden Ausdrücke gewählt, die auch in Klgl 1 im Vordergrund standen: ‫ נחנו פשענו ומרינו‬wir, wir haben verbrochen und getrotzt. In Klgl 1 fand sich ‫ פשע‬und ‫ מרה‬jeweils drei Mal (Klgl 1,5.14.22; Klgl 1,18.20b[bis]). Demgegenüber findet sich ‫ חטא‬sündigen nur in Klgl 1,8 als figura etymologica.284 284 Es ist bemerkenswert, dass die Sündenthematik in der ersten Sektion von Klgl 3 vollständig fehlt. Es liegt nahe, dies als Weiterführung des diesbezüglich ebenfalls fast völlig schweigenden Klgl 2 zu sehen.

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(9) Die folgenden V 43–48 sind ein weiterer Bereich, der diesmal insbesondere auf Klgl 2 verweist. Die Formulierung in V 43: ‫ הרגת לא חמלת‬du hast getötet, nicht verschont zitiert Klgl 2,21 praktisch wörtlich: ‫ הרגת ביום אפך טבחת לא חמלת‬Du hast getötet am Tag deines Zorns, hast geschlachtet, nicht verschont. Das von V 43 in V 44 fortgeführte Bild des Gottes, der sich im Gewölk verhüllt und damit für Gebet und Schauung unerreichbar wird, greift Klgl 2,1.9 auf. Gleiches gilt für die nächsten Verse: V 46: ‫ פצו עלינו פיהם כל־איבינו‬Es rissen gegen uns ihren Mund auf all unsere Feinde ist ein wörtliches Zitat aus Klgl 2,16: ‫ פצו עליך פיהם כל־אויביך‬Es rissen gegen dich ihren Mund auf all deine Feinde. Die Wurzel ‫ פצה‬aufreißen findet sich mit ‫ אויב‬Feind als Subjekt nur hier im AT. V 47 enthält erneut den Begriff ‫ שבר‬Zusammenbruch (Klgl 2,9.11.13) und V 48, der im ersten Kolon (‫ פלגי־מים תרד עיני‬Wasserbäche vergießt mein Auge) Klgl 1,16a anklingen lässt (‫עיני‬ ‫ עיני ירדה מים‬mein Auge, mein Auge zerfließt von Wasser), zitiert mit der im zweiten Kolon gelieferten Begründung (‫ על־שבר בת־עמי‬wegen des Zusammenbruchs der Tochter ›Mein Volk‹) direkt Klgl 2,11. Das Bild des Wasserbäche vergießenden Auges assoziiert neben Klgl 1,16 auch Klgl 2,18f. (… ‫)הורידי כנחל דמעה‬ und bildet damit einen Verbindungspunkt der ersten drei Lieder. Nur hier und in Klgl 1,16 ist ‫ עיני‬mein Auge logisches Subjekt von ‫ ירד‬sinken. (10) Die V 49–51.52 bilden den letzten Bereich, in dem sich nennenswerte Aufnahmen aus Klgl 1–2 finden. Der Ausdruck ‫ הפגות‬Innehalten aus V 49, wie auch die generelle Aussage des Verses mein Auge fließt und ruht nicht, es gibt kein Versiegen erinnern an die Aufforderung des Erzählers an Zion in Klgl 2,18c: Nicht gönne Ruhe dir, nicht raste dein Augapfel. V 50 verweist einerseits zurück auf die rhetorische Frage von V 36 (‫ אדני לא ראה‬der Herr hat dies nicht gesehen!?) und damit erneut auf Klgl 1,9c.11c.20a; 2,20a. Die Formulierung ‫עיני עוללה‬, wörtlich Mein Auge tut mir etwas an=schmerzt/setzt mir zu erinnert an die Verwendung der Wurzel in Klgl 1,12; 22[bis]; 2,20. Schließlich lässt auch die Selbstbeschreibung als gehetzter Vogel in V 52 an die in Klgl 1,13 genannten Fangnetze (‫)רשת‬ denken.285 Die nachfolgenden V 53–66 treten demgegenüber an Bezugsdichte zurück, wenngleich auch hier Motive, wie z. B. das Schmähen (‫ )חרפה‬der Gegner (V 61– 63), oder die Aufforderung an JHWH, zu sehen und zu schauen (in V 59.60 gewendet als Affirmation: Du sahest!, in V 63 erneut als Aufforderung: Schau her!) nochmals auftauchen.

285 Riede (2000), 341–344.352.

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4.2.3 Der Anschluss von Klgl 4 an Klgl 1–3 Insbesondere die Verknüpfung von Klgl 4 mit Klgl 3 ist, wie schon oben bemerkt, relativ schwach. Es gibt nur wenige beachtliche Motiv- und Stichwortaufnahmen: (1) Einer der deutlicheren Bezüge besteht in der Übernahme des Titels ‫בת־עמי‬ in V 3.6.10, sowie des Ausdrucks ‫ שבר בת־עמי‬Zusammenbruch der Tochter ›Mein Volk‹ in V 10. Der gleiche Titel wurde ebenso in Klgl 3,48 und davor schon in Klgl 2,11 verwendet; ‫ שבר‬ist zudem eines der Lexeme, die Klgl 1–2 mit Klgl 3 verbindet und von dort aus den Konnex zu Klgl 4 schafft (vgl. Klgl 2,9.11.13; 3,4.47.48). Beide Begriffe fungieren damit als buchübergreifende lexematische Klammern. (2) Die Beschreibung der in den Gassen liegenden Eliten verweist mit der Nennung von Haut (‫ )עור‬und Knochen (‫ )עצם‬zurück auf Klgl 3,4, wo in ganz ähnlichen Worten die Heimsuchung des Mannes durch JHWH beschrieben wurde. (3) Die erste Zusammenfassung der in V 1–10 dargestellten Zerstörung wird in V 11 formuliert und greift mit ‫ כלה יהוה את־חמתו‬Vollendet hat JHWH seinen Zorn Klgl 3,22 kontrastierend auf: Während JHWH seinen Zorn zur Vollendung bringt, und dann enden lässt, gibt es hinsichtlich der göttlichen ‫ רחמים‬Barmherzigkeiten kein Ende. Auch zu Klgl 1 existieren nur relativ wenig deutliche Bezüge: (4) In V 9 wird mit ‫ חללי־חרב‬die vom Schwert durchbohrten ein Ausdruck verwendet, der an Klgl 1,20 erinnert (dort: ‫… שכלה־חרב‬macht kinderlos das Schwert). In V 11 findet sich neben Klgl 1,12 die einzige Stelle innerhalb des Buches, wo der göttliche Zorn mit der Formulierung ‫ חרון אפו‬glühender Zorn beschrieben wird. So wie Gott in Klgl 1,13 das Feuer in Zions Glieder schickt, legt er in V 11 Feuer, das Zions Grundmauern zerfrisst. Sind es in V 12 die Könige der Welt, die mit Erstaunen sahen, wie Feinde durch die Tore Jerusalems einzogen (‫כי‬ ‫ יבא צר ואויב בשערי ירושלם‬Bedränger und Feind ziehen durch die Tore Jerusalems), war es in Klgl 1,10 Zion selbst, die mit ansehen musste, wie Feinde in ihr Heiligtum eindrangen (‫ כי־ראתה גוים באו מקדשה‬sie sah Völker ihr Heiligtum betreten). War es in Klgl 1,9 Zions eigenes Blut, das als Unreinheit (‫)טמאה‬, an ihrem Gewand (‫ )שול‬klebte, ist es in V 13–15 das Blut der Gerechten (‫)דם צדיקים‬, das ihre Kleider (‫ )לבוש‬besudelt und sie unrein (‫ )טמא‬macht. Zudem endet Klgl 4 mit der Aussage, dass nicht fortgefahren werde, Zion zu verbannen (‫)לא יוסיף להגלותך‬, wohingegen JHWH die Sünden Edoms aufdecke (‫)גלה על־חטאתיך‬. Zusammen mit V 21bβ (‫ תשכרי ותתערי‬betrinken und entblößen) erinnert die doppelte Bedeutung von ‫( גלה‬im Kal aufdecken, im Hif ’il als terminus technicus regelmäßig verbannen) einerseits an Klgl 1,3a, wo die Verbannung Judas (‫גלתה יהודה מעני ומרב עבדה‬ Juda zog in die Verbannung aus Elend und schwerer Knechtschaft) berichtet wurde, andererseits aber auch an die V 8–10, in denen die Entblößung Zions in

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geradezu voyeuristischen Tönen beschrieben wird. Bezüge existieren somit insbesondere zu den V 8–13 von Klgl 1. Sehr deutlich sind hingegen die Beziehungen von Klgl 4 zu Klgl 2, was in der Literatur auch immer wieder bemerkt wird:286 (5) So findet sich die Ortsbezeichnung ‫ בראש כל־חוצות‬am Kopfende aller Gassen in V 1 ebenso in Klgl 2,19; das Nomen ‫ חוץ‬Gasse (sonst noch Klgl 1,20; 2,19.21) ist zudem eines der wichtigen Leitworte von Klgl 4 (vgl. V 1.5.8.14). Neben ‫ חוץ‬findet sich auch das Nomen ‫ רחב‬Platz nur in Klgl 2,11f. und 4,18. Das ebenfalls in V 1 vorkommende Verb ‫ שפך‬findet sich nur in Klgl 2 und 4 und beschreibt in beiden Liedern sowohl das Ausgießen des göttlichen Zornes (Klgl 2,4; 4,11), wie auch das Vergießen der ‫( נפש‬Klgl 2,12), Tränen (Klgl 2,11.19) oder Blut (Klgl 4,13), aber auch die hingeschütteten Toten (Klgl 4,1). Auch das mit dem Bild ‫ יועם זהב‬verdunkelt [ist] das Gold eingespielte Motiv von Dunkelheit erinnert an Klgl 2,1. (6) Klgl 4 beschreibt wie schon Klgl 2 ausführlich das Leiden und den Hunger der Kinder. In Klgl 2,11c–12a sind es ‫ עולל ויונק‬Kind und Säugling, die ihre Mütter nach ‫ דגן ויין‬Getreide und Wein fragen. Klgl 4 inversiert: V 4a lässt den ‫ יונק‬dürsten und die ‫ עוללים‬nach Brot fragen (vgl. auch Klgl 2,19f.). (7) Die ‫ חללי־חרב‬durch das Schwert Durchbohrten aus V 9 verweisen nicht nur nach Klgl 1,21 zurück, sondern auch nach Klgl 2,12, wo es die Kinder sind, die wie durchbohrt (‫ )כחלל‬in den Schößen ihrer Mütter verschmachten. (8) Der Ausdruck aus V 10 ‫שבר בת־עמי‬, der einerseits einen Konnex mit Klgl 3,48 bildet, verweist darüber hinaus auch nach Klgl 2,11 zurück. Das Thema der Teknophagie, das ebenfalls in V 10 zur Sprache kommt, stellt sicherlich den grausigsten und zugleich deutlichsten Bezug zu Klgl 2 her. (9) Ein wichtiges Motiv von Klgl 2 war das Feuer als Bild für den »glühenden« Zorn Gottes. Der glühende Zorn JHWHs aus V 11 ‫ שפך חרון אפו‬er vergoss seinen glühenden Zorn verweist auf Klgl 2,4 (‫ באהל בת־ציון שפך כאש חמתו‬im Zelt der Tochter Zion vergoss er gleich Feuer seine Zornesglut) zurück; auch das Legen von Feuer ‫ בציון‬in Zion und das Zerfressen (‫ )אכל‬der Grundmauern in V 11b trägt deutliche Züge der Terminologie von Klgl 2: auch dort fraß (‫ ;אכל‬vgl. daneben noch ‫ בלע‬verschlingen in V 2.5[bis].8.16) das Feuer ringsum (Klgl 2,3) und richtete sich die göttliche Gewalt gegen die Mauern (V 7b.8ac.9a) der Stadt – Zeichen dafür, dass eine unwiderstehliche Gewalt am Werke ist, der weder Fundamente noch massive Mauern standhalten können. (10) Klgl 2 legte großen Wert darauf, die Sorgfalt und Planmäßigkeit, mit der das Gerichtshandeln Gottes voranschritt, zu betonen. Klgl 2,8a sprach davon, dass JHWH die Schleifung der Mauern plante (‫)חשב‬, Klgl 2,17a intensiviert dies gar zu sorgfältig planen (‫)זמם‬. Klgl 2,17b fügt hinzu, dass das Urteil gegen Zion 286 Kraus-J. (1983), 15, Boecker (1985), 77, Berges (2002), 236f. u. ö.

Stichwort- und Motivverknüpfungen

101

seit den Tagen der Vorzeit (‫ )מימי־קדם‬befohlen (‫ )צוה‬war. In V 11 findet sich dieses Moment aufgenommen, da ‫ כלה‬nicht einfach das Ende eines Vorganges beschreibt, sondern vielmehr auch den Vorgang als Prozess und das anvisierte Ziel als Ergebnis im Blick hat.287 (11) Zugleich verweist das Zwischenfazit in V 11: ‫ כלה יהוה את־חמתו‬vollendet hat JHWH seinen Grimm zurück auf die abschließende Aussage von Klgl 2,22c: ‫ אשר־טפחתי ורביתי איבי כלם‬die ich sorgsam gepflegt und aufgezogen – mein Feind hat sie vernichtet. (12) Nur in Klgl 2 und 4 wird die für das Gericht ursächliche Schuld konkreten Personengruppen zur Last gelegt. Wie in Klgl 2,14 sind auch in V 13 die Propheten beschuldigt, werden aber ergänzt durch die Priester. Während Propheten nur in Klgl 2,9.14.20 und 4,14 genannt werden, tauchen Priester auch in Klgl 1,4.9; 2,6.20 auf. Zudem ist nur in Klgl 2,14 und Klgl 4,22 davon die Rede, dass die Sünde (bzw. Schuld) aufgedeckt (‫ )גלה‬würde. (13) Neben Propheten und Priestern wird auch nur in Klgl 2 und 4 vom König gesprochen (Klgl 2,6.9; Klgl 4,12.20). (14) Insgesamt bleibt festzustellen, dass der ständig drohende Tod nur in Klgl 2 und 4 in so deutlicher Prägnanz formuliert ist.

4.2.4 Die Verkettung von Klgl 5 mit Klgl 1–4 Die deutlichste Kontinuität zwischen Klgl 4 und 5 liegt in der gewählten kommunalen Perspektive von Klgl 5, die damit den Wir-Bericht aus Klgl 4,17–20 aufnimmt. Zugleich ist auffallend, dass Klgl 4 als einziges Lied der Sammlung keine direkte Anrufung JHWHs enthält, der Beginn von Klgl 5 jedoch (ebenfalls als einziges der Lieder) mit einer solchen einsetzt. Sie kann damit gleichsam als zusammenfassende Anrufung Gottes in Reaktion auf das Vorangegangene aufgefasst werden,288 ähnlich den Anrufungen in Klgl 1 und 2, die ebenfalls nach der Schilderung der Not die Aufmerksamkeit und Anteilnahme Gottes einfordern. Zusammen mit der Beobachtung, dass Klgl 4 und 5 zusammen genau die gleiche Länge haben wie jedes der Klgl 1, 2 und 3, wird durch beide Textsignale Kontinuität gewahrt bzw. hergestellt. Aus der Lesedynamik heraus rekurriert der Aufruf in V 1: ‫ זכר יהוה מה־היה לנו‬Gedenke, JHWH, was uns geschehen! auf das Vorangegangene, während die Fortsetzung: ‫ הביטה וראה את־חרפתנו‬Schau her und sieh unsere Schmach! die folgenden Verse vorbereitet. Neben dieser Verknüpfung

287 Helfmeyer (1984), 170. 288 So auch Berges (2002), 273 und Wiesmann (1936), 624.

102

Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten

von Klgl 5 mit Klgl 4 auf eher stilistischer Ebene, fallen an einigen Stellen deutliche sprachliche Bezüge auf, die Klgl 5 mit den übrigen Liedern verbinden.289 (1) Die Aufforderung ‫ הביטה וראה‬Schau her und sieh! aus V 1 erinnert an die gleichen Aufforderungen aus Klgl 1,9.11(.12.18).20; 2,20; 3,36. ‫ חרפה‬Schmach verknüpft den Beginn von Klgl 5 zudem mit Klgl 3,30.61. (2) Der Vergleich der Mütter mit Witwen in V 3 (‫ )אמתינו כאלמנות‬verweist zurück auf Klgl 1,1, wo von Zion ausgesagt wurde, dass sie wie eine Witwe geworden wäre (‫)היתה כאלמנה‬. (3) Wenn die Annahme stimmt, in V 5 (‫ על צוארנו נרדפנו‬wörtl: über unseren Nacken werden wir verfolgt) sei durch Haplographie ein ‫ על‬Joch ausgefallen,290 ergäbe sich ein deutlicher Bezug zu Klgl 1,14, aber auch zu Klgl 3,27. Die Aussage ‫ נרדפנו … לא הונח־לנו‬wir sind verfolgt, … nicht ist uns Ruhe vergönnt verweist zudem zurück nach Klgl 1,3: Auch dort finden sich die Wurzeln ‫ רדף‬und ‫ נוח‬in der Aussage ‫ לא מצאה מנוח ׀ כל־רדפיה השיגוה בין המצרים‬Ruhe findet sie nicht| All ihre Verfolger holten sie ein zwischen den Engen. (4) Dass in V 8 Knechte (‫ )עבדים‬genannt werden, ist wie auch schon die Nennung der ‫ זרים‬Ausländer und ‫ נכרים‬Fremde in V 2 ein Novum innerhalb des Buches, das anzeigt, dass die berichtete Situation schon in einigem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen von 586 v. Chr. liegt. Die Formulierung ‫פרק אין מידם‬ niemand entreißt aus ihrer Hand lässt an Klgl 1,7 und 2,7 denken, wo jeweils das In-die-Hände-der-Feinde-geben Zions bzw. ihrer Paläste benannt wird. (5) Das in V 8(–12) zur Sprache kommende Motiv der Unterdrückung durch Feinde und Bedränger erinnert an Klgl 1,3c.5–6, der in V 6.9–10 genannte Hunger ist ein wichtiges Thema sowohl in Klgl 4, aber auch in Klgl 1–2. In diesem Zusammenhang taucht jeweils das Bild brüchig bzw. rissig werdender Haut auf (Klgl 4,8; 5,10). (6) Im gesamten Buch der Klgl wird nur in V 11 explizit die Vergewaltigung (‫ )ענה‬von Frauen und jungen Frauen genannt. Abgesehen davon, dass die Wurzel ‫ ענה‬schon in Klgl 3,33: Denn nicht von Herzen demütigt (‫ )ענה‬und betrübt (‫ )יגה‬er die Menschen auftaucht, geht der kontextuell stärkste Bezug erneut nach Klgl 1,8–10, wo die nackte Zion nicht nur in voyeuristischer Manier den Blicken der Umstehenden (und der Leser*innen!) ausgesetzt ist, sondern wo in V 10 in metaphorischer Sprache wohl auch eine Vergewaltigung angedeutet wird (hierzu s. u. Kap. 6.1.2).

289 Vgl. auch die Beobachtungen zum Vokabular von Klgl 5 durch Salters (2001). 290 So u. a. Berges (2002), 271, Kaiser (1992), 187, Brandscheidt (1983), 186, Westermann (1990), 173.

Stichwort- und Motivverknüpfungen

103

(7) V 12 berichtet: ‫ פני זקנים לא נהדרו‬das Antlitz der Ältesten wird nicht geehrt. Fast wortgleich spricht Klgl 4,16 von den Priestern: ‫פני כהנים לא נשאו זקנים לא חננו‬ das Antlitz der Priester ehrte291 man nicht, die Ältesten fanden keine Gnade. (8) In V 17a findet sich die Formulierung ‫ על־זה היה דוה לבנו‬Deshalb wurde unser Herz siech; parallel dazu in V 17b ‫ על־אלה חשכו עינינו‬deshalb wurden trüb unsere Augen. Auch in Klgl 1,13 war Zion ‫ דוה‬krank/siech und in Klgl 1,20.22 verweist sie auf ihr krankes Herz an. Auch die verdunkelten Augen erinnern an das in Klgl 1–3 häufige Motiv des Weinens (Klgl 1,2.16; 2,11.18f.; 3,48f.41). (9) Wenngleich die Zerstörung von Palästen, Wällen, Toren usw. in Klgl 5 keine Rolle spielt, so ist doch das Resultat, ein verödeter (‫ )שמם‬Berg Zion, augenscheinliches Indiz für die Ferne Gottes und erinnert an Klgl 1,4.13.16; 3,11. (10) Schließlich erinnert auch die Verwendung des Begriffes ‫ קדם‬Vorzeit in V 21 an Klgl 1,7; 2,17. Wurde durch den Begriff in Klgl 1,7 eine noch ungetrübte Vorzeit evoziert, kontrastierte Klgl 2,17 dies damit, dass das Gericht ebenfalls schon seit den Tagen der Vorzeit angekündigt und angedroht war.

4.2.5 Schaubild der Stichwort- und Motivbezüge Die Anlage der Lieder als konzentrische Struktur lässt sich nach der oben angestellten Stichwortsuche durch eine kurze Aufzählung von entsprechenden Stichwortsignalen illustrieren. Nachfolgend eine visuelle Veranschaulichung der wichtigsten Bezüge zwischen den einzelnen Liedern: Übersicht 3 verdeutlicht die Bezüge zwischen Klgl 1 und 5, Übersicht 4 illustriert die Vielzahl der Bezüge zwischen Klgl 2 und 4. Übersicht 5 belegt, dass demgegenüber nur vergleichsweise wenige Bezüge zwischen Klgl 3 und Klgl 4–5 existieren. Übersicht 6 schließlich macht deutlich, dass demgegenüber eine erhebliche Anzahl von Bezügen in Klgl 2 zurück auf Klgl 1 verweisen, und Klgl 3 wiederum zahlreiche Anknüpfungspunkte an Klgl 1–2 aufweist.

291 Wörtlich: erhob.

‫‪Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten‬‬

‫‪104‬‬

‫‪Klgl 5‬‬ ‫‪3‬‬ ‫כאלמנות‬

‫‪Klgl 1‬‬ ‫כאלמנה‬ ‫‪3‬‬

‫‪1‬‬

‫‪5‬‬

‫‪8–12‬‬

‫‪3; 5–6‬‬

‫רדף ‪ +‬נוח‬ ‫‪Handeln der Feinde‬‬

‫‪21‬‬

‫מימי קדם‬ ‫)בנפל עמה ביד־צר ואין עוזר לה(‬

‫‪7‬‬

‫רדף ‪ +‬נוח‬ ‫‪Handeln der Feinde‬‬

‫ימינו כקדם‬ ‫)פרק אין מידם(‬

‫‪8‬‬

‫‪11‬‬

‫‪Vergewaltigung von Frauen‬‬ ‫זכר … הביט וראה‬

‫)על(‬ ‫לב ‪ +‬הפך‬

‫‪Vergewaltigungsmetaphorik‬‬ ‫ראה והביטה‬

‫‪8–10‬‬

‫‪1‬‬

‫‪9; 11; 20‬‬

‫‪5‬‬

‫על‬ ‫לב ‪ +‬הפך‬

‫‪14‬‬

‫‪9‬‬

‫מחוץ שכלה־חרב‬

‫‪15‬‬

‫)מפני חרב המדבר(‬

‫‪7‬‬

‫‪20‬‬ ‫‪20‬‬

‫‪Übersicht 3: Stichwort- und Motivbezüge zwischen Klgl 1 und 5‬‬ ‫‪Klgl 2‬‬ ‫‪21; 22‬‬ ‫יום אפו‬

‫‪Klgl 4‬‬ ‫‪11‬‬ ‫שפך חרון אפו‬ ‫‪9‬‬

‫‪21‬‬

‫‪11‬‬

‫‪4‬‬

‫טובים היו חללי־חרב‬ ‫שפך חרון אפו ויצת־אש בציון‬

‫בחירי כפלו בחרב‬ ‫באהל בת־ציון שפך כאש חמתו‬

‫‪3f‬‬

‫‪11f; 19‬‬

‫‪3; 6; 10‬‬

‫‪11‬‬

‫‪Hunger der Kinder‬‬ ‫)שבר( בת־עמי‬ ‫‪9‬‬ ‫חלל‬ ‫‪22‬‬ ‫גלה ‪ +‬עון‬ ‫נביאים ‪ +‬חטא‪ ,‬כהן ‪ +‬עון‬ ‫מלכי־ארץ ‪Reaktion der‬‬ ‫‪Teknophagie‬‬ ‫כלה יהוה את־חמתו‬

‫‪Hunger der Kinder‬‬ ‫שבר בת־עמי‬ ‫‪12‬‬ ‫חלל‬ ‫‪14‬‬ ‫גלה ‪ +‬עון‬

‫‪13‬‬

‫נביא ‪ +‬עון‬ ‫עברי דרך ‪Reaktion der‬‬

‫‪12‬‬ ‫‪10‬‬ ‫‪11‬‬

‫‪14‬‬ ‫‪15‬‬ ‫‪20‬‬

‫‪Teknophagie‬‬ ‫‪22‬‬ ‫אשר־טפחתי ורביתי איבי כלם‬

‫‪Übersicht 4: Stichwort und Motivbezüge zwischen Klgl 2 und 4‬‬ ‫‪Klgl 5‬‬ ‫‪1‬‬ ‫זכר … הביט וראה‬

‫‪Klgl 4‬‬

‫‪5‬‬

‫)על(‬ ‫)מפני חרב המדבר(‬

‫‪9‬‬

‫‪Klgl 3‬‬ ‫אדני לא ראה‬

‫‪36‬‬

‫על‬ ‫טובים היו חללי־חרב‬

‫‪9‬‬

‫‪3; 6; 10‬‬

‫)שבר( בת־עמי‬ ‫כלה יהוה את־חמתו‬

‫‪11‬‬

‫עור ‪ +‬עצם‬

‫‪27‬‬

‫‪8‬‬

‫‪1‬‬

‫הביט וראה את־חרפתנו‬

‫‪16‬‬

‫שבר בת־עמי‬ ‫)כי לא־כלו רחמיו(‬

‫‪48‬‬ ‫‪22‬‬ ‫‪4‬‬

‫עור ‪ +‬עצם‬ ‫‪30; 61‬‬ ‫חרפה‬

‫‪12‬‬ ‫פני כהנים לא נשאו וזקנים לא חננו‬ ‫פני זקנים לא נהדרו‬ ‫‪Übersicht 5: Stichwort- und Motivbezüge zwischen Klgl 3 und Klgl 4–5‬‬

‫‪105‬‬

‫‪Stichwort- und Motivverknüpfungen‬‬

‫‪Klgl 3‬‬ ‫‪28‬‬ ‫ישב בדד וידם‬

‫‪Klgl 2‬‬ ‫‪10‬‬ ‫ישבו לארץ ידמו‬

‫‪Klgl 1‬‬ ‫‪1‬‬ ‫ישבה בדד‬

‫‪48–49; 51‬‬

‫‪11; 18–19‬‬

‫‪2; 16‬‬

‫‪Tränen(ströme),‬‬ ‫‪Augen‬‬

‫‪Tränen(ströme), Augen‬‬

‫‪13‬‬

‫‪2; 9; 16; 17; 21‬‬

‫‪8‬‬

‫‪4‬‬

‫מה אשוה־לך ואנחמך‬

‫ויאבל־חל וחומה‬ ‫‪6; 7; 22‬‬ ‫מ ו עד‬ ‫‪32; 33‬‬

‫כי לא ענה מלבו ויגה‬ ‫בני־איש‬ ‫‪15‬‬ ‫ראש‪;5; 19‬השביעני במרורים‬ ‫‪42‬‬ ‫נחנו פשענו ומרינו‬ ‫‪19‬‬ ‫זכר־עניי ומרודי‬

‫דרכי ציון אבלות‬ ‫‪4; 15‬‬ ‫מועד‬

‫‪4; 5; 12‬‬

‫‪4‬‬

‫והיא מר־לה‬ ‫מרה‪; 18; 20‬פשע‬ ‫‪7‬‬ ‫זכרה ירושלם ימי עניה ומרודיה‬ ‫‪5; 14; 22‬‬

‫מחמדי־עינ‬ ‫מימי־קדם‬

‫‪4‬‬

‫‪7; 10; 11‬‬

‫מ חמד י ה‬ ‫‪7‬‬ ‫מימי קדם‬

‫‪7‬‬

‫‪7‬‬ ‫)בנפל עמה ביד־צר ואין עוזר‬ ‫לה(‬ ‫‪9; 11; 20‬‬ ‫ראה והביטה‬

‫‪15‬‬

‫‪12‬‬

‫עברי דרך‬ ‫‪12‬‬ ‫יום חרון אפו‬ ‫‪14‬‬ ‫על‬ ‫‪17‬‬ ‫ליעקב סביביו צריו‬

‫‪11‬‬

‫‪20‬‬

‫מעי חמרמרו‬ ‫‪20‬‬ ‫מחוץ שכלה־חרב‬

‫‪4‬‬

‫‪13‬‬

‫)היסגיר ביד־אויב חומת‬ ‫ארמנותיה(‬ ‫‪20‬‬ ‫ראה והביטה‬

‫אדני לא ראה‬

‫‪36‬‬

‫על‬

‫‪27‬‬

‫שבר בת־עמי‬

‫‪48‬‬

‫‪11‬‬

‫פצו עלינו פיהם כל־איבינו‬ ‫נשא ‪ +‬לב‬

‫‪46‬‬

‫‪16‬‬

‫פצו עליך פיהם כל־אויביך‬ ‫‪19‬‬ ‫נשא ‪ +‬כף‬

‫‪43‬‬

‫‪21‬‬

‫‪22‬‬

‫‪22‬‬

‫עברי דרך‬ ‫‪21‬‬ ‫יום אף־יהוה‪; 22‬יום אפך‬ ‫ביעקב כאש סביב‬

‫‪3‬‬

‫חמרמרו מעי‬ ‫בחירי כפלו בחרב‬

‫‪21‬‬

‫הרגת לא חמלת‬ ‫)כי לא־כלו רחמיו(‬

‫אין לה מנחם‬

‫יגה ‪ +‬בתולות‪/‬ציון‬

‫‪17‬‬

‫‪41‬‬

‫‪Tränen(ströme), Augen‬‬

‫באהל בת־ציון שפך כאש חמתו‬ ‫שבר בת־עמי‬

‫ממרום שלח־אש בעצמתי‬

‫הרגת ביום אפך טבחת לא חמלת‬ ‫אשר־טפחתי ורביתי איבי כלם‬

‫‪Übersicht 6: Stichwort- und Motivbezüge zwischen Klgl 1–2 und Klgl 3‬‬

‫‪Im Großen und Ganzen lassen sich die Stichwortbezüge zwischen den einzelnen‬‬ ‫‪Liedern somit wie folgt veranschaulichen: Eine durch eine Vielzahl gegenseitiger‬‬ ‫‪Bezüge eng verwobene Einheit Klgl 1–3, in der Klgl 2 zentral steht. Hierauf folgen‬‬ ‫‪Klgl 4 und 5, wobei beide Lieder sich weniger auf die Einheit Klgl 1–3, noch auf die‬‬ ‫‪jeweils unmittelbaren Nachbarlieder beziehen, sondern auf Klgl 1 bzw. 2.‬‬

106

Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten

Klgl 1

Klgl 2

Klgl 3

Klgl 4

Klgl 5

Übersicht 7: Schema der Bezüge zwischen den Klgl

4.3

Die Klgl – ein Arrangement von Einzeltexten

Der Begriff Arrangement impliziert eine interessegeleitete Anordnung von Elementen. Das vorliegende Kapitel war dem Ziel gewidmet, Indizien zu sammeln, die die These einer solchen Anordnung der einzelnen Lieder stützen können. Hierfür wurden einerseits formale Kriterien geltend gemacht, die die einzelnen Lieder miteinander verbinden, daneben aber auch Stichwort- und Motivverknüpfungen untersucht. Eine Fülle von Stichwortbezügen der jeweils korrespondierenden Lieder Klgl 1 und 5 bzw. Klgl 2 und 4 verdeutlichten, dass es signifikante Verbindungen zwischen diesen Liedern gibt, die die Beziehungen zwischen den nicht-korrespondierenden Gliedern (also Klgl 1 und 4 bzw. Klgl 2 und 5) bei weitem übersteigen. Zugleich konnte schon durch die Untersuchung von Stichwortbezügen deutlich gemacht werden, weshalb trotz der relativ losen Anbindung von Klgl 4 an Klgl 3 nicht das Gefühl eines Bruches aufkommt: Durch die enge Verbindung von Klgl 2 und 4 sieht sich Klgl 4 an den Klimax des Abschnittes Klgl 1–3 rückgebunden. Gleiches gilt für Klgl 5, das ebenfalls nur wenige konkrete Stichwortbezüge zum vorangehenden Klgl 4 aufweist, dabei jedoch aus der Lesedynamik heraus Klgl 4 gleichsam »vollendendet«: Klgl 5 enthält die Anrufung JHWHs, die in Klgl 4 im Gegensatz zu Klgl 1–3 fehlte, zudem vervollständigt Klgl 5 das vorherige Klgl 4 zur Länge von Klgl 1–3. Auch hier sorgt somit nicht zuletzt die Rückbindung an den Beginn, insbesondere das »korrespondierende« Klgl 1 dafür, dass die Hörer*innen nach Klgl 4 keinen Bruch verspüren. Exkurs: Zur konzentrischen Anordnung der Lieder

Häufig werden die auffälligen motivischen Bezüge zwischen Klgl 1 und 5 sowie Klgl 2 und 4 zum Anlass genommen, für das Buch allgemein eine konzentrische Struktur vorzuschlagen.292 Dabei wird die Frage der Existenz einer konzentrischen Anordnung mit der Frage ihrer Funktion vermischt. Dies führt zu vorschnellen Bewertungen hinsichtlich der Stellung 292 Exemplarisch: Dorsey (1988), Berges (2002), 176, Berges (2000), 6.

Die Klgl – ein Arrangement von Einzeltexten

107

einzelner Elemente innerhalb der Gesamtstruktur. Da im vorliegenden Kapitel noch nicht die Botschaft oder Aussage des Buches, mithin auch nicht die Funktion einzelner Lieder im Rahmen des Gesamtwerkes, im Zentrum stehen, scheint es angeraten, beide Fragen voneinander zu trennen. Die ersten ausführlicheren Untersuchungen zu konzentrischen Strukturen im Bereich des Alten Testament gehen auf Lund zurück, wobei er selbst den Ausdruck Chiasmus verwendete.293 Das grundlegende Phänomen lässt sich als »the appearance of a two-part structure or system in which the second half is a mirror image of the first, i. e. where the first term recurs last, and the last first«294 beschreiben. Eine derartige Anordnung könnte somit durch A : B : B′ : A′ verdeutlicht werden. Terminologische Uneinigkeit herrscht darüber, ob der Ausdruck Chiasmus, im Gegensatz zu konzentrischen Strukturen allgemein, diejenigen Strukturen beschreibet, in deren Zentrum ein weiteres Element angeordnet ist, also A : B : C : B′ : A′. Während dies zuweilen bejaht wird,295 gibt es auch Stimmen, die derartige Strukturen einfach als eine bestimmte Klasse konzentrischer Anordnungen auffassen.296 Zumeist werden beide Termini, sowie eine Vielzahl weiterer, die ebenfalls das gleiche Phänomen beschreiben,297 mehr oder weniger deckungsgleich verwendet. Da »konzentrisch« zunächst einmal nur aussagt, dass eine Struktur con centrum ist, Chiasmus hingegen eine bestimmte relationale Anordnung von Textgliedern beschreibt, scheint es naheliegend, eine etwaige terminologische Differenzierung entlang dieser Koordinaten zu entwickeln. Jeder Chiasmus ist damit konzentrisch, jedoch nicht jede konzentrische Struktur ein Chiasmus.298 Zudem impliziert der Terminus Chiasmus wegen seines Bezuges zum griechischen Buchstaben χ Proportionalität und Wohlgeformtheit, was für konzentrische Strukturen nicht immer automatisch gelten muss.299 Schließlich weist Bar-Efrat darauf hin, dass die Konzentrik von Textstrukturen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein kann: Strukturell auf der Ebene von Worten, Phrasen oder Sätzen; hinsichtlich narrativer Technik; hinsichtlich einzelnen Ebenen bzw. Dimensionen der narrativen Welt (Plot, Handlungsort, Zeit, Ereignisse und anderes mehr), bezüglich des Inhalts des Textes usw.300 Auch die Konzentrik derartiger Strukturen wird zumeist in metrischformaler Sicht unausgewogen sein, so dass sich auch hier der Terminus Chiasmus weniger anbietet.

293 Lund (1930) (dort auch frühere Literatur) und Lund (1933). Bemerkenswert, dass Lund (1930), 121–126 ein so hohes Vertrauen in die explikative Kraft des Phänomens hat, dass er es auch zur Klärung text- und literarkritischer Fragen heranziehen wollte. 294 Welch (1981b), 10. 295 Breck (1994), 33. 296 Mlakuzhyil (2011), 319–327, Bar-Efrat (1980), 170. 297 Welch (1981b), 9f.: »In modern times, chiasmus has been exposited under the names of epanodos, introverted parallelism, extended introversion, concentrism, the chi-form, palistrophe, envelope construction, the delta-form, recursion, as well as simple, compound, and complex chiasmus.« 298 Hierbei ist weniger auf das von Breck eingeforderte Mittelglied einer A : B : C : B′ : A′-Struktur angespielt, denn vielmehr die Möglichkeit, konzentrische Strukturen aus nur drei Gliedern konstruieren zu können. 299 Exemplarisch für eine unregelmäßige konzentrische Struktur sei auf die von Fischer (2010), 86 vorgeschlagene Gliederung des Hld verwiesen. 300 Bar-Efrat (1980), 157–170.

108

Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten

Mit dem Problem einer eher allgemein gehaltenen Definition des Phänomens geht die Beobachtung einher, dass konzentrische Strukturen und Chiasmen, nachdem sie einmal in das Blickfeld der Exegese gerückt waren, gleich Pilzen nach dem Regen auf einmal überall entdeckt wurden.301 Kritische Stimmen mahnen daher, die vermeintlich konzentrischen Strukturen nur dann und insofern für die exegetische Interpretation heranzuziehen, wie sie bestimmten Kriterien genügen.302 Wie schon hinsichtlich des Phänomens der Akrostichie gilt es, das Phänomen vorerst als stilistisches Mittel zur Kenntnis zu nehmen und anschließend mit Behutsamkeit und angemessener Vorsicht nach inhaltlichen Erklärungen des Phänomens zu fragen.303 Verschiedene Erklärungen werden in der Literatur vertreten: – Konzentrische Strukturen haben eine inhaltliche Bedeutung: Sie definieren und betonen ein thematisches Zentrum oder einen Höhepunkt.304 Daneben stellt dieses thematische Zentrum aber auch den Punkt dar, ab dem der erste Teil der Struktur in charakteristischer Brechung, Nuancierung, Interpretation, Ausweitung usw. in einem zweiten Teil erneut dargelegt wird.305 – Konzentrische Strukturen haben rhetorische Funktion. Sie können z. B. Ironie ausdrücken, Ideologie darstellen usw.306 – Konzentrik ordnet den Text: Zu einer Zeit, in der die heute üblichen Mittel der Textorganisiation (Satzzeichen, Groß- und Kleinschreibung, Absätze u. a.) noch nicht existierten, musste die interne Ordnung des Textes auf andere Art gewährleistet werden.307

301 Vgl. die beeindruckenden Sammlungen entsprechender Strukturen in Di Marco (1975), Di Marco (1976), sowie Welch (1981a), 297–338. 302 Blomberg (1989), 4–8 bietet eine Liste von neun Merkmalen, die m. E. viel zu selten rezipiert wird. Löbliche Ausnahme: Luter et al. (1995). Boda (1996) listet insgesamt vier Felder auf, in denen häufige Fehlerquellen der Identifikation und Interpretation von angeblich konzentrischen Strukturen auftreten: (1) Errors in Symmetry: Chiasmen stellen ordnende Gliederungsmechanismen dar – sämtliche strukturellen Inkonsistenzen müssen demnach misstrauisch stimmen; (2) Errors in Subjectivity: Sämtliche Annahmen, die sich nicht aus dem Text selbst entwickeln lassen, jedoch zum Erweis der gewünschten Struktur nötig sind, sind zu vermeiden; (3) Errors in Probability: Exegeten überschätzen häufig die statistische Relevanz ihrer Stichwortbezüge (vgl. hierzu Krispenz [2001] und Krispenz [2006]); (4) Error in Purpose: Vorsicht vor Strukturen, deren inhaltliche Relevanz nicht deutlich wird! Kein vorschnelles Urteil über die Bedeutung von Zentrum vs. Peripherie von Strukturen. 303 Clark (1975), 71 weist darauf hin, dass derartige kompositorische Vorentscheide durchaus präkognitiv existieren können wie es die grammatikalischen Regeln sind, denen man folgen kann, ohne sich ihrer bewusst zu sein. Wenn dem so wäre, dann würde dies die Häufigkeit des Phänomens erklären, zugleich aber auch davor warnen, zu großen interpretatorischen Wert darin zu legen. 304 Ceresko (1978), 6, Lund (1930), 111, Luter et al. (1995). 305 So etwa Breck (1987), Breck (1994), 38–58, sowie O’Connell (1992) und O’Connell (1990). Diese Lösung hat einiges für sich, da sie erklärt, warum die Mitte wichtig ist: sie ist das letztlich entscheidende Interpretament, die die anfänglichen Formulierungen/Aussagen entsprechend konkretisiert. Problematisch ist, dass sie bei weitem nicht auf alle Chiasmen anwendbar ist, wie Assis (2002), 281f. z. B. für 2Kön 5,18 deutlich macht. 306 O’Connell (1988), O’Connell (1990), O’Connell (1992). 307 Breck (1994), 59, Stock (1984); Ceresko (1978), 2; Lund (1933), 289; van Iersel (1995), 80.

Die Klgl – ein Arrangement von Einzeltexten

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– Konzentrische Anordnungen hatten mnemotechnische Vorzüge. Sie erleichtern das Erinnern und Reproduzieren von Texten, insbesondere in primär oralen Kulturen.308 – Konzentrik hat ästhetischen Wert: Sie sind – zumindest teilweise – einfach schön, elegant, exemplifizieren guten Stil.309 – Konzentrische Anordnungen können Aussagen des Textes auf stilistische Weise vermitteln:310 In einem narrativen Text verdeutlichen sie z. B., dass der handelnde Charakter planend und geordnet vorging. Sie haben damit zumindest teilweise die Funktion, die »experience of an utterance«311 zu beeinflussen und den Rezipient*innen das Gefühl von Geordnetheit und Geplantheit zu vermitteln. – Chiasmen fungieren als Zitate: »Wenn eine Bibelstelle eine Wendung einer anderen Bibelstelle wiederaufnimmt, so bringt sie sie stets chiastisch, indem sie den zweiten Teil der Wendung dem ersten voranstellt.«312 Viele der genannten Vorschläge haben ihre guten Gründe. Auf Satzebene wäre es naheliegend, dass Chiasmen vorwiegend rhetorische oder stilistische Funktion zu haben: Eine Formulierung wie »Einer für Alle – Alle für Einen« fungiert zwar als Textmarker, der den gleichmäßigen Textfluss durch seine Prägnanz durchbricht, viel wichtiger ist jedoch das Moment der Pointierung und rhetorischen Überspitzung.313 Diese Grundfunktion kann je nach Kontext und Umfang der Struktur verschieden weiterentwickelt werden. So scheint es insbesondere plausibel, dass die konzentrische Anordnung in größeren Kontexten nur noch sehr entfernt eine rhetorische oder pointierende Funktion hat. Dafür dürften andere Momente, wie etwa die von Breck vertretene pivotFunktion größeres Gewicht haben, das Motiv der Textgliederung sollte stärker zum Tragen kommen und insofern auch ein etwaiger mnemotechnischer Effekt. Hier wäre auch der Ort, wo die von Assis angesprochene »metasemantische« Funktion konzentrischer Strukturen ihre Wirkung entfalten kann. Insgesamt ist davon auszugehen, dass sich die Prägnanz des Phänomens mit zunehmenden Umfanges der Struktur entsprechend verflüchtigt: eine konzentrische Anordnung auf Satzebene wird dem Leser zumeist deutlicher bewusstwerden als eine auf Kapitel- oder Buchebene. Allerdings kann der von Breck beschriebene Effekt einer inhaltlichen Umakzentuierung der zweiten Hälfte des Chiasmus in längeren Passagen besser zur Geltung kommen. Die konkrete Wirkung und Funktion der konzentrischen Anlage wird somit von Fall zu Fall individuell zu bestimmen sein und nicht in einer formelhaft bestimmten Aufwertung des jeweiligen zentralen Gliedes liegen dürfen.

Ende des Exkurses

308 309 310 311 312 313

Breck (1994), 60. Breck (1994), 60, Ceresko (1976). Assis (2002). Fish (1970), 131. Eldevall (2012), 278f. Horve (1981), 142–150. Die Verwendung von Chiasmen in Werbung und Politik basiert häufig vorrangig auf dieser Art des Gebrauchs.

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Erster Zugriff: Formale Indizien für ein Arrangement von Einzeltexten

Eine Festlegung auf das Vorliegen einer konzentrischen Struktur und ihre inhaltliche Deutung sollte mithin nicht vorschnell erfolgen.314 Zum einen gibt es, wie in der Exegese der Lieder deutlich werden, auch lineare Entwicklungslinien zwischen den Liedern.315 Zum anderen gilt es zu bedenken, dass bislang erst ein im wahrsten Sinne oberflächlicher Blick auf die Texte geworfen wurde. Bisher wurde lediglich auf der strukturellen Ebene nach Konstanten gesucht, die es ermöglichen, die einzelnen Lieder als Teil eines sinnvoll arrangierten Ganzen aufzufassen und im Übergang von einem Lied zum nächsten Kontinuität stiften. Daneben wurden Stichwort- und Motivverknüpfungen gesucht, die während einer Lesung den gegenseitigen Bezug der Lieder aufeinander erleichtern und damit als »Ankerpunkte« etwaiger Quer- und Rückverweise dienen können. Inwiefern derartige Aufmerksamkeitsmarker im Leseprozess tatsächlich fruchtbar werden können, und welche inhaltliche Funktion für das »Programm« des Gesamtarrangements sich daraus ergeben könnte, bleibt abzuwarten. Bisher konnte nahegelegt werden, dass die Anordnung der Texte sinnvoll erscheint; der Erweis ihrer Intension, die Explizierung des Programms des Buches, bleibt dem nächsten Kapitel vorbehalten.

314 So auch Gottwald (1993), 168. 315 Man denke nur an die Entwicklung von der klagenden Frau Zion zum klagenden Kollektiv, oder die Entwicklung der Darstellung des göttlichen Gerichts von radikaler Lebensbedrohung zur Darstellung der Auswirkungen des göttlichen Zorns als verstetigte Not und Erniedrigung.

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Zweiter Zugriff: Die Programmatik des Buches der Klagelieder

In Kap. 4 wurde gezeigt, dass das Buch der Klgl ein planvolles Arrangement von Einzeltexten ist. Der bewussten Offenheit des Begriffes Arrangement ist es geschuldet, dass damit noch nicht allzu viel gesagt ist. Ob es sich um eine eher formal-sortierende Anordnung handelt, oder ob durch die Textabfolge eine umfassendere inhaltlich-theologische Aussage getätigt wird, ist durch das Aufzählen von Stichwortbezügen und allgemeineren formalen Kriterien nicht erweisbar. Der Beantwortung dieser Frage widmet sich das vorliegende Kapitel. Insbesondere der in der Forschung viel zu wenig beachtete dramatische Charakter der Lieder wird dabei ausführlicher untersucht. Zusammen mit einer Vielzahl motivischer Bezüge ist insbesondere er es, der auf inhaltlicher Ebene den Eindruck einzeltextübergreifender Kohärenz erzeugt. Mittels eines buchübergreifenden thematischen Vergleiches wird eine Interpretationsthese für das Buch entwickelt, die dann im folgenden Kapitel am Text überprüft werden wird.

5.1

Die dramatische Dimension der Klagelieder

Überlegungen, die Klgl in die Nähe des Dramas zu rücken, gehen bis ins 18. Jahrhundert zurück.316 Zenner unternahm dann Anfang des 20. Jahrhunderts den ersten ausführlichen Versuch einer dramatischen Deutung der Klgl,317 der von Wiesmann aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Bei Wiesmann finden sich schon Überlegungen zum fehlenden Nebentext,318 zur Spezifik dramatischer Texte als Figurenrede ohne Erzählerfiktion,319 zur Differenz von Sprecher und Dichter,320 sowie der Einsicht, dass die Klassifikation der Klgl als dramatische 316 317 318 319 320

Vgl. Wiesmann (1929b), 390f. für einen Überblick. Zenner (1905). Wiesmann (1929b), 381f. Ebd., 385f. Ebd., 387.

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Zweiter Zugriff: Die Programmatik des Buches der Klagelieder

Texte zu keiner Aussage über etwaige Aufführungen verpflichtet.321 In der Differenziertheit des Problembewusstseins war er seiner Zeit deutlich voraus. Beide Arbeiten wurden zwar wenig rezipiert, jedoch gab die auffällige Dramaturgie der Stimmenwechsel in Klgl 1–2 immer wieder Anlass zu entsprechenden Überlegungen.322 So hat Berges vor einiger Zeit vorgeschlagen, dramentheoretische Kategorien heranzuziehen, um »die teilweise abrupten Sprecherwechsel in Klgl 1 und 2 zwischen Dichter und Zion, sowie das Gefälle der ausgeprägten Zionsperspektive in den beiden ersten Liedern zu der einer Wir-Gruppe in den anderen Lieder zu erhellen«323. Auch der Wechsel von Klgl 2 zu Klgl 3 wurde häufiger als Persona-Wechsel im Sinne einer dramaturgischen Strategie beschrieben.324 Die Klgl mit Kategorien der Dramentheorie zu analysieren, ist also keine gänzlich neue Idee. Sie findet auch darin zusätzliche Stützung, dass zahlreichen Verbindungen zwischen den Klgl und der prophetischen Gerichtsverkündigung existieren,325 die Prophetentexte des AT ihrerseits wiederum teilweise Merkmale dramatischer Texte aufweisen.326 Bisher wurde allerdings noch nie versucht, eine konsequente Beschreibung der Klgl – oder zumindest von Teilen der Klgl – mittels dramenanalytischer Kategorien vorzunehmen und in den Kontext einer allgemeineren Interpretationsthese des Buches zu stellen. Vielmehr blieb die Rede von der »Dramatik« der Texte häufig eher intuitiv und ohne theoretische und methodische Prägnanz.327 Nachfolgend soll versucht werden, eine solche Analyse vorzulegen.

321 Ebd., 391. 322 Im Anschluss an Wiesmann war dann auch Rudolph (1962), 209 der Meinung, dass der Wechsel der Stimmen in Klgl 1 etwas »dramatisch Bewegtes« habe. Kraus (1983), 13 vermutete, »daß die Threni in den Trümmern der heiligen Stätte gesungen und aufgeführt worden sind.« Eingehendere neuere Studien, die das Niveau der Untersuchung Wiesmanns erreichen, blieben hingegen aus. 323 Berges (2004b), 235. Zudem verortet er insbesondere Klgl 3 in den Kontext nachexilischer Rollen- und Problemdichtung: Berges (2000), Berges (2004b), vgl. auch van Oorschot (1994). 324 Lanahan (1974), Bakke Kaiser (1987), Mintz (1982). 325 Man denke nur an die aus der prophetischen Unheilsansage stammende Metapher der ‫( בת־ציון‬Wischnowsky [2001], 266–270), sowie die Anlage der Lieder als (Toten-)Klage, die ebenfalls in der prophetischen Tradition verwurzelt ist – vgl. Am 5,16–18; Mi 2,4 (Berges [2002], 51). Ein Großteil der in den Klgl verwendeten Metaphorik ist zudem in der prophetischen Unheilsansage beheimatet (vgl. Boase [2006]). 326 Utzschneider (1999), 41–56 bietet einen Überblick über die Versuche, alttestamentliche Prophetie mittels dramatischer Kategorien zu beschreiben. 327 So z. B. Heim (1999), 168. Zwar beschreibt er die Klgl als »dramatic dialogue«, der durch »characters« präsentiert wird, geht jedoch in dramentheoretischer Hinsicht nicht weiter in die Tiefe.

Die dramatische Dimension der Klagelieder

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5.1.1 Das Drama als Gattung Die in der Literatur auch heute noch herangezogene Gattungsbestimmung des Dramas geht auf Aristoteles zurück und weist für das Drama sechs Merkmale aus: Mythos (Handlung), Ethe (Charaktere), Lexis (Sprache), Diánoia (Gedanke/ Absicht), Opsis (Schau, Szenerie) und Melopoiía (Gesang, Musik). Da Ethe und Diánoia als Bestandteil von Mythos begriffen werden können, und Melopoiía in neuerer Zeit in den meisten Dramen wegfällt, bleiben in aktuellen Handbüchern zur Dramenanalyse Mythos, Lexis und Opsis, also eine durch Figurenrede vermittelte, szenisch dargestellte Handlung, als die bestimmenden Merkmale des Dramas übrig.328 Sucht man vor diesem Hintergrund nach dramatischen Elementen in den Klgl, muss man sich der damit einhergehenden Konsequenzen und Rahmenbedingungen, aber auch Begrenzungen des Fragehorizontes bewusst sein. Vier Punkte seien angedeutet: (1) Zum einen ist beim Drama – insbesondere beim Dramentext – die kreative Mitwirkung der Rezipient*innen beim Nachvollzug der vom Dichter intendierten Botschaft besonders wichtig.329 Natürlich ist auch jeder epische oder lyrische Text darauf angewiesen, dass der/die Leser*in »mitdenkt«, jedoch kommt dieser Mitwirkung beim Drama wegen der Sparsamkeit, mit der durch Nebentexte rezeptionssteuernde Informationen vermittelt werden können, eine besonders hervorgehobene Stellung zu.330 »In der Terminologie der Rezeptionsästhetik formuliert: Texte des dramatischen Genres haben eine andere und komplexere Strategie, mit Leerstellen und Unbestimmtheiten die Rezeption nicht nur zu steuern, sondern auch freizugeben«.331 Die durch die Rezipient*innen zu leistende Rekonstruktion umfasst dabei alle drei der oben angesprochenen Dramenmerkmale: Sie müssen die Lexis entschlüsseln: Wer spricht mit wem? Wer reagiert? Finden parallele Gespräche statt? Die Opsis muss konstruiert werden: 328 Asmuth (2009), 3f., ähnlich Nitsche (2006), 42–47. Schößler et al. (2012), 1–7 kommt im Kern zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn sie das Drama durch die Gegensätze »Bericht vs. Darstellung«, »Inneres vs. Äußeres Kommunikationssystem« und »Neben- vs. Haupttext« eingrenzt. Drama ist nach dieser Einordnung das, was dargestellt wird, klar zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem trennt (d. h. über keine vermittelnde Erzählerfiktion verfügt), sowie eine klare Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebentext aufweist. 329 Nitsche (2006), 47f. 330 Zur Unterscheidung von Haupt- und Nebentext vgl. Schößler et al. (2012), 2–7. Der Nebentext umfasst sämtliche Textinformationen jenseits der direkten Figurenrede. Üblicherweise sind dies Regieanleitungen, Szenenbeschreibungen, Personenverzeichnisse, Akt- und Szenemarkierungen, das Kennzeichnen des jeweilige Sprechenden, Überschriften usw. Nebentexte übernehmen damit teilweise die Funktion, die der Erzähler in einem epischen Werk hat. 331 Nitsche (2006), 47f.

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Wo spielt sich das Geschehen ab? Welche Ort- und Zeitveränderungen sind deutlich? Gibt es Figuren, die zwar anwesend sind, sich jedoch nicht äußern? Gibt es Geräusche, Gerüche, Wetterphänomene usw., die die Szene mitbestimmen? Letztlich muss aus Lexis und Opsis der Mythos, d. h. der Plot, rekonstruiert werden. Kurz: Das vom Dramentext geforderte Maß an »Mitarbeit« übersteigt das einer Erzählung bei weitem.332 Dies bedeutet aber auch: Die Leser*innen gehen von vornherein mit der Erwartung inhaltlicher Unterbestimmtheit an die Rezeption eines Dramentextes heran. Um einen Dramentext mit Gewinn lesen zu können, muss man gewillt sein, die im Genre begründete größere Offenheit des Textes für alternative Zuschreibungen und Interpretation als feature anzuerkennen und zu nutzen. Dramentexte sind damit in gewisser Weise gerade wegen ihrer größeren Offenheit »robuster« gegenüber scheinbaren inhaltlichen Brüchen und Spannungen. (2) Dies gilt insbesondere, weil in einem dramatischen Text ohne Nebentext das Personeninventar und die jeweilige Dialogkonstellation ausschließlich aus textinternen Signalen erschlossen werden kann. Dass dies keinesfalls zu völliger Beliebigkeit führt, hat Nitsche überzeugend demonstriert.333 An seine Grenzen stößt dieses Verfahren allerdings dort, wo mehrere Figuren ähnlicher Wesensstruktur bzw. mit ähnlicher inhaltlicher Agenda auftreten.334 Hier besteht die Gefahr, dass aus dem Text erhobene Figurenzuweisungen zunehmend hypothetischer werden und somit die Plausibilität der Gesamtthese gefährden. Am Beispiel der Klgl: Während Konsens darüber besteht, dass Klgl 1,9c.11c von Zion gesprochen wird, ist die Zuschreibung von Klgl 1,15c an den Sprecher kontrovers.335 Ebenfalls sehr hypothetisch ist es, Klgl 3,34–38 dem Sprecher von Klgl 1–2 bzw. der Wir-Gruppe zuzuschreiben.336 Dass in Klgl 4,13–16 erneut der Mann aus Klgl 3 das Wort ergreifen soll, wie Wiesmann es vorschlägt, bleibt eine Einzelmeinung.337 Derartige Vorschläge deuten die möglichen Probleme an, die sich durch fehlende Nebentexte ergeben können. (3) Die Figuren werden zum Dreh- und Angelpunkt der Textkohärenz. Eine Dramenaufführung unterliegt Zeit- und Ortsbeschränkungen, Szenenwechsel können nur in begrenztem Umfang bühnenbildnerisch umgesetzt werden, die Möglichkeiten, durch Nebentexte die Vorstellungskraft zu lenken, sind stark 332 333 334 335 336

Asmuth (2009), 60. Nitsche (2006), 61–66. Nitsche (2006), 65. De facto findet sie sich nur bei Marcus (1986). So Zenner (1905), 25 (Sprecher), bzw. Wiesmann (1929b), 422 (Wir-Gruppe). Sicherlich liegt die ausbleibende Rezeption der Arbeiten Zenners und Wiesmanns auch in ihren jeweiligen Figuren- bzw. Dialogverteilungen, die insbesondere in Klgl 3–5 zunehmend hypothetisch werden. 337 Wiesmann (1929b), 425.

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begrenzt, es gibt Personal- und Requisitenbeschränkungen usw. Hinzu kommt die Anlage eines Dramas als Figurenrede und das damit verbundene Fehlen einer Erzählinstanz. Insbesondere durch sie ist es in narrativen Texten möglich, mehrere Handlungsstränge zu verflechten, zeitgeschichtliche Einordnungen, Stadt- oder Naturbeschreibungen, Exkurse usw. in eine übergreifende Handlung zu integrieren. Ohne diese Instanz sind die darstellerischen Mittel eingeschränkter, was dazu führt, dass Handlung vorrangig als Personenhandeln und Plot in aller Regel als Ausagieren von Personenkonflikten inszeniert wird.338 Dies hat zur Folge, dass sich auch die Kohärenzbemühungen der Hörer*innen primär an den handelnden Figuren orientieren. Positiv bedeutet dies, dass klar gezeichnete Figuren gleichsam als »Kohärenzmagneten« fungieren – sie regen dazu an, die Redeabfolge als dramatisch sinnvoll verstehen zu wollen. Negativ bedeutet es aber auch, dass das Kohärenzbestreben der Rezipient*innen häufig dann misslingt, wenn bestimmte Äußerungen den handelnden Figuren nicht mehr sinnvoll zugeschrieben werden können.339 (4) Zuweilen wird eingewendet, dass Belege für tatsächliche Inszenierungen dramatischer Texte erst aus der hellenistisch-römischer Zeit datieren. Ob die Klgl je Vorlage einer tatsächlichen Aufführung waren oder sein sollten, ist höchst zweifelhaft.340 Abgesehen davon, dass die These einer tatsächlichen Theateraufführung der Klgl in jedem Fall viel zu stark wäre, liegt der Fokus im Folgenden daher bewusst auf den Parallelen des Textes der Klgl zu Dramentexten; die Fragestellung lautet: Sind die Texte (aller oder einiger) der Klgl nach den Gestaltungsregeln des dramatischen Genres produziert?341 Eine positive Antwort

338 Schößler et al. (2012), 53. Beispielsweise wird die abstrakte Idee religiöser Toleranz in einem dramatischen Text wie Nathan der Weise eben nicht als argumentatives Streitgespräch inszeniert, sondern in Personenbeziehungen und -konflikte übersetzt und durch die Interaktionen der einzelnen Figuren dargestellt. 339 Das Hld ist hierfür ein gutes Beispiel: Während einerseits die Präsenz handelnder Figuren sowie die Anlage als Figurenrede Kohärenzbestrebungen fördert, machen es die vielen inhaltlichen Brüche und Leerstellen wiederum schwierig, die einzelnen Äußerungen sinnvoll dem vorhandenen Figureninventar zuzuschreiben. Der Text evoziert ein dramatisches Setting, das jedoch nie konkrete Gestalt annimmt. Die historisch-kritische Exegese, die diese inhaltlichen Brüche zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nimmt, dokumentiert in diesem Sinne nichts anderes als die Konsequenz eines stetig misslingenden Kohärenzbestrebens. 340 Dies stellt allerdings kein Argument gegen die Anwendung dramenanalytischer Kategorien dar. Nach Utzschneider (2007a), 296–298 weisen dramatische Texte ganz unterschiedlichen Ursprungs trotzdem eine »Familienähnlichkeit« auf, die primär in der Anlage des Textes als Figurenrede und der Anordnung in Auftritte und Szenen begründet liegt. Die Texte »enthalten eine zunächst rein literarisch realisierte Anschaulichkeit«, die »der Performanz auf einer Bühne nicht unbedingt bedarf, sondern auch vor der inneren Bühne der Imagination hinreichenden Entfaltungsraum hat.« (ebd., 12) 341 In Aufnahme der Formulierung von Nitsche (2006), 40.

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auf diese Frage bedingt nicht automatisch die Existenz einer biblischen Aufführungspraxis dramatischer Texte. Umgekehrt sind die Erkenntnisse einer Dramenanalyse allerdings auch nicht erst dann relevant, wenn konkrete Theateraufführungen zur Zeit der Textabfassung nahegelegt werden können: Wenn man davon ausgeht, dass eine Grundkompetenz menschlichen Kommunizierens darin besteht, Textsorten und Gattungen erkennen und »textgerecht« rezipieren zu können,342 ist anzunehmen, dass die dramentypischen Elemente der Texte nicht erst heutigen Leser*innen auffallen (unabhängig von der zu ihrer Analyse benutzten Beschreibungssprache) und damit auch schon in antiker Zeit ihre kohärenzstiftende Wirkung erzielten. Kurz: Man darf davon ausgehen, dass dramatische Texte auch ohne die Praxis konkreter Theateraufführungen »genreadäquat« rezipiert wurden. Daraus ergibt sich die Relevanz dramentypischer Elemente der Klgl für die Exegese der Lieder bzw. des Buches.

5.1.2 Dramatische Elemente in den Klgl – ein Überblick 5.1.2.1 Lexis – Figurenrede Die offensichtlichste Ähnlichkeit zwischen einem Dramentext und den Klgl besteht in der Anlage der Lieder als Figurenrede. Klgl 1–2 sind vom Wechsel zwischen Sprecher und Zion bestimmt, Klgl 3 vom Bericht des Mannes. Auch in Klgl 4 kann man von einem Sprecher reden, wenngleich seine Figürlichkeit (die sich z. B. durch Selbstbeschreibungen oder direkte Interaktionen mit anderen Figuren manifestiert) zurückgenommen ist. In Klgl 3,40–47, 4,17–20 und schließlich in Klgl 5 kommt jeweils ein Kollektiv zu Wort, was zumindest vordergründig an die Chorpartien des antiken Dramas erinnert. Zu diesen plurimedial343 präsenten Figuren treten weitere hinzu, die nur sprachlich präsent sind: Ganz prominent hier natürlich die Feinde in ihren verschiedenen Bezeichnungen (,‫ רדף‬,‫ אויב‬,‫צר‬ ‫ נכרי‬,‫ זר‬,‫)עבד‬, daneben JHWH selbst, sowie auch die in Klgl 1,12; 2,15f. angesprochenen bzw. erwähnten ‫עברי דרך‬.344 Schließlich wären noch die von Zion in Klgl 1,18 adressierten ‫ כל־עמים‬und die vom Sprecher in Klgl 4,12 erwähnten ‫ מלכי־ארץ‬Könige der Erde zu nennen. 342 Utzschneider (2007b), 269. 343 Vgl. zur Unterscheidung zwischen sprachlicher vs. plurimedialer Präsenz: Pfister (2001), 24f.: »Der dramatische Text als ein »aufgeführter« Text bedient sich, im Gegensatz zu rein literarischen Texten, nicht nur sprachlicher, sondern auch außersprachlich-akustischer und optischer Codes: er ist ein synästhetischer Text.« 344 Ein direktes Zitat JHWHs findet sich in Klgl 3,57; die Feinde werden in Klgl 2,16 zitiert und die ‫ עברי דרך‬im vorangehenden Klgl 2,15.

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Die Anlage als Figurenrede spiegelt sich auch auf der syntaktischen Ebene wieder: Nur sehr vereinzelt finden sich die für narrative Texte charakteristischen Narrative.345 Erzählende, »epische« Passagen, die zweifellos vorhanden sind, sind gleichfalls als Figurenrede gefasst, nicht unähnlich der berichteten bzw. verdeckten Handlung im Drama.346 Hier ist zum einen an die erste Sektion von Klgl 2 zu denken, aber auch an die beschreibenden Passagen von Klgl 1 (z. B. V 6– 9.10ab). Und wenn in Klgl 4,17b vom ruhelosen Spähen auf den Warten der Stadt berichtet wird (‫ בצפיתנו צפינו אל־גוי לא יושע‬Von unserer Warte aus spähten wir nach einem Volk, das nicht hilft.),347 fühlt man sich an das Mittel der Teichoskopie erinnert, durch die eine im Drama nicht szenisch dargestellte Handlung narrativ vermittelt werden kann.348 Klar erkennbare Nebentexte sind demgegenüber nicht vorhanden, wenngleich fraglich ist, inwiefern antike Dramen überhaupt über Nebentexte verfügten.349 Zudem wirken einige Gliederungssignale, wie der akrostichische Aufbau oder der wiederholte Einsatz mit ‫ איכה‬in einer Weise strukturierend, die an Szenenunterteilungen erinnern.350 Weiter oben wurde gesagt, dass Dramen in aller Regel von Figurenkonflikten bestimmt sind. Hierfür ist Zweierlei notwendig: (1) Die auftretenden Figuren müssen verschiedene Ziele und Interessen verfolgen, die ggf. nur indirekt aus der dargestellten Handlung bzw. der geäußerten Rede erschlossen werden können.351 (2) Zumindest einige der handelnden Figuren müssen eine innere Entwicklung zu erkennen geben – nur so ist inhaltlicher Fortschritt darstellbar. Beide Bedingungen sind in den Klgl offensichtlich erfüllt. Dass der Mann aus Klgl 3 eine andere Sicht der Dinge hat, als etwa Zion, ist offensichtlich. Doch auch zwischen Sprecher und Zion herrscht keineswegs Einmütigkeit, wie insbesondere für Zion im Kontext der feministischen Exegese immer deutlicher gesehen 345 In Klgl 2 finden sich zehn (V 2c.4b.5c.6ac.8c.14c.15b.16bc), in Klgl 1 gar nur fünf (V 6ac.8c.9b. 13a) Narrative. Auch in Klgl 3 treten sie nur vereinzelt auf (V 2.3.5.11.12.16.17.18.33.37.43.53). Bemerkenswert hier zudem der Schwerpunkt in der ersten Sektion. In Klgl 4 findet man sie nur in V 6a.11b[bis], in Klgl 5 überhaupt nicht. 346 Asmuth (2009), 109: »Die Staffelung in gespielte und berichtete Handlung erklärt sich aus dem Bühnencharakter des Dramas. Die begrenzte Spielzeit reicht nicht aus, um alles Handlungswichtige in Szene zu setzen.« 347 Zu ‫ צפה‬vgl. Steins (1989). 348 Asmuth (2009), 110. Zu Teichoskopie im AT vgl. Nitsche (2006), 123–130. 349 Hierzu Lowe (1962); Nitsche (2006), 52–54. 350 Dass BHS das einleitende ‫ איכה‬in Klgl 1; 2; 4 als Anakrusis auffasst, illustriert die Doppelfunktion als Beginn der ‫א‬-Strophe und als metatextliches Gliederungssignal. 351 Auch hier sind die Klgl sehr viel näher am Drama als einer Erzählung angesiedelt: Die inneren Zustände, Ziele und Interessen der Figuren eines narrativen Textes werden in aller Regel durch den Erzähler mitgeteilt; sind sie nicht erwähnt, bleiben sie ohne Konsequenzen. Im Drama hingegen, wo die vermittelnde und strukturierende Funktion des Erzählers fehlt, müssen diese Informationen aus der Figurenrede selbst erhoben werden – und bleiben dadurch zu einem gewissen Grad mehrdeutig.

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wird.352 Auch der Sprecher ist mitnichten der »objektive« Beobachter, als der er in der Kommentarliteratur häufig beschrieben wird.353 Wie Zion meldet auch der Sprecher in Klgl 1,10 leise Kritik am Ausmaß des göttlichen Gerichts an. Zugleich ist seine Darstellung des Leidens Zions insbesondere in Klgl 1,8–10 von einer voyeuristisch-sexuellen Penetranz, die nicht mehr als reine Deskription fungiert, sondern ideologisch geprägt ist.354 In Klgl 2 gibt der Sprecher dann klar seine Solidarität mit Zion zu erkennen. Eine innere Entwicklung ist am Beispiel des Mannes am deutlichsten erkennbar – der Wandel vom klagenden Individuum von Klgl 3,1–18 zur Vertrauensäußerung der V 52–66 ist so deutlich, dass zuweilen gar mit zwei Autoren gerechnet wurde.355 Dies übersieht jedoch die sorgfältig nachgezeichnete innere conversio, die der Mann im Laufe des Liedes vollzieht. Ähnlich ließe sich auch die Entwicklung Zions von schluchzend-seufzender Klage in Klgl 1,1–8 über erste Klagerufe (Klgl 1,9c.11c) zu klagender Rede (Klgl 1,12–16.18–22) und schließlich zu anklagender Opposition (Klgl 2,20–22) anführen. Auch der Sprecher behält seine anfängliche Haltung, die an Gottes Handeln wenig, an Zions Schmerz gar nichts auszusetzen hat, im weiteren Verlauf der Darstellung nicht bei, sondern nimmt eine zunehmend solidarische Haltung Zion gegenüber ein. Die beiden vorgenannten Elemente sind Konsequenz dessen, dass die Figuren eines Dramas häufig als Verkörperung von Handlungsfunktionen auftreten, die zur Darstellung der Handlung besetzt werden müssen.356 Hier ist insbesondere an den Mann zu denken. Eine der klassischen Kontroversen der Klgl-Exegese dreht sich um die Identität des Mannes aus Klgl 3. Das Konzept der Handlungsfunktionen hilft hier weiter: Die Identität des Mannes ist bestimmt – und zwar durch seine Funktion in der Dramaturgie von Klgl 1–3. Das Fehlen individuierender Elemente kann als Ergebnis bewusster Gestaltung begriffen werden: Die Aufmerksamkeit wird auf das gelenkt, was der Mann im Anschluss an Zions Anklage 352 Miller (2001), 397–401. 353 Teils wird überhaupt kein Unterschied zwischen der Figur des Sprechers und dem Autor selbst gemacht: so z. B. Kaiser (1992), Groß et al. (1986) oder Boecker (1985). 354 Grundlegend hierzu Guest (1999). Dass die Verse Ideologie betreiben, wird am deutlichsten, wenn man die Auslegung insbesondere älterer Kommentare z.St. betrachtet, in denen ausschließlich die Frau für ihre Vergewaltigung und sexuelle Erniedrigung verantwortlich gemacht wird – ein klassischer Fall von blaming the victim. Ein sehr deutliches Beispiel ist Ellison (1985), 705: »[H]ere she is compared to a debased, slatternly harlot, shamelessly exposing her nakedness and indifferent to the marks of menstrual blood – ›filthiness‹ – on her garments.« 355 Kraus (1983), 57, Häusl (1998), 273. 356 Asmuth (2009), 99–101. Pfister (2001), 232 meint das gleiche, wenn er von »Figurenkonstellationen als dynamischen Interaktionsstrukturen« spricht. Die einfachsten funktionalen Einteilungen dieser Art wäre z. B. eine Unterscheidung in Held, Helfer und Widersacher, die in den meisten Dramen realisiert sind. Komplexere Modelle, wie das von Souriau (1950) vorgeschlagene, sehen insgesamt sechs Funktionen vor.

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an Neuem in den Diskurs einbringt; jegliche weitergehende Individuation würde nur vom Eigentlichen ablenken. 5.1.2.2 Opsis – Rollenspiel Der eigentliche Ort des Dramas ist die Bühne; ein Drama will gespielt werden. Der Dramentext enthält »eine zunächst rein literarisch realisierte Anschaulichkeit«357. Vor dem inneren Auge wird eine Szenerie heraufbeschworen, die anschließend »bespielt« werden kann. Auch in dieser Hinsicht gibt es Parallelen zwischen »klassischen« Dramentexten und den Klgl. Zum einen sei auf die bisweilen geradezu überwältigende Plastizität der Bilder verwiesen, die in Klgl 2 die ungeheure Wucht und das Ausmaß des göttlichen Gerichts und in Klgl 4 das entmenschlichende Leiden, das durch die Belagerung Jerusalems ausgelöst wurde, illustrieren. Zuweilen kann man hier geradezu von einer »Wortkulisse«358 sprechen, etwa, wenn in Klgl 2,1–9 in einer unablässigen Folge von kurzen, selten die Länge eines Bikolons überschreitenden Eindrücken, das Bild des göttlichen Gerichts den Leser*innen förmlich eingehämmert wird. Der Effekt wird verstärkt, indem primär visuell wirkende Metaphern wie die des göttlichen Zornes als alles verschlingendes Feuer verwendet werden.359 In ähnlicher Weise verstärkt die auffällige Häufung von Farbadjektiven in Klgl 4 den visuellen Eindruck des Leidens.360 Neben der visuellen Ebene trägt sowohl das Bild des glühenden Zornes Gottes, das Klgl 2,1–9 dominiert, als auch das Motiv der sengenden Hitze in Klgl 4,4.8.11 dazu bei, gleichsam eine vollständige sensorische Kulisse zu errichten. Hinzu kommen Textsignale, die die Plastizität der Figuren weiter profilieren. So enthalten die jeweiligen Reden der Figuren Selbst- und Fremdbeschreibungen, die nicht nur konkrete Handlungen sondern auch ihren jeweiligen Gemütszustand zum Gegenstand haben.361 Im Drama werden diese als indirekte Regieanweisungen bezeichnet,362 d. h. in der Figurenrede enthaltene Hinweise zur szenischen Darstellung des Geschehens, die es dem Autor ermöglichen, auch ohne Nebentext Szenenabläufe zu dirigieren. Wenn z. B. der Sprecher in Klgl 2,11 klagt: Vor Tränen versagen mir meine Augen, es glühen meine Eingeweide … ist

357 358 359 360 361

Utzschneider (2007b), 296. Pfister (2001), 351. Hierzu Labahn (2006). Diesen Aspekt hebt Gous (2005), 229f. in anderem Kontext hervor. So z. B. für den Sprecher: Klgl 1,1a.2a.8c.17a; 2,11ab.18a; für Zion: Klgl 1,13c.16a.20ab.22c; für den Mann: Klgl 3,19f.49–51.63. 362 Asmuth (2009), 51.

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dies textpragmatisch neben der Aussage über das persönliche Empfinden des Sprechers auch ein Hinweis auf die szenische Darstellung.363 Auch die häufigen Wiederholungen (sowohl wörtlicher wie auch motivischer Art), die bei einer linearen Interpretation der Lieder häufig zu Ratlosigkeit führen, lassen sich im Kontext einer dramatischen Interpretation als genrespezifisches Proprium begreifen: Das gesprochene Wort einer Aufführung ist sehr viel störanfälliger als ein fixierter Text: Undeutliches Sprechen, Störgeräusche der Aufführung, die Entfernung zwischen Bühne und Publikum bedrohen fortwährend die Nachvollziehbarkeit des Dargestellten und müssen ausgeglichen werden. Häufig werden in dramatischen Texten dafür Redundanzen eingebaut.364 Das Klgl 1 refrainartig durchziehende Motiv des fehlenden Trösters (Klgl 1,2.9. 16.17.21), die wiederkehrenden Hinweise auf das eigene Weinen (Klgl 1,2.16; 2,11. 16.18; 3,48–51; 5,17), aber auch das wiederholte Aufgreifen schon verwendeter Metaphorik können vor diesem Hintergrund als bewusste »Kommunikationsstabilisatoren« begriffen werden. Schließlich trägt, insbesondere in Klgl 1 und 2, die auffällige Zeitstruktur zum dramatischen Eindruck der Lieder bei. »A play is what takes place. A novel is what one person tells us took place.«365 Anders als narrative Texte sind Dramentexte vorrangig im Präsens formuliert; präteritale Passagen dienen zumeist dazu, für das Verständnis notwendige Hintergrundinformationen zu vermitteln (etwa im Prolog) oder Handlung zusammenzufassen, die nicht szenisch dargestellt wird.366 Insbesondere ist dabei das Verhältnis von realer Spielzeit (»die Darstellung«) und fiktiver gespielter Zeit (»das Dargestellte«) von Interesse.367 Während beide z. B. bei einer Dialogszene weitgehend deckungsgleich fortschreiten, kommt es bei Monologen, Rück- oder Vorausblicken usw. zu Verschiebungen: Die Spielzeit geht weiter, während die gespielte Zeit still steht. 363 Das Phänomen indirekter Regieanweisungen ist insbesondere für ältere Dramen, die häufig vollständig ohne erklärende Nebentexte auskommen mussten, von Bedeutung. Hier kann dann selbst das eigene Sterben noch dramaturgisch kommentiert werden, etwa wenn Polonius, von Hamlet durch die Tapete hindurch erdolcht, sagt: »O, I am slain!« 364 Asmuth (2009), 66–68. Die gefährdete Kommunikationssituation wird dabei gerade in Komödien auch selbst als humoristisches Motiv verwendet, indem Doppeldeutigkeiten oder akustische Missverständnisse in die Handlung integriert werden. 365 Wilder (2001), 114. 366 Pfister (2001), 112–120. Bekanntlich verfügt das biblische Hebräisch nicht über »klassische« Zeitformen, so dass bei Übersetzung und Interpretation jeweils ein gewisser Spielraum besteht. Jedoch ist unstrittig, dass es in den Liedern Tempuswechsel gibt – und sie können als ein erster Anhaltspunkt für weitere Untersuchungen dienen 367 Pfister (2001), 361–365 unterscheidet zwischen Sukzessivität und Simultaneität. Während ersteres die Abfolge der Handlung analysiert (sowohl auf der Ebene der Spielzeit wie auch der gespielten Zeit), geht es bei letzterem um die verschiedenen Arten, wie Vorgänge und Zustände der Handlung gleichzeitig präsentiert werden können (z. B. mittels akustischer Signale aus dem off, während auf der Bühne ein Dialog stattfindet).

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Ein ganz ähnliches Phänomen ist in den Klgl zu beobachten. Auch hier findet sich ein auffälliger Wechsel zwischen präsentischen und präteritalen Passagen, und eine Differenzierung zwischen Spielzeit und gespielter Zeit ist zumindest für die Analyse hilfreich.368 Die Zeitebene der gespielten Zeit (»das Bühnengeschehen«) wäre in erster Linie durch die präsentischen Passagen gekennzeichnet. Hier wären z. B. die direkte Anrede des Sprechers an Zion (Klgl 2,11–13.18f.) zu verorten, oder auch die wiederkehrenden Aufforderungen Zions (Klgl 1,9c.11c. 12a.18b.20a.21–22; 2,20a). Dazwischen finden sich z. T. recht ausführliche Rückblicke und von den Figuren vermittelte Hintergrundinformationen, die in der Vergangenheit spielen (so z. B. der Bericht des Sprechers über das göttliche Gerichtshandeln in Klgl 2,1b–9). Inwiefern diese ebenfalls auf der Zeitebene der gespielten Zeit anzusiedeln sind, ist nicht in jedem Fall offensichtlich.369 Hier besteht die Gefahr, Differenzierungen überzustrapazieren. So kann natürlich auch ein innerer Monolog, der überhaupt nicht Teil der gespielten Zeit ist, im Präsens oder Futur stehen; andererseits sind zum Vorverständnis notwendige Rückblicke dramaturgisch häufig in Dialoge zwischen handelnden Figuren integriert und somit Teil der gespielten Zeit. Trotzdem ist die Terminologie hilfreich, da sie das Bewusstsein für die dramaturgischen Möglichkeiten schärft, die Zeitstruktur eines Dramentextes zu beeinflussen. So ist in jedem Fall festzuhalten, dass der prägnante Wechsel zwischen einer präsentischen und einer präteritalen Zeitebene die dramatische Prägnanz des Textes fördert.

5.1.2.3 Mythos – Plot Das dritte wichtige Merkmal des Dramas ist das Vorhandensein eines Plots. Der Begriff ist dabei weiter zu fassen als die aristotelische Kategorie Mythos. Nach Pfister enthält ein Plot, eine Geschichte, drei Elemente: »Wir wollen »Geschichte« hier ganz formal und offen bestimmen, indem wir für eine Geschichte das Vorhandensein dreier Elemente fordern – eines oder mehrerer 368 Dass man hier im Einzelnen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, ist unbenommen. Wegen der zeitlichen Unterbestimmtheit der Konjugationen des biblischen Hebräisch ist die Faustformel, AK präterital, PK hingegen präsentisch oder modal zu übersetzen, eben nur eine Faustformel. Beispielsweise wird das AK von ‫ ישב‬in Klgl 1,1a: ‫ישבה בדד‬ ‫ העיר‬wie sitzt vereinsamt die Stadt regelmäßig präsentisch übersetzt, während das PK von ‫ שרג‬in Klgl 1,14a ‫ ישתרגו עלו על־צוארי‬sie stiegen auf meinen Nacken zumeist präterital wiedergegeben wird. Es ließen sich weitere Beispiele anführen. 369 So wäre im Falle von Klgl 1,12–15 wohl davon auszugehen, dass der auf die Aufforderung an die ‫ עברי דרך‬folgende Bericht trotz rückwärts gerichteten Blickes vollständig Teil der gespielten Zeit ist. Anders sieht es mit der Rede des Sprechers in Klgl 2,1–9 aus. Hier wäre es in dramaturgischer Hinsicht durchaus denkbar, dass die Reaktion des Sprechers auf Zions Rede in Klgl 1,20–22 vollständig als innerer Monolog stattfindet, und erst ab Klgl 2,11 wieder die gespielte Zeit einsetzt.

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menschlicher, bzw. anthropomorphisierter Subjekte, einer temporalen Dimension der Zeiterstreckung und einer spatialen Dimension der Raumausdehnung.«370

In der gegebenen Allgemeinheit ist für die Klgl ein Plot offensichtlich vorhanden. Handelnde Subjekte sind mit Sprecher, Zion, Mann und ggf. dem Kollektiv gegeben. Auf die auf mehreren Ebenen wirkende Zeitstruktur wurde schon hingewiesen. Die spatiale Dimension ist mit dem Fokus auf das historische Ereignis der Belagerung und Zerstörung Jerusalems ebenfalls gegeben. Allerdings ist damit nur eine Minimaldefinition erfüllt, die nicht viel weiterhilft, da ein derart definierter Plot prinzipiell auch nur aus einer einzigen Szene bestehen könnte. Es gibt jedoch einige weitere Elemente klassischer Dramenplots, die in ähnlicher Weise auch in den Klgl auftreten und den dramatischen Eindruck der Lieder mit befördern. Zum einen ist die Handlungsabfolge eines Dramas in aller Regel in einzelne Szenen unterteilt. Bestimmende Merkmale von Szenenwechseln sind sich ändernde Schauplätze oder auf- oder abtretende Figuren.371 Hier wäre insbesondere an den Übergang von Klgl 2 zu Klgl 3 zu denken: Das Figureninventar von Klgl 1–2 wird um eine Figur erweitert, die einerseits die gesamte Aufmerksamkeit für sich beansprucht, zugleich aber auch die bisherige Dynamik der Darstellung in eine völlig neue Richtung lenkt. Zu Beginn eines Dramas ist es fast immer notwendig, dem Publikum die für die dargestellte Handlung relevante Vorgeschichte mitzuteilen. Fand sich im antiken Drama hier häufig ein Prolog, in dem das für das Stück wichtige Vorwissen vermittelt wurde, ging in der Geschichte des Dramas die Tendenz hin zu einer handlungsinternen Exposition, die in der Regel Teil des ersten Aktes ist.372 Zum Ende der Exposition findet sich das sog. erregende Moment, eine entscheidende Handlung des bzw. der Protagonisten, die gleichsam als Aufhänger der folgenden Handlung dient.373 Hier wäre zwanglos an Klgl 1–2 als lang ausgebreitete Exposition, sowie Klgl 2,20–22 als erregendes Moment zu denken, das das Ende der Exposition und damit den Beginn der eigentlichen Handlung markiert. Bestimmende Figuren der Exposition wären demnach Zion und der Sprecher. Mit dem Auftreten des Mannes aus Klgl 3 begänne dann eine neue Szene bzw. würde die eigentliche inhaltliche Diskussion einsetzen.

370 Pfister (2001), 265. Zurecht bringt somit Utzschneider (1999), 33–36 für die alttestamentliche Prophetie auch liturgische Plots ins Spiel. 371 Schößler et al. (2012), 56. 372 Asmuth (2009), 102–109, Schößler et al. (2012), 57–59. 373 Asmuth (2009), 107.

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5.1.3 Dramatische Elemente in den Klgl – ein erstes Fazit Die bisherigen Beobachtungen machen deutlich, dass Kategorien der Dramenanalyse zur Beschreibung und Erklärung einer Reihe von Beobachtungen der Klgl gut geeignet sind: – Wie von Berges vermutet, sind Dramenkategorien geeignet, die Sprecher- und Perspektivenwechsel der Lieder zu beschreiben. Im Unterschied zu Begriffen wie personae oder speaking voices macht die Kategorie »Figurenrede« die Eigenständigkeit der jeweiligen Äußerungen deutlich: Es handelt sich nicht einfach um einen Dichter, der seine Ansichten mittels verschiedener Stimmen oder personae Ausdruck verleiht, sondern Figuren, die ihre je ganz eigene Sicht vermitteln. Zugleich erklärt die Unterscheidung von Haupt- und Nebentext, warum diese Redewechsel so unvermittelt geschehen. – Dramentheoretische Kategorien schärfen darüber hinaus auch den Blick für die figürliche, bzw. personale Eigenständigkeit von Sprecher, Zion, Mann und dem im weiteren Verlauf auftretenden Kollektiv. Sie lassen die Frage aufkommen, inwiefern die verschiedenen Figuren jeweils unterschiedlichen Ziele und Redeinteressen verfolgen und beugen der Gefahr harmonisierender Interpretationen der Äußerungen der verschiedenen Figuren vor. – Eine dramatische Interpretation ermöglicht es, das »Figureninventar« der Lieder auf einer einheitlichen konzeptionellen Ebene anzusiedeln. Während in bisherigen Kommentaren teilweise der (reale) Dichter die (fiktive) Frau Zion anspricht (etwa in Klgl 2,11–13), findet bei einer dramatischen Analyse der Dialog durchgehend zwischen dramatischen Figuren statt. Ähnliches gilt für den Übergang von Klgl 2 zu 3, wo in nicht wenigen Kommentaren der Mann als historische Einzelperson auf die Anklage der dramatischen Figur Frau Zion »antwortet«. – Die vordergründig verwunderliche Unbestimmtheit der Identität des Mannes erfährt mittels des Bezuges auf Handlungsfunktionen eine plausible Erklärung. – Der unvermittelte Wechsel zwischen Präsens und Präteritum lässt sich sinnvoll als Wechsel zwischen der Zeitebene des präsentischen Bühnengeschehens und dazwischen eingeschobener präteritaler Rückblicke erklären. – Schließlich bietet eine dramatische Deutung eine Erklärung für die vielen Wiederholungen und Dopplungen des Textes: Zum einen müssen dramatische Texte der spezifischen Kommunikationssituation einer Bühnenaufführung Rechnung tragen, zum anderen handelt es sich jeweils um Re-Interpretationen des Gesagten einer Figur durch eine andere. Zugleich sind aber auch die Grenzen einer dramentheoretischen Analyse schon jetzt absehbar:

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– Allgemein ist erkennbar, dass die deutlichsten Entsprechungen in Klgl 1–3 auftreten – wenig verwunderlich, wenn man die in diesen Liedern hervorgehobene Präsenz von Sprecher, Zion und Mann bedenkt. Inwiefern dramentheoretische Kategorien zur Beschreibung von Klgl 4–5 hilfreich sind, ist sehr viel weniger klar. – Zion und Sprecher dominieren die Darstellung von Klgl 1–2. In Klgl 4 sind beide als figurae dramatis nur noch sehr eingeschränkt präsent. In Klgl 5 sind sie nicht mehr aktiv. Sollte Kohärenz auf dramatischer Ebene gewahrt bleiben, müsste die von Zion und Sprecher in Gang gesetzte Argumentation durch andere figurae dramatis in Klgl 4–5 aufgenommen werden – dies ist allerdings nicht erkennbar (s. u.). – Von einem Plot im klassischen Sinne zu sprechen, fällt bei den Klgl schwer. Klgl 1–2 können zwar als zusammenhängende Szene einer Exposition aufgefasst werden, allerdings fehlt es an einer überzeugenden Weiterführung. Die von Utzschneider ins Spiel gebrachte Möglichkeit von alternativen Plotkonzeptionen (z. B. liturgischen Plots) hilft ebenfalls nicht weiter.

5.1.4 Die personae dramatis der Klgl Der erste Überblick lässt somit folgendes vorläufiges Fazit zu: Dramentheoretische Kategorien können erklären helfen, wie in Klgl 1–3 einzeltextübergreifende Kohärenz geschaffen wird. Es steht damit eine Beschreibungssprache zur Verfügung, mittels der die kohärenzstiftenden Elemente insbesondere der ersten Lieder gut zu fassen sind. Dies funktioniert allerdings nicht überall gleichermaßen gut. So erweisen sie sich nur begrenzt geeignet, Klgl 4–5 zu beschreiben. Zudem beschränken sich die Parallelen in erster Linie auf die Beschreibung der Lexis und Opsis, darin insbesondere der Figuren Sprecher, Zion und des Mannes aus Klgl 3. Dramatische Elemente sind somit ein Mittel, mit dem innerhalb der Klgl einzeltextübergreifende Kohärenz erzeugt wird, es ist allerdings nicht das einzige und ebenfalls nicht das Paradigma, dem sich sämtliche sonstige Aspekte unterzuordnen hätten. Trotzdem soll nochmals genauer nach den Figuren der Lieder gefragt werden, denn hier zeigt sich am deutlichsten, bis zu welchem Punkt und in welchem Maße dramatische Kategorien zur Beschreibung sinnvoll sind.

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5.1.4.1 Der Sprecher Während Zion in der Klgl-Literatur zumeist große Aufmerksamkeit erfährt, bleibt der Sprecher häufig unterbelichtet. War dies in der älteren Forschung noch mit der weitgehenden Identifizierung von Sprecher und Dichter erklärbar,374 so erstaunt die geringe Beachtung in der neueren Forschung hingegen. Nach dem bisher Gesagten muss gelten, dass der Sprecher eine dramatische Figur ist, die in der Dramaturgie des Buches eine wichtige Rolle spielt und nicht auf den Gegensatz »objektiver« Sprecher vs. »subjektive« Zion reduziert werden darf. Da die Figur des Sprechers die erste ist, die das Wort ergreift, muss ihre Rede neben der Darstellung ihrer eigenen inhaltlichen Position noch zwei weitere Funktionen erfüllen: (1) Sie muss das szenische Setting etablieren. Hier geht es um die räumliche und zeitliche Situierung der folgenden Darstellung, um das Vermitteln der für das Verständnis notwendigen Vorgeschichte und Hintergrundinformationen, der Skizzierung sonstiger handelnder Figuren usw. Zu diesem Zweck ist insbesondere auch die Etablierung der oben angesprochenen Zeitebenen notwendig. (2) Der Sprecher ist weiterhin notwendig, um die »doppelte Identität« Zions als Stadt und Frau einzuführen und zu festigen.375 Wenn Zion selbst das Wort ergreift, repräsentiert sie primär die personifizierte Seite ihrer Doppelnatur; ihre »städtische« Natur kann sie als Figur nur schwer selbst etablieren. Hierzu bedarf es der vorherigen Einführung. (3) Schließlich hat der Sprecher natürlich auch eine inhaltliche Botschaft, die er vermitteln will. 5.1.4.1.1 Szenisches Setting: Zeit und Raum »Raum und Zeit stellen zusammen mit der Figur und ihren sprachlichen und außersprachlichen Aktivitäten die konkreten Grundkategorien des dramatischen Textes dar.«376 Anders gesagt: Neben der Abfassung des Textes als Figurenrede ist es insbesondere die Differenzierung verschiedener Zeitebenen und die Präsentation des Raumes, die das spezifisch dramatische Setting eines Textes etablieren. Beide werden natürlich nicht nur in der Rede des Sprechers etabliert, allerdings kommt ihm, als erster auftretenden Figur, hierbei eine Schlüsselrolle zu. Seine Rede ist somit nicht nur illustrativ für die Art, mit der Raum und Zeit in

374 Wiesmann (1929b), 400 und vor ihm Zenner (1905), 9 gehen von einer Sprecherin aus, können hierfür allerdings keine überzeugenden Gründe nennen. 375 Es ist unbestritten, dass die Personifizierung Zions auf die altorientalische Tradition der personifizierenden Verehrung von Städten zurückgeht, somit zur Zeit der Abfassung der Klgl zum prophetischen Traditionsbestand gehörte (Wischnowsky [2001], 266–270). Trotzdem besteht die Notwendigkeit, die Frau als personifizierte Stadt im Text einzuführen. Das Vorhandensein der Idee bzw. des Konzepts der Frau Zion erübrigt nicht ihre textpragmatische Einführung in einem konkreten Kontext. 376 Pfister (2001), 327.

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den Liedern präsentiert wird, sondern ist auch insofern von Interesse, als in ihr das spezifisch dramatische Setting überhaupt erst etabliert wird. Zuerst zu Struktur und Präsentation der verschiedenen Zeitebenen: Zwar wird man hier angesichts der temporalen Mehrdeutigkeit hebräischer Verbformen nicht zu immer gleichen Ergebnissen kommen (gerade in den Klgl haben Perfekta häufiger auch präsentische Bedeutung, wie z. B. gleich in V 1a: ‫ישבה … העיר‬ »Die Stadt hat sich gesetzt und sitzt somit«377), zudem können auch präteritale Aussagen Bestandteil der gespielten Zeit sein, jedoch könnte eine Einteilung so aussehen, wie in Übersicht 8 dargestellt. Eine grobe Dreiteilung ist erkennbar: (1) Ab V 2 beginnt ein Abschnitt vorwiegend präsentischer Rede. (2) Mit V 5 folgt ein längerer Abschnitt, der vordringlich in der Vergangenheit spielt. (3) Der Bereich V 8–11 trägt wieder stärker präsentische Züge: Eine Reihe von präteritalen Einschüben dienen nur der Erklärung des Jetzt-Zustandes (z. B. V 8bβ.9aβ); zudem fehlen in der hiesigen Tabelle die präsentischen Einwürfe Zions aus V 9c.11c. Mit V 12 schließlich beginnt Zions eigene Rede, die in V 12ab erneut im Präsens einsetzt. Insbesondere am ersten Abschnitt lässt sich gut ablesen, wie durch den schnellen Wechsel von Präsens zu Präteritum, von der Perspektive der trauernden Frau zur einsamen Stadt, die dramatische Perspektive des Liedes, aber auch die Personifizierung Zions etabliert wird. Die erste Zeile setzt im Präsens ein – der Sprecher etabliert sich selbst auf der Bühne – und führt gleichzeitig mittels der Kombination von ‫ העיר‬und dem Verb ‫ ישב‬die doppelte Perspektive von Stadt und Person ein. Die folgenden beiden Zeilen halten die doppelte Perspektive Stadt–Frau aufrecht und führen zugleich die zweite Zeitebene ein. Sie knüpfen dabei an das ‫ בדד‬aus V 1a an und entwickeln es mit einem doppelten Vergleich weiter. V 2 und 3 fassen Zion fast vollständig als Figur, V 4 hingegen hat Zion als Stadt im Hintergrund – behält dabei aber die Tendenz der Personifizierung bei, indem die Wege Zions trauern (‫ )אבל‬und die Tore verstört (‫ )שמם‬sind: Jeweils wird einem topographischen Objekt ein negativer emotionaler Zustand zugeschrieben, und dies anschließend in der Beschreibung der Priester, Jungfrauen und Zions selbst weitergeführt. Mit V 5 beginnt der erste größere zusammenhängende Part vorwiegend präteritaler Rede. Inhaltlich geht es einerseits darum, die Begründung des derzeitigen Zustands Zions zu verdeutlichen: ‫ כי־יהוה הוגה על רב־פשעיה‬Denn JHWH hat sie betrübt wegen der Vielzahl ihrer Verbrechen. Hier wird explizit von »Verbrechen«, also einer »bewußten, gemeinschaftsschädigenden Entzweiung«378, gesprochen. Zum anderen dominieren Einst-Jetzt-Vergleiche, in denen die Not von Zions »Kindern« und Zions trauerndes Erinnern beschrieben wird. 377 Berges (2002), 88. 378 Knierim (1965), 180.

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Aus dramaturgischer Sicht ist dies folgerichtig: Nachdem in einem ersten Abschnitt die auf der Bühne zwar anwesende, aber stumme Zion eingeführt wird, kommt automatisch die Frage nach den Ursachen ihres jetzigen Zustandes sowie nach dem Ausmaß des Elends auf. Vers 1,1a b c 2a b c 3a b c 4a b c 5a b c 6a b c 7a b c d 8a bα bβ c 9aα 9aβ bα bβ 10a b c 11a b 15c 17a b c

Präsentische Ebene Präteritale Ebene Ach, wie sitzt vereinsamt die Stadt, (einst) reich an Volk, sie wurde einer Witwe gleich, die Große unter den Völkern, der Fürstin über die Provinzen kam Frondienst zu. Weinend weint sie des Nachts, und ihre Tränen auf ihrer Wange. Kein Tröster ist ihr unter all ihren Freunden. All ihre Nächsten handelten treulos an ihr, wurden ihr zu Feinden. Bloß gestellt ist Juda durch Elend und schwere Knechtschaft. Sie sitzt unter den Völkern; nicht findet sie Ruhe. All ihre Verfolger erreichten sie inmitten von Bedrängnissen. Die Wege Zions trauern ob der fehlenden Festgänger, all ihre Tore sind verödet, ihre Priester seufzen, ihre Jungfrauen sind betrübt, und sie – bitter ist ihr. Ihre Bedränger sind obenauf, ihre Feinde haben Ruhe, denn JHWH hat sie betrübt wegen der Vielzahl ihrer Verbrechen. Ihre Kinder gingen in Gefangenschaft vor dem Bedränger her. Und es wich von der Tochter Zion all ihr Glanz. Ihre Fürsten wurden gleich Hirschen, die keine Weide fanden. Und sie liefen kraftlos vor dem Verfolger her. Es gedenkt Jerusalem der Tage ihrer Not und Heimatlosigkeit all ihre Kostbarkeiten, die gewesen seit den Tagen der Vorzeit, als ihr Volk in die Hand des Bedrängers fiel und es keinen Retter für sie gab. Die Bedränger sahen sie – sie lachten über ihr Ende. Schwer gesündigt hat Jerusalem – darum ist sie zur Ausgesetzten geworden. All ihre Verehrer verachten sie denn sie sahen ihre Scham. Sie selbst seufzt und wendet sich ab. Ihre Unreinheit ist an ihrem Saum, sie dachte nicht an später. Erstaunlich tief ist sie gesunken, es gibt für sie keinen Tröster. Seine Hand streckte der Bedränger über all ihre Kostbarkeiten. Ja, sie sah Völker in ihr Heiligtum eindringen, von denen du geboten, sie träten nicht ein in die Gemeinde zu dir. All ihr Volk seufzt, suchend nach Brot, Sie gaben ihre Kostbarkeiten für Nahrung, um ihr Leben wiederzubringen. Die Kelter trat der Herr gegen die Jungfrau Tochter Juda. Ausgestreckt hat Zion ihre Hände, es gibt keinen Tröster für sie. Befohlen hat JHWH gegen Jakob seine Bedränger ringsum. Es ist Jerusalem geworden zur Unreinen zwischen ihnen.

Übersicht 8: Präsentische und päteritale Redeanteile im Redepart des Sprechers von Klgl 1

Nachdem diese Fragen in V 5–7 erstmals vertieft wurden, wird mit V 8 wieder die »Bühnenhandlung« vorangetrieben. Erneut wird nun vermehrt im Präsens for-

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muliert, und die Dramaturgie auch dadurch intensiviert, dass Zion erste eigene Klagerufe in die Rede des Sprechers einflicht. Da diese als direkte Anrufungen JHWHs im Präsens formuliert sind, tragen sie zur Festigung des szenischen Settings bei und führen zugleich weitere Figuren bzw. Figurengruppen (vgl. V 12a) ein. Auch die Art von Begebenheit, die in diesen Versen beschrieben wird – Zion als vor ihren ehemaligen Freunden und Verehrern entblößte und lächerlich gemachte Frau – trägt zur Intensivierung bei. Die Unterteilung in präsentische und präteritale Abschnitte ist in Klgl 2 noch sehr viel deutlicher ausgeprägt als in Klgl 1. Hier könnte eine Differenzierung wie folgt aussehen: Vers

Präsentische Ebene Präteritale Ebene

2,1a b c 2a b c 3a b c 4a

Ach, wie verdunkelt in seinem Zorn der Herr die Tochter Zion, warf vom Himmel zur Erde die Zierde Israels und gedachte nicht des Schemels seiner Füße am Tage seines Zorns. Verschlungen hat der Herr, verschonte nicht alle Weideplätze Jakobs, riss ein in seiner Wut die Festungen der Tochter Juda, stürzte zu Boden, entweihte Königtum und seine Fürsten. Abgeschlagen hat er in glühendem Zorn das ganze Horn Israels, zog zurück seine Rechte vor dem Angesicht des Feindes und entbrannte in Jakob wie flammendes Feuer das ringsum fraß. Er spannte seinen Bogen wie ein Feind, aufgestellt – seine Rechte wie ein Bedränger, und tötete alle Kostbarkeiten des Auges. Im Zelt der Tochter Zion vergoss er wie Feuer seinen Grimm. Es war der Herr wie ein Feind, verschlang Israel, verschlang all ihre Paläste, zerstörte seine Befestigungen und vermehrte in der Tochter Juda Kummer und Klage. Er tat wie in einem Garten seiner Sukka Gewalt an, zerstörte seinen Festplatz. Vergessen machte JHWH in Zion Fest und Sabbat und verwarf im Toben seines Zornes König und Priester. Verstoßen hat der Herr seinen Altar, sein Heiligtum verworfen, ausgeliefert in die Hand des Feindes die Mauern ihrer Paläste. Sie erhoben die Stimme im Hause JHWHs wie an einem Festtag. JHWH plante zu zerstören die Mauer der Tochter Zion. Er spannte die Schnur, zog nicht zurück seine Hand vom Verschlingen. Und er ließ trauern Wall und Mauer, zusammen sanken sie dahin. Im Boden versanken ihre Tore, er hat ihre Riegel vernichtet und zerbrochen. Ihr König und ihre Fürsten sind unter den Völkern, es gibt keine Weisung. Selbst ihre Propheten: nicht finden sie Schauung von JHWH. Es setzen sich zu Boden, es schweigen die Ältesten der Tochter Zion. Sie streuten sich Staub aufs Haupt, gürteten sich mit Sackleinen. Es senkten zu Boden ihr Haupt die jungen Frauen Jerusalems. Vor Tränen versagen mir meine Augen, es glühen meine Eingeweide. Vergossen zu Boden meine Leber wegen des Zusammenbruchs der Tochter ›Mein Volk‹, weil verschmachten Kind und Säugling auf den Plätzen der Stadt. Zu ihren Müttern sagen sie: »Wo sind Getreide und Wein?«,

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bei ihrem Verschmachten, wie durchbohrt, auf den Plätzen der Stadt. Beim Zerfließen ihrer Lebenskraft im Schoß ihrer Mütter. Was dir bezeugen, was dir gleichsetzen, Tochter Jerusalem, was dir gleichstellen, dass ich dich tröstete, Jungfrau Tochter Zion? Denn groß wie das Meer ist dein Zusammenbruch, wer mag dich heilen? Deine379 Propheten schauten dir Trug und Tünche, und deckten deine Schuld nicht auf, abzuwenden dein Schicksal, und so schauten sie dir Sprüche von Trug und Verführung. Über dich klatschten in die Hände, alle des Weges Gehenden, sie zischten und schüttelten ihren Kopf über die Tochter Jerusalem: »Ist das die Stadt von der sie sagten: ›Vollkommene Schönheit, Freude aller Welt‹?« 16a Es rissen auf gegen dich ihren Mund all deine Feinde. b Sie zischten und knirschten mit den Zähnen, sie sagten: »Wir haben verschlungen. c Wahrlich, das ist der Tag, den wir erhofften, [den wir] fanden, sahen.« 17a JHWH tat, was er geplant, erfüllte sein Wort, b das er befohlen seit den Tagen der Vorzeit. Er riss nieder und schonte nicht, c und ließ jubeln über dich den Feind, erhöhte das Horn deiner Bedränger. 18a Es schrie ihr Herz zum Herrn. »Mauer der Tochter Zion, b lass herabstürzen wie ein Wadi die Tränen, zu Tage und nachts. c Nicht gönne Ruhe dir, nicht harre dein Augapfel!« 19a »Steh auf, klage des Nachts, zu Beginn der Nachtwachten. b Schütte wie Wasser dein Herz aus vor dem Angesicht des Herrn. c Erhebe zu ihm deine Hände, um das Leben deiner Kinder willen, d die verschmachten vor Hunger am Kopfende aller Gassen.« Übersicht 9: Präsentische und präteritale Redeanteile im Redepart des Sprechers von Klgl 2

Nach nur einer einzigen präsentischen Einleitungszeile folgt ein Abschnitt von etwa neun Versen, der das Gericht ausschließlich im Rückblick schildert. Anschließend, durch zwei präsentische Einschübe vorbereitet, ist der Rest der Rede des Sprechers als direkte präsentischer Anrede an Zion gehalten, die von Zions Anklage an Gott, gleichsam »Reaktion« auf die Aufforderung des Sprechers, gefolgt wird. In dramaturgischer Hinsicht ist die sehr viel klarere Unterteilung in Klgl 2 nicht verwunderlich: Da Klgl 2 sowohl formal wie auch motivisch auf Klgl 1 zurückgreift, ist es für die Hörer*innen naheliegend, das dort etablierte Setting vorerst weiter vorauszusetzen. Klgl 2 kann somit auf dem dort Geschaffenen aufbauen und mittels der ausführlichen Schilderung des vergangenen Gerichts seinerseits die Darstellung vorantreiben. Interessanterweise ist eine einfache Zuordnung der Art, dass die präsentischen Aussagen Zion eher als Frau vorstellen, die präteritalen Aussagen hingegen eher die Stadtperspektive stark machen, nicht möglich. So steht etwa bei den präsentischen Bikola Klgl 1,4–5a trotzdem die Stadtperspektive im Vordergrund. Vielmehr fällt auf, dass in den präsentischen Passagen fast vollständig Angaben 379 Der Abschnitt von V 14a–18a steht zwar formal im Präteritum, ist jedoch direkt an die (präsentische) Zion gerichtet. M.a.W.: Er ist Teil der gespielten Zeit, nicht nur der Spielzeit.

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zur Genese der Situation, den historischen Hintergründe Zions jetzigen Leidens usw. fehlen. Nachdem damit skizziert ist, wie die Präsentation von Zeit zur Etablierung eines dramatischen Settings beiträgt, wäre als nächstes kurz zu zeigen, wie Raum präsentiert wird. Auch hier ist eine wohlüberlegte Dynamik erkennbar. Klgl 1 setzt damit ein, dass eine ungenannte Stadt »einsam« sitzt. Anschließend wird diese mit einer Witwe und einer in Fronarbeit gezwungenen Fürstin verglichen. Beide Vergleiche funktionieren auf der sozialen bzw. politischen Ebene – die räumliche Gegebenheit der eingangs angesprochenen Einsamkeit bleibt unklar. Trotzdem existieren Vergleichspunkte: ‫ שרתי במדינות‬/ ‫רבתי בגוים‬. Der Blick ist somit einer, der Völker, Provinzen und ganze Länder erfasst. Dem setzt V 2 das das sehr intime Bild einer nächtlich weinenden Frau entgegen. Hier ist der Blick so nahe, dass selbst einzelne Tränen ins Auge fallen. Die beiden Verse umreißen somit die Extrema der dramatischen Welt und beziehen sie aufeinander:380 auf der einen Seite die politische Makroperspektive, in der Zion als vereinsamte Stadt ruhelos »inmitten« der Völker sitzt – auf der anderen die figürliche Mikroperspektive, die Zion als verzweifelte und sozial geächtete Frau im Blick hat. Beginnend mit V 4 ändert sich der vorausgesetzte Raumbezug. Nun ist von den Wegen Zions die Rede, die Stadttore werden genannt und die Bevölkerung der Stadt kommt in den Blick. Damit wird eine Perspektive eingenommen, die zwischen der makropolitischen Perspektive von V 1 und dem intimen Kontext von V 2 angesiedelt ist. Zugleich verfügt die Darstellung über eine Gerichtetheit, die sukzessive ins Innere der Stadt vordringt. Während die ersten drei Verse noch per Makroobjektiv die Stadt inmitten von Völkern im Blick hat, betritt man in V 4 gleichsam die Straßen nach Zion – und die Bewegung endet am »Innersten« der Stadt, dem Tempel, der in V 10 nicht nur erreicht, sondern auch betreten wird.381 Das in Klgl 1 sukzessive etablierte innerstädtische Setting wird in Klgl 2 anfangs wieder etwas geweitet, woraufhin anschließend erneut ein Fokussierungseffekt erkennbar ist, wenngleich er weniger deutlich ausfällt als in Klgl 1. So erwähnt der Sprecher in V 2 die Weideplätze Jakobs, die Festungswälle der Tochter Juda und das Königreich. Auch in V 5 spricht er (noch) davon, dass JHWH Israel und seine Paläste verschlang (‫ )בלע‬und seine Wälle (‫ )מבצר‬zerstörte. Erneut ist eine Perspektive vorherrschend, die neben der Stadt auch das 380 So verweist der Vergleich auf die Witwe in V 1b schon auf die soziale, figürliche Perspektive von V 2, der dortige Verweis auf die »Freunde« zurück auf die politische Ebene der »internationalen« Bündnispolitik. 381 Diese innerstädtische Perspektive bleibt auch in der Rede Zions erhalten; einzig die Anrufung Zions in V 18b: ‫ שמעו־נא כל־עמים‬Hört doch, alle Völker! fällt mit einer deutlich weiteren Perspektive etwas aus dem Raster. Jedoch ist mit V 19b: ‫ בעיר גועו‬in der Stadt schieden sie hin und V 20c: ‫ מחוץ שכלה־חרב בבית כמות‬draußen macht kinderlos das Schwert, im Haus gleicht es dem Tod anschließend erneut eine innerstädtische Szenerie vorgestellt.

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Umland im Blick hat. Anschließend kommt jedoch zunehmend innerstädtische Infrastruktur in den Blick. V 7–9 nennen Tempel und Altar, die Palastanlagen Jerusalems, Stadtmauern und -tore. Wie eine kleine Klammer zu V 6 kommt V 9b–10 dann nochmals auf die Bewohnerschaft der Stadt zu sprechen. Ab V 11 ist dann erneut eine innerstädtische Perspektive, ähnlich des zweiten Teils von Klgl 1, präsent, und wird für den Rest des Liedes aufrechterhalten. Nach dem bisher Gesagten kann man überlegen, wie eine szenische Umsetzung des Textes aussehen könnte. Wollte man die Klgl tatsächlich auf einer Bühne zur Darstellung bringen, so bräuchte das Bühnenbild mindestens zwei voneinander unterschiedene »Sphären«: Zum einen müsste eine eher »externe« Sicht auf die Stadt ermöglicht werden, wie sie in Passagen wie Klgl 1,1.3.18; 2,1–7; 4,17– 20 vorherrscht. Hier ist die Stadt als Infrastrukturobjekt und politische Größe im Blick. Daneben muss aber auch der innerstädtische Bereich dargestellt werden. Da in Klgl 1–2 immer wieder vom Stadttor, Gassen und Plätzen die Rede ist – drei im antiken Empfinden die Stadt gleichsam zusammenfassende, paradigmatische Orte –, wäre hier zweckmäßigerweise an den Platz unmittelbar innerhalb der Stadtmauern zu denken. Der Blick insbesondere auf die präsentischen Passagen lässt zudem erkennen, weshalb der dramatische Eindruck der Texte sich nicht soweit verfestigt, dass man von einem tatsächlichen Drama sprechen könnte: Die raumzeitliche Einordnung der einzelnen Verse, die Zuordnung der Sprechakte der einzelnen Figuren zu bestimmten »Sphären« und die raumzeitliche Verortung der Figuren innerhalb einzelner Sprechakte ist nicht stringent durchgehalten. Beispielsweise ist die Perspektive auf Zion als Frau weitgehend (aber nicht durchgehend) in den innerstädtischen Bereich verortet. So ist das Weinen Zions in Klgl 1,2 in einen nächtlichen, vermutlich privaten Kontext zu verorten, die in V 8–10 beschriebene Bloßstellung findet jedoch offenbar tagsüber auf einem öffentlichen Platz statt. Die Perspektive von Zion als Stadt wird vorrangig an Orten deutlich gemacht, an denen sich der Konnex zwischen städtischer Infrastruktur und Schicksal der städtischen Bevölkerung gut darstellen lässt. So wird häufiger vom Stadttor gesprochen, das in seiner Doppelfunktion als Symbol für Stärke und Uneinnehmbarkeit der Stadt wie auch als Ort der Ältestengerichtsbarkeit paradigmatisch für die städtischen Schutz- und Ordnungsfunktionen steht. Zudem wird häufig in stereotyper Art von den Plätzen und Gassen der Stadt gesprochen. Demgegenüber fehlen Hinweise auf die Vorgänge im privaten Bereich fast vollständig (vgl. Klgl 1,20c), was die soziale Rückgebundenheit des Einzelschicksals an die Öffentlichkeit verdeutlicht.

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5.1.4.1.2 Personifizierung Zions Neben der Etablierung von Zeit und Raum ist die Rede des Sprechers instrumental für die Konstitution der Figur Zions als »Stadt-Frau«. Dies bedarf einer Präzisierung. Denn setzt man ein dramatisches Setting voraus, ist Zion von Beginn an als Figur auf der Bühne präsent – sie müsste insofern nicht extra eingeführt werden. Frau Zion als Metapher für die Stadt Jerusalem ist den Rezipient*innen ebenfalls wohlvertraut.382 Was genau gemeint ist, lässt sich an Textstellen wie Klgl 1,4cβ illustrieren. Klgl 1,4 beschreibt die Trauer, die in Zion herrscht durch ein doppeltes Bild: die trauernde städtische Infrastruktur einerseits und die betrübten Bewohner andererseits. Doch anschließend wird noch eine weitere, offenbar davon zu unterscheidende Figur angesprochen: ‫והאי מר־לה‬ ihr selbst – bleibt Bitterkeit. Hier erfolgt auf engstem Raum der »Umschlag« von der Sicht »Zion als Stadt« zur Sicht »Zion als Figur«. Dies für die Rezipient*innen nachvollziehbar zu machen, ist keine Herausforderung einer etwaigen Darstellung oder Inszenierung des Textes (und insofern auch keine Aufgabe des Sprechers als dramatischer Figur): dort ließe sich die jeweilige Referenz z. B. durch entsprechende Gestik problemlos verdeutlichen. Es ist hingegen eine Herausforderung des Dramentextes.383 Es geht somit nicht um eine Einführung der Figur »Frau Zion«, sondern um die Art der textlichen Einführung ihres charakteristischen Doppelwesens als Stadt-Frau. Weiter oben wurde schon angedeutet, dass dieser Prozess unmittelbar mit den ersten Worten des Liedes einsetzt und äußerst bedacht entwickelt wird. Die Kombination von ‫ העיר‬und ‫ ישב‬gibt einen ersten Hinweis: Dass eine Stadt »sitzt«, ist eine innerbiblisch eher unübliche Aussage.384 Zudem verweisen die nächsten Parallelen des »einsam Sitzens« – im Hintergrund steht das Gebot aus Lev 13,46, ein Aussätziger habe einsam und außerhalb des Lagers zu »sitzen« – auf Jeremia (Jer 15,17: ‫ מפני ידך בדד ישבתי‬wegen deiner Hand habe ich allein gesessen) und den Mann (Klgl 3,28: ‫ ישב ]הגבר[ בדד וידם‬er [=der Mann] sitze einsam und schweige). Gleichzeitig ist das Subjekt in V 1a noch eindeutig die Stadt; ihre Personifizierung setzt hier nur durch das Verb ein, das ein menschliches Verhalten beschreibt. Die 382 Galambush (1992), 20 verwendet für Frau Zion den Begriff »conceptual metaphor«, d. h. einer Metapher die »so deeply imbedded in the culture as to be virtually invisible, but nonetheless the source of everyday assumptions and speech about capital cities.« 383 Ein ähnlich gelagerter Fall findet sich in Klgl 1,8–9. Hier ist Zion als entblößte und verächtlich gemachte Frau vorgestellt – und zwar auf einem öffentlichen Platz innerhalb der Stadt. Der Text präsentiert gleichsam Zion auf einem Platz in Zion. Der Text muss es schaffen, beide Ebenen zu differenzieren, ohne die Rezipient*innen zu verwirren. Umgekehrt heißt es in Klgl 1,15a: ‫ סלה כל־אבירי אדני בקרבי‬Verworfen hat der Herr all meine Starken in meiner Mitte. An dieser Stelle spricht Frau Zion über ihre »Kinder« – allerdings tut sie dies trotzdem »als Stadt«. 384 Vgl. z. B. Jes 3,26; 47,1; Jer 48,18. Vgl. auch Jer 31,24. Vgl. auch Lawhead (1976), 71, demzufolge sich ‫ ישב‬im AT nur acht Mal mit Sachsubjekt findet, sowie Görg (1982), 1016.

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folgenden Zeilen greifen das ‫ בדד‬aus V 1a auf und entwickeln es weiter.385 Hinsichtlich der Syntax ist auch in V 1b noch von einer Stadt die Rede: Das Subjekt in V 1b, ‫ רבתי בגוים‬die Große unter den Völkern, steht parallel zum Ausdruck ‫העיר‬ ‫ רבתי עם‬die Stadt, (einst) reich an Volk aus V 1a. Zugleich wird diese Stadt jedoch mit einer Witwe verglichen. Nach der Kombination der Stadt mit einem Verb aus dem menschlichen Bereich folgt der Vergleich mit einer Frau eines konkreten sozialen Standes. V 1c ist in mehrfacher Hinsicht eine Inversion: Während V 1ab die für Verbalsätze typischen Frontstellung des finiten Verbes aufweisen, beginnt V 1c mit dem Subjekt ‫ שרתי במדינות‬die Fürstin über die Provinzen, dem eine finite Verbform folgt.386 Zudem begannen V 1ab jeweils mit negativen Aussagen (‫ישבה‬ ‫)בדד; היתה כאלמנה‬, während V 1c mit einer positiven Kennzeichnung einsetzt. Schließlich ist in V 1c nun endgültig nicht mehr die Stadt Subjekt des Satzes, sondern eine weibliche Figur. Bemerkenswert ist dabei, dass in V 1 und nachfolgend in V 2 durchweg kataphorische Verweise benutzt werden, die Identität der Stadt-Frau also formal unbestimmt bleibt.387 Erst in V 3a, und dann konkreter in V 4a, wird diese durch die Bezeichnung Juda und ‫ דרכי ציון‬die Wege Zions vereindeutigt. Auch dies erleichtert die sich in V 1–2 vollziehende Wandlung des Subjekts von Stadt zur Frau: Die verwendete Metaphorik der ersten Zeilen bleibt mehrdeutig genug, um in beide Richtungen hin festgelegt werden zu können. Das Ausbleiben dieser Festlegung und Hinauszögern einer Identifizierung führt zu einem neuen status quo: Die Präsenz Zions als Stadt-Frau. Mit V 2a ist die »Wandlung« der ‫ העיר רבתי עם‬zur Frau aus Fleisch und Blut vollendet. Das durch den Hinweis auf das intensive Weinen, ihre Tränen und die Wangen evozierte Bild 385 Dabei geht es nicht nur darum, die »Einsamkeit« inhaltlich weiter zu füllen. Zugleich wird die »Multiperspektivität« Zions eingeführt. Eines der bestimmenden Charakteristika des »Frau Zion«-Topos besteht in der Vielfalt seiner möglichen Konkretisierungen. »[W]hen one steps back from the imagery of personified Jerusalem, it is not a matter of either/or, as if the city is either spouse or daughter, virgin or harlot. She can be all of them …« (Dearman [2009], 156). Auch Häusl (1998), 274f. macht auf die vielfältigen und z. T. inkompatiblen Facetten der Figur aufmerksam. Dass diese in ein und demselben Text auftauchen können, sollte nicht dazu führen, einzelne Aspekte anderen unterzuordnen. Vielmehr ist mit Seifert (1997), 247 davon auszugehen, dass es eine Konsequenz der jeweiligen Situation, des jeweiligen Gegenüber ist, welche Rolle von Zion jeweils eingenommen wird. So auch Maier (2008), 216. 386 Die Terminologie schwankt. Zuweilen findet man die Bezeichnung invertierter Verbalsatz (Krause et al. [2012], 67), zuweilen zusammengesetzter Nominalsatz (Schneider [2001], 155). 387 Es ist unbenommen, dass der Zionsbezug nie tatsächlich im Zweifel ist. Zugleich gilt jedoch, dass die Identität – häufig der Name –, eines der ersten Dinge ist, die man in einem dramatischen oder narrativen Text über neu auftretende Figuren erfährt, um die angemessene Deutung ihrer Handlungen und Äußerungen sicherzustellen. Das pointierte Hinauszögern einer Identifizierung ist damit nicht einfach mit dem Verweis auf den offensichtlichen historischen Kontext zu erklären. Aus dramatischer Sicht bleibt es ein bemerkenswertes Verletzen bzw. Nichteinlösen einer genreimmanenten Konvention.

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einer trauernden Frau wird in V 2b noch weiter konturiert: Zur Trauer über ihren rechtlichen und politischen Niedergang tritt die soziale Vereinsamung hinzu. Dass gerade an dieser Stelle, wo die Perspektive der Stadt vollständig aus dem Blick zu geraten droht, die erste konkrete Determinierung (‫ גלתה יהודה‬Juda zog in die Verbannung) gerade nicht die figürliche Perspektive Zions stützt, ist schwerlich Zufall. Die Perspektive von Zion als Stadt wird nun erneut stärker gemacht, jedoch – so wie in V 1 – in kleinen Schritten. ‫ עני‬Elend und ‫עבדה‬ Knechtschaft sind Zustände, die Individuen oder Gruppen von Individuen zukommen; zugleich werden sie auf Juda als Nation bzw. Land bezogen. Dass Juda unter den Völkern sitzt, greift sowohl V 1a (‫ )ישבה … העיר‬wie auch V 1b (‫רבתי‬ ‫ )בגוים‬auf. Mit V 4a ist dann mit der gleichen Deutlichkeit, in der V 2 die personale Dimension Zions herausstellte, die städtische Dimension präsent. Wie in V 2 die Physiognomie der Frau erwähnt wurde, wird nun die »Physiognomie« der Stadt angesprochen. Und wie schon zu Beginn von V 3 wird mit V 4cβ auch hier in dem Moment, an dem Zion sich auf eine Dimension – in diesem Fall die städtische – zu reduzieren droht, die figürlich-personale Perspektive Zions nachgetragen: Die Aussage ‫ והיא מר־לה‬lässt sich gerade nicht auf Zion als Stadt deuten, da die Trauer der Stadt schon vorher sowohl hinsichtlich ihrer Bauten (V 4a–bα) wie auch ihrer Einwohner (V 4bβ–cα) beschrieben wurde. Mit dem pointiert abgesetzten ‫והאי‬ muss jemand anderes gemeint sein – nämlich erneut die Figur Frau Zion. Mit V 4c ist eine erste Zäsur erreicht. Auf engstem Raum wurde in den ersten Versen eine doppelte Bewegung zunehmender, dann wieder abnehmender Personifizierung vollzogen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die folgenden V 5–7 vorrangig mit historischen Hintergründen und Rückblicken beschäftigen: Nachdem die ersten vier Verse zur Etablierung der beiden Facetten Zions wiederholt auf Zions Knechtschaft, Not und Frondienst, ihre Trauer und ihre prekäre soziale und rechtliche Lage anspielten, ist es an der Zeit, diese Andeutungen etwas ausführlicher darzustellen. Dass damit die Einführung Zions als Stadt-Frau weitgehend vollendet ist, lässt sich an V 8–11 ablesen. Da in V 12 Zion selbst zu ihrer Rede anhebt, ist es nicht verwunderlich, dass nach den rückblickenden V 5–7 noch einmal die personale Dimension Zions stärker in den Blick kommt. So ist die in V 8–9 beschriebene Szene von der personalen Perspektive Zions beherrscht. Zion seufzt, sie wendet sich ab, ihre Scham ist sichtbar, genauso wie ihr Menstruationsblut an ihrem Kleid. Die personale Ebene ist in bemerkenswerter Dichte präsent. Zugleich jedoch findet diese Szene an einem öffentlichen Ort innerhalb der Stadt statt: Zion wird in Zion entblößt. Ähnlich verweist das feminine Subjekt von V 10 zurück auf V 8–9, mithin auf die Frau Zion. Diese jedoch kann Völker in »ihr« Heiligtum eindringen sehen und parallel dazu kann man »ihr« Volk vor Hunger seufzen hören. Die Doppelperspektivität Zions ist nunmehr so gefestigt, dass Bilder, die Frau Zion betreffen, weitgehend

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unvermittelt neben Aussagen stehen können, die die Stadt Zion zum Gegenstand haben. Teilweise sind beide Dimensionen simultan präsent. 5.1.4.1.3 Inhaltliche Entwicklung Die vorangegangenen Unterkapitel konzentrierten sich darauf, die Bedeutung der Rede des Sprechers für die Etablierung des dramenähnlichen Settings der ersten Lieder zu skizzieren. Darüber hinaus hat seine Rede aber auch eine inhaltliche Botschaft, ein argumentatives Ziel. Sie lässt ein Individuum erkennen, dem Zions Leiden primär als theologisches Problem erscheint, dann aber in Klgl 2 eine emotionale Entwicklung hin zu Solidarität mit Zion durchmacht. Der Sprecher wird in Klgl 1 häufig als distanziert oder objektiv beschrieben. Insofern man diese Beschreibung als Kontrast zur Emotionalität Zions auffasst, gilt dies fraglos: Während jene in lebhaften Bildern ihr eigenes Erleben schildert, dominieren beim Sprecher beschreibende Ausdrücke. Dies bedeutet jedoch nicht, dass des Sprechers Rede objektiv im Sinne von »wahrheitsgemäß« oder »fair« wäre, Zions Rede hingegen »ich-bezogen« und »tendenziös«. So besteht beispielsweise ein auffälliger Kontrast zwischen der Direktheit, in der Zions sexuelle Beschämung beschrieben wird, und der Allgemeinheit, mit der auf Zions Schuld und Sünde verwiesen wird. Bemerkenswert auch, dass Zion das Thema der eigenen Sünde häufiger als der Sprecher anspricht und zwar ohne auszuweichen oder zu relativieren.388 Auch ist es Zion, die gerade im Kontext der eigenen Schuld das deutlichste Bekenntnis zur göttlichen Gerechtigkeit liefert (V 17). Der Eindruck von Objektivität ist somit weniger größerer »Ehrlichkeit« und Klarheit der Darstellung geschuldet, denn dem Eindruck fehlenden Mitgefühls angesichts des geschilderten Leidens Zions. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil es so fehl am Platze scheint: Zum einen nötigt der Hinweis auf die Selbstverschuldung der Misere ja nicht zur Indifferenz angesichts des derzeitigen Elends. Zum anderen ist – ausweislich des Genres des Liedes als Klagelied – Zions Zustand durchaus beklagenswert. Sich hier nicht mitfühlend solidarisch zu zeigen, ist weniger ein Zeichen von Objektivität denn von Gefühlskälte, ja in gewisser Weise ein Bruch mit den Gepflogenheiten des Klage-Genres. Zudem finden sich in der Rede des Sprechers durchaus Aussagen, die die Solidarisierung mit Zion erleichtern und bei den Hörer*innen Sympathie für sie hervorrufen. Es verwundert, dass derartige Hinweise in Klgl 1 nicht auch die Position des Sprechers selbst beeinflussen. Beispielsweise fallen bis auf V 21 alle der für Klgl 1 charakteristischen ‫מנחם‬-Aussagen in die Rede des Sprechers. Hierbei ist jedes Mal die soziale Pflicht, Klagende zu trösten und beizustehen, mit im Blick. Jedoch kommt der Sprecher selbst dieser Tröster-Pflicht erst in Klgl 2 nach. Auch die Beschreibung der weinenden Frau Zion in V 2.16 evoziert mittels 388 Sprecher: V 5: ‫ ;פשע‬V 8: ‫חטא‬. Demgegenüber Zion: V 14: ‫ ;פשע‬V 18: ‫ ;מרה‬V 20: ‫ ;מרה‬V 22: ‫פשע‬.

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des Bildes der Tränen als »attachment behavior«389 Mitgefühl und Solidarität – ohne dass der Sprecher selbst dieser Solidarität Ausdruck geben würde. Dem steht die sexualisierte Metaphorik der V 8–10 entgegen, die in geradezu voyeuristischer Art die Erniedrigung und Entblößung Zions beschreiben. Hier wird mehr als »nur« ein Ereignisprotokoll geliefert! Der Sprecher richtet sein Augenmerk z. B. gerade nicht auf die lachenden Freunde und Verehrer, sondern auf die nackte Frau Zion. Er äußert keine Empörung über die sexuelle Belästigung, er fragt nicht, wie – im Bilde gesprochen – der Ehemann der Frau ein solches Spektakel zulassen konnte, noch interessiert ihn, was aus der öffentlichen Schändung Zions für das Verhältnis Zion – Ehemann folgt. Genauso wenig, wie für ihn in V 3–6 die Feinde, Verfolger und Bedränger eine eigenständige Rolle spielen, lenkt er in V 8–10 den Blick auf die (ehemaligen) Verehrer und Freunde Zions. Kurz: Es ist nicht die menschliche Not Zions, die ihn umtreibt, noch das unsolidarische Verhalten der Umstehenden. Stattdessen beschäftigt ihn die Frage, ob Gott sich und seinen Geboten auch im Gericht treu blieb.390 Das Insistieren auf der Größe der Schuld Zions (V 5: ‫על‬ ‫ ;רב־פשעיה‬V 8: ‫)חטא חטאה ירושלם‬, und die mangelnde Abscheu über die sexuellen Erniedrigung Zions lässt darauf schließen, dass er die Bestrafung angemessen und berechtigt findet. Kritik hingegen wird deutlich, wo es um das Betreten des Tempels durch Fremde geht (V 10ab). Dieser Gedanke, in Klgl 1 nur angedeutet, findet sich im breit ausgefalteten Rückblick zu Beginn von Klgl 2 aufgegriffen, wobei sich das erneute Einsetzen des Sprechers nach der breit ausgefalteten Klage Zions in Klgl 1,12–16.18–22 ungezwungen als Fortführung der bisherigen Szene lesen lässt. Als Reaktion auf Klgl 1 kann man in Klgl 2 dann eine doppelte Entwicklung in der Rede des Sprechers ausmachen. Einerseits verschiebt sich der Fokus von Zion zum Gerichtsgeschehen Gottes. Aus dramaturgischer Perspektive zeigt sich in Klgl 2 die nur anfangshafte Kritik von Klgl 1,10 aufgegriffen. Merkte er dort an, dass das Betreten des Tempels durch Fremde nicht mit Gottes eigenem Gebot vereinbar wäre, charakterisiert er Gottes Handeln nun als Agieren »wie« ein Feind (V 4.5). Andererseits führt insbesondere das Elend der Kinder und Säuglinge dazu, dass er die Fassade des »kühlen« Beobachters nicht mehr aufrechterhalten kann und zu einem zunehmend offenen Fürsprecher Zions wird. So erscheint er nach der ausführlichen Gerichtsschilderung in Klgl 2,1–10, und überwältigt vom Anblick der Kinder in Klgl 2,11–13 als Mit–Leidender, ebenfalls zu Tränen gerührt. Der Hinweis auf Zions Schuld ist dementsprechend abge389 Bosworth (2013b), 45f. 390 Man stelle sich die Szene bildlich vor: Die nackte, erniedrigte und lächerlich gemachte Zion vor Augen, wendet sich der Sprecher an Gott und weist darauf hin, dass das Betreten des Tempels durch die Feinde gegen göttliches Gebot verstößt. Die feministische Kritik der Sprecherfigur aus Klgl 1 setzt hier an.

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mildert: Nicht mehr »wegen ihrer vielen Verbrechen« ist das Unglück über sie hereingebrochen, sondern weil ihre Propheten ihr »Trug und Tünche« schauten und ihr ihre Schuld (‫ )עון‬nicht aufdeckten (‫)גלה‬. Auch in Klgl 2 steht somit die Schuld Zions außer Frage, jedoch ist die Frage subjektiver vs. objektiver Verantwortlichkeit für die Schuld weniger deutlich beantwortet als in Klgl 1. Die Entwicklung kulminiert darin, dass der Sprecher aktiv Partei ergreift und Zion zu anhaltender Klage ermuntert, um ihr eigenes Leiden und insbesondere das ihrer Kinder zu lindern. 5.1.4.1.4 Der Sprecher in Klgl 4 Bislang beschränkte sich die Diskussion der Figur des Sprechers ausschließlich auf Klgl 1–2. Das ist erklärungsbedürftig, denn auch in Klgl 4 ist eine Sprecherfigur präsent, die einen Großteil der Rede übernimmt. Es wäre naheliegend, darin den gleichen Sprecher zu sehen, der auch in Klgl 1–2 das Wort ergreift: Schließlich zeigte der Vergleich von Stichwort- und Motivaufnahmen, dass es insbesondere zwischen Klgl 2 und 4 vielfältige Beziehungen gibt, die einen ähnlichen inhaltlichen Fokus belegen und somit auf eine gleichbleibende (oder harmonisierbare) Sprecherfigur hindeuten könnten. Allerdings stimmt ein näherer Blick skeptisch. Zum einen ändert sich das verwendete Vokabular in z. T. signifikanter Weise. Während in Klgl 1–2 die Bezeichnung ‫ בת־ציון‬dominierte, findet sich in Klgl 4 vorwiegend der Titel ‫בת־עמי‬.391 Das Wortfeld »Emotionen/Emotionalität« ist aus der Rede des Sprechers fast vollständig verschwunden; Hinweise auf Tränen, Klagen, emotionalen Schmerz o. ä. sucht man vergebens. Wo der Sprecher in Klgl 2 Mitgefühl für Zion und Entsetzen über das Schicksal der Kinder und Säuglinge äußerte, herrscht in Klgl 4 eine gewisse emotionale Abgestumpftheit: Neben dem beklagenswerten Schicksal der Kinder wird insbesondere das Los der Oberschicht skizziert – mit durchaus negativen Untertönen; die implizite Kritik am ungeheuren Ausmaß des Gerichtes wird zurück genommen; das Leid der Unschuldigen hat nicht mehr den leidenschaftlichen Appell zur Klage zu Gott zur Folge, sondern das resignierende Fazit, dass ein schneller Tod dem lang anhaltenden Leiden doch vorzuziehen gewesen wäre. Schließlich wird auch die 1. Pers. Sg., die in Klgl 2,11–13 die figürliche Präsenz des Sprechers akzentuierte, nur noch in Ansätzen verwendet.392 Auch der für Klgl 1 und 2 charakteristische Perspektivenwechsel zwischen präsentischer Anrede an Frau Zion und rückblickender Thematisierung des Schicksals der Stadt ist nur noch in Ansätzen erhalten, wie insgesamt die Per391 Jeweils gibt es Ausnahmen. So findet sich ‫ בת־עמי‬auch in Klgl 2,11; 3,48; in 4,22 hingegen auch einmal ‫בת־ציון‬. 392 Wiesmann (1929b), 404f.424 sieht in den Titulierungen ‫ בת־עמי‬in V 3.6.10 das »Ich« einer sprechenden Figur und weist die Partien Zion zu, erreicht dies jedoch nur, indem er ‫בת־עמי‬ in V 3 mit »Töchter meines Volkes«, in V 6.10 mit »meines Volkes« übersetzt.

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sonifizierung der Stadt weitgehend aufgegeben ist. Dementsprechend tritt an Stelle direkter Anreden an die ‫ בת־ציון‬ein Reden über die ‫בת־עמי‬.393 Zugleich ändert sich offenbar auch die Sichtweise auf die personifizierte Stadt. Während die Dynamik von Klgl 1 zu 2 die einer zunehmenden Solidarisierung war, bei der der Sprecher angesichts des Leides der hungernden Kinder seine Fassung verliert, dominiert in Klgl 4 vernichtende Kritik, die eben jenes Leid der Kinder zum Anlass nimmt, hart über die ‫ בת־עמי‬zu urteilen: »Selbst Schakale reichen die Brust, säugen ihre Jungen. Die Tochter ›Mein Volk‹ ward grausam wie Strauße in der Wüste« (V 3). Wollte man diese Differenzen mit der Figur des Sprechers aus Klgl 1–2 harmonisieren, wäre ein radikal gewandelter Gemütszustand des Sprechers anzunehmen: Die Entwicklung von vordergründiger Objektivität (Klgl 1) hin zu emphatischer Parteinahme für Zion (Klgl 2) würde umgekehrt, das Leid der Kinder, das in Klgl 2 noch Trauer und Entsetzen auslöste, gibt nunmehr zu fast schon zynischen Aussagen Anlass, die in Klgl 1,10.17 subtil angedeutete und in Klgl 2,11.13.18 dann deutlicher formulierte Überzeugung, dass ein gerechtes Gericht Grenzen wahren muss, sähe sich in Klgl 4 zurückgenommen. All dies geschähe zudem nach dem Auftritt des Mannes in Klgl 3, der die in Klgl 1–2 formulierte Kritik und Anklage nicht negiert, sondern vielmehr in einen konstruktiven Rahmen bringt. Es fällt schwer, diesen Wandel als sinnvolle dramaturgische Abfolge zu erklären. Zugleich ist jedoch auch die Einführung eines (im wortwörtlichen Sinne) AntiSprechers wenig wahrscheinlich. Vier Argumente lassen sich anführen: (1) Wie eingangs ausgeführt, besteht der besondere Reiz des dramatischen Genres im szenischen Ausagieren von Figurenkonflikten und der sich darin offenbarenden Entwicklung der Figuren. Im sich zuspitzenden »Gespräch« zwischen Sprecher und Zion ist dies gut zu beobachten, ebenso in der ausführlichen Rede des Mannes aus Klgl 3. Der Sprecher aus Klgl 4 hingegen spricht in erster Linie über Zion, tritt also nicht als weitere, gleichberechtigte Stimme in den Dialog ein. (2) Dieses »Sprechen über« thematisiert zudem nicht Zion als Figur, sondern die Perspektive der Stadt Zion, mit besonderem Fokus auf die Einwohnerschaft. Das dramatische Setting, in dem Zion als figura dramatis präsent ist, wird durch den konsequenten Fokus auf die Bewohner der Stadt sukzessive geschwächt. (3) Die vom Sprecher in Klgl 4 vertretene Auffassung und Stimmung wird im Folgenden nicht aufgegriffen. Das Kollektiv von Klgl 5 setzt mit einer ganz anderen Stimmung und anderen Problemen ein, so dass auch in diesem Sinne der AntiSprecher eher beziehungslos neben den sonstigen figurae dramatis stünde. (4) Schließlich bleibt die Funktion eines solchen Anti-Sprechers unklar. Im Gegensatz zum Mann aus Klgl 3, bei dem zwar die Identität diffus, die dramatische 393 Mit der Ausnahme von V 22.

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Funktion jedoch deutlich ist, hinge die Funktion des Anti-Sprechers von seiner Relation zu den bisherigen Figuren ab. Gerade diese bleiben jedoch unklar. 5.1.4.2 Frau Zion Anders als der Sprecher, der durch seine Rede schon im ersten Vers Präsenz markiert, ist Frau Zion anfänglich nur mittelbar anwesend: In Klgl 1,1–9b wird zwar über sie geredet; personalen »Selbststand« erlangt sie jedoch erst mit dem Beginn ihrer Rede in V 9c.11c sowie ab V 12. Zion macht somit eine Entwicklung von verhandeltem Objekt zu agierendem Subjekt durch, was einerseits die Entwicklung von reagierender, »still« leidender Frau hin zu einer Mitgefühl einfordernden Fürsprecherin ihrer selbst und ihrer Kinder markiert, andererseits die Frage aufwirft, inwiefern die anfängliche Schilderung durch den Sprecher mit dem folgenden Auftreten Zions selbst übereinstimmen. Für die Diskussion der Figur Zions im Rahmen einer Analyse dramatischer Elemente der Klgl ist es wenig hilfreich, Zion aus religionsgeschichtlicher Sicht zu analysieren.394 Stattdessen scheint es erfolgversprechender, die Funktion Zions über die Beschreibung der Kontexte in denen sie auftaucht zu fassen.395 Zion wird in Klgl 1 und 2 verschiedene weibliche Rollen zugewiesen: (1) Zum einen wird auf ihren explizit weiblichen Körper abgestellt (Scham, Menstruation). Diese Äußerungen sind jeweils mit einem spezifischen inhaltlichen Interesse verbunden, nämlich der Assoziation Zions mit Unreinheit, Isolation, Sünde, die dann wiederum als Deutungsfolie für das Ausmaß des Gerichts dienen. (2) In die gleiche Richtung geht die Rede von Zions Liebhabern und Verehrern. Zion erscheint hier als Liebende und Geliebte, was innerhalb der Bewertungsmatrix einer patriarchalen Gesellschaft heraus auf die unerlaubte und schuldhafte Natur derartiger Beziehungen verweist. Auch die zuweilen mit derartigen Beschreibungen verbundenen politischen Konnotationen gehen in die Richtung einer Schuldverortung aufseiten Zions durch unerlaubtes promiskes Verhalten.396 (3) Daneben finden sich aber auch weibliche Rollen wie Fürstin und Witwe, die im Kontext eines Einst-Jetzt-Vergleiches, den Absturz Zions verdeutlichen und dabei besonders die Ebene sozialer und rechtlicher Sicherheit und Macht betreffen. (4) Insbesondere in Klgl 2 wird Zion als Mutter gezeichnet. Hier steht das Moment des Schutzes, der Fürsorge und des Vertrauens im Vordergrund. (5) Schließlich sind insbesondere in Klgl 1 die Klage und Schmerzensschreie Zions, ihr Stöhnen und Leiden wichtige Motive. Hier ist auch die soziale Rolle der 394 Vgl. hierzu die Exkurse in Berges (2002), 52–64, oder jüngst in Koenen et al. (2015), 84–93. 395 Vgl. Häusl (1998), 274f. für die gleiche Herangehensweise. 396 Dass Häusl (1998), 275 eine solche Schuldzuweisung nicht erkennen mag und daher eher auf die Schutzlosigkeit der Geliebten in einer solchen Beziehung abstellt, ist erstaunlich. Die (negative) Bewertung findet sich in Klgl 1,8–10 durchaus.

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Klagefrauen im Blick, insbesondere auch in Verbindung mit der Rede vom fehlenden »Tröster«.397 In Zions Rede ist der gleiche Wechsel zwischen Adressaten und Zeitstufen erkennbar, wie er auch beim Sprecher vorlag. In den anfänglichen Einwürfen (Klgl 1,9c.11c) wendet sie sich direkt an Gott und fordert seine Aufmerksamkeit und Solidarität ein. Anschließend wendet sie sich an die ‫עברי דרך‬, die in Klgl 1–2 die Funktion haben, die Außenperspektive auf Zion zu repräsentieren. Schließlich wendet sie sich in Klgl 2,20–22 wieder direkt an JHWH, nun allerdings in sehr viel aggressiverem Ton. Erwiderungen an die Anreden des Sprechers oder Äußerungen, die als ein Adressieren des Mannes aus Klgl 3 interpretiert werden könnten, fehlen. Die Kommunikationssituation Zions spiegelt damit ihre soziale Isolierung wider: Dem sie ansprechenden Sprecher erwidert sie nichts, die von ihr Angesprochenen (Vorbeigehende; Gott) geben ihr keine Antwort. Zions Rede ist von einem Ziel bestimmt: Das an ihr ergangene göttliche Gericht zu beschreiben, damit für das Publikum erfahrbar zu machen, und basierend darauf Solidarität einzufordern. Eine inhaltliche Entwicklung vollzieht sie daher nicht in Bezug auf ihre Ansichten selbst, wohl aber hinsichtlich der Kompromisslosigkeit, mit der sie diese vorträgt. Die verwendete Metaphorik bleibt, wo sie das an ihr erfolgte Gericht betreffen, entsprechend auch im Bereich des Körperlichen-Unmittelbaren (Feuer in ihren Gliedern, Joch auf ihrem Nacken; Tränen, krankes Herz etc.) oder beschreibt die Erfahrung feindlicher Verfolgung im Bilde der ihre Kinder schützenden Mutter.398 Wenngleich der inhaltliche Fokus der Rede Zions weitgehend gleichbleibt, ändert sich ihre Darstellung doch deutlich. Ihr anfänglicher Habitus ist der einer elenden und verlassenen Frau. Ihr sozialer Status wird mit dem einer Witwe verglichen (V 1), ihre Beziehungsrealität durch das Weinen samt nicht vorhandenem Tröster als vollständig desolat dargestellt (V 2). In den folgenden Versen wird diese Situation weiter entfaltet, und in V 8–9 mit dem aus der prophetischen Gerichtsansage (vgl. Ez 16,37; Mi 4,11; Nah 3,5) bekannten Motiv der sexuellen 397 Diesem recht facettenreichen Befund korrespondiert, dass die Personifikation Jerusalems im AT allgemein sehr verschiedene Formen annehmen kann. Dearman (2009), 152 listet exemplarisch auf: Tochter/Mutter (z. B. Jes 50,1; 54,5f.), Schwester (vgl. Ez 23,1–49), Ehefrau (z. B. Ez 16,8; Jes 54,5), Witwe (z. B. Klgl 1,1), Unfruchtbare (vgl. Jes 54,1), Prostituierte (vgl. Jes 1,21; Ez 16), zu vermählende Jungfrau (Jes 62,5), Prinzessin (Klgl 1,1; Jes 62,1–5). »[S]orting out the interplay between the various metaphorical roles of female Jerusalem is difficult. […] Thus, when one steps back from the imagery of personified Jerusalem, it is not a matter of either/or, as if the city is either spouse or daughter, virgin or harlot. She can be all of them, but the cultural conventions of each metaphor are not interchangeable.« (ebd., 155f.) Auch in den Klgl gilt, dass die mehrfachen Facetten Zions in ihrer Gleichzeitigkeit ernst genommen werden müssen. 398 Dementsprechend erinnert in Klgl 1 nur Zion an die Todesopfer des Gerichts (V 20), während der Sprecher das Bild der verlassenen, schutzlosen und der feindlichen Willkür preisgegebenen ( jungen) Frau vorzieht.

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Zurschaustellung verbunden. In V 10 verdichtet sich diese Perspektive zu konkreten Vergewaltigungsanspielungen.399 Hinzu treten Konnotationen von Zion als Geliebte (vgl. V 19; vgl. auch V 2.8), die im Kontext eines patriarchalen Wertesystems auf eine illegitime und schuldhafte Liebesbeziehung schließen lassen. Der gesamte Bereich der V 1–11 ist somit vom Motiv sozialer Isolation geprägt, wobei dies anfangs mittels des Witwenvergleichs, des Bildes des einsamen Weinens, des ruhelosen Sitzens »unter den Völkern« verdeutlicht wird, anschließend dann gesteigert mit dem Bild der öffentlichen Zurschaustellung und Vergewaltigung. In dieser Situation meldet sich Zion erstmals selbst zu Wort und weist auf ihr Elend (V 9c) und ihren verachtenswerten sozialen Status (V 11c) hin. Die anschließende Rede Zions beginnt mit einem Appell an die ‫עברי דרך‬, das unvergleichbare Ausmaß des ihr zugefügten Schmerzes anzuerkennen und das Leid »ihrer« Kinder zu sehen. Anschließend – hierin geht sie über das in der ersten Sektion Gesagte hinaus – interpretiert sie ihre Beschwerden als direkte Auswirkungen Gottes Handeln. Die Sprache bleibt dabei im Motivfeld von Passivität, Leid, Schwachheit und Elend,400 allerdings kommt stärker das personale Element des Schmerzes – sowohl über eigenes Leid als auch über das der Kinder – zum Ausdruck. So affirmiert sie in V 18 pointiert die Gerechtigkeit Gottes und anerkennt erstmals eigene Verantwortung für ihr Schicksal, kontrastiert dieses Eingeständnis jedoch sofort mit der Realität ihres Schmerzes. Die gleiche Verbindung zeigt sich in V 20.22, den einzigen beiden Versen in denen Zion selbst Schuld affirmiert. Zusammen mit dem Eingeständnis eigener Schuld kommen auch hier sehr viel deutlichere Aussagen zu den Auswirkungen des Gericht: V 19 erwähnt zum ersten Mal Tote, zumal von Priestern und Ältesten, d. h. positiv besetzten Bevölkerungsgruppen. V 20 erwähnt aktive Kämpfe in den Straßen,401 intensivierten eigenen Schmerz und eine intensivierte Darstellung eigenen Trotzes. Die Darstellung von Klgl 1 wandelt sich somit von der Beschreibung passiven Leidens zur Selbstschilderung massiven Schmerzes, wobei zum eigenen Schmerz durch die göttliche Bestrafung der Schmerz über das Leid der Kinder hinzukommt. Letzteres wird in Klgl 2 sowohl in der Rede des Sprechers als auch in der Rede Zions aufgenommen. Zions beginnt mit der schon bekannten Aufforderung ‫( ראה יהוה והביטה‬vgl. Klgl 1,11c; zudem noch 1,9c.20a sowie 1,12a), wandelt sie aber charakteristisch ab: Hier lenkt sie den Blick sofort auf die deutlichsten Beispiele eines aus dem Ruder gelaufenen göttlichen Zorns: der Tod (und der 399 Dobbs-Allsopp et al. (2001), Guest (1999). 400 V 13c: machte mich verstört/verödet, immerzu krank; V 14bc: ließ straucheln meine Kraft … ich vermochte nicht standzuhalten; V 15a verworfen hat meine Starken; V 16 ich weine … fernab ein Tröster … meine Kinder verstört, mächtig der Feind. 401 Nach Wiesmann (1929a), 100 bezieht sich V 20cβ auf das Ausbrechen von Seuchen.

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mittels Verzehr gleichsam »ungeschehen« gemachte Opferstatus) der Kinder sowie der Tod der Priester und Propheten, die zu schützen JHWHs Aufgabe sein sollte. Beide Gruppen stehen auf je ihre Weise paradigmatisch für Unschuld und Schutzlosigkeit. Im folgenden V 21 stehen ‫ נער וזקן‬Jüngling und Greis stehen als Merismus für die gesamte Einwohnerschaft, mit ‫ בתולת‬und ‫ בחורים‬sind in beiden Fällen die Teile der Bevölkerung angesprochen, die gleichsam »den Stolz der Zukunft« darstellen: die jungen Männer »in den besten Jahren« und die jungen, noch unverheirateten Frauen. Mit V 22 wird das vernichtende Urteil gefällt – und anders als in Klgl 1 keinesfalls nachgelassen oder die Anklage zurückgenommen. Vielmehr wird die Schlussfolgerung aus der vorangegangenen Schilderung gezogen: Zions Feind im Singular lässt deutlich V 4.5 anklingen und vermittelt die Schlussfolgerung, dass JHWH nicht mehr nur »wie« ein Feind handelt, sondern Zion zumFeind geworden ist. Der mütterliche Schutzinstinkt, der Zions Darstellung in Klgl 2 zugrunde liegt, ist nicht nur unmittelbar nachvollziehbar, er fordert auch bedingungslose Solidarität. Zions Schuld mag noch so groß sein – wenn sie als klagende Mutter den Verlust ihrer Kinder betrauert, muss auch ein ansonsten von ihrer Schuld überzeugter Hörer ihrem Schmerz recht geben und Fragen der Schuldzuweisung und möglichen Vermeidbarkeit des Gerichts hintanstellen. Wenn Zion in Klgl 2 somit als Mutter auftritt, verdichtet und pointiert das gleichsam die Art, wie sie wahrgenommen werden kann – sei es vom Sprecher, sei es vom Publikum. Demgegenüber, ist der Befund in Klgl 1 facettenreicher – und lässt damit auch eine differenziertere und weniger solidarische Positionierung zu. Hier findet sich auch der Konnex mit »Freunden«, »Liebhabern« und »Verehrern«, der stets die Konnotation der sozialen Illegitimität und latenten Promiskuität trägt.402 Fast vollständig fehlen in ihrer eigenen Rede demgegenüber allgemeinere Hinweise zur Vorgeschichte des Konflikts oder städtische Infrastruktur, die ihre figürliche Präsenz konterkarierten.403 Zum Abschluss sei kurz auf die ‫בת־עמי‬- und Zionsbelege in Klgl 4 eingegangen. Die offensichtlichste Beobachtung: Zion selbst kommt nicht zu Wort.404 Schon dies erschwert eine Aufrechterhaltung von Zion als figura dramatis. Hinzu 402 Häusl (1998), 275, Berlin (2002), 54f., grundlegend: Thompson (1977). 403 Natürlich existieren Ausnahmen. So spricht Zion in Klgl 1,19 von »ihren« in der Stadt verschmachtenden Priestern und Ältesten, und in Klgl 2,20 von den im Heiligtum des Herrn erschlagenen Priestern. Am bemerkenswertesten ist jedoch die Formulierung in Klgl 1,15: ‫ סלה כל־אבירי אדני בקרבי‬Verworfen hat all meine Starken der Herr in meiner Mitte. Während in den ersten beiden Fällen Zion als Figur und Mutter spricht, ergreift in Klgl 1,15 gleichsam die Stadt als Stadt das Wort. 404 Bis auf V 22 wird auch ‫ בת־ציון‬selbst gar nicht genannt – stattdessen dominiert der Titel ‫בת־עמי‬. Für die folgenden Überlegungen wird davon ausgegangen, dass, ähnlich den unterschiedlichen Rollen, die Zion in Klgl 1–2 einnehmen kann, auch die Titel für Zion wechseln können.

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kommt, dass in der Schilderung Hinweise auf figürliches Handeln, also das, was in Dramen als indirekte Regieanweisungen bezeichnet wird, fehlen. Das Bild der ‫ בת־עמי‬unterscheidet sich zudem maßgeblich vom Zionsbild aus Klgl 1–2. War Zions Anklage in Klgl 2 maßgeblich aus ihrem Mutterinstinkt gespeist, wird der ‫ בת־עמי‬die mütterliche Fürsorge in Klgl 4,3 gerade in Abrede gestellt. Die eigene Verantwortung am Gericht wird in V 6 mit der Aussage: ‫ויגדל עון בת־עמי מחטאת‬ ‫ סדם‬Größer war die Schuld der Tochter ›Mein Volk‹ als die Sünde Sodoms ins geradezu Unermessliche gesteigert. Es fällt schwer, diese Aussagen mit dem Zionsbild von Klgl 1–2 zu harmonisieren, auch, wenn in V 22 ein etwas versöhnlicherer Ton angeschlagen wird. Es gilt somit mutatis mutandis das zum Sprecher Gesagte: Die Differenzen ließen sich nur mit einer radikal gewandelten Einstellung des Sprechers zu Zion erklären, aber auch mit einer deutlich gewandelten Persönlichkeit Zions selbst. Zusammen mit dem geänderten Fokus der Darstellung des Sprechers ließe sich beides nur schwer in eine dramaturgisch sinnvolle Gesamtdeutung integrieren, so dass für Klgl 4 nicht eine speziell dramatische Kontinuität geltend gemacht werden kann. 5.1.4.3 Der Mann Wenn man im Sinne einer dramatischen Lesung Klgl 1–2 als Exposition, und hierbei Klgl 2,20–22 als »erregendes Moment« auffasst (s. o.), so begänne mit Klgl 3 eine neue Situation, eine neue Szene. Ein vom Sprecher von Klgl 1–2 deutlich unterschiedenes männliches Individuum beginnt einen Monolog, der vordergründig wenig Bezug zum Vorangegangenen hat: Bis weit in das Lied hinein wird auf den bisherigen Zionskontext nicht erneut angespielt (erst in V 48–51 finden sich wieder Anklänge); der Fokus ist zu Beginn streng und ausschließlich auf das eigene Erleben gerichtet.405 Zugleich gibt es viele Kontinuitäten. So setzt sich die bisherige Anlage als Figurenrede ohne Nebentext fort, und greift die Rede viele Motive der bisherigen Darstellung auf und etabliert den Mann ausführlich als dramatische Figur. Exkurs: Zur Identität und Funktion des Mannes

Die Identität des Mannes von Klgl 3 ist eine der Fragen, die in der Klgl-Forschung gerne und ausführlich diskutiert wird. Der Stand der Forschung, samt ihrer vielfältigen und phantasievollen Versuche einer historischen Rückbindung, werden von Berges und Renkema ausführlich referiert.406 Für sämtliche Versuche einer Identifikation gilt, dass sie 405 Wie sich zeigen wird, ist diese Fokussierung einem konkreten inhaltlich-darstellerischen Interesse geschuldet. 406 Vgl. Berges (2002), 180–185; Renkema (1998), 348–352. Wie Berges (2002), 181 treffend zusammenfasst, scheitern derartige Versuche regelmäßig an zweierlei: »Zum einen muss jede dieser historischen Figuren von außen in den Text hineingelesen werden und zum

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die offensichtlich bewusste Mehrdeutigkeit, mit der die Figur vom Dichter konzipiert wurde, ignorieren. Hinter jene zurückzufragen scheint nicht nur fruchtlos, sondern regelrecht der Textintention zuwiderzulaufen.407 Dem entsprechend scheint es sehr viel hilfreicher, nach der Funktion des Mannes im Anschluss an Klgl 2 und allgemein im Rahmen des Buches zu fragen. Hier hilft das dramentheoretische Konzept der Handlungsfunktion weiter.408 Die meisten dramatischen Plots entwickeln ihre Handlung mittels stark typologisierter Figuren: Es gibt Held und Gegenspieler, eine Jungfrau in Nöten und den edlen Retter usw. Jene Handlungsfunktionen charakterisieren eine Figur häufig stärker als der Name: »Vor allem die meist von vornherein erkennbaren Merkmale von Geschlecht, Alter und sozialem Stand programmieren die Handlung bzw. die Handlungserwartung des Publikums vor, jedenfalls dann wenn eine entsprechende Personenkonstellation zusätzlich die Richtung weist. Das Zusammentreffen eines jungen Mannes von Adel mit einem ständisch ebenbürtigen jungen Mädchen läßt z. B. einen anderen Handlungsablauf erwarten als die Begegnung eines vergleichbaren Adligen mit einer Bürgerstochter.«409 Betrachtet man die Konfliktkonstellation zum Ende von Klgl 2 unter diesem Blickwinkel, verschiebt sich die Frage von: »Wer ist der Mann?« zu: »Was macht, was bewirkt der Mann? Welchem (dramatischen) Zweck dient er?« So wäre insbesondere erwarten, dass nach Zions massiver Anklage an Gott (Klgl 2,20–22) eine andere Figur fortsetzt: Das finale ‫איבי כלם‬ Mein Feind hat (sie) vernichtet! markiert deutlich eine gedankliche Zäsur. Diese andere Figur könnte nach dem bisherigen Schema erneut der Sprecher sein – doch hatte jener seine Ratlosigkeit gerade in Klgl 2,13 zu Protokoll gegeben und seine Lösung (»Klage … um das Leben deiner Kinder willen!«) half Zion nur insofern weiter, als dass sie zu einer Position radikaler Klarheit gegen Gott fand. Es wäre somit naheliegend, eine neue Figur erwarten, die bisher noch nicht zur Sprache kam. Diese sollte Zions Anklage mindestens kommentieren, wenn nicht gar mehr oder minder deutlich abmildern oder zurückweisen. Es liegt auf der Hand, dass dies schwerlich durch eine (historische) Einzelperson geschehen kann – egal ob man diesen als gerechten »Everyman« Jerusalems,410 ermüdeten und besiegten Kriegsveteranen,411 als Propheten Jeremia412 oder König Zidkija413 fasst. Ebenfalls verwunderlich wäre es aber, wenn der Mann aus Klgl 3 die Personifizierung des männlichen Genders Zions darstellte, sich Zion hier also im Gewande ihres reflexiven,

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anderen ist es unwahrscheinlich, dass gerade diese durchweg tragisch geendeten Persönlichkeiten dem Gottesvolk Hoffnung hätten einflößen können.« Der Versuch von Berges (2002), 183, im Mann die Personifizierung der »reflexiven Seite« Zions zu sehen, ist zwar kreativ, überzeugt jedoch ebenfalls nicht. Auch er fasst die unbestimmte Identität des Mannes letztlich als zu lösendes Rätsel statt als bewusste Entscheidung des Dichters auf. Asmuth (2009), 99–101; Pfister (2001), 232–234. Asmuth (2009), 99. So Renkema (1998), 337. Lanahan (1974). Wiesmann (1929b); Zenner (1905). Saebø (1993).

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»männlichen«, Genders regelrecht selbst belehrt.414 Trotz der Frische der These überzeugt sie bei näherem Hinsehen nicht. Nach Mintz sei Zion als Frau »simply not sufficient; a woman’s voice, according to the cultural code of Lamentations, can achieve expressivity but not reflection«.415 Grundsätzlich mag man fragen, ob es tatsächlich der »cultural code of Lamentations« ist, einer Frau abzusprechen das Element rationaler Reflexion verkörpern zu können. Scheint hier vielleicht die Perspektive männlicher Exegeten durch, die damit neue alte Stereotypen in den Text eintragen wollen? Denn dass in Klgl 2,20–22 ein im Kern theologisches Argument formuliert wird, sollte doch außer Frage stehen. Und wenn Klgl 3 beispielhaft für »männliches« Theologisieren sei – hieße das, dass das Nichteingehen auf die Opferperspektive Hilf- und Schutzloser Kennzeichen »reflektierten«, männlichen Argumentierens ist? Nichts im Text der Klgl deutet darauf hin, dass eine solche Sicht vertreten würde. Ganz im Gegenteil: Der Sprecher verlor gerade angesichts des Elends der Kinder seine Fassung, und forderte Zion zu unablässiger Klage auf (V 19c). Der für Klgl 3 charakteristische Fokus auf sich selbst ist nichts, das durch einen Gender-Switch erklärbar wäre. Weiter wäre zu fragen, worin der dramaturgische Gewinn läge, wenn damit Zions weibliches Wesen gleichsam völlig dominiert und aus dem Bewusstsein gedrängt wird. Worin liegt der Gewinn einer Frau Zion, die nur noch als Mann wahrgenommen wird? Wäre es dann nicht einfacher, eine neue, männliche, Figur in den Diskus einzuführen? Weder Mintz noch Berges geben hierauf eine Antwort. Tatsächlich ist das einzige Argument, das Berges für seine Gender-Switch-Theorie vorbringt, dass man damit das Figureninventar auf das beschränken könnte, was das Buch selbst vorgibt.416 Schließlich scheint fraglich, ob Zion – egal in welchem Gender – die Funktion übernehmen könnte, die der Mann de facto innehat. Der Mann vermittelt zwischen der Anklage Zions und der Ratlosigkeit des Sprechers, indem es beide Positionen aufnimmt und in eine neue, konstruktive Richtung weiterentwickelt. Sie ist gerade deshalb als literarische bzw. dramatische Fiktion in ihrer Mehrdeutigkeit belassen: Mittels der Aufnahme von Motiven und Wendungen, die vormals von Zion und dem Sprecher verwendet wurden, wird nicht nur die »gleiche Augenhöhe« für einen gleichberechtigten Diskurs geschaffen, sondern auch auf subtile Art die Solidarisierung mit Zion angedeutet. Zugleich bleibt der Mann distinkt genug, um das Nachfolgende zu einer tatsächlichen Antwort werden zu lassen. Schließlich signalisiert die Beschreibung als Mann – ‫ גבר‬bezeichnet typischerweise einen jungen, kräftigen Mann417 –, dass die bedrückende Schilderung des göttlichen Zornes durch Zion nicht mangelnder Physis und Stärke geschuldet ist.

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So Berges (2002) in Anschluss an Mintz (1982). Mintz (1982), 9. Berges (2002), 182. Vgl. Ri 5,30; Jer 22,30. Zudem taucht der Begriff häufig in Makkarismen auf (Ps 34,9; 40,5; 94,12; 127,5), so dass der Begriff neben physischer und sexueller Potenz auch ein hervorgehobenes Gottesverhältnis konnotiert. Klgl 3 arbeitet mit deutlicher Kontrastierung: Der starke, potente Mann mit vorzüglichem Gottesverhältnis schildert sich selbst als kraftlos, verfolgt, verödet, verächtlich gemacht, von Gott ignoriert usw. Es wäre daher durchaus überlegenswert, ‫ גבר‬mit einem Begriff wie »Recke« zu übersetzen, gerade weil damit der Kontrast zwischen konnotiertem Habitus eines ‫ גבר‬und der deprimierenden Realität deutlich würde. Die von Berges vorgeschlagene Umschreibung in der Übersetzung durch die

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Die integrative Kraft, die sich aus der fehlenden Identifizierung ergibt, zeigt sich in der dreifachen Funktion, die der Mann im Laufe des Liedes verkörpert. In der ersten Sektion präsentiert er sich als von Gott verfolgtes Individuum und spielt dabei die Parallelen zum Schicksal Zions aus. Die damit erreichte Glaubwürdigkeit – »Ich weiß wovon Du redest!« – verleiht ihm die Autorität, mit der er in der Mittelsektion Zions Anklage aufgreift und kommentiert. Schließlich tritt er ab V 40 als Vorredner eines Kollektivs auf. Die bewusste Mehrdeutigkeit seines Wesens ermöglicht die Integration dieser mehrfachen Perspektiven und Funktionen in einer Figur: Gerade weil seine Identität sowohl Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede sowohl zu Zion wie auch dem später zu Wort kommenden Kollektiv aufweist, kann er zwischen ihnen vermitteln.

Ende des Exkurses Die Rede des Mannes lässt drei Abschnitte erkennen, die zugleich die drei wichtigen Stationen der inneren Entwicklung des Mannes markieren. In der ersten Sektion (V 1–21) thematisiert sich der Mann fast durchgehend selbst, wobei er den Duktus und die Art der Darstellung Zions aufnimmt und fortsetzt. Zugleich ist die Klage radikal auf das Individuum fokussiert: Umgebende Szenerie, Raum und Zeit der beschriebenen Handlung spielen praktisch keine Rolle, werden nur in floskelhaften Wendungen angedeutet, bzw. durch diese Floskeln als metaphorische Beschreibungen erkennbar gemacht. Der Mann partizipiert damit am vorher etablierten Setting, ohne dass sich ein »Verlorenheitsgefühl« einstellt – der Leser missversteht das Reden über das in die Finsternis geleitet werden (V 2.6), die in den Weg gelegten Quader (V 9), das Vermauern und in Ketten legen (V 7) usw. nicht als Bühnenbeschreibungen, Ortsangaben oder indirekte Regieanweisungen, sondern fasst es von Anfang an als Metaphorik auf, die die innere Realität des Mannes beschreiben. Zugleich durchzieht sowohl die erste wie auch zweite Sektion das Motiv »Weg« (V 2.9.11) in Verbindung mit »Verödung/Staub« (V 11.16.29), was einerseits einen schon aus Klgl 1–2 vertrauten lokalen Anhaltspunkt gibt (Klgl 1,4: Wege Zions; Klgl 1,12; 2,15: Vorbeigehende; Klgl 2,10: Staub), zum anderen das Motiv »Todesnähe« als übergreifenden Deutungshorizont etabliert. Auch in inhaltlicher Hinsicht bleibt die Rede des Mannes vollkommen Ichbezogen. So kommt z. B. das göttliche Handeln ausschließlich in seiner Auswirkung auf den Mann in den Blick und seinen Schmerz begreift er ausschließlich als Ergebnis seines individuellen, als ungerecht empfundenen Schicksals. Dies steht in deutlichem Kontrast zur Auffassung sowohl des Sprechers als auch Zions in Klgl 1– 2: Zion geht immer wieder auch auf das Schicksal »ihrer« Kinder ein (Klgl 1,15.18f. 20; 2,20–22) – zum erheblichen Teil ist ihr Schmerz das an den Kindern verübte Lautschrift gæbær, seiner These eines gender-switch geschuldet, verundeutlicht diese Komponente der Beschreibung.

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Leid. Und der Sprecher fordert Zion in Klgl 2,19 ausdrücklich auf, um des Schicksals ihrer Kinder willen zu Gott zu klagen. Ähnlich kommt auch das Thema etwaiger eigener Schuld nicht zur Sprache. Damit wird zweierlei erreicht: Zum einen wird die Darstellung fokussiert und auf den wesentlichen Kern reduziert: Das Schicksal der Kinder, und Propheten, die Zerstörung der Stadt und Entweihung des Tempels sind alles Facetten der Frage nach einem angemessenen Umgehen mit einem als ungerecht und willkürlich empfundenen Gottesgericht. In ihrer Partikularität würden sie jedoch eine allgemeine theologische Erörterung zerfasern. Zugleich ermöglicht die Reduktion, mit der der Mann sein Erleben schildert, dass jede und jeder sie als exemplarisch für das eigene konkrete Schicksal auffassen kann. Andererseits de-visualisiert es die Rede: Klgl 3 gibt im Kern die Geschichte einer inneren Conversio von Verzweiflung hin zu neuer Hoffnung und Gottesvertrauen wieder. Im Gegensatz zu Klgl 4, in dem durch grelle, z. T. fast groteske Bilder und eine Häufung von Farbadjektiven gerade visuelle Aspekte hervorgehoben werden, dient die Rücknahme derartiger Elemente hier dem Ziel, der zugleich intimen wie abstrakten Erörterung Raum zu geben. Nachdem in V 14–15 neben den konkreten physischen Bedrängungen die sozialen Konsequenzen im Fokus standen – öffentliche Schande und Verächtlichmachung –, kommen V 17–18 zu einem ersten Fazit. Einerseits hatten die Anfeindungen ein Maß erreicht, dass die Erinnerung an frühere, gute Zeiten schwinden ließ (‫ נשיתי טובה‬ich vergaß, was Glück ist), andererseits bestand genau darin ja JHWHs aktives Trachten (‫ ותזנח משלום נפשי‬du hast mich vom Heil vertrieben). Dementsprechend kommt der Mann in V 18 zum Schluss, dass weiteres Hoffen auf JHWH sinnlos ist: durch das privative ‫ מן‬fern, weg von wird ein Hoffen angesprochen, dass sich ausdrücklich von JHWH abwendet: ‫ותוחלתי מיהוה‬. »The person in front of God has so to speak also lost God’s seat in him or her.«418 Damit ist ein Gemütszustand erreicht, der dem von Zion in Klgl 2,20–22 im Kerne ähnelt. Sicherlich ist es ein Unterschied, ob Gott ausdrücklich als Feind bezeichnet wird oder man nur aktiv nach anderen Rettern sucht, doch eint beide Figuren, dass sie an den Punkt einer umfassenden Neubewertung ihres zu Gott bestehenden (Miss-)Verhältnisses gelangt sind. Doch anders als Zion bleibt der Mann dabei nicht stehen. Vielmehr formuliert er in V 19–21 die Crux dieser Haltung: Das immerwährende und fruchtlose Nachsinnen sind ‫ לענה וראש‬Bitterkeit und Gift. Das Kreisen um die eigene Lage nagt an der Seele und führt zur Erodierung des Lebenswillens, zum Zerfließen (‫ )שיח‬der ‫נפש‬. Die Position Zions bedeutet einen radikalen Bruch, der doppelt gefährlich ist. Zum einen führt sie zu einer Klage, die grenzenlos zu werden droht. Soll Klage jedoch produktiv-heilend wirken, braucht sie Orientierungen, braucht 418 Hunter (1999), 66.

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sie in gewisser Weise auch Disziplin: Sie muss wissen, wann genug ist. Andererseits droht sie, jeglichen Halt und Lebenswillen zu zerstören.419 Es ist diese Einsicht, die der Mann in V 21 in sein Herz zurückkehren und ausharren lässt.420 Die in V 21.24 auftauchende Formulierung ‫ על־כן אוחיל‬deswegen harre ich verdeutlicht dies gut: Während es sich in V 24 um ein gerichtetes Hoffen auf ihn (‫ )על־כן אוחיל לו‬handelt, ist der Ausdruck in V 21 noch indeterminiert. Hier wird ein richtungsloses Harren beschrieben, das letztlich nur weiß, dass Nicht-Hoffen keine Option darstellt. Die anschließenden paränetischen Unterweisungen entwickeln demnach auch allgemeine Verhaltensweisen für ein Leben unter dem fortdauernden Zorn Gottes. Die für die erste Sektion charakteristische Ich-Bezogenheit ist ausgeweitet; nun sind sämtliche in ähnlicher Situation verfangene LeidensgenossInnen im Blick. Zum Ende der zweiten Sektion (V 34–36) spricht der Mann gar konkrete allgemeine Missstände an, die nicht nur ihn in seinem subjektiven Erleben betreffen. Auch hier, in den V 237–39, verdeutlicht sich nochmals die in den V 19–21 zum Vorschein kommende Alternativlosigkeit der neuen Hoffnung: In den rhetorischen Rückfragen auf den Einwand der V 34–36 verbirgt sich keine sachlich nachvollziehbare Argumentation, sondern nur die Unmöglichkeit des Nicht-Hoffens. Der Zusammenhang von neuem Gottvertrauen und Ausweitung der Perspektive setzt sich zum Beginn der dritten Sektion fort. Sprach der Mann in V 34– 36 Missstände »im Land« an, so tritt er nun als Vorredner eines Kollektivs in Erscheinung, der mit neuem Gottvertrauen zur selbstkritischen Hinterfragung der eigenen Schuld aufruft. Auch anschließend, ab V 48 bleibt der Mann substanziell gewandelt: Zum einen schildert er seine Trauer über das Schicksal der ‫ בת־עמי‬und der ‫ בנות עירי‬der Töchter meiner Stadt. Das zeigt einen geweiteten Horizont an, aber auch, dass die zermürbende Stimmung des endlosen Nachgrübelns (V 20) ein Ende hat. Sein Blick hat sich aber nicht nur hinsichtlich des Erlebens des Elends geweitet – auch die »Verursacherseite« kommt nun in gewandeltem Bild ein den Blick: Nun schildert er die Bedrängnisse (die ja keines419 Des Pres (1980), 79 beschreibt eindrücklich, wie in Extremsituationen nicht zuletzt Disziplin und Lebenswille über Leben und Tod entscheiden. »Loss of desire to live is one of the primary symptoms of initial collapse, and large numbers of men and women died because during this crucial stage of imprisonment they failed to strive for life with every fiber of their being. … There were two possibilities and within three months it became apparent which one would apply. By that time a man would have gone into an almost irresistible mental decline – if, indeed, he had not already perished in a physical sense; or he would have begun to adapt himself to the concentration camp.« In ähnliche Richtung denkt auch Renkema (1998), 382f.: »The ‫ גבר‬is afraid that the ongoing affliction and persecution … will eventually get the better of him and that he will no longer be able to survive under his own steam.« 420 Gegen Boecker (1985), 65; Krasˇovec (1992), 231; Berges (2002), 199 u. ö., die den geistigen Wandel des Mannes auf den anschließend beschriebenen unveränderlichen Vergebungswillen Gottes beziehen.

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falls zwischenzeitlich ein Ende gefunden hatten) als Tun von Feinden und ruft JHWH um Rettung und Vergeltung an.

5.1.4.4 Die Kollektive in Klgl 3–5 Weiter oben wurde auf den Unterschied hingewiesen zwischen Figuren, die nur als Angesprochene im Text präsent sind, versus plurimedial präsente Figuren, d. h. Figuren, die auch selbst das Wort ergreifen. Auf der Ebene der Einzelfiguren betrifft dies v. a. die Figur JHWHs, der anders als Mann, Zion und Sprecher im Text an keiner Stelle selbst das Wort ergreift. Hinsichtlich der im Text präsenten Kollektive wäre an die Feinde in ihren verschiedensten Bezeichnungen und Abstufungen, sowie die in Klgl 1,12 und 2,15 direkt angesprochenen und wörtlich zitierten ‫ עברי דרך‬zu denken.421 Daneben ergreift an drei Stellen in den Liedern ein Kollektiv das Wort. In auffälliger Korrespondenz zu den zweimaligen kurzen Einwürfen Zions in die Rede des Sprechers in Klgl 1 finden sich in Klgl 3,40–47 und Klgl 4,17–20 zwei kurze Einschübe einer Wir-Gruppe, bevor sie dann Klgl 5 durchgängig das Wort ergreift. Die dramatische Funktion dieser Gruppen lässt sich anhand der Differenz zum Chor des antiken Dramas entwickeln. Dieser befand sich während der gesamten Vorstellung mit auf der Bühne und hatte die Funktion, das Geschehen zu kommentieren, etwaiges zum Verständnis notwendiges (Vor-)Wissen beizusteuern oder auch als »parteiischer« Chor eine eigene Meinung zu vertreten.422 Der Chor agiert hier gleichsam als »Stellvertreter des Autors«423. Seine kommentierend-beobachtende Art ermöglicht es, die vom Dichter intendierte Aussage deutlicher hervortreten zu lassen, ohne auf die genrefremde Kategorie eines Erzählers zurückgreifen zu müssen. Die »chorischen« Partien der Klgl hingegen sind gerade nicht als Kommentar einer auktorialen Instanz gedacht. In Klgl 3,40–47 tritt das Kollektiv an einer Stelle auf, an der der exemplarische Prozess einer inneren Conversio beim Mann 421 Zion fragt in Klgl 1,12: ‫ לוא אליכם כל־עברי דרך‬Ist es euch nichts, all ihr Vorbeigehenden? und setzt mit einer Schilderung ihres eigenen Schicksals durch JHWHs Hand fort. Eine Reaktion der Umstehenden wird nicht berichtet. Auch in Klgl 2,15 werden die Vorbeigehenden erwähnt, doch gebärden sie sich nun offen feindlich und schadenfreudig. In Form zweier Psalmzitate wird ihre hämische Reaktion reproduziert. Auch der Mann berichtet von der feindlichen Reaktion ihm gegenüber, allerdings geht sie hier von seinem eigenen Volk (V 14: ‫ )כל־עמי‬bzw. den Völkern (V 45: ‫ )העמים‬aus. In Klgl 4 wird erneut die Sichtweise der äußeren Welt dargestellt – diesmal sind es die ‫ מלכי־ארץ וכל ישבי תבל‬Die Könige der Erde und alle Bewohner des Erdenkreises, deren Erstaunen berichtet wird. All diesen Stellen gemein ist, dass unbeteiligte oder feindlich gesinnte Außenstehende zitiert werden, um deren erstaunter bzw. feindlich gestimmter Sicht Ausdruck zu verleihen. 422 Schößler et al. (2012), 20f. 423 Asmuth (2009), 59.

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zum Abschluss gekommen ist, zu neuem Gottvertrauen geführt hat. Das Kollektiv greift dies auf und entwickelt eine Klage, die weder die eigene Schuld in Abrede stellt, noch das überharte Ausmaß des Gerichts verschweigt. So heißt es in Klgl 3,42 zwar mit pointierter Voranstellung des »wir«: ‫ נחנו פשענו ומרינו‬wir (aber), wir haben verbrochen und getrotzt, jedoch wird im zweiten Kolon und dem folgenden V 43 fortgesetzt mit: ‫ אתה לא סלחת ׀ סכתה באף ותרדפנו הרגת לא חמלת‬du (aber) hast nicht vergeben. Du hülltest (dich) in Zorn und verfolgtest uns, hast getötet, nicht verschont. Von den sieben Bikola des Kollektivs ist ein einziges Kolon (!) der Affirmation eigener Schuld gewidmet; die übrigen dienen der Darstellung der Unbarmherzigkeit der göttlichen Reaktion. Das Kollektiv hat hier offenbar die Funktion, dem Publikum als Identifikationsbasis zu dienen: Alle, die sich vom Zorn Gottes verfolgt wissen, sind eingeladen, in diese Form der Klage mit einzustimmen. Etwas anders liegt der Fall in Klgl 5. Im Gegensatz zu Klgl 3 ist hier der konkrete historische Kontext sehr viel stärker in die Darstellung mit einbezogen. Dies führt zu der Frage, inwiefern im Sinne einer dramatischen Lesung beide Texte dem gleichen Kollektiv zugeschrieben werden können. So herrscht in Klgl 5 wieder das aus Klgl 1–2 vertraute räumliche Setting vor: Die Klage des Kollektivs ist in Jerusalem situiert. Dass derartige Details in Klgl 3 fehlen, muss kein Ausschlusskriterium sein.424 Allerdings ist die vorgestellte Zeit eine spätere und beschreibt statt der konkreten Eroberung der Stadt die Zeit der anschließenden Unterdrückung. Beides stellt aus dramaturgischer Sicht kein unüberwindbares Hindernis dar – es wäre ja durchaus vorstellbar, dass Klgl 5 sozusagen als Schlusswort aus späterer Perspektive konzipiert ist – würde allerdings eine sorgfältige situative Rahmung erfordern. Schwieriger stellt sich die Lage hingegen bei Klgl 4,17–20 dar. Dort handelt es sich um einen Rückblick, in dem ein Kollektiv die erfolglose Flucht aus der belagerten Stadt schildert. Im Gedankengang von Klgl 4 trägt dieses Fluchtgeschehen signifikante Konnotationen eines Im-Stich-Lassens. Einerseits suggeriert die Sprache (»Hommage an die vorexilische Königsideologie, gekleidet in den höfischen Stil der altorientalischen Welt«425), dass die Berichtenden Teil der 424 Allerdings weist es doch auf die sich im Laufe von Klgl 3 sukzessive steigernde Dekontextualisierung hin. Neu auftretende Figuren können zwar am vorher etablierten Setting partizipieren, jedoch bedarf es doch regelmäßiger Hinweise, um den bisherigen Kontext präsent zu halten. Geschieht dies nicht, gerät das etablierte Setting mehr und mehr in Vergessenheit. So kann der Mann zu Beginn von Klgl 3 noch problemlos am vorherigen Setting partizipieren, jedoch löst sich diese Situierung mangels erneuter Stützung und durch den Duktus der Rede als weisheitliche Unterweisung im weiteren Verlauf zunehmend auf. Wenn in dieser diffus gewordenen Situierung ein Kollektiv das Wort ergreift, das wiederum nichts zu einer neuen Konkretisierung des Settings beiträgt, verstärkt sich dieser Prozess in einem Maße, dass die Darstellung ihre Opsis fast vollständig verliert. 425 Berges (2002), 263.

Die dramatische Dimension der Klagelieder

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königlichen Entourage waren, die im Gegensatz zur einfachen Bevölkerung die Möglichkeit hatte, das Weite zu suchen. Andererseits erinnert die Schilderung an das in Klgl 4,3 sehr abwertend eingeführte Bild der Strauße, die bei Gefahr ihre Jungen im Stich lassen. Auch die Juxtaposition hungernder Kinder und Mütter mit fliehenden Eliten trägt nicht zu einem positiven Eindruck bei.426 Dieses Kollektiv wiederum mit dem in Klgl 3 und 5 Sprechenden zu identifizieren scheint schwierig, was dem Befund bezüglich der Identifizierung des Sprechers von Klgl 1–2 mit dem von Klgl 4 entspricht.

5.1.5 Die Klgl – ein Drama? Der Versuch, dramatische Kategorien zur Beschreibung von Klgl 1–3 heranzuziehen, war weitgehend erfolgreich. Nicht nur konnten die abrupten Sprecherwechsel dadurch verständlich gemacht werden, auch das fast vollständige Fehlen von Verbindungstexten zwischen den jeweiligen Redeteilen wurde so plausibel. Die zahlreichen Hinweise auf emotionales Verhalten und Gestik und Mimik ließen sich als implizite Regieanweisungen verstehen; das unvermittelte Auftreten des Mannes in Klgl 3 wäre als Szenenwechsel beschreibbar. Zudem erlaubt die Analyse die Anwendung des in Kap. 2 vorgeschlagenen Modells der narrative audiences. Zwar fehlt eine »klassische« Erzählerfiktion, doch lassen sich Andeutungen von ihr in den im Text vorhandenen impliziten Regieanweisungen erkennen.427 Insofern der Mann von Klgl 3 und Zion auf der gleichen Bühne stehen und damit vor der gleichen dramatic audience spielen, ist der gegenseitige Verweis der Lieder aufeinander, unabhängig von ihrer relativen Chronologie, unproblematisch möglich. Gleichwohl sollte dieser Befund nicht dazu führen, die Klgl als ein Drama zu bezeichnen oder die inhaltliche Kohärenz des Buches primär auf der dramatischen Ebene verorten zu wollen. Hierfür sprechen eine Reihe von Gründen: (1) Zum einen sind die dramatischen Figuren in Klgl 1–3 sehr viel deutlicher gezeichnet und mit nachvollziehbarerer inhaltlicher Entwicklung, als dies für Klgl 4–5 der Fall ist. Dies liegt zum großen Teil daran, dass in Klgl 1–3 drei klar identifizierbare Figuren sprechen, ihr Agieren in einem deutlich gezeichneten Setting geschieht und einer plausiblen inhaltlichen Progression folgt. Beginnend mit Klgl 3,40–47 jedoch treten weitere Aktanten auf, die nur noch schwer als einheitliche Figuren begriffen werden können. So ist zwar auch Klgl 4 von einem 426 Zugleich passt diese unvorteilhafte Zeichnung nahtlos in die sonstige zynisch-sarkastische Note von Klgl 4. Wenn Berges (2002), 258 gegen die Identifikation der Wir-Gruppe mit den (korrupten) Eliten einwendet, dass sich niemand mit ihnen identifizieren wolle, geht das an der Sache vorbei. 427 Miller (2001), 393, Anm. 2.

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Sprecher dominiert, jedoch lässt sich dieser nur begrenzt als »Fortsetzung« der Sprecherfigur von Klgl 1–2 begreifen. Das Kollektiv in Klgl 3,40–47 kann nur schwer bzw. gar nicht als das gleiche Kollektiv aufgefasst werden, das in Klgl 4,17– 20 zu Wort kommt. Der Wiedererkennungseffekt, der in Klgl 1–2 durch die in nachvollziehbarer Weise weitergeführten Figuren des Sprechers und Zion etabliert wurde, geht hier zunehmend verloren. (2) Das Auftreten eines Kollektivs (bzw. von Kollektiven) ab Klgl 3,40–47 ist nur sehr begrenzt mit dem antiken Analogon des Chores beschreibbar; die Funktion des Chores findet sich in diesen Kollektiven nicht wieder. Vielmehr scheinen die Kollektive jeweils aus unterschiedlichen inhaltlichen Erwägungen heraus eingeführt zu werden. In Klgl 3 wird durch das Kollektiv der Mann, der bis dahin als weisheitlicher Unterweisung gemäß »paradigmatisch Leidender« dargestellt wurde, in dieser Rolle performativ bestätigt, indem er als Sprachrohr und Vorsprecher eines Kollektivs dargestellt wird. Das Kollektiv wird hier gleichsam in pädagogischer Funktion invoziert; die Hörer*innen sollen durch die Selbstidentifikation mit dem Kollektiv in die Rede des Mannes mit hineingenommen werden. In Klgl 4 ist davon keine Rede. Hier ist das Kollektiv in durchaus moralisch zwiespältiger Hinsicht dargestellt als Flüchtende aus der belagerten Stadt. In Klgl 5 wiederum ist das Kollektiv, welches in Klgl 3 noch das geduldige Harren unter dem Zorn Gottes als Weg aus der Krise für sich erkoren hatte, mit diesem Weg offenbar nicht mehr einverstanden und ruft Gott zu einer letztgültigen Klärung des Gottesverhältnisses an. (3) Eine Einteilung in Auftritte oder Szenen will nur sehr begrenzt gelingen.428 Die Schwierigkeit liegt hier auf doppelter Ebene: Zum einen wäre mangels einer deutlichen Handlungsabfolge das gesamte Buch gleichsam als eine einzige Szene zu fassen.429 Zum anderen sind auch innerhalb dieser einen Szene z. T. rapide Wechsel des Ortes enthalten, die nur schwer in eine dramatische Interpretation eingefügt werden können. (4) Insbesondere die Integration von Klgl 4 in eine dramatische Interpretation erscheint schwierig. Die Zeichnung von Sprecher, Zion (bzw. der ‫ )בת־עמי‬und Kollektiv von Klgl 4 markiert einen deutlichen Bruch mit den jeweils korrespondierenden figurae dramatis in den übrigen Liedern – und zwar nicht nur hinsichtlich der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur, sondern auch hinsichtlich des dadurch zu erzielenden dramaturgischen Effekts. Insgesamt ist somit festzuhalten, dass die dramatischen Elemente der Klgl ein wichtiges Mittel sind, durch die einzeltextübergreifende Kohärenz geschaffen 428 Zur Unterscheidung vgl. Pfister (2001), 314–317. 429 Die Ausweitung des Plot-Begriffes auf z. B. liturgische Abfolgen, wie Utzschneider es vorschlägt, hilft hier nicht weiter; auch diese sind letztlich handlungsbasiert – der Unterschied zu story-basierten Plots liegt eher darin, dass die jeweiligen Handlungen einer anderen (eben einer liturgischen) Logik folgen.

Ein thematischer Vergleich der Lieder

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und aufrechterhalten wird. Allerdings sind sie nicht das einzige Referenzsystem für eine Interpretation. Stattdessen fügen sich die durch die Figuren dargestellten Positionen in eine übergreifende inhaltlich-theologische Argumentation ein, die selbst nicht auf dramatischer Ebene angesiedelt ist.

5.2

Auf dem Weg zu einem Interpretationsvorschlag: Ein thematischer Vergleich der Lieder

In Kap. 4.2 wurde der Nachweis erbracht, dass zwischen den einzelnen Liedern eine signifikante Anzahl von Stichwort- und Motivverbindungen existieren. Allerdings ist dies bei Liedern ähnlichen Themas, verfasst in Reaktion auf das gleiche historische Ereignis, zu erwarten; die These einer buchübergreifenden inhaltlichen Programmatik lässt sich auf diesem Weg nicht begründen. Weiterhin wurde auf die Ähnlichkeiten zu Dramentexten aufmerksam gemacht und die dramenähnlichen Elemente der Klgl diskutiert. Insofern durch diese Elemente die Texte in die Nähe des Genres »Drama« rücken, verfügen sie über eine »literarisch-ästhetische Generalanweisung für Gestaltung und Rezeption«430, was erklärt, warum der Eindruck einer einzeltextübergreifenden Darstellung überhaupt erst entsteht: Aus Sicht der Leser*innen sorgt die in Klgl 1 evozierte Vorstellung zweier Figuren, die gleichsam auf einer Bühne ihren Konflikt ausagieren, dafür, dass nach Klgl 1 und 2 ein Weiterlesen möglich ist, ja geboten erscheint. Es wurde aber auch deutlich, dass sich die dramatischen Elemente nicht derart häufen, dass rundheraus von einem Drama gesprochen werden könnte. So kann man nur begrenzt von einem Plot reden, eine Szenenabfolge war nur in Ansätzen erkennbar und im weiteren Verlauf des Buches (insbesondere Klgl 4–5) tritt das dramatische Setting zunehmend in den Hintergrund. Die bisherigen Analysen erbrachten somit ein erhebliches »kritisches Potential«: Eine Fundgrube an Stichwortbeziehungen auf der einen Seite, und ein literarischer Mechanismus, der die Leser*innen zum Weiterlesen animiert, auf der anderen. Im vorliegenden Kapitel soll es nun darum gehen, das noch fehlende Element beizusteuern, gleichsam den zündenden Funken zu liefern: das inhaltliche Ziel der Textabfolge. Wozu wird der Impuls, weiterzulesen, inhaltlich genutzt? Und: Wenn die inhaltliche Kohärenz des Buches nicht auf der dramatischen Ebene angesiedelt ist – wo dann? Zur Beantwortung dieser Fragen werden die einzelnen Lieder einem thematisch-motivischen Vergleich unterzogen. Die Abfolge von Themen und Motiven, das Einführen neuer Schwerpunkte oder Wegfallen bekannter Themen bestimmen die Eigenart und den Charakter der einzelnen Lieder. Wenn es ge430 Utzschneider (1999), 15.

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lingt, diesen Charakter sowohl hinsichtlich jedes einzelnen Liedes, wie auch der Abschnitte Klgl 1–2, Klgl 3 sowie Klgl 4–5 zu fassen, sollte es möglich sein, den roten Faden zu erkennen, der die Formulierung eines Interpretationsvorschlages des Buches ermöglicht. Diese Interpretationsthese wird anschließend in Kap. 6 am Text überprüft.

5.2.1 Der Anfang und das Ende: Ein thematisch-motivischer Vergleich von Klgl 1–2 und Klgl 4–5 Anfang und Ende sind offensichtliche Ausgangspunkte der Frage nach einer inhaltlichen Botschaft des Buches. Während man vom Beginn eine Art Ein- oder Hinführung, eine Konfliktexposition erwartet, sollte am Schluss des Buches ein Resultat, eine neugewonnene Erkenntnis o. ä. stehen. Als Frage formuliert: Lässt sich aus Themenfolge und motivischen Schwerpunkten von Klgl 1–2 im Vergleich zu Klgl 4–5 eine Funktion im Rahmen des Buches skizzieren? Da Klgl 1 und 5 sowie Klgl 2 und 4 bemerkenswerte thematische und motivische Bezüge aufweisen (s. o. Kap. 4.2), tritt eine zweite Frage hinzu: Warum wurden gerade Klgl 1– 2 an den Beginn, Klgl 4–5 hingegen an den Schluss der Sammlung gestellt? Wie bei Psalter- und Zwölfprophetenbuchexegese umreißen beide Fragen zusammen den gewählten Zugang: Jeweils tritt zur Frage nach der Funktion eines Liedes die Überlegung, warum diese Funktion gerade jenem Lied zugewiesen wurde. Der Vergleich setzt mit der Progression der einzelnen thematischen Schwerpunkte und Motive durch Klgl 1–2 und Klgl 4–5 an. Diese lassen sich zwei großen Bereichen zuordnen, die man grob mit »Inhalt« und »Gestaltung« überschreiben kann. Im Bereich Inhalt steht einerseits Zion im Fokus, wobei neben Verteilung und Prävalenz personifizierender Passagen auch die Häufigkeit und Akzentuierung städtischer Architektur (wie z. B. Tore, der Tempel oder Befestigungsanlagen) im Fokus steht. Daneben geht es in diesem Bereich auch um das Schicksal der Zivilbevölkerung. Trauer und Klage sind nach antiker Auffassung keine individuellen, »inneren« Emotionen, sondern verfügen über starke performative Komponenten. Wie prominent ist dieses Thema in den einzelnen Liedern? Wie wird das Handeln der Feinde dargestellt? Geht es um militärische Feinde, die für akute Todesbedrohung stehen? Handelt es sich um Handlanger Gottes, die primär die Ausweglosigkeit des göttlichen Gerichts verdeutlichen? Oder symbolisieren sie primär den Zustand sozialer Isolation und Ächtung? Wie deutlich ist das Motiv der Vergeltungshoffnung für die Feinde? Im Zusammenhang dazu stellt sich die Frage nach dem Theologumenon des Zorn Gottes. In welchen Liedern spielt dieses Motiv die größte Rolle? Wie wird das göttliche Gericht, wie wird göttlicher Zorn beschrieben? Welchen Stellenwert nimmt die Diskussion der eigenen Verantwortung und Schuldübernahme ein?

Ein thematischer Vergleich der Lieder

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Zion fordert JHWH sowohl in Klgl 1,11c wie auch in Klgl 2,20a auf, nicht die Augen vor dem Elend zu verschließen: ‫ ראה יהוה והביטה‬Sieh, JHWH, und schau her! Ob es sich dabei um eine Bitte, Aufforderung, Anklage, Vorwurf handelt, lässt sich nicht vollständig aus der Semantik bestimmen, sondern hängt zum Teil von der im Lied dominierenden Stimmung ab. Daher folgt anschließend der Bereich Gestaltung. Von den grundlegenden Fragen der formalen Textgestaltung über einen Vergleich der Kommunikationsstrukturen von Klgl 1–2 und Klgl 4–5 bis hin zur Textstimmung (d. h. der durch Vokabular, Motivauswahl usw. generierten Expressivität und Emotionalität der Darstellung) stehen jeweils Aspekte im Vordergrund, die die Textrezeption vorprägen. 5.2.1.1 Die Stadt-Frau Zion Weiter oben wurde die deutliche Präsenz insbesondere von Frau Zion in Klgl 1–2 schon dargestellt. Noch nicht besprochen wurde, wie genau sich der Befund in Klgl 4–5 darstellt, und wie sich insgesamt Frau Zion zu Stadt Zion verhält. Vollkommen unbeleuchtet blieb weiterhin der Stellenwert, den Tempel und Tempelkult in der Darstellung einnehmen. Für Klgl 1–2 muss der Befund des letzten Kapitels nur zusammengefasst und komplettiert werden; für Klgl 4–5 sind noch weitere Analysen notwendig. Klgl 1: Frau Zion nimmt in Klgl 1 den größten Raum ein, sowohl was die eigenen Redeanteile, als auch was ihre Präsenz als angesprochene Figur angeht. Mit insgesamt 31 Bikola wörtlicher Rede (V 9c.11c–15b.16.18–22) steht sie nur wenig hinter dem Redeanteil des Sprechers (36 Bikola) zurück; in dessen Rede wiederum ist Zion in V 2.3bc.4cβ–5.8bc.9ab.10ab.17a, d. h. 15,5 Bikola als Frau vorgestellt. Damit bleiben etwa 20 Bikola (also etwas weniger als ein Drittel des Liedes), in denen eine städtische Sicht auf Zion dominiert (bzw. Zion in einem politischen bzw. geographischen Kontext genannt wird). Städtische Infrastruktur kommt nur an ganz wenigen Stellen in den Blick;431 auch der Tempel spielt nur eine sehr marginale Rolle.432 Von der Zerstörung der Stadt oder des Tempels ist keine Rede.

431 V 4a: ‫ דרכי ציון‬die Wege Zions / ‫ כל־שעריה‬all ihre Tore (Allerdings ist in diesem Falle die Infrastruktur selbst wiederum personifiziert [ähnlich der weinenden ‫ חומת בת־ציון‬Mauer der Tochter Zion in Klgl 2,18]: die Wege trauern [‫]אבל‬, die Tore sind verstört/verödet [‫;)]שמם‬ V 7b: ‫ כל מחמדיה‬all ihre Kostbarkeiten; V 10a: ‫ כל־מחמדיה‬all ihre Kostbarkeiten; V 10b: ‫ מקדשה‬ihr Heiligtum; V 19b: ‫ בעיר‬in der Stadt; V 20c: ‫ מחוץ … בבית‬draußen/auf den Gassen … im Haus. 432 Vgl. V 4.10ab. Nach Frevel (2002), 126–131, hier 129, habe Klgl 1,4ab über einen allgemeinen Hinweis auf die Festpilger der Wallfahrtsfeste (vgl. Ex 23,14–17; 34,23f.) hinaus einen konkreteren kultischen Bezug. Die Tore in Verbindung mit Priestern und Jungfrauen seien als Hinweis auf den Tempel zu deuten: »Denn der einzige Grund, warum die jungen Frauen

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Die politischen Begriffe und Titel lassen dabei anfangs eine sehr weite Perspektive erkennen, in der Zion im Kontext von Völkern und Nationen weilt. Anschließend dominiert eine eher lokale Sichtweise, bevor zum Ende des Liedes wieder die politische »Weitwinkelperspektive« stärker wird.433 Bedeutungsunterschiede lassen sich den verwendeten Bezeichnungen nur unter Vorbehalt zuweisen.434 Auffällig ist, dass nur einmal der Titel ‫ בת־ציון‬verwendet wird (V 6a); sowie ein weiteres Mal der Titel ‫( בתולת בת־יהודה‬V 15c). Weit häufiger findet sich die Bezeichnung ‫( ירושלם‬V 7a.8a.17c). Dass auch in jenen Fällen die städtische Perspektive nicht zu dominant wird, liegt nicht zuletzt daran, dass auch dort immer wieder personifizierende Details auftauchen. So wird Juda verbannt (‫)גלה‬, Zions Wege weinen (‫)אבל‬, ihre Tore sind verstört/verödet (‫)שמם‬. Jerusalem gedenkt (‫)זכר‬, sündigt (‫)חטא‬, und ist in V 17 zur Ausgesetzten geworden (… ‫היתה‬ ‫)לנדה‬. In die gleiche Richtung geht die Beobachtung, dass die Gewalt, die Zion angetan wird, als körperliche Gewalt gegen eine Frau beschrieben wird, und nur zum Teil als Bild für Angriffe auf die städtische Architektur gedeutet werden kann. So lässt sich in V 13a ‫ עצם‬Knochen noch zwanglos auf städtische Mauern oder Fundamente deuten, jedoch gelingt dies nicht mehr im folgenden Bikolon, wo vom Netz die Rede ist, das Zions Füßen gespannt wird (‫)פרש רשת לרגלי‬, oder in V 14b, wo von Zions Hals/Nacken (‫ )צואר‬die Rede ist. Aus allem spricht die hervorgehobene Präsenz von Frau Zion im Kontext des Liedes. Klgl 2: In Klgl 2 geht die Prominenz von Frau Zion zurück: Ihr eigener Redeanteil macht nun nur noch neun Bikola aus; zusammen mit den 23 Bikola, in hier neben den Priestern herausgehoben sind, ist in einer Beteiligung am Festkult zu sehen.« (vgl. Ps 48,3.5; 68,26; Jer 31,12f.). 433 Klgl 1,1 beschreibt die Stadt als ‫ רבתי בגוים‬und ‫שרתי במדינות‬. Hier wird die Stadt im Kreise der Völker betrachtet. Beide Motive werden in V 3ab aufgegriffen, wo es nun von Juda heißt: ‫יהודה גלתה … ישבה בגוים‬. Im folgenden V 4ab hingegen ist von den ‫ דרכי‬und ‫ שערי ציון‬die Rede, womit genau den Übergang zwischen innerstädtisch-lokaler Perspektive und politischer Außensicht gekennzeichnet ist. In V 6a (‫ ויצא מן בת־ציון‬es ist weggezogen aus Zion) richtet sich der Blick aus Zion heraus auf die fortziehenden Fürsten, in V 7a (‫זכרה ירושלם‬ Jerusalem gedenkt) und V 8a (‫ חטא חטאה ירושלם‬schwer gesündigt hat Jerusalem) ist eine äußere Perspektive nicht mehr im Blick. Auch die Formulierung in V 15c (‫גת דרך אדני לבתולת‬ ‫ בת־יהודה‬die Kelter hat getreten der Herr gegen die Jungfrau Tochter Juda) zielt trotz der Nennung von Juda primär auf die Stadtbevölkerung. In V 17bc ist der Kontext dann wieder etwas geweitet: JHWH bietet ‫ ליעקב‬gegen Jakob die Feinde von ringsum (‫ )סביב‬auf, Jerusalem ist ‫ ביניהם‬zwischen ihnen zur Ausgesetzten geworden. Dem entspricht auch der Sprachgebrauch Zions: Während sie in V 12 alle Vorbeigehenden (‫ )כל־עברי דרך‬in eher lokaler Perspektive anspricht, ruft sie in V 18 ‫ כל־עמים‬alle Völker als Zeugen an. 434 Sowohl ‫( יהודה‬V 3a) als auch ‫( בתולת בת־יהודה‬V 15c) nehmen primär die Bewohnerschaft in den Blick; ‫( ירושלם‬V 7a.8a.17c) bezeichnet die Stadt samt ihrer Einwohnerschaft. ‫ יעקב‬wurde zwar nach dem Fall des Nordreiches ein Ausdruck für Gesamtisrael unter der besonderen Betonung der Erwählung, scheint aber in V 17b angesichts der Rahmung durch Frau Zion und Jerusalem primär die Erwählung, weniger die Nation in den Vordergrund zu stellen.

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denen der Sprecher Zion als Frau adressiert (V 1a.13–19), steht Zion nur noch in knapp der Hälfte des Liedes als Figur im Vordergrund. Eine entsprechend höhere Präsenz nimmt die Stadt ein, was sich in vielfältigen Hinweisen auf städtische Architektur und die die Stadt umgebenden Felder, Festungen usw. äußert.435 Zwei Schwerpunkte sind dabei deutlich erkennbar: Einerseits der Fokus auf Befestigungsanlagen,436 andererseits der Tempel und der Tempelkult.437 Bezüglich des Tempels ist dabei zweierlei auffällig: Die verwendete Terminologie bleibt äußerst unspezifisch; ‫ היכל‬Tempel oder ‫ משכן‬Offenbarungszelt, Opferbegriffe wie ‫קרבן‬, ‫ חטאת‬oder ‫ מנחה‬, die Wurzel ‫ כפר‬sühnen fehlen vollständig. ‫ טמא‬unrein kommt lediglich in Klgl 4,15 (vgl. Klgl 1,9a) vor, ‫ טהור‬rein allerdings nirgends, ‫ קדש‬heilig nur in der Verbindung ‫ אבני־קדש‬heilige Steine in Klgl 4,1. Offenbar ist nicht das Versiegen des Kultes das eigentliche Problem.438 Aber auch über die Zerstörung des Tempels wird nur sehr unspezifisch berichtet (V 1bc.6a.7ac) – im auffälligen Kontrast zur Schilderung sonstiger Zerstörungen. Entsprechend der häufigen Nennung städtischer Architektur findet sich eine Begrifflichkeit, innerhalb derer Zion primär als Stadt fungiert, relativ häufig, wobei auch hier der Schwerpunkt in der ersten Sektion liegt.439 Auffallend häufig ist die Verwendung des Titels ‫בת־ציון( בת־‬: V 1a.4c.8a.10a.18a; ‫בתולת בת־ציון‬: V 13b; ‫בת־יהודה‬: V 2b.5c; ‫בת־עמי‬: V 11b; ‫בת ירושלם‬: V 13a.15b).440 Wenngleich die 435 V 1b: ‫ תפארת ישראל‬Zierde Israels; V 1c: ‫ הדם־רגליו‬Schemel seiner Füße; V 2a: ‫ כל־נאית יעקב‬alle Weiden Jakobs; V 2b: ‫ מבצרי בת־יהודה‬Festungswälle der Tochter Juda; (V 3a: ‫ כל קרן ישראל‬jedes Horn Israels); (V 4b: ‫ כל מחמדי־עין‬alles, was dem Auge kostbar); V 4c: ‫ אהל בת־ציון‬Zelt der Tochter Zion; V 5b: ‫ מבצריו‬/ ‫ כל־ארבנותיה‬alle ihre Paläste / seine Wälle; V 6a: (‫ )מועדו‬/ ‫ שכו‬seine Sukka / (sein Festort); V 7a: ‫ מקדשו‬/ ‫ מזבחו‬seinen Altar / sein Heiligtum; V 7b: ‫חומת ארבנותיה‬ Mauern ihrer Paläste; V 7c: ‫ בית־יהוה‬Haus JHWHs; V 8a: ‫ חומת בת־ציון‬Mauer der Tochter Zion; V 8c: ‫ חל וחומה‬Wall und Mauer; V 9a: ‫ בריחיה‬/ ‫ שעריה‬ihre Tore / ihre Riegel; V 11c: ‫רחבות קריה‬ Plätze der Stadt; V 12b: ‫ רחבות עיר‬Plätze der Stadt; V 18a: ‫ חומת בת־ציון‬Mauer der Tochter Zion; V 19d: ‫ ראש כל־חוצות‬Kopfende aller Gassen; V 20c: ‫ מקדש אדני‬Heiligtum des Herrn; V 21a: ‫ ארץ חוצות‬Boden der Gassen. 436 V 2b: ‫ ;מבצרי בת־יהודה‬V 5b: ‫ מבצריו‬/ ‫ ;ארמנותיה‬V7b: ‫ ;חומת ארמנותיה‬V 8a: ‫ ;חומת בת־ציון‬V 8c: ‫חל‬ ‫ ;וחומה‬V 9a: ‫ בריחיה‬/ ‫ ;שעריה‬V 18a: ‫חומת בת־ציון‬. 437 V 1b: ‫ ;תפארת ישראל‬V 1c: ‫ ;הדם־רגליו‬V 4c: ‫ ;אהל בת־ציון‬V 6a: ‫ מועדו‬/ ‫ ;שכו‬V 6b: ‫ ;מועד ושבת‬V 6c: ‫ מלך וכהן‬König und Priester; V 7a: ‫ מקדשו‬/ ‫ ;מזבחו‬V 7c: ‫ יום מועד‬/ ‫ בית־יהוה‬Haus JHWHs / Festtag; V 9c: ‫ חזון מיהוה‬/ ‫ נביאיה‬ihre Propheten / Schauung von JHWH; V 14a: ‫ נביאיך חזו‬deine Propheten schauten; V 14c: ‫ ויחזו‬sie schauten ; V 20c: ‫ כהן ונביא‬/ ‫ מקדדש אדני‬Heiligtum des Herrn / Priester und Prophet; V 22a: ‫ כיום מועד‬wie am Festtag. 438 Frevel (2002), 141–145. 439 V 1a: ‫ ;בת־ציון‬V 1b: ‫ ;ישראל‬V 2a: ‫ ;יעקב‬V 2b: ‫ ;בת־יהודה‬V 3a: ‫ ;ישראל‬V 3c: ‫ ;יעקב‬V 4c: ‫;בת־ציון‬ V 5a: ‫ ;ישראל‬V 5c: ‫ ;בת־יהודה‬V 6b: ‫ ;ציון‬V 8a: ‫ ;בת־ציון‬V 10a: ‫ ;בת־ציון‬V 10c: ‫ ;ירושלם‬V 11b: ‫ ;בת־עמי‬V 13a: ‫ ;בת ירושלם‬V 13b: ‫ ;בתולת בת־ציון‬V 15b: ‫ ;בת ירושלם‬V 18a: ‫בת־ציון‬. 440 Nur sehr begrenzt lassen sich den einzelnen Titeln weitergehende semantische Differenzen zuweisen. ‫ בתולת בת־ציון‬ist sicherlich als Intensivierung zu verstehen. Da in V 13 ‫בת ירושלם‬ parallel dazu auftaucht, sollten beide Titulierungen (zumindest an dieser Stelle) weitgehend bedeutungsgleich sein. Damit bleiben ‫ בת־יהודה‬und ‫ בת־עמי‬als potentiell differente Titel. Naheliegend wäre es, ‫ בת־עמי‬als Personifizierung der Bevölkerung aufzufassen (Hermisson

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städtische Perspektive der ersten Sektion außer Frage steht, bleibt durch die häufige Verwendung des Titels ‫ בת־‬doch eine Erinnerung an die Frau Zion immer mit präsent.441 Eine weltpolitische Perspektive, wie sie in Klgl 1 durch Ausdrücke und Formulierungen wie »unter den Völkern«, »alle Völker«, »Herrin über die Provinzen« etabliert wurde, findet sich in Klgl 2 nur am Rande (V 9b.15c). Im Gegensatz zu Klgl 1 wird der Zorn Gottes in Klgl 2 nicht als körperliche Gewalt gegen eine Frau, sondern als physische Gewalt gegen die Bausubstanz der Stadt bzw. des Umlandes dargestellt. Büßt der Text damit auch an Unmittelbarkeit ein, so resultiert daraus doch eine an Brutalität und Deutlichkeit gesteigerte Beschreibung des Gerichtes. Wurden in Klgl 1 selbst Wege und Tore personifiziert, finden sich derartige Tendenzen in Klgl 2 nur vereinzelt (V 8c.18a). Dem entspricht, dass auch Zion nur die Opfer unter den Einwohnern erwähnt, nicht aber eigene Leiden. Insgesamt wird damit ein gewisser Schutz aufgebaut: Die der Stadt angetane Gewalt wird nicht automatisch auf Frau Zion bezogen. Die Personifizierung Zions tritt demgegenüber zurück. Klgl 4: In Klgl 4 finden sich nur noch wenige Hinweise auf eine personifizierte Stadt. In V 3b.6a.10b taucht der Titel ‫ בת־עמי‬auf, der vorher schon in Klgl 2,11 und 3,48 verwendet wurde,442 und der in V 3 negativ mit der mütterlichen Fürsorge von Schakalen und Straußen verglichen wird. Daneben findet sich in V 21f. noch [1997], 24–26; anders Wischnowsky [2001], 16f.) und in ‫ בת־יהודה‬eine Personifizierung der Nation zu sehen, somit einen Titel, der neben der Stadt auch das Umland, Festungen, sonstige Städte und Dörfer usw. mit einschließt. Da es in Klgl 2,1–5 nicht primär um den städtischen Bereich geht, könnte der Kontext der V 2.5 eine solche Deutung stützen. Allerdings ist fraglich, inwiefern eine Unterscheidung Stadt – Land für das biblische Israel überhaupt angemessen ist (Grabbe [2001]). Die schnelle Abfolge der Titel und Bezeichnungen in V 1–5 (‫)בת־יהודה – ישראל – בת־ציון – יעקב – ישראל – בת־יהודה – יעקב – בת־ציון‬ spricht eher dafür, dass der jeweilige semantische Gehalt bis zu einem bestimmten Grad variabel war. Im Folgenden wird daher davon ausgegangen, dass die verschiedenen Titel unterschiedliche Aspekte der Stadt-Frau Zion akzentuieren, jedoch funktional weitgehend identisch sind. 441 Wenngleich die personifizierende Wirkung dieses Titels nicht überbewertet werden sollte (Galambush [1992], 26: »«dead« metaphor«), trägt die Kontinuität doch dazu bei, die Erinnerung an Klgl 1 und die dortige Personifizierung aufrecht zu erhalten. Im Zuge der Emotionalisierung des Sprechers ändern sich ab V 11 auch die verwendeten Titel. Erst jetzt erscheint die Bezeichnung ‫ בת־עמי‬und der bisherige Titel ‫ בת־ציון‬wird zu ‫בתולת בת־ציון‬ (V 13a) intensiviert. Spätestens ab V 18 ist mit der ‫ חומת בת־ציון‬Mauer der Tochter Zion, die weinen und klagen soll, synekdochisch erneut Zion als klagende Frau im Blick (dies wird durch die Nennung von Körperteilen – V 18c: ‫ בת־עינך‬dein Augapfel; V 19b: ‫ לבך‬dein Herz; V 19c: ‫ כפיך‬deine Hände noch verstärkt). 442 Dass die Bezeichnung in Klgl 2 gerade dort auftaucht, wo die sterbende Stadtbevölkerung in den Blick kommt, mag zusätzlich dafürsprechen, in der ‫ בת־עמי‬eher eine Personifizierung des Volkes zu sehen (Hermisson [1997], 25). Auch die Verwendung in Klgl 4 würde diese Vermutung stützen, denn hier steht primär die Bevölkerung im Mittelpunkt. Zugleich ist aber auch für ‫ בת־ציון‬durchaus beides, »die Verkörperung der Stadt … als auch die Personifikation des in ihr lebenden Volkes« (Brandscheidt [1983], 102) anzunehmen.

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ein letztes Mal der Titel ‫בת־ציון‬, der hier parallel zu ‫ בת־אדום‬Tochter Edom verwendet wird. Wegen der deutlichen Personifizierung Edoms (/ ‫ יושבת‬/ ‫שישי ושמחי‬ ‫ תשכרי ותתערי‬juble und freue dich / (der) du wohnst / (du wirst dich) berauschen und betrinken), scheint auch Zion, wenngleich kurz, nochmals als Frau auf. Allerdings findet sich keine direkte Rede Zions mehr und auch der Sprecher redet nicht zur ‫בת־עמי‬, sondern über sie. Nun wäre es plausibel, wenn das Zurücktreten von Zion als Figur mit einer zunehmenden Präsenz von Zion als Stadt einherginge. Dies gilt jedoch nur eingeschränkt. Zwar werden Straßen/Gassen (‫ )חוץ‬und Plätze (‫ )רחב‬insgesamt fünf Mal erwähnt (‫חוץ‬: V 1b.5a.8a.12a; ‫רחב‬: V 18a), doch bleibt es davon abgesehen bei wenigen Hinweisen auf städtische Architektur, die zudem primär als Chiffren für bestimmte Themen der Darstellung (wie z. B. die Tore und Grundmauern als Symbol für die Schutzfunktion der Stadt) fungieren.443 Die häufige Nennung von ‫ חוצות‬und ‫ רחבות‬ist eine gleich doppelte Intensivierung. Zum einen wird das menschliche Leiden damit in ganz wörtlichem Sinne öffentlich. Zum anderen ist Öffentlichkeit gerade dann eine Intensivierung des Leidens, wenn es im Zusammenhang erniedrigenden Verhaltens steht (wie z. B. in V 5.7–8). Der Tempel spielt im Gegensatz zu Klgl 1–2 praktisch überhaupt keine Rolle. Die in V 1b genannten ‫ אבני־קדש‬heiligen Steine meinen nicht, wie früher häufig vermutet, Steine des Tempels444 oder Teile des Tempelschatzes,445 sondern sind als Wortspiel der im folgenden Vers genannten ‫ בני ציון‬Söhne Zions aufzufassen.446 Auch in V 13–16, in denen das Schicksal der Priester und Propheten geschildert wird, kann von einer Tempelperspektive keine Rede sein. Sehr viel prägnanter als in den bisherigen Liedern ist in Klgl 4 die weltpolitische Perspektive.447 Das menschliche Leiden während der Katastrophe wird hier zunehmend deutlich politisch kontextualisiert. Klgl 5: Von einer Personifizierung der Stadt ist nichts mehr zu spüren; ‫ ציון‬wird überhaupt nur in V 11 (‫ נשים בציון‬Frauen in Zion) und V 18 (‫ הר־ציון‬der Berg Zion) erwähnt.448 Der inhaltliche Fokus des redenden Kollektives liegt fast ausschließlich auf der eigenen beklagenswerten Existenz; die wenigen Bezüge auf 443 Vgl. V 9b: ‫ שדי‬die Felder; V 11b: ‫ יסודתיה‬ihre Grundmauern; V 12b: ‫ בשערי ירושלם‬durch die Tore Jerusalems; V 17b: ‫ בצפיתנו‬auf unserer Warte. 444 Renkema (1998), 495. Ähnlich auch Ehrlich (1914), 46: »Steine, wie sie für den Bau eines Tempels verwendet werden, d.i. ausgezeichnete Bausteine«. 445 Kraus (1983), 75. 446 Berges (2002), 240. 447 Vgl. V 12a: ‫ כל ישבי תבל | מלכי־ארץ‬Könige der Erde / alle Bewohner des Erdenrund; V 15b: ‫אמרו‬ ‫( בגוים‬man) sagte unter den Völkern; V 17a: ‫ בצפיתנו צפינו אל־גוי לא יושע‬auf unserer Warte hielten wir Ausschau nach einem Volk das nicht hilft; V 20b: ‫ בצלו נחיה בגוים‬in seinem Schatten werden wir leben unter den Völkern; V 21a: ‫ בת־אדום יושבת בארץ עוץ‬Tochter Edom, wohnende im Lande Oz; V 22b: ‫בת־אדום‬ 448 Hinzu kommen in V 11 noch die ‫ עירי יהודה‬Städte Judas.

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städtische Architektur dienen der Illustration des Leidens der Bewohner, nicht einer eigenständigen Klage um die Stadt.449 Nur sehr entfernt ist eine Tempelperspektive im Blick;450 eine makropolitische Perspektive spielt nur hinsichtlich ihrer lokalen Auswirkungen eine Rolle.451 Insgesamt nimmt Zion somit einen unterschiedlich breiten Stellenwert innerhalb der Lieder ein. In Klgl 1–2 spielt Zion als Stadt und Frau eine wichtige Rolle, wobei die Darstellung keinesfalls homogen ist. So ist Frau Zion in Klgl 1 deutlich präsenter als in Klgl 2, und städtische und figürliche Seite ihres Wesens gehen z. T. nahtlos ineinander über.452 Demgegenüber ist Klgl 2 klar unterteilt: anfangs dominiert die Sicht auf die Stadt, um dann fast vollständig von der figürlichen Perspektive verdrängt zu werden.453 Auch die Figurenzeichnung unterscheidet sich: Während Zion in Klgl 1 vornehmlich als passiv-klagende Figur auftritt, die ihr Leid weitgehend als berechtigte Strafe akzeptiert, führt das Ausmaß der Katastrophe in Klgl 2 Zion bis zur offenen Rebellion. Demgegenüber tritt in Klgl 4–5 sowohl der figürliche wie auch der städtische Aspekt Zions in den Hintergrund. Anklänge an die personifizierte Stadt findet man nur noch wenige; Klagen über städtische Zerstörungen fehlen in Klgl 4 und 5 fast völlig.454 Dies lässt einige vorläufige Schlussfolgerungen zu: – Steht in Klgl 1 und insbesondere Klgl 2 die gestrafte Frau und zerstörte Stadt für den Zusammenbruch eines erheblichen Teils der Wirklichkeit strukturierenden Sinnsysteme,455 ist dem in Klgl 4–5 der Fokus auf das (Über-)Leben

449 Das an Fremde gefallene ‫ נחלה‬Erbland und die ‫ בתים‬Häuser (V 2) kennzeichnen Mittel- und Rechtslosigkeit. Das in V 14 genannte ‫ שער‬Stadttor verweist auf die vielfältigen zivilen Funktionen des Stadttores, die zum Erliegen gekommen sind (Otto [1995b]). Nur in V 18 ist es der verwüstete Zustand des ‫ הר־ציון‬selbst, der beklagt wird. 450 Neben V 18 wäre an die in V 16 genannte ‫ עטרת ראשנו‬Krone unseres Hauptes zu denken, die an die ‫ תפארת ישראל‬Zierde Israels aus Klgl 2,1 denken lässt und möglicherweise nicht nur eine Umschreibung des Status Zions als Hauptstadt meint, sondern auch Tempelassoziationen erlaubt. 451 Vgl. V 2: ‫ נחלתנו נהפכה לזרים בתינו לנכרים‬unser Erbland ging an Fremde, unsere Häuser an Ausländer; V 6: ‫ מצרים נתנו יד אשור לשבע לחם‬Ägypten reichten wir die Hand, Assur, um satt zu werden an Brot. 452 Vgl. z. B. Klgl 1,8, wo Zion gleichsam in Zion den Blicken der Verehrer preisgegeben wird, oder Klgl 1,10, wo Zion das Eindringen der Völker in »ihr« Heiligtum beobachtet. 453 Dobbs-Allsopp (2004) fand hierfür das Begriffspaar »Razing Zion« und »Raising Zion«, das die beiden vorrangigen Perspektiven fasst, unter der Zion beschrieben wird. 454 In Klgl 4,11 wird das Zerfressen (‫ )אכל‬der ‫ יסודתי ציון‬Zions Grundmauern beklagt, in Klgl 5,18 der ‫ שמם‬verödet daliegende ‫הר־ציון‬. 455 Vgl. Steck (1992), 267f.: »Jerusalem als intaktes Bauwerk, die Stadt in ihrem eigenständigen Gabecharakter gewährter Sicherheit, Stärke, Unangreifbarkeit, Uneinnehmbarkeit, Schutzmächtigkeit Jahwes für die Bewohner nimmt damit selbst Jahwequalität an. Entsprechend ist bei Erfahrung der Zerstörung der Stadt und deren langanhaltenden Folgen in dieser Sicht kein Rückzug in das unmittelbare Verhältnis zwischen Jahwe und Menschen möglich; die Vernichtung der Manifestation Jahwes in der Stadt wird zur Krise der Jahwewahrnehmung selbst.«

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unter dem fortlaufenden Zorn Gottes gewichen, sowie der Frage nach dem Status der Erwählung Israels.456 – Der Fokus auf das ausufernde Gerichtshandeln Gottes koinzidiert mit der Dominanz Zions (sowohl als Frau als auch als Stadt) in der Darstellung. Das in Klgl 4–5 verhandelte Thema des menschlichen Leidens während der Belagerung Jerusalems und danach bedarf der Figur Zions nicht. Die Schilderung der Stadtzerstörung in Klgl 2 hat somit einen Effekt über Klgl 2 hinaus: In darstellerischer Hinsicht bleibt die Stadt gleichsam zerstört; der Fokus der folgenden Lieder wendet sich nicht mehr auf die Stadt sondern ihre Bevölkerung. – Der Tempel und insbesondere seine Zerstörung spielt ausschließlich in Klgl 2 eine gewisse Rolle. Von einer »Klage um das zerstörte Heiligtum«457 kann bei keinem der Lieder eine Rede sein. – Der Effekt der Personifizierung kann dreifach bestimmt werden: Grundlegend ist, dass der dramatische Eindruck des Textes zum Eindruck eines buchübergreifenden Sinnzusammenhangs beiträgt. Darüber hinaus lassen sich an Frau Zion die individuellen Erfahrungen der Hörer*innen zu einer paradigmatischen Erfahrung des Kollektivs zusammenfassen.458 Schließlich ermöglicht es die Rezeption der Darstellung aus einer »unbeteiligten« Zuschauerperspektive.459

5.2.1.2 Das Leid der Bevölkerung Hätte die Belagerung und Eroberung Jerusalems durch die Babylonier nicht unvorstellbares menschliches Leid und eine Vielzahl von Opfern gekostet, es gäbe das Buch der Klgl höchstwahrscheinlich gar nicht. Es ist somit nicht verwunderlich, dass das Schicksal der Bevölkerung allgemein, und der Schutz- und Wehrlosen im Speziellen, eine wichtige Rolle spielt. Eine erste Annäherung kann über das Wortfeld »Bevölkerung/Einwohner« erfolgen. Die nachfolgende Aufzählung verdeutlicht den recht breit gefächerten 456 Vgl. hierzu Perlitt (1972); Wiesmann (1936), 665. 457 Kraus (1983), 9. 458 Wischnowsky (2001), 272: »Indem sich die kollektive Erfahrung der Bevölkerung im Leiden einer individuellen Figur spiegelt, können die menschlichen Aspekte der abstrakten Bedrohung von Krieg und Fremdherrschaft zur Sprache kommen und emotionale Wirkung entfalten, ohne daß die eine kollektive Erfahrung des Volkes in eine Vielzahl individueller Erfahrungen von Einzelnen aufgelöst werden muß. Die ›Tochter Zion‹ ist und bleibt Individuum und Kollektiv zugleich.« 459 Zu einer Zeit, da die Zerstörung der Stadt noch unmittelbare Vergangenheit war, mag dies die Thematisierung des eigenen Schicksals erleichtert haben. Später, mit zunehmender zeitlicher Distanz, wird dieses Mittel unnötig, so dass dann das Kollektiv selbst das Wort ergreifen kann.

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Befund: ‫ אב‬Vater: 5,3.7; ‫ אביר‬Starker: 1,15; ‫ אדם‬Mensch: 3,36.39; ‫ אהב‬Freund: 1,2; ‫ אלמנה‬Witwe: 1,2; 5,3; ‫ אם‬Mutter: 2,12[bis]; 5,3; ‫ אסיר‬Gefangener: 3,34; ‫ אשה‬Frau: 2,20; 4,10; 5,11; ‫ בחור‬Junger Mann: 1,15.18; 2,21; 5,13.14; ‫ באי מועד‬Festgänger: 1,4; ‫ בן‬Sohn: 1,16; ‫ בני איש‬Menschensöhne: 3,33; ‫ בני ציון‬Söhne Zions: 4,2; ‫ בת‬Tochter: 3,51; ‫ בתולה‬Jungfrau: 1,4.18; 2,10.21; 5,11; ‫ גבר‬Mann: 3,1.27.35.39; ‫ זקן‬Ältester: 1,19; 2,10.21; 4,16; 5,12.14; ‫ יונק‬Säugling: 2,11; 4,4; ‫ יוצר‬Töpfer: 4,2; ‫ ילד‬Kind: 4,10; ‫יתום‬ Waise: 5,3; ‫ כהן‬Priester: 1,4.19; 2,6.20; 4,13.16; ‫ עם‬Volk: 1,7.11; 3,14; ‫ מאהב‬Liebhaber: 1,19; ‫ מכבד‬Verehrer: 1,8; ‫ מלך‬König: 2,6.9; ‫ מנחם‬Tröster: 1,2.9.16.17.21; ‫משיח‬ ‫ יהוה‬Gesalbter JHWHs: 4,20; ‫ נביא‬Prophet: 2,9.14.20; 4,13; ‫ נזיר‬Nazir: 4,7; ‫ נער‬Junge: 2,21; 5,13; ‫ עולל‬Kind: 1,5; 2,11.19.20; 4,4; ‫ עזר‬Helfer: 1,7; ‫ פליט‬Fliehender: 2,22; ‫צדיק‬ Gerechter: 4,13; ‫ שר‬Fürst: 1,6; 2,2.9; 5,12; ‫ שרה‬Fürstin: 1,1; ‫ שריד‬Überlebender: 2,22; ‫ רע‬Feind: 1,2.460 Für das doch recht kurze Buch ist das eine bemerkenswert facettenreiche Repräsentation. Die Begriffe lassen sich Kategorien zuordnen, wobei es dabei natürlich zu Überschneidungen kommt (so ist der Bereich Familie eine Teilmenge der Kategorie Bevölkerung). Zum Bereich Familie lassen sich ‫אב‬, ‫אלמנה‬, ‫אם‬, ‫בן‬, ‫בת‬, ‫בתולה‬, ‫יונק‬, ‫ילד‬, ‫יתום‬, ‫נער‬, ‫ עולל‬zuordnen. Der allgemeinen Bevölkerung gehören ‫אביר‬, ‫אדם‬, ‫אשה‬, ‫בחור‬, ‫בני איש‬, ‫בני ציון‬, ‫גבר‬, ‫יוצר‬, ‫)כל־(עם‬, ‫צדיק‬ an. Eher der politischen Sphäre zugeordnet sind ,‫מכבד‬, ‫מלך‬, ‫משיח יהוה‬, ‫שר‬, ‫שרה‬ ‫זקן‬. Zur kultisch-religiösen Sphäre gehören ‫באי מועד‬, ‫כהן‬, ‫משיח יהוה‬, ‫נביא‬, ‫נזיר‬.461 Schließlich gibt es eine Reihe von Begriffen, die primär durch das Thema des Buches vorgegeben sind: ‫אהב‬, ‫אסיר‬, ‫מאהב‬, ‫מנחם‬, ‫עזר‬, ‫פליט‬, ‫שריד‬, ‫רע‬. Die Verteilung der Lexeme in den einzelnen Liedern lässt inhaltliche Schwerpunkte erkennen. Ganz deutlich wird dies in Klgl 5: Mit ‫( אב‬V 3.7), ‫אלמנה‬ (V 3), ‫( אם‬V 3), ‫( אשה‬V 11), ‫( בחור‬V 13.14), ‫( בתולה‬V 11), ‫( יתום‬V 3) und ‫( נער‬V 13) ist bis auf einen Beleg für ‫( שר‬V 12) und die doppelte Nennung der ‫( זקנים‬V 12.14) fast ausschließlich der Kontext des Familienverbandes im Blick; vom der politischen Elite ist nur kurz die Rede, Träger kultisch-religiöser Funktionen fehlen völlig.462 Zugleich fehlt bis auf die einmalige Nennung von ‫ נער‬in V 13 die Dimension des spezifisch kindlichen Leides, sowie die Mutter-Kind-Beziehung als Bild für Schutz und Vertrauen. Demgegenüber tritt z. B. in Klgl 1 die familiäre Sphäre zurück; Begriffe wie ‫ אביר‬und ‫בחור‬, ‫ בתולה‬und das zweifache ‫ כל־עם‬deuten auf einen Problemhorizont 460 Diese Liste könnte komplettiert werden um Personengruppen, die nur in Umschreibungen genannt werden, wie z. B. Verwundete (Klgl 1,20: ‫ שכלה־חרב‬Durch das Schwert kinderlos gemacht; 4,9: ‫ חללי־חרב‬vom Schwert durchbohrt), Vornehme (Klgl 4,5: / ‫האכלים למעדניםע‬ ‫ האמנים עלי תולע‬die Köstlichkeit aßen / die auf Purpur getragen wurden) oder Tote/Sterbende: (Klgl 1,20: ‫ כמות‬drinnen gleicht es dem Tod; 4,9: ‫ חללי רעב‬Verhungerte). 461 Dass die Unterscheidung politisch – kultisch-religiös eine neuzeitliche Sichtweise auf eine antik anders wahrgenommene Realität darstellt, ist unbenommen. 462 Zur gewachsenen Bedeutung des Familienverbandes in der Zeit, in der staatliche Institutionen und Tempelkult darniederlagen, vgl. Groß (1998), 104–108.

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hin, der weniger mit dem Familienverband, denn der Zivilgesellschaft allgemein zu tun hat. Wenn Klgl 1 von Kindern spricht (V 5c: ‫ ;עוללים‬V 16c: ‫)בנים‬, handelt es sich um Zions »Kinder«, d. h. um metaphorisch-emotionalisierende Rede für die Stadtbevölkerung allgemein. Dies korrespondiert mit der Häufung von Begriffen wie ‫( אהב‬V 2), ‫( רע‬V 2), ‫( מנחם‬V 2.9.16.17.21), ‫( מכבד‬V 8) und ‫( עזר‬V 7), die eine Form nicht-familiärer, teils politisch konnotierter, teils emotionaler Bindung bzw. Abhängigkeit ausdrücken. Dass nur hier die ‫ באי מועד‬eigens erwähnt werden, unterstreicht dies: Ihr Ausbleiben hat für Jerusalem primär wirtschaftliche Konsequenzen. Klgl 2 und 4 legen demgegenüber einen deutlichen Schwerpunkt auf das Schicksal von Kindern. ‫( יונק‬2,11; 4,4), ‫( ילד‬4,10), ‫( נער‬2,21) und ‫( עולל‬2,11.19.20; 4,4) finden sich fast ausschließlich in diesen beiden Liedern.463 ‫ בתולות‬und ‫בחורים‬, weibliche und männliche Unverheiratete,464 werden hingegen vorwiegend in Klgl 1 und 5 genannt und fehlen in Klgl 4 völlig. Ebenfalls nur in Klgl 2 und 4 wird das Königtum benannt (‫מלך‬: Klgl 2,6.9; ‫משיח‬ ‫יהוה‬: Klgl 4,20). Wenngleich Begriffe der politischen Sphäre auch in den übrigen Liedern zu finden sind,465 treten sie in Klgl 2 gehäuft auf. Dass ausschließlich die ‫ זקנים‬in allen vier Liedern genannt werden, unterstreicht ihr Ansehen und politische Bedeutung,466 die gerade in der frühen Exilszeit erheblich anstieg.467 Auffällig ist die insgesamt positive Bewertung der Eliten. Die politische Führung wird an keiner Stelle ausdrücklich kritisiert; in Klgl 2 (Propheten) und 4 (Propheten und Priester) wird die religiöse Führung für die Misere verantwortlich gemacht. Und obwohl gerade in Klgl 4 diesbezüglich deutliche Worte gefunden werden, stehen diese Aussagen Seite an Seite mit Bemerkungen, die wiederum eine positivere Sicht implizieren.468 In Klgl 1 findet sich keinerlei Kritik an der politischen oder religiösen Führungselite. Begriffe für kultisch-religiöse Funktionsträger sind bis auf Klgl 5 in allen Liedern vorhanden. ‫ כהן‬findet sich in Klgl 1,4.19; 2,6.20; 4,13.16, der als »Ge463 ‫ עולל‬findet sich noch einmal in Klgl 1,5, ‫ נער‬einmal in Klgl 5,13. 464 Diese als »postadoleszente« junge Frauen und Männer zu fassen (Berlin [2002], 13f.; Tsevat [1973], 874), geht wohl an der historischen Realität vorbei: »[I]n der Antike [war] eine dem heutigen Adoleszenten entsprechende geistige Reife seinerzeit bei Jungen mit dreizehn Jahren ausgeprägt …, bei Mädchen mit zwölf, und daher jeweils deutlich vor der körperlichen Reife …, die wesentlich später eintrat als bei westeuropäischen und nordamerikanischen Jugendlichen im 20. und 21. Jahrhundert.« (Pola [2011], 133f.). 465 Klgl 1: ‫זקן‬, ‫ ;שר‬Klgl 2: ‫[זקן‬bis], ‫[מלך‬bis], ‫[שר‬bis]; Klgl 4: ‫זקן‬, ‫ ;משיח יהוה‬Klgl 5: ‫[זקן‬bis], ‫שר‬. 466 Conrad (1977), 646f. 467 Vgl. hierzu Buchholz (1988), 32–42. 468 Für Klgl 2: Kritik findet sich in V 14; in V 6c.9c.20c hingegen ist von einer kritischen Sicht wenig zu spüren. In Klgl 4 werden Propheten und Priester in V 13 geradezu alleinverantwortlich für die Einnahme Jerusalems gemacht. Auch die folgenden V 14f. offenbaren eine eher kritische Sicht. In V 7 (Schicksal der ‫ )נזירים‬und V 16 (‫ )פני כהנים לא נשאו‬hingegen herrscht eine eher sympathetische Sicht vor.

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salbter« auch in seiner kultischen Scharnierfunktion im Blick seiende ‫משיח יהוה‬ wird in Klgl 4,20 erwähnt, die ‫ נביאים‬finden sich in Klgl 2,9.14.20; 4,13. Darüber hinaus werden in Klgl 4,7 die ‫ נזירים‬und in Klgl 1,4 die ‫ באי מועד‬genannt. Zieht man die jeweilige Länge der Lieder in Betracht, so findet diese Bevölkerungsgruppe in Klgl 4 am meisten Beachtung. Deutliche Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich der jeweils beklagten Bedrängnisse, die die Bevölkerung zu erleiden hat. Klgl 1 legt den deutlichsten Fokus auf Gefangenschaft und Exilierung (V 5.6.7.18); daneben dominieren in Zions Schilderung Bilder, die kriegerische Gewalt ausdrücken (V 15.16.20), wenngleich dabei das Geschehen erheblich metaphorisiert wird: Sowohl das Keltertreten gegen Juda (V 15c: ‫)גת דרך … לבתולת בת־יהודה‬, wie auch das Ausrufen eines Festes ‫ לשבר בחורי‬zum Zerschlagen meiner Jünglinge (V 15b) thematisiert die kriegerische Gewalt zugunsten eines rhetorischen Ziels (vgl. z. B. den Rückbezug von V 15c: ‫ קרא עלי מועד‬er rief gegen mich ein Fest auf V 4c: ‫דרכי‬ ‫ ציון אבלות מבלי באי מועד‬die Wege Zions trauern wegen der ausbleibenden Festgänger). Hunger (V 11), konkreter Hungerstod (V 19) und das Zum-Erliegenkommen des Festkultes, samt der dadurch entstehenden finanziellen Einbußen für das Festpersonal (V 4), werden genannt, sind aber von eher sekundärer Wichtigkeit. Klgl 2 beklagt als einziges Lied das Ende des Königtums (V 2.6). Deutlicher als in Klgl 1 wird das Verschmähen (‫ )נאץ‬der Priester und Propheten (V 6.9) durch Gott hervorgehoben. Das Hauptaugenmerk liegt aber auf dem Hungern und Verhungern der Kinder (V 11.12.19) und der Teknophagie (V 20), sowie der Tötung der Bevölkerung (V 4.20–22) im Krieg. Auch in Klgl 4 ist der Hunger, Tod und Verzehr der Kinder (V 1–4.10) ein wichtiges Thema; hinzu kommt der mörderische, zu körperlichem Verfall führende Hunger für den Rest der Bevölkerung (V 5.7–8.9), die in Klgl 2 hinter dem Schicksal der Kinder vollkommen zurücktritt. Ihm wird der Tod im Krieg (V 9) allemal vorgezogen. Neben dem allgegenwärtigen Hunger dominiert das Schicksal der (aussätzigen) Priester (V 14.15), und die Verfolgung und Gefangenschaft der geflohenen Eliten (V 18–20). Klgl 5 nennt eher Motive, die eine schmachvolle Existenz kennzeichnen: Verlust von Besitz und Erbe (V 2), finanzielle Not (V 4), harte Arbeit (V 5.13), Entrechtung und Knechtschaft (V 8), Bedrohung durch Vagabunden (V 9); stetiger harter Hunger (V 10); Vergewaltigung von Frauen (V 11) und Toten (V 12); Entehrung der Ältesten (V 14), das generelle Erliegen des öffentlichen Lebens (V 14.15.17). Kombiniert man die Beobachtungen, so lässt sich für jedes Lied ein charakteristisches »Leidensprofil« skizzieren. Der grässliche Hunger, der in Klgl 2 und 4 das dominante Thema ist, spielt in Klgl 1 nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist dort das Motiv der Gefangenschaft und Exilierung, samt der damit verbunden Schutzlosigkeit und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Dies erklärt

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das Zurücktreten von Begriffen für Kinder, die primär familiäre Fürsorge, Versorgungspflichten und Unschuld konnotieren, und die stattdessen häufigen »Beziehungsbegriffe« wie ‫מנחם‬, ‫עזר‬, ‫אהב‬, ‫מאהב‬, ‫ רע‬usw.469 Kriegerische Gewalt wird zwar angesprochen, jedoch metaphorisiert. Dagegen ist Tod durch Hunger und Krieg das bestimmende Thema von Klgl 2. Die durch die häufigen Personenbegriffe wie Mutter, Kind oder Säugling eingespielte Kind-Mutter-Beziehung470 konnotiert Aspekte wie Schutz, Vertrauen, kindliche Angewiesenheit einerseits und mütterliche Verantwortung andererseits. Im Zusammenhang mit dem Thema »Hunger«, der bei Kleinkindern jeweils als mütterliches Defizit erscheint, weist dies auf die Verunsicherung hinsichtlich der Schutzfunktion, die der Stadt gemeinhin zukam, hin, die die Überlebenden angesichts der Katastrophe befiel. Neben den Kindern sind es erstaunlicherweise die politischen und religiösen Eliten, die einen wichtigen Stellenwert einnehmen – und bis auf V 14 durchweg positiv betrachtet werden. Schutz und Geborgenheit, die im familiären Bereich mit Müttern assoziiert ist, ist im politischen und religiösen Bereich König und Priester auferlegt. Dabei fällt auf, dass bis auf V 20a nirgends vom Tod von König, Fürst, Prophet oder Mutter die Rede ist – trotz der Allgegenwärtigkeit des Todes in der Schilderung. Stattdessen ist das Königreich entweiht (‫)חלל‬, Könige und Priester werden verschmäht (‫)נאץ‬, und weilen ohne Weisung (‫ )אין תורה‬unter den Völkern (‫)מלכה ושריה בגוים‬. Die Propheten fanden (‫ )מצא‬keine Visionen mehr, sondern schauten (‫ שוא ותפל )חזה‬Trug und Tünche. Die darin zum Ausdruck kommende Verunsicherung (die politischen und religiösen Führer sind impotent geworden) und Entwurzelung, wird in V 20 auf den familiären Bereich gewendet auf die Spitze getrieben: Kinder werden von ihren

469 Vgl. zum Motiv »Vereinsamung« bzw. »Ausweglosigkeit«: V 1a: ‫ ישבה בדד‬sitzt einsam; V 2b: ‫ אין־לה מנחם מכל־אהביה‬es ist kein Tröster unter all ihren Freunden; V 3bc: ‫היא ישבה בגוים לא‬ ‫ מצאה מנוח ׀ השיגוה בין המצרים‬sie sitzt unter den Völkern, findet keine Ruhe / sie holten sie ein zwischen den Engen; V 4c: ‫ והיא מר־לה‬ihr selbst bleibt Bitterkeit; V 7b: ‫ בנפל עמה ביד־צר‬als ihr Volk in die Hand des Bedrängers fiel; V 8c: ‫ גם־היא נאנחה ותשב אחור‬sie selbst seufzt und zieht sich zurück; V 14c: ‫ נתנני אדני בידי לא־אוכל קום‬der Herr gab mich in die Hände derer, denen ich nicht standthalten konnte; V 16b: ‫ כי־רחק ממני מנחם‬den fern von mir ist ein Tröster; V 17ac: ‫ פרשה ציון בידיה אין מנחם לה ׀ היתה ירושלם לנדה ביניהם‬Zion hat ihre Hände ausgebreitet, es gibt für sie keinen Tröster / Jerusalem wurde zur Unreinen zwischen ihnen; V 19a: ‫קראתי למאהבי‬ ‫ המה רמוני‬Ich rief meine Liebhaber – sie ließen mic him Stich; V 21a: ‫שמעו כי נאנחה אני אין מנחם‬ ‫ לי‬sie hörten, wie ich seufzte, aber niemand da, der mich tröstet. 470 Mit ‫( אם‬V 12[bis]), ‫( אשה‬V 20), ‫( יונק‬V 11), ‫( נער‬V 21) ‫( עולל‬V 11.19.20) umfasst diese ein Drittel der im Lied genannten Personen. Zählte man ‫ בתולה‬und ‫ בחור‬hinzu (V 10.21[bis]) wären fast 50 % der genannten Personen dem inneren Familienkreis zuzurechnen. Auch die Zeichnung Zions als Mutter (V 19c: ‫ על־נפש עולליך‬um des Lebens deiner Kinder willen; V 22c: ‫ אשר־טפחתי ורביתי‬die ich gepflegt und großgezogen) unterstützt die Dominanz der MutterKind-Beziehung in der Darstellung.

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Müttern verzehrt (‫ – )אכל‬die mütterliche Schutzfunktion hat sich gegen die eigentlich zu Schützenden gewandt.471 Ist Klgl 2 vom Thema Tod durch Hunger bestimmt, gilt für Klgl 4: Hunger bis zum Tod. Im Vordergrund steht das durch extremen Hunger hervorgerufene Leiden – der an seinem Ende stehende Tod gilt dagegen fast schon als Erlösung. Bestimmendes Merkmal ist dabei, dass nicht mehr nur die Schwächsten und Wehrlosesten betroffen sind, sondern die gesamte Bevölkerung, einschließlich der Eliten. Daneben wird insbesondere das Scheitern der politischen und religiösen Führer dargestellt: Die ‫ נזירים‬Nazire sind nicht wiederzuerkennen, Priester und Propheten haben die Katastrophe mit verantwortet und sind nunmehr ‫טמא‬ unrein. Auch sie fallen als religiöse Führungsfiguren aus, ebenso wie der ‫משיח‬ ‫ יהוה‬Gesalbte JHWHs. Die Gesellschaft liegt gleichsam in den letzten Zügen: die Zivilbevölkerung ist am Verhungern, die religiöse und politische Führung ist, gleich Aussätzigen, zu vollkommener Inaktivität reduziert. In Klgl 5 spielt der Tod nur noch eine sehr untergeordnete Rolle (V 9). Nicht nur durch die Wir-Rede, sondern auch durch die verwendeten Personenbegriffe zeigt sich der nach innen gewandte, kommunale Fokus des Liedes. Allgegenwärtiger Tod oder Todesgefahr sind den Beschwerlichkeiten des Besatzungsalltags gewichen (vgl. V 8). Das allgemeine Thema des Liedes wird in V 1 (mit nota accusativi deutlich hervorgehoben) genannt: Die sich in den Zuständen äußernde andauernde ‫ חרפה‬Schmach. 5.2.1.3 Trauer als Emotion und Ritual »Mourning is not only a set of customs relating to death, it is an abstract religious concept that had an important place in Israelite cultic thought.«472 Die Präsenz, die das Leiden der Bevölkerung in den Klgl einnimmt, legt es nahe, nach charakteristischen Trauermotiven in den einzelnen Liedern zu suchen. Dies umso mehr, als im Alten Orient eine enge Beziehung zwischen Emotionen und rituellen Handlungen bestand, so dass Emotionen bestimmte Handlungen zur Folge hatten, Handlungen und Rituale wiederum ihrerseits auch die damit assoziierten 471 Dementsprechend ist das Motiv Ausweglosigkeit/Vereinsamung in Klgl 2 sehr viel weniger präsent. In V 7b findet sich erneut die Wendung in die Hände ausliefern/fallen (‫הסגיר‬ ‫)ביד־אויב‬, die Könige und Fürsten sind ‫ בגוים‬unter den Völkern (V 9b), die hilflosen Fragen des Sprechers in V 13 bezeugen sowohl die Trost-Losigkeit als auch Unvergleichbarkeit Zions Zustandes und V 15f. macht im Bilde der apotropäischen Gesten der Vorbeigehenden und Feinde deutlich, dass auch hier noch gilt: ‫ היתה ירושלם לנדה ביניהם‬Es ist geworden Jerusalem zur Unreinen zwischen ihnen (Klgl 1,17c). Schließlich beklagt Zion in V 22b, dass die Zivilbevölkerung angesichts Gottes Zornes vollständig chancenlos in den Tod ging: ‫ולא‬ ‫ היה ביום אף־יהוה פליט ושריד‬da war niemand am Tag des Zorns JHWHs, der entronn oder entkam. 472 Berlin (2002), 15.

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Emotionen hervorrufen konnten.473 Ob und wie Trauer in den Liedern dargestellt wird, kann somit illustrativ für die »Innensicht« der Leidenden sein und ermöglicht, die Dimension des Leidens der Bevölkerung umfassender zu charakterisieren.474 Ein Beispiel »klassischen« alttestamentlichen Klageverhaltens findet sich in den ersten Kapiteln des Ijobbuches. Ijobs Reaktion auf die erste Prüfung (Ijob 1,13–19) besteht darin, sein Gewand (‫ )מעיל‬zu zerreißen (‫)קרע‬, das Haupt zu scheren (‫ )גזז‬und sich zu Boden fallen zu lassen (‫)נפל ארצה‬. Nach der zweiten Prüfung (Ijob 2,1–7) ritzt sich Ijob mit einer Scherbe und setzt (‫ )ישב‬sich in die Asche (‫)אפר‬. Seine Freunde, die kommen ‫ לנחמו‬ihn zu trösten, kopieren sein Verhalten (Ijob 2,12–13): Sie erheben die Stimme (‫)נשה קול‬, weinen (‫)בכה‬, zerreißen ihr Gewand (‫ )קרע מעיל‬und streuen sich Asche aufs Haupt (‫זרק עפר‬ ‫)על־ראש‬. Sieben Tage und Nächte setzen sie sich zu ihm auf die Erde (‫)ישב לארץ‬ und schweigen (‫ ואין־דבר אליו דבר‬und sie sprachen zu ihm kein Wort). Ein ganz ähnliches Vokabular wird in Gen 37,34f. gebaucht, wo berichtet wird, wie Jakob auf die Nachricht von Josefs Tod reagiert: Jakob zerreißt seine Kleider (‫ויקרע יעקב‬ ‫)שמלתיו‬, kleidet sich in Sackleinen (‫)וישם שק במתניו‬, er trauert (‫ )אבל‬viele Tage (‫)ימים רבים‬. Seine Töchter und Söhne suchen ihn zu trösten (‫)לנחמו‬, während Jakob sich in seiner Trauer dem Totenreich nahe fühlt (‫ארד אל־בני אבל ויאמר כי־‬ ‫ שאלה‬er sagte: fürwahr, ich werde leidend zu meinem Sohn in die Scheol hinunterfahren) und weint (‫)ויבך ]יוסף[ אביו‬. Die Schilderungen korrespondieren mit den von Anderson aufgezählten charakteristischen rituellen Traueraktivitäten: Fasten, sexuelle Enthaltsamkeit, Klage, Asche bzw. Staub auf das Haupt legen, das Kleiden in Sackleinen bzw. das Zerreißen der Kleider.475 Verboten sind zudem sämtliche mit ritueller Freude verbundene Aktivitäten, wie z. B. Lobpreis Gottes, Opferkult, Tora-Studium usw.476 In seinem Unvermögen Gott zu preisen, sieht sich der Trauernde gleich Toten bzw. in den Bereich der ‫ שאול‬gerückt.477 Lenkt man nun den Blick auf Klgl 1–2 und Klgl 4–5, so wird schnell deutlich, dass in Klgl 4–5 nur äußerst wenig Trauermotivik erkennbar ist. Klgl 4 bietet 473 Anderson (1991), 4. 474 Die hierfür angenommene enge Beziehung zwischen Emotion und (ritueller) Handlung ist dabei keinesfalls außergewöhnlich oder auf antike bzw. sogenannte »primitive« Kulturen beschränkt: »Rather, one could, and perhaps should, restate the entire issue in this way: terms for emotion in Western languages are used in ways that ignore or severely minimize their behavioral dimension.« (Anderson [1991], 13). 475 Anderson (1991), 49. Vgl. auch ebd., 59–82 für eine Diskussion altorientalischer Parallelen (Hierzu auch Pham [1999], 16–24). 476 Vgl. b. Taanit 30a: »Our rabbis have taught: All the commandments for the mourner are customary on the Ninth of Ab. He is forbidden to eat and drink, to anoint, to put on sandals, and to have sexual relations. He is forbidden to read the Torah, the Prophets, and the Writings and to recite the Mishna, talmud, midrash, halakhot, and aggadot.« (zit. nach Anderson [1991], 127). 477 Anderson (1991), 87–91. Vgl. z. B. Ps 30,3f.; 9,14f.; 71,20; 86,13.

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diesbezüglich fast keinerlei Hinweise. Weiter oben wurde schon darauf hingewiesen, dass das Wortfeld »Emotionen« in Klgl 4 fast vollständig fehlt – dementsprechend abwesend sind auch rituelle Handlungen, die diese Emotionen sichtbar machen könnten. Einzig die Formulierung in V 10, die gekochten Kinder gerieten den Frauen ‫ לברות‬zur Sättigung/zur Trauerspeise verweist möglicherweise auf einen quasi-rituellen Brauch, demzufolge Freunde und Verwandte dem bzw. der Trauernden Stärkung bereiteten.478 Auch in Klgl 5 finden sich (von der Anlage als »klagende Vergegenwärtigung des anhaltenden Gottesgerichts«479 abgesehen) nur in V 15.17 Andeutungen, die man ggf. mit ritueller Trauer in Verbindung bringen könnte. V 15 spricht davon, dass der (Reigen)tanz (‫ )מחול‬in Trauer gewendet ist (‫ )הפך לאבל‬und nimmt damit kontrastierend Ps 30,12 auf: Meine Wehklage hast du für mich in Reigen (‫ )למחול‬gewendet (‫)הפך‬, gelöst mein Trauergewand (‫ )שק‬und mich umgürtet mit Freude. Das in V 17 genannte kranke Herz (‫ )היה דוה לבנו‬und die verdunkelten Augen (‫ )חשכו עינינו‬lassen sich zudem als Hinweise auf Weinen auffassen. Ganz anders stellt sich die Sache in Klgl 1–2 dar. In Klgl 1 ist Trauermotivik insbesondere in den Eingangsversen V 1–4 praktisch allgegenwärtig.480 Zion sitzt (‫ – )ישב‬offenbar auf der Erde –, sie ist allein (‫)בדד‬, sie weint (‫)בכה‬, (auch) in der Nacht (‫)בלילה‬. Niemand tröstet (‫ )נחם‬sie. Zions Wege trauern (‫)אבל‬, Priester seufzen (‫)אנח‬, Jungfrauen sind betrübt (‫)יגה‬, Zion ist bitter (‫)מרר‬. In V 7 wird das Fehlen eines Trösters zudem mit den lachenden Feinden kontrastiert. Beide Motive stehen in ritual polarity: Trauer verlangt von Freunden die Tröstung; unterbleibt diese oder erfreut man sich gar am Leid des Trauernden, gibt man

478 So z. B. Renkema (1998), 520, Boecker (1985), 80, Kraus (1983), 77, Berges (2002), 249 u. ö. mit Verweis auf Jer 16,76; Ez 24,17; Hos 9,4; Ps 69,22. Ob es sich dabei um einen Ritus im engeren Sinne handelte oder eher um den nachvollziehbaren Impuls, einem Trauernden je nach Möglichkeit unnötige Arbeiten wie Nahrungszubereitung abzunehmen, muss offen bleiben; der Umstand, dass Fasten mit Trauer assoziiert ist (Anderson [1991], 49.59–82) spricht wohl eher für letzteres. Die offenere Übersetzung »wurden ihnen zur Speise«, wie sie z. B. Brandscheidt (1983), 161 oder Berlin (2002), 109 (»sustenance«) vertreten, kann z. B. auf 2Sam 13,5 verweisen, wo der Fokus deutlich auf der durch die Speise hervorgerufene Stärkung liegt. 479 Berges (2002), 276. 480 Ob man hieraus schließen sollte, dass Klgl 1 und 2 insgesamt dem literary setting der Trauerzeremonie zugehörig sind (Pham [1999], 190.194), ist dann doch eher zweifelhaft, zumal keiner der »klassischen« Klagebegriffe im Buch zu finden ist: Weder sind die Lieder selbst als ‫( קינה‬häufig in Verbindung mit ‫ נשה‬erheben, anstimmen) bezeichnet, noch findet sich das entsprechende Verb ‫קין‬. Der Ausdruck ‫ נהי‬Wehklage oder die Wurzel ‫ ספד‬die Totenklage anstimmen bzw. das Nomen ‫ מספד‬Trauerfeier/-bräuche finden sich ebenfalls nicht. (vgl. Berges [2002], 39f.) Stattdessen dominieren Begriffe, die eher allgemein Trauern kennzeichnen: ‫ אבל‬trauern (Klgl 1,4; 2,8; 5,15), ‫ אנח‬seufzen (Klgl 1,4.8.11.21) ‫ בכה‬weinen (Klgl 1,2[bis].16), ‫ צעק‬schreien (Klgl 2,18), ‫ רנן‬klagen, wimmern (Klgl 2,19).

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sich als Feind zu erkennen.481 Im weiteren Verlauf wird weniger die performativrituelle Ebene hervorgehoben, denn die emotionale: Zion und Volk seufzen (‫;אנח‬ V 8c.11a), Zion ist betrübt (‫ ;יגה‬V 12c), sie weint (‫ ;בכה‬V 16a), niemand tröstet sie (‫ ;נחם‬V 16b). V 21 kontrastiert Zions Seufzen (‫ )אנח‬erneut mit dem Frohlocken (‫ )שוש‬der Feinde und wiederholt das Fehlen eines Trösters. Die emotionale Ebene eines Trauerprozesses – Seufzen (V 21a.22c), betrübt (V 12c), verstört (V 13c.16c) und krank sein (V 13c), emotionaler Schmerz (V 20ab) – durchzieht die gesamte zweite Sektion des Liedes. In der ersten Sektion von Klgl 2 sind Trauermotive ebenfalls, wenngleich weniger dominant, erkennbar. So durchzieht die Sektion das Motiv einer Abwärtsbewegung,482 das auch für den sich in Staub oder Asche setzenden Trauernden charakteristisch ist. In V 10 wird dieses Motiv aufgenommen und explizit in einem Trauersetting verortet: Die Ältesten sitzen schweigend (‫ )דמם‬am Boden (‫)ישב לארץ‬,483 streuen sich Staub (‫ )עפר‬auf das Haupt und gürten sich mit Sackleinen (‫)שק‬. Die Jungfrauen, die ihren Kopf sinken (‫ )ירד‬lassen, nehmen zudem das Motiv der Abwärtsbewegung auf und kontrastieren die aufwärts gewandte Bewegung der ‫זקנים‬, die Staub auf ihren Kopf streuen, mit der abwärts gewandten Bewegung des In-den-Staub-Neigens des Kopfes. Auch die zweite Sektion enthält Klagemotivik. Zum einen ist die in V 13 beginnende Rede an Zion eigentlich als Trostrede gedacht. Im Klageritual hat der ‫ מנחם‬Tröster eine doppelte Aufgabe. Einerseits erfordert es die Loyalität mit dem Trauernden, den rituellen und emotionalen Zustand des Trauernden selbst anzunehmen.484 Dies ist durch das Weinen des Sprechers in V 11 aufgegriffen. Zum

481 Vgl. Anderson (1991), 73: »[M]ourning and rejoicing are ritual states consisting of a set of discrete behaviors and expressed in fixed literary formulas. The states are appropriate both to someone who is formally mourning the dead and to one who is lamenting a tragic event. In addition, to fail to observe these rites – or, worse, to be in a state that is the exact opposite of the one required – is a cause for great opprobrium. To rejoice over the downfall of one’s enemies is not simply to take inner delight at someone else’s misfortune, but rather to parade publicly one’s lack of solidarity with the party in question.« 482 V 1b: ‫ השליך משמים ארץ‬er warf vom Himmel zur Erde; V 2b: ‫ הרס בעברתו‬riss nieder in seiner Wut; V 2c: ‫ הגיע לארץ‬stieß zu Boden; V 9a: ‫ טבעו בארץ‬es versanken im Boden. 483 Eine Phase des Schweigens als Bestandteil von Klageriten wurden schon von Lohfink (1962) diskutiert; Anderson (1991), 91 zitiert Lohfink im Zusammenhang mit Ps 30,10.13, geht jedoch selbst auf die Thematik nicht weiter ein. Pham (1999), 29–31 äußert sich zustimmend, zieht dabei jedoch weitgehend das von Lohfink diskutierte Material heran und bietet wenig Eigenes. Levine (1993), 95f. spricht sich gegen eine Schweigephase als Bestandteil der Klagezeremonie aus und löst die Übersetzung in Klgl 2,10 sowie in Lev 10,3b dadurch, dass er neben ‫ דםם‬I still/erstarrt sein eine zweite, homonyme Wurzel ‫ דמם‬II trauern (so auch McDaniel [1968a], 38–40) annimmt. Unabhängig von der präzisen Übersetzung von ‫ ידמו‬in V 10 ist jedoch unstrittig, dass ein Trauerritual beschrieben wird. 484 So brechen die Freunde Ijobs ebenfalls in Klage aus, weinen, zerreißen ihre Kleider und streuen sich Asche auf das Haupt (Ijob 2,12f.). Vgl. auch Sir 7,34: Μὴ ὑστέρει ἀπὸ κλαιόντων

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anderen ist es jedoch auch seine Aufgabe, das Ende der Trauer herbeizuführen.485 Letzteres steht in Klgl 2,13–17 im Hintergrund: Der Sprecher sucht nach einer Möglichkeit, Zion zu trösten (V 13b: ‫ מה אשוה לך ואנחמך‬was könnte ich dir gleich stellen, dass ich dich tröstete), scheitert jedoch und beklagt stattdessen ihre vollständige Vereinsamung, in der wiederum auch das Hämen und Jubeln der Feinde (V 15.17) erwähnt wird. V 18f. führt nochmals das Motiv des inständigen Weinens an. Es ist sicher kein Zufall, dass Trauermotivik gerade in den Liedern auftritt, in denen die Personifikation Zions am deutlichsten ist, und in denen die meisten dramatischen Gestaltungselemente erkennbar waren. Die in derartiger Motivik sehr enge Bindung an eine entsprechende performative Komponente bietet sich gerade dort an, wo im Text sehr plastisch handelnde Figuren präsent sind. Zugleich können die Figuren als exemplarische Trauernde die eigene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erleichtern: »Die Klagelieder stellen dem Einzelnen Worte zur Trauer und zur Bewältigung des Abbruchs der Vergangenheit zur Verfügung; sie geben damit Sprachmuster, in das die Einzelnen einstimmen können.«486 Es passt gut in dieses Bild, dass das gleiche rituelle Klageverhalten auch herangezogen wurde, um die Stabilität diplomatischer Beziehungen zu sichern.487 Die Isolation, die Frau Zion zu schaffen macht, lässt sich im Rahmen der Trauermotivik nahtlos in die makropolitische Perspektive übersetzen. Umgekehrt illustriert sich auch in der mangelnden Trauermotivik von Klgl 4–5 die in diesen Liedern zurückgenommene dramatische Prägung. Daneben stützt der Befund aber auch die These, dass das Thema von Klgl 1–2 Tod, Todesnähe und Gottesferne sei, wohingegen Klgl 4–5 eher das Ausmaß des Leidens beklagen.

5.2.1.4 Die Feinde Zions – Erfüllungsgehilfen oder eigenständige Akteure? Auch bezüglich Zions Widersacher ist eine erste Annäherung über das entsprechende Vokabular möglich – wobei das Wortfeld hier bewusst weit gehalten ist und sämtliche Begriffe einschließt, die Personen und Personengruppen bezeichnen, die sich in mindestens neutraler Distanz zu den jeweiligen Hauptfiguren (also Zion, Mann oder Kollektiv) befinden: ‫ אויב‬Feind: Klgl 1,2.5.9.16.21; καὶ μετὰ πενθούντων πένθησον Entziehe dich nicht dem Weinenden, sondern trauere mit dem Trauernden. 485 Dies steht in Gen 37,35 im Hintergrund: ‫ ויקמו כל־בניו וכל־בנתיו לנחמו וימאן להתנחם‬Und alle seine Söhne und Töchter machten sich auf ihn zu trösten. Er aber ließ sich nicht trösten. Anderson (1991), 84 unterscheidet daher zwischen prozessualer (Ijob 1,12) und resultativer (Gen 37,35) Verwendung von ‫נחם‬. 486 Labahn (2002), 522. 487 Vgl. hierzu Artzi (1980).

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2,3.4.5.7.16.17.22; 3,46.52; 4,12; ‫ אשור‬Assur: Klgl 5,6; ‫ בת־אדום‬Tochter Edom: Klgl 4,21.22; ‫ גוי‬Volk:488 Klgl 1,1.3.10; 2,9; 4,15.17.20; ‫ זר‬Fremde: Klgl 5,2; ‫חרב המדבר‬ das Schwert der Wüste: Klgl 5,9; ‫ מגור‬Schrecken: Klgl 2,22; ‫ מצרים‬Ägypten: Klgl 5,6; ‫ נכרי‬Ausländer: Klgl 5,2; ‫ עבד‬Knecht: Klgl 5,8; ‫ עברי דרך‬Vorbeigehende: Klgl 1,12; 2,15; ‫ )כל־()ה(עמים‬Volk/Völker: Klgl 1,18; 3,45; ‫ צר‬Bedränger: Klgl 1,5[bis].7 [bis].10.17; 2,4.17; 4,12; ‫ קם‬Gegner: Klgl 3,62; ‫ רדף‬Verfolger: Klgl 1,3.6; 4,19. Insbesondere die Lexeme ‫אויב‬, ‫ צר‬und ‫ רדף‬tauchen sehr häufig auf, wobei der Schwerpunkt klar auf Klgl 1–2 liegt. Demgegenüber findet sich in Klgl 4 nur jeweils ein Beleg (hinzu kommen die ‫ בת־אדום‬in V 21f. und die ‫ גוים‬in V 15.17.20). In Klgl 5 wiederum tauchen diese drei Begriffe überhaupt nicht mehr auf; stattdessen wird mit ‫זר‬, ‫נכרי‬, ‫ עבד‬und dem umschreibenden ‫ חרב הבדבר‬eine vollständig andere Begrifflichkeit verwendet. Zwei Dinge sind auffällig: Zum einen, dass bis auf ‫ בת־אדום‬keine die historische Situation der Zerstörung Jerusalems konkretisierenden Bezeichnungen oder Namen verwendet werden – ‫ בבל‬Babylon z. B. wird nicht ein einziges Mal genannt. Gleiches gilt für militärische Begriffe wie ‫ חיל‬/ ‫ צבא‬Heer, ‫ רחב‬Streitwagen, ‫ מורה‬/ ‫ יורה‬Bogenschütze, ‫ כר‬Rammbock, ‫ מצור‬Belagerung usw. Wenn in Klgl 4,12 ‫ צר ואויב‬Bedränger und Feind durch die Tore Jerusalems einkehren, geht es gerade nicht um historische Konkretion sondern um den Einzug der feindlichen Macht als feindlicher Macht in den Bereich der Stadt.489 Das gilt auch für die Nennung von Assur und Ägypten in Klgl 5,6: Im Kontext sind sie gerade nicht als aktive, politische Mächte zu verstehen – was durch die Schwierigkeiten, dem Vers einen verständlichen Sinn abzugewinnen, illustriert wird.490 Zum anderen gilt die Unbestimmtheit auch für die von den Feinden beschriebenen Handlungen. In Klgl 1 wird folgendes berichtet: Freunde wurden 488 Obwohl der Begriff ‫ גוי‬grundsätzlich keine negative Konnotation enthält und auch auf Israel selbst bezogen wird (vgl. z. B. Gen 12,2), entwickelt sich schon früh die Tradition, in anderen, ungenannt bleibenden ‫ גוים‬eine mögliche politischen Gefahr für Israel zu sehen. Im Exil verstärkt sich diese Tendenz. So wird z. B. in 2Kön 17,8.11.15.33 der Fall des Nordreiches mit dem Nachahmen der ‫ גוים‬erklärt. Diese zunehmend kritische Konnotation des Begriffes führt jedoch nicht soweit, dass ‫ גוי‬pauschal zum »Fremdvolk« würde; »Israel behielt die Überzeugung, daß es einmal ein ‫ גוי‬gebildet hatte, und bewahrte die Hoffnung, noch einmal ein ‫ גוי‬zu werden.« (Clements [1973], 973) 489 Sehr viel mehr lässt sich auch inhaltlich nicht eruieren; sowohl ‫ צר‬wie ‫ אויב‬bezeichnen politische oder militärische Feinde bzw. Völker (Ringgren [1989b] 1123; Ringgren [1973a], 231). 490 Geht es um eine geschichtstheologische Rückschau (u. a. Boecker [1985], 90f., Hillers [1992], 163, Lipin´ski [1986], 698f.)? Ist es eine Anspielung auf Jes 52,4: »Nach Ägypten zog mein Volk zu Anbeginn hinab, … und Assur bedrückte es ohne Grund« (Berges [2002], 285)? Geht es um freiwilliges Exil in der Gegenwart (Renkema [1998], 604)? Oder doch eher um die gegenwärtige Lage, in der Assur und Ägypten für Nachbarvölker und einen geographischen Merismus stehen: Die großen Völker im Nordosten und Südwesten (O’Connor [2012], 75, Berlin [2002], 119, Grossberg [1989], 96 u. a.)?

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Zion zu Feinden (‫)היו לה לאויבים‬, Verfolger holten (‫ )נשג‬sie ‫ בין המצרים‬zwischen den Engen ein. Feinde haben Ruhe (‫)שלה‬, Bedränger sind obenauf (‫)היו … לראש‬, vor den Verfolgern gingen (‫ )הלך‬Kinder und Fürsten in die Gefangenschaft. Zion fiel in die Hände des Bedrängers (‫)נפל … ביד צר‬, sie lachten (‫ )שחק‬und strecken ihre Hände über ihre Kostbarkeiten aus (‫ )ידו פרש … על כל־מחמדיה‬aus. Feinde gebärden sich groß (‫)אויב הגדיל‬, sind mächtig (‫)גבר‬, und hörten (‫ )שמע‬von Zions Unglück. Schwerlich spezifische Kümmernisse! Zion wird eingekreist (wo?) und die Bevölkerung in die Gefangenschaft getrieben (wohin?), die Feinde sind mächtig, führen sich groß auf (wodurch?), sind in Ruhe (‫ )שלה‬und lachten (‫)שחק‬ über Zions Ende. Trotz allem ist festzuhalten, dass die Feinde hier doch als aktive Täter und Widersacher auftreten. Nochmals gesteigert ist die Unbestimmtheit der Darstellung in Klgl 2, wo gerade in der ersten Sektion immer wieder hervorgehoben wird, dass es JHWH ist, der das Heft des Handelns in der Hand hält. Die Feinde kommen fast gar nicht mehr als eigenständige Bedrohung in den Blick; bestenfalls erscheinen sie als Nutznießer des göttlichen Gerichts: JHWH zog seine Rechte vor ihnen zurück (‫)שוב אחור ימין‬, sie lärmen (‫ )קול נתנו‬im Hause JHWHs, klatschen in die Hände (‫)ספקו … כפים‬, sie reißen den Mund auf (‫)פצו … פיהם‬, knirschen (‫ )חרק‬mit den Zähnen und zischeln (‫)שרק‬. JHWH lässt sie jubeln (‫ )שמח‬und erhöht (‫ )רום‬ihr Horn. Im Vergleich zu Klgl 1–2 ist die Belegbasis in Klgl 4–5 nicht nur geringer, sondern auch anders akzentuiert. Während in Klgl 1–2 die drei Lexeme ‫אויב‬, ‫צר‬ und ‫ רדף‬dominierten,491 spielen in Klgl 4 die ‫ גוים‬und die ‫ בת־אדום‬eine größere Rolle. Die gesamte erste Sektion, die das Schicksal der Zivilbevölkerung während der Belagerung schildert, kommt ohne die Nennung von Feinden aus. Auch in V 12 dient das Einziehen von ‫ צר ואויב‬durch die Tore Jerusalems primär der Illustration der in V 11 beschriebenen Zerstörung Jerusalems. Sie demonstrieren die vollkommene Wehrlosigkeit der Stadt. Auch die in der zweiten Sektion genannten ‫ גוים‬sowie die ‫ בת־אדום‬haben nicht den Status aktiver Feinde, sondern fungieren als eine statische, feindlich gesinnte Kulisse. In Klgl 5 ist diese Tendenz noch verstärkt. Mit ‫זר‬, ‫ נכרי‬und ‫ עבד‬sind nicht mehr Feinde als politische oder militärische Macht angesprochen, sondern, wie es die Formulierung in V 8 ausdrückt, ‫ עבדים‬Knechte, d. h. eingesetzte Usurpatoren oder Stadthalter.492 Die von ihnen ausgehende Gefahr zielt nicht mehr auf Leib und Leben, sondern unterminiert vielmehr die Möglichkeit eines selbstbestimmten, würdevollen und ungefährdeten Lebens. Zugleich ist auffällig, dass die Genannten hier wiederum selbst aktiv werden. 491 Klgl 1 bietet außer diesen drei noch ‫( גוי‬V 1.3.10), ‫( עברי דרך‬V 12) und ‫( כל־עמים‬V 18). Klgl 2 bietet ‫( גוי‬V 9), ‫( מגור‬V 22) und ebenfalls die ‫( עברי דרך‬V 15). 492 Snijders (1977), 559.

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Insgesamt ist somit ein deutliches Ungleichgewicht erkennbar. Während die Feinde in Klgl 1–2 ständig präsent sind, tauchen sie in Klgl 4–5 eher sporadisch auf. Primär in Klgl 1 und 5 kommen sie als eigenständige Akteure in den Blick. Die eher floskelhaften Wendungen, mit denen das Handeln der Feinde beschrieben wird, ist dabei Programm: Wie auch bei der weitgehend synonymen Verwendung der Termine Feind, Fremder, Bedränger usw. im Klagepsalm des Einzelnen, geht es eher um die als bedrohlich und feindlich erfahrene Dimension von Öffentlichkeit – insofern sie das Forum bietet, in dem soziale Isolation, Verachtung und Bloßstellung stattfinden.493 Ein mit den Feinden im Zusammenhang stehendes Motiv sind die in Klgl 1, Klgl 3 und Klgl 4 auftauchenden Vergeltungsbitten. Klgl 1 und 4 haben dabei ein jeweils eigenständiges Profil. In Klgl 1 treten die Feinde als eigenständige Akteure auf, die aktiv auf Zions Ende hinarbeiten und für ihr Leid nur Hohn übrighaben (V 7d.21b). Dass Zion daher im Rahmen ihrer abschließenden Schilderung ihres Schicksals und im Horizont ihrer nochmaligen ausdrücklichen Bekräftigung ihrer eigenen Schuldigkeit (‫ מרה‬in V 20b[bis]; ‫ פשע‬in V 22b) auch gerechte Strafe für die Schuld der Feinde fordert: ‫ ויהיו כמוני‬sie sollen werden wie ich (V 21c.22a), ist durchaus nachvollziehbar.494 Anders liegt der Fall in Klgl 4. Zum einen handelt es sich in Klgl 4,21f. nicht um eine an Gott gerichtete Bitte, sondern um einen als Gewissheit – oder doch zumindest als Hoffnung – formulierten Drohspruch. Zweitens fällt die spezifische Ausformung auf. Edom soll jubeln und lachen, sich berauschen und entblößen (‫)שישי ושימחי ׀ תשכרי ותתערי‬. Die vielen i-Vokale, verbunden mit den Zisch- und t-Lauten, evozieren onomapoetisch Edoms betrunken-kichernde Selbsterniedrigung. Hiermit im Zusammenhang ist die erneut latent sexualisierte Bildsprache zu beachten. Edom wird nicht einfach nur die gerechte Strafe gewünscht, vielmehr soll sie sich betrinken und dann, von jeder Hemmung befreit, entblößen und erniedrigen. Schließlich ist bemerkenswert, dass Edom im Lied ansonsten keinerlei Rolle spielt! Zwar reiht sich die Gerichtsandrohung in eine breite prophetische Tradition ein (vgl. z. B. Jes 34; 63,1–6; Jer 49,7–22; Am 1,11f.; Mi 7,8–10; Mal 1,2–5), doch erfolgt der Hinweis hier vollkommen unvermittelt.495 Insgesamt gewinnt der Drohspruch damit eine hämisch-missgünstige Note, die die in Klgl 4 deutlich werdende emotionale und

493 Lamp et al. (1989). 494 Dass es sich hierbei um »perhaps the most troubling issue« des Liedes handle, das »without condoning the practice« zu kommentieren wäre (Bergant [2003], 54), ist wohl eher missverstandene christliche Pietät zu verstehen. Wenn eine ihre Schuld und Strafe anerkennende Zion nicht die Ahnung der Schuld der Feinde fordern »darf« – wäre es dann ebenfalls ungeboten, wenn ein bekennender und verurteilter Mörder auf Ergreifung und Bestrafung aller sonstigen Mörder hofft? 495 Boecker (1985), 85: »Seltsamer Umbruch«.

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moralische Verwahrlosung angesichts fortgesetzter lebensbedrohlicher Ermattung spiegelt. 5.2.1.5 Der Zorn Gottes als Deutungshorizont des Geschehens Zorn ist eine sehr menschliche Eigenschaft. Umso erstaunlicher ist es, dass das Alte Testament weit häufiger vom göttlichen als dem menschlichen Zorn berichtet: Von den etwa 700 Stellen, an denen im AT Begriffe des Wortfeldes »Zorn« auftauchen, beziehen sich gut 500 auf göttlichen, aber nur knapp 200 auf menschlichen Zorn.496 Unterscheidet man beim göttlichen Zorn nochmals zwischen nominalem und verbalem Gebrauch, findet sich eine dreimal so große Belegbasis für den nominalen Gebrauch.497 Man könnte sagen: Das AT interessiert nicht der zornige Gott – wohl aber der Zorn Gottes.498 Neben der Verteilung der Belege interessiert für die aktuelle Untersuchung vor allem, in welchem Kontext der göttliche Zorn genannt wird: Wird das Verheerende des Zornes akzentuiert, seine Folgerichtigkeit auf vorherige Sünde oder seine theologische Berechtigung? Erscheint der Zorn »unmittelbar« als Handlung JHWHs oder »mittelbar« als Handlungen der Feinde?499

496 Baloian (1992), 5. 497 Baloian (1992), 189. 498 Dies korrespondiert mit der Sicht auf den menschlichen Zorn. Hier ist die biblische Sicht deutlich von Deeskalation und Beschwichtigung gezeichnet: Wut und Zorn sind zu kontrollieren oder zu vermeiden. Dass menschlicher Zorn hingegen in der »überwiegenden Mehrzahl der Fälle« kritisch beurteilt werde (Bergman et al. [1973], 384), ist zu ungenau. Es kommt es auf die jeweilige Begründung an. Zorn im Dienste von Gerechtigkeit ist durchaus berechtigt (Baloian [1992], 43–49). Insofern ist es auch hier die prozessual-affektive Seite des zornigen Menschen, die missbilligt wird, weniger der Zorn des Menschen als solcher. Hinzu kommt, dass im Falle des göttlichen Zornes praktisch immer konkrete Konsequenzen folgen. Das AT kennt mit 2Chr 28,25; 33,6; 1Kön 16,26.33 nur äußerst selten den Fall, dass Gottes Zorn erregt wird, ohne dass daraus unmittelbare Konsequenzen folgten (Baloian [1992], 98f.). Auch dies spricht dafür, dass Zorn im AT mehrheitlich faktitiv gedacht wird, nicht prozessual. 499 Der Aspekt des zornigen Gottes wurde lange vernachlässigt (vgl. aber schon Volz [1924], Tasker [1951] oder Fichtner [1954]), jedoch existiert inzwischen eine intensive Rezeption, nicht zuletzt auch durch die Diskussion der Assmanschen These, der monotheistischen Idee eigne eine »inhärente Gewalttätigkeit« (Assmann [2002], 132; vgl. grundlegend Assmann [2003], dort insbesondere auch die »Erwiderungen«, sowie die Debattenbeiträge des Bandes Jahrbuch Politische Theologie 4 [2002]). Einen aktuellen Forschungsüberblick bietet Hartenstein (2013). Zum Verhältnis der ‫יום יהוה‬-Vorstellung zum in den Klgl auftauchenden ‫יום‬ (‫)חרון( אף)־יהוה‬, vgl. Spieckermann (1989), Boase (2006), 105–139, Berges (2002), 111–114 und Berges (2004a). Beschränkt sich die deutsche Diskussion noch weitgehend auf die theologische Diskussion, kommen in der englischsprachigen Forschung vermehrt psychologische und kognitive Aspekte des Zorns Gottes in den Blick. Vgl. hierzu Kruger (2000), van Wolde (2008) oder Lemos (2015) und den Forschungsüberblick von Kotzé (2004).

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Das Wortfeld des göttlichen Zorns umfasst etwa zehn Begriffe,500 von denen sechs in den Klgl vorkommen. Am häufigsten findet sich ‫ אף‬mit insgesamt zehn Vorkommen (Klgl 1,12; 2,1[bis].3.6.21.22; 3,43.66; 4,11), gefolgt von jeweils zwei Belegen für ‫( חרון‬Klgl 1,12; 4,11), ‫( חמה‬Klgl 2,4; 4,11) und ‫( עברה‬Klgl 2,2; 3,1). Jeweils einmal kommen die Lexeme ‫( זעם‬Klgl 2,6) und ‫( קצף‬Klgl 5,22) vor. Die Belegverteilung innerhalb der Klgl bildet somit den alttestamentlichen Befund relativ gut ab. In semantischer Hinsicht sind gewisse Akzentuierungen erkennbar. In Klgl 1 und 4 beschränken sich die Vorkommen der Zornbegriffe jeweils auf den zentralen Vers, und bieten neben ‫ אף‬mit ‫( חרון‬Klgl 1,12; 4,11) und ‫חמה‬ (Klgl 4,11) jeweils Begriffe, die das Moment des inneren Glühens akzentuieren.501 Demgegenüber dominiert in Klgl 2 der »schnaubende« Zorn Gottes (‫)אף‬, der mit ‫חמה‬, ‫ עברה‬und ‫ זעם‬vorrangig mit Begriffen abgewandelt wird, denen primär das Moment des Schäumens und Überwallens inne wohnt. In Klgl 5 ist mit ‫ קצף‬ein Ausdruck gewählt, der nach Reiterer mit »Grollen« übersetzt werden sollte und in Intensität von anderen Begriffen des Wortfeldes ›Zorn‹ deutlich übertroffen wird.502 Damit ist die äußerst ungleiche Verteilung der Belege schon angedeutet. Klgl 1–2 liegen mit elf deutlich vor Klgl 4–5 mit vier Belegen. Grund dafür ist die 500 Die folgende Zusammenstellung beruht auf den Angaben in Baloian (1992), 6f. und Bergman et al. (1973), 379–381. Die Begriffe in absteigender Häufigkeit: (1) Der häufigste Begriff ist ‫ אף‬Nase/Zorn; inklusive des Verbes ‫ אנף‬zürnen finden sich 224 Belege. Neben der absoluten Häufigkeit taucht es auch am häufigsten als Synonym für andere Begriffe des Wortfeldes auf und kann somit als der biblische »Standardbegriff« für Zorn gelten. (2) Das zweithäufigste Lexem ist mit 136 Vorkommen ‫ חרה‬glühen, sowie das Nomen ‫חרון‬. Während das Nomen fast ausschließlich für göttlichen Zorn verwendet wird, ist die Verwendung des Verbs (ca. 90 Belege) gleichmäßig auf menschlichen und göttlichen Zorn verteilt. (3) ‫חמה‬ Glut/Zorn stammt offenbar vom der Wurzel ‫ יחם‬heiß sein ab. Insgesamt finden sich 118 Belege. (4) ‫ כעס‬verdrießen, reizen, provozieren findet sich 77 Mal und beschreibt als terminus technicus insbesondere der dtr Theologie die Kränkung Gottes durch den Abfall des Volkes. (5) ‫ קצף‬zürnen ist nominal fast ausschließlich in Bezug auf JHWH verwendet; die verbale Verwendung ist gleichmäßig auf göttlichen und menschlichen Zorn verteilt. Insgesamt finden sich 60 Vorkommen. Die weiteren Begriffe sind relativ selten: (6) ‫ עבר‬und das Nomen ‫ עברה‬zürnen bzw. Zorn finden sich 38 Mal, (7) ‫ זעם‬wüten/verwünschen ist mit 34 Belegen vertreten; die 22 Vorkommen des Nomens haben ausschließlich JHWH als Subjekt. (8) ‫זעף‬ zürnen/verdrießlich, mürrisch aussehen ist mit 16 Vorkommen recht selten; es wird zudem häufig parallel mit Begriffen wie »Kummer« und »Missmut« benutzt. Nur Jes 30,30 bietet mit ‫ בזעף אף‬einen klaren »Zornbeleg«. (9) Fünf Mal hat ‫ רגז‬bewegt sein/zittern die Bedeutung »zürnen« (Ijob 12,6; 37,2; 2Kön 19,27f.; Hab 3,2). (10) In seltenen Fällen (Ri 8,3; Jes 25,4; 30,28; Sach 6,8; Spr 16,32; 29,11) kann auch ‫ רוח‬die Bedeutung »Zorn« haben; die Ableitung wäre hier über das eigentliche »Wind/Hauch« über »Schnauben« zu »Zorn«. 501 Vgl. die nach wie vor treffende Charakterisierung in Eichrodt (1957), 168: »Den Zornaffekt als innere Glut beschreiben ‫ ָחר ֺון‬und ‫ֵחָמה‬, seine Auswirkungen gegen die Umgebung als ein Schauben ‫ רוּ ַח‬und ‫ַאף‬, als ein Schäumen und Überwallen ‫ֶעְב ָרה‬, ‫ ַזַעם‬, ‫ ַזַעף‬, als ein Losbrechen des Aufgestauten ‫ֶקֶצף‬.« 502 Reiterer (1993), 99. Anders Eichrodt (1957), 168, der die Bedeutung von ‫ קצף‬als »ein Losbrechen des Aufgestauten« charakterisiert.

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Konzentration der Belege in Klgl 2: Während sich hier neun Vorkommen finden (die Hälfte der gesamten Belegbasis!), weist Klgl 1 nur zwei auf (allerdings beide im zentralen V 12). Ähnlich stellt auch Klgl 4 mit drei von vier Belegen (ebenfalls im zentralen V 11) die Mehrzahl der Vorkommen von Klgl 4–5. Klgl 2 bietet damit sowohl in absoluten wie auch relativen Zahlen den größten Befund. Und auch innerhalb von Klgl 2 konzentrieren sich sieben der neun Belege auf V 1–6. Formulierungen, die die prophetische Vorstellung des ‫ יום יהוה‬Tag JHWHs aufnehmen, finden sich ebenfalls nur in Klgl 1–2; und auch dort liegt der Schwerpunkt in Klgl 2.503 »Der Zorn Gottes ist wesenhaft eine Kategorie rückblickender Deutung.«504 Das weitgehende Fehlen dieser Kategorie in Klgl 1 ließe sich somit zumindest teilweise damit erklären, dass insbesondere in der ersten Sektion das göttliche Handeln aktiv in den Hintergrund gerückt wird. Stattdessen dominiert das Handeln der Feinde.505 Selbst Zions Appell an JHWH bezieht sich nicht auf sein vorheriges Gerichtshandeln, sondern das unerträgliche Gebaren der Feinde (V 9c: ‫ כי הגדיל אויב‬den der Feind gebärdet sich groß.) und ihr eigenes Elend (V 11c: ‫ כי הייתי זוללה‬denn verachtet bin ich). Wenn Gott nicht als Akteur in den Blick kommt (bzw. kommen soll), ist Zornesterminologie fehl am Platze. Die ändert sich ab V 12. Nun wird JHWH als Handelnder in den Vordergrund gerückt – und dementsprechend erstmals auch der göttliche Zorn als Deutungshorizont genannt. Die in V 12 auftauchende Wurzel ‫ יגה‬betrüben dient dabei einerseits als Rückbezug auf V 5 und zugleich als Einleitung der Schilderung des göttlichen Handelns in V 13–15. Entsprechend der mit ‫ חרון‬verbundenen Vorstellung des »glühenden« Zornes setzt V 13 mit dem Bild des Feuers ein, und geht dann zu Formulierungen über, die das Gericht als körperliche Gewalt beschreiben. Hier liegt der Fokus ausschließlich auf JHWH und Zion: Er spannte ihren Füßen ein Netz, er riss sie nach hinten, er machte sie verstört und immerfort krank. Schon in V 14 treten jedoch erneut die Feinde mit auf den Plan: Das Joch ist durch »seine« Hand gebunden, jedoch stiegen »sie« über Zions Nacken. »Er« ließ Zions Kraft schwinden, jedoch gab er sie in »ihre« Hände. Die folgenden Verse behalten den doppelten Fokus bei: V 15 ignoriert die Feinde, 503 Vgl. Klgl 1,12: ‫ ;יום חרון אף‬Klgl 2,1.21: ‫ ;יום אף‬Klgl 2,22: ‫יום אף־יהוה‬. Sicherlich nimmt die Formulierung ‫ יום קראת‬Tag, den du riefest in Klgl 1,21 und die von den (‫יום אף)־יהוה‬-Belegen gerahmte Rede vom ‫ יום םועד‬Festtag in Klgl 2,22a auf die gleiche Vorstellung Bezug. 504 Jeremias (2009), 315. 505 Zwar ist JHWH in V 5 als Handelnder im Blick, jedoch wird mit ‫ יגה‬betrüben nicht auf Gottes Gerichtshandeln, sondern die persönlich-emotionale Ebene abgehoben. ‫ יגה‬zielt auf das aktive Vergällen (‫ = הוגה‬Hif. Perf.) eines positiven Lebensgefühls (Marcus [1986], 407). Der Akzent liegt damit weniger auf der göttlichen Aktantenrolle, weswegen die Kategorie des Zornes hier auch nicht genannt wird: »God did not ›punish‹ or otherwise ›reprimand‹ Jerusalem but God ›made her suffer‹. God intentionally caused her pain.« (Dobbs-Allsopp [2002], 25)

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V 16f. stellt sie wieder stärker in den Vordergrund. In V 18c–21b ist das Schicksal der Stadtbewohner als Konsequenz des Handelns der Feinde beschrieben, V 21c.22 hingegen stellt wieder JHWH als Aktanten heraus. In Klgl 2 liegt der Fokus fast ausschließlich auf JHWHs verheerendem und planvollem Gerichtshandeln; die Feinde sind, wenn überhaupt, als nutznießende Dritte eines sich zwischen JHWH und Zion abspielenden Gerichtsgeschehens im Blick. Gerade in den an Zornterminologie reichen V 1–6 werden die Feinde nur ein einziges Mal genannt (V 3b), stattdessen jedoch JHWH dreimal einem Feind (V 4a.5a) bzw. Bedränger (V 4b) gleichgestellt. Die Vorstellung des »überwallenden« Zornes, die mit den Lexemen ‫ עברה‬und ‫ זעם‬verbunden ist, äußert sich in Klgl 2 primär im Bild des Zornes als verschlingendem (‫ )בלע‬Feuer.506 In diesen Versen illustriert die Zornesterminologie vor allem, wie überwältigend das Gericht über Israel hereinbrach. Der göttliche Zorn wird innerbiblisch durch zwei Motive legitimiert: justice und rationality.507 Der Sprecher in Klgl 2 verdeutlicht dies. Deutlicher als in allen anderen Liedern wird hier die Planmäßigkeit der göttlichen Strafe betont. V 8 formuliert, dass JHWH plante (‫)חשפ‬, die Mauern zu zerstören, V 17 weist darauf hin, dass JHWH tat, was er geplant (‫)זמם‬, was er befohlen (‫ )צוה‬seit den Tagen der Vorzeit. Die Betonung des Gezielten und Planvollen liegt auf der obigen doppelten Linie: Gerade weil der Zorn eine derart prominente Rolle spielt, muss seine letztliche Vernünftigkeit, d. h. seine geplante und bewusste Natur herausgestellt werden. Zugleich könnte aber gerade bei den brutalen Bildern, in denen der Zorn entbrennt und sich ergießt die Vermutung aufkommen, JHWH habe als »eifersüchtiger und jähzorniger Gott« nur im Affekt gehandelt. Der Sprecher versucht in V 17, der deutlich macht, dass das Gericht sich aus dem in den Tagen der ‫קדם‬ erlassenen Gesetz herleitet, diesem Eindruck entgegenzuwirken. Es ist daher bemerkenswert, dass Zion in V 21f. nochmals auf Gottes Zorn zu sprechen kommt – und ihn keineswegs in den gleichen Kontext von Rationalität und Rechtmäßigkeit stellt. Stattdessen streicht sie die tödlichen Konsequenzen des Zornes für die Bevölkerung hervor: V 21b: ‫ נפלו בחרב‬sie fielen durch das Schwert; V 21c: ‫ הרגת … טבחת לא חמלת‬du hast getötet … hast geschlachtet, nicht 506 Vgl. hierzu Labahn (2006). Gerade der göttliche Zorn wird häufig bildlich beschrieben. Hier dominiert einerseits das Bild des Feuers, woran dann die Vorstellung vom »glühenden«, »brennenden«, »rauchenden« usw. Zorn anknüpft (Jes 30,27; 42,25; Jer 4,4; 7,20; 21,12; 44,6; Nah 1,6; Ps 2,12; 89,47; Klgl 2,4 u. ö.), aber auch im Bild des Wassers, was sich in Formulierungen wie dem »Ausgießen«, oder »Verströmen« (üblicherweise ‫שפך‬, ‫ נתך‬oder ‫ )פוץ‬des Zornes äußert (Jes 42,25; Jer 6,11; Ez 7,8; 14,19; 20,8.13.21.33f.; Hos 5,10; Zef 3,8; Ps 79,6; Klgl 2,4; 4,11 u. ö.). Dass beide Bildebenen wie in Klgl 2,4 vermischt werden, wo ‫ שפך‬mit ‫אש‬ und ‫ חמה‬verbunden ist, ist indes sehr außergewöhnlich (vgl. Jes 42,25) – eine naheliegende Assoziation wäre einerseits glühende Lava oder verheerende Flächenbrände. (Bergman et al. [1973], 386). 507 Baloian (1992), 71.

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verschont; V 22b: ‫ ולא היה ביום אף־יהוה פליט ושריד‬und es war niemand am Tag des Zorns JHWHs, der entkam und entronn. Und mittels des Vergleichs mit einem Fest – V 22a: ‫ תקרא כיום מועד מגורי מסביב‬du riefest wie zum Festtag meine Schrecken von ringsum – assoziiert sie den Zorn mit einem Ereignis, dem wesenshaft ein Element ungezügelter Emotionalität innewohnt. Zion zeichnet den göttlichen Zorn somit ganz im Gegenteil als affektiven, willkürlichen Akt, und das Gericht als Konsequenz einer vollkommen aus dem Ruder gelaufenen, blinden Wut (ergo die Aufforderung in V 20a: ‫ ראה יהוה והביטה למי עוללת כה‬Sieh, JHWH, und schau her, wem du solches angetan!). Relativ wenig Raum nimmt der göttliche Zorn in Klgl 4 und 5 ein. In Klgl 4 ergeht der einzige Hinweis im (wenngleich zentralen) V 11. Mit ‫כלה יהוה את־חמתו‬ ‫ שפך חרון אפו‬Vollendet hat JHWH seinen Grimm, ausgegossen die Glut seines Zornes wird einerseits der göttliche Zorn als Ursache der Katastrophe genannt, gleichzeitig aber auch dessen zum-Ziel, zur-Vollendung kommen affirmiert (vgl. V 22a). Der Zorn gerät damit in gewisser Weise zur einer Deutungskategorie, die im Begriff ist, überwunden zu werden. In Klgl 5, das sich von Anfang an direkt an JHWH wendet, ist die aktive Urheberschaft JHWHs im Gewande des göttlichen Zornes zwar anerkannte Ursache des jetzigen leidensvollen Zustandes, jedoch nicht mehr die Deutungsmatrix der beklagten Situation. Diese wird nicht mehr mit dem Vokabular göttlichen Zorns als Ausdruck aktuell geschehenden Gerichtshandelns beschrieben, sondern in Begriffe gefasst, die die anhaltenden Nachwirkungen des vormaligen Zorngerichtes betreffen. So wird die Gegenwart in V 20 als ein Vergessen (‫ )שכח‬und Verlassen (‫)עזב‬, in V 22 als Verwerfen (‫)מאס‬508 und Grollen (‫)קצף‬ beschrieben und zugleich zeitlich qualifiziert: Das Vergessen und Verlassen dauert ‫ לנצה‬für immer und ‫ לארך ימים‬lebenslang. Dass die mittlerweile historische Katastrophe Konsequenz des göttlichen Zornes war und von JHWH aktiv herbeigeführt wurde, ist vollständig hinter die ob des Ausbleibens der göttlichen Wiederzuwendung konstant bedrückende Realität zurückgetreten. Dobbs-Allsopp hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in den Klgl häufig Gottes »suffering-causing acts«509 hervorgehoben werden, die Dimension des Gerichts bzw. der Vergeltung hingegen in den Hintergrund tritt. Der Zorn Gottes nimmt somit in den Liedern einerseits eine wichtige Stellung ein, erweist sich aber als nur begrenzt hilfreiche Deutungskategorie: Einerseits ist unbestreitbar, dass die Zornesterminologie jeweils in äußerst zentralen Versen auftaucht. 508 Wagner (1984), 620 geht von einer Grundbedeutung ›gering achten‹ aus; davon dann in theologischer Hinsicht »verwerfen«. Der Ausdruck bezeichne »das reaktive Gerichtshandeln Gottes, das in der prophetischen Gerichtsrede angekündigt oder im Rückblick auf die vollzogene Geschichtskatastrophe gerechtfertigt wird.« (ebd., 628) Nach Reiterer (1993), 99 ist durch die Parallelisierung von ‫ מאס‬und ‫ קצף‬hier das Verwerfen einem »für immer dauerndem Grollen gleichgestellt«. Ähnlich auch Wiesmann (1936), 635. 509 Dobbs-Allsopp (2002), 30.

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Klgl 1,12; 2,20–22; 4,11; 5,22 sind jeweils sowohl theologisch wie auch dramaturgisch absolute Spitzenverse. Zugleich ist ebenso deutlich, dass sich ein Großteil der Belege auf Klgl 2,1–6 konzentriert, dort jedoch primär als Deutungskategorie der Stadtzerstörung auftaucht und nur begrenzt mit der Schuld Zions in Verbindung gebracht wird.510 Der Konnex zwischen dem göttlichen Zorn und den für seine Plausibilität so essentiellen Motivationen von Gerechtigkeit und Vorhersehbarkeit, sowie eine Deutung des Zorns als gerechtes Gerichtshandeln wird zwar nicht geleugnet, jedoch ebenfalls nicht in den Vordergrund gestellt. Nur in Klgl 1 finden sich die Belege für Gottes Zorneshandeln in einem Kontext, der die Schuld Zions häufig und deutlich herausstellt. Doch selbst hier verweigert sich der Text einfachen Zuordnungen. So wird das erlittene Elend in vielfältigen Variationen dargestellt – die Affirmation der Schuld bleibt hingegen formelhaft. Der Fokus auf Zivilisten streicht die Sinnlosigkeit extensiven Leidens heraus. Zudem wird die Schuld sofort jeweils mit dem resultierenden Elend kontrastiert.511 Die Gerechtigkeit des göttlichen Handelns wird dementsprechend auch nur in V 18 betont, wohingegen die leidvollen Konsequenzen des göttlichen Handelns häufig herausgestellt werden (vgl. V 2a.4.5b.8c.9c.11c.12c.13–15.16.17b.18b.20a.21b.22c).512 Ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle spielt der Zorn Gottes in Klgl 4 und 5. Bemerkenswert an Klgl 4 ist, dass der Zorn Gottes nicht (mehr) mit dem Bundesbruch (des Volkes) begründet wird, sondern konkreten Bevölkerungsgruppen angelastet wird – im Gegensatz zu Klgl 1 und 2, wo von Zions (als Chiffre für das gesamte Volk) Schuld und Sünde die Rede ist. Auch die Verletzung des Bundes, die in Klgl 1 mit den Hinweisen auf die »Liebhaber« und »Freunde« doch mit im Hintergrund steht, wird in Klgl 4 nicht ausdrücklich erwähnt. Damit deutet sich die exilisch-nachexilische Überwindung der Zorn-Gottes-Vorstellung schon an: »Mit zunehmender Individualisierung der theologischen Perspektive im und nach dem Zerbrechen Judas wird das Theologoumenon vom innergeschichtlich sich austobenden

510 Es ist in dieser Hinsicht auch bemerkenswert, dass in der Klage Zions (V 20–22) die beiden Motive, die das Ausmaß der Katastrophe ansatzweise erklären (V 14.17: Falschprophetie und eigene Sünden), nicht aufnimmt, wohl aber wieder die Deutungskategorie des Zorns Gottes heranzieht. »Es geht offenkundig nicht darum, zu erklären, warum die Katastrophe überhaupt eingetreten ist; König, Militärführung und verfehlte Bündnispolitik treten nicht in den Horizont. Es geht nur darum, warum die Katastrophe ein solches zuvor unvorstellbares Ausmaß angenommen hat.« Groß (1999), 59. 511 Dobbs-Allsopp (2002), 31f. 512 Dass in Klgl 1 von Anklage keine Rede mehr sein könne, da der Text den gerechten Gott in glühendem Zorn seine wohlbegründete Strafe vollziehen lasse (Groß [1999], 63) ist demnach zu pauschal.

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Zorngericht ein Gerechtigkeitsdefizit wahrgenommen, das schließlich zu einer weitgehenden Überwindung des Theologoumenons führt.«513

Ganz deutlich ist dies dann in Klgl 5, das aus der Perspektive der Nachfolgegeneration das Wort ergreift. Für die Gemeinschaft ist der sich im Gericht äußernde Zorn Gottes als Interpretament der Vergangenheit zwar unstrittig, zur Deutung der Gegenwart hingegen nur im Zuge seiner Überwindung relevant: Mit der Kategorie des göttlichen Zornes ist die Erwartung verbunden, dass nach dem Gericht neue Zuwendung durch Gott möglich ist.514 Dort jedoch, wo Gottes Zorn nicht mehr als Gericht sondern als anhaltende Abwesenheit oder gar Desinteresse erfahren wird, gehen der Zorn-Vorstellung gerade die so wichtigen Motivationen justice und rationality verloren.

5.2.1.6 Bekenntnis der eigenen Schuld Häufig wird behauptet, die Affirmation eigener Schuld an der Katastrophe sei ein prominentes Thema in den Klgl. An Berechtigung und Ausmaß des Gerichts werde kein Zweifel gelassen.515 Bei näherem Hinsehen erstaunen derartige Aussagen. Zwar ist unleugbar, dass das Motiv »Schuld/Sünde« in allen Liedern vorkommt – zugleich ist aber nicht zu übersehen, dass es z. B. in Klgl 2 und 3 von deutlich nachrangiger Wichtigkeit ist.516 Das verwendete Wortfeld wird dabei weitgehend durch die drei Begriffe ‫פשע‬ (Klgl 1,5.14.22; 3,42), (‫( חטא)ת‬Klgl 1,8[bis]; 3,39; 4,6.13.22; 5,7.16) und ‫עון‬ (Klgl 2,14; 4,6.13.22[bis]; 5,7) umrissen. Bei allen dreien gilt prinzipiell, dass sie in theologischer Verwendung »Sünde« bedeuten.517 Zugleich handelt es sich aber um Begriffe, die eine inhaltliche Kennzeichnung der Handlung nicht zulassen; die Begriffe bewerten (und verurteilen) eine Handlung rein formal.518 Inhaltliche 513 Miggelbrink (2000), 111. 514 Baloian (1992) 119f. 515 Besonders deutlich z. B. Krasˇovec (1992). »The poet insists, even at moments of extreme suffering, that the source of Israel’s present misfortune is, simply and solely, personal guilt; and he is thus an apologist for God’s righteousness and justice.« (ebd., 223) Skeptisch stimmt hier schon die Auffassung, es wäre personal guilt, die zum Gericht führte. Doch auch die von ihm angeführte Belegbasis verdeutlicht primär, dass das Motiv Sünde bzw. Schuld relativ zur Länge und thematischen Breite der Lieder nur sehr wenig Raum einnimmt. Indizien für eine »superiority of God’s mercy« (ebd., 230), die Kehrseite der persönlichen Schuld und seiner Auffassung nach der Grund für Hoffnung im Buch der Klgl, kann er nur in der Mittelsektion von Klgl 3 tatsächlich identifizieren. 516 Dobbs-Allsopp (2004), 37, Anm. 60. Ähnlich Michel (2003), 226, Anm. 110 und Linafelt (2000), 47f. 517 Knierim (1965), 250. 518 Grundlegend Knierim (1965), dann aber auch die jeweiligen ThWAT-Einträge Koch (1977), Koch (1986) und Seebaß (1989).

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Abstufungen sind primär hinsichtlich des im Begriff implizierten Moments des bewussten Wissens oder aktiven Wollens der Normverletzung möglich. Hier ist ‫ פשע‬der deutlich schärfste Begriff, da bei ihm das voluntative Element zum Bedeutungskern mit dazu gehört.519 Zwar gibt Seebaß gegen Knierims Vorschlag »Verbrechen« zu bedenken, dass dieser primär dem Strafrecht im neuzeitlichen Sinne zugeordnet ist und das im AT wichtige Moment des Rechtsfriedens außer Acht lässt.520 Allerdings stimmt er mit der generellen Richtung Knierims überein; auch er schlägt mit »Rechtsbruch« bzw. »Delikt« eine Übersetzung vor, die die die juridische Dimension des Begriffes hervorhebt und in jedem Fall deutlich macht, dass ein ‫ פשע‬grundsätzlich bewusst und gewollt begangen wird. Paradigmatisch können Am 1,3.6.9.11.13; 2,1.6 gelten – hier geht es um äußerst brutale und empörende Taten, die den Rechtsfrieden nachhaltig stören. Einig sind sich sowohl Knierim wie auch Seebass, dass ‫ פשע‬nicht pauschal mit Sünde gleichzusetzen ist. »Denn so sehr der Begriff eine theologische Dimension hat, so sehr ist das AT, wie auch sonst, daran interessiert, von ›Sünde‹ so zu reden, daß es Taten und Vorgänge bei ihrem eigenen Namen nennt.«521 Im Gegensatz zu ‫ פשע‬beschreibt die Wurzel ‫ חטא‬durchaus auch unbewusste oder gar unwissbare Verfehlungen.522 Wenn Berges meint, bei ‫ חטא‬sei (im Gegensatz zu ‫ )פשע‬ein »radikaler Bruch im Verhältnis zu JHWH mitzuhören«523, geht dies genau in die falsche Richtung: »‫ חטא‬meint: an einem Ziel vorbeigehen, es verfehlen. ‫ פשע‬meint: sich oder etwas von jemand wegbrechen, mit ihm brechen, sich oder etwas ihm entziehen, wegnehmen. Die Zielrichtung ist je verschieden: dort führt sie vorbei, hier vom Ziel weg.« Und weiter: »»Verfehlung« eines Weges, Zieles, eines Gemeinschaftsverhältnisses … kann seiner Natur nach durchaus auch versehentlich … geschehen; Verbrechen z. B. Eigentumswegnahme oder Abfall kann dagegen kaum zufällig sein, weil das Moment des wissentlichen und willentlichen Handelns wesentlich mit dazu gehört.«524

Dementsprechend empfiehlt Knierim »grundsätzlich die durchgängige Übersetzung mit Hilfe unserer »profanen« Terminologie [=Vergehen]«525. Praktisch wird ein Mittelweg zu gehen sein. Da das in Klgl 1,8 und 3,39 auftauchende ‫ֵחְטא‬ nach Koch »der gewichtigste Ausdruck innerhalb der Wortfamilie« ist, der »eine die einzelnen Taten übergreifende, unvergebbare Sündenlast bezeichnet, die …

519 520 521 522

Knierim (1965), 181f., hier 182. Seebaß (1989), 795.799. Seebaß (1989), 803. Vgl. Gen 20,9; Num 22,34 und die in Lev 4–5 behandelten Fälle des unbeabsichtigten Fehlgehens (‫)בשגגה‬. 523 Berges (2002), 105. 524 Knierim (1965), 181f. 525 Knierim (1965), 67.

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unweigerlich zum Tode führt«526, wird jeweils abzuwägen sein, wie dominant das Element des verfehlenden Gemeinschafts- bzw. Beziehungsverhältnisses gegenüber der Facette der aktiven Verfehlung gegenüber Gott ist. Die Grundbedeutung der Wurzel ‫ עוה‬liegt wohl bei »abweichen, beugen, drehen, sich vergehen«527 (exemplarisch z. B. Klgl 3,9: ‫ נתיבתי עוה‬meine Pfade verdrehte er). Wie bei ‫חטא‬, ist dabei nicht automatisch eine bewusste Normverletzung gemeint.528 Deutlicher als ‫ פשע‬und ‫ חטא‬bezeichnet ‫ עון‬im Kontext eines ganzheitlichen Wirklichkeitsverständnisses die Gesamtheit eines Geschehensablaufes, der immer sowohl das Vergehen selbst, die sich daraus begründende Schuld wie auch die konsequenterweise darauf folgende Strafe einschließt.529 Dies erklärt die drei hauptsächlichen Übersetzungsvarianten von ‫עון‬ mit Vergehen, Schuld und Strafe; möglicherweise ist darin auch der Grund zu suchen, warum ‫ עון‬schwerpunktmäßig von den Exilspropheten verwendet wird: Zusammen machen die 23 Belege in Jer und 44 Vorkommen in Ez etwa ein Drittel des biblischen Befundes aus.530 ‫ עון‬ist geradezu die Vokabel, um den Gesamtzusammenhang von Tat, sich daraus ergebender Schuld, dem folgenden Untergang und der ‫ עת עון קץ‬Zeit des Schuld-Endes (Ez 21,30; 21,34; 35,5) zu beschreiben. Es gilt also, das differenzierte Vokabular bei der Auslegung der Lieder mit zu berücksichtigen. Daneben schwankt auch die Dominanz des Themas. Klgl 1 bietet sowohl in relativen wie auch absoluten Zahlen den größten Befund. Immerhin an sieben Stellen wird die eigene Schuld an der Katastrophe erwähnt.531 Dabei fällt die dreifache Verwendung des Nomens ‫( פשע‬V 5.14.22), sowie die nominale Verwendung von ‫ חטא‬in V 8 auf. Das sich darin äußernde Moment 526 Koch (1977), 864. 527 Knierim (1965), 240f. 528 Ganz deutlich in Lev 22,16, wo ein kultisches Vergehen der Priester ein ‫ עון‬der Israeliten zur Folge hätte, um dessen Existenz sie weder wissen, noch um welches sie ursächlich verantwortlich gemacht werden könnten. Vgl. auch 1Sam 20,1.8; 1Kön 17,18. Auch die häufig parallele Verwendung von ‫ עון‬und ‫ חטאת‬spricht dafür, die bei ‫ חטא‬geltende Unbestimmtheit auch für ‫ עון‬anzunehmen. Beispielsweise wird in Lev 5,17 der Fall diskutiert, dass jemand unbemerkt sündigt (‫ )חטא‬und dementsprechend nun ‫ עון‬auf sich geladen hat. Vgl. auch Dtn 19,15; 1Sam 20,1; Ijob 10,6.14; Jes 1,4; 6,7; 27,9 u. ö. 529 Knierim (1965), 252. 530 Das sechsmalige Vorkommen des Lexems in den Klgl (davon vier Mal in Klgl 4) ist in diesem Kontext zu sehen: ‫ עון‬taucht in Klgl 4 genauso oft auf wie im gesamten Buch Genesis. 531 V 5b: ‫ כי־יהוה הוגה על רב־פשעיה‬Ja, JHWH hat sie betrübt wegen der Vielzahl ihrer Verbrechen; V 8a: ‫ חטא חטאה ירושלם‬schwer gesündigt hat Jerusalem; V 9a: ‫טמאתה בשליה לא זכרה אחריתה‬ Ihre Unreinheit an ihrem Saum – nicht bedachte sie ihr Ende; V 14a: ‫ נשקד על פשעי‬Aufgelegt ist das Joch meiner Verbrechen; V 18a: ‫ צדיק הוא יהוה כי פיהו מריתי‬Gerecht – das ist JHWH, denn seinem Befehl trotzte ich; V 20b: ‫ כי מרו מריתי‬denn ich trotzte widerspenstig; V 22b: ‫על כל־פשעי‬ wegen all meiner Verbrechen. Versteht man die Freunde bzw. Liebhaber in V 2.19 als Hinweise auf politische Mächte, wären auch V 2b: ‫ כל־אהביה‬all ihre Freunde und V 19a: ‫קראתי‬ ‫ למאהבי‬ich rief meine Liebhaber noch von Bedeutung (zu ‫ מאהבים‬vgl. Wischnowsky [2001], 111 Anm. 533, Wacker [1996], 254f.).

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bewusster Auflehnung wird durch die dreifache Verwendung von ‫ מרה‬trotzen (V 18.20[bis]) noch deutlicher hervorgehoben.532 Gerade vor diesem Hintergrund ist es allerdings bemerkenswert, dass Ursachenanalyse im Lied praktisch keine Rolle spielt. Worin das Trotzen bestand, was die Rechtsbrüche Zions waren, bleibt – bis auf die Anspielungen auf »Freunde« »Verehrer« und »Liebhaber« – ungesagt. Der Befund von Klgl 2 ist sehr viel dürftiger. Nur in V 14 beklagt der Sprecher: ‫נביאיך חזו לך שוא ותפל ׀ ולא־גלו על־עונך להשיב שבותך ׀ ויחזו לך משאות שוא ומדוחים‬. Deine Propheten schauten Dir Trug und Tünche und deckten nicht auf deine Schuld zu wenden dein Schicksal. Und schauten Dir Sprüche von Trug und Verführung. Daran ist zweierlei auffällig. Zum einen wird nicht der in Klgl 1 so prominente Begriff ‫ פשע‬Verbrechen verwendet, der dort durch die Wurzel ‫מרה‬ trotzen hinsichtlich seines Aspektes des wissen- und willentlichen Handelns nochmals verstärkt wurde. Zum zweiten wird Zions Schuld von den Hinweisen auf die Unterlassungen der Propheten gerahmt.533 Zwar mag es sein, dass in der ausführlichen Schilderung des göttlichen Zornes (V 1–8) die Schuldfrage implizit mit angelegt ist,534 doch lässt sich nicht bestreiten, dass die hiesige Formulierung Zion so weit wie möglich exkulpiert: Ihre ‫ עון‬wurde von den Propheten gerade nicht aufgedeckt535 – wie hätte sie da ihr Handeln korrigieren und möglicherweise ihr Schicksal noch ändern können? Dies umso mehr, als dass ‫עון‬, wie gesagt, nicht automatisch ein bewusstes Vergehen konnotiert und V 17 zudem noch bemerkt, dass JHWH das Gericht schon ‫ מימי־קדם‬seit den Tagen der Vorzeit befohlen hatte. In Klgl 1 und 2 ist die Schuldthematik damit recht unausgewogen präsent. Steht sie in Klgl 1 mit im Vordergrund, tritt sie in Klgl 2 hingegen fast vollständig zurück. Klgl 4 und 5 bieten demgegenüber einen ausgewogeneren Befund, der, wenn man die Länge von Klgl 4 und 5 berücksichtigt, dem von Klgl 1 ähnelt. In beiden Liedern fehlt das Stichwort ‫ ;פשע‬zudem sind sowohl in Klgl 4,6.13 als auch 5,7 ‫עון‬ und ‫ חטאת‬parallel verwendet (gleiches gilt für die an Edom gerichtete Drohung in Klgl 4,22b), was ebenfalls die Vermutung stützt, dass sich ‫ עון‬und ‫ חטא‬semasiologisch deutlich näher sind, als dies bei ‫ פשע‬der Fall ist. 532 Vgl. hierzu Schwienhorst [1986a], 7–10. 533 Liegt darin der Grund für die Verwendung von ‫ ?עון‬Es ist auffällig, dass ‫ עון‬gerade in Klgl 2 und 4 dominiert, d. h. den Liedern, in denen mit Propheten (Klgl 2) bzw. Priestern und Propheten (Klgl 4) einzelne Bevölkerungsschichten für die Katastrophe (mit)verantwortlich gemacht werden. Zumindest ein Grund hierfür könnte darin liegen, dass mit dem Begriff ‫עון‬ am deutlichsten die Beziehung zwischen Schuldursache und Strafwirkung herausgestellt wird. 534 So Westermann (1990), 133. 535 ‫ – גלה‬die Terminologie erinnert an Klgl 1,8: Dort wurde Zions ‫ ערוה‬Scham entblößt (vgl. Jes 47,3; Ez 16,36f.; 22,10; 23,10; 23,18; Hos 2,11), nun ist es ihre Schuld: Emmendörffer (1998), 57, Anm. 54.

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Klgl 4 kommt auf die Schuld Zions an drei Stellen zu sprechen.536 Mit V 6.13.22 sitzen diese Äußerungen zudem an wichtigen Scharnierstellen des Liedes: V 6 bietet eine erste theologische Deutung des in V 1–5 Geschilderten; eine ähnliche Funktion hat V 12, der das Vollwerden/Zum-Ziel-kommen (‫ )כלה‬des göttlichen Zornes bemerkt. Daran schließt sich V 13 mit begründendem ‫ מן‬an,537 und liefert als Begründung für den Zorn die Vergehen der Priester und Propheten. V 22 schließlich bekräftigt, dass Israels ‫ עון‬zum Abschluss, zur Vollendung (‫ )תמם‬gebracht ist.538 Deutlicher noch als in Klgl 2 (und singulär in Bezug auf die restlichen Lieder) wird die Verantwortung der religiösen Eliten herausgestellt und an einen konkreten Vorwurf gebunden – der jedoch historisch nicht dingfest zu machen ist und inhaltlich vor große Verständnisschwierigkeiten stellt.539 Die in Klgl 1 beobachtbare Tendenz, die Schuld zwar zu bekräftigen, sie jedoch nicht zu benennen (und in der Konsequenz damit dem Publikum die Möglichkeit zu verwehren, ein informiertes Eigenurteil über die Angemessenheit des Ausmaßes des Gerichts zu fällen), gilt insofern auch für Klgl 4, zumal auch die Aussage von V 6, Zions Schuld sei größer als die Sünde Sodoms gewesen (vgl. Ez 16,47f.), eher das Suchen nach sinnstiftenden Vergleichskategorien offenbart. In Klgl 5 kommt die eigene Schuld an zwei Stellen zur Sprache.540 Bemerkenswert ist dabei vor allem V 7: Während das klagende Kollektiv in V 16 die eigene Schuld bekennt (‫ אוי־נא לנו כי חטאנו‬Weh doch uns, dass wir sündigten!), wird in V 7 zwischen der ‫ חטאות‬Sünde der Väter und der daraufhin folgenden ‫ עונות‬Schuld der Nachfahren unterschieden.541 Der Fokus von Klgl 5 erklärt, warum auch in Klgl 5 eine konkretere Beschreibung der Verfehlungen unterbleibt: Thema ist die anhaltend schmachvolle Existenz, nicht Grund oder Angemessenheit des mittlerweile historischen Gerichts. Insgesamt ist somit zweierlei festzuhalten: (1) Die eigene Schuld kommt sowohl in Klgl 1–2 als auch Klgl 4–5 zur Sprache. Während sich Klgl 4 und 5 hinsichtlich verwendeter Begriffe, Präsenz des Themas und inhaltlicher Bewertung recht ähnlich sind, differiert der Befund in Klgl 1 und 2 sehr deutlich. Klgl 2 deutet das Thema nur an und tut alles, um Zions Schuld in der Darstellung zu minimieren. Klgl 1 dagegen kommt immer wieder auf die eigene Schuld zu sprechen und stellt das Bewusste des Verschuldungshandelns ausdrücklich 536 V 6a: ‫ ויגל עון בת־עמי מחטאת סדם‬Größer war die Schuld der Tochter ›Mein Volk‹ als die Sünde Sodoms; V 13a: ‫ מחטאת נביאיה עונות כהניה‬Wegen der Sünde ihrer Propheten, der Schuld ihrer Priester; V 22a: ‫ תם־עונך בת־ציון לא יוסיף להגלותך‬Zu Ende ist deine Schuld, Tochter Zion, nicht mehr wird er dich verbannen. 537 Waltke et al. (1990), 213. 538 Kedar-Kopfstein (1995), 688. 539 S. u. Kap. 6.4. 540 V 7: ‫ אבתינו חטאו … אנחנו עונתיהם סבלנו‬Unsere Väter haben gesündigt … wir (aber), ihre Verschuldungen tragen wir.; V 16b: ‫ אוי־נא לנו כי חטאנו‬Wehe doch uns, dass wir sündigten. 541 Zur Deutung s. u. Kap. 6.5.

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heraus. Dieser Effekt wird auch dadurch verstärkt, dass ein Großteil der Belege aus Klgl 1 aus dem Mund Zions selbst stammen (V 14.18.20[bis].22). (2) Auffällig unterbelichtet bleibt die Frage, worin die mit ‫פשע‬, ‫ עון‬und (‫ חטא)ת‬bezeichneten Vergehen konkret bestanden. Dies gilt auch für Klgl 2, wo zwar das Versagen der Propheten beklagt wird, jenes allerdings gerade darin bestand, Zions ‫ עון‬nicht aufgedeckt zu haben. Nur in Klgl 4 wird das Gericht an (scheinbar) konkrete Handlungen der Propheten und Priester geknüpft. Zwar ist eine Klage nicht der Ort für eingehende handlungsstrategische Selbstkritik, jedoch gewinnt die Darstellung dadurch ein spürbares Ungleichgewicht, da zwar das Leiden durch das Gericht betont, nicht jedoch seine Legitimität durch die Angabe konkreter Verfehlungen untermauert wird. 5.2.1.7 Formale Textgestaltung Die hier zu nennenden Beobachtungen sind sämtlich aus dem Bisherigen bekannt; es kann somit bei einer kurzen Rekapitulation bleiben. Klgl 1–2 sowie Klgl 4 sind Alphabetakrosticha, wobei Klgl 1–2 durchgängig das Schema ‫ – א‬x – y, ‫ – ב‬x – y etc. verwenden. Klgl 4 weist nur noch ein verkürztes ‫ – א‬x, ‫ – ב‬x auf, Klgl 5 ist kein Alphabetakrostichon mehr, besteht allerdings aus genau 22 Bikola. Neben der reduzierten Akrostichie sind Klgl 1–2 auch länger; beide Lieder umfassen jeweils 67 Bikola (regelmäßig drei Bikola pro Vers, wobei Klgl 1,7; 2,19 je vier Bikola aufweisen). Klgl 4 besteht demgegenüber aus 44 Bikola, Klgl 5 aus 22. Klgl 1–2 sind somit doppelt so lang wie Klgl 4–5. Auch die Häufigkeit enjambierter Zeilen nimmt zum Ende zu rapide ab. Während in Klgl 1 und 2 noch jeweils knapp 80 % der Bikola Enjambements aufweisen, geht dieser Wert für Klgl 4 auf 60 % und für Klgl 5 gar auf 15–20 % zurück. Stichwortbezüge und Motivverwandtschaften finden sich insbesondere innerhalb von Klgl 1–2 in erheblicher Anzahl; für Klgl 4–5 gilt dies nur begrenzt. Demgegenüber weisen sowohl Klgl 1 und 5 wie auch Klgl 2 und 4 bemerkenswerte Bezüge auf. In formaler Hinsicht wirken somit insbesondere Klgl 1–2 sehr harmonisch und einheitlich. 5.2.1.8 Kommunikationsstrukturen: Sprecher, Adressaten, Zitate In Kap. 5.1 wurden die auffälligen Figurenwechsel in den einzelnen Liedern mittels dramentheoretischer Kategorien analysiert. Neben diesen Figurenwechseln lassen sich jedoch auch wechselnde Adressaten und Perspektiven innerhalb einzelner Redeanteile unterscheiden, die die Dramatisierung der Darstellung unterstützen. Teilweise ergibt sich dabei der Eindruck einer regelrechten Diskussion (wie z. B. in Klgl 3,31–39). Daneben gewinnt die Darstellung dadurch aber auch an Mehrdimensionalität, da die individuelle Sicht der einzelnen Adressaten zumindest in Andeutungen vermittelt wird. Wenn direkte Zitate im

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Text enthalten sind, wird dies ganz besonders deutlich, doch es geht auch ohne: Wenn z. B. der Sprecher in Klgl 1,10 nur ganz kurz ins »Du« an JHWH verfällt, werden auf engstem Raum drei (bzw. vier) Perspektiven angedeutet: (1) die von Unverständnis gekennzeichnete Sicht des Sprechers, (2) die göttliche Perspektive, die die Schändung des Tempels zulassen konnte, (3) die Perspektive der vergewaltigten Frau Zion, sowie (4) die Beobachterperspektive des Publikums. Neben alternierenden Figuren tragen somit auch Perspektivenwechsel zur Darstellung einer mehrdeutigen, komplexen Realität bei. Listet man sämtliche Änderungen in der kommunikativen Situation der ersten beiden Lieder auf, ergäbe sich folgende Liste: Verse

Sender

Empfänger

1,1a–9b 1,9c

Sprecher Zion

Publikum542 JHWH

1,10ab 1,10c

Sprecher Sprecher

Publikum JHWH

1,11ab 1,11c

Sprecher Zion

Publikum JHWH

1,12a–15b 1,15c

Zion Sprecher

Vorbeigehende Publikum543

1,16 1,17

Zion Sprecher

Publikum544 Publikum

1,18a 1,18b–19c

Zion Zion

Publikum Alle Völker

1,20a–22c 2,1a–10c

Zion Sprecher

JHWH Publikum

542 Für fiktionale narrative Texte hat sich die von Rabinowitz (1977) eingeführte Unterscheidung in reales, autoriales und narratives Publikum bewährt. Eine ähnliche Differenzierung existiert m.W. im Bereich der Dramentheorie nicht, wäre aber – zumindest für die Analyse von Dramentexten – ebenso hilfreich. Auch hier gilt, dass sie vom realen Publikum gelesen bzw. analysiert werden, der Autor bei der Niederschrift ein gewisses autoriales Publikum voraussetzen musste und schließlich in den Dramentexten selbst eine Publikumsinstanz angelegt ist (paradigmatisch: die Adressaten der Chor-Partien des antiken Dramas). In analoger Anwendung der rabinowitzschen Bezeichnung könnte man dieses als das dramatische Publikum bezeichnen. Vgl. hierzu Kap. 2. 543 Während Zions Rede appellativisch ist, ist der Stil des Sprechers beschreibend. Dem entsprechen die Adressaten: Aufforderungen werden an JHWH oder die Vorbeigehenden gerichtet, Beschreibungen an das Publikum. Dem entsprechend ist V 10c, wo der Sprecher aus seinem beschreibenden Duktus ausbricht, nicht an das Publikum, sondern JHWH gerichtet. 544 Der beschreibende Charakter des Verses spricht gegen die ‫ עברי דרך‬als intendierte Adressaten.

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Ein thematischer Vergleich der Lieder

(2,11ab 2,11c

Sprecher Sprecher

Publikum545) Publikum

2,12a 2,12bc

Kind und Säugling Sprecher

Mütter Publikum

2,13–15b 2,15c

Sprecher Vorbeigehende

Zion Vorbeigehende

2,16abα 2,16bβc

Sprecher Feinde

Zion Feinde

2,17–18aα 2,18aβ–c

Sprecher Einwohner

Zion Zion

2,19 2,20–22

Sprecher Zion

Zion JHWH

Übersicht 10: Kommunikationsstruktur von Klgl 1–2

Insgesamt sind damit etwa 25 Änderungen in der kommunikativen Situation erkennbar, davon allein 16 Wechsel der sprechenden bzw. zitierten Figuren. In Klgl 1 ergreifen dabei nur Zion und der Sprecher das Wort; auch die Empfängerseite ist mit Publikum, JHWH, den Vorbeigehenden und den Völkern recht übersichtlich gestaltet. Dies gilt auch für die in den jeweiligen Anreden deutlich werdenden Erwartungshorizonte bezüglich der Reaktion der Empfänger, die im Großen und Ganzen von Solidarität gekennzeichnet sind. Ganz deutlich ist dies in V 9c.11c.18b–19c: Jedes Mal geht Zion davon aus, dass der bzw. die jeweilige/n Adressat/in ihrem Ruf nach Beachtung, Mitleid und Solidarität nachkommt – zumindest dann nachkäme, wenn Gott (bzw. die Völker) tatsächlich sähen und schauten. Ähnlich sind auch V 20–22 von dem grundsätzlichen Vertrauen getragen, dass JHWH Recht walten lässt. Gleiches gilt im Prinzip auch für die V 12–15, in denen Zion sich an die ‫ עברי דרך‬wendet. Demgegenüber stellt sich die kommunikative Situation in Klgl 2 komplexer dar: Während in der ersten Sektion ausschließlich der Sprecher redet, finden sich in der zweiten Sektion insgesamt sieben Wechsel. Im Vergleich zu Klgl 1 wird eine sehr viel größere Bandbreite von Stimmungen und Meinungen präsentiert. Auf der einen Seite wird der Verzweiflung der Bevölkerung Raum gegeben, indem die verhungernden Kinder und Säuglinge (V 12a: ‫ לאמתם יאמרו איה דגן ויין‬Zu ihren Müttern sagten sie: Wo sind Getreide und Wein?), aber auch die Bevölkerung der Stadt (V 18bc) zitiert werden. Auf der anderen Seite wird aber auch die distanziert-verächtliche Perspektive der Vorbeigehenden zu Protokoll gegeben (V 15c: ‫ הזאת העיר שיאמרו כלילת יפי משוש לכל־הארץ‬Ist dies die Stadt von der man sagte: Vollkommene Schönheit, Freude der ganzen Welt?), und selbst die Feinde kom545 Zwar ändert sich in diesen beiden Bikola weder die redende Figur noch der Adressat, jedoch markiert der Fokus des Sprechers auf das eigene Befinden eine deutliche Veränderung.

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men in ihrem Triumpf zu Wort (V 16bc: ‫אמרו בלענו ׀ אך זה היום שקוינהו מצאנו ראינו‬ Sie sagten: Wir haben verschlungen. Ja, dies ist der Tag, auf den wir gehofft, wir haben ihn gefunden, gesehen.). Eine analoge Liste für Klgl 4–5 sähe wie folgt aus: Verse 4,1a–14b

Sender Sprecher

Empfänger Publikum

4,15a 4,15bα

Stadtbevölkerung Sprecher

Priester/Propheten Publikum

4,15bβ 4,16ab

Völker Sprecher

Völker Publikum

4,17a–20bα 4,20bβ

Kollektiv I Kollektiv I

Publikum Kollektiv I

4,21 4,22

Sprecher Sprecher

Tochter Edom Tochter Zion

5,1–22 Kollektiv II Übersicht 11: Kommunikationsstruktur von Klgl 4–5

JHWH

Naturgemäß finden sich in den kürzeren Klgl 4–5 weniger Änderungen in der Kommunikationssituation. Insgesamt lassen sich zehn Änderungen erkennen, praktisch alle davon in Klgl 4. Wie schon in Klgl 2 finden sich diese Wechsel im zweiten Teil des Liedes, wobei der prägnanteste sicherlich der Wechsel von Sprecher zum Kollektiv in V 17–20 ist. Erstaunlich und äußerst unvermittelt ist allerdings auch die kurze Hinwendung zur ‫ בת־אדום‬und ‫ בת־ציון‬in V 21f. Ignoriert man sämtliche innerhalb der Rede einer Figur auftretenden Änderungen (z. B. Zitate oder der Wechsel der Adressaten), ist wenig verwunderlich, dass in Klgl 1–2, wo mit Sprecher und Zion jeweils eigenständige Figuren auftreten, neun Sprecherwechsel erkennbar sind, während in Klgl 4–5 nur drei vorkommen.546 Insgesamt bietet Klgl 1–2 damit eine recht lebhafte und multiperspektivische Darstellung, die durch den Stimmenwechsel zwischen Sprecher und Zion und das Anreden und Zitieren weiterer Personengruppen erzeugt wird. Weitere Figuren und Gruppen, wie z. B. JHWH oder die ehemaligen Liebhaber Zions, bleiben zwar stumm, werden aber erwähnt und tragen zusätzlich zur Bereicherung des Figureninventars bei. Dies führt dazu, dass die Hörer*innen in Klgl 1–2 sehr viel intensiver mit verschiedenen Standpunkten und Reaktionen konfrontiert werden, als dies in Klgl 4–5 der Fall ist. Dort nimmt die Multiperspektivität der einzelnen Reden ab, was beim Publikum eher den Impuls einer Identifikation auslöst, denn das eigenständige Suchen nach einer eigenen Posi546 Für Klgl 1–2: V 1,9b–c; V 9c–10a; V 11b–c; V 15b–c; V 15c–16a; V 16c–17a; V 17c–18a; V 22c– 2,1a; V 19c–20a. Für Klgl 4–5: V 16b–17a; V 20b–21a; V 22b–5,1a.

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tion. Die Darstellung in Klgl 4–5 gewinnt damit zwar an Einheitlichkeit (besonders deutlich ist dies an Klgl 5 erkennbar), was jedoch auf Kosten der Möglichkeit geht, das theologische Ringen um die Antwort auf den göttlichen Zorn in einer ›undogmatischen Offenheit‹ darzustellen. 5.2.1.9 Intensität, Expressivität und Emotionalität der Darstellung 1993 veröffentlichte Paul Joyce einen Artikel mit dem Titel »Lamentations and the grief process: A psychological reading«.547 Weitere Arbeiten folgten, denen sämtlich die Beobachtung zugrunde liegt, dass jedes der fünf Lieder einen individuellen Charakter hat, eine bestimmte Stimmung aufweist. Zwar bleiben derartige Einschätzungen naturgemäß subjektiv, jedoch lassen sie sich an konkreten Textbeobachtungen festmachen. Die Relevanz für die Fragestellung ist offensichtlich: Die thematischen Schwerpunkte werden in jedem Lied aus einer bestimmten »emotionalen Verfassung« heraus entwickelt. Sie liefern somit einen wichtigen Hinweis auf das Ziel der Darstellung des jeweiligen Liedes und beeinflussen damit die Programmatik der Liedanordnung insgesamt. 5.2.1.9.1 Klgl 1 In der ersten Sektion von Klgl 1 dominiert der Sprecher die Darstellung, der sich primär mit dem Schicksal Zions und ihrer »Kinder« beschäftigt. Das Verhalten der Feinde und früherer Verbündeter bzw. Freunde, Zions Schuld, Gottes Gerichtshandeln usw. werden zwar erwähnt, die diesbezüglichen Hinweise bleiben jedoch generisch und schablonenhaft.548 Auffällig ist, dass der Sprecher dabei vorrangig Formulierungen verwendet, die Passivität konnotieren.549 Hinweise auf 547 Das grundlegende Stichwort »grief work« lieferte schon früher Moore (1983), 536. Neben Joyce (1993) vgl. etwa Reimer (2002), Labahn (2002) und Gous (2005). Neben Arbeiten, die psychologische Prozesse zur Interpretation der Klgl heranziehen, wird zunehmend auch der umgekehrte Weg begangen und die Klgl zur pastoralen und psychologischen Therapiearbeit herangezogen. Vgl. etwa Leaman (2009), Stiebert (2003), sowie die in Joyce (1993), 313f., Anm. 13 und 14 genannte Literatur. 548 So erschließt sich aus V 5b: ‫ על רב־פשעיה‬wegen der Vielzahl ihrer Verbrechen nicht, worin genau Zions Schuld liegt; gleiches gilt für V 8a: ‫ חטא חטאה ירושלם‬schwer gesündigt hat Jerusalem. Gottes Gericht wird als betrüben (‫ )יגה‬bezeichnet; eine genauere Darstellung wie z. B. in Klgl 2,1–9 bleibt aus. Über die Freunde und Verbündeten wird in V 2 berichtet, dass sie treulos (‫ )בגד‬handelten und zu Feinden wurden (‫)היו לאיבים‬, zudem in V 8, dass sie Zion verachten (‫)זלל‬. Auch hier bleibt fast alles Konkrete ungesagt. In V 3 sitzt Zion ohne weitere Konkretisierung ‫ – בגוים‬der Fokus liegt nicht auf der Gefangenschaft, sondern dem Zustand der Heimat- und Ruhelosigkeit. 549 Dies gilt insbesondere für Zion und die Bevölkerung: »sitzt vereinsamt« (V 1a); »durchweint die Nacht« (V 2a); »findet keine Ruhe« (V 3b); »Wege trauen« (V 4a); »Priester seufzen« (V 4b); »Jungfrauen sind betrübt« (V 4c); »ihr selbst – Bitterkeit« (V 4c); »Kinder gingen dahin« (V 5c); »Fürsten liefen ohne Kraft« (V 6bc); »zur Ausgesetzten geworden« (V 8a); »sie seufzt und wendet sich ab« (V 8c).

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städtische Infrastruktur finden sich nur vereinzelt.550 Bleibt der Sprecher somit in vieler Hinsicht eher allgemein, ist seine Schilderung der Trauer Zions sehr plastisch: Ein distanziert beobachtender Fremder könnte Zions nächtliches Weinen überhaupt nicht bemerken. Er hingegen tritt so nah an sie heran, dass er ihre Tränen sehen (V 2a), ihr Seufzen hören (V 8a), selbst ihr Fühlen (V 4c) erahnen kann. Es ist der gleiche nahe Blick, der später fast schon voyeuristisch auf die nackte (V 8), gedemütigte und vergewaltigte (V 10) Frau gerichtet ist. Es ist sicher kein Zufall, dass Zion genau in dem Moment das Wort ergreift, in dem zur öffentlichen Demütigung durch die ehemaligen Verehrer der entblößende Blick des Sprechers hinzukommt. In der zweiten Sektion klagt Zion selbst. Die Themen und Motive greifen viele Formulierungen aus der ersten Sektion auf.551 Dass sich trotzdem eine sehr eigenständige Sicht ergibt,552 lässt sich auf dreierlei zurückführen: Zum einen ermöglicht die individuelle Perspektive eine Schilderung des Bekannten aus einer neuen Sicht.553 Es ist ein Unterschied, ob JHWHs Handeln psychologisierend als Betrüben (V 5) oder als körperliche Misshandlung (V 12–14) bezeichnet wird.554 Zweitens führt die Deutung des Geschehens als ‫( יום חרון אפו‬V 12c) das Motiv des göttlichen Zornes ein (vgl. V 13a.20a), und führt zu einer konsequenten Interpretation der Ereignisse als Handeln JHWHs. Die ‫ אויבים‬z. B. erwähnt Zion nur an zwei Stellen (V 16c.21b).555 Schließlich sticht der Fokus auf Körperteile, Schmerzen, körperliche Misshandlungen und die dadurch ausgelösten Emotionen ins Auge,556 während die Motive der sexuellen Beschämung und sozialen 550 Zu nennen wären die Wege und Tore Zions in V 4ab, der Tempel in V 10b, sowie die »Kostbarkeiten« in V 6, bei der häufig angenommen wird, dass neben den städtischen Eliten auch prachtvolle Bauten, der Tempel, Paläste usw. mit gemeint sind. 551 V 12a: ‫ – הביטה וראו‬vgl. V 9c.11c; V 12c: ‫ – אשר הוגה יהוה‬vgl. V 5b; V 14a: ‫ – נשקד על פשעי‬vgl. V 5b; V 14b: ‫ – הכשיל כחי‬vgl. V 6bc; V 14c: ‫ – נתנני אדני בידי לא־אוכל קום‬vgl. V 7c; V 15b: ‫קרא עלי‬ ‫ – מועד‬vgl. V 4a; V 16a: ‫ – על־אלה אני בוכיה‬vgl. V 2a; V 16b: ‫ – כי־רחק ממני מנחם‬vgl. V 2b.9b; V 16b ‫ – משיב נפשי‬vgl. V 11b; V 16c: ‫ – היו בני שוממים‬vgl. V 4b; V 18b: ‫– שמעו־נא כל־עמים וראו‬ vgl. V 9c.11c; V 15ab.16c.18c: ‫ אבירי‬/ ‫ בחורי‬/ ‫ בני‬/ ‫ – בתולתי ובחורי‬vgl. V 4c.5c.(11b); V 18c: ‫הלכו‬ ‫ – בשבי‬vgl. V 5c; V 19a: ‫ – מאהבי‬vgl. V 2b.8b; V 19b: ‫ – כהני וזקני‬vgl. V 4b; V 19c: ‫כי־בקשו אכל‬ ‫ – למו וישיבו את־נפשם‬vgl. V 11ab; V 20a: ‫ – ראה יהוה‬vgl. V 9c.11c; V 20a: ‫ – כי־צר־לי‬vgl. V 4c; V 21a: ‫ – כי נאנחה אני‬vgl. V 4b.8c; V 21a: ‫ – אין מנחם לי‬vgl. V 2b.9b. 552 Westermann (1990), 119 vermag indes in den V 18–21 »nur die Wiederaufnahme vorangehender Motive« zu erkennen. 553 Zudem ermöglicht eine Darstellung aus mehreren Perspektiven die Einbeziehung vordergründig widersprüchlich scheinender Standpunkte und Emotionen. Sie kann damit abrupte Stimmungswechsel gut abbilden. (Dobbs-Allsopp [1993], 32–38). 554 Vgl. hierzu auch Miller (2001), 397–402. 555 Im Gegensatz zum Sprecher. Er verwendet ‫( אויב‬V 2c.5a), ‫( צר‬V 5ac.7cd.10a.17b) und ‫רדף‬ (V 3c.6c) insgesamt zehn Mal. Nur in V 5 wird JHWH einmal als aktiv Handelnder genannt. 556 So nennt Zion Knochen (V 13a), Füße (V 13b), Nacken (V 14b), Augen (V 16a), Eingeweide (V 20a) und Herz (V 20b.22c). Sie erwähnt Schmerzen (V 12b.18b.20a), Schwäche (V 14bc) und Krankheit (V 13c.22c). Damit einher gehen entsprechende Gefühle: V 12c: Betrübung;

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Ächtung und Erniedrigung fast vollständig fehlen. Im diesem Zusammenhang taucht auch erstmals das Motiv des gewaltsamen Todes auf (vgl. V 19b.20c). Zions Schlussbemerkung ‫ כי־רבות אנחתי ולבי דוי‬denn zahlreich sind meine Seufzer und mein Herz ist krank bleibt dabei repräsentativ für ihre gesamte Rede: Die Schilderung der ihr zugefügten Gewalt bleibt praktisch ohne Hinweis auf Gegenwehr (vgl. aber V 14c) und resultieren in Schwäche, Schmerzen und Krankheit. Ihre Gefühlswelt beschreibt sie als betrübt (‫)יגה‬, verstört (‫ )שמם‬und bang (‫)צר‬, einem kranken Herzen (‫ )לב דוי‬und vielem Seufzen.557 Ist somit inhaltlich eine Progression von der Beschreibung einer in Passivität gefangenen Frau über sich intensivierende Stadien der Demütigung zu einer aktiven Klage Zions erkennbar, bleibt der »emotionale Duktus« der Darstellung durchgehend im Bereich des passiven Leidens. Plausibel wird dies, wenn man bedenkt, dass in antiken Kulturen ein sehr viel engerer Bezug zwischen emotionalen Zuständen und den entsprechenden performativen Elementen gesehen wurden.558 Freude und Trauer sind nicht zuletzt etwas, das man »tut«.559 Klgl 1 vollzieht in diesem Sinne Trauer, insofern das Lied trotz aller inhaltlicher Dynamik in einem Zustand von Passivität, Schmerz und Leiden verbleibt. 5.2.1.9.2 Klgl 2 Wie in Klgl 1 ist auch in Klgl 2 eine grobe Zweiteilung zu erkennen. Im ersten Teil wird in einer Art Rückblick das Gericht an Zion mit Bildern massivster Gewalt geschildert, woraufhin sich im zweiten Teil eine Art Dialog zwischen Sprecher und Zion entwickelt. Hier thematisiert der Sprecher seine eigene Reaktion auf die Gerichtsschilderung, skizziert (direkt an Zion gewandt) ihr Elend und ihre Ausweglosigkeit und fordert sie schließlich zu unablässiger Klage auf. Das Lied endet mit Zions energischer Anklage an Gott. Der Kontrast von Klgl 1 zu 2 könnte dabei größer kaum sein. Wurde das Gericht in Klgl 1 primär als psychisch-physisches Erleben Zions (einmal als soziale Ächtung, Isolierung und Marginalisierung, andererseits als sexueller und physischer Missbrauch) geschildert, konfrontiert Klgl 2 mit einer unablässigen Folge gewalttätiger Bilder von Zerstörung. Völlig zurecht urteilt Linafelt: »A more relentlessly brutal piece of writing is scarcely imaginable.«560 Dass Berlin ihre

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V 16c: Verstörung; V 20a: Bangheit; V 21a: Seufzen; V 22c: krankes Herz. Auch in diese Liste gehören die zweifache Nennung von Trotz in V 18a.20b. Vgl. die Rahmung von V 21–22 durch das Stichwort ‫ אנח‬in V 21a.22c. Vgl. Anderson (1991), 59–97, bes. 87–97. Dies wird im Übrigen in der Auslegung insbesondere von Klgl 1 viel zu wenig beachtet. Dies führt zu Formulierungen wie »ein Trauern tun«, das sich in Gen 50,10 (‫)ויעש לאביו אבל‬ und als Verneinung in Ez 24,17 (‫ )אבל לא־תעשה‬findet. »Ein Freuen tun« taucht in 2Chr 30,23 (‫)ויעשו שבעת־ימים שמחה‬, Neh 8,12 (‫ )ולעשות שמחה גדולה‬und Neh 12,27 (‫)לעשת חנכה ושמחה‬ auf. Linafelt (2000), 2.

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Auslegung von Klgl 2 mit dem Titel »Anger« überschreibt,561 deutet ebenfalls die deutlich andere Stimmung des Liedes an. Der Eindruck einer »hämmernden Anklage«562 ist in Klgl 2,1–10 nicht zuletzt der uniformen Darstellung zu verdanken. So haben von den 36 Verben mit göttlichem Subjekt nicht weniger als 26 Gewaltkonnotationen.563 Hinzu kommt eine weitgehend uniforme Syntax,564 ein recht homogenes Vokabular,565 sowie eine auffällige Häufung von ObjektEnjambements.566 Neben der gewalttätigen Sprache der ersten Sektion trägt vor allem die dramaturgische Intensivierung der zweiten Sektion zum lebhaften Gesamteindruck des Liedes bei. Das aus Klgl 1 Bekannte ist hier jeweils gesteigert: (1) Zeigte der Sprecher in Klgl 1 wenig Rührung und blieb generell eher im Hintergrund, tritt er in Klgl 2,11–13 als mitfühlender, um Fassung ringender Mann in Erscheinung.567 Rührten ihn die in Gefangenschaft geführten Kinder in Klgl 1,5 noch nicht, ist es

561 Berlin (2002), 61. 562 Frevel (2002), 111. 563 V 1: ‫עוב‬, ‫שלך‬, V 2: ‫בלע‬, ‫הרס‬, ‫נגע‬, ‫ ;חלל‬V 3: ‫גדע‬, ‫בער‬, ‫ ;אכל‬V 4: ‫דרך‬, ‫ ;הרג‬V 5: ‫בלע‬, ‫בלע‬, ‫ ;שחת‬V 6: ‫חמס‬, ‫שחת‬, ‫שכח‬, ‫ ;נאץ‬V 7: ‫זנח‬, ‫נאר‬, ‫ ;סגר‬V 8: ‫שחת‬, ‫בלע‬, ‫ ;אבל‬V 9: ‫אבד‬, ‫שבר‬. Auch die übrigen Sätze mit göttlichem Subjekt – z. B. V 1c: ‫ ולא־זכר הדם־רגליו ביום אפו‬und er gedachte nicht dem Schemel seiner Füße am Tag seines Zorns – haben regelmäßig sein gewalttätiges Handeln zum Inhalt. 564 Die meisten Sätze enthalten uniform JHWH als Subjekt, ein Gewaltverb in der 3. m. Sg., sowie Zion oder ein Element der Stadt als Objekt, wobei das Verb häufig im Pi’el steht (V 2: ‫בלע‬, ‫ ;חלל‬V 5: ‫בלע‬, ‫בלע‬, ‫ ;שחת‬V 6: ‫שחת‬, ‫ ;שכח‬V 7: ‫ ;נאר‬V 9: ‫אבד‬, ‫)שבר‬. 565 Vgl. z. B. die häufigen Begriffe für »Zorn/Wut« (‫אף‬: V 1ac.3a.6c; ‫עברהא‬: V 2b; ‫חמה‬: V 4c; ‫זעם‬: V 6c), das viermalige Verwenden von ‫ בלע‬verschlingen (V 2a.5ab.8b), die häufige Verwendung des Titels ‫( בת‬V 1a.2b.4c.5c.8a), die zweimalige Wendung ‫ דרך קשתו כאויב‬er trat seinen Bogen wie ein Feind bzw. ‫ היה אדני כאויב‬es war der Herr wie ein Feind (V 4a.5a) sowie allgemein die häufige (und praktisch ausschließliche) Verwendung der Begriffe ‫( צר‬V 4.17) und ‫( אויב‬V 3.4.5.7.16.17.22). Hinzu kommt der deutliche, aber z. T. eher auf der assoziativen Ebene angesiedelte Fokus auf den Tempel (V 1b: ‫ תפארת ישראל‬Zierde Israels; V 1c: ‫הדם־רגליו‬ Schemel seiner Füße; V 4c: ‫ אהל בת־ציון‬Zelt der Tochter Zion; V 6a: ‫שכו‬, ‫ מועדו‬Festort, Sukka; V 6b: ‫ מועד ושבת‬Fest und Sabbat; V 6c: ‫ מלך וכהן‬König und Priester; V 7a: ‫מזבחו‬, ‫ מקדשו‬Altar, Heiligtum; V 7c: ‫בית־יהוה‬, ‫ יום מועד‬Festtag, Haus JHWHs), sowie die immer wiederkehrende Nennung von Mauern, Palästen usw. (V 2b: ‫ מבצרי בת־יהודה‬Wälle der Tochter Juda; V 5b: ‫ ארמנותיה‬ihre Paläste, ‫ מבצריו‬seine Wälle; V 7b: ‫ חומת ארמנותיה‬Mauern ihrer Paläste; V 8a: ‫ חומת בת־ציון‬Mauer der Tochter Zion; V 8c: ‫ חל וחומה‬Wall und Mauer; V 9a: ‫ שעריה‬ihre Tore, ‫ בריחיה‬ihre Riegel). 566 Dobbs-Allsopp (2001a), 375f. Objekt-Enjambements treten in V 1b.2abc.3a.4b.5c.6bc.7b.8a auf; sie tragen dazu bei, dass die Darstellung trotz der »hämmernden« Syntax »a real sense of tugging or pulling« bekommt (Dobbs-Allsopp [2001b], 227). 567 Das im AT singuläre Bild der zu Boden verschütteten Leber (V 11a) deutet einen emotionalen Aufruhr lebensbedrohlichen Ausmaßes an. Nur hier wird im AT die ‫ כבד‬eines Menschen thematisiert. Nach Collins (1971a), 19 steht hinter der Formulierung der Glaube, dass starke Emotionen zu einem »general softening up« der inneren Organe führt, das einen Ausfluss der ‫ נפש‬zur Folge hat. Jene tritt dann in der Form von Tränen (»which are nothing less than the oozing of the body’s vital substance«; ebd.) aus den Augen aus.

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hier ihr Verhungern, das ihn die Fassung verlieren lässt.568 Blieb es in Klgl 1 beim refrainartigen Wiederholen ‫ אין לה מנחם‬es gibt für sie keinen Tröster, sucht der Sprecher nun selbst (vergeblich), Zion zu trösten (V 13b). (2) Bestand Klgl 1 eher aus einer Abfolge voneinander unabhängiger Reden und Zwischenrufe, gewinnt die Darstellung in Klgl 2 deutlich Dialogcharakter. Augenscheinlichster Grund hierfür ist des Sprechers direkte Anrede Zions ab V 13, die in V 19 dann imperativischen Charakter annimmt, aber auch die vom Sprecher eingestreuten Zitate der Vorbeigehenden (V 15c) und Feinde (V 16bβc). (3) Schließlich ist insbesondere Zions Rede (wenngleich sehr viel kürzer als in Klgl 1) von deutlich höherer Intensität. Dominierten in Klgl 1 Selbstbeschreibungen, so geht es nun ausschließlich um Bewohner der Stadt; das eigene Befinden steckt hinter dem Schicksal ihrer »Kinder« zurück. Schon darin zeigt sich erhöhte innere Kraft. Beschrieb sie dort ihren Zustand als betrübt, bang, verstört sein usw., enthält Zions Rede nun eine ähnliche Ansammlung von Gewaltverben, wie es anfangs beim Sprecher der Fall war.569 Rief sie JHWH in Klgl 1 als Zeugen ihres bemitleidenswerten Zustandes an (V 9c.11c) und bat um ausgleichende Gerechtigkeit auch für die Sünden der Feinde (V 22), ist von einer (Für-)bitte hier nichts zu spüren. Die einzigen Bitten sind die Aufforderungen, die Konsequenzen seines Handelns zu beachten. Die Stimmung von Klgl 2 ist somit von deutlich größerer Variabilität als in Klgl 1. Während die dortige Darstellung gleichbleibend dem Klageduktus verschrieben blieb, findet in Klgl 2 eine mehrstufige Entwicklung statt. Beginnend mit der unbarmherzig-pochenden Schilderung des Gerichts, mündet sie in die Fassungslosigkeit des Sprechers und seiner Solidarisierung mit Zion. Seine Versuche, Zion zu trösten, werden dabei kontrastiert mit den Zitaten der Vorbeigehenden und Feinde, die im Gegensatz zu ihm Freude und Hohn angesichts Zions Schicksals empfinden. Dies mündet ein zu einer eindringlichen Klageaufforderung seitens des Sprechers. Das Lied schließt mit einer Anklage Zions, die ihrer passiven Rede aus Klgl 1 in nichts ähnelt. Als Anwältin der in Zion getöteten Zivilbevölkerung, ihrer »Kinder«, hält sie JHWH die Konsequenzen seines Handelns vor, und zieht für sich die Schlussfolgerung: Dieser Gott ist mir zum Feind geworden.570 568 Die lexematische Häufung ist bemerkenswert. Zweimal ‫ עטף‬verschmachten (V 11c.12b), zweimal ‫ שפך‬verschütten (V 11b.12c), zweimal ‫ רחבות‬Plätze (V 11c.12b), zweimal ‫אמות‬ Mütter (V 12ac); die ‫( נפש‬V 12c) ist zudem das, was aus ‫ כבד‬Leber und ‫ מעה‬Innerem über die ‫ עינים‬Augen als ‫ דמעות‬Tränen austreten (V 11ab). 569 V 20b: ‫ – אכל‬vgl. V 2c; V 20c.21c: ‫ ;הרג‬V 21c: ‫ ;טבח‬V 22c: ‫כלה‬. 570 Man beachte die dichte und sorgfältige Konzeption der V 20–22: Nach der einleitenden Aufforderung ‫ ראה יהוה והביטה‬Sieh, JHWH, und schau her! (V 20a) folgen in V 20bc zwei rhetorische Fragen, die das Verhältnis zwischen JHWH und Priester/Prophet dem besonderen Schutzverhältnis zwischen Kleinkind und Mutter gleichsetzt. Die nächsten zwei Bikola sind chiastisch konzipiert und beschreiben anhand des doppelten Merismus ‫ זקן – נער‬und

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5.2.1.9.3 Klgl 4 Der seltsam entrückte, fast schon gefühlskalte Eindruck von Klgl 4 ist in der Forschung immer wieder bemerkt worden.571 Die Gründe hierfür sind z. T. rein formaler Natur: Wegen der reduzierten Länge des Liedes ist die Darstellung nochmals verdichtet, was zuweilen bis an die Grenzen der hebräischen Syntax geht (z. B. V 6b; V 9) und öfter einen inhaltlich schwer verständlichen Text zur Folge hat (V 6; V 7–9; V 13–15). Hinzu kommt der abrupte und inhaltlich wenig folgerichtige Wechsel vom Sprecher zu einer Wir-Gruppe in V 17, sowie zurück zum Sprecher in V 21. Die im Vergleich zu Klgl 1 und 2 reduzierte Verwendung von Enjambements trägt zur metrischen und semantischen Unruhe bei.572 Die deutlich reduzierte Figürlichkeit des Sprechers, sowie die fast vollständig aufgegebene Personifizierung Zions573 führen zu einem eher berichtenden, reportagenartigen Text. Hinzu kommen inhaltliche Gründe, die sich am besten in Abgrenzung zu Klgl 2 darstellen lassen: Statt wie in Klgl 2 Sympathie und Mitleid mit Zion zu haben, hält der Sprecher die ‫ בת־עמי‬in V 3 für »grausam« und wirft ihr fehlende Fürsorge mit ihren Kindern vor. Statt das Schicksal der Fürsten ebenso zu beklagen wie das der übrigen Bevölkerung (vgl. Klgl 1,6; 2,2.9), schwingt in V 5 eine abwertende Note mit. In Klgl 2,20c dient das tödliche Schicksal der Priester und Propheten als besonders deutliches Beispiel eines maßlos gewordenen Ge-

‫ בחור – בתולה‬die Tötung letztlich der gesamten Bevölkerung. Wiederum die nächsten beiden Bikola, V 21c.22a, können gut als »Kurzprogramm« des Liedes gelten: JHWH ist Subjekt, vier Verben in der 2. Sg. m. umschreiben die Situation (zwei Gewaltverben ‫ הרג‬töten, ‫טבח‬ schlachten, ein verneintes ‫ חמל‬verschonen – in den meisten Fällen verneint und häufig mit JHWH als Subjekt dient es meist der Umschreibung von »schonungs- oder erbarmungslos« und hat damit ebenfalls Gewaltkonnotationen [Tsevat {1977}, 1043f.] – , einmal ‫ קרא‬rufen). V 21c gewinnt dabei besonderes Gewicht durch die vierfache Endassonaz auf ‫ ָת‬bzw. ‫ָך‬. Die Stichworte ‫ יום אפ‬sowie ‫ מועד‬verweisen zudem auf die beiden beherrschenden theologischen Motive des Liedes: Zum einen die Interpretation des Geschehens als Tag des Zorns, zudem die Anspielung auf den Tempel. Die letzten beiden Bikola, V 22bc, formulieren schließlich eine Schlussfolgerung, die nicht mehr an JHWH gerichtet ist: Niemand entkam; der Feind (sg.!) hat sie alle vernichtet. Dass die Rede mit dem Verb ‫ כלה‬schließt, gilt sinnbildlich für das in diesen Versen gesagte. Zudem werden die Verse durch Stichwortbeziehungen zusammengebunden: ‫ טפח‬pflegen/auf den Händen tragen und das Tetragramm verbinden V 20.22; es bildet zudem ein Wortspiel mit ‫ טבח‬schlachten in V 21c. Doppelt finden sich zudem auch ‫ הרג‬töten (V 20c.21c) und ‫ יום אף‬Tag des Zorns (V 21c.22b). In Klgl 1 rahmte ‫ עלל‬handeln an Zions Rede V 12b.22a, hier findet es sich erneut in V 20a, sowie als Wortspiel mit ‫ עולל‬Kind in V 11c.20b. 571 Berlin (2002), 103: »odd sense of detachment«; O’Connor (2002), 58: »expresses diminishment, a shriveling of feelings, a closing of horizons … its poetic structures convey exhaustion«; Dobbs-Allsopp (2002), 130: »scattered and fractured … only the acrostic holds the disparate stanzas together«. Die psychologische Interpretation der Klgl von Reimer (2002) ordnet Klgl 4 der depressiven Phase eines Klageprozesses zu. 572 Vgl. hierzu Dobbs-Allsopp (2001a), 373f. 573 S. o. zur ‫בת־עמי‬.

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richts,574 hier werden sie für die Eroberung der Stadt verantwortlich gemacht. Ebenso galt die Teknophagie in Klgl 2,20b als absolutes Skandalon – hier gibt sie Anlass für ein grausiges Bild, das offenbar auf Ez 11,3–13; 24,1–14 anspielt und den Tod der Kinder zur rhetorischen Pointe reduziert. Auch der Abschnitt kollektiver Rede fällt nicht nur formal aus dem Rahmen. So ist auffällig, dass die katastrophalen Zustände der Belagerung aus der »distanzierten« Beobachtersicht geschildert werden, während V 17–20, die primär eine vergebliche Flucht, zugleich ja aber auch ein Im-Stich-Lassen der Stadt beschreiben, in der persönlichen Wir-Perspektive gehalten sind. Zwar wird der Eindruck von Ausweg- und Zukunftslosigkeit durch die Wir-Rede noch plastischer, auch erleichtert eine Wir-Gruppe dem Publikum die Identifizierung, doch muss man sich fragen: Wer wollte sich mit diesen fliehenden Eliten identifizieren?575 Klgl 4 zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die aufgehört hat Gesellschaft zu sein. Die Eliten gleichen Bettlern; Kinder und Säuglinge verhungern und werden anschließend selbst verspeist, die einst Schönen sind vor Hunger, Schmutz und Hitze nicht wiederzuerkennen. Priester und Propheten werden, blind und mit Blut besudelt, wie Aussätzige behandelt, man ehrt weder sie noch die Ältesten, und soweit möglich suchten die Eliten (zusammen mit dem König) die eigene Haut zu retten. Dies alles wird ohne das in Klgl 1–2 so deutliche Entsetzen oder Bedauern geschildert. Ausdrücke für Emotionalität und das Wortfeld »Klage«, das in Klgl 1–2 einen so dominanten Platz einnahm, finden sich in Klgl 4 nur vereinzelt.576 Möglicherweise ist es dies, was beim Lesen so irritiert: Es klagt niemand. Es scheint, als sei die Kraft dafür versiegt. Stattdessen dominiert Hoffnungslosigkeit – nur in Klgl 4 findet sich keine direkt Anrede an Gott! – und eine gewisse apathische Indifferenz, die in V 21f. in einer regelrecht schadenfreudigen Gerichtsandrohung an Edom kulminieren.577

574 Auch sonst sind Priester und Prophet bis auf Klgl 2,14 positiv konnotiert: vgl. Klgl 1,4.19; 2,6.9.20. 575 Die Fluchtschilderung lässt an die in V 3 genannten Strauße denken, von denen man annahm, dass sie bei Gefahr fluchtartig ihr Gelege verließen. Zudem wurde die Oberschicht schon in V 5 kritisch bewertet. Die innertextuellen Bezüge führen zu keinem sehr schmeichelhaften Bild der Wir-Gruppe. 576 Nur in V 1a.2b.10b finden sich deutliche Hinweise. Demgegenüber in Klgl 1: V 1a.2.4.5b.8c.9c.11c12bc.13c.16.17a.18b.20ab.21a.22c und Klgl 2: V 1a.5c8c.10.11ab.13ab.18f. 577 Nicht unangemessen fasst Lanahan (1974), 48 den Sprecher von Klgl 4 als Bourgeois, der von seinem Schicksal zwar zutiefst geschockt, jedoch echter Selbstkritik unfähig ist: »All that is left to him is the spiteful wish that his own sense of chaos may now be transferred elsewhere so that the distant enemy will also suffer this same shock of dislocation. … His ultimate resolution thus comprises neither insight nor resignation, but merely an ineffectual tantrum of vindictiveness. … After he has observed the chaos and experienced the confusion, his reaction is the wish that the evil be spread out even further.«

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5.2.1.9.4 Klgl 5 Der bevorstehende Schluss der Sammlung kündigt sich in Klgl 5 auf vierfache Weise an: (1) Die Akrostichie ist aufgegeben. (2) Das Lied besteht nur noch aus 22 Bikola, ist somit im Vergleich zu Klgl 4 nochmals um die Hälfte kürzer, »komplettiert« jenes zugleich zur Länge von 66 (bzw. 67) Bikola. (3) Enjambements und das sog. Qinah-Metrum treten nur noch vereinzelt auf,578 so dass nun wieder der »klassische Parallelismus« vorherrscht.579 (4) Schließlich setzt das Lied als Gebet ein. Ob gewollt oder nicht – es bietet damit einen guten Anschluss an Klgl 4, das als einziges Lied keine direkte Anrede an JHWH enthält.580 Der Eindruck einer Zurücknahme, eines Beendens setzt sich auf der inhaltlichen Ebene fort. Erneut herrscht ein bedrückter, depressiver Grundton, der schon im ersten Vers etabliert wird: ‫ הביט וראה את־חרפתנו‬Schau her und sieh unsere Schmach! Angesichts der Seltenheit der nota accusativi in der hebräischen Poesie581 tritt das Objekt Schmach umso deutlicher hervor. Wie schon in Klgl 4 liegt der Fokus auf dem Schicksal der Bevölkerung, allerdings ist nicht mehr der ständig drohende (Hungers-)Tod, sondern die fortdauernde Existenz in erniedrigenden Umständen, die beklagt werden. Besonders prägnant sind dabei die häufigen Verkehrte-Welt-Motive: Das eigene Erbe gehört Fremden (V 2), üblicherweise frei verfügbares Wasser hingegen kostet Geld (V 4). Sklaven herrschen (V 8), Fürsten werden dagegen erhängt (V 12). Der Reigentag geschieht in Trauer (V 15). Derartige Bilder, in denen die Welt wie auf den Kopf gestellt erscheint, sind ein häufig angewandtes Mittel, um das Herrschen des Chaos darzustellen.582 In V 18 kulminiert diese Schilderung mit den auf dem Berg Zion einziehenden Schakalen: Auf der einstigen Wohnstätte JHWHs regiert das Chaos. Der bedrückt-depressive Ton bleibt schließlich auch in den V 19–22 erhalten, die man als »Summe« des Liedes (und des Buches) verstehen kann. V 21 lässt deutlich erkennen, dass der Glaube an die Möglichkeit einer eigenständigen Umkehr des Menschen ebenso verloren gegangen ist, wie die Zuversicht, dass jene automatisch die erneute göttliche Zuwendung zur Folge hätte.583 Zwar hält 578 Dobbs-Allsopp (2001a), 373f. findet in Klgl 5 nur noch 15–25 % enjambierter Zeilen, nach de Hoop (2000), 84 weisen nur noch ca. 35 % der Zeilen das Klage-Metrum auf. Klgl 3: 71 %; Klgl 4: 54 %; Klgl 5: 36 %. 579 Ausführlicher dazu Dobbs-Allsopp (2002), 140–142. 580 Berges (2002), 273 nimmt eine bewusste Anordnung an und verweist darauf, dass BHK nach Klgl 4,22 statt einer Petucha nur eine Setuma setzt. Vgl. auch Wagner (2012), 624: »offensichtlich als Fortsetzung von Thr 4«. 581 Vgl. hierzu Andersen et al. (1983) und Freedman (1987). 582 Vgl. zum Thema: Dobbs-Allsopp (1993), 40f.; Kruger (2012a), Kruger (2012b) sowie Kruger (2009). 583 Vgl. Dtn 4,29f.; 30,2f.; 1Kön 8,47–49 für diese Form einer Umkehrtheologie. Hatte der Mann in Klgl 3,22 noch erklärt: ‫ חסדי יהוה כי לא־תמנו כי לא־כלו חמיו‬Die Huld JHWHs, ja sie sind nicht zuende, ja nicht enden seine Erbarmungen und in V 32 hinzugefügt: ‫כי אם־הודה ורחם כרב חסדו‬

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Klgl 5 (im Gegensatz zu Klgl 2) daran fest, dass JHWH nach wie vor der »richtige« Ansprechpartner ist: »Auf dem Hintergrund des zerstörten Tempelberges (V 18) bleibt gerade sein ›himmlisches‹, vom irdischen Tempel getrenntes ewiges Thronen die Garantie dafür, das trotz aller Not die Klage noch ihren Adressaten hat, das Gott noch erhört und sieht).«584 Doch ist zunehmend fraglich geworden, ob Gott überhaupt einen Neuanfang will: »Der von Ewigkeit zu Ewigkeit thronende Gott (V 19) scheint sich das gerade vorher beklagte Elend vom Leibe zu halten zu wissen.«585 Dementsprechend fasst V 22 – unabhängig von der genauen Übersetzung der schwierigen Wendung ‫ – כי אם־מאס מאסתנו‬die Möglichkeit einer endgültigen Verwerfung zumindest ins Auge.586

5.2.1.9.5 Zusammenfassung Fasst man die Beobachtungen zusammen, ist insgesamt in Klgl 1 und 2 eine deutlich höhere Expressivität und emotionale Variabilität erkennbar, wobei Klgl 2 im Vergleich zu Klgl 1 nochmals erheblich intensiviert. Klgl 1 setzt mit der Beschreibung einer marginalisierten und geschändeten Frau an und intensiviert die Darstellung in der Selbstbeschreibung Zions, die einerseits JHWHs Urheberschaft herausstellt, sowie mittels der Bilder physischer Gewalt die menschlichen Folgen des göttlichen Gerichts schildert. Ist damit das göttliche Gericht an Frau Zion in aller Direktheit dargestellt, liefert die erste Sektion von Klgl 2 dies für die Stadt Zion nach. In der zweiten Sektion wird die Emotionalität des Sprechers herausgestellt und Zion zur intensivierten Klage aufgefordert. Hier findet die Entwicklung Zions von nächtlich weinender Frau zur erzürnten Advokatin für »ihre Kinder« ihren Abschluss. Im Gegensatz dazu sind Klgl 4 und 5 von Apathie und Depression geprägt. Dabei hinterlässt im direkten Vergleich Klgl 4 den deutlich stärkeren Eindruck, was einerseits an den blitzlichtartigen, z. T. grellen Bildern liegt, andererseits aber an der Schilderung einer Gesellschaft, die ihres »sozialen Kittes« abhanden gekommenen ist. Während in Klgl 5 ein Kollektiv klagt, vermittelt die Darstellung von Klgl 4 den Eindruck eines Kriegsreporters, der innerlich unbeteiligt, in kurzen Schnappschüssen grelle, z. T. groteske Bilder der sich in der belagerten Stadt abspielenden Szenen malt. Demgegenüber zeichnet Klgl 5 das Bild einer Gemeinschaft, die zwar unter der nicht enden wollenden Schmach ihrer Existenz leidt, und sich angesichts der immer wieder enttäuschten Hoffnung auf JHWHs Gnade nicht scheut, eine radikale Entscheidung »endgültige Verwerfung oder denn, wenn er betrübt, erbarmt er sich auch entsprechend seiner reichen Huld, so ist nun gerade dieses Vertrauen brüchig geworden. 584 So Emmendörffer (1998), 73. 585 Emmendörffer (1998), 76. 586 Boase (2008a), 456.

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radikaler Neuanfang«587 herbeizusehen, doch ist es immerhin noch das Bild einer Gemeinschaft. 5.2.1.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Der thematische Vergleich verdeutlichte Gemeinsamkeiten, wie auch signifikante Unterschiede, zwischen Klgl 1–2 und Klgl 4–5. Damit ist es möglich, charakteristische Merkmale der einzelnen Lieder zu identifizieren, die es ermöglichen, unter Hinzunahme der Erkenntnisse aus Kap. 4 und Kap. 5.1 erste Thesen hinsichtlich einer »Kompositionsskizze« des Buches zu formulieren. 5.2.1.10.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede In gestalterischer Hinsicht sind sowohl in Klgl 1–2 als auch in Klgl 4–5 viele Gemeinsamkeiten erkennbar. Klgl 1 und 2 sind von gleicher Länge ( je 67 Bikola), Klgl 4 und 5 enthalten zusammen 66 Bikola; dabei setzt sich die Verkürzung von Klgl 4 im Vergleich zu Klgl 3 in Klgl 5 nochmals fort. Der Rückgang ist somit »gestaffelt« und damit nochmals in sich regelmäßig. Das akrostichische Schema bleibt in Klgl 1–2 konstant beim ‫–א‬x–y, ‫ב‬-x-y, während es in Klgl 4 und 5 reduziert bzw. vollkommen aufgegeben ist. Auch hinsichtlich der Häufigkeit von Enjambements und Qinah-Metrum ähneln sich Klgl 1–2 sehr stark und weisen gegenüber Klgl 4–5 einen signifikant höheren Befund auf. In Klgl 1–2 dominiert die »dialogische« Perspektive von Zion und Sprecher, während in Klgl 4 und 5 die Perspektive eines beschreibenden Sprechers und eines redenden Kollektivs vorherrscht. Zudem wird in Klgl 1–2 sehr viel intensiver mit wechselnden Perspektiven, Adressaten und Zitaten gearbeitet, während in Klgl 4 (durch die in V 1–16.21f. konstante Perspektive eines beschreibenden Sprechers) und in Klgl 5 (durch das redende Kollektiv) eine homogenere Perspektive vorherrscht. Insgesamt macht Klgl 1–2 damit einen deutlich »lebhafteren« Eindruck. In thematischer Hinsicht ist zwischen Klgl 1–2 und Klgl 4–5 ein deutlicher Wandel des inhaltlichen Fokus erkennbar. Ging es in Klgl 1–2 um das Gericht und die damit im Zusammenhang stehenden Zerstörungen, thematisiert Klgl 4–5 die Konsequenzen für die Bevölkerung und die Zukunft des Gottesverhältnisses. Dementsprechend kommt Zion besonders in Klgl 1–2 in den Blick, und zwar in Klgl 1 primär als Frau, in Klgl 2 hingegen sehr viel deutlicher auch als Stadt. In beiden Fällen wird die Zerstörung der Stadt in Form des an ihr ergangenen Gerichts thematisiert: in Klgl 1 geschieht dies metaphorisch im Bilde physischer und psychischer Gewalt gegenüber der Frau Zion, in Klgl 2 dagegen konkret als militärische Gewalt gegenüber Stadt und Umland. Der für Klgl 2 charakteristische Fokus auf den Tempel und Tempelkult weist auf den in diesem Lied be587 So Wiesmann (1936), 635.

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sonders deutlichen Fokus auf JHWH als Verursacher der Katastrophe hin. Ebenfalls für Klgl 1–2 charakteristisch ist die Trauerthematik – sei es als Emotion Zions oder als rituelle Handlung der Bevölkerung. Klage kommt hier als proaktiver Akt in den Blick, der göttliche Gerechtigkeit zugleich einfordert, sie angesichts des Ausmaßes des Gerichts aber auch in Frage stellt. In Klgl 4–5 spielt Zion nur noch eine untergeordnete Rolle; stattdessen steht das Schicksal des Volkes im Vordergrund: Klgl 4 thematisiert die Auswirkungen der Katastrophe auf Individuum und Solidargemeinschaft, Klgl 5 ruft dann mit deutlichem zeitlichen Abstand aus der Sicht des Kollektives JHWH an, die Not, die sich mittlerweile als anhaltende Schmach äußert, zu lindern. Alle vier Lieder beschreiben eindrücklich das Leid der Bevölkerung, setzen jedoch jeweils eigene Schwerpunkte. Klgl 1 beklagt primär Gefangenschaft, Exilierung und Kriegsgewalt. Der Fokus liegt auf der Zivilgesellschaft im Allgemeinen; zudem weist die Häufung von Personenbegriffe wie »Freund«, »Tröster« usw. auf das sich durch das ganze Lied ziehende Motiv von Vereinsamung und Hilflosigkeit hin. Stattdessen stellt Klgl 2 in der ersten Sektion die praktisch grenzenlos gewordene göttliche Gewalt als Ausdruck seines Zornes dar, und kontrastiert dies mit den unschuldigen Opfern dieses Handelns schlechthin, den verhungernden und getöteten Kindern. Auch Klgl 4 entwickelt das Thema des mörderischen, entmenschlichenden Hungers, führt hierfür jedoch neben den Kindern auch die sich entwürdigenden Eliten, kultisch verunreinigte Priester und den hilflos gefangenen König an. Der Fokus von Klgl 5 liegt auf dem Familienverband im weiteren Sinne; hier geht es weniger um akute Todesgefahr als um die tägliche schmachvolle und beschwerliche Existenz unter einem als abwesend erlebten Gott. In allen Liedern findet sich das Motiv des göttlichen Zornes, wobei die überwiegende Mehrzahl der Belege in Klgl 2 zu finden ist. In den anderen Liedern ist es nur vereinzelt, allerdings jeweils in Spitzenversen vertreten. Die ZornGottes-Thematik ist im Zusammenhang mit dem Motiv der »Feinde« als aktive Widersacher und dem »Schuldbekenntnis« zu sehen. Während in Klgl 1 primär die Feinde im Blick sind, ist es in Klgl 2 JHWH selbst. Der geänderte inhaltliche Fokus hat zur Folge, dass die Feinde in Klgl 4 in den Hintergrund treten und in Klgl 5 eher Besatzer und Eroberer im Blick sind. Die Schuldthematik hingegen tritt in Klgl 2 fast völlig in den Hintergrund, hat jedoch einen erheblichen Schwerpunkt in Klgl 1 und kommt auch in Klgl 4–5 immer wieder zur Sprache. Somit gilt, dass der Zorn Gottes gerade dort hervorgehoben wird, wo das Handeln der Feinde praktisch völlig in den Hintergrund gerät und die eigene Schuld nur eine geringe Rolle spielt. Demgegenüber ist in den Liedern, die einerseits das (eigenmächtige) Handeln der Feinde betonen (Klgl 1) bzw. weniger am Gericht als solchem denn an den Folgen für die Gemeinschaft interessiert sind (Klgl 4–5), die Zorn-Gottes-Thematik nur von nachrangiger Bedeutung. Je weniger die Darstellung vom »glühenden« Zorn Gottes dominiert wird, desto deutlicher tritt

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die Frage der eigenen Verantwortung in den Vordergrund. Eine Interpretation des Geschehens als ›Tag des Zorns‹, samt der damit einher gehenden theologischen Vorstellungen, findet sich dementsprechend auch nur in Klgl 1–2. 5.2.1.10.2 Der Anfang und das Ende – eine »Kompositionsskizze« für Klgl 1–2 und Klgl 4–5 Die bisherige Analyse lässt sich auf einen Nenner bringen: Klgl 4–5 bieten wenige eigenständige Akzente, vielmehr variieren sie wichtige Motive aus Klgl 1–2. Die größere thematische Breite von Klgl 1–2 wird ergänzt durch die deutlich lebendigere Darstellung, die Personifizierung Zions und die in Kap. 5.1 diskutierten dramatischen Elemente. Die Personifizierung Zions dient hierbei zugleich als kohärenzstiftendes Moment der Darstellung, Projektionsfläche für das eigene Erleben des Publikums, Solidarisierungsobjekt und Mittel bzw. Mittlerin einer mehrperspektivischen Darstellung. Damit lässt sich die Anordnung von Klgl 1–2 und Klgl 4–5 wie folgt plausibel machen: – Die dramatischen Elemente in Klgl 1–2 führen zur Etablierung eines Settings, das zum Weiterlesen animiert; Klgl 4–5 kann dies nur noch teilweise leisten. Zudem wird in Klgl 1–2 eine für die Rezipient*innen plausible Szenerie und Personenkonstellation etabliert und somit ein raumzeitliches Bezugssystem geschaffen, das dem Publikum für die weitere Lektüre als Orientierung dienen kann. – Die Personifizierung Zions und die Sprecher- und Perspektivenwechsel in Klgl 1–2 eröffnen die Möglichkeit, mehrere und mehrdeutige Positionen darzustellen. Anders als bei der weitgehend einheitlichen Perspektive von Klgl 4 und 5 wird dem Publikum die Freiheit gelassen, sich im Spannungsfeld verschiedener Positionen selbst zu verorten. Zugleich animiert das von Emotionalität geprägte Vokabular zu Solidarisierung der Leser*innen mit den Figuren der Darstellung. – Die längeren Lieder Klgl 1 und 2 bieten mehr Platz zur Etablierung der Fixpunkte der Darstellung; zudem nennen sie die im Folgenden wichtigen Themen und Motive: den Zorn Gottes und der Tag des Zorns, Stadt- und Tempelzerstörung, gewaltsamer Tod durch Hunger und Krieg, Exilierung, Gefangenschaft und Demütigung, das Wirken der Feinde und das sich in Klage äußernde Leid der Zivilbevölkerung, daran anschließend die Frage nach den Grenzen eines gerechten Gerichts sowie generell die Spannung zwischen dem erlebten Leiden und dem Glauben in einen gerechten Gott. Klgl 1–2 bietet damit eine umfassende Bestandaufnahme nicht nur der Stadtzerstörung sondern auch der »Sinnsysteme« der Bevölkerung, die durch die Katastrophe in ihrer Belastbarkeit fraglich geworden waren. – Die Personifizierung Zions sorgt dabei einerseits für Solidarisierung, ermöglicht zugleich aber auch die Distanzierung des Publikums. Zion als Frau kann

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ihre eigene Sicht, ihre Verletztlichkeit, Einsamkeit und Trauer darstellen, aber auch ihre Wut und Empörung über das ihren Kindern Angetane zum Ausdruck bringen. Das Publikum ist hier – anders als in den kommunalen Passagen von Klgl 3–5 – nicht aufgefordert, sich mit Zion zu identifizieren. Die Distanz bietet die Möglichkeit, offener eine eigene Positionierung zu der sich entwickelnden Diskussion zu suchen.Wie sehr einem das Schicksal der gedemütigten Zion auch nahe geht – es geht um Zion, nicht den Leser, die Leserin selbst.588 Umgekehrt lenken Klgl 4–5 die Betrachtung sukzessive auf das Publikum zurück. Der inhaltliche Fokus auf die Gemeinschaft, die im Zuge der Katastrophe zunehmend dissoziierende Gesellschaft, die entmenschlichenden Folgen anhaltenden Hungers führen zur Frage, ab wann ein gerechtes Gericht zu einem Ende kommen muss. Die abnehmende Länge von Klgl 4–5, das verkürzte akrostichische Schema, und der Rückgang von Enjambements signalisiert zudem auf formaler Ebene das bevorstehende Ende der Sammlung.589 Die vorliegende Anordnung lässt sich auch aus der kontrafaktischen Überlegung möglicher Alternativen heraus verständlich machen. Eine Eröffnung der Sammlung durch Klgl 4–5 wäre aus mehreren Gründen problematisch: (1) Zwar ist eine »Einleitung« durch das 22-zeilige Klgl 5, gefolgt vom 44-zeiligen Klgl 4 denkbar, jedoch würde in diesem Fall nach Klgl 1 ein abruptes Ende eintreten. Die vorliegende Anordnung hingegen führt zu einem allmähligen Ausklingen. (2) Die größere thematische Vielfalt von Klgl 1–2 eignet sich besser zur allgemeinen Problemexposition als der begrenzte Fokus auf die Leiden der Bevölkerung in Klgl 4–5. (3) Zudem kann diese Exposition in den längeren Klgl 1 und 2 ausführlicher erfolgen als dies in Klgl 4 und 5 möglich wäre. (4) Die in Klgl 1–2 weitgehend homogene poetische Gestaltung strukturiert die Darstellung und vermittelt den Eindruck von Vorhersehbarkeit. (5) Eine Eröffnung durch Klgl 4–5 führte zu einer anachronistischen Textabfolge, da nach der Klage über die schmachvolle Existenz der Nachfolgegeneration in Klgl 5 erst die Schilderung der Belagerung aus Klgl 4 und anschließend die Beschreibung der Stadtzerstörung durch JHWH in Klgl 2 folgte. Schließlich hat der Vergleich gezeigt, dass die formalen und inhaltlichen Kontinuitäten zwischen Klgl 1–2 und Klgl 4–5 sehr viel umfassender sind als die motivischen Bezüge zwischen Klgl 1 und 5 bzw. Klgl 2 und 4. Alternative Liedzuordnungen, wie Klgl 1 und 5 und Klgl 2 und 4, scheiden damit von vornherein aus. Nachdem somit nahegelegt wurde, warum das Buch der Klgl von Klgl 1–2 eröffnet wird, wäre noch kurz zu skizzieren, weswegen Klgl 1 (statt dem in

588 Dobbs-Allsopp (1997), 41. 589 Dobbs-Allsopp (2002), 140f.

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absoluter Chronologie älteren Klgl 2) den Anfang macht. Hierbei wird auf die Analysen des vorherigen Unterkapitels zurückgegriffen. Bestimmend sind folgende Beobachtungen: Im Vergleich zu Klgl 2 ist die Personifizierung Zions in Klgl 1 nochmals gesteigert und vor allem in den ersten Versen von Klgl 1 auch sorgfältig in ihrer Doppelgestalt als Frau und Stadt eingeführt. Klgl 2 hingegen setzt mit der Perspektive der Stadt ein, um erst in V 13 relativ unvermittelt zur Perspektive der Frau zu wechseln. Klgl 2 kann insofern gut auf die »Vorarbeiten« von Klgl 1 aufbauen. Klgl 1 bietet eine umfassende Bestandaufnahme der anschließend diskutierten Themen und Motive, bevor dann Klgl 2 die Darstellung fokussiert und zuspitzt.590 Die in Klgl 2 wichtigen Motive des göttlichen Zornes und des Gerichts, der Stadtzerstörung, des Tempel(kultes), Hunger und Tod finden sich schon in Klgl 1 angedeutet, hinzu kommen jedoch auch Andeutungen zu politischen Hintergründen, der deutlichere Fokus auf die eigene Schuld und das Handeln der Feinde. Das in Klgl 2 fast völlig unter den Tisch fallende Thema der eigenen Verantwortung und Schuld wird in Klgl 1 so deutlich wie in keinem der sonstigen Lieder in den Vordergrund gestellt. Hinzu kommt die deutlich betonte Gerechtigkeit Gottes und das Handeln der Feinde. Damit wird eine theologische Deutung des Geschehens geliefert, die JHWH fast völlig entlastet und somit die Schilderung von Klgl 2 samt den in Klgl 2,20–22 formulierten Anklagen abmildert. Zugleich finden sich aber auch schon in Klgl 1 Andeutungen von Kritik; die Anklagen von Klgl 2 kommen mithin nicht aus dem Nichts. So bleibt die Schuld Zions unkonkret und allgemein, während das an ihr vollzogene Gericht plastisch als physische, psychische und sexuelle Gewalt beschrieben wird. Klgl 1,10bc weist auf Inkonsequenzen zwischen dem Gerichtshandeln und Gottes eigenen Geboten hin. Das bestimmende emotionale Motiv von Klgl 1 ist »stille« Trauer; es dominieren Verben wie weinen (‫ ;בכה‬V 2[bis].16), trauern (‫ ;אבל‬V 4), seufzen (‫;אנח‬ V 4.8.11.21), verstört (‫ ;שמם‬V 4.13.16) und betrübt (‫ ;יגה‬V 4.5.12) sein. Zions Gemütszustand wird als bitter (‫ ;מרר‬V 4) und krank (‫דוה‬/‫ ;דוי‬V 13.22) beschrieben. Im Gegensatz finden sich in Klgl 2,18f. die Wurzeln ‫ צעק‬schreien und ‫ רנן‬laut schreien/klagen. Die gedämpftere Stimmung von Klgl 1 erleichtert es dem Publikum, sich auf die Darstellung einzulassen. Die vorliegende Anordnung geht von der eigenen Schuld (Klgl 1,5.8.14.18.20. 22) aus und ordnet dieser die Gerechtigkeit Gottes (Klgl 1,18) zu. Klgl 2 pro-

590 Hunter (1999), 57 vermutet gar, dass das gesamte Buch von einem »core of ideas« aus der ersten Sektion von Klgl 1 entwickelt wurde.

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blematisiert diese Sicht durch eine Darstellung des Gerichts, das jegliche Grenzen sprengt (Klgl 2,1–8.20–22). Damit ergibt sich eine nachvollziehbare Struktur: In Klgl 1 wird eine Basis geschaffen, indem vordergründig selbstevidente Glaubensinhalte dargelegt und affirmiert werden; Klgl 2 problematisiert dies, indem es die inneren Spannungen zwischen diesen Inhalten offenlegt: Welche Schuld kann so groß sein, dass ein gerechtes Gericht nicht nur den Tod sondern gar Verzehr unschuldiger Kinder zur Folge haben kann? Damit lässt sich skizzieren, worin die Funktion von Klgl 1 und 2 besteht, und wie sie diese verwirklichen. Klgl 1 ist nicht nur de facto das erste Lied, sondern fungiert auch konzeptionell als Exposition. Hier wird die Figur der klagenden Zion eingeführt, ihr jetziges Schicksal beschrieben und in kurzen Rückblenden die für das Verständnis wichtigen Hintergründe geklärt. Das dramatische setting wird etabliert, und somit ein Darstellungsmodus etabliert, der das Weiterlesen nach dem Ende von Klgl 1 erleichtert bzw. nahelegt. Theologisch bleibt das Lied weitgehend »traditionell«: Hervorgehoben wird die Schuld Zions, das Handeln der Feinde und die Gerechtigkeit Gottes. Alles Nachfolgende ist damit entscheidend vorgeprägt – die ungemein gewalttätige Schilderung des göttlichen Zornesgerichts in Klgl 2,1–9 geschieht mit dem ‫צדיק‬ ‫ הוא יהוה‬Gerecht – das ist JHWH! im Ohr. Dabei wird durchaus Kritik geübt – aber eben theologische Kritik: Wenn in V 10 die Tempelplünderung und -entweihung durch die Feinde als Verstoß gegen das Gemeindegesetz (Dtn 23,2–9) aufgefasst wird, wird kein »Plädoyer in eigener Sache« gehalten – es geht hier ausschließlich um die Frage der Konsistenz des Handeln Gottes mit den von ihm erlassenen religiösen Bestimmungen.591 Klgl 2 greift den Faden von Klgl 1 auf und radikalisiert ihn. Die ebenfalls dramenähnliche Textanlage ermöglicht einen nahtlosen Übergang und animiert dazu, das Neue aus Klgl 2 zum schon Bekannten aus Klgl 1 in Beziehung zu setzen. Gottes Handeln, das in Klgl 1 stellenweise noch vollständig hinter das Handeln der Feinde zurücktrat, wird nun derart konsequent in den Vordergrund gestellt, dass in Klgl 2,4ab.5a die Grenzen zwischen Gott und Feinden zunehmend verwischen. Klgl 2 kulminiert in V 20–22, in denen Zion JHWH in zwei rheto591 Dabei wäre es falsch, in Klgl 1 nur den beschwichtigenden Versuch zu sehen, der Kritik von Klgl 2 den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vielmehr ist Klgl 2 von einer Brutalität, die Leser*innen regelrecht attackiert. Damit ist allerdings die Rezeption des Textes gefährdet. Wie Linafelt (2000) ausführt, schwebt der Text gleichsam in (Über)-Lebensgefahr – und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen kann der Text sein kritisches Potential nur dann erreichen, wenn er »überlebbar« ist – ist er es nicht, wird er nach Lektüre nur irritiert und befremdet zur Seite gelegt. Zweitens muss aber auch der Text überleben, d. h. als tradierenswert erachtet werden. In beiden Fällen ist die Voranstellung von Klgl 1 instrumental für das »Überleben« von Klgl 2.

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rischen Fragen mit den Konsequenzen seines Tuns konfrontiert. Priester werden im Heiligtum getötet, Kinder von ihren Müttern verzehrt. Damit ist der Konflikt des Buches auf den Punkt gebracht: Ein Gericht, das die Unschuldigsten nicht nur zu Opfern macht, sondern ihnen in ihrem Verzehrt-werden gleichsam noch die Würde des Opferseins nimmt, hat jedes Maß verloren und kann nicht mehr dem Anspruch genügen, ein gerechtes Gericht zu sein. Folgerichtig wird hier nun auch nicht mehr von einem Handeln »wie ein Feind« geredet, sondern JHWH offen als Feind bezeichnet.

5.2.2 Klgl 3: Zentrales Lied – zentrale Aussage? Der Überschrift liegt eine Frage zugrunde, die in Kap. 4 schon anklang: Steht Klgl 3 nur formal in der Mitte der Sammlung, oder ist es auch von zentraler inhaltlicher Bedeutung? Lange Zeit wurde letzteres bejaht.592 Erst in jüngerer Zeit wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Entwicklung von Klgl 3 zu Klgl 5 auch als Intensivierung verstanden werden kann und es somit möglich ist, in Klgl 5 den Höhepunkt des Buches zu sehen.593 Eine dritte Möglichkeit integriert beide Meinungen: Eine Vielzahl von strukturellen und inhaltlichen Indizien sprechen dafür, dass Klgl 3 das formale wie auch inhaltliche Zentrum des Buches markieren soll; dies wäre die intentio redactoris. Davon unabhängig ist jedoch die Frage nach der intentio operis, d. h. die Frage, ob das Textarrangement in seiner vorliegenden Form die Intention des Redaktors erfolgreich umsetzt.

5.2.2.1 Formale Textgestaltung und Kommunikationsstruktur Schon die Formulierung ‫ שבט עברתו‬Rute seines Zornes in V 1β signalisiert, dass Klgl 3 als Weiterführung und Reaktion auf Klgl 1–2 gelesen werden will.594 ‫עברתו‬ nimmt das Motiv des göttlichen Zornes auf und verweist durch das ePP 3. m. Sg. zurück auf den in Klgl 2,22 genannten »Feind«. Die formale Gestaltung von Klgl 3 verrät den herausgehobenen Anspruch des Liedes. 592 Vgl. exemplarisch Mintz (1982), 10 (»monumental center of the Book of Lamentations … also the theological nub of Lamentations«), Boecker (1985), 72, Renkema (1998), 345 (»well considered literary core of Lamentations«), Berges (2002), 176 u. ö. Eine Auflistung ähnlicher Meinungen findet sich in Westermann (1990), 66. 593 So etwa Dobbs-Allsopp (1997), 41: »Chapter 5 is the thematic climax of Lamentations – not ch. 3, as so often stated. The latter is only a peak, however impressive and remarkable, which is to be enjoyed and contemplated but ultimately surpassed en route to ch. 5.« Vgl. auch Hunter (1999), 59, O’Connor (2002), 45 (»it is not clear that hope is the book’s radiant center«) und die Diskussion von Linafelt (2000), 5–13. 594 So schon Brandscheidt (1983), 52.

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Auf der einen Seite sind deutliche Kontinuitäten zu Klgl 1–2 erkennbar: (1) Wie schon Klgl 1–2 handelt es sich in Klgl 3 um ein Akrostichon; die in Klgl 2 inversierte Buchstabenabfolge ‫ ע – פ‬findet sich so auch in Klgl 3. Die Häufigkeit von Enjambements ist zwar im Vergleich zu Klgl 1–2 leicht reduziert,595 jedoch immer noch sehr häufig; Klgl 3 weist zudem den höchsten Anteil an Bikola auf, die dem sog. Qinah-Metrum folgen.596 (2) Klgl 3,1–16 nehmen im syntaktischen Aufbau und inhaltlichen Fokus auf die erste Sektion von Klgl 2 Bezug: Jeweils dominieren kurze Sätze, die selten die Grenze eines Bikolons überschreiten. Jeweils tritt JHWH als Subjekt auf, verbunden mit einem Gewalt konnotierenden Verb und dem Mann bzw. der Stadt als Objekt.597 Eine Vielzahl von Stichwortund Motivbezügen unterstützt diesen Effekt (s. o., Kap. 4.2). (3) Klgl 3 ist ebenfalls als Figurenrede konzipiert, und bietet durch Perspektivenwechsel sowie in den Text integrierte indirekte Zitate eine mehrperspektivische Darstellung. Der dialogische Eindruck von Klgl 2 ist damit in Klgl 3 nahtlos aufgenommen. Da Klgl 3 vollständig vom Selbstbericht des Mannes beherrscht wird, finden sich bis auf V 40–47 keine eigentlichen Subjektwechsel. Selbst dort ist es aus der Dynamik des Liedes möglich, den Mann weiterhin als Redner aufzufassen. Inhaltliche Unterschiede zwischen V 1–21 und V 48–66 als Indiz für zwei unterschiedliche Subjekte zu nehmen,598 verkennt die inhaltliche Logik von Klgl 3 vollkommen. Folgende Wechsel sind erkennbar: Verse

Sender

Empfänger

1–16 17

Mann Mann

Publikum JHWH

18 19–22

Mann (Selbstgespräch) Mann

Publikum Publikum

23 24

Mann Mann (Selbstgespräch)

JHWH Publikum

24–33 34–36

Mann Indirektes Zitat599

Publikum Publikum

37–39 40–41

Mann Mann + Kollektiv

Publikum Publikum

42–45 46–47

Mann + Kollektiv Mann + Kollektiv

JHWH Publikum

595 596 597 598 599

Dobbs-Allsopp (2001a), 374. De Hoop (2000), 84. Dobbs-Allsopp (2004), 22. Kraus (1983), 57. Dass Zenner (1905), 25 V 34–38 einer Sprecherin zuschreibt, Wiesmann (1929b), 422 sie als Einwurf des Volkes auffasst, unterstreicht den Zitatcharakter der Verse.

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48–54a 54b

Mann Mann (Selbstgespräch)

Publikum Publikum

55–56α 56β

Mann Mann (Zitat)

JHWH JHWH

57α 57β

Mann JHWH (Zitat)

JHWH Mann

58–66 Mann Übersicht 12: Kommunikationsstruktur von Klgl 3

JHWH

Zugleich setzt sich das Lied von Klgl 1–2 ab bzw. steigert das Bekannte: Im Unterschied zu Klgl 1,1a; 2,1a verzichtet Klgl 3 auf den Klageruf ‫ איכה‬und setzt stattdessen mit der unvermittelten Selbstvorstellung eines ansonsten anonym bleibenden Mannes ein. Statt dem bisherigen Schema ‫ – א‬x – y, ‫ – ב‬x – y bietet Klgl 3 ein intensiviertes ‫א – א – א‬, ‫ב – ב – ב‬. Übersetzungen, die diesen Effekt nachzubilden versuchen, vermitteln einen Eindruck von der damit verbundenen Signalwirkung: »All, what straits have I not known, under the avenging rod! Asked I for light, into deeper shadow the Lord’s guidance led me; Always upon me, none other, falls endlessly the blow. Broken this frame, under the wrinkled skin, the sunk flesh. Bitterness of despair fills my prospect, walled in on every side; Buried in darkness, and, like the dead, interminably. Closely he fenced me in, beyond hope of rescue; loads me with fetters. Cry out for mercy as I will, prayer of mine wins no audience; Climb these smooth walls I may not; every way of escape he has undone.«600

Die eben schon genannte Neigung, in kurzen Sätzen zu formulieren hat den Effekt, die sentenzenartige Mittelsektion umso prägnanter hervortreten zu lassen, was durch die dreiteilige Gliederung noch unterstrichen wird. Die Zentralität des Liedes innerhalb des Buches findet sich so auf Liedebene nochmals betont. Die Mittelsektion setzt sich dabei nicht nur stilistisch und theologisch, sondern auch durch die Wort- und Präfixrepetitionen (V 25–27: 3 × ‫ ;טוב‬V 28–30: 2 × ‫;יתן‬ V 31–33: 3 × ‫ ;כי‬V 34–36: 3 × ‫ל‬+Inf.) von den beiden Seitenabschnitten ab. Hinzu kommt die zunehmende Einbeziehung des Publikums in die Diskussion (vgl. V 40–47). Die wechselnden Figuren und Redeperspektiven in Klgl 1–2 erzeugten zwar eine lebendige »Diskursatmosphäre«, jedoch verblieb das Publikum bei aller Anteilnahme durchweg in einer »distanzierten« Zuschauerrolle. 600 Zitiert nach Dobbs-Allsopp (2002), 17 aus: Knox, R. The Holy Bible. London 1955, 734. Die Auffälligkeit des Phänomens macht es umso bemerkenswerter, dass die mittelalterlichen jüdischen Exegeten Rashi, Ibn Ezra, David Kimchi, und Joseph Kara das Thema so wenig beachteten (Salters [1999], 204; Salters [2011], 434.439f.).

Ein thematischer Vergleich der Lieder

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In Klgl 3 hingegen wird diese Zuschauerperspektive durch das Auftreten des Mannes zunehmend durchbrochen, indem anfangs sein individuelles Erleben geschildert wird, anschließend eine »zeitlose« Unterweisung folgt, die in eine kommunale Perspektive mündet. Mit dieser sehen sich dann die Leser*innen eingeladen, die im Verlauf der ersten beiden Sektionen entwickelte persönliche conversio des Mannes für sich selbst nachzuvollziehen und auf Plausibilität zu prüfen. 5.2.2.2 Der Anschluss von Klgl 3 an Klgl 1–2 Häufig wird betont, dass eine Reihe von Themen und Motiven, die in Klgl 1–2 und Klgl 4–5 eine große Rolle spielen, in Klgl 3 fast vollständig fehlen. Geht man davon aus, dass Klgl 3 bewusst als Zentrum eines zu schaffenden programmatischen Arrangements komponiert wurde, wären die Weiterführungen und neu gesetzten Akzente, aber auch die fehlenden Themen inhaltlich zu interpretieren. Zur Vergegenwärtigung daher Übersicht 13, die einerseits verdeutlichen soll, welche Motive aus Klgl 1–2 aufgenommen oder ignoriert werden und wo neue Akzente hinzukommen. 5.2.2.2.1 Thematische Weiterführungen Obwohl der für Klgl 1–2 charakteristische Zions-Kontext in Klgl 3 nicht weiter aufrechterhalten wird, gibt es eine Reihe von Themen und Motiven, die Klgl 3 aus Klgl 1–2 weiterführt und die es den Leser*innen erleichtern, Klgl 3 als Fortsetzung von Klgl 1–2 zu lesen. Diese lassen sich zwei Bereichen zuordnen (vgl. Übersicht 13). Auf der einen Seite finden sich Motive, die die Ähnlichkeiten zwischen Mann und Zion herausstreichen. Hier geht es vorrangig um die Darstellung einer ähnlichen gedrückten emotionalen Verfasstheit und den Eindruck von Macht- und Ausweglosigkeit – gleichermaßen gegenüber dem Zorn Gottes als auch dem Wirken der Feinde. Daneben geht es um Motive, die im Kontext der Einordnung des Geschehens als Ergebnis des göttlichen Zornes und der eigenen Reaktion darauf stehen. Hier spielen das Moment der Planmäßigkeit eine Rolle, die Frage nach dem legitimen Ausmaß des göttlichen Gerichts, aber auch das Verhalten der Feinde. 5.2.2.2.1.1 Das vom Zorn verfolgte Individuum Dass die erste Sektion von Klgl 3 eine auffällige Häufung an Bezügen zu Klgl 1–2 aufweist, wurde schon mehrfach erwähnt. Für Dobbs-Allsopp gehört Klgl 3,1–18 neben Klgl 1,13–15 und 2,1–8 zur »threefold depiction of divine violence«601 der Klgl, in der Gott als Jäger und übermächtiger Feind erscheint, der ein Individuum 601 Dobbs-Allsopp (2002), 44.

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(bzw. in Klgl 2 die Stadt) mit massiver physischer Gewalt heimsucht. In allen drei Fällen wird das Geschehen dabei programmatisch als Zorn Gottes interpretiert. Zion stellt der Schilderung ihres Leidens die Deutung als ‫ יום אפ‬voran (1,12), in Klgl 2,1–8 begegnet die Zorn-Terminologie praktisch in jedem Vers und auch der Mann beginnt seine Leidensschilderung damit, dass er sie als Wirken des göttlichen ‫( שבט עברה‬vgl. Jes 10,5) deutet. Man kann im Bericht des Mannes fünf Aspekte unterscheiden: (1) Den Eindruck des Umzingeltsein und der Ausweglosigkeit (V 2α.5α.7.9.11α); (2) Verfolgungs- und Jagdmotive (V 10.12); (3) Physische Gewalt (V 3.4.13.16); (4) Psychische Gewalt (V 5β.8.14.15.17); (5) Finsternis, Todesnähe (V 2β.6). Sämtliche dieser Aspekte finden sich auch in Klgl 1: (1) Zion wird in als verfolgte, umzingelte, unter das Joch gebundene Frau dargestellt (V 3c.8c.14abc.15b.17b). (2) Das Jagd-Motiv findet sich sowohl in V 3c als auch in V 13b; zudem in Bezug auf Zions Fürsten in V 6bc. (3) Physische Gewalt wird Zion in V 8b–10.13–15 angetan. (4) Zion erleidet psychische Gewalt als Betrübung (V 4.5b.20ab.22c), soziale Isolierung (V 1a.2bc.3b.7c.19a.21a), Verächtlichmachung (V 7d.8a.9c.11c.21b) usw. (5) Schließlich stellt V 2 Zion als nächtlich weinende Frau dar. … fehlende Themen / Motive aus Klgl 1–2

In Klgl 3 … … aufgegriffene Themen / Motive

Klgl 1 und 2: Fokus auf Stadtbevölkerung und ihr Schicksal Zionstheologie Klgl 1: Politische Perspektive Sexualisierte Metaphorik Motiv des fehlenden Trösters Klgl 2: Tempel, Kult Fokus auf städtische Infrastruktur und ihre Zerstörung Feuermetaphorik im Rahmen der Schilderung des göttlichen Zorns

Neue hinzukommende Themen / Motive: Rechtsbeugung bzw. Rechtsprechung Weisheitlich-paränetische Unterweisung Existenz unter dem anhaltenden Zorn Gottes Aufnahmen aus Klgl 1 und 2: Zorn Gottes als physische Gewalt am Individuum Klage- und Trauermotivik Betonung der Planmäßigkeit des göttlichen Handelns; Infragestellung der Gerechtigkeit Gottes602 Eigene Ausweglosigkeit und Passivität; Verfolgungs-, Umzingelungs- und Jagd-motive Einsicht in eigene Sünde; Bekenntnis zur eigenen Verantwortung am Gericht Handeln der Feinde und Ruf nach der Vergeltung ihres Handelns Übersicht 13: Themen- und Motivvergleich zwischen Klgl 1–2 und Klgl 3

602 Sowohl in Klgl 1 wie auch 2 wird die Frage, ob das göttliche Gericht im angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der Schuld stand, angedeutet. In Klgl 1,10 wird dieser Aspekt nur angedeutet, in Klgl 2,20–22 hingegen findet sie sich in den rhetorischen Fragen Zions abschlägig beschieden. Die Zweifel von Klgl 3 sind viel grundsätzlicherer Art: In V 34–36 steht nicht die Gerechtigkeit Gottes Handelns zur Debatte, sondern die wesenhafte Gerechtigkeit

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Die Bezüge zur Gerichtsschilderung von Klgl 2 bestehen insbesondere in der Schilderung der Brutalität des göttlichen Gerichts. Das in Klgl 3,4 verwendete ‫בלה‬ schwinden lassen erinnert als Paronomasie an das in Klgl 2,2a.5ab.8b wiederholt vorkommende ‫ בלע‬verschlingen. Die Wurzel ‫ שבר‬zerbrechen/zerschmettern/zerschlagen (V 6) taucht ebenfalls schon in Klgl 1,15; 2,9.11 auf. Die Formulierung aus V 3, ‫ ישב יהפך ידו‬er wandte die Hand (gegen mich), erinnert an Klgl 2,3 (‫השיב‬ ‫ )אחור ימינו‬und 2,8 (‫)לא־השיב ידו מבלע‬. Die Vorstellung von JHWH als lauerndem Bär und Löwen stellt auf die Gefährlichkeit dieser Tiere und die Unentrinnbarkeit vor ihrem Angriff ab,603 wie sie für JHWH in Klgl 2,1–8 ausführlich beschrieben wurde. Auch das Bild des Bogen spannenden Gottes (‫ )דרך קשתו‬findet sich sowohl in Klgl 2,4 als auch in 3,12. Schließlich finden sich auch in Klgl 2,1.18f. der Aspekt der Verdunkelung bzw. der nächtlichen Trauer, der zu Beginn von Klgl 3 großen Stellenwert einnimmt. Insgesamt finden sich Mann und Zion somit ähnlich dargestellt; die in Klgl 1 wichtigen Motive von Verfolgung und Ausweglosigkeit und der in Klgl 2 dominierende Aspekt der bewussten Gewaltanwendung sind in der Schilderung des Mannes aufgenommen. Der Mann stellt damit sein eigenes Erleben in den Horizont des Erlebens Zions aus Klgl 1 und 2 – und kann somit die in der zweiten Sektion etablierte »Lösung« als ebenso für beide Klagen paradigmatisch präsentieren. 5.2.2.2.1.2 Trauer als Reaktion auf den göttlichen Zorn In Klgl 1–2 waren Trauer- und Klagemotive ein wichtiges Mittel, das Geschehen emotional und rituell einzuordnen. In einer Welt, in der Trauer nicht nur eine Emotion kennzeichnet, sondern sich auch rituell-performativ ausdrückt, besteht damit die Möglichkeit, das Fortdauern des göttlichen Zorns und des Gerichts über die reinen Zerstörungen hinaus zu kennzeichnen. Die Klageriten illustrieren die soziale Vereinsamung, die gefühlte Gottesferne und die die damit einhergehende Todesnähe. In Klgl 3 erscheint die gleiche Motivik anfangshaft schon in V 1–18. Der Mann stellt sich als jemand dar, der »den Toten gleich« im Dunkel sitzt (V 6), dessen Gemütszustand Gift und Mühsal (V 5b), Bitternis und Bitterkeit (V 15) ist und der daher im Staub liegt (V 16b). Sowohl das Motiv des Staubes, wie auch die Hinweise auf Dunkelheit symbolisieren die gefühlte Todesnähe, dem metaphorischen Hinabsteigen in die Scheol.604 Hinzu kommen der »vergiftete« GemütsGottes an sich: Ein Gott, der die Ungerechtigkeit auf Erden sieht, jedoch untätig bleibt, muss entweder ungerecht oder impotent sein. 603 Hierzu: Riede (2000), 271–278. »Diese Bilder unterstreichen … die unversöhnliche, brutale, tödliche Art der Feindschaft, die jegliche Versöhnungsversuche von vornherein ausschließt.« (a. a. O., 278) 604 Vgl. Anderson (1991), 87–91.

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zustand, der in Klgl 1 ein wiederkehrendes Element Zions Situation war (vgl. V 12.20.22), sowie das Gefühl der Gottesferne, was sich in V 8 als Gottes SichVerschließen vor dem Gebet und in V 17 als Gottes aktives Verstoßen vom Heil äußert. Und wenn der Mann in V 14 das Gelächter und den Spott beklagt, so erinnert dies an das immer wieder beklagte Fehlen eines Trösters in Klgl 1 und das hämische Verhalten der Vorbeigehenden und Feinde in Klgl 2. In der zweiten Sektion werden diese Bezüge in die Handlungsanleitung des Mannes mit einbezogen. Nachdem der Mann in V 21–24 zu einem neuen Vertrauensverhältnis zu Gott gefunden hat, empfiehlt er in V 26, schweigend zu warten (‫)טוב ויחיל ודומם‬, in V 28 einsam und schweigend zu sitzen (‫)ישב בדד ויד‬ und in V 29, den Mund in den Staub zu neigen (‫)יתן בעפר פיהו‬. V 30 fasst es damit zusammen, dass man Züchtigungen und Demütigungen nicht aus dem Weg gehen soll (‫)ישבע בחרפה‬.605 Züchtigung erscheint hier als ein didaktisches Mittel der eigenen Besserung und Selbsterkenntnis: Gut ist es für den Mann, wenn er trägt ein Joch in seiner Jugend.606 Damit ist das rituelle Trauerverhalten grundlegend gewandelt: Es ist nicht mehr Ausdruck von Gottferne und Todesnähe, die rituell thematisiert und anschließend durch eine solidarische Reaktion von Freunden und Bündnispartnern überwunden werden soll, sondern beschreibt ganz im Gegenteil ein Verhalten, das Gottesvertrauen durch seinen Vollzug bezeugt: Gottes Nähe wird in der anhaltenden Beschämung und Züchtigung erkannt. Die Glaubenskraft gewinnt der Mann letztlich aus dem anhaltenden Zorn, der zumindest deutlich macht, dass JHWH noch engagiert genug ist, um zu zürnen.607 Dass dies ein Zustand ist, der von konstanten Zweifeln gefährdet bleibt, belegen V 27–29: Nach V 27 ist es grundsätzlich von Vorteil, von Jugend an Entbehrungen gewöhnt zu sein. V 28 redet davon, dass der gegenwärtige Zustand von JHWH auferlegt (‫ )נטל‬sei, V 29 schließlich, dass es vielleicht Hoffnung auf Besserung gäbe (‫)אולי יש תקוה‬. Die neu gefundene Sicherheit bleibt prekär.

605 Die Bezüge zu Klgl 1 und 2 sind offensichtlich: V 26.28: ‫ דמם‬bzw. ‫ דומם‬schweigen – Klgl 2,10: ‫ ישבו לארץ ידמו זקני בת־ציון‬es sitzen am Boden und schweigen die Ältesten der Tochter Zion; V 28: ‫ ישב בדד‬er sitze einsam – Klgl 1,1: ‫ ישבה בדד העיר‬es sitzt einsam die Stadt; V 29: ‫יתן בעפר‬ ‫ פיהו‬er neige in den Staub seinen Mund – Klgl 2,10: ‫ העלו עפר על־ראשם‬sie streuten Staub auf ihr Haupt. 606 Vgl. Brandscheidt (1983), 62 mit Verweis auf Ijob 5,17–27; 22,1–30; 33,15–30; 36,7–15. 607 Dieses fast schon störrische Insistieren auf Gottes je größere Güte und hinter allem Zorn stehende Zuwendung will dem Kollektiv aus Klgl 5 nicht mehr so ohne Weiteres gelingen; vgl. Kap. 6.5.

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5.2.2.2.1.3 Passivität Hier ordnet sich auch die Beobachtung ein, dass der Mann insbesondere die passiven und leidenden Züge Zions aufnimmt. So wird zwar in V 8 vom Schreien (‫ )זעק‬des Mannes ebenso gesprochen wie in Klgl 2,18 vom Schreien der Kinder (‫)צעק‬, andererseits findet sich entgegen dem Aufruf an Zion in Klgl 2,18, das Auge in der Klage nicht ruhen (‫ )דמם‬zu lassen, in Klgl 3,28 der Rat, einsam (‫;בדד‬ vgl. Klgl 1,1) und schweigend (ruhend: ‫ )דמם‬zu sitzen. Im Rahmen des »Programms« von Klgl 3 ist dies nicht weiter verwunderlich: Wenn die Botschaft des Mannes die ist, dass ein Weiterleben angesichts eines göttlichen Zorns, der zwar bedauert, jedoch prinzipiell nicht infrage gestellt werden kann, nur in bedächtiger Annahme des eigenen Schicksals möglich ist, dann wird man die aufbegehrenden Töne insbesondere aus Klgl 1 und 2 nicht positiv aufgenommen sehen. 5.2.2.2.1.4 Das göttliche Handeln: Gerecht und verhältnismäßig? In Klgl 1 gab es an der Angemessenheit des göttlichen Handelns wenig Zweifel. Gottes Gerechtigkeit wurde in V 18 eigens betont und auch die Verhältnismäßigkeit des Gerichts stand weitgehend außer Zweifel. Auch Zion beklagte zwar ihre Not, erkannte aber das Gericht grosso modo an. Ihr Klagen zielte nicht auf Straferleichterung für sich selbst, sondern ausgleichende Gerechtigkeit für die ebenfalls schuldigen Feinde. Demgegenüber war in Klgl 2 der kühle Vorsatz des Gerichtsgeschehens einer der bestürzendsten Aspekte des göttlichen Zornes. Es handelte es sich gerade nicht um ein »jähes Aufflammen, das sich in einer vernichtenden Strafaktion äußern kann, aber schnell in Erbarmen und Gnade umschlägt«608, sondern um ein sorgfältig geplantes Unterfangen. Die Planung (‫ )חשב‬der Zerstörung wurde in V 8 mit dem Bild der gespannten Messschnur (‫ )נטה קו‬noch bekräftigt. V 17 machte deutlich, dass das Gericht seit den Tagen der Vorzeit (‫ )מימי קדם‬befohlen (‫ )צוה‬war und JHWH sich dabei genau an seinen Plan hielt (‫)עשה יהוה אשר זמם‬. ‫ חשב‬und ‫ זמם‬bezeichnen bewusstes, bedachtes Planen und Abwägen;609 ‫ צוה‬ist insbesondere im Dtn und den dortigen Bundes- und Gebotspassagen beheimatet.610 Der Aspekt der Planung wird dabei mit der Brutalität des Gerichts und 608 Assmann (2000), 53. 609 ‫ חשב‬enthält die beiden Grundbedeutungen rechnen und planen, davon ausgehend meint die Wurzel dann auch das Berechnen, also Werten, Abwägen, Einschätzen von Motivationen und Konsequenzen. Gerade diesem Lexem ist somit das Moment des »technisch-rational kalkulierendem Rechnens« eigen (Seybold [1982], 246f.). ‫ זמם‬meint ein vorerst weder positiv noch negativ konnotiertes Planen, wobei sowohl die häufige Konstruktion mit ‫ל‬+Inf. (Gen 11,6; Dtn 19,19; Ps 31,14; Sach 1,6; 8,14f.), als auch das fünfmalige Vorkommen mit ‫עשה‬ (Gen 11,6; Dtn 19,9; Jer 51,12; Klgl 2,17; Sach 1,6) darauf hinweist, dass dem Lexem insbesondere der »Antrieb zur Aktion« wesenshaft inne ist (Steingrimsson [1977], 600). 610 García López (1989), 938.942.

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seinen Auswirkungen auf Kinder und Säuglinge kontrastiert (V 11f.19.20), wodurch die Verhältnismäßigkeit des Gerichts massiv in Frage gestellt wird. Auch in Klgl 3 wird das göttliche Handeln als Zornes- bzw. Gerichtshandeln gezeichnet. Zwar fehlen Formulierungen, die das Motiv der Planung hervorheben, jedoch ist JHWH in V 2–13.15–16 durchweg das Subjekt, das in einer Weise tätig wird, die zielgerichtetes und planmäßiges Handeln deutlich macht. Bemerkenswert ist dabei, dass jeglicher Hinweis auf eine vorgängige eigene Schuld fehlt, die den göttlichen Zorn plausibel machen könnte.611 Das erinnert an Klgl 2, wo gerade das Missverhältnis zwischen der ausladenden Gerichtsschilderung und dem spärlichen Hinweis auf Zions eigene Schuld (V 14) den Eindruck eines maßlosen Gerichts unterstützte. Auch die in Klgl 2 deutlich werdende Kritik am Ausmaß des Gerichts findet sich so nicht mehr. Sie wird gleichsam durch den Hinweis aufgehoben, dass es einem Mann gutstünde, in der Jugend ein Joch zu tragen. Das Missverhältnis zwischen ausufernder Gerichtsschilderung und begrenzter Schilderung eigener Schuld wird in Klgl 3 jedoch anders weiterentwickelt als in Klgl 2. Den Zorn gleichsam als Indiz einer nach wie vor bestehenden Gottesbeziehung nehmend, entwickelt der Mann in V 19–24 ein Fundament für neues Gottvertrauen, das nicht aus der Einsicht in eigene Schuld gespeist wird. Bestimmend ist vielmehr die Einsicht, dass das fortwährende Sinnen über das eigene Elend ‫ לענה וראש‬Bitternis und Gift ist (V 19). Es hat keinen produktiven Zweck, sondern führt nur zum Zerfließen (‫ )שיח‬der Seele (V 20). Erst danach, in V 22–24, bekräftigt der Mann den Glauben an die nicht enden wollende Huld JHWHs. Und erst, nachdem in einer längeren Diskussion das neu gefundene Gottvertrauen gefestigt wurde, findet sich in V 39.42 das Eingeständnis eigener Schuld. Gilt also für Klgl 1–2, dass die Einsicht in die eigene Schuld die Voraussetzung dafür ist, das göttliche Gericht als gerecht und verhältnismäßig ansehen zu können, geht Klgl 3 von der Gerechtigkeit Gottes aus, die auf eine vorherige Schuld schließen lässt. Es nimmt nicht wunder, dass damit auch die vertrauensvolle Hinwendung an JHWH sehr viel ausführlicher ausfallen kann (V 55–66) und in die einzige Stelle des Buches kulminiert, an der JHWH zumindest im Zitat das Wort ergreift (V 57).

611 Dies ist kein Zufall. In den Klageliedern des Einzelnen findet sich das Motiv des göttlichen Zornes nur sehr selten (Ps 6; 27; 30; 38; 77; 88; 102) und bis auf Ps 38 wird er in keinem der Texte durch eigene Sünde erklärt. Zur Deutung der Leiden eines Individuums ist die Kategorie »Gotteszorn«, die ihrerseits vorherige Sünde zur Legitimierung voraussetzt, nicht geeignet (Miggelbrink [2000], 42–44).

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5.2.2.2.1.5 Bekenntnis zur eigenen Verantwortung am Gericht Damit ist das Thema der eigenen Schuld schon angerissen. Der sehr unterschiedliche Stellenwert, den dieses Thema in Klgl 1 und 2 einnimmt, wurde weiter oben diskutiert. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund, welch geringen Raum das Thema in Klgl 3 einnimmt. Wenn Klgl 3 als »Antwort« auf Zions bis zum Bruch mit Gott gehende Kritik in Klgl 2,20–22 konzipiert wurde, wäre es durchaus naheliegend gewesen, das in Klgl 1 und 4 prominente Sündenthema erneut ins Zentrum zu stellen – gerade dies geschieht jedoch nicht.612 Klgl 3 erwähnt Sünde und Schuld ausdrücklich nur in V 39 und 42. V 39 ist Teil des Abschlusses der Mittelsektion V 37–39, in der auf die kritischen Einwände der V 34–36 (»Dass man Gefangene zertritt, das Recht beugt, Menschen unterdrückt – der Herr hat dies nicht gesehen!?«) mit zwei rhetorischen Gegenfragen erwidert wird, die den in V 19–24 neu gewonnenen Blick auf das eigene Leiden verallgemeinern: JHWH ist der Schöpfer sowohl der ‫ חסדים‬und ‫( רחמים‬V 22), als auch der ‫רעות‬. »[S]uffering, like good fortune, comes from God and therefore is to be borne in confidence that God will eventually restore well-being.«613 Beschlossen wird der Passus mit einer dritten Frage, die allerdings nicht mehr rhetorischer Natur ist, sondern das in V 37–38 auf die konkrete Situation des Mannes wendet: »Worüber klagt ein Mensch der noch lebt?« Das zweite Kolon gibt die Antwort: Ein Mann ( jedenfalls) beklagt seine ‫חטא‬, wohl wissend, so müsste man fortsetzen, dass diese eigentlich den Tod zur Folge haben müsste. Der Umstand, dass jener abgewendet werden konnte, ist als Gnadenerweis zu verstehen. V 42 markiert den Höhepunkt des Abschnittes kollektiver Rede. Wie schon in Klgl 1–2 folgt auf das Bekenntnis der eigenen Schuld unmittelbar der Hinweis auf die göttliche Vergeltung und insbesondere die fehlende Vergebung und Schonung; V 43 greift mit der Formulierung ‫ הרגת לא חמלת‬du hast getötet, nicht verschont zwei der wichtigsten Stichworte von Klgl 2 auf (‫הרג‬: Klgl 2,4.20.21; ‫לא‬ ‫חמל‬: Klgl 2,2.17.21), und erinnert insbesondere an Klgl 2,21: ‫הרגת ביום אפך טבחת‬ ‫ לא חמלת‬du hast getötet am Tag deines Zorns, hast geschlachtet, nicht verschont. Gerade an dem Punkt also, an dem die Gemeinde ihre Wege prüft und zu JHWH umkehrt (V 40), folgt nicht die erneuerte göttliche Zuwendung, sondern steht pointiert die Klage über seinen Zorn und sein fortwährendes Sich-Entziehen.614 612 Allerdings wurden mit dem Nomen ‫ ֵחְטא‬und den Verben ‫ מרה‬und ‫ פשע‬die stärksten Begriffe für aktives, bewusstes Sündigen gewählt. Nach Koch (1977), 863, ist das Nom. m. ‫חטא‬, im Gegensatz zum Nom. fem. ‫חטאת‬, die stärkste Nominalform der Wurzel, die »eine die einzelnen Taten übergreifende, unvergebbare Sündenlast bezeichnet, die aufgrund des TunErgehen-Zusammenhangs unweigerlich zum Tode führt.« 613 Dobbs-Allsopp (2002), 120. 614 Dobbs-Allsopp (2002), 123: »The cultural assumption that sin triggers divine anger and punishment was matched in antiquity by an equally strong assumption that repentance

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Der Rest des Liedes schweigt zum Thema, und zwar selbst dann, wenn ab V 55 das Handeln der Feinde im Mittelpunkt steht. Wie Zion in Klgl 1 fleht der Mann JHWH um Beistand und Vergeltung ihres Tuns an, stellt diese Bitte jedoch nicht in den Kontext der Ahndung der eigenen Sünden. Die eigene Schuld als Rationalisierung des göttlichen Gerichts ist für Klgl 3 nur ein untergeordnetes Thema. Einen gewichtigen Unterschied gibt es jedoch: Anders als in Klgl 1–2 wird Schuld und Sünde – und eben auch das folgende göttliche Vergeltungshandeln – individuell gedacht. Der Mann, nicht die für ein Kollektiv stehende Zion, denkt an seine ‫ !חטא‬Auch in V 42 übernimmt das Kollektiv selbst Verantwortung – und zwar mit den gleichen Stichwörtern (‫ פשע‬und ‫)מרה‬, mit der schon Zion sich selbst bezichtigte. 5.2.2.2.1.6 Die Feinde: Handlanger Gottes oder eigenständige Akteure? Das Agieren von Feinden spielt erst zum Ende von Klgl 3 eine Rolle. In der ersten Sektion wird zwar der Spott genannt, den der Mann durch ‫ כל־עמי‬mein ganzes Volk bzw. ‫ כל־עמים‬alle Völker erleiden muss, jedoch dominiert bei dieser auch textlich schwierigen Aussage das Motiv der sozialen Isolierung und Verächtlichmachung. In der zweiten Sektion finden sich in den kritischen Einwürfen der V 34–36 ebenfalls Hinweise auf das Handeln von Besatzern (»Dass man zertritt, dass man beugt, dass man unterdrückt …«), jedoch bleiben diese ebenfalls allgemein. Erst in V 46.52.62 erfolgt dann im Kontext einer erneuten klagenden Schilderung eine ausdrückliche Nennung von Feinden, Verfolgern und Gegnern.615 Doch auch hier bleiben die genannten Umstände wenig spezifisch.616 Aus der thematischen Anlage von Klgl 3 ist dies unmittelbar einleuchtend. Klgl 3 thematisiert so deutlich wie sonst keines der Lieder das individuelle Erleben des Zornes Gottes und den angemessenen Umgang damit. Von der Problemkonstellation, wie sie in Klgl 3 vorliegt, würden Feinde, die bei aller göttlichen Autorisierung immer auch eigene Antriebe und Motive haben, nur ablenken. Erst nachdem die Mittelsektion darlegt, wie trotz des Zornes ein von Hoffnung geprägtes Verhalten möglich ist, ist die Basis geschaffen, die radikal Ich-zentrierte Perspektive der ersten Sektion zu überwinden. Nun ist der Blick frei, auch das Handeln der Feinde in ihrer Eigenverantwortlichkeit zur Kenntnis zu nehmen und Gottes Hilfe und Schutz gegen sie einzufordern. should bring about divine compassion and forgiveness (cf. Ps. 32:5). … Thus, the man comes to the brink of being consoled by the sentiments of 3:25–39 only to have them dashed by the continuing reality of God’s silence and absence and the awful persistence of suffering …«. 615 In V 46.52 jeweils ‫אויב‬, in V 62 ‫קמים‬. 616 Die Motivik ist dabei vorrangig aus den Psalmen bekannt: V 46 (Zitat aus Klgl 2,16!) – vgl. Ijob 16,10; Ps 22,14; 35,16; V 47 – vgl. Jes 24,17f.; Jer 48,43f.; V 52 – vgl. Ps 11,1; 55,5–7; 91,3; 124,7; V 53 – vgl. Ps 7,16; 9,16; 31,5; 35,7f.; 57,7, Koh 9,12; V 54 – vgl. Ps 18,5–7.17; 32,6; 40,3; 42,8; 69,2f.15f.; V 55 (‫ – )מבור תחתיות‬Ps 88,7; V 62 – vgl. Ps 12,3f.; 31,19; 120,2; 140,4.10.

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Ein zweiter Grund kommt allerdings hinzu: Während in Klgl 1 der Fokus von JHWH weg- und auf das Handeln der Feinde hingelenkt wurde, und in Klgl 2 jene Tendenz vollständig umgekehrt wurde, so dass praktisch nur noch JHWH als Akteur im Blick war, treten die Feinde in der dritten Sektion von Klgl 3 dann doch wieder in jener Unabhängigkeit auf, die sie in der ersten Sektion von Klgl 1 hatten. Ein Grund hierfür liegt sicher darin, dass das im Laufe des Liedes erneut gefundene Gottesvertrauen das ungeahndete Handeln der Feinde umso schmerzhafter erscheinen lassen muss. Allerdings geht der Effekt tiefer: In Klgl 3 steht die für Klgl 1 und 2 noch »partikulare« Frage nach einem gerechten Gott (nämlich ein gerechter Gott für Zion) nunmehr in prinzipieller Schärfe im Raum: Wenn göttliche Nachsicht für sein Volk nicht mehr mit Referenz zu einer dritten Instanz (etwa seiner Tora wie in Klgl 1,10, oder seinem Tempel, wie in Klgl 2,1–7) eingefordert werden kann, dann kann sie nur noch im individuellen Verhältnis Gott – Menschen begründet werden. Göttliche Gerechtigkeit gewinnt dadurch (insofern sie sich nicht mehr in seinem konkreten Schutzhalten über seine Stadt bzw. seinen Tempel manifestiert) eine fundamental soziale Dimension. Im Lichte dieser sozialen Perspektive ist dann jedoch auch das Handeln der Feinde (und das Handeln Gottes an ihnen) den gleichen Maßstäben unterworfen, wie das eigene. Im Rahmen einer weisheitlich inspirierten zunehmenden Individualisierung der Gottesbeziehung hat das Theologumenon eines (politisch) sich an ganzen Völkern ausagierenden göttlichen Zornes keinen hermeneutischen Ort mehr, sondern sorgt nur noch für ungläubige Hilflosigkeit.617 Es wird daher ersetzt. 5.2.2.2.1.7 Fazit Die Art, wie Klgl 3 thematische Schwerpunkte von Klgl 1–2 aufnimmt und abwandelt, illustriert den Schwerpunkt des Liedes. Die Schilderung des göttlichen Handelns von Klgl 1–2 wird im Erleben des Mannes vereint und als exemplarisches Schicksal eines unter dem Zorn Gottes stehenden Individuums präsentiert. Eine etwaige eigene Schuld am göttlichen Zorn spielt dabei keine Rolle; es geht nicht darum, die Ursachen des Zornes zu klären. Vielmehr gilt es, ein angemessenes Verhalten zum ergehenden Zorn zu finden. Dies erklärt, weswegen die V 25–30 ein Verhaltensmodell entwickeln, in dem der göttliche Zorn in didaktischer statt retributiver Funktion erscheint. Die Einsicht in die eigene Sünde 617 Vgl. Miggelbrink (2000), 177, der zu ähnlichen Schlüssen kommt: »Nicht die visionäre Imagination grauenhafter Katastrophen beschäftigt den Lehrer der Weisheit, sondern das ganz normale Scheitern des Lebensplanes, wie es immer wieder vorkommt. … Lediglich im Hiobbuch begegnen Schilderungen des zornigen Gottes, allerdings … im Interesse einer fundamentalen Kritik der Vorstellung vom strafenden Gott. Die Weisheit kennt somit zwar die Vorstellung einer göttlichen Vergeltung, nicht aber die Indienstnahme der Metaphorik des Gotteszornes für dieses Thema.«

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stellt hier lediglich einen ersten Schritt in einem durch den Zorn angeregten Prozess der Selbstbesserung dar. Ein solches Modell kann nur Plausibilität beanspruchen, wenn die Gerechtigkeit Gottes grundsätzlich über jeden Zweifel erhaben ist. Insbesondere die lang ausgedehnte paränetische Mittelsektion von Klgl 3, die sich mit der Frage der göttlichen Gerechtigkeit und Wirkmacht in den V 34–39 noch einmal ausführlich auseinandersetzt, zeigt, dass in Klgl 1,18 nicht ohne Grund etwaigen kritischen Anfragen an eben jene Gerechtigkeit schon von vornherein ein Riegel vorgeschoben wurde. Zugleich wird deutlich, dass die sich in Klgl 1,10 andeutende Kritik keine »Eintagsfliege« war. Die dort angedeutete Kritik brach sich in Klgl 2 vollends Bahn und ließ Gott regelrecht beschädigt zurück. Und auch in Klgl 3 bleiben Zweifel an Gottes Gerechtigkeit bestehen. Es ist somit inhaltlich sehr plausibel, dass Klgl 3 in einer lang ausholenden theologischen Erörterung die Gerechtigkeit Gottes, seine über jede Strafe hinausgehende Güte und Gerechtigkeit, erst noch einmal zementiert, und insbesondere auch gegen kritische Anfragen (V 36b: ‫ אדני לא ראה‬Der Herr hat dies nicht gesehen!?) bekräftigt. Erst vor dem Hintergrund eines als gerecht anerkannten Gottes ist der vorgeschlagene Pfad der Selbstläuterung überhaupt plausibel. 5.2.2.2.2 Neue Themen und Motive 5.2.2.2.2.1 Die weisheitlich-paränetische Unterweisung V 22–39 Die paränetische Mittelsektion ist neben dem unvermittelten Auftreten eines anonymen Mannes wohl das hervorstechendste Merkmal von Klgl 3. Das in der Literatur immer wieder genannte Stichwort »weisheitlich« deutet dabei schon an, dass es um praktische Hinweise für ein gelingendes Leben unter dem anhaltenden Zorn geht. Es ist dieser Bereich, in dem die entscheidenden Weichenstellungen des Liedes geschehen. V 34–36 sind sowohl syntaktisch als auch inhaltlich vom Vorherigen abgesetzt, was eine erste Untergliederung in V 22–33.34–39 nahelegt. Für V 22–33 ist eine inhaltlich konzentrische Anordnung von Sub-Stanzen erkennbar: Während V 22–24.31–33 Aussagen über Gott bieten, thematisierten V 25–30 das angemessene Verhalten des Mannes. Formal sind dabei V 22–27 durch die vierfache Nennung des Tetragramms zu einer Einheit verbunden, während V 31–33 sich durch das dreimalige ‫ כי‬an die Aufforderungssätze V 28–30 anschließt. Somit ergibt sich eine Gliederung der Mittelsektion in drei Sub-Stanzen zu je sechs Versen: V 22–27.28–33.34–39. Die Argumentation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Nach der Leidschilderung des Mannes in V 1–18 kommt es in V 19–21 zu einem vorerst vollkommen unbegründet bleibenden Impuls erneuter Hinwendung zu Gott. V 19 formuliert dabei die Einsicht, dass das fortwährende Nachsinnen über das eigene

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Elend ‫ לענה וראש‬Bitterkeit und Gift sei, eine Beschreibung, die in V 20 als ein Zerfließen (‫ )שיח‬der Seele näher erläutert wird. Als Reaktion darauf fällt V 21 die Entscheidung zu einem erneuten, vorerst noch ungerichteten Ausharren. Dieser Umschwung wird anschließend begründet, wobei der eigentliche Grund erst in V 31–33 genannt wird: Weil JHWH nicht für immer (‫ )לעולם‬verstößt und nicht von Herzen erniedrigt (‫)כי לא ענה מלבו‬, ist es berechtigt, in V 22–24 darauf zu vertrauen, dass die Hulderweise Gottes auch in Zukunft wieder ergehen werden. Zusammen führt dies dazu, dass die konstruktive Reaktion des Mannes die des schweigenden Ausharrens auf die erneute Zuwendung Gottes ist – ‫אולי יש‬ ‫ תקוה‬vielleicht gibt es Hoffnung. Das Tragen des Joches, die bereitwillig erduldete Erniedrigung und rituell vollzogene Trauer, sind aber mehr als rein reaktive Vollzüge gegenüber einem omnipotenten Gott. Vielmehr fungieren sie zugleich als Aufforderung an Gott, das eigene Hoffen und Harren nicht ins Leere laufen zu lassen: »Those who genuinely hurt dare to speak a command, even to the throne of God. Hurt impels such a command to the one who can assuage the hurt.«618 Dass eine Haltung anhaltenden (Be)Harrens allerdings droht, als tragische Naivität zu erscheinen, ist dem Mann durchaus bewusst. Dies unterstreichen V 34–39, die scheinbar ein vollkommen neues Thema anschneiden. In V 34–36 wird ein Einwand zitiert, der den Beteuerungen des Mannes aus V 31–33, die tägliche Erfahrung von Unrechtszuständen entgegenstellt: Gefangene werden misshandelt, das Recht gebeugt, Menschen unterdrückt – und von JHWHs Eingreifen ist nichts zu erkennen. Dabei gehört doch genau dies mit zu seinem Proprium (vgl. Ps 9,10; 10,18; 72,4; 74,21)! Inwiefern sich hinter diesen Einwänden reale Bedrängnisse verbergen, kann hier außen vor bleiben; relevant ist die angedeutete theologische Frage. Gottes Gerechtigkeit ist nicht nur ein abstrakter Glaubensinhalt – sie muss sich vielmehr ganz konkret erweisen: »Thus the issue of theodicy for Israel is not an interesting speculative question, but is a practice of social criticism of social systems which do or do not work humanely, and of the gods who sponsor and guarantee systems that are or are not just.«619 Die sich hier andeutende Skepsis wird in V 37–39 mit dem Argument kontrastiert, dass Gott sowohl Gutes als auch Böses schafft und das Leben als Leben zu schätzen ist. Schon reines Überleben ist eine der in V 22 genannten ‫חסדי יהוה‬.620 Damit ist das Alternativprogramm von Klgl 3 entwickelt. Auf der einen Seite steht die Gerechtigkeit Gottes, die ausweislich des Gerichts die eigene Sündigkeit impliziert. Die einzig angemessene Art, auf den göttlichen Zorn zu reagieren, besteht in schweigender Trauer und geduldigem Ausharren in der Hoffnung auf 618 Brueggemann et al. (1992), 51f. 619 Brueggemann(1985), 5. 620 Eine solche Sicht zynisch zu finden, ist ein Privileg der späten Geburt. Überlebende z. B. der NS-Vernichtungslager haben sich häufig sehr klar zum Wert des »bloßen« Überlebens bekannt (Des Pres [1980], 27–50).

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die unerschöpfliche Huld Gottes und im dem Vertrauen auf seine nicht »von Herzen« kommende Erniedrigung. All dies geschieht aus einer doppelten anthropologischen Erwägung heraus, die Einleitung und Fazit der Mittelsektion markieren: Einerseits ist radikale Klage (wie von Zion in Klgl 2 verübt) ‫לענה וראש‬ Bitterkeit und Gift. Sie hat kein produktives Potential (mehr); eine ‫ נפש‬ohne Hoffnung beginnt zu zerfließen (‫)שיח‬.621 Hoffnung ist somit intrinsisch heilsam. Andererseits ist das (Über-)Leben selbst immer schon Ausdruck göttlicher Güte. Das Leben selbst berechtigt zur fortwährenden Hoffnung, und zeigt, dass der Eindruck des Selbstentzugs Gottes wie er sich in V 8.44 äußert, in letzter Konsequenz trügt. 5.2.2.2.2.2 Rechtsbeugung: Der tägliche Zweifel am gerechten Gott Rechtsbeugung und Rechtsprechung sind in Klgl 1 und 2 praktisch kein Thema. Zwar wird das »treulose« Verhalten der Nachbarn und Liebhaber in Klgl 1 zuweilen als Hinweis auf missachtete Bündnisverpflichtungen politischer Partner gedeutet, doch hat ‫ בגד‬in V 2c keine speziell juridische Konnotation,622 genauso wenig wie ‫ רמה‬in V 19a.623 Die in V 4 erwähnten Tore waren zwar der Ort, an dem die ‫ זקנים‬der Torgerichtsbarkeit nachgingen,624 allerdings steht hier das Bild der Wallfahrtprozession vom Stadttor zum Tempel im Mittelpunkt. Eine Assoziation zur Rechtsprechung ist somit nicht gegeben; möglicherweise sind hier überhaupt weniger die Stadt- denn die Tempeltore im Blick.625 Schließlich verweist V 10c: ‫ אשר צויתה לא־יבאו בקהל לך‬von denen du geboten, dass sie nicht kämen in die Gemeinde zu dir zwar auf das Gemeindegesetz (Dtn 23,2–9) und deutet damit an, dass auch JHWH seiner eigenen Tora gegenüber Respekt schuldig ist, doch 621 Vgl. hierzu Des Pres (1980), 65: »In extremity … body and spirit become the ground of each other, each bearing the other’s need, the other’s sorrow and reach responds directly to the other’s total condition. If spiritual resilience declines, so does physical endurance. If the body sickens, the spirit too begins to lose its grip. There is a strange circularity about existence in extremity: survivors preserve their dignity in order ›not to begin to die‹; they care for the body as a matter of ›moral survival.‹« 622 Erlandsson (1973), 511. Als Brechen eines Vertrages findet ‫ בגד‬häufiger Verwendung in prophetischen Texten, die die Ehesymbolik heranziehen, um die Treulosigkeit des Volkes gegenüber JHWH zu beschreiben. Zuweilen wird es parallel (1Sam 14,33; Jes 48,8) oder synonym (Jer 3,21; Ps 78,57; 119,158) mit ‫ חטא‬oder ‫ פשע‬verwendet. Insgesamt zielt die Wurzel jedoch auf das »unbeständige Verhältnis des Menschen zu einer bestehenden festen Ordnung« ab (ebd., 508). 623 Kartveit (1993), 523f. 624 Für unsere Frage ist es unerheblich, inwiefern die Torgerichtsbarkeit im Jerusalem des ausgehenden 6. Jhd. noch unabhängig neben der Verwaltungsgerichtsbarkeit existierte (positiv Buchholz [1988], 83–100.104, eher kritisch Niehr [1987], 94–101, Gertz [1994], 226– 233;). Es gilt in jedem Fall, dass die »symbolisch-proleptische Funktion der Repräsentation der Stadt« (Otto [1995b], 196), die das Stadttor innehatte, das Moment der Rechtsprechung mit einschließt. 625 Frevel (2002), 129f.

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handelt es sich hier natürlich nicht um einen einklagbaren Rechtsanspruch – eine Assoziation, die der Text auch nicht herstellt. Ähnlich liegt die Sache in Klgl 2. Zwar sind hier Stadttore (V 9a) und Älteste (V 10a) in einem Atemzug genannt, doch verbindet die V 8–10 nicht das Thema der Rechtspflege sondern das Motiv der rituellen Trauer: In V 8c trauern (‫)אבל‬ Wall und Mauer. Durch das Verbum ‫ אמל‬dahinsinken, schwinden, welken wird eine abwärtige Bewegung evoziert, die dann in V 9a (‫ טבעו בארץ שעריה‬es versanken im Boden ihre Tore) wie auch V 10c (‫ הורידו לארץ ראשן בתולת ירושלם‬es ließen sinken zu Boden ihren Kopf die Jungfrauen Jerusalems) aufgenommen wird. Die ‫ זקנים‬in V 10a bilden mit den nachfolgend genannten ‫ בתולות‬einen Merismus; auch ihr Schweigen (‫ )דמם‬steht ganz im Zeichen der Trauerthematik. So bleibt nur V 18a zu nennen, wo die (textlich schwierige) Formulierung ‫צעק לבם‬ ‫ אל־אדני‬es schrie ihr Herz zum Herrn Gott (auch) in seiner Funktion als Fürsprecher der Entrechteten thematisiert.626 Demgegenüber nimmt die Frage irdischer Rechtpflege eine wichtige Stellung in der mittleren Sektion und dem Schluss von Klgl 3 ein. Die Thematik wird in zwei Blöcken verhandelt: V 34–36.37–39 diskutieren, inwiefern überhaupt noch auf die Gerechtigkeit Gottes vertraut werden kann. In V 34–36 ist die Entrechtung der sozial Marginalisierten im Blick: Beim »Zertreten« der Gefangenen des Landes liegt der Fokus weniger auf dem Moment der Inhaftierung, denn auf der Unterdrückung derjenigen, die ansonsten nicht auf Recht hoffen können.627 Das Beugen (‫ )נטה‬der ‫ משפת‬eines Mannes (V 35) und das Irreführen (‫ )עות‬in einem Rechtsstreit (‫ )ריב‬spricht ausdrücklich juristische Szenarien an. Auch hier sind es sozial Schwache, die am meisten unter Rechtsbeugung zu leiden haben (vgl. Ex 23,2.6; Dtn 16,19; 24,17; 27,19).628 626 In knapp 30 der etwa 170 Vorkommen der Wurzel ‫צעק‬/‫ זעק‬hat sie eine gewisse rechtlichsoziologische Konnotation (Hasel [1977], 632). So schreit (‫ )צעק‬das vergossene Blut in Gen 4,10 zu Gott; die bzw. der zu Gott schreiende (‫ )צעק‬Witwe oder Mitbürger wird von JHWH ins Recht gesetzt (Ex 22,22.26). Auch der König kann um Rechtshilfe angerufen werden: 2Sam 19,29 (‫ ;)זעק‬1Kön 20,39; 2Kön 6,26; 8,3.5 (‫)צעק‬. »Normalerweise dient der Notschrei der Anklage oder Appellation, mit dem ein Bedrohter … in auffälligster und eindringlichster Weise das Eingreifen der gemeindlichen Rechtsinstanz oder deren obersten Richter heischt.« (ebd., 633). 627 Berges (2002), 210 denkt bei der ansonsten singulären Formulierung ‫ אסירי ארץ‬Gefangene des Landes nicht an Inhaftierte oder Kriegsgefangene (so Rudolph [1962], 241, Boecker [1985], 68, Hillers [1992], 130, u. ö.), sondern allgemein an diejenigen, »die sich in solcher Abhängigkeit befinden, dass sie nur von JHWH Befreiung erwarten können.« Ähnlich Fuhs (1977a), 218f., der hier die im Lande verbliebene Bevölkerung, die sich hilflos der Willkür der Besatzer ausgesetzt sieht, angesprochen sieht. Salters (2010), 242f. sieht den Akzent auf der außergewöhnlichen Brutalität: »To crush the disadvantaged is bad enough, but to crush those who are already in custody, or bound in fetters is wicked; it is, we imagine, contrary to what God would do (Ps 68,7).« 628 Die Syntax trägt zur »transitorischen Ambiguität« (Weber [2000], 116–118) der Verse bei: Drei mit Infinitiv konstruierte Nebensätze, die als Pendens-Konstruktion von einem Hauptsatz abhängen. Während anfangs V 33: »Denn nicht erniedrigt er von Herzen …« als

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Auf den ersten Blick erstaunt der abrupte Themawechsel, insbesondere im Kontext der Entwicklung eines »Verhaltenskodex« für das Ertragen des göttlichen Zorns. Die Formulierung in Partizipien (V 30: Part. hif ‫ )נכה‬und Infinitiven (V 34: ‫ דכא‬pi; V 35: ‫ נטה‬hif; V 36: ‫ עות‬pi) erzeugen eine geweitete Perspektive, in der nun auch das Handeln menschlicher Aggressoren thematisiert wird und in der JHWHs Rolle auf das Beobachten bzw. Ignorieren beschränkt ist (vgl. V 36). Dies unterscheidet sich stark vom ich-zentrierten Leidbericht der V 1–18, in denen JHWH durchweg aktiver Verursacher der Bedrängungen war. Allerdings ist zu bedenken, dass der Mann auch dort schon davon sprach, dass JHWH ihn in tiefster Finsternis wohnen ließ (V 6), ihn einmauerte (V 7), umkreiste und umbaute (V 4) und ihm Fesseln anlegte (V 7) – allesamt Formulierungen, die einen Kerker assoziieren, und somit gut zu dem rechtlichen Kontext der V 34–36 passen. Der sachliche Grund für die V 34–39 liegt im »Plausibilitätsdefizit« der Argumentation der V 25–30. Das dort anempfohlene Verhalten wurde mit den in V 22–24.31–33 formulierten Vertrauensaussagen begründet: Es hat Sinn, schweigend zu sitzen und zu warten (V 28), denn die Hulderweise JHWHs sind nicht zu Ende (V 22) und wenn er betrübt, erbarmt er sich auch wieder (V 32). Doch bislang sind diese Vertrauensaussagen nur Behauptungen – nicht nur das subjektive Erleben des Mannes (V 1–18), auch die soziale Realität (V 34–36) sprechen dagegen. Das in Klgl 2,18 noch ganz selbstverständliche Schreien (/‫צעק‬ ‫ )זעק‬zu Gott mit dem Ziele der Wendung des eigenen Schicksals erweist sich in der Diskussion von Klgl 3 zum prinzipiellen Problem: Angesichts der alltäglichen Erfahrungen ist fraglich, ob ‫זעק‬/‫ צעק‬überhaupt Aussicht auf Erfolg haben kann. Das damit aufgeworfene Problem wird in V 37–38 einer (durchaus unbefriedigend bleibenden) Klärung zugeführt, indem durch zwei rhetorische Gegenfragen Gottes Freiheit und Allmacht betont wird. Der gleichsam kosmische Rahmen, der zur Erwiderung aufgespannt wird, zeigt, dass hier göttliche Gerechtigkeit in grundsätzlicher Allgemeinheit verhandelt wird – zugleich jedoch exemplarisch an die Rechtssphäre als besonders augenfälligen Ort der Wahrung bzw. Schaffung von Gerechtigkeit rückgebunden bleibt.629

der Bezugspunkt scheint, und die V 34–36 als Illustrationen der dort angesprochenen Erniedrigungen aufgefasst werden, scheint später V 36b: ‫ אדני לא ראה‬in seiner Ambiguität zwischen Aussage und rhetorischer Frage als primärer Bezugspunkt. »[T]he intentional roughening of the syntax here and the attendant increase in density and sluggishness aptly mirror the speaker’s inner turmoil as he tries (ultimately unsuccessfully) to convince himself of the continued efficacy of traditional piety. The surface boldness of his professions are belied, among other things, by the tangled uncertainty of his syntax.« (Dobbs-Allsopp [2002], 375, Anm. 23). 629 Vgl. hierzu Brueggemann (1985).

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Das Thema der Rechtspflege wird in V 58–59 nochmals aufgegriffen und mehrfach begrifflich an V 34–39 zurückgebunden. Neben dem Begriff ‫ריב‬ Rechtsstreit/Rechtssachen (vgl. V 36), erinnert auch der Umstand, dass JHWH das ‫ חי‬Leben des Mannes auslöst, an die Frage aus V 39, worüber ein ‫ אדם חי‬sich beklage (‫)אנן‬. Der Vertrauensbeweis aus V 59(.60): ‫ ראיתה יהוה עותתי‬Du sahest, JHWH, meine Entrechtung erinnert an die rhetorische Frage in V 36b: ‫אדני לא‬ ‫ראה‬. Mit ‫ שפטה משפתי‬wird an V 35 erinnert, wo es die Rechtsbeugung (‫נטה‬ ‫ )משפט־גבר‬vor Gott (‫ )נגד פני עליון‬war, die für Empörung sorgte. Dass JHWH hier als ‫ גאל‬Löser vorgestellt wird, der »als Helfer im Rechtsstreit auftreten sollte, um seinem Schützling sein Recht zu verschaffen«,630 verdeutlicht das mittlerweile grundlegend gewandelte und erneut von Vertrauen geprägte Gottesverhältnis. Die Rechtsbeugung ist damit in den Katalog der Dinge aufgenommen, durch die der Mann sich durch die Feinde bedrängt sieht; sie fungiert somit nicht mehr als Indiz für Gottes mögliches Desinteresse oder Impotenz. Vielmehr hat JHWH die Funktion eines ‫גאל‬, was nicht nur den Aspekt der »anwaltschaftlichen« Vertretung trägt, sondern auch eine regelrecht verwandtschaftliche Nähe konnotiert (Lev 25,23–31; Rut 2,1.20; 4,1ff. u. ö.). Dementsprechend ist es nun auch keine Frage mehr, ob Gott das Unrecht auf Erden überhaupt zur Kenntnis nimmt; JHWH erscheint hier wieder als der gütige und gerechte Richter (Dtn 4,8; Ps 19,10; 119,39; 119,75), dem das Los der Benachteiligten besonders am Herzen liegt (Spr 23,11). Somit kann mit Zuversicht die Vergeltung des Tuns der Feinde gefordert werden. Damit ist zwar die in V 36 formulierte Herausforderung abgewiesen, jedoch bedeutet dies nicht das Ende der diesbezüglichen Unsicherheit. V 61 affirmiert, dass JHWH das Schmähen ‫ חרפה‬der Feinde gehört habe, und legt damit eine Fährte, die in Klgl 5,1 wieder aufgenommen wird. Erneut muss JHWH dort aufgefordert werden (‫ הביט וראה‬Schau und sieh!), die Schmach (‫ )חרפה‬des Kollektivs zur Kenntnis zu nehmen. Vom Schreien zu Gott in Klgl 2,18, über die Skepsis bezüglich seines Handlungswillens in Klgl 3,36, zum vertrauensvollen ‫גאל‬-Verhältnis in Klgl 3,58 hin zur Klgl 1 zitierenden Aufforderung, zu schauen und zu sehen in Klgl 5,1: Die Antwort auf die Frage des göttlich fundierten und gesicherten Rechtes, verbunden mit der Frage nach der sich darin manifestierenden Wirkmacht Gottes, bleibt bis zuletzt unsicher. 5.2.2.2.2.3 Hinwendung zu neuem Gottesvertrauen Der stilistische Bruch, der sich einerseits durch die Selbstvorstellung des Mannes, andererseits durch die Vernachlässigung vieler für die übrigen Lieder bestimmender Themen und Motive in Bezug auf Klgl 1–2 ergibt, hat eine positive Kehrseite. So kann die innere Entwicklung des Mannes von einem Individuum, 630 Ringgren (1973b), 887.

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das sein Schicksal beklagt, hin zu einem Gläubigen, der neue Hoffnung und neues Vertrauen in JHWH gefunden hat, ausführlich dargestellt werden. Wenn Kraus sich genötigt sieht, für V 1–33.52–66 zwei verschiedene Dichter anzunehmen,631 zeugt dies aber zugleich auch vom Ausmaß der Entwicklung, die der Mann im Laufe des Liedes durchgemacht hat. Zwar findet auch der Sprecher im Fortgang von Klgl 1 zu Klgl 2 zu einer gewandelten inneren Haltung, und zwar macht auch Zion eine bemerkenswerte Entwicklung von verachteter, marginalisierter Frau zu anklagender Kämpferin durch, doch steht in beiden Fällen nicht die Entwicklung als solche im Vordergrund. Die innere Entwicklung vollzieht sich primär am Übergang von der ersten zur zweiten Sektion, d. h. den V 17–24. In der ersten Sektion präsentiert sich der Mann als vom Zorn verfolgtes Individuum, das wenig Wert auf umgebende Szenerie, etwaige Leidensgenossen u. ä. legt. Der Zorn Gottes wird primär als physische Gewalt erfahren und als individuelles und ungerechtes Schicksal präsentiert. In den V 17–18 wird hierzu ein erstes Fazit formuliert: Einerseits wird nochmals das aktive Handeln Gottes betont, andererseits wird deutlich, dass ein Maß an Heimsuchung erreicht wurde, das jede weitere Hoffnung auf JHWH auslöscht. Die folgenden V 19–21 bieten so etwas wie eine Kurzdiagnose des in V 18 erreichten Zustandes: Das anhaltende Nachsinnen über den eigenen Zustand ist ‫ לענה וראש‬Bitterkeit und Gift. Das Kreisen um die eigene Lage zehrt an der Seele und erodiert den Lebenswillen. Soll Klage produktiv sein und heilend wirken, braucht sie Orientierungen und Grenzen; Klage muss in gewisser Weise auch wissen, wann »genug« ist. Andernfalls droht sie, den inneren Halt und Lebenswillen des Individuums zu zerstören. Dies vergegenwärtigt sich der Mann in V 21 und lässt ihn ausharren. Im Blick ist dabei ein (vorerst) richtungsloses Harren, das einzig von der Einsicht getrieben ist, dass Hoffnungslosigkeit der sichere Tod ist. Erst der Entschluss zur Hoffnung lässt den Blick dann wieder auf JHWH als Garant und Ziel zukünftiger Besserung gehen. Die nachfolgenden V 22–33 sind im Zusammenhang zu betrachten und entwickeln ein »Programm« des angemessenen Verhaltens unter dem anhaltenden Zorn Gottes. Die Ich-Bezogenheit des Mannes ist durchbrochen und der Fokus geweitet. So können einerseits soziale Missstände in den Blick kommen, andererseits aber auch nach Vernunftgründen für den eigenen Gesinnungswandel gesucht werden, die dem Anspruch genügen können, überindividuell nachvollziehbar zu sein. Die schon in der zweiten Sektion geweitete Perspektive setzt sich in der dritten fort. In den V 40–47 tritt der Mann als Vorredner eines Kollektives auf; an631 Kraus (1983), 57. Auch Häusl (1998), 273, geht davon aus, dass Klgl 3 aus mehreren ursprünglich eigenständigen Texten zusammengefügt wurde.

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schließend dominiert zwar wieder die Ich-Perspektive, allerdings kommt nun die »Verursacherseite« in gewandelter Weise in den Blick: Die Bedrängnisse erscheinen ihm nun als das Tun von Feinden – denen gegenüber er JHWH um Rettung und Vergeltung anruft. Die Schilderung hat damit mehrere Etappen, die die Entwicklung Zions aus Klgl 1–2 reinszenieren und anschließend weiterführen. Im ersten Abschnitt, V 1– 16, beschreibt der Mann den ihn heimsuchenden göttlichen Zorn. Dieser Abschnitt ist Klgl 1,13–15 und Klgl 2,1–10 sehr ähnlich: Wie in Klgl 1 wird das Gericht als physische und psychische Gewalt an einem Individuum gefasst; wie in Klgl 2 wird einerseits die Gewalttätigkeit, Planmäßigkeit und Unentrinnbarkeit des Geschehens betont, andererseits ausdrücklich deutlich gemacht, dass JHWH der verantwortliche Handelnde ist. In V 17–18 findet sich die Entwicklung Zions in Klgl 2 aufgenommen, die zu vollständiger Entfremdung von JHWH führt und in ihm nur noch einen Feind sehen kann. Anschließend, V 19–21, geht Klgl 3 über Klgl 2 hinaus, indem die erreichte Situation der Hoffnungslosigkeit als potentiell lebensbedrohlich und einer konstruktiven Klage nicht zuträglich erkannt wird. Damit ist die Dynamik von Klgl 1–2 aufgehoben – in doppeltem Sinne: Sie bleibt erhalten, insofern der Leidbericht wie in Klgl 2 zu einer existentiellen Krise des Gottesverhältnisses führte. Sie wird überwunden insofern der Mann den letzten Schritt, den endgültigen Bruch mit Gott, nicht vollzieht, da er erkennt, dass ein Leben ohne Hoffnung auf Gottes ‫ רחמים‬schlechterdings unmöglich ist.632 Zions Wut und Schmerz, die in Klgl 2,20–22 zum Ausdruck kamen, ist damit nicht abgewertet, schon gar nicht als unberechtigt zurückgewiesen. Gottes Wirken wird in der ersten Sektion nicht weniger undurchsichtig und zügellos, bedrohlich und unentrinnbar beschrieben und unterscheidet sich in dieser Hinsicht wenig von der Darstellung von Klgl 2. Der Mann beharrt jedoch darauf, dass Klage, die produktiv sein will, nicht im gleichen Atemzug denjenigen »abwickeln« kann, an den sie sich richtet. Klage, die in Gott nur noch den Feind sehen kann, verfehlt ihren heilsamen Zweck. Aus diesem Grund wandelt sich auch die Sicht auf die Klage als rituellen Vorgang. Galt das Sitzen im Staub, das Schweigen und Erniedrigtsein in Klgl 1 und 2 noch als ritueller Ausdruck der gefühlten Gottesferne, nimmt der gleiche Habitus in Klgl 3,25–30 den Status eines beharrlichen Hoffens an. Rituelle Trauer wird hier zu einem Modus der Gottesbeziehung. Das erklärt auch, warum die sich darin ausdrückende Hoffnung mehr ist als eine Notlösung, als die sie im Verlauf von Klgl 3 schnell erscheinen kann. Sie illustriert die wechselseitige Bezüglichkeit von Hoffnung und Leben: Hoffnung ist zum Leben notwendig – zugleich generiert (Weiter)Leben neue Hoffnung.

632 Vgl. Des Pres (1980), 75–94.

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Zusammenfassend gilt somit, dass Klgl 3 die Position von Klgl 2 zwar korrigiert, jedoch nicht grundsätzlich zurückweist. Stattdessen wird eine Alternative zu der am Ende von Klgl 2 erreichten Aporie etabliert, die zugleich deutlich nuancierter als die Position von Klgl 1 ist. Während jenes einen möglichen Konflikt dadurch entschärft, dass der möglichen Gotteskritik ein umfassendes Schuldeingeständnis vorangestellt wird, weist Klgl 3 darauf hin, dass Gotteskritik ihren berechtigten Ort hat, jedoch nur so lange fruchtbar sein kann, wie sie sich im Rahmen des Gottesverhältnisses artikuliert.

5.2.2.2.2.4 Fazit Wenn diese anthropologischen Überlegungen in die richtige Richtung gehen, ist die Frage nach der Funktion dieser conversio-Darstellung innerhalb des Buches zwanglos zu beantworten. Die in Klgl 1 und 2 aufgeworfene Frage nach den Grenzen eines gerechten Gerichts und der Legitimität des tatsächlichen erfolgten Gerichts zielt auf die Grundfesten des Glaubens und droht, diesen vollständig zu unterminieren. Die Darstellung erfolgt hier anhand einer fiktiven Person: Frau Zion. Sie leiht den Zweifeln und (An)Klagen der Menschen ihre Stimme. Auf diese Zweifel, die in Klgl 2,20–22 auf die Spitze getrieben werden, kann man, wie es in Klgl 3,33–39 dann auch geschieht, in abstrakter Theologie antworten: Man betont Gottes Transzendenz und leitet aus Gottes erbarmendem Wesen den vorübergehenden Charakter des Leidens ab. Allerdings bleibt eine solche Belehrung nur für gläubige Ohren überzeugend. Doch gerade die gläubige Existenz als je-vorgängige Realität ist ja nach Klgl 2 in Frage gestellt! Die Herausforderung, der Klgl 3 sucht, gerecht zu werden, ist es, eine Antwort zu finden, die die Alternativlosigkeit einer hoffenden (und somit gläubigen) Existenz verdeutlicht. Klgl 3 bietet somit Glaubensanleitung – aber auch die Erklärung, warum eine solche nach Klgl 2 nicht obsolet geworden ist. Es ist daher auch schlüssig, dass die Frage eigener Schuld erst im Anschluss an diesen neu gefundenen Glaubensgrund aufkommt: In V 1–21, insbesondere in V 15–20, steht die gesamte Existenz des Menschen als Gläubiger auf Messers Schneide – erst mit neu gefundenem Gottvertrauen kann auch die Frage eigener Schuld wieder sinnvoll gestellt werden. Zugleich wird deutlich, warum der Mann anonym bleibt. Nach der Perspektive von Klgl 1–2, in denen Frau Zion um »ihre Kinder« – sowie ihr eigenes Schicksal – weint, tritt nun ein Individuum auf, dessen Antwort als Erwiderung auf Augenhöhe der von Frau Zion formulierten Einwände aufgefasst werden können muss. Sie muss daher aus der Perspektive einer Figur erfolgen – nur so kann die anthropologische Dimension der Argumentation dargestellt werden –, die Zion als Figur überhaupt antworten kann. Dafür muss sie hinreichend bestimmt sein, um als Gesprächspartner fungieren zu können, zugleich aber unbestimmt genug

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bleiben, um als Projektionsfläche eines gläubigen Nachvollzuges der jeweiligen Leser*innen dienen zu können. 5.2.2.2.3 Nicht weiter verfolgte Linien Der Blick auf die neuen inhaltlichen Akzente schärft den Blick für die Themen und Motive, die in Klgl 3 nicht wieder aufgegriffen werden. Bei näherem Hinsehen fügen sich diese organisch in die durch die inhaltlich-thematische Umakzenturierung und kompositorische Abfolge vorgegebene Anlage ein. 5.2.2.2.3.1 Fokus auf Stadt, Bevölkerung und Tempel »Stünde Lied III nicht inmitten der Rolle, würde niemand einen Jerusalem-ZionKontext auch nur vermuten.«633 Die Zerstörung der Stadt und des Tempels spielt in Klgl 3 keinerlei Rolle; nur an wenigen ganz vereinzelten Stellen wird überhaupt auf städtische Architektur angespielt oder eine Perspektive gewählt, die die Stadt als politische Größe inmitten einer von anderen Nationen bevölkerten Landkarte in den Blick nimmt. In V 14 beklagt der Mann seine Verspottung durch (‫ים‬/‫כל־עמ)י‬. Auch wenn nicht eindeutig ist, ob ‫ עם‬hier als Sg. oder Pl. aufzufassen ist, ist doch zweifellos ein kurzzeitig weiterer Blick gegeben, der neben dem Mann die politische Größe des Volkes bzw. der Völker erfasst. Auch in V 45 werden die Völker nochmals genannt – nun eindeutig als Plural gekennzeichnet. Die Formulierung ‫בקרב‬ ‫ העמים‬inmitten der Völker evoziert hier eine weitere politische Perspektive. Ausschließlich in V 51 findet sich mit den ‫ בנות עירי‬Töchter meiner Stadt ein konkreter Hinweis auf die Stadt und ihre Bewohner. Sollte ‫ עם‬in V 14 singularisch zu lesen sein, wäre auch dort ein Hinweis auf das eigene Volk gegeben. Schließlich sind auch in V 34–36 die genannten Rechtsbrüche und Unterdrückungen im Kontext der Volksgemeinschaft zu deuten, jedoch wären beides eher indirekte Hinweise. Konkrete Hinweise auf Tore, Wälle, Riegel usw. fehlen ebenso wie Nennungen der Ältesten, Priester, Könige, Kinder und sonstige Bevölkerungsgruppen. 5.2.2.2.3.2 Leid als Kriegs- und Lebensbedrohung Die Leidschilderung des Mannes (V 1–18) nimmt in vielen einzelnen Formulierungen Motive aus Klgl 1–2 auf oder spielt auf dort schon Genanntes an. Dabei bleibt ein Motivkomplex allerdings fast völlig ausgespart: Kriegsmetaphorik, sowie damit im Zusammenhang stehende Bilder und Assoziationen. So findet sich das Motiv ›Hunger‹ nur in V 4; Hinweise auf kriegerische Handlungen finden sich ebenfalls nur dort im Bild der zerbrochenen (‫ )שבר‬Knochen (‫)עצם‬ und in V 43: ‫ הרגת לא חמלת‬du hast getötet, nicht verschont (vgl. Klgl 2,21). 633 Berges (2000), 6.

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Demgegenüber ist das Bild von V 12f. – JHWH spannt seinen Bogen und verschießt Pfeile in des Mannes Nieren – eher dem vorherigen Kontext der Jagd zuzuordnen und stellt auf die Hilf- und Ausweglosigkeit des Mannes angesichts des nicht zu beschwichtigenden Zornes Gottes ab (gleich einem wilden Tier, mit dem nicht vernünftig zu argumentieren ist; vgl. V 10). Sonstige Hinweise, etwa auf Exilierung, Hunger, Tod, Zerstörungen, das in Klgl 2 dominierende Motiv des um sich greifenden Feuers usw. sucht man vergebens. 5.2.2.2.3.3 Genderspezifische Metaphorik Mintz beschreibt die Dynamik zwischen Klgl 1–2 und 3 wie folgt: »First there is a female figure, Fair Zion, used to emblemize the experience of victimization, and then a male figure, who is used to represent the struggle for theological reconciliation.«634 Deutlicher kann man die Genderdichotomie »weibliches Opfer – männlicher Theologe« nicht in Worte fassen. Dementsprechend wurden die unterschiedlichen Geschlechterrollen von Frau Zion und Mann wiederholt problematisiert. Guest entwickelte ihre Kritik von Klgl 1 an dessen prominenter sexuellen Metaphorik, die die Frage eigener Schuld und Verantwortung mit spezifisch weiblich konnotierten Motiven entwickelt: Promiskuität Zions als Ursache – sexuelle Verächtlichmachung und Vergewaltigung als Konsequenz. Die Frage nach den historisch Schuldigen tritt in den Hintergrund angesichts der selbstgerechten Empörung über das »buhlerische« Tun Zions und des voyeuristischen Spektakels ihrer Entblößung.635 Linafelt sieht einen der Gründe für die traditionell hervorgehobene Wertung von Klgl 3 darin, dass hier ein Mann im Mittelpunkt steht.636 Ein Mann – nicht die zornige Frau aus Klgl 2,20–22 – wird als exemplarischer »Everyman« oder »paradigmatischer Beter« dargestellt.637 Eine derartige Genderkritik ist einerseits berechtigt: Die sexualisierte Metaphorik von Klgl 1 wirkt, weil sie auf eine Frau bezogen wird,638 und für viele männliche Exegeten ist der Mann der anzustrebende exemplarisch-demütige 634 635 636 637

Mintz (1984), 3. Guest (1999), 430f. Linafelt (2000), 5–13. Vgl. für ersteres Hillers (1992), 108 u. ö., Dobbs-Allsopp (2002), 105 u. ö., für letzteres Kaiser (1992), 158. In die gleiche Richtung gehen Beschreibungen wie »typical sufferer« (Mintz [1982], 32.39), »leidender Gerechter« (Brandscheidt [1983]) oder »devout man« (Renkema [1998], 337 u. ö.). 638 Bier (2015), 129, Weems (1995), 41: »Only an audience that had never been raped or had never perceived rape or sexual abuse as a real threat could be expected to hear the kinds of ribald descriptions of abused women, sexual humiliation, assault, gang rape, violation, and torture that the prophets described and not recoil in fear.«. Ein dem Ehebruchmotiv vergleichbar abfälliger Blick auf männliche Sexualität, ist zwar z. B. in Jer 5,8 oder Ez 23,20 belegt – allerdings nicht in der gleichen Häufung und insbesondere nicht mit der Konnotation des männlichen Blickes.

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Gegenpol Zions. Zugleich ist allerdings festzuhalten, dass die Anonymität des Mannes eine Textstrategie ist. Es ist somit nicht von der Hand zu weisen, dass er als Figur konzipiert ist, die einerseits spezifisch genug ist, den jeweiligen Bezug zu Klgl 1–2 erkennbar zu machen, dabei jedoch so allgemein zu belassen, dass sie nicht als historische Schilderung missverstanden wird, zudem darf nicht aus dem Blick geraten, dass auch dem Mann körperliche Gewalt widerfährt. Generell gilt, dass die Auswirkungen des göttlichen Zorns in Klgl 3 zwar als körperliche (vgl. V 3.4.11.13.16) und psychische (vgl. V 2.5.6.8.14.15.17) Gewalt dargestellt werden, jedoch die Facette spezifisch sexueller Beschämung fehlt.639 Dies wirkt auf zweierlei Weise: Einerseits belässt es die Schilderung im Allgemeinen. Die Schilderung lässt die unmittelbare Körperlichkeit von Klgl 1–2 vermissen und trägt damit dazu bei, dass der Bericht des Mannes durchaus als allgemeine Erörterung aufgefasst werden kann. Andererseits gilt, dass die sexualisierte Metaphorik aus Klgl 1 in ihrer Anwendung auf Frau Zion gerade als Mittel der eigenen Distanzierung von der objektivierten Frau wirkt. Ihr Fehlen, und das Abstellen auf physische Gewalt, wie sie tatsächlich »jedermann« treffen konnte, hat dann eher den Effekt, dass sie unmittelbarer wahrgenommen wird. 5.2.2.2.3.4 Fazit Die thematischen Leerstellen erklären sich vor dem Hintergrund der schon skizzierten Funktion der conversio im Rahmen des Buches. Jene soll einen Ausweg aus dem Zustand destruktiver Sinnkritik bieten, die einer produktiven Klage im Wege stünden. Die »Partikularien« der Zerstörung der Stadt oder die Not der Bevölkerung, der fortwährende Hunger und die beängstigende Todesbedrohung sind im Vergleich mit dieser existentialen Frage nachgeordnet – ja würden vom eigentlichen Thema eher ablenken. Dies gilt insbesondere für die sexuelle Metaphorik von Klgl 1. Daneben erklärt sich das Fehlen auch aus der konkreten Reaktion des Mannes auf Zions Klage in Klgl 1–2. Als Individuum, das gegen das Versiegen der eigenen Glaubenskraft kämpft, sind externe Zerstörungen der Stadt von nachrangiger Bedeutung. Die Not der Mitbevölkerung ist ihm zwar wichtig – der Hinweis auf die sozialen Missstände in den V 34–36 macht das deutlich –, doch überwiegt auch hier die dahinterstehende Frage nach der letztendlichen Berechtigung andauernder Hoffnung. Schließlich sind Not und Zerstörung in Klgl 1 und 2 Mittel zum Zweck: Gerade die Not der Kinder wird dargestellt um das unerklärliche Ausmaß des göttlichen 639 Hinzuweisen ist allerdings auf V 11, wo der Mann von sich selbst sagt, dass JHWH ihn ‫שמם‬ veröden ließ, verstört machte. Mit ‫ שמם‬ist die gleiche Wurzel verwendet, die schon Zion in Klgl 1,13 als Beschreibung ihres eigenen Zustands wählte, und die in 2Sam 13,20 zur Beschreibung der vergewaltigten Tamar herangezogen wurde.

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Zornes zu illustrieren. Dieser Punkt ist jedoch für Klgl 3 gerade nicht zentral: die V 37–39 verdeutlichen, dass das Ausmaß des Gerichts nicht rationall zu bewältigen ist. Das Leiden Unschuldiger ist auch für Klgl 3 unerklärlich und nicht zu rechtfertigen. Nur das Hoffen und Harren, gleichsam wider besseren Wissens, kann hier Ausweg sein. 5.2.2.2.4 Zusammenfassung Leser*innen, die nach Klgl 1–2 nun Klgl 3 lesen, finden eine vertraute Welt vor. Durch den kataphorischen Verweis in Klgl 3,1 wird ein flüssiger Übergang zu Klgl 2,22 geschaffen. Die Thematik des göttlichen Zornes bleibt präsent. Die dramatische Szenik von Klgl 1–2 wird zu Beginn von Klgl 3 nicht aktualisiert oder gebrochen, so dass sich die Leser*innen zu Beginn des neuen Liedes in einer vertrauten Situation finden. Und auch das abrupte Auftreten eines Mannes nach Zions Anklage in Klgl 2,20–22 ist vor dem Hintergrund der Wechsel zwischen Zion und Sprecher in Klgl 1–2 nichts, woran sich ein/e Leser*in stört. Zugleich wird durch die intensivierte Akrostichie (die spätestens mit der ‫ב‬und ‫ג‬-Strophe auch beim mündlichen Vortrag evident wird) von Beginn an deutlich, dass ein neuer Abschnitt beginnt. Dieser formale Hinweis wird im weiteren Verlauf auch inhaltlich aufgenommen: Die Ich-bezogene Rede fokussiert die Diskussion auf den Konflikt Zürnender Gott – leidendes Individuum, die weisheitliche Mittelsektion und die thematischen Umakzentuierungen sorgen dafür, dass der anfängliche Eindruck eines neuen Abschnittes erhalten bleibt und vertieft wird. Die Art, wie dabei thematische Schwerpunkte aus Klgl 1–2 aufgenommen werden, zugleich jedoch auch neue Themen etabliert werden und anderes aus dem Blick gerät, verdeutlicht das Spezifikum des Liedes, nämlich eine neue Perspektive zu entwickeln, die es ermöglicht, die vermeintlich ausweglose Situation nach Klgl 2,20–22 zu überwinden. Parallelen gibt es in erster Linie in der Zeichnung von Zion und Mann. Beide befinden sich in einer Situation die von Verfolgung, Ausweglosigkeit und Gewalt geprägt ist, dabei wenig Hoffnung auf Besserung erkennen lässt. Sie präsentieren sich als macht- und kraftlose, passive Individuen, die von der sie treffenden Gewalt überwältigt sind. Charakteristisch ist weiterhin die deutliche Verortung der Gewalt als von Gott ausgehend. Diese ähnliche Zustandsbeschreibung bildet jedoch nur den Ausgangspunkt für die dann in Klgl 3 einsetzende Entwicklung. In dieser findet der Mann neue Hoffnung in die Gerechtigkeit Gottes – und damit zu einer Geisteshaltung zurück, die die Realität lebbar macht. Die schon in Klgl 1–2 charakteristische Trauermotivik wird in Klgl 3 daher umakzentuiert und steht nicht mehr ausschließlich für Gottesferne und Todesnähe sondern beschreibt einen demütigen aber energischen Glaubensvollzug. Neben der weisheitlichen Mittelsektion ist sicherlich die Tendenz zur Individualisierung das bestimmendste Merkmal von Klgl 3. Klgl 3 führt damit die

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gewissermaßen auch in der Figur Zion angelegte Individualität – eine Figur repräsentiert ein ganzes Stadtkollektiv – fort, erweist aber auch die Begrenzungen der bisherigen theologischen Begrifflichkeiten. Das eigene Leiden wird als individuelles Leiden begriffen – und dementsprechend unverständlich bleibt einerseits die Massivität des göttlichen Zornes wie auch die Zorneskategorie insgesamt. Auf der anderen Seite bedeutet dies auch, dass göttliche Zuwendung und Solidarität sich im aktiven Handeln für den Gläubigen im Hier und Jetzt erweisen muss. Das Handeln der Feinde wird somit zum Messpunkt dessen, wie weit es mit der göttlichen Gerechtigkeit her ist. Der Ruf nach Vergeltung der Schuld der Feinde ist damit der Ort, an dem sich die Erwartung eines gerechten Gottes paradigmatisch fest macht. Feinde sind gleichsam Statisten, anhand derer sich Gottes Gerechtigkeit im sozialen Bereich erweisen kann und muss.

5.2.3 Die Weiterführung von Klgl 3 in Klgl 4 Der tatsächliche Stellenwert von Klgl 3 für das Gesamtarrangement des Buches lässt sich erst anhand der Weiterführung des in Klgl 3 zu einem ersten Ergebnis gekommenen Gedankengangs in den folgenden Liedern bemessen. Lassen sich Klgl 4–5 als im Lichte der Argumentation von Klgl 3 gleichsam »geläuterte« Reinterpretationen von Klgl 1–2 lesen? Wenn ja, dann wäre Klgl 3 als Wendepunkt zu begreifen. Die formale Zentralstellung des Liedes würde dann mit einer inhaltlichen Hervorhebung korrespondieren. Gehen Klgl 4–5 hingegen kritisch auf die Position von Klgl 3 ein, konterkarieren sie, schränken sie ein oder ignorieren sie gar, würde dies die These von Klgl 3 als inhaltlichem Höhepunkt des Buches unterminieren. In Klgl 4 … … fehlende Themen / Motive aus Klgl 1 und 2: Sexuelle Metaphorik640 Personifizierung Zions; Tröstermotiv Tempel, Kult Fokus auf Stadt (Paläste, Wälle, Tore etc.) und ihre Zerstörung Feuermetaphorik Trauer, Emotionen, Schmerz (‫יום אף)־יהוה‬-Motiv

… aufgegriffene Themen / Motive Aufnahmen aus Klgl 1 und 2: Göttlicher Zorn als Deutungsschema des Gerichts Fokus auf Stadtbevölkerung Allgegenwart von Hunger und Tod Politische Perspektive Mutter-Kind-Beziehung und ihre Pervertierung im Bild der Teknophagie Einsicht in eigene Sünde Strafandrohung an Feinde

640 Allerdings gibt zu denken – und wird von männlichen Exegeten viel zu wenig problematisiert –, dass der abfällige Blick auf Edom mit ‫ ערה‬Hif ’il entblößen wiederum eine sexuell konnotierte Bildsprache wählt.

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Klgl 3: Fokus auf Individuum Weisheitliche Unterweisung Psychologische Wende hin zu neuem Gottvertrauen angesichts des anhaltenden Zorn Gottes

Aufnahmen aus Klgl 3: Tier- und Verfolgungsmotivik Einsicht in eigene Sünde Strafandrohung an Feinde Neu hinzukommende Themen / Motive: Soziale Desintegration durch Hunger Farbmotiv Chaotic Reversal

Übersicht 14: Themen- und Motivvergleich zwischen Klgl 4 und Klgl 1–2 und Klgl 3

Der nachfolgende Vergleich kann auf die Ergebnisse von Kap. 5.2.1 zurückgreifen. Da dort schon Klgl 1–2 mit Klgl 4–5 verglichen wurde, liegt der Fokus des vorliegenden Kapitels auf der Frage der Weiterführung von Klgl 3 in Klgl 4 und den in Klgl 4 neu hinzukommenden Motiven und thematischen Linien. Eine tabellarische Auflistung der Weiterführungen und Differenzen zwischen Klgl 1–3 und Klgl 4 bietet Übersicht 14. Zum einen gibt es offensichtliche Weiterführungen bzw. Wiederaufnahmen, wie z. B. der Zorn Gottes, die Sündenthematik oder der Hunger der Stadtbevölkerung. Sie sind sicher z. T. dem nun wieder deutlichen Jerusalem-Kontext geschuldet und tragen zum Eindruck der Kontinuität und Geschlossenheit bei. Der starke Fokus auf die Bevölkerung führt dazu, dass viele Themen und Motive aus Klgl 1–2 aufgegriffen werden, die dort mit Zions Kindern in Verbindung gebracht werden. Andererseits treten die Motive in den Hintergrund, die in Klgl 1–3 an Frau Zion bzw. dem Mann als Figur und Individuum festgemacht wurden. Bemerkenswert ist insbesondere, dass fast keines der für Klgl 3 charakteristischen Themen und Motive eine Weiterführung erfahren. 5.2.3.1 Aufnahmen und Auslassungen aus Klgl 1–2 Auffälligste Veränderung in Klgl 4 ist das zentrale Interesse am Schicksal der Stadtbevölkerung, das mit einem entsprechenden Desinteresse an der Infrastruktur der Stadt einhergeht. Der Fokus auf die Bevölkerung ist dabei nicht (mehr) an die personifizierte Stadt als Mutter geknüpft. Während in Klgl 1–2 Zions Kinder bei aller Gewalt stets noch in einem Fürsorge- und Solidarverhältnis zur Stadt-Mutter standen, tritt die Bevölkerung in Klgl 4 ohne jene Rückbindung auf und scheint auch untereinander zunehmend unsolidarisch und atomisiert. Inwiefern dies der Grund dafür ist, dass in Klgl 4 das Wortfeld ›Emotionalität‹ ebenso fehlt wie das in Klgl 1–2 prominente Trauer-Motiv, ist zumindest eine Frage wert. Demgegenüber ist die Personifizierung Zions nur noch in Ansätzen erkennbar – der Titel ‫ בת־עמי‬in V 3.6.10, sowie die Nennung von ‫ בת־ציון‬und ‫ בת־אדם‬in V 21f. lassen keine kohärente weibliche Figur erstehen.

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Die Vielzahl beklagenswerter Bedrückungen, die die Bevölkerung in Klgl 1–2 heimsucht (Hunger, Krieg, Tod, Gefangenschaft und Exilierung etc.), ist in Klgl 4 einem dominanten Thema gewichen: dem mörderischen, entmenschlichenden Hunger. Als Deutungsmatrix des Gerichts gilt nach wie vor der Zorn Gottes, zusammen mit dem Motivkomplex der eigenen Schuld, der in Klgl 4 so dominant ist wie sonst nur in Klgl 1. Das spezifische Theologumenon des ‫ יום־אף‬ist hingegen nicht mehr vertreten. 5.2.3.2 Aufnahmen aus Klgl 3 Wie schon in Klgl 1,12 und in Klgl 3,10.52 werden auch in Klgl 4 Bilder aus dem Tierreich verwendet, um die Verfolgung durch Feinde darzustellen. Das schon in Klgl 3,52 eingeführte Bild des verfolgten Vogels wird in Klgl 4,19 im Bild des verfolgenden Adlers aufgegriffen. Neben diesem Motiv finden sich auch in Klgl 4,3 zwei Tiervergleiche – hier allerdings mit charakteristisch anderer Färbung. Hier ist es die ‫בת־עמי‬, die einerseits mit Schakalen, andererseits mit Straußen verglichen wird. Nicht nur sind damit Tiere gewählt, die nicht mehr dem Jäger– Gejagten-Schema entsprechen, sondern der Chaossphäre (Wüste und Ruinen) zugeordnet sind. Der Vergleich dient auch der Verurteilung der ‫בת־עמי‬, etwas, das in den anderen Liedern nirgends erkennbar ist. Wie schon in Klgl 1 und 3 schließt auch Klgl 4 mit einer Strafandrohung an die Feinde. Doch auch hier ist eine andere Akzentsetzung zu beobachten. Während in Klgl 1 und 3 Zion bzw. der Mann jeweils eine klagende Bitte an Gott richten, das als Vergeltung für frühere Sünde verstandene Gericht nun auch den Feinden für ihre Sünden zukommen zu lassen, proklamiert Klgl 4 ohne direkte Anrede JHWHs das Ende der Schuld Zions. Zugleich wird den Feinden nur in Klgl 4 mit der Bezeichnung ‫ בת־אדם‬ein Gesicht gegeben und die Gerichtsankündigung in eine Metaphorik gekleidet, die an Klgl 1,8–10 erinnert. Die gleichen Bemerkungen hinsichtlich des ideologischen Charakters dieser Äußerungen gelten somit auch hier. 5.2.3.3 Neue Themen Es ist bemerkenswert, dass mit diesen relativ kurzen Bemerkungen die wichtigsten Aufnahmen aus Klgl 1–3 schon umrissen sind. Dies lässt vermuten, dass zumindest ein Teil der Botschaft von Klgl 4 darin besteht, die allgemeinen thematischen Linien von Klgl 1–2 wieder aufzunehmen, dabei allerdings (in Aufnahme der kommunalen Perspektive von Klgl 3,40–47) die Perspektive und das Schicksal der Bevölkerung gesondert herauszustellen. Die Motive, die Klgl 3 auszeichneten, bleiben hierbei weitgehend unbeachtet. Die kommunale Perspektive wiederum ist durch zwei Momente gekennzeichnet: Eine Intensivierung

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des schon aus Klgl 1–2 bekannten Damals-Heute-Gegensatzes und die Darstellung der daraus folgenden sozialen Desintegration. 5.2.3.3.1 Der Verkehrte-Welt-Topos Die Differenz zwischen der strahlenden Vergangenheit und der beklagenswerten Gegenwart ist ein häufiges Motiv in Klageschilderungen und auch in den Klgl prominent vertreten.641 Schon der erste Vers von Klgl 1 setzt den Ton für das Folgende: Das erste Bikolon lenkt den Blick auf die frühere Bedeutung der Stadt und kontrastiert dies mit der gegenwärtigen Vereinsamung. Neben der Bevölkerungsanzahl steht auch die internationale Reputation repräsentativ für die frühere Bedeutung. In der Gegenwart ist davon nichts mehr zu sehen. Stattdessen gleicht ihre wirtschaftliche und rechtliche Situation der häufig prekären Stellung einer Witwe. Weitere Beispiele ließen sich anführen.642 Klgl 4 hingegen geht einen Schritt weiter. Auch hier wird der Ton des Folgenden schon im ersten Kolon gesetzt: ‫איכה יועם זהב‬, normalerweise übersetzt mit Ach, wie verdunkelt (ist) das Gold, beschreibt einen Zustand, der eigentlich nicht existieren kann.643 Da Gold nicht oxydiert, wird das Bikolon häufig im Sinne von Ruß- oder Staubablagerungen gedeutet, was jedoch am eigentlichen Kern vorbei geht. Der hier angesprochene Zustand ist gerade nicht mehr Teil einer verständlichen Realität, sondern symbolisiert eine verkehrte Welt, in der Gold dann auch seinen Glanz verlieren und ‫אבני־קדש‬, wörtlich: heilige Steine, an den Kopfenden der Gassen verschüttet (‫ )שפך‬liegen können. Die nächsten Verse greifen diesen Darstellungsmodus auf und zeichnen Bilder, die durch ihre Farbigkeit, z. T. regelrechte Schrillheit, beeindrucken und verstören. Die Söhne Zions gleichen Töpferware (‫)נבל־חרש‬, die ‫ בת־עמי‬kann es an Fürsorglichkeit nicht mal mit Schakalen aufnehmen, Tieren, die repräsentativ für die unwirtliche, menschenwidrige, »chaotische« Wüste stehen. Die einst Reichen sind zu Bettlern geworden, und die, die früher in Purpur gekleidet auf den Armen getragen wurden, umarmen nun selbst Unrat (V 5). Die einst strahlend Reinen sind nun schwärzer als Kohle (V 7f.) und liebevolle Mütter kochen Kinder (V 10).644 Priester, eigentlich diejenigen, die selbst Reinheitsurteile fällen (Lev 13– 14) sind nun als unrein gebrandmarkt und werden zu Ausgestoßenen (V 13–15). Die Bilder gehen dabei über die Kontrastierung einstiger Schönheit mit dem jetzigen Jammer weit hinaus. Durch Überzeichnung Szenen zu malen, die teilweise bis ins Groteske gehen (wie im Falle der Misthaufen umarmenden Reichen) und eine gleichsam auf den 641 642 643 644

Dobbs-Allsopp (1993), 38–41, Kraus (1983), 10f. Vgl. Klgl 1,2c.4a.6ab.7.8a.9ab.11b.15a.16b.17c.19a; 2,1bc.3a.6b.7.9bc.15bc.22c. Wie z. B. Kaiser (1992), 171, Anm. 1 und Hillers (1992), 137 zu Recht einwenden. Lasine (1991), 35.

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Kopf gestellte Realität abbilden, ist ein stilistisches Mittel, das nicht nur in den Klgl anzutreffen ist. Vielmehr handelt es sich dabei um »a key notion in the basic stock of Ancient Near Eastern depiction of disaster«645, das sich in Klagetexten des gesamten Alten Orient findet und häufig unter Begriffen wie Verkehrte-WeltTopos, Fluchzeitschilderung, Chaosbeschreibung o. ä. gefasst wird. Ihnen gemein ist, dass sie eine Welt beschreiben, in der die geltenden Ordnungen, die ja in letzter Konsequenz göttlich instituiert, legitimiert und durchgesetzt werden, aus den Fugen geraten sind und das lebensfeindliche Chaos (symbolisiert z. B. durch Dämonen, wilde Tiere oder menschenfeindliche Lebensräume wie Wüste und Steppe) in die eigentlich befriedete und geordnete Welt eindringt. 5.2.3.3.2 Soziale Desintegration Neben dem Verkehrte-Welt-Topos sind es insbesondere die sich auflösenden sozialen Beziehungen – nicht nur Familienbeziehungen –, die in Klgl 4 besonders thematisiert werden. Auch in Klgl 1 und 2 war von der Trauer, dem Leid und der Erniedrigung der Stadtbevölkerung die Rede. Allerdings waren die Beschreibungen der Bevölkerung dort grundsätzlich von Sympathie und Solidarität geprägt. Am deutlichsten zeigt sich dies in Klgl 2,20, wo die Teknophagie mit dem Tod der Priester im Heiligtum parallelisiert wird, und somit weniger als empörende Greueltat der Mütter denn als besonders deutliche Visualisierung eines jeglichen Maß verloren habenden Gerichts in den Blick genommen wird. In beiden Liedern wird mittels der personifizierten Zion, die um die Stadtbewohner als ihre Kinder klagt, das Paradigma des Solidar- und Fürsorgeverhältnisses der Stadt/Mutter zu ihren Einwohnern/Kindern aufgenommen, das dann auch für die übrigen genannten Personengruppen im Sinne der innergesellschaftlichen Solidarität gilt. Ganz anders in Klgl 4. Wenn der ‫ בת־עמי‬in V 3 nicht nur ein Versagen hinsichtlich ihrer »mütterlichen« Beschützerpflichten attestiert, sondern gar der Vorwurf der Grausamkeit (‫ )אכזר‬gemacht wird und ihr Verhalten mit der »Gedankenlosigkeit« der Strauße bei der Brutpflege verglichen wird, ist dies ein innerhalb des Buches singulärer Vorwurf, der paradigmatisch dafür steht, dass die sozialen Beziehungen innerhalb der beschriebenen Bevölkerung der Stadt am Boden liegen. Bestimmend ist dabei die Einsicht, dass Klgl 4 im Rückblick Szenen innerhalb der Stadt, während der Belagerung schildert.646 Wenn in V 1–2 die Söhne Zions als Töpfergut gelten und am Kopfende aller Gassen hingeschüttet (‫ )שפך‬liegen, dann 645 Kruger (2012b), 418. Vgl. auch Kruger (2012a), Lasine (1991), 37ff.; Lasine (1984), 50f. mit Literatur. 646 Vgl. V 6, wo das langsame Siechtum Zions mit dem schnellen Ende Sodoms verglichen wird, sowie V 17–20, die offensichtlich einen Fluchtversuch während der noch anhaltenden Belagerung beschreiben.

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beschreibt dies einen Zustand der Entkräftung, der die sonst üblichen Bestattungsriten außer Kraft setzt, und bei dem (familienlose?) Tote gleich Unrat einfach liegen bleiben.647 Auch in den V 4–5 wird eine Realität beschrieben, die nicht zuletzt von Unsolidarität gekennzeichnet ist. So wird nicht gesagt, dass es kein Brot gibt, sondern ausschließlich, dass niemand es den Kinder gab. Ebenso wird mit dem Bild der die Misthaufen umarmenden Eliten die sarkastische Pointe gesetzt, dass jene selbst in der größten Not freundschaftliche Gefühle nicht für den Nächsten entwickeln, sondern für die erbärmlichen Reste materieller »Sicherheit«. In V 7–8 kommen die Nazire in den Blick, deren einst strahlend reines Aussehen nun bis zur Unkenntlichkeit gewandelt ist. Die ohne jedes Mitleid geschilderte Verwandlung mündet in eine Bemerkung ein, die V 6 anklingen lässt: Der schnelle Tod durch das Schwert ist dem langsamen Dahinsiechen durch Hunger vorzuziehen. Das Ende der ersten Sektion bildet das Bild des Notkannibalismus, das nun nicht mehr als Anklage an Gott verwendet wird, sondern zur rhetorischen Pointe verkommt: Die gekochten Kinder werden den Müttern zur Trauerspeise angesichts des ‫ שבר‬Zusammenbruchs der ‫בת־עמי‬. Die zweite Sektion intensiviert den Eindruck sozialer Atomisierung. Die in V 13 genannten Priester und Propheten sind nach V 14f. nicht nur blind und blutverschmiert, sondern werden ob dieses Zustandes auch nicht bemitleidet, sondern geächtet und ausgestoßen. Auch den Ältesten wird kein Respekt mehr gezollt. Nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch in Bezug auf Gott ist jegliches Gefühl für Gemeinschaft zerstört. JHWH selbst hat sich den Priestern verschlossen, so dass eine gesunde, neue Gottesbeziehung gleich doppelt unmöglich ist: Einerseits ist JHWH nicht zum Stiften einer neuen Beziehung bereit, andererseits sind aber auch die Propheten und Priester ob ihrer Unreinheit des Empfanges des göttlichen Wortes überhaupt nicht mehr fähig. Die Fluchtschilderung der V 17–20 charakterisiert die Stimmung des Liedes abschließend. In dramatisierender Wir-Rede wird die Flucht einer Gruppe geschildert, die zum engeren Kreis des Königs zu gehören scheint. Es wird der Hoffnung auf ausländische Rettung Ausdruck verliehen und die Verfolgung durch die Feinde beklagt. Was allerdings ungenannt bleibt, sind die in der Stadt Zurückgelassenen, diejenigen, die in V 1–10 so plastisch beschrieben wurden. Das Lied endet somit in gewisser Weise mit einer Illustration des Vorwurfes von V 3: »Gleich Straußen« überlassen die Eliten die einfache Bevölkerung ihrem Schicksal und suchen ihr Heil in der Flucht; die letzten Verse des Liedes illustrieren nur noch einmal mehr die soziale Desintegration, die im gesamten Lied zur Sprache kommt. 647 Man fühlt sich an Schilderungen aus dem von den Nazis fast drei Jahre belagerten Leningrad erinnert.

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5.2.3.4 Die Weiterführung von Klgl 3 in Klgl 4 – eine (funktionale) Deutung Mit Klgl 4 werden die Leser*innen unvermittelt in die Welt von Klgl 1–2 zurückgeworfen. Was im Verlaufe von Klgl 3 zunehmend in den Hintergrund trat – das ganz konkrete Grauen der Belagerung und ihrer Auswirkungen –, wird in Klgl 4 mit Macht zurück ins Bewusstsein gerufen. Umgekehrt spielt das, was in Klgl 3 von Wichtigkeit war – das Zeugnis ablegende Individuum, die abstrakttheologische Erörterung, die Rechtsthematik –, keine Rolle mehr. Damit stellt sich die Frage, wie der abrupte Wechsel hinsichtlich der Funktion von Klgl 4 zu deuten ist. Zuerst eine kurze Bestandaufnahme: Klgl 4 weist statt des intensivierten Schemas von Klgl 3 ein sich an Klgl 1–2 anlehnendes, jedoch auf zwei Zeilen reduziertes akrostichisches Schema (‫ – א‬x, ‫ – ב‬x etc.) auf. Enjambements und Qinah-Metrum treten zurück. Wegen des nun wieder deutlichen Jerusalembezugs sind viele der in Klgl 1–2 prominenten Themen und Motive wieder vorhanden, wie z. B. die Zornes-Gottes-Motivik, der Fokus auf die eigene Sünde als Ursache des Gerichts, das Leiden der Bevölkerung, der Hunger der Kinder und der Notkannibalismus. Andere, wie z. B. die Personifizierung der Stadt oder der Fokus auf die Zerstörungen von Stadt und Tempel, treten dagegen zurück. Im Vergleich zu Klgl 3 überwiegen die Diskontinuitäten. Zwar gibt es auch hier wiederkehrende Themen und Motive – wie z. B. das Schuldeingeständnis, die Schuldandrohung an die Feinde, die Tiervergleiche –, doch fällt insgesamt eher der Mangel an Motivaufnahmen auf. Stattdessen rückt mit dem intensiven Fokus auf das Schicksal der Bevölkerung innerhalb der belagerten Stadt, dabei insbesondere der Hunger und die soziale Desintegration, ein Thema in den Mittelpunkt, das in Klgl 3 überhaupt nicht im Blick war. Die weiter oben angestellten Überlegungen zur inhaltlichen Funktion konzentrischer Strukturen können hier aufgegriffen werden. Dort hieß es, dass das Zentrum einer konzentrischen Struktur häufig eine Form von pivot-Funktion ausübt: Nach Erreichen der Mitte werden die Seitenglieder zwar in umgekehrter Reihenfolge wiederholt, allerdings mit einer charakteristischen Brechung, Nuancierung oder Neuinterpretation.648 Wenn Klgl 3 eine solche pivot-Funktion inne hätte, wäre gut zu erklären, warum die Themen der Mittelsektion von Klgl 3 in Klgl 4 keine Rolle mehr spielen: sie wären gleichsam der Impuls, der die Neuakzentuierung der Sicht von Klgl 1–2 in Klgl 4–5 auslöst und inhaltlich lenkt. Als Deutungshorizont wären sie mit präsent, obwohl sie nicht jeweils ausdrücklich genannt würden. Allerdings scheint eine solche Interpretation für die Klgl nur teilweise in Frage zu kommen: Zwar ist mit Klgl 3 ein Zentrum gegeben, das sogar in sich nochmals 648 Vgl. Breck (1994), 38–58.

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triptychisch konzipiert ist, indes kann Klgl 4 nur schwerlich als Reinterpretation von Klgl 2 gelten. Denn: – Worin wäre der lebhafte Zorn Zions in Klgl 2,20–22 im Lichte der weisheitlichen Unterweisung von Klgl 3,22–39 gewandelt? Es ist schwer vorstellbar, dass der eigentümlich empathielose, zuweilen apathisch, zuweilen fast sarkastisch wirkende Bericht des Sprechers aus Klgl 4 die Reaktion auf die hoffnungsstiftenden Worte von Klgl 3 sein sollte. – Mag man den Aufruf von Klgl 3, die eigenen Sünden als Gemeinschaft zu bekennen, als Reaktion auf die selektive Schuldzuweisung an die Propheten in Klgl 2,14 deuten, so wäre die Reaktion von Klgl 4 darauf, noch deutlicher einzelne Bevölkerungsgruppen zu beschuldigen. Dies erscheint wenig plausibel. – Kann man die Versicherung von Klgl 3, JHWH betrübe nicht von Herzen und erbarme sich nach erfolgter Strafe auch wieder (V 32f.), als Reaktion auf Zions Vorhaltungen bezüglich des unerklärlichen Todes Kindern und Säuglingen auffassen (Klgl 2,20–22), so wäre die Reaktion von Klgl 4 darauf die lakonischzynische Bemerkung, dass die durch das Schwert Gefallenen es doch vergleichsweise gut getroffen hätten. Das ist schwer vorstellbar. – Und, um einen Blick voraus zu wagen, auch die äußerst pessimistischen Töne aus Klgl 5,20–22 vertragen sich schlecht mit einer Sicht, die darin eine durch Klgl 3 beeinflusste Reinterpretation von Klgl 1 sehen will. Kann Klgl 4 somit schwer als durch die Sicht von Klgl 3 akzentuierte Neufassung von Klgl 2 gelten, so ist durchaus erwägenswert, Klgl 4 als Kommentierung der Lösung von Klgl 3 aufzufassen: Die Entwicklung von Klgl 3 war die einer zunehmenden Perspektivweitung. Durch die weisheitlichen Überlegungen in neuem Glauben stabilisiert, konnte sich der Mann als Mitglied eines Kollektives begreifen, zu dessen Vorsprecher er wird. In Klgl 4–5, so könnte man die Abfolge begreifen, wird die vom Mann entwickelte und in Klgl 3,48–66 an seinem eigenen Beispiel dargestellte Gemütshaltung nun auf die Gesamtgesellschaft übertragen und auf ihre Praktikabilität jenseits der »reinen Theologie« geprüft. Klgl 4 gibt dabei die Außensicht wieder, Klgl 5 anschließend eine (spätere) Innensicht. Die inhaltlichen Pointen von Klgl 4 wären in diesem Sinne als Kommentar zu dem von Klgl 3 entworfenen Verhaltenskodex des stillen Ertragens und Leidens zu verstehen: Das Sattwerden an Schmach (Klgl 3,30: ‫ )ישבע בחרפה‬bedeutet in der Situation von Klgl 2 und 4 ganz konkret und vor allem anderen: Hunger! Die das Ausharren begründende Hoffnung (vgl. Klgl 3,20: ‫ אולי יש תקוה‬Vielleicht gibt es Hoffnung) wurde enttäuscht (Klgl 4,17). Dem Rechtsbruch im Lande (hierauf wird Klgl 5,8.11–14 eingehen) wird durch das Sitzen im Staube und Schweigen weder Einhalt geboten noch wird er leichter erträglich. Schließlich weist der in Klgl 4 dargestellte Prozess sozialer Desintegration, der nicht einmal vor der

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Mutter-Kind-Beziehung Halt macht, darauf hin, dass ein reines hoffendes Verharren nur dann möglich ist, wenn das Überleben selbst nicht gefährdet ist. Ansonsten birgt er ein erhebliches soziales Risiko. Auf den Punkt gebracht könnte man formulieren, dass Klgl 3 der Anklage von Klgl 2 entgegenhält, dass Hoffnung zum Überleben notwendig ist. Klgl 4 hingegen weist darauf hin, dass sich diese Einstellung auch in der Praxis bewähren muss und zumindest in Ausnahmesituationen extremer Todesbedrohung versagt. Ein schweigendes, geduldiges Ausharren, weil es vielleicht Hoffnung gibt, missachtet gerade die gemeinschaftliche Perspektive, zu der der Mann in Klgl 3 durch die neue Hoffnung gelangte. Eine Situation, in der diese Gemeinschaft durch äußere Nöte und Bedrohungen desintegriert, droht, ihrerseits Hoffnung versiegen zu lassen.

5.2.4 Klgl 5: Das Schlusswort des Buches Klgl 5 beschließt die Sammlung; in dieser Aussage enthält sich auch eine Erwartungshaltung. Wenn die bisherigen Überlegungen, insbesondere zur Funktion von Klgl 4, zutreffen, wäre die Diskussion vor dem abschließenden Klgl 5 wieder völlig offen: Der von Klgl 3 entwickelten Position, die die Wut und Empörung von Klgl 2 nicht als falsch oder unbegründet beurteilt, jedoch auf ihre Gefahren hinweist und stattdessen eine Taktik des »hartnäckigen Hoffens« vorschlägt, würde von Klgl 4 ihre Grenzen aufgezeigt. Besser erging es den Schwertgefallenen! – hoffendes Harren ist keine Option, wenn der Hunger einen komplett zermürbt hat. In übertragenem Sinne fragt Klgl 4, ob die Lösung von Klgl 3 mehr als »nur« Theologie ist. Es wäre nun an Klgl 5, die bisherigen Perspektiven zu einem abschließenden Fazit, einer Sichtweise oder Aufforderung zu bündeln. Der Vergleich von Klgl 1–2 und Klgl 4–5 verdeutlichte die zahlreichen Bezüge der beiden »Seitenteile«. Die lexematischen Rückgriffe von Klgl 5 auf die übrigen Lieder sind dabei so auffällig und zahlreich, dass Salters gar eine literarische Abhängigkeit vermutet.649 Es muss daher nicht nachgewiesen werden, dass sich Klgl 5 trotz der abweichenden formalen Gestaltung organisch in den Kontext der vorangehenden Akrosticha einfügt. Stattdessen kann sich die Untersuchung darauf beschränken, den unmittelbaren Kontext von Klgl 5, namentlich Klgl 3 und 4, zu beleuchten.

649 Salters (2001), 105.

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Zweiter Zugriff: Die Programmatik des Buches der Klagelieder

… fehlende Themen / Motive

In Klgl 5 … … aufgegriffene Themen / Motive

aus Klgl 3: Fokus auf das Individuum Weisheitliche Unterweisung Psychologische Wende Verfolgungs-, Gefängnis- und Tiermetaphorik Strafandrohung an Feinde aus Klgl 4: Desintegration des Sozialwesens Fluchtschilderung Strafandrohung an Feinde Allgegenwärtiger Hunger(stod)

Aufnahmen aus Klgl 3: Thematik der Rechtsprechung Sündenthematik Kommunale Perspektive (Wir-Gruppe) Zorn-Gottes-Motiv Direkte Anrede/Lobpreis Gottes Aufnahmen aus Klgl 4: Fokus auf Bevölkerung Chaotic Reversal Sündenthematik Zorn-Gottes-Motiv Neu hinzukommende Themen / Motive Tägliche Schmach (vgl. aber Klgl 3,30) Differenz zwischen eigener Schuld und Sünde der Väter Umkehraufforderung an JHWH

Übersicht 15: Themen- und Motivvergleich zwischen Klgl 5 und Klgl 3–4

Klgl 5 schildert das anhaltend beschwerliche Leben der Gemeinschaft aus einigem zeitlichen Abstand zur Katastrophe. Damit erklären sich eine Reihe der nicht mehr auftauchenden Motive. Dass zwar noch Hunger, jedoch nicht mehr Hungerstod, feindliche Bedrohung aber nicht mehr Verfolgung, Bedrückung aber nicht mehr die akute göttliche Bestrafung und Heimsuchung eine Rolle spielen, ist naheliegend. Ebenfalls verwundert nicht, dass die Klgl 1, Klgl 3 und Klgl 4 beschließende Strafandrohung an die Feinde in Klgl 5 fehlt, und dass das für Klgl 4 bestimmende Thema der sozialen Desintegration nicht mehr auftaucht. Andererseits sind auch viele der wiederkehrenden Punkte naheliegend. Der Fokus auf die Bevölkerung ergibt sich aus der kommunalen Perspektive des Liedes und führt die Sicht von Klgl 4 weiter. Die in V 22 eingespielte Zorn-GottesThematik bindet das Lied in den Kontext des Buches ein; das damit im Zusammenhang stehende Schuldeingeständnis in V 7.16 ebenfalls. Die direkte Anrede an Gott in V 1, die Klgl 5 insgesamt als ein direktes Gebet an JHWH ausweist, lässt sich als Weiterführung von Klgl 4, in dem eine solche Anrede fehlt, auffassen. Neu, bzw. für die Funktion von Klgl 5 im Rahmen des Buches wichtig, sind dabei drei Aspekte: Die schmachvolle Existenz des täglichen Lebens, die Differenzierung zwischen eigener Schuld und Sünde der Väter sowie die Aufforderung der Umkehr an JHWH.

Ein thematischer Vergleich der Lieder

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5.2.4.1 Die tägliche Schmach Klgl 5 eröffnet seine Leidschilderung mit der aus Klgl 1–2 bekannten Aufforderung ‫ הביט וראה‬Schau her und sieh! Schon dieser unmissverständliche Rückbezug in den ersten Worten des Liedes verdeutlicht, dass auch Klgl 5 die Auseinandersetzung mit den übrigen Liedern sucht. Ihr folgt mit ‫ את־חרפתנו‬unsere Schmach ein Oberbegriff für die anschließend dargelegte Realität. Auch hier ermöglicht es der Bezug zu Klgl 3,30 (‫ יתן למכהו לחי ישבע בחרפה‬er biete dem ihn Schlagenden die Wange, werde satt an Schmach), nach Klgl 4 auch Klgl 5 als Reaktion bzw. Kommentar auf Klgl 3 zu lesen. Dass ‫ חרפה‬in Klgl 5,1 mit nota accusativi besonders herausgestellt ist, unterstützt dies. Die in V 1 angesprochene Schmach wird anschließend ausführlich dargestellt; dabei ist von akuter Todesbedrohung nur noch am Rande die Rede (V 9: ‫בנפשנו‬ ‫ נביא לחמנו‬unter Lebensgefahr kommen wir an unser Brot).650 Die in den übrigen Liedern genannten Bedrängnisse der Einwohnerschaft, wie z. B. Gefangenschaft und Exilierung (Klgl 1,3.5.6.18; 2,9; 3,5.7.34; 4,16.20.22), Krieg (Klgl 1,15.20; 2,20– 22; 4,9.17f.), Hunger und Tod (Klgl 1,11.19; 2,11f.19; 4,3–5.7–10), spielen keine Rolle mehr. Dementsprechend ist auch nicht mehr von Feinden (‫ )אויבים‬und Bedrängern (‫ )צרים‬die Rede, sondern von Ausländern (‫)זרים‬, Fremden (‫ )נכרים‬und Knechten (‫)עבדים‬. Es dominiert der Eindruck einer Existenz, die entwürdigend und voller Entbehrungen ist. Dementsprechend werden materielle Notstände wie Eigentums- und Erbverlust (V 1), Lebensmittelknappheit (V 6.9), oder die Notwendigkeit, für ehemals kostenlose bzw. fast kostenlose Grundgüter nun Geld bezahlen zu müssen (V 4) beklagt, soziale Nöte wie der erdrückende Frondienst (V 5.13), die Existenz als Unterdrückte (V 8), das Sistieren des öffentlichen Lebens und der damit im Zusammenhang stehenden zivilen Selbstverwaltung (V 14.15) und die im Land grassierende Schändung und Entehrung von Frauen (V 11), Fürsten und Ältesten (V 12) sowie der infrastrukturelle und demographische Verfall, wie etwa der brach liegenden Tempelberg (V 18) oder der Verlust der Elterngeneration im Zuge der Belagerung und Eroberung der Stadt (V 3).

5.2.4.2 Differenzierung zwischen Verantwortung der Väter und eigener Schuld Eine der bemerkenswertesten Facetten von Klgl 5 ist die in V 7 eingezogene Differenzierung zwischen der ‫ עון‬den Jetzigen und der ‫ חטא‬der Väter. Die Interpretation von V 7 ist umstritten; während einige meinen, die Spannung zwischen V 7 und V 16 sei so groß, dass sie unmöglich aus der gleichen Hand 650 V 12: ‫ שרים בידם נתלו‬Fürsten werden durch ihre Hand erhängt, zielt auf die Schändung der bereits Getöteten ab (vgl. Dtn 2122f.; Jos 8,29; 10,26).

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Zweiter Zugriff: Die Programmatik des Buches der Klagelieder

stammen könnten, meint die Mehrheit, dass eine sachliche Spannung nur in Ansätzen bestünde. Unabhängig von dieser Frage ist zumindest unbestreitbar, dass der Vers eine in den übrigen Liedern nicht erkennbare Generationendifferenzierung einführt: Das Handeln der Väter hat den Söhnen die Zukunft zerstört (Vgl. Jer 31,29f.; Ez 18,3f.).651 Das Bewusstsein, dass die jetzt Leidenden keinesfalls mit den ursprünglichen Verursachern der Katastrophe identisch sind, ist eine Beobachtung, die ähnlich allerdings auch in Klgl 2,11f.19 oder Klgl 4,3 gemacht wird. Die sich darin andeutende Spannung wäre dadurch lösbar, dass Sünde und Schuld individualisiert würden, so dass nur der jeweils Schuldige auch die entsprechende Strafe zu erleiden hat. Klgl 3 geht diesen Weg, indem es seine Erörterung weitgehend am Beispiel eines Individuums entwickelt. Erst nachdem im Verlauf von Klgl 3 eine neue Verhaltens- und Zukunftsperspektive gewonnen wurde, wird dieses Modell dann ebenfalls für die Gemeinschaft insgesamt empfohlen. Zwar kann damit die Spannung der von Vätern auf Söhne übergehenden Sühneschuld aufgelöst werden, »damit aber verliert sie ihre Erklärungsmächtigkeit für die Volksgeschichte, die allzu offenkundig derartig hehren Prinzipien widerspricht«652. Klgl 5 greift diesen Aspekt von Klgl 3 auf und fungiert als Erinnerung und »Kontextualisierung«, die in Erinnerung ruft, dass es neben den Individuen auch die Größe der Familien- bzw. Volksgemeinschaft gibt, für die de facto gilt: mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.

5.2.4.3 Die Umkehr JHWHs zur Gemeinde Der Beginn der Wir-Rede in Klgl 3,40 lautet: ‫נחפשה דרכינו ונחקרה ונשובה עד־יהוה‬ Lasst uns prüfen unsere Wege und (sie) ergründen, und umkehren zu JHWH! Hier kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass es einerseits Aufgabe des Menschen ist, seine sündige Existenz anzuerkennen und zu ändern, dass es andererseits aber auch in der Fähigkeit des Menschen liegt, zu JHWH umzukehren und somit wieder zu einem Heil-vollen Gottesverhältnis zu gelangen. Aus der argumentativen Logik von Klgl 3 ist dies nur folgerichtig: Die Mittelsektion legt dar, wie und warum der Mensch aus sich selbst heraus von einem Zustand vollständiger Verzweiflung wieder Mut, Zuversicht und Gottvertrauen erlangen kann. 651 V 7 formuliert in gewisser Weise einen ähnlichen Vorwurf wie Klgl 2,20; 4,10. Dort stand hinter dem unmittelbaren Entsetzen angesichts des Handelns der Mütter (und vermutlich auch Väter) die anthropologische Realität, dass durch den Notkannibalismus die Zukunft ebenjener Väter und Mutter zerstört wird. Hier ergreifen gleichsam diejenigen das Wort, die damals nicht in den Kochtöpfen gelandet sind und erneuern den Vorwurf der Zukunftszerstörung. 652 Groß (1998), 108.

Ein thematischer Vergleich der Lieder

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Klgl 5 richtet das Wort aus deutlich späterer Zeit an Gott. Die Belagerung, Eroberung und Zerstörung der Stadt liegt lange zurück; doch noch immer ist nicht zu erkennen, dass das Ende der gegenwärtigen Bedrückung nahe wäre. Eine neue Annäherung oder gar Versöhnung zwischen Volk und Gott scheint nicht im Raum zu stehen. Würde man dies aus der Sicht von Klgl 3 interpretieren, wäre die Schlussfolgerung deutlich: Es muss am Mangel ehrlichen Bemühens seitens des Volkes liegen! Klgl 5 hingegen formuliert das Gegenteil: Es liegt nicht am mangelnden Bemühen der Gemeinde, sondern am mangelnden Willen JHWHs! Das hervorgehobene Gewicht und die besondere Bedeutung der sorgfältig komponierten letzten vier Verse des Liedes sind schon an der Petucha nach V 18 erkennbar. Nach der doxologischen Affirmation des göttlichen Thronens in V 19, durch die zwei positiv konnotierten Zeitbestimmungen ‫ לעולם‬auf ewig und ‫ לדר ודור‬von Geschlecht zu Geschlecht noch unterstrichen, folgt in V 20 die erneute (An)Klage Gottes, hier als Frage653 gefasst, und ebenfalls mit zwei (negativ konnotierten) Zeitbestimmungen umfasst: ‫ לנצח‬für immer und ‫ לארך ימים‬für die Länge der Tage. Ist damit die theologische Spanne aufgezeigt, wird in V 21f. die Konsequenz formuliert: nach V 21 ist eine erneute Zuwendung zu Gott nur von Gott aus initiierbar – und nach V 22 ist jenes Interesse Gottes an einem Neubeginn nicht erkennbar. 5.2.4.4 Zusammenfassung Der Schluss von Klgl 5 stellte schon früh eine Herausforderung für die Rezipient*innen der Klgl dar, formuliert er doch offen die Möglichkeit einer auf Dauer zerstörten Gottesbeziehung. Mit dem Vers kommt die Diskussion des Buches nach den Grenzen eines gerechten Gerichtes keinesfalls zu einer abschließenden Bewertung oder einem Fazit. Stattdessen wird eine neue Runde eingeläutet: Ähnlich dem »Paukenschlag« von Klgl 2,22c: ‫ איבי כלם‬mein Feind hat sie vernichtet!, wird auch hier eine theologische Spitzenaussage als cliffhanger an das Ende des Liedes gesetzt. Wurde im Falle von Klgl 2,22c die damit evozierte Unsicherheit noch durch das Auftreten des Mannes im folgenden Lied aufgefangen, bleibt das Publikum nach Klgl 5,22 mit all seinen Fragen, Sorgen und Unsicherheiten, die sich im Laufe der Lektüre ergeben haben, auf sich allein gestellt. Jede*r Einzelne selbst muss für sich eine Position zur in den Raum gestellten Möglichkeit endgültiger Verwerfung durch Gott finden.

653 Perlitt (1972), 294: »Hinter einer solchen durch das komponierte Klagelied bereits formalisierten Frage verbirgt sich ja gewiß die vox populi, die diesen Inhalt ursprünglich und spontan nicht einmal als Frage formuliert haben dürfte, sondern als Tatsachenfeststellung!«

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Zweiter Zugriff: Die Programmatik des Buches der Klagelieder

Damit gewinnt Klgl 5 ein Gewicht für die Gesamtaussage des Buches, das nicht hoch genug bewertet werden kann. Die Funktion von Klgl 5 besteht einerseits darin, das Arrangement formal abzuschließen. Die geringere Länge des Liedes, der Bruch mit dem akrostichischen Schema der vorherigen Gedichte, die Abfassung als Wir-Rede usw. tragen dazu bei, den Leser*innen zu verdeutlichen, dass das Ende des Buches naht. In inhaltlicher Hinsicht geht es allerdings ganz im Gegenteil darum, die Diskussion auf die Zukunft und die individuelle Lebenswelt der Leser*innen zu öffnen. Hierzu werden einerseits die in den ersten vier Liedern verhandelten Topoi erneut in Erinnerung gerufen. Wenn die Geschichte Gottes mit seinem Volk eine Zukunft haben soll – dann kann dies nur geschehen, wenn die gemeinsame, auch schmerzliche, Vergangenheit nicht außen vor bleibt. Neues Vertrauen und neue Beziehung kann nur dort entstehen, wo auch Raum ist für die Klage und Trauer über die Verletzungen der Vergangenheit. Zugleich wird die Darstellung allerdings so akzentuiert, dass deutlich wird, dass die unmittelbare Todesbedrohung, die insbesondere in Klgl 2 und 4 viel Raum einnahm, überwunden wurde und einem Zustand kontinuierlicher Schmach und Entwürdigung gewichen ist. Zum zweiten wird die Differenz zwischen der je eigenen, auch gegenwärtigen, Schuld und der Schuld der Vorväter, die ursächlich war für das Gericht Gottes, eingeführt. Durch diese Differenzierung wird es möglich, zum anhaltenden Zorn Gottes eine differenziertere Haltung zu entwickeln, als dies z. B. in Klgl 4 der Fall war. Während dort aufgrund des Ausmaßes des Gerichtes relativ »mechanisch« auf eine übergroße Schuld geschlossen wurde (V 6a: ‫ויגדל עון בת־עמי מחטאת סדם‬ und es war größer die Schuld der Tochter ›Mein Volk‹ als die Sünde Sodoms), kann in Klgl 5 das Gericht zugleich in seinem historischen Ausmaß als angemessen akzeptiert werden, doch in seinen bis in die Gegenwart reichenden Folgen als unverständlich hart und ungerecht. Dies wird anschließend zum Anlass genommen, die unerträgliche Gegenwart auf die Zukunft hin zu problematisieren. Statt eines Wie lange noch?, aus dem zumindest die Zuversicht in die Endlichkeit des aktuellen Zustands spricht, findet sich ein Warum noch immer?, aus dem in erster Linie Unverständnis spricht. Hier zeigt sich die gewandelte Perspektive von Klgl 5 im Vergleich zu Klgl 3: In der dortigen Paränese argumentierte der Mann dafür, geduldig auf ein Verebben des göttlichen Zornes zu warten, und schon das eigene (Über)Leben als Gnadenerweis Gottes aufzufassen. Die damit auch in der aktuellen prekären Situation erkennbaren ‫ רחמים‬Erbarmungen sind der sachliche Grund dafür, dass es plausibel und angemessen ist, die eigene Verantwortung am jetzigen Zustand anzuerkennen und damit dann auf die erneute Zuwendung Gottes vertrauen zu können. Teile dieser Argumentation wurden schon in Klgl 4 in Frage gezogen. Vor dem Hintergrund der grausigen Zustände in der belagerten Stadt ging die Plausibilität

Fazit: Das Programm der Klgl – ein Interpretationsvorschlag

243

eines Was klagst du, wo du am Leben bliebest!?, wie es Klgl 3,39 deutlich machte,654 verloren. Stattdessen antwortet Klgl 4,9, dass diejenigen es besser getroffen hatten, die eines schnellen Todes starben als diejenigen, die langsam und qualvoll dahinsiechten. In Extremsituationen, so Klgl 4,9, ist schlichtes Leben nicht automatisch ein Selbstzweck (mehr). Damit gerät aber eine der Prämissen der Argumentation von Klgl 3 in Zweifel: Wenn reines Überleben eben nicht mehr automatisch als Gnadenerweis angesehen werden kann, gerät auch die Zuversicht, dass ein Umkehren und Anerkennen der eigenen Sünde die erneute Zuwendung Gottes zur Folge hat, ins Wanken. Klgl 5 thematisiert diesen Punkt in V 21f. In der Formulierung ‫השיבנו יהוה אליך‬ ‫ ונשוב‬Kehre uns, JHWH, dir zu, so kehren wir um! kommt zum Ausdruck, dass die Zuversicht, durch eigenes Umkehren, eigene Reue, das Gottesverhältnis maßgeblich mit beeinflussen und neu auszureichen zu können, nicht mehr besteht. Vielmehr ist auch hier jeweils das vorherige Vergebungshandeln Gottes notwendig – welches sich aus der anhaltend schmachvollen Gegenwart nicht ablesen lässt. Damit ist die Diskussion geöffnet, die Zukunft in den Blick zu nehmen.

5.3

Fazit: Das Programm der Klgl – ein Interpretationsvorschlag

Wie in Kap. 3.3 vermutet, präsentiert sich das Programm der Klgl weniger als eine einheitliche Gesamtbotschaft, in der die einzelnen Texte wie Kapitel eines Romans ihren jeweiligen Teil beitragen. Stattdessen haben wir es mit nach wie vor eigenständigen Texten zu tun, die allerdings in vieler Hinsicht sinnvoll aufeinander bezogen werden können, und in denen durch vielfältige Weise ein dichtes Netz intertextueller Bezüge angelegt ist. Dadurch ist es Rezipient*innen möglich, die Lieder als jeweils eigenständige Stimmen bzw. Positionierungen im Rahmen einer theologischen Diskussion aufzufassen, die sich mit der Frage nach den Grenzen eines gerechten Gerichtes beschäftigt. Innerhalb dieser Diskussion kommen den einzelnen Liedern gleichwohl unterschiedliche Funktionen zu, so dass sich in der Textabfolge eine nachvollziehbare argumentative Entwicklung ergibt. Klgl 1 eröffnet das Buch. Das Lied führt in das Thema ein, etabliert den historischen Bezugsrahmen und das im Folgenden für Kohärenz sorgende dramatische Setting. Es bietet Hintergrundinformationen zum Geschehen und ordnet das Gericht Gottes theologisch als Reaktion auf die Sünde des Volkes Israel ein. Das Lied etabliert mit Sprecher und Zion zwei wichtige Figuren, die den 654 Vgl. Berges (2002), 212: »Anstelle sich über die Lebensumstände zu beklagen, sollte man sich freuen, überhaupt mit dem Leben davongekommen zu sein.« Ähnlich Koenen et al. (2015), 264–266.

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Zweiter Zugriff: Die Programmatik des Buches der Klagelieder

Konflikt – die empirische Erfahrung eines unverständlich gewalttätigen Gerichts vs. die theologische Glaubenswahrheit eines gerechten Gottes – explizieren und im weiteren Verlauf unterschiedliche Bewältigungsstrategien verfolgen. Inhaltlich-motivisch legt Klgl 1 Wert darauf, die erhebliche Schuld Zions festzustellen und somit das Ausmaß des Gerichts zu legitimieren. Das Gericht wird als personale Züchtigung der Frau Zion dargestellt und somit einerseits individualisiert und – insofern die gestrafte Zion ja nach wie vor am Leben ist und klagen kann – in seinem Ausmaß relativiert. Klgl 2 kommt daraufhin die Funktion einer Konfliktverschärfung zu. Ausführlich wird das brutale, jedes vernünftige Maß vermissenlassende Gericht geschildert. Dabei liegt der Fokus einerseits auf der kriegerischen Gewalt gegenüber der Stadt, andererseits auf den Konsequenzen für die schwächsten und unschuldigsten Stadtbewohner*innen, die Kinder und Säuglinge. Durch die gleich bleibenden Figuren und das beibehaltene dramatische Setting ist Klgl 2 problemlos als Fortsetzung von Klgl 1 lesbar. Sowohl der Sprecher als auch Zion machen im Verlauf von Klgl 2 eine innere Entwicklung durch, die die Position von Klgl 1 problematisieren. Der Sprecher entwickelt sich in Klgl 2 zu einem solidarischen und mitfühlenden Beistand Zions, der versucht, ihr Trost und Rat zu geben. Damit gibt er die unpersönliche und distanzierte Beobachterperspektive von Klgl 1 auf. Zion macht ihrerseits eine Entwicklung durch von demütig seufzender Weinenden hin zu einer ohne Furcht das Ausmaß und die Gewalt des Gerichts anklagenden Mutter. Die eigene Schuld spielt fast überhaupt keine Rolle – dagegen führt in der Darstellung von Klgl 2 das unverständliche Ausmaß des Gerichts dazu, dass Gott gleichsam beschädigt zurückbleibt und seine Nähe nur noch als Feindseligkeit erfahren werden kann. Zum Ende scheint zumindest für Zion klar: Gott ist ihr zum Feind geworden. Klgl 3 soll dieser radikalen Zuspitzung etwas entgegnen. Hierzu wird eine neue Figur eingeführt: ein ansonsten anonym bleibender Mann. In einem ersten Abschnitt betont er die Ähnlichkeit seines Erlebens mit der Situation Zions. Wie sie, sieht er sich vom göttlichen Zorn verfolgt. Dominierte in Klgl 2 das Bild von Gott als Feind, so erscheint er in Klgl 3 einmal als pastor malignus, der den Mann nicht in Sicherheit, sondern geradewegs ins Verderben führt, einmal als reißendes Raubtier. Damit etabliert sich der Mann als eine Figur, die aus einer vergleichbaren Situation und vor dem Hintergrund vergleichbarer Erfahrungen wie Zion spricht. Allerdings bleibt er nicht bei der radikalen Kritik Zions aus Klgl 2 stehen. Stattdessen macht er deutlich, dass eine Kritik, die Gott gleichsam mit abzuwickeln droht, ihr produktives Potential verspielt. Stattdessen entwickelt der Mann ein »Verhaltensprogramm« für den Umgang mit dem fortwährenden göttlichen Zorn, das von Demut und Hoffnung und Vertrauen in eine zukünftige Wiederzuwendung Gottes geprägt ist und damit das Gottesverhältnis intakt lässt. Durch diese innere Wende ist eine Neubewertung des Geschehens

Fazit: Das Programm der Klgl – ein Interpretationsvorschlag

245

möglich. Der Mann wird befähigt, einerseits die eigene Verantwortung an seinem jetzigen Zustand zu erkennen, andererseits wieder zu einem Vertrauensverhältnis zu Gott zu finden. Klgl 4 setzt dieser theologischen Lösung die grausame Realität während der Belagerung der Stadt entgegen. Es zeichnet das Bild einer Bevölkerung, die keine Kraft mehr hat für Mitmenschlichkeit, einer Gesellschaft, der Solidarität und Mitgefühl abhanden gekommen sind. Die Position von Klgl 3, nämlich trotz der bedrückenden Gegenwart auf die zukünftige Gnade Gottes zu vertrauen und somit einen Selbstvollzug üben, der die aktuelle Lage als Gelegenheit der Selbstprüfung auffasst, wird also an der konkreten Realität des Gerichts gemessen. Dabei wird deutlich, dass eine »Hoffnung wider besseren Wissens« nur insofern und so lange möglich ist, wie der unbedingte Wille zum Leben nicht durch unmenschliche Qualen und Entbehrungen verloren gegangen ist. Die Schilderung von Klgl 4 macht deutlich, dass die Mittelsektion von Klgl 3 in der Gefahr steht, als »abgehobene Theologie« zu erscheinen und keinen nachvollziehbaren Bezug zur Realität der Betroffenen unter dem Zorn Gottes zu haben. Klgl 5 greift diese Argumentation auf und zieht aus ihr die Konsequenzen für die Gegenwart und Zukunft des Gottesverhältnisses. Die Situation in Jerusalem, so macht das Lied deutlich, ist nach wie vor bedrückend. Zwar liegt das Gericht mittlerweile so sehr in der Vergangenheit, dass die Väter, deren Sünde es überhaupt erst ausgelöst hatten, inzwischen verstorben sind, doch ist der Zorn Gottes nach wie vor tägliche Realität. Die anhaltende Schmach der Erniedrigung durch Fremde und Besatzer verdeutlichen das immer noch zweifelhafte Gottesverhältnis. Die Position des geduldigen Harrens auf eine Besserung in der Zuversicht der je-größeren Güte und Barmherzigkeit Gottes hat nicht zum Erfolg geführt. Sie war für die Zeit des konkreten Gerichts von fraglicher Anwendbarkeit und führte auch für die nachfolgenden Generationen nicht zu einer »Bereinigung« des Gottesverhältnisses. Aus dieser Gegenwartsbeschreibung zieht das Lied mit aller Konsequenz die theologische Schlussfolgerung: Es ist nicht mehr klar, ob JHWH überhaupt noch gewillt ist, das Verhältnis zu seinem erwählten Volk zu heilen. Die Zuversicht von Klgl 3 hat sich – zumindest in der dortigen Pauschalität – als verfrüht erwiesen. Es ist neu, je-individuell und für die Zukunft zu prüfen, ob weitere Hoffnung sinnvoll erscheint, oder ob hinsichtlich der Erwählung Israels nicht ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vorzuziehen ist. Damit ist die Diskussion des Buches auf die Zukunft hin geöffnet und jede*r einzelne Hörer*in ist aufgefordert, eine eigene Position zu entwickeln. Klgl 5 markiert ein plausibles Ende des Buches – nicht nur in formaler Sicht, sondern auch inhaltlich. Die einzelnen Lieder des Buches haben zu der im Raum stehenden Frage verschiedene Standpunkte vertreten: Klgl 1 machte die Verantwortung Zions am Gericht stark, Klgl 2 stattdessen die Unverhältnismäßigkeit

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Zweiter Zugriff: Die Programmatik des Buches der Klagelieder

des Gerichts. Klgl 3 versuchte zu vermitteln, und Klgl 4 und 5 kontrastierten diesen Vermittlungsversuch wiederum mit der historischen und aktuellen Realität des bis jetzt andauernden Gerichts. Keine der Standpunkte behält das letzte Wort – alle haben ihre jeweilige Berechtigung und dienen den Rezipient*innen als Ausgangspunkte für eine eigene Meinungsbildung. Dass es zu dieser eigenständigen Meinungsbildung kommt, kommen muss – dafür sorgt der Schluss des Buches, der aus der Frage besteht, ob Gott Israel für immer verworfen hat. Die einzige Sicherheit, so die abschließende Botschaft von Klgl 5, besteht in radikaler Unsicherheit.

6

Dritter Zugriff: Die Klgl als programmatischer Diskurs über die Grenzen eines gerechten Gerichts

In den bisherigen Kapiteln wurde anhand von Einzelbeobachtungen die These gestärkt, dass dem Buch der Klgl ein Programm zugrunde liegt, man es mit einem Textarrangement zu tun hat, das einem inhaltlichen Interesse folgt. Im vorangegangenen Kapitel wurde hierzu ein Interpretationsvorschlag entwickelt, der allerdings noch einmal zusammenfassend am Text nachzuvollziehen ist. Dies ist das Ziel dieses Kapitels. Zu den einzelnen Liedern werden jeweils exegetische Beobachtungen gesammelt, die die Erkenntnisse der bisherigen Kapitel mit einbeziehen und in den Kontext der vorgeschlagenen Gesamtdeutung stellen. Zu jedem Lied werden diese Beobachtungen dann zu einer Erörterung der Programmatik des Liedes im Kontext des Buches zusammengefasst. Dabei ist Vollständigkeit weder möglich noch gewünscht. Diese Zweiteilung hat zwei Gründe. Zum einen ist es »gute Tradition«, den einzelnen Liedern eine nachvollziehbare Anlage, einen klaren Gedankengang abzusprechen.655 Vor dem Hintergrund der hier verfolgten Gesamtthese sollte das doch verwundern. Wenn dem Buch ein inhaltliches Programm zugrunde liegt, wäre es erstaunlich, wenn die einzelnen Lieder sich eher assoziativ und chaotisch präsentierten. Zum anderen kann so das komplementäre Verhältnis zwischen Einzeltextexegese und Buchlesung angedeutet werden. Wie in Kap. 3 deutlich 655 Eine Auswahl: »Ohne daß in Thr 1 überhaupt eine sinnvolle Gedankenfolge oder ein planmäßiger Aufbau maßgebend wäre …« (Kraus [1983], 27); »Die fünf Zeilen zwischen den sinngleichen Versen 9c und 11c lassen keinen sinnvollen Zusammenhang erkennen.« (Westermann [1990], 115); »The patterned repetition of the alphabet helps hold together the otherwise scattered and chaotic lyrics.« (Dobbs-Allsopp [2002], 18); »Wenn in dem Kapitel auch kein stringenter Gedankenfortschritt zu erkennen ist, so hat es doch einen klaren Aufbau.« (Boecker [1985], 22); »Lam 1 lacks a certain logic and development: the poet appears to snatch at diverse subject matter and produce non-sequiturs, even within individual verses.« (Salters [2000], 293); »The rigidity of the various acrostic schemes limits and shapes material that runs the risk of being monotonous and of lacking any clear progression of action or thought.« (Hillers [1992], 27); »Die Gedankenführung des Lieds ist nicht streng logisch, und Wiederholungen fehlen nicht. Aber es handelt sich ja nicht um einen »objektiven« historischen Bericht, sondern um den Erguß eines gequälten Menschenherzens, dem alles zerschlagen ist, woran es hing.« (Rudolph [1962], 215).

248

Dritter Zugriff: Die Klgl als programmatischer Diskurs

wurde, wird in Teilen der Psalter- und Dodekaprophetonexegese gerade das bislang weitgehend ungeklärte Verhältnis von Einzeltext und Buch als problematisch empfunden. Das vorliegende Kapitel soll verdeutlichen, wie sich beide Perspektiven bereichern statt sich überflüssig zu machen.

6.1

Klgl 1 – Ouvertüre und Problemexposition

Die Ouvertüre einer Oper dient mehreren Zielen. Sie markiert den Beginn der Vorstellung und soll die Aufmerksamkeit des Publikums zur Bühne hinlenken. Inhaltlich stimmt sie die Hörer*innen auf die kommende Darstellung ein und führt zum Teil die wichtigsten musikalischen Leitmotive ein. Die Ouvertüre malt mit musikalischen Mitteln gleichsam das Setting, in dem sich die nachfolgende Handlung entwickelt und gibt erste Interpretationshinweise. Wenn man Klgl 1 mit dem Begriff »Ouvertüre« in Verbindung bringt, dann drückt das eine Erwartungshaltung aus, derzufolge das Lied die Motive einführt, die dann in den weiteren Liedern im Rahmen der weiteren Darstellung und Diskussion verwendet werden. Zudem impliziert sie, dass Strukturierungen und Vorentscheide geboten werden, die die nachfolgenden Entwicklungen präformieren und erste Wertungen vornehmen. Dass der Vergleich zur Opernouvertüre gleichwohl nicht überstrapaziert werden darf, ist vor dem Hintergrund der vorangegangenen Kapitel offensichtlich. So ist z. B. die Personifizierung Zions in Klgl 1 am prägnantesten – jedoch ist eine Opernouvertüre eine orchestrale Einführung, verzichtet also gerade auf die darstellerischen Mittel eines Chores oder sonstiger Figuren. Zudem ist das Programm des Buches nicht analog einer Oper als Plot beschreibbar, sondern hat eher den Charakter einer Argumentation, die in fünf Texten mit je eigenständigen Positionen entwickelt wird. Trotzdem beschreibt der Begriff recht gut den Eindruck und die Erwartung, dass Klgl 1 nicht einfach nur im Buch »vorne« steht, sondern diese Anfangsposition auch inhaltlich ausfüllt.

6.1.1 Gliederung Die Gliederung von Klgl 1 kann von der deutlich erkennbaren Zweiteilung des Liedes ausgehen.656 Sie greift zudem auf die von Renkema (und in seiner Nachfolge auch Berges) vertretene Gliederung in Strophen (und darauf aufbauende 656 Die inhaltliche Zweiteilung von Klgl 1 und den meisten der folgenden Lieder wurde schon früh gesehen (Condamin [1906]). Dies als fact half und interpretation half zu deuten (Johnson [1985]), geht jedoch in die Irre.

249

Klgl 1 – Ouvertüre und Problemexposition

Einheiten wie Stanzen und Sektionen) zurück,657 die im Vergleich zu Kommentierungen, die nur sehr grobe voneinander abgegrenzte inhaltliche Blöcke unterscheiden, oder Gliederungsversuchen, die auf gattungskritischen Erwägungen beruhen, substanzielle Erkenntnisgewinne bringen. Wenn die Markierung der Mitte des Liedes in V 12 allgemein akzeptiert ist, fällt die Untergliederung der beiden Sektionen leicht. Während Zion in V 1–6 eher als politische Entität im Blick ist, ist in V 7–11 eher das Sünden- und Schuldthema, in enger Verbindung mit dem Motiv »Scham/Schande« und persönlichem Elend, vorherrschend. Die in den V 1–6 noch relativ häufigen Hinweise auf städtische Infrastruktur und politische Realitäten, treten in V 7–11 fast vollständig zurück zugunsten einer zunehmenden Personifizierung der Stadt. In der ersten Stanze können V 1–3 nochmals von V 4–6 unterteilt werden: In V 1–3 ist mit dem Hinweis auf Provinzen, Völker, das in die Verbannung ziehende Juda, sowie die »Freunde«658 eine eher makropolitische Sicht vorherrschend, während in V 4–6 mit dem Blick auf die Straßen und Tore Jerusalems, sowie dem Fokus auf das Schicksal der Stadtbewohner eher eine Binnensicht dominiert. Zudem findet sich in V 1.3 die Motive der unter den Völkern sitzenden Frau sowie des ihr auferlegten Frondienstes, die V 1–3 rahmend umschließen. Ähnlich finden sich in V 4.6 die Titel ‫ ציון‬bzw. ‫ – בת־ציון‬in der ersten Sektion überhaupt das einzige Mal.

Stanze I (V 1–6) Stanze II (V 7–11)

Stanze III (V 12–16) Stanze IV (V 17–22)

1. Sektion: V 1–11 Sub-Stanze (V 1–3) Sub-Stanze (V 4–6) Sub-Stanze (V 7–9) Sub-Stanze (V 10–11) 2. Sektion: V 12–22 Sub-Stanze (V 12–14) Sub-Stanze (V 15–16) Sub-Stanze (V 17–19) Sub-Stanze (V 20–22)

(3 + 3) Strophen (3 + 2) Strophen (= 11 Strophen)

(2 + 3 Strophen) (3 + 3 Strophen) (= 11 Strophen)

Übersicht 16: Gliederung von Klgl 1

Die zweite Stanze ist ebenfalls noch einmal unterteilbar: Während die V 10–11 einerseits durch die Einwürfe Zions in V 9c.11c, die zweifachen Hinweise auf die 657 Grundlegend dazu Korpel et al. (1986). 658 Thompson (1977).

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»Kostbarkeiten« in V 10a.11b, wie auch den thematische Fokus auf Tempel und Bevölkerung inhaltlich zusammengebunden werden, werden die V 7–9 durch das Stichwort ‫ זכר‬und das in den V 8–9 vorherrschende Thema Sünde/öffentliche Zur-Schau-Stellung zusammen gehalten. In der zweiten Sektion bildet V 17 eine deutliche Zäsur, die die Verse in V 12– 16.17–22 unterteilt. Auch der Einwurf in V 20, der die zweite Stanze in zwei SubStanzen V 17–19.20–22 gliedert, ist klar erkennbar. Gegen Berges und Renkema, die die V 12–16 beide in V 12–13.14–16 gliedern,659 wird hier die Gliederung in V 12–14.15–16 vertreten: Die V 12–14 sind geprägt vom Motiv der Kraftlosigkeit und Verfolgung, die sich in diesen drei Versen ausschließlich auf Frau Zion beschränkt, während V 15–16 erneut die Bewohner (meine Starken, meine Kinder) in den Mittelpunkt stellt.

6.1.2 Exegetische Anmerkungen Dass Kraus und Boecker gerade in Klgl 1 keinen stringenten Gedankenfortschritt, ja nicht mal eine klare Gliederung zu erkennen vermögen (s. o. Anm. 655), ist einigermaßen erstaunlich, ist es doch das am sorgfältigsten konzipierte und ausgewogenste der Lieder. Schon in der ersten Zeile werden wichtige Hinweise auf den weiteren Verlauf gegeben: Mittels der Formulierung ‫ ישבה … העיר‬Es sitzt … die Stadt wird die Personifizierung der Stadt vorbereitet (vgl. die Ausführungen zur Etablierung der Personifizierung Zions in Kap. 5.1). Der zweite wichtige Hinweis erfolgt durch den Begriff ‫ בדד‬einsam. ‫ בדד‬trägt sowohl positive wie auch negative Konnotationen: Während es einerseits den Zustand des ausgestoßenen Aussätzigen beschreibt (Lev 13,46), kann es auch den unbehelligten Zustand Israels meinen (Num 23,9; Dtn 33,28).660 Die Kombination mit ‫ איכה‬Ach! macht zwar deutlich, dass hier die erste Bedeutung intendiert ist, jedoch wird die im Bileam- und Mosesegen vorherrschende Perspektive des unbehelligten Weilens im Lande in den nächsten Zeilen aufrechterhalten. Zugleich wird der Begriff in Klgl 3 im Rahmen der weisheitlichen Unterweisung wieder aufgegriffen: In 659 Renkema (1988a), 301; Berges (2002), 91. 660 Alleinsein an sich ist für den antiken Menschen ein widernatürlicher Zustand. Zu bestimmend ist das soziale Gefüge und die Verortung seiner selbst darin. Damit ist die Dichotomisierung des Begriffs vorgezeichnet: Im positiven Sinne ist das Alleinwohnen Israels gleichbedeutend mit einer Sicherheit, die sich aus eigener Kraft und Stärke speist (Zobel. [1973a], 513) – und zwar wegen der Erwählung durch JHWH (ebd., 517). Negativ gewendet kommen dem Begriff dann Konnotationen wie »Verlassenheit«, »Einsamkeit« usw. zu (Mi 7,14; Jes 27,11 u. ö.), also im sprichwörtlichen Sinne unsoziale Zustände (ebd.; vgl. auch Lev 13,46: Der Aussätzige wohnt »abgesondert/allein/außerhalb des Lagers«). Nach Zobel sprechen die relativ jungen Belege dafür, dass es sich hierbei um eine übertragene, sekundäre Redeweise handelt (ebd., 514).

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Klgl 3,28 formuliert der Mann: ‫ ישב בדד וידם יכ נטל עליו‬Er sitze einsam und schweige, denn er hat es ihm auferlegt. Im willigen Ertragen des Abgesondertseins findet der Mann einen konstruktiven Zugang zum Fortdauern des göttlichen Gerichts.661 Die gerade in Klgl 1 vorherrschende Personifizierung der Stadt wird in V 1b durch den Vergleich mit einer Witwe untermauert. In den folgenden Versen wird durch den in Kap. 5 beschriebenen Wechsel von Stärkung und Schwächung der personalen Perspektive Zions erreicht, dass Zion in ihrer schillernden Doppeldeutigkeit als Stadt-Frau im Bewusstsein bleibt.662 Noch ein weiterer Hinweis findet sich schon in V 1: ‫ מס‬Frondienst. »Die Israeliten verabscheuten ihren mas in Ägypten und betrachteten die Befreiung daraus als JHWHs größte Tat in der Geschichte.«663 Wenn hier nun die eigene Geschichte zur Fron geführt hat, verdeutlicht das nicht nur den Fall Israels,664 es weist auch schon auf das später noch breiter entfaltete Thema des unsicher gewordenen Status Israels’ Erwählung voraus. Dieser Gedankengang wird dann später in V 3 aufgenommen. Die ‫ מנוחה‬Ruhe, die Juda nicht finden kann, ist eines der zentralen Versprechen der Landverheißung (Dtn 3,20; 12,9f.; 25,29; Jos 21,44; 2Sam 7,1; Ps 95,11); in Ps 132,14 ist Zion der Ort, den JHWH zu seiner Ruhestätte auswählt. In den Fluchsprüchen von Dtn 28 wird Israel nicht nur die Zerstreuung unter die Völker angedroht, sondern auch, dass sie keine Ruhe unter ihnen finden werde (vgl. Dtn 28,64f.). Die Botschaft daraus ist deutlich: Das, was bei intaktem Gottesverhältnis den Feinden Israels drohte, ist nun für sie selbst zur Realität geworden.

661 Vgl. Helberg. (1973), 30. 662 So kehrt V 2 mit seinen Hinweisen auf nächtliches Weinen, Wangen, Tränen und Freunde die figürlichen Aspekte stark hervor. V 3 weitet den Fokus von Stadt (V 1) und Frau (V 2) auf das gesamte Land Juda aus, und zieht mit den Ausdrücken sitzt unter den Völkern und ging in Verbannung aus … schwerer Knechtschaft den Bogen zurück zu V 1. V 4 beschreibt die Wege der Stadt als trauernd, ihre Priester als seufzend, ihre Jungfrauen betrübt und ihr (Zion) selbst als verbittert. Die Personifizierung der Stadt findet hier gar ihre Entsprechung in der Anthropomorphisierung der städtischen Infrastruktur. Die folgenden Verse (ihre Kinder, ihre Fürsten, ihr Volk; es gedenkt Jerusalem) evozieren das Bild von Zion als Mutter, und ab V 8 ist Zion die öffentlich beschämte, in V 10 dann vergewaltigte Frau. Seidman (1994), 384 spricht daher nicht unberechtigt von der »city-woman«. Ausdrücke wie »die personifizierte Stadt« sind insofern problematisch, als dass sie einen Aspekt als grundlegend ansehen, einen anderen demgegenüber als darauf aufbauendes poetisches Mittel. Klgl 2,18: Mauer der Tocher Zion, lass herabstürzen wie ein Wadi die Tränen! macht deutlich, dass derartige Zuordnungen nicht weiterführen. Beide Aspekte stehen gleichberechtigt nebeneinander. 663 North (1984) 1008. 664 ‫ מס‬wird in Dtn 20,11 denjenigen Städten verheißen, die bei einem Angriff Israels einer friedlichen Konfliktlösung zustimmen (vgl. Ri 1,28ff.). Mit anderen Worten: »Die Fron, die Jerusalem als königliche Hauptstadt einst von den Provinzen einforderte, muss sie nun selbst für die neuen Machthaber leisten.« (Berges [2002], 98).

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Der Vergleich mit einer Witwe in V 1b, der besonders auf die mit diesem Begriff konnotierte soziale Not, den damit einhergehende Statusverlust und daher besondere Schutzbedürftigkeit abhebt,665wird in V 2 weiter auf der figürlichen Ebene intensiviert. Hinweise auf Tränen, Augen, nächtliches Weinen tragen dabei nicht nur zu einer intensivierten Personifizierung bei, sondern signalisieren auch das Bedürfnis nach Nähe und Trost.666 Dies wird durch die Aussage ‫ אין־לה מנחם‬es gibt für sie keinen Tröster noch dahingehend verstärkt, dass das Nichtvorhandensein eines Trösters eigentlich ein Unding ist.667 Dass dieser Tröster zudem nicht aus dem Kreis ihrer Freunde gefunden werden kann (‫)מכל־אהביה‬, gibt einen ersten subtilen Hinweis auf die Ursachen der Not. Häufig werden politische Verbündete als Freunde und Nachbarn bezeichnet – dies auch in negativem Sinne (Hos 8,8f.; Jer 2,25.33–36; 22,20–23; Ez 16,33–39 u. ö.).668 Damit lässt sich in der ersten Sub-Stanze ein gewisses konzentrisches Muster erkennen: Sowohl in V 1 als auch V 3 ist vom Verweilen (V 1a: ‫ – ישבה … העיר‬V 3b: ‫ )יהודה … ישבה‬unter den Völkern bzw. in Einsamkeit (V 1a: ‫ – בדד‬V 3b: ‫ )בגוים‬die Rede; in beiden Versen wird der Verlust von sozialem Status und Ansehen betrauert, Fronarbeit und Knechtschaft angesprochen. Diese thematisch-lexematische Rahmung wird in V 3 dabei noch um die Momente Verbannung und Verfolgung gesteigert. Zentral dazu steht die Darstellung der weinenden Frau Zion in V 2. Inhaltlich ist ein Dreischritt zu erkennen: Während im ersten Vers die Gegenwart der vereinsamt sitzenden Stadt beschrieben wird, schildert V 2 die Ursache: Ihre Nachbarn und Freunde handelten treulos an ihr, gaben sich damit als Feinde zu erkennen und standen ihr nicht bei. Dies äußerte sich in V 3 dann in Verbannung und Verfolgung.669 Schon die erste Sub-Stanze macht somit keinesfalls den Eindruck einer ungeordneten Darstellung. 665 So schon Cohen (1973), 78–81 und Hiebert (1989), 130. Auf der anderen Seite führte diese rechtlich prekäre Lage (»aktive Rechtsunfähigkeit«: Kaiser [1992], 122) auch zu einem besonderen Gottesschutz (ebd., 122 Anm. 57). Es war naheliegend, dass die Witwe innerbiblisch damit »zum Sinnbild geworden ist für ein elendes und zugleich schmachvolles (Jes 54,4), vereinsamtes und damit schutzlos preisgegebenes Dasein, dem (als Frauen personifizierte) Städte oder ganze Völker ausgesetzt sind, wenn sie eine militärische Katastrophe ereilt hat.« (Schottroff [1992], 73; Herv. i. Orig.). 666 Bosworth (2013a), 230. 667 Nach Anderson (1991), 84 ist es rituelle Pflicht für Freunde und Verbündete, die Trauer zu teilen, sowie den bzw. die Trauernde zu trösten. Wer dieser Pflicht nicht nachkam, gab sich als Feind zu erkennen (ebd., 94). 668 Grundlegend hierzu Thompson (1977), 477, dessen These durch die Untersuchungen von Ackerman (2002) auf eine allgemeinere Basis gestellt wird. Auch in politischen Beziehungen ist das Trösten Bestandteil der gegenseitigen Bundespflichten. So Schickt David ‫םנחמים‬ Tröster zum Ammoniter Hanun, als dessen Vater Nahasch gestorben war, um diesen von seiner fortbestehenden Bündnistreue zu überzeugen (2Sam 10,1–5). Vgl. Artzi (1980) für eine Diskussion antiker Trauerbekundungen als Mittel transnationaler Diplomatie. 669 Nach Salters (1986), 86, Salters (2010), 41–43 handelt es sich hier nicht um einen Bericht der Exilierung nach Babylon, sondern der Flucht der ländlichen Bevölkerung in die Nachbar-

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In den V 1–3 war die Rede von Völkern, Provinzen, Juda – in der zweiten SubStanze wendet sich die Darstellung nunmehr der Stadt zu. Interessanterweise wird erst hier die in V 1a eingeführte Stadt überhaupt namentlich identifiziert. Analog zur ersten Sub-Stanze ist auch hier ein Dreischritt der Form Zustand – Ursache – Folge erkennbar: Die trauernden Wege und verödeten Tore und die trauernde Bevölkerung aus V 4 beschreiben die Gegenwart, V 5 liefert mit dem Hinweis auf die ‫רב־פשעיה‬, die Vielzahl ihrer Verbrechen, eine Begründung dieses Zustandes und V 6 beschreibt die daraus resultierende Folge einer Eroberung durch Feinde, die in Verfolgung und Exilierung endet.670 Die eher »politische« Perspektive der ersten Sub-Stanze bleibt hier noch erhalten: Auch wenn mit Priestern, Jungfrauen, den Kinder Zions konkrete Bevölkerungsgruppen der Stadt benannt werden, liegt der Fokus in V 4 darauf, dass die Stadt ihre Funktion als nationales Kultzentrum verloren hat, und in V 5–6, dass die Stadt zum Opfer von Verfolgung und Heimsuchung politischer Feinde geworden ist. Die Übersetzungen von ‫ פשע‬in V 5 reichen von einem relativ temperierten Vergehen über Frevel, welches die aktive und bewusste Missachtung heiliggehaltener Normen konnotiert, bis hin zu Sünden, was eine Differenz zu ‫ חטא‬dann sprachlich nicht mehr erkennen ließe. Im Gegensatz zu ‫חטא‬, das auch unbewusst begangene Sünden bezeichnen kann (Gen 20,9; Num 22,34; sowie Lev 4.5), spielt eine bewusste Gesinnung beim ‫ פשע‬jedoch geradezu die entscheidende Rolle; der Begriff ist somit der stärkere von beiden.671 Die Übersetzung mit Frevel hat zwar die angemessene Schärfe, hebt aber unnötig auf eine religiöse Interpretation ab, die zwar ebenso möglich ist wie bei ‫ חטא‬und ‫עון‬, jedoch nicht automatisch mit konnotiert ist. Im Lesefluss ergibt sich an dieser Stelle ein denkbar großer Kontrast zwischen der Beschreibung trauernder Wege, seufzender Priester, betrübter Jungfrauen, kraftloser Fürsten und einer betrübten Zion, der Bitterkeit länder, die die Stadt dann einsam und verlassen zurückließen. Koenen et al. (2015), 41 sieht mit ‫ יהודה‬insbesondere die Bevölkerung des Landes angesprochen, ähnlich auch Berges (2002), 100. Frevel (2017), 95 fasst ‫ יהודה‬als geographische (und nicht nationale) Bezeichnung auf. Grundsätzlich ist allerdings fraglich, inwiefern die neuzeitliche Unterscheidung Stadt – Land im Alten Israel angemessen ist (Grabbe [2001]). Von daher hat die Auffassung von Bosworth (2013a), 220 einiges für sich, die in Juda lediglich eine poetische Variation zu ‫ העיר‬in V 1 sieht. 670 Zudem findet sich mit der Nennung von ‫ ציון‬in V 4 und ‫ בת־ציון‬V 6, wie auch mit dem Hinweis auf Zions ‫ הדרה‬Schmuck, eine rahmende Bezugnahme auf V 4. ‫ הדר‬bezeichnet mehr als weltlichen Schmuck und Prunk der Stadt oder ihre gesellschaftlichen Eliten; im Begriff schwingt jeweils auch die Konnotation der göttlichen Verleihung (Warmuth [1977], 361f.) mit. Damit verweist er auf die kultischen Anspielungen von V 4 zurück (vgl. hierzu ausführlich Frevel [2017], 96–99). 671 Gegen Berges [2002], 105, der die Differenz zwischen ‫ פשע‬und ‫ חטא‬darin sieht, dass erst in letzterem ein »radikaler Bruch im Verhältnis zu JHWH mitzuhören« sei. Nach Knierim (1965), 180 beschreibt allerdings eher ‫ פשע‬den »Grundvorgang einer bewußten, gemeinschaftsschädigenden Entzweiung«, der im vorliegenden Kontext von Bedeutung ist.

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zuteil ist, und der für diesen Zustand gelieferten Begründung, dass dies alles Konsequenz einer Vielzahl früherer Verbrechen sei. Die Kraftlosigkeit und Passivität des jetzigen Zustandes kontrastiert massiv mit dem im Begriff ‫ פשע‬angelegten Moment aktiven Bruches eines Gemeinschaftsverhältnisses. Zugleich ist dies einer der wenigen Stellen von Klgl 1, an der die aktive Rolle Gottes beim Vollzug des Gerichts herausgestellt wird. Ganz im Gegensatz zu Klgl 2, das aus dem Umstand kein Hehl macht, dass es Gott selbst ist, der im Land »wie eine Feuerflamme« wütete (Klgl 2,3c), steht in Klgl 1 das Handeln der Feinde und Bedränger im Vordergrund, die als eigenverantwortliche Akteure gezeichnet werden – und daher auch in V 22 gerechtfertigter Weise ebenfalls das Gericht verdienen. Mittels der Wurzel ‫ יגה‬betrüben, die darüber hinaus noch in Klgl 1,4.12; 3,32.33 auftaucht, und praktisch ausschließlich auf Menschen bezogen wird, wird hier eine Ausnahme gemacht. Inhaltlich wird damit zweierlei erreicht: Zum einen kann die Verantwortung Gottes an dem jetzigen Zustand auf diese Weise subtil in den Hintergrund gespielt werden. Zwar ist das Lied (wie sich in V 10 zeigen wird) nicht ohne kritische Töne an JHWHs Handeln, jedoch kann die damit zusammenhängende Frage der Gerechtigkeit und Verlässlichkeit Gottes in den Hintergrund gedrängt werden, wenn die Feinde und Gegner als weitgehend selbstverantwortlich Handelnde dargestellt werden. Zum anderen führt die Unterbelichtung des göttlichen Handelns in der ersten Sektion zu einem umso größeren Kontrast mit der intensivierten Darstellung der Heimsuchung Zions, die in V 15b.17c dann direkt als Rezipientin des göttlichen Zornes dargestellt wird. Insgesamt sind somit die ersten sechs Verse aus zwei konzentrisch angelegten Sub-Stanzen konstruiert, bei denen die zentralen Verse jeweils theologische Deutungen anbieten. Zugleich durchzieht die Verse ein fokussierender Effekt: Während in V 1 die Stadt noch im Kontext von Völkern und Provinzen genannt wird, ist in V 3 die Stadt und ihr unmittelbares Umland im Blick (V 4), entlang an seufzenden Priestern und betrübten Jungfrauen durch die Tore der Stadt. Diese Bewegung findet damit ein erstes Ziel, jedoch setzt sie sich im Prinzip bis V 10 und dem Eintreten der Fremden in das Heiligtum fort. Inhaltlich sind die beiden Sub-Stanzen analog konzipiert: die gegenwärtige Situation (V 1.4) wird in makro- und lokalpolitischer Hinsicht dargestellt. Der anschließende Vers (V 2.5) bietet jeweils in einem kurzen Rückblick eine Begründung für den gegenwärtigen Zustand (V 2: Freunde wurden zu Feinden; V 5: Vielzahl von Verbrechen). V 3.6 beschreiben dann jeweils die daraus resultierenden Konsequenzen (V 3: Exilierung Judas; V 6: Verfolgung/Gefangennahme Zions »Kinder« und Fürsten).672 672 Die Bezüge der jeweils korrespondierenden Verse gehen dabei noch weiter: V 1c: ‫– הותה למס‬ V 4c: ‫( והיא מר־לה‬vgl. Ex 1,14: Konnex von Fronarbeit und Bitterkeit); V 2a: ‫ – בכו תבכה‬V 5b: ‫ ;)יהוה( הוגה‬V 2b: ‫ – אין־לה מנחם‬V 5b: ‫ ;יהוה‬V 2c: ‫ – היו לה לאיבים‬V 5a: ‫ ;איביה שלו‬V 3a: ‫גלתה‬

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Auf äußerst subtile Weise werden dabei schon in der ersten Stanze inhaltliche Akzentuierungen vorgenommen, die interpretationsleitend für Klgl 1 als »hermeneutischem Tor«673 der Klagelieder sein werden: Zion wird als ehemalige Fürstin und Herrin, nunmehr zur Witwe degradiert, und ehemals von (politischen) Freunden umgeben, vorgestellt. In V 8.19 wird noch das Bild der Geliebten, zusammen mit der Konnotation der illegitimen Promiskuität, hinzukommen. Die anfänglich präsentierte Perspektive ist eine politische.674 Die evozierten Emotionen konnotieren Passivität und Trauer – und werden kontrastiert mit der radikalen Anklage einer Vielzahl früher begangener Verbrechen. Während in Klgl 2 die unbedingte Solidarität einer Mutter gegenüber ihren (ver)hungernden Kindern der Quell Zions Zorns sein wird, ist diese Perspektive hier nicht vorhanden. Die Verse appellieren nicht an die Emotionalität der Hörer*innen, sondern ihre Vernunft – und sind, noch bevor Zion das erste Mal selbst das Wort ergreift, nur zu gern bereit, die Schuld und Verantwortung für das erlittene Schicksal vollständig Zion selbst zuzuschreiben. Die dargestellte Passivität Zions erweckt damit den Eindruck eines unausgesprochenen Schuldeingeständnisses. Die zweite Stanze greift das Thema der eigenen Schuld, das in V 2.5 schon angedeutet wurde, und entfaltet es breiter. Erneut ist eine Zweiteilung erkennbar: Während V 7–9 das Schicksal Zions als öffentliche Bloßstellung und Beschämung vor ihren »Liebhabern« zeichnet, und damit auch hier eine Perspektive vorherrscht, die von der Dynamik aufgegebener bzw. verratener Loyalitätspflichten zwischen politischen Alliierten und Abhängigen bestimmt wird, geht es in V 10– 11 um das »menschliche Gesicht« der daraus folgenden Konsequenzen innerhalb der eroberten Stadt. Das Bild der öffentlich entblößten Frau aus V 8f. wird noch einmal aufgegriffen und mit den Nöten der Stadtbewohner kombiniert. V 7 fungiert dabei als Wegbereiter für V 8f.: Während ‫ זכר‬oftmals die »frühere Rettungsbereitschaft Gottes« in Erinnerung ruft,675 ist der Fokus des Gedenkens hier die Not und Unrast derer, die aus Zion flohen oder weggeführt wurden. Der damit evozierte Kontrast zwischen früherer Zuwendung Gottes und der nunmehr erfolgten Verfolgung und Verbannung wird in der folgenden zwei Zeilen noch ‫ – יהודה‬V 6a: ‫ ;ויצא מן־בת־ציון‬V 3b: ‫ – מנוח לא מצאה‬V 6b: ‫ ;שריה … לא־מצאו מרעה‬V 3c: ‫כל־רדפיה‬ ‫ – השיגוה‬V 6c: ‫וילכו … לפני רודף‬. Natürlich sind nicht alle Bezüge gleich stark, doch unterstützt ihre auffällige Häufung den kompakten Eindruck der ersten Stanze. 673 Frevel (2002), 127, Anm. 76. 674 Vor diesem Hintergrund ist auch der Vergleich von Zions ‫ שרים‬Fürsten mit Hirschen (‫ )איל‬zu deuten. Gleich Hirschen, die bei ihrer Aufgabe versagt haben, das Rudel zu Futter und Sicherheit zu führen, repräsentiert ihr kraftloses Stolpern ein vernichtendes Urteil über die politische Führung Israels (Labahn [2005], 84–86). 675 Berges (2002), 104. Vgl. Eising (1977), 575: »Gott steht … vielfach im Zielpunkt des innerlichen Geschehens, denn wo Menschen Subjekt des Gedenkens sind (100mal), geht dies 69mal auf Gott, auf dessen Heilshandeln für sein Volk u. ä.«

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intensiviert: Die ‫ קדם‬gilt im Exil als unbestimmte Vorzeit als »Ideal und Ziel neuer Hoffnung« (Ps 44,2; 55,20; Spr 8,2; Jer 30,20; 46,26 u. ö.).676 Die Kostbarkeiten, deren Verlust Jerusalem beweint,677 sind umfassend gedacht: zum einen die Insignien ihres Status als Metropole, daneben auch die Insignien, die ein ungetrübtes Gottesverhältnis darstellen (vgl. Ez 24,21: der Tempel ist die ‫מחמד‬ ‫ עיניכם‬die Freude eurer Augen), aber auch die Bewohner der Stadt als ihre »Kinder« (vgl. Ez 24,25). Über das Motiv der lachenden Feinde wird anschließend zur Frage eigener Schuld übergeleitet. Wie schon in V 5 wird auch in V 8 wenig Zweifel daran gelassen, wer das gegenwärtige Elend zu verantworten hat. Wurde die Schwere der Schuld Zions in V 5 durch die Formulierung ‫ על רב־פשעיה‬hervorgehoben, geschieht es in V 8 durch die Inf.-Abs.-Konstruktion ‫ חטא חטאה ירושלם‬schwer gesündigt hat Jerusalem. Der Konnex von Elendsschilderung in V 7 und nachfolgendem Hinweis auf die Sünde macht deutlich, dass die These, im Buch der Klgl werde das deuteronomistische Schuld-Strafe Schema infrage gestellt, nicht pauschal gelten kann.678 Klgl 1 zumindest setzt es geradezu voraus und hebt (anders als Klgl 2) gerade nicht auf das scheinbare Missverhältnis zwischen eigener Sünde und göttlicher Strafe ab.679 Stattdessen wird in Klgl 1 der deutliche Versuch unternommen, die Schwere der Schuld Zions zu betonen. Allerdings sagt die vergleichsweise hohe Präsenz des Themas nicht alles. Wie in Kap. 5 dargelegt, bleibt Klgl 1 auffällig unbestimmt, wenn es um die konkreten Ursachen der göttlichen Strafe geht. V 5 redet von der Vielzahl ihrer Verbrechen, V 8 von der Schwere ihrer Sünden. Später wird sich Zion über das ‫ על פשעי‬das Joch meiner Verbrechen beklagen. Doch worin die Verbrechen bestanden, erfährt man hier genauso wenig wie in V 22, wo Zion von all ihren Verbrechen (‫)כל־פשעי‬ spricht. Auch das dreimalige ‫ מרה‬trotzen (V 18.20[bis]) bezeichnet zwar einen bewussten und gravierenden Ungehorsam und ist z. B. bei Ez gleichsam das Charakteristikum des Hauses Israel (vgl. Ez 2,5.6.7.8[bis]; 3,9.26.27; 12,2 [bis].3.9.25; 17,12; 24,3; 44,6),680 doch zeigt dies ebenfalls, dass es sich um geprägte 676 Kronholm (1989), 1168. 677 Schäfer (2000), 136, erwähnt, dass der zu Flüchtigkeitsfehlern neigende Schreiber von 4QLam in V 17a anfangs begann, [‫ פרשה ירוש]לם‬zu schreiben, jedoch in der Mitte des Wortes seinen Fehler bemerkte, ‫ ירוש‬durchstrich und stattdessen das korrekte ‫ ציון‬setzte. In V 17c setzte er dann statt ‫ ירושלם‬fälschlich ‫ציון‬. Dies zeigt zum einen die weitgehende Austauschbarkeit beider Termini, zum anderen, dass die Verwendung des Eigennamens Jerusalem durchaus mit anthropomorphisierenden Aussagen wie »Jerusalem gedenkt/erinnert …« möglich war. Es ist somit unnötig, die Differenz von Zion und Jerusalem hier zu problematisieren. 678 Gottwald (1962), 52f. Nach Gottwald ist der problematische Punkt aus Sicht der Dichter, dass die Zerstörung Jerusalems nach dem aufrichtigen Versuch Israels, das Gottesverhältnis zu reformieren, stattfand. Kritisch Albrektson. (1963), 219–230, und Helberg (1990), 384. 679 Berges (2002), 103. 680 Schwienhorst (1986a), 8.

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Sprache handelt, die gerade nicht versucht, konkrete Sünden zu benennen (wie es z. B. in Klgl 2,14; 4,13 durchaus passiert). Wenn man zusätzlich bedenkt, dass in Klgl 1 die meisten Schuldbezichtigungen von Zion selbst kommen (Sprecher: V 5.8 vs. Zion: V 14.18.20[bis].22), lässt sich erahnen, dass die Darstellung der folgenden Verse, in der die Sünde Zions mit ihrer weiblichen Sexualität verbunden wird, ein bewusst eingesetztes Mittel ist, um die Aufmerksamkeit von Gottes Anteil am Gericht weg zu lenken.681 Mit V 8 vereindeutigt sich das bisher changierende Bild von Zion als Stadt und Frau zugunsten der Perspektive von Zion als weiblicher Figur. Bis auf vereinzelte Hinweise tritt Zion ab jetzt nur noch als Frau in Erscheinung. Zions Reaktion, ‫ נאנחה‬sie seufzt (‫ אנח‬schon in V 4 mit den weiblichen ‫ בתולת‬als Subjekt) und wendet sich ab, bleibt im bisherigen passiven Habitus der trauernden Frau. Zugleich wird allerdings eine neue Deutungsschiene etabliert – nämlich der Zusammenhang zwischen Sünde (‫ )חטא‬und spezifisch weiblicher Sexualität (‫ערוה‬ Blöße, Scham). ‫ טמאה‬Unreinheit ist zuerst einmal nicht geschlechterspezifisch konnotiert (auch Männer können ‫ טמא‬sein oder werden – vgl. nur Klgl 4,15!; grundlegend Lev 15),682 doch wird sie im Kontext von V 8–10 – Scham, Unreinheit, Saum,683 Abscheu (‫נידה‬, gleichlautend mit ‫ ִנדָּה‬Menstruation) – zu einem weiteren Begriff, weibliche Sexualität unter einen Legitimitätsvorbehalt stellt und den Konnex zwischen weiblicher Sexualität und Sünde herstellt. Anschließend folgt in V 9c die erste wörtliche Interzession der Frau, gefolgt von einer Metaphorik, die wiederum deutlich sexualisierte Töne hat. Sicherlich soll die öffentlich dargestellte Beschämung Zions in V 8f. zumindest auch als Chiffre für verletzte Bundespflichten Israels stehen.684 Trotzdem kommt den Versen, im Zusammenspiel mit der Personifizierung Zions, eine voyeuristische Note zu, die erst in jüngerer Vergangenheit hinreichend beachtet wurde.685 681 Vgl. Weems (1995), 45: »[T]he portrait of Jerusalem the adulterous wife shifted sympathy away from the city and in the direction of the husband/God as the one who has been victimized and betrayed. Here Israel became the degenerate, rebellious, and scandalous woman who deserved to be punished. This bifurcated image of Israel the female played into classic stereotypes in ancient and modern literature of woman as either »whore« or »virgin.« 682 Ellens. (2003). 683 ‫ שול‬Saum/Schleppe findet sich im Zusammenhang des Ephod (Ex 28,33f.; 39,24–26) – oder aber im Kontext des prophetischen Topos der Beschämung einer Frau durch Entblößung (Jer 13,22.26; Nah 3,5). 684 Olyan (1996), 215–217. Zur sozialen Sanktionierungsfunktion von Scham und Schande vgl. Bechtel (1991). 685 Die Brisanz des biblischen Textes wurde zuerst von Mintz (1982), 3f. thematisiert, dann auch von Bakke Kaiser (1987), 175f., Seidman (1994), Bail (1998), 188–191, Heim (1999), 141, Guest (1999) und Dobbs-Allsopp et al. (2001). Pyper (2001) und Berges (2002), 106f. nehmen die sexuell konnotierte Sprache ebenfalls wahr, ziehen jedoch wenig interpretatorische Konsequenzen. Teilweise wird mittlerweile wiederum dafür geworben, dem Thema »Sexuelle Gewalt in Klgl 1« nicht einen zu hohen Stellenwert beizumessen: »Polemisch gefragt: Hat

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Dass V 8 dabei in der prophetischen Tradition der Darstellung einer Stadt als entblößter und vergewaltigter Frau steht (Jes 47,1–4; Jer 13,20–27; Ez 16,35–40; 23,9f.; Nah 3,5f.), ist damit nicht bestritten.686 Häufig gehen diese Schilderungen mit dem Vorwurf der »Hurerei« (‫זנה‬: Ez 16,34f.41; Nah 3,4) oder des Ehebruchs (‫נאף‬: Ez 16,32.38) einher. Beides passiert in Klgl 1,8 gerade nicht – was nicht unter den Tisch fallen sollte.687 Allerdings ist die im Text dargelegte Reaktion auch nicht ohne Probleme. So wird Zions Seufzen und Abwenden beschrieben, und im weiteren Verlauf des Liedes bekräftigt Zion mehrmals ihre eigene Schuld.688 Im folgenden Vers ist es nicht mehr nur die Entblößung der Frau, die zu ihrer Beschämung führt, sondern auch ihr beschmutztes Kleid. »Dadurch dramatisiert [der Sprecher] das Bild der entblößten weiblichen Scham, um Jerusalems hartnäckiges Verharren in der Sünde anzuzeigen.«689 V 10 schließlich assoziiert eine Vergewaltigungshandlung.690 Die Verse triefen vor Sexismus – und es ist erstaunlich, wie selten dies bislang Beachtung gefunden hat.691

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es nicht auch etwas Vergewaltigendes, wenn die Texte dort, wo sie mehrdeutig bleiben und vielleicht bewußt Leerstellen und eine verschleiernde Vagheit der Eindeutigkeit entgegensetzen, zur sexuellen Gewalt hin gezwungen werden?« (Frevel [2013], 391). Wischnowsky (2001), 108, Anm. 519. Vgl. hierzu Dobbs-Allsopp (1999) 255f., Anm. 68: »[T]here are subtle but significant differences in how the motif is realized in this poem as compared to the prophetic literature which ultimately cast the imagery in a different light. Most notably, the logic of the prophetic deployment is exploded. For example, sin is attributed to Jerusalem (1:8a), but it is nonspecific (she is never accused of »adultery« or »whoring« and does not result in her skirts being pulled up over her face, what has been rightly interpreted as the intentional defacement and therefore dehumanization of the city as victim. Jerusalem is reviled because her »nakedness« is seen. But this »nakedness« is nowhere connected directly to the punishment of the harlot as presented in the prophetic motif … That is, all the details surrounding the exposure of the city’s »nakedness« have been suppressed.« Treffend O’Connor (2012), 181: »The daughter of Zion blames herself for the excesses of her abusers and, like contemporary victims of domestic violence, appears to have no self-esteem left.« Berges (2002), 106. V 10 lässt Zion mit ansehen, wie der Feind seine Hand ‫ על כל־מחמדיה‬über all ihre Kostbarkeiten ausstreckt und in »ihr Heiligtum« eindringt (‫)באו מקדשה‬. Für die metaphorische Bedeutung von ‫ יד‬Penis vgl. Delcor (1967), 234–240; für die Parallelisierung von Tempel und weiblicher Anatomie vgl. Ez 23,39–44, wo genau diese Parallele gezogen wird; zudem sei auf Hld 5,16 verweisen, wo ‫ מחמד‬ebenfalls erotische Konnotationen trägt. Vgl. weiterhin Bakke Kaiser (1987), 175, Bail (1998), 190 und Baumann (2001), 98, die auch in V 8 Vergewaltigungsvorstellungen erkennen. Wenn zudem Bails Überlegungen zu V 9 zutreffen (im Anschluss an Seifert [1997], 286 und Gordon et al. [1995], 321), wäre auch die blutbefleckte ‫שול‬ aus V 9 für eine Interpretation als Vergewaltigungsmetapher offen. Schließlich weist Gravett (2004), 284 darauf hin, dass auch mit der Wurzel ‫( עלל‬V 12.22) zuweilen sexuelle Gewalt beschrieben wird (vgl. Ri 19,25: ‫)ויתעללי־בה כל־הלילה עד־הבקר‬. Für V 22b ließe sich dies sprachlich durch eine Übersetzung mit: … wie du es mit mir getrieben … andeuten. Dass die sexuellen Konnotationen dieser Verse erst in jüngerer Vergangenheit thematisiert werden, ist erstaunlich, zumal sie von einer Deutlichkeit sind, dass sie selbst in »klassischen« Deutungen noch ihren Widerhall finden. Wenn Kraus (1983), 29f. die Szene wie folgt be-

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Die aggressiven Bilder wurden verschieden gedeutet. Pyper schlägt vor, das Buch der Klgl allgemein »as a symptom of melancholia« zu lesen. Darin würde die Spannung zwischen Mitleid und Solidarität mit Zion als Opfer einerseits und dem Ärger und der Verurteilung ihres früheren Verhaltens andererseits als Zeichen einer »ambivalence which turns the anger of the survivor against the dead victim«692 fungieren. Bakke Kaiser vermutet, dass der Dichter auf diese Weise die emotionale Identifikation des Publikums mit Zion steigern will: »The poet himself becomes menstruant Jerusalem to accomplish catharsis of grief within a community weakened by defeat and isolated from its God.«693 Guest sieht darin eine Strategie, von den »eigentlichen Schuldigen«, beispielsweise den politischen Eliten (vgl. Klgl 2,14; 4,13–15), abzulenken.694 Unabhängig davon wird man ihre theologische Brisanz der Verse im Kontext des Liedes bedenken müssen. Drei Punkte seien angedeutet. Zum einen ist in V 10 durchaus eine Anklage gegenüber Gott mitzuhören. Gott selbst hat erlassen, dass der Tempel für Fremde und Unbeschnittene tabu ist (vgl. Dtn 23,4; Ez 44,6– 9). Wenn V 10 dann bemerkt, dass Zion Völker ihr Heiligtum betreten sehen hat, von denen du geboten, dass sie nicht kämen in die Gemeinde zu dir, impliziert dies eine Inkonsequenz Gottes gegenüber seinen eigenen Geboten.695 Die im Raum stehende Frage ist dann: Wenn Gott seinen eigenen Geboten nicht folgt – wodurch ist sichergestellt, dass er dann beim Zumessen der Strafe Zions das gerechte Maß finden wird? Zum zweiten haben die gewalttätigen und erniedrigenden Bilder aus sich selbst heraus kritisches Potential: Kann gerechte Strafe derartige Demütigungen enthalten? Bekommt dadurch das göttliche Schweigen, trotz Zions doppelter Anrufungen nicht eine Qualität des stillschweigenden Schuldeingeständnisses?696 Schon innerbiblisch wurde die Problematik dieser

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schreibt: »Die »Verehrer« verachten die Frau Zion, weil sie im Augenblick der Katastrophe ungeschützt und unverhüllt dalag. … Doch der klagende Sänger, der vom Unglück Jerusalems spricht, läßt an dieser Stelle nicht locker. Die Schuld und Schmach Zions deckt er unnachsichtig auf.« [Herv. AvdL], dann ist selbst in der Deutung ein voyeuristisches Moment schwer zu leugnen. Auch Niehr (1989), 372 deutet Klgl 1,8 offenbar als Vergewaltigungsszene, ohne sich dessen selbst bewusst zu sein (»… da hier das besiegte Jerusalem wie eine erniedrigte Frau ihre Scham zeigen muß«). Pyper (2001), 56. Klgl 1 würde damit als ein Text, in dem sich das Phänomen der survivor guilt auf sexistischer und frauenfeindlicher Weise äußert »The unbearableness of surviving the destruction of Jerusalem leads to a desire for punishment to be inflicted on those who conferred the burden of survival. It is as if one should say ›You deserve to die for having inflicted on me the burden of memory and guilt I now bear for surviving your death.‹« Für eine kritische Diskussion des Konstruktes der survivor guilt vgl. Des Pres (1980), 39–45. Bakke Kaiser (1987), 176. Guest (1999), 430. »Wenn schon nicht aus Mitgefühl, so wenigstens aus Respekt vor seiner Tora hätte JHWH den Feinden den Eintritt in das Heiligtum verwehren müssen.« (Berges [2002], 108) Ähnlich Boecker (1985), 31 und Frevel (2002), 146. Miles (2006), 208.

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Bilder ja durchaus gesehen und z. B. in DtrJes dann auch kritisch reflektiert.697 Drittens gilt es zu bedenken, welche »Funktion« Vergewaltigungen im Rahmen kriegerischer Konflikte haben.698 Magdalene weist beispielsweise darauf hin, dass die Androhung von Vergewaltigungen von Ehefrauen der Bündnispartner regelmäßig im Rahmen der sog. treaty curses auftauchte.699 Ziel dessen war nicht primär, die Vertragseinhaltung mittels der Drohung körperlicher Gewalt gegenüber den Frauen der Bündnispartner durchzusetzen, sondern im Falle eines Vertragsbruches die Erniedrigung der Vertragspartner in Aussicht zu stellen – und zwar mittels des Zugriffs auf die jeweiligen Ehefrauen.700 Wollte man jene Vorstellung, die JHWH als Zions Ehemann deutet,701 bei der Interpretation der Vergewaltigungsmetaphorik im Hinterkopf behalten, so bleiben nur zwei mögliche Deutungen: JHWH hat Zion tatsächlich vollständig aufgegeben; die Vergewaltigung und Beschämung durch die Feinde (be)trifft ihn nicht mehr. Oder JHWH selbst nimmt Schaden, insofern er selbst der Mitgedemütigte ist. Mit dem zweiten Aufruf Zions in V 11c endet die erste Sektion; zugleich wird durch die Aufnahme des Stichworts ‫ םחמד‬die Parallele zu V 10 gezogen: Hatte JHWH als Zions Ehemann und Beschützer die Kostbarkeiten der Stadt nicht vor dem Zugriff der Feinde gerettet, so sind die Bewohner nun gezwungen, sie gar freiwillig wegzugeben, um dem Hungertod zu entgehen. Fasst man die erste Sektion zusammen, so zeigt sich eine klare Gliederung der Verse, die sich auf der inhaltlichen Ebene widerspiegelt. Die V 1–11 sind als fokussierende Bewegung auf die Stadt hin beschreibbar. In V 1–3 wird die Stadt als unter den Völkern sitzend beschrieben. Sie wird als ehemalige Herrscherin über Provinzen und »Große« unter den Völkern angesprochen. Diese makropolitische Perspektive wird in den nächsten Versen schwächer. In V 4 hat man, 697 Baumann (2001), 99–115. Baumann weist darauf hin, dass DtrJes genau das gleiche Vokabular der ursprünglichen Metapher in Hos, Jer und Ez verwendet. Wäre das Ziel nur gewesen, einen Wandel im Schicksal Zions zu beschreiben, wäre dies nicht nötig gewesen. Die Verwendung des ursprünglichen Vokabulars weist auf bewusste Bezugnahme und Neuinterpretation hin. (ebd., 116). 698 Vgl. hierzu Magdalene (1995) sowie zur Diskussion von Vergewaltigung als militärischer Metapher im Alten Testament Gordon et al. (1995). 699 Magdalene (1995), 341–344. 700 Magdalene (1995), 338: »[R]ape was the means by which one group of men demonstrated their control of or authority over another group of men by forced sexual access to the human female property of the weak«. Ebenso schon Brownmiller (1975), 31: »Rape is considered by the people of a defeated nation to be part of the enemy’s conscious effort to destroy them. […] The body of a raped woman becomes a ceremonial battlefield, a parade ground for the victor’s trooping of the colors. The act that is played out upon her is a message passed between men – vivid proof of victory for one and loss and defeat for the other.« 701 Exemplarisch: Jes 49,14f., Jes 60–62; Ez 16. Zum Topos Jerusalems/Zions als Stadt und Braut JHWH vgl. Berges (2002), 52–63, insb. 61–63 sowie Fitzgerald (1972) und Fitzgerald (1975). Für die das Lied eröffnende Beschreibung Zions‫ כאלמנה‬vgl. Salters (2003), 351f.

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mit dem Dichter die Straßen nach Zion entlang schreitend, die Stadtgrenzen und -tore erreicht, und nimmt anschließend die Bevölkerung der Stadt in den Blick. Ab V 8 befindet man sich, szenisch gesehen, inmitten der Stadt. Die Bewegung, die in V 1 ihren Anfang nahm, findet mit dem Eindringen der Feinde in das Heiligtum der Stadt in V 10 ihren Abschluss. Auch inhaltlich ist eine klare Linie erkennbar. So ist das Thema der eigenen Schuld bzw. Sünde in V 1–3 nur sehr subtil in V 2b erkennbar. In der zweiten SubStanze findet es sich dann schon sehr viel pointierter in V 5b (ebenfalls dem mittleren Bikolon!). V 7–11 sind praktisch vollständig vom Thema der eigenen Schuld dominiert; nur die rahmenden V 7.11 sind allgemeinerer Natur (V 7: Einst-Jetzt-Vergleich; V 11: Hunger der Bevölkerung). Daraus ergibt sich eine Einleitung aus V 1–3, die fokussierend auf die Stadt hinleitet, die im weiteren Verlauf aufgegriffene Personifizierung einführt und das Schuldthema andeutet. V 4–6 reflektieren den Zustand der Stadt auf ihre Bewohner hin: unter dem Blickwinkel der personifizierten Stadt sind die Bewohner der Stadt kraftlose Kinder, deren Not vorbehaltlos bedauert werden kann. Diese Not ist der Anlass, im Folgenden Zions Schuld anzuprangern. V 7–11 sind der Ausfaltung dieser Anklage vorbehalten. Unter Aufnahme des prophetischen Motivs der Preisgabe und öffentlichen Zurschaustellung der untreuen Ehefrau befassen sie sich mit der Schuld Zions und bedient sich dazu einer Metaphorik, die Sünde und Vergeltung sexuell konnotieren. Subtile Kritik am Ausmaß des Gerichts wird lediglich in V 10 deutlich, der darauf hinweist, dass die von Gott verhängte Strafe ein Maß erreicht hat, das Gott selbst beschädigt zurücklässt. Mit V 12 beginnt die zweite Sektion des Liedes. Hier von einer interpretation half zu sprechen geht sicherlich zu weit, jedoch ist richtig, dass mit der erstmaligen Rede vom ‫ יום חרון אפו‬in V 12c ein wichtiger inhaltlicher Hinweis gegeben wird.702 Daneben fällt insbesondere der Sprecherwechsel auf: Zion ergreift nun selbst das Wort. »[J]ust at the points where the reader might begin to frown with disapproval on the victimized woman, she is given voice – and her voice presents her situation with force and pathos.«703 Anders als in V 9c.11c belässt sie es gerade nicht mit einer kurzen Interzession, sondern klagt ihr Leid in ausführlicher Länge. Dabei richtet sie ihre Worte nicht (mehr) an JHWH, sondern an ‫כל־עברי‬ ‫ דרך‬alle, die des Weges gehen. Dies hat mindestens eine doppelte Funktion: Zum einen wird Zion dadurch als (wieder) aktiv Handelnde dargestellt. War sie bisher als vorwiegend passiv erleidendes Objekt präsent, geht es nun um das aktive Einfordern (‫ לוא אליכם‬ist es euch nichts?) 704 von Solidarität, Mitgefühl und Trost. 702 Ebenfalls in Klgl 2,1.21.22; 3,1.43; 4,11; 5,22. Vgl. zum Gesamtkomplex »Tag JHWHs« sowie »Zorn Gottes« oben Kap. 5.2. 703 Greenstein (2004), 36. 704 Vgl. die Übersetzung zur textkritischen Beurteilung der Stelle.

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Zum anderen wird durch Zions aktives Klagen das göttliche Schweigen noch deutlicher. Anders als der Sprecher macht Zion in V 12–15 keinerlei Hehl daraus, dass JHWH der eigentlich Strafende ist. Umso irritierender ist es, dass diese ausladende Klage ebenso ohne göttliche Antwort bleibt wie die kurzen Einwürfe in V 9c.11c. Die dritte Stanze ist thematisch deutlich untergliedert. Während Zion in der ersten Sub-Stanze (V 12–14) ihr eigenes Erleben darstellt, beschreibt sie in der zweiten Sub-Stanze das Erleben ihrer Kinder (V 14a: ‫ ;כל־אבירי‬V 14b: ‫ ;בחורי‬V 16c: ‫)בני‬. Die erste Sub-Stanze greift dabei Motive der V 1–6 auf, stellt sie nun allerdings aus der subjektiven Perspektive Zions dar.705 Insbesondere die plastische Schilderung der göttlichen Verfolgung und Bestrafung als physische Gewalt ist neu: JHWH schickt Feuer aus der Höhe in Zions Glieder, spannt ihr ein Netz und riss sie zurück. Er betrübt, fügt unvergleichlichen Schmerz zu, macht verstört und krank. Er legt ein Joch auf, lässt die Kraft schwinden und liefert an die Feinde aus. Eine Aufzählung, die umso beeindruckender ist, wenn man bedenkt, dass sich in V 1–11 praktisch nichts Vergleichbares findet: Zwar wird Zion in V 1–11 als verfolgte und gedemütigte Frau dargestellt, jedoch fehlen (von V 8–10 abgesehen) jegliche Hinweise auf konkrete physische Gewalt.706 Dabei ist zwar richtig, dass – wie Kommentare häufig betonen – die verwendeten Motive sich aus der für die prophetische Gerichtsansage typischen Sprache speist,707 jedoch geht der erzielte Effekt deutlich über das Rezitieren vertrauter Gerichtsmotivik hinaus: 705 Beispielsweise erinnert die Selbstbeschreibung in V 13c ‫ נתנני שממה כל־היום דוה‬Er machte mich verstört, immerzu krank an die Vergewaltigungsmetaphorik der V 9f. (zu ‫שמם‬ vgl. 2Sam 13,20; im Zusammenhang mit ‫דוה‬, das für menstruierende, und damit rituelle unreine Frauen verwendet wird [Lev 12,2; 15,33; 20,18; Jes 30,22], gewinnt der Begriff hier sexuelle Konnotationen [Bail {1998}, 196–201]). Die rhetorische Frage aus V 12b: ‫יש מכאוב‬ ‫ כמכאבי‬gibt es einen Schmerz gleich meinem Schmerz? liest sich wie Zions Verbalisierung dessen, was der Sprecher in V 2 als anhaltendes Weinen schilderte, sowie als Reaktion auf die in V 9c.11c angedeuteten Erfahrungen von Verachtung und Elend. Der Hinweis in V 14a, dass das Joch ihrer Verbrechen ‫ בידו‬durch seine Hand gebunden wäre, erinnert an V 7 (‫בנפל‬ ‫ עמה ביד־צר‬als ihr Volk in die Hände des Feindes fiel) und V 10 (‫ ידו פרש צר‬der Feind streckte seine Hand aus). Auch der Hinweis auf die eigenen Verbrechen (V 5b – vgl. V 14a) fehlt nicht. 706 Das schließt die Aussage in V 5b, JHWH habe Zion betrübt (‫)יגה‬, mit ein, da ‫ יגה‬grundsätzlicher »eine Grundstimmung des Lebensgefühls« meint als einen konkreten physischen oder psychischen Schmerz (Wagner [1982], 407). 707 Eine (unvollständige) Auflistung der wichtigsten Motive: V 12: ‫ – יום חרון אפו‬neben den 16 ‫יום‬ ‫יהוה‬-Belegen (Jes 13,6.9; Ez 13,5; Joel 1,15; 2,1.11; 3,4; 4,14; Am 5,18.20; Obd 15; Zef 1,7.14; Mal 3,23) vgl. auch Jes 13,13; Jer 44,6; Ez 18,18; Zef 2,2f.; 3,8; fügt Schmerz (‫ )מכאוב‬zu – Jer 30,15; 45,3; JHWH betrübte (‫ – )יגה‬Jer 45,3; Ez 23,33 ( jew. ‫ ;)יגון‬V 13: JHWH schickt Feuer (‫ – )שלח אש‬Jer 5,14; Jes 9,18; Am 1,4.7.10.12.14; 2,2.5; 5,6; Dtn 32,22; JHWH spannt ein Netz (‫ – )רשת‬Ez 12,13; 17,20; 32,3; Hos 7,12; JHWH verstört/verödet (‫ – )שמם‬Jer 49,20; Jer 50,13; Jer 50,45; Ez 20,26; 30;12; 32,15; 35,15; V 14: JHWH legt ein Joch (‫ )על‬auf – Dtn 28,48; Jes 47,5; Jer 27f. (positiv auch in Jes 9,3; 10,27; 14,25); JHWH liefert aus bzw. gibt in die Hand (‫)נתן ביד‬ von Gegnern/Feinden – Jer 20,4; 21,7.10; Ez 23,28; 25,7.14; u. ö. Für weitere Parallelen vgl. auch die einschlägigen Kommentare z. St.

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Die Verfolgung durch Gott wird hier in ihren Auswirkungen auf ein Individuum dargestellt; Zions Leiden steht exemplarisch für die Grauen, die die Stadtbewohner heimsuchten. Damit ist ein Thema angedeutet, das innerbiblisch mit zunehmender theologischer Durchdringung des Zorn-Gottes-Motivs für Kontroversen sorgte: Das Agieren des göttlichen Zornes gegen Individuen.708 »Der Zorn Gottes ist eine Kategorie der politischen Deutung größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Je individualisierter er vorgestellt wird, umso mehr verliert er an Plausibilität.«709 Im Gegensatz zu Ps 6; 27; 30; 77; 88; 102 wird in V 14 die eigene Schuld ganz klar thematisiert; die Problematik der Kategorie »Zorn Gottes«, die sich beispielsweise in Klgl 2 sehr deutlich zeigen wird, und die daher in Klgl 3 als Deutungskategorie stark in den Hintergrund tritt, ist hier nur angedeutet. In der zweiten Sub-Stanze, V 15–16, wird mit dem Hinweis auf die ‫ בחורים‬und ‫אבירים‬ wiederum die Perspektive von Zion als Mutter der Stadtbevölkerung eingespielt,710 und mittels des Rückbezugs auf V 4711 sowie des sehr plastischen Bildes der getretenen Kelter dafür gesorgt,712 dass die Agentenschaft Gottes an dieser Stelle klar im Blick bleibt. Die Deutlichkeit, mit der in diesen Versen JHWH als der aktiv Gewalt Ausübende dargestellt wird (im Gegensatz zur ersten Sektion, wo die Gewalt fast ausschließlich von den Feinden ausging: vgl. V 2bc.3c.5ac.6. 7cd), ist bemerkenswert.713 Sie macht exemplarisch deutlich, dass und wie Zion 708 Vgl. Ps 6; 27; 30; 77; 88; 102. Bedeutsam an diesen Psalmen ist, dass der unter dem Zorn Gottes stehende Beter sein Leiden gerade nicht mit dem Hinweis auf eigene Schuld oder frühere Sünden zu erklären versucht. Vollkommen konsterniert steht er vor dem Faktum des ihn heimsuchenden Zornes. Die Kategorie »individuelle Sünde« ist auf die Situation »Zorn Gottes« nicht anwendbar (Miggelbrink [2000], 40–45). 709 Miggelbrink (2000), 42, vgl. auch Assmann (2000), 54 (»spezifisch politischer Affekt«). 710 Es ist bemerkenswert, wie fein austariert hier die verschiedenen Assoziationen sind. Einerseits ist Zion als Stadtmutter im Blick, deren Kinder – die jungen Männer, Frauen und »Starken« – unter Gottes Zorn zu leiden haben. Andererseits ist nicht von Säuglingen (‫)יונק‬ und Kleinkindern (‫ )עולל‬die Rede, wie es in Klgl 2 dann der Fall sein wird. In Klgl 1 sind Zions »Kinder« immerhin (wenn auch junge) Erwachsene; es kommt damit nicht zu der unbedingten Solidarisierung, die die Schilderung des Leidens von Kleinkindern und Säuglingen auslöst. 711 V 15b: ‫ )יהוה( קרא עלי מועד‬JHWH rief gegen sie ein Fest… Früher war das Gedeihen der Stadt Grund für die Festgänger – und ihr Kommen gleichzeitig Grund für Zions Wohlstand. Nun ist die Stadt Anlass zum Fest für die Feinde geworden. Die Straßen sind leer von den »alten« Festgängern – und voll von den »neuen« Festgängern=Feinden. 712 Für V 15c ‫ גת דרך אדני‬vgl. Joel 4,13 und insbesondere das ungeheuer aggressive Bild in Jes 63,1–6, bes. V 3f.: »Ich allein trat die Kelter (‫ ;)פורה דרכתי לבדי‬von den Völkern war niemand dabei. Da zertrat ich sie voll Zorn (‫)באפי‬, zerstampfte sie in meinem Grimm. Ihr Blut (‫נצח‬, eig. Saft) spritzte auf mein Gewand und befleckte meine Kleider. Denn ein Tag der Rache lag mir im Sinn, und das Jahr der Erlösung war gekommen. Vgl. Mitchell (2006), 60; Koenen, et al. (2015), 75–77. 713 Nach Michel beschränkt sich das Vorkommen von Gewaltverben mit göttlichem Subjekt in Klgl 1 fast vollständig auf die V 12–15 (Michel [2003], 80.82.93.97.105).

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und Sprecher ihren jeweiligen Bericht unterschiedlich akzentuieren. Während der Sprecher die spezifisch göttliche Gewalt in den Hintergrund drängt und die von Zion zu erleidende Gewalt als sexuelle zeichnet, die insbesondere bei männlichen Rezipienten eine Distanzierung erleichtert, stellt Zion auf allgemein physische Gewalt ab, prononciert Gottes Autorschaft und zeichnet Gottes Wirken als fast schon viehisches Schlachten. Durch den Rückbezug auf das Stichwort »Fest« wird zudem ein zynischer Akzent gesetzt, der ebenfalls zu Lasten Gottes geht. Ein distanzierter Blick auf Zion, wie er in der ersten Sektion auf Zion möglich war, wird dadurch wirksam verhindert. Dass gerade an dieser Stelle nicht von der ‫ בת־יהודה‬sondern der ‫ בתולת בת־יהודה‬die Rede ist, ist schwerlich ein Zufall und unterstützt die Darstellung von Zion als schutz- und wehrloser Frau, die dem enthemmten Zorn Gottes ausgeliefert ist.714 Die solidarisierende Tendenz wird durch das Weinen in V 16 noch unterstützt.715 Zugleich sorgen eine Reihe von motivischen Aufnahmen für den Rückbezug auf die erste Stanze.716 Somit kann man zusammenfassen: In der ersten Stanze der zweiten Sektion ergreift Zion selbst das Wort und wendet sich mittels des Appels an die ‫עברי דרך‬ Vorbeigehenden direkt an die Hörer. Eine distanzierte, oder gar schadenfreudige Haltung, wie sie z. B. in Klgl 2,15f. deutlich wird, ist hier nicht erkennbar. Auch die geschilderten Strafen selbst, sowie die weinende Reaktion Zions darauf, tragen zur Solidarisierung bei. Zugleich wird in dieser Stanze in bisher ungekannter Deutlichkeit die göttliche Urheberschaft der massiven Strafen, sowie ihr Charakter als physische Gewalt herausgestellt. Die geprägte Rede (‫יום חרון אפ‬, ‫שקד‬ ‫על‬, ‫ממרום שלח־אש‬, ‫ )דרך תן‬bemüht zudem Formulierungen, die aus der prophetischen Gerichtsrede bekannt sind.

714 ‫ בתולת‬dürfte hier als Elaboration, mit besonderem Fokus auf die Schutzbedürftigkeit (Engelken, K. (1990), 43), oder ihre Schönheit, Attraktivität, Unberührtheit (Wischnowsky [2001], 18) zu verstehen sein. 715 Erstaunlicherweise ist das Motiv »Weinen« keinesfalls allgegenwärtiger Bestandteil der alttestamentlichen Klage. Nach Bosworth (2013b), 46 enthalten nur etwa 14 % der Klagepsalmen das Motiv »Tränen« bzw. »Weinen«. Hintergrund dafür ist möglicherweise der im alttestamentlichen Denken quasi-physiologische Zusammenhang zwischen Weinen und Krankheit (vgl. Collins [1971a], Collins [1971b]). Umso bemerkenswerter ist der Stellenwert des Motivs innerhalb von Klgl 1–3 – nicht nur zugunsten einer generell erhöhten Emotionalität der Darstellung, sondern auch zugunsten einer intensivierten Personifikation Zion (ebd., 226–236). 716 Diese sind nicht immer konkret lexematischer Natur, sondern lassen z. T. nur an schon Gehörtes erinnern. V 15a: Verworfen hat all meine Starken (‫ – אביר‬gemeint sind Führungskräfte und Befehlsgeber: 1Sam 21,8; Ijob 34,20) – V 6; V 15b: Er rief gegen mich ein Fest (‫ )דעומ‬aus – V 4a; V 15b: meine jungen Männer (‫ – )בחור‬V 5c.6b; V 16a: Darum weine (‫)בכה‬ ich–V 2b; V 16b: denn fernab von mir ein Tröster (‫ – )מנחם‬V 2b; V 16c: Meine Kinder (‫ )בן‬sind verstört (erneut ‫ – )שמם‬V 5c; V 16c: mächtig ist der Feind – V 5a; Zu den Bezügen zwischen V 16 und V 2 vgl. auch Schäfer (2006), 253f.

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Trotzdem handelt es sich um mehr als nur intensivierte Repetition. Zion hat ihre Sprache wiedergefunden, Zion kann wieder klagen! 717 Im Gegensatz zu Westermann, der in den Klgl keine »individuelle Gedankenarbeit« erkennen kann, die einen gedanklich-theologischer Ertrag zum Ziele habe,718 ist daran festzuhalten, dass Klage ein produktiver Akt ist: »The lament is a way to voice and define emotions; … this is the first step toward understanding.«719 Die sich in der Klage ausdrückende Trauer »bleibt nicht bei dem Blick zurück stehen, lässt den trauernden Menschen nicht nach innen gekehrt zurück, sondern öffnet ihn für die Zukunft«720. Hierfür bedarf es jedoch eines Deutungshorizontes, eines Rahmens,721 der einerseits die Möglichkeit bietet, Vorwürfe, Anklagen und Gefühle wie Wut oder Zorn auszusprechen, der aber andererseits auch Deutungsmuster anbietet, Grenzen setzt und die eigene Verantwortung am Geschehen nicht überspielt. Der Text erreicht dies durch eine Reihe subtiler Andeutungen: Einerseits die in V 10f. angedeutete Frage nach der Verlässlichkeit des göttlichen Gebotes, weiterhin die Juxtaposition vom Theologumenon des »Tag des Zorns« mit dem Erleben des Individuums Frau Zion, schließlich mittels der direkten Anrede Zions, die im Hörer Mitgefühl und Solidarität hervorrufen. Zions Reaktion auf ihre Situation ist damit nicht mehr auf Bitterkeit (V 4c) und inneren Rückzug (V 8c) beschränkt, sondern kann sich zur aktiven Klage entwickeln. Der Beginn der zweiten Stanze der zweiten Sektion wird durch die kurze Rückkehr des Sprechers in V 17 eingeleitet. Wenn die Beobachtung Marcus’ stimmt, dass auch in V 15c der Sprecher kurz zu Wort kommt,722 würde sich eine vollständige formale Entsprechung zwischen den zweimaligen Zwischenrufen Zions in V 9c.11c und den zweimaligen Einwürfen des Sprechers in V 15c.17 ergeben. Inhaltlich fungiert V 17 als Zusammenfassung, die einerseits zurück auf 717 Zudem verdeutliche man sich die Logik der Darstellung, die erhebliche innere Stärke vonseiten Zions bezeugen: Eben noch erniedrigt gemacht und nackt dem Gelächter und der Verachtung ehemaliger Verehrer ausgesetzt, wendet sie sich nun an die Umstehenden und fordert Solidarität ein! 718 Westermann (1990), 82. Daraus resultiert dann Westermanns Überzeugung, die Texte seien »nicht aus der Distanz eines Geschichtsschreibers entstanden, sondern aus der unmittelbaren Betroffenheit heraus.« (ebd.) Dieses Argument, das in ähnlicher Form häufiger anzutreffen ist und z. B. bei der Datierung von Klgl 2 in die unmittelbare Nähe von 586 v. Chr. herangezogen wird, wurde schon von Wiesmann zurückgewiesen (Wiesmann [1936], 84). Provan (1990b) hat es nochmals als Scheinargument erwiesen. Daneben hält es auch dem empirischen Test nicht stand: Unmittelbare Betroffenheit spricht keinesfalls gegen eine literarisch oder theologisch anspruchsvolle Verarbeitung. (vgl. für ersteres die von Brandscheidt [1989], 7–9 zitierten Gedichte, für letzteres etwa die von Boschki (2001), 127 zitierten autobiographischen Erlebnisse Wiesels). 719 Gous (1993), 361. 720 Labahn (2002), 523. 721 Hierauf weisen praktisch alle Ansätze einer psychologischen Interpretation der Klgl hin; vgl. Joyce (1993), 308–313, bes. 312, Morse (2003), 122–124 oder Reimer (2002), 556–559. 722 Marcus (1986), 179.

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V 10 verweist, und andererseits zum letzten inhaltlichen Bogen der V 18–22 überleitet. V 17a beschreibt Zion mit ausgestreckten Händen. Ob hier eine Gebetshaltung gemeint ist, ist schwer zu entscheiden.723 Falls ja, würde die Ungewöhnlichkeit der Fügung den kontrastierenden Bezug zu V 10 (dort: ‫ידו פרש צר‬, hier: ‫ )פרשה ציון בידיה‬eher noch unterstreichen. V 17b stellt mit ‫ צוה‬gebieten/ befehlen das gleiche Verb an den Beginn, das in V 10 den Vorwurf göttlicher Inkonsequenz beschrieb. Wenn mit der Bezeichnung Jakob – dem einzigen Mal, dass dieser Titel in Klgl 1 benutzt wird – dazu noch besonders die Erwählung des Gottesvolkes in Erinnerung gerufen wird,724 intensiviert das die Aussage nur noch: JHWH handelt nicht in momentaner Empörung, sondern entsprechend eines lang gefassten Entschlusses, voll im Bilde, dass es gegen das eigene erwählte Volk geht.725 Nur weil das Gericht keine Marotte einer momentanen Erregung ist, kann es schon in den Tagen der Vorzeit angekündigt werden (vgl. Klgl 2,17; dort ebenfalls ‫)צוה‬, und ist es umso unverständlicher, wie ein dem gleichen urgründigen Entschluss entspringende Gebot bezüglich der Reinhaltung des Tempels (V 10) nicht befolgt wurde. Schließlich weist auch V 17c: ‫ היתה ירושלם לנדה‬Jerusalem geriet zur Unreinen auf den Kontext von V 10 zurück. Die üblichen Übersetzungen, die ‫ נהד‬hier mit Abscheu (Berges), a filthy thing (Renkema), Schandfleck (Groß) o. ä. widergeben, sind zunächst einmal von vollkommen unnötiger Schärfe.726 Auch eine Über723 Naheliegend scheint eine Bittgeste entweder an die Adresse der ‫ עברי דרך‬oder Gott zu sein (Renkema [1998], 176f.). ‫ פרש‬mit ‫ יד‬bezeichnet eigentlich eher die ausgestreckte Hand (Ringgren [1989a], 781); zur Beschreibung einer Gebetsgeste wird ‫ פרש‬fast durchweg mit ‫כף‬ benutzt (vgl. Ex 9,29.33; 1Kön 8,22.38; Esra 9,6; Ijob 11,13 u.ö). Allerdings gibt es mit Ps 143,6 auch einen Beleg, wo ‫ פרש‬mit ‫ יד‬kombiniert ist. Renkema trifft wohl das Richtige, wenn er vermutet, dass die Mehrdeutigkeit zwischen Gebets- und Hilfsgeste gewollt ist. 724 Der Titel wird sonst nur noch in Klgl 2,2f. verwendet. Bezeichnet der Name nach dem Fall des Nordreiches 722 v. Chr. Gesamtisrael, ist doch jeweils nicht nur die weltliche politische Größe, sondern »eindeutig Israel als Gottesvolk, als Gemeinde JHWHs« gemeint. (Zobel [1982], 772). 725 Es passt gut ins Bild, dass ‫ צוה‬sich häufig auf die Gebote des Bundes bzw. das Gesetz Gottes an Mose bezieht (mehr als die Hälfte der Belege finden sich im Pentateuch, dort insbesondere im Dtn; zudem häufig in Jer). Die Wurzel macht deutlich, dass das hier genannte Gebieten der Feinde gegen Jakob gleichsam auf der Grundlage des Gesetzes geschieht. (García López [1989], 942). 726 Vgl. O’Grady (2003). Ausgehend von der Grundbedeutung des Verbes ‫נדה‬, an sich »wegwerfen«, »zur Seite legen« (so auch Gesenius [1962], 487: entfernen, ausstoßen, ausschließen), wäre die angemessenste Übersetzung zunächst »Menstruation« als wertungsfreie Beschreibung des biologischen Prozesses, als auch des dadurch hervor gerufenen Status kultischer Unreinheit. Eine moralisch-normative Konnotation ist dabei nicht enthalten (vgl. die Rede vom ‫ מי־הנדה‬in Num 19). Der Begriff ‫ נדה‬ist ein gutes Beispiel dafür, wie latent sexistische Befindlichkeiten der Exegeten das semantische Feld eines Lexems beeinflussen können. Exemplarisch Heim (1999), 141, der seine Übersetzung von V 17 so begründet: »[T]he noun ‫ ִנ ָדּה‬, here translated as »filthy thing,«refers to (the impurity of) a woman’s menstrual blood.« Dass es einen gewichtigen Unterschied zwischen »kultisch unrein« und

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setzung von ‫ היתה … לנדה‬mit »geriet zur Unreinen« würde den Bezug zu V 8–10 (dort V 8a: ‫ )על־כן לנידה היתה‬deutlich machen und dem objektiven semantischen Gehalt der Wurzel besser gerecht werden.727 Es ist auffällig, dass gerade der Vers, in dem der Sprecher nochmals zu Wort kommt, wiederum die Szene aufgreift, mit der sein letzter Auftritt endete. Dramaturgisch wird damit angedeutet, dass die Szene, die in V 8–10 gezeichnet wurde, nach wie vor aktuell ist. Inhaltlich wird der in V 10 angedeutete Vorwurf gleichsam »reaktiviert«: Kann JHWH die Erwählung Israels zurücknehmen, ohne selbst Schaden zu nehmen? 728 Wurde dies in V 10 nur mit Hinblick auf den Widerspruch zwischen Gottes eigenen Geboten bzw. deren Befolgung angedeutet, legt V 17 noch eins drauf: Durch das Eindringen der Feinde ist der Tempel – ja die gesamte Stadt – kultisch unrein (Ez 44,6–8). »Was ist ein Gott wert, der seinen Tempel preisgibt?«729 Zion könnte darauf in zweierlei Weise reagieren. Sie kann, ähnlich wie in Klgl 2,20–22, die Konsequenz ziehen und JHWH als Feind betrachten – eine Möglichkeit, die auch Klgl 5,21f. zumindest ins Auge fasst.730 Alternativ kann sie den entstandenen Konflikt auflösen. Dies geschieht in V 18, dem zentralen Vers der Sub-Stanze. In Aufnahme des deuteronomistischen Schemas wird Gottes

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»ekelhaft« gibt, entfällt. Tatsächlich bietet Gesenius (1962), 487 für ‫ ִנ ָדּה‬als erstes die Übersetzung »Abscheuliches«, was jedoch nicht weiter thematisiert wird. Die Formulierung ‫היתה‬ ‫ לנדה‬ist sonst nur noch in Ez 7,19 belegt; die »moralisierende« Übersetzung mit Abscheu bzw. Ekel wird dort nur durch den Kontext und den Verweis auf Klgl 1,17 begründet. Sie ist somit zirkulär, da jene wiederum mit Hinweis auf Ez 7,19 übersetzt wird. Tatsächlich ist es so, dass ‫ נדה‬in Ez menstruelle Unreinheit bezeichnet, »often here with strong undertones of revulsion« (Stiebert [2007], 825). Dies sollte dann allerdings als Proprium von Ez anerkannt werden und nicht den Blick auf die zunächst einmal wertfreie Bedeutung des Begriffs verstellen (ebd., 824f.). Nach Bechtel (1991), 66 ist das öffentliche Beobachten eines Nackten auch mit Beschämung für die BeobachterInnen verbunden. »[T]he public shame of one member of the community reflects shame on the entire community.« Wenn somit aus dem Gelächter der Verehrer und der emotionslosen Rede des Sprechers herauszuhören wäre, dass Zion nicht nur beschämt und erniedrigt, sondern de facto aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurde, würde dies die Übersetzung von ‫ נדה‬mit »Unreinen« stützen, da sie den Fokus auf den Aspekt sozialkultischer Separierung legte, statt auf die die moralische Ebene des Abscheus abzuheben. Vgl. z. B. Jes 49,14–17; 54,6–8, wo unter anderem jene Frage diskutiert wird. Willey (1997), 188–193.233–239 diskutiert zwar den Umstand, dass DtrJes sich mit der Frage der Erwählung Israels auseinandersetzt, macht dies aber fast ausschließlich an Klgl 5,19–22 fest. Frevel (2002), 146. Man darf nicht vergessen, dass dies in der damaligen Situation ja keineswegs fern lag. »Inherent in the fall of Jerusalem in 586 BC was the potential for Judah and the Yahweh religion to be eradicated.« (Gous [1993], 351) Bemerkenswertes Proprium des israelitischen Glaubens ist ja gerade das Festhalten an JHWH trotz seines offensichtlichen Scheiterns. Pyper (2001), 62 fasst das Problem gut zusammen: »[W]hose existence is most threatened in the book of Lamentations; whose survival is most in question? … Surely what is at stake is whether God will survive, whether the people will follow their natural inclination to abandon the instrument of their torture.«

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Gerechtigkeit betont – und somit die Verantwortung für das Gericht vollständig mit dem eigenen Trotz begründet. Hierin den »theologischen Höhepunkt des gesamten Liedes« zu sehen,731 geht an der Sache vorbei; inhaltlich bietet V 18 nichts, dass nicht auch schon vorher zumindest implizit akzeptiert war (so setzt V 5b die göttliche ‫ צדקה‬zwingend voraus). Sehr wohl jedoch ist auffällig, dass es erneut der mittlere Vers der SubStanze ist, der die theologische Deutung des Geschehens bietet. Daneben markiert die Pendenskonstruktuion ‫ צדיק הוה יהוה‬Gerecht ist er – JHWH den Auftakt eines zweiten Gesprächsganges Zions, in dem nun die Konsequenz aus der affirmierten Gerechtigkeit Gottes gezogen wird: Das Gericht war Konsequenz des eigenen Handelns. Die in V 19 genannten ‫ מאהבים‬Liebhaber verweisen zurück auf V 2, aber auch auf den Kontext illegitimer Promiskuität, der in V 8–10 im Blick war (dort V 8b: ‫ מכבדים‬Verehrer). Daher ist mit V 18a und rahmend in der letzten Sub-Stanze (V 20b.22b) das Thema der eigenen Schuld präsent. Zion, in bemerkenswerter Klarheit, verwendet hierfür die Wurzel ‫מרה‬, die (ähnlich ‫ )פשע‬das bewusste Zuwiderhandeln gegen bestehende Gebote konnotiert.732 Dass die Selbstbezichtigungen Zions chiastisch konzipiert sind (V 14: ‫ ;פשע‬V 18: ‫;מרה‬ V 20: ‫ ;מרה‬V 22: ‫)פשע‬, lässt den Bedacht erkennen, mit dem ihre Rede strukturiert ist. Zugleich, dem deuteronomistischen Schema entsprechend, sind auch die Aussagen zu Not und Strafe in der letzten Stanze die deutlichsten. Nur hier finden sich mit V 19bc.20c Hinweise auf Tod im Kampf und durch Hunger (oder, wie Wiesmann vermutet,733 Seuchen). Erneut, und in besonderer Häufung, rekurriert Zion auf ihre eigenen Körperteile, und zwar insbesondere Körperteile, die erhöhte Emotionalität konnotieren (V 20a [glühende] Eingeweide; V 20b [gewendetes] Herz; V 22c [krankes] Herz), sowie damit korrespondierende Belege des Seufzens (V 21a.22c). Eine zweite Konsequenz der »Rehabilitation« Gottes in V 18 ist es, dass sich damit auch die Frage der gerechten Strafe für die Feinde erneut stellt. In Zions Darstellung ab V 12 spielte das Wirken der Feinde nur eine untergeordnete Rolle – maßgeblicher Akteur war Gott selbst. Die Feinde waren hier im Wesentlichen als Nutznießer des von Gott vollzogenen Gerichts im Blick (vgl. V 14b.17b). Doch wenn nunmehr Gottes Gerechtigkeit wieder restituiert ist, kommt ihre ‫רעה‬ Schlechtigkeit/Bosheit als eigenständige, von ihnen selbst zu verantwortende Größe wieder in den Blick. Somit kann sich Zion nunmehr in V 21c.22, nach der Klage über JHWHs Handeln, direkt an ihn wenden und für die Feinde ebenfalls das Gericht im Sinne einer für alle gleichermaßen gültigen Gerechtigkeit fordern. 731 Boecker (1985), 35. 732 Schwienhorst (1986a), 8. 733 Wiesmann (1929a), 100.

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Vergegenwärtigt man sich abschließend nochmals den Aufbau der zweiten Sektion, so setzt sich der Eindruck aus der ersten Sektion fort: Klgl 1 ist inhaltlich klar strukturiert und verfügt über einen nachvollziehbaren Aufbau. Nachdem Zion zu Beginn von V 12 selbst das Wort ergreift, wird in zwei großen Gedankengängen einmal Gottes Handeln dargelegt, zum anderen die eigene Schuld thematisiert. Beides geschieht in in sich geschlossenen Stanzen: Während Gottes Handeln in den V 12–16 dargelegt wird, geht es in V 17–22 um Zion, die Frage ihrer Schuld und die Frage nach den Konsequenzen des neu affirmierten Glaubens in Gottes Gerechtigkeit. V 12–14 reinszenieren das göttliche Gericht als physische Gewalt gegen die Frau Zion; bemerkenswert ist hier insbesondere, dass die Gewalt nicht mehr als sexuelle Gewalt dargestellt wird. V 15f. öffnet den Blick auf die Stadtbevölkerung hin – Zion tritt hier als Stadtmutter auf. Die schmerzhaften Folgen des Gerichtes, die Zion in V 12–14 beschrieb, werden nun in ihren Auswirkungen auf die Stadtbevölkerung, Zion »Kinder«, dargelegt. Mit V 17 und der letzten Stanze kommt daraufhin wiederum die Frage nach der Schuld in den Blick – die allerdings von Zion selbst thematisiert wird. Zuweilen wird, insbesondere bei Versuchen, Frau Zion für eine feministische Exegese wieder zu gewinnen, darauf hingewiesen, dass Zions Schuldeingeständnis durchaus qualifiziert sei. Beispielsweise weist Miller auf die unterschiedlichen Formulierungen zwischen V 5b (‫ )על רב־פשעיה‬und V 22b (‫על‬ ‫ )כל־פשעי‬hin: »Jerusalem’s substitution of ‫ לכ‬for ‫ בר‬points to a significant difference between »all my sins« (perhaps only two or three) and »her many sins.« Jerusalem surely admits her culpability, but only on her own terms.«734 Fraglich ist allerdings, ob damit tatsächlich etwas gewonnen ist. Die Relativierung, die hier eingeführt wird, wird durch die doppelte Nennung von ‫ מרה‬doch mehr als ausgeglichen. Interessanter erscheint da der Vorschlag, in V 18 einen sarkastischen oder ironischen Ton zu hören.735 Mandolfo argumentiert dafür, dass ‫מריתי‬ ohne mater lectionis (dann also ‫ )מרתי‬genauso gut von ‫ מרר‬bitter sein abgeleitet sein könnte.736 Damit könnte V 18a in sarkastischem Tone auch mit Gerecht – das ist JHWH? Fürwahr, sein Befehl verbitterte mich! Übersetzt werden. Lee kommt bei Beibehaltung von ‫ מרה‬zu einer in die gleiche Richtung gehenden Übersetzung von Innocent is YHWH, but I rebel against his speech! 737 Beide Vorschläge entstammen der Überzeugung, dass Zion eine eigene Stimme hat, und subversiv gegen die Stimme des Sprechers – und damit JHWHs – aufbegehrt. Die in V 21c– 22b von Zion geäußerte Hoffnung, dass die Feinde das gleiche Schicksal erleiden 734 Miller (2001), 401f. 735 Lee (2002), 124; Mandolfo (2007), 93. 736 In der Tat basiert genau darauf das Argument von Seow (1985), der Klgl 1,20b mit »my heart is turned over within me, how bitter am I« übersetzen will, ein Vorschlag, dem Berlin (2002), 47 folgt. Auch Berges (2002), 90.121 zweifelt, entscheidet sich jedoch letztlich für MT. 737 Lee (2002), 123.

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mögen, stützen diese Interpretation: Hier ist eine Frau zu erkennen, die zwar krank und desolat ist, doch nicht ihren eigenen Willen aufgegeben hat, und die auch in der eigenen Not darauf besteht, dass Gerechtigkeit geschehe. Die Konsequenzen des eigenen Handelns akzeptiert sie zwar – doch fordert sie diese gerade wegen der vorausgesetzten Gerechtigkeit Gottes auch für ihre Widersacher ein. Doch auch wenn man davon ausgeht, dass hier ein rebellisches Element durchscheint, so bleibt doch der depressive Schluss des Liedes (V 22c): ‫כי־רבות‬ ‫ אנחתי ולבי דוי‬denn meine Seufzer sind viele und mein Herz ist krank.738 Eine Interpretation, nach der der aufbegehrender Blick Zions das Narrativ des Sprechers nicht unhinterfragt hinnimmt, muss trotzdem den ermatteten Tenor des Endes des Liedes zur Kenntnis nehmen. Hier könnten die Interpretation von Guest und O’Connor anknüpfen, die in diesen Versen eine Frau sprechen hören, die sich selbst auch noch die Schuld für ihre Misshandlungen gibt.739 Nimmt man diese Hinweise ernst, verdichtet sich das Bild von Klgl 1 als eines Liedes, das als »hermeneutischer Einstieg« des Buches dient,740 und mittels des Bildes der geschändeten und trotzigen Frau Zion die im Verlauf des Liedes zutage tretenden theologischen Konfliktpunkte relativiert und abschwächt.741

6.1.3 Die Funktion von Klgl 1 im Rahmen des Buches Klgl 1 wurde in der Vergangenheit ganz verschieden gelesen. Dobbs-Allsopp sah darin eine Lokaladaption der mesopotamischen Stadtuntergangsklage,742 Westermann einen Volksklagepsalm, der einzelne Elemente der Totenklage enthält.743 Kraus nimmt den »lebendigen Stimmenwechsel« zum Anlass, einen kultischen 738 Es ist immerhin bemerkenswert, dass der Hinweis auf die eigenen Verbrechen in V 22b an sich nur eine Parenthese zur Hauptaussage – Tue an ihnen, wie du an mir getan! – bildet und die eigentliche Schlusspointe in der Vielzahl der eigenen Seufzer und des kranken Herzens liegt. Die Hauptaussage des Verses liegt in der Einforderung der noch nicht erfolgten(!) Bestrafung der Sünden der Feinde, sowie dem nochmaligen Hinweis auf die Folgen der göttlichen Bestrafung für Zion selbst. 739 Auch Mandolfo (2007), 93 überlegt, ob »Zion’s confession might be read as coerced.« 740 Frevel (2002), 127, Anm. 76. 741 Linafelt (1995), 51ff. sieht einen ähnlichen Prozess mindestens für Klgl insgesamt gegeben: Klgl als Text sei in seiner JHWH herausfordernden Art innerkanonisch theologisch untragbar. Um das »Überleben« des Buches zu sichern, bedürfe es Relectures (z. B. in DtrJes, oder im Targum zu den Klgl), die die z. T. krassen Anklagen der Lieder relativieren und somit theologisch tragbar machen. Beim genaueren Hinsehen beginnt dieser Prozess schon innerhalb des Buches. 742 Dobbs-Allsopp (1993), 157f. 743 Westermann (1990), 105.

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Sitz im Leben im Rahmen von gottesdienstlichen Klagefeiern anzunehmen.744 Man kann den Text als Versuch der überlebenden Eliten lesen, nach der Katastrophe durch das slut shaming der personifizierten Stadt ein unsicher gewordenes Selbstwertgefühl zu festigen.745 Man kann in Klgl 1 die survivor guilt der Überlebenden am Werke sehen, die die Stadt posthum nochmals dafür verurteilen, dass sie selbst überlebt haben.746 Schließlich kann man das Lied auch »klassisch« als eine Klage über das über Israel gekommene Gericht zu lesen. Was aus all diesen möglichen Lesarten spricht, ist in erster Linie eine bemerkenswerte Offenheit des Liedes, also ein Nebeneinander von Themen und Motiven, die in verschiedene Richtung hin interpretiert werden können. Dies geschieht jedoch nicht ohne einen eigenständigen Blick: Klgl 1 spricht ja durchaus Probleme an! Auffällig ist dabei allerdings, dass dies mittels einer höchst problematischen Metaphorik geschieht.747 Dass dies erst in jüngerer Zeit und vorwiegend von weiblichen Exegetinnen thematisiert wurde, beweist nicht zuletzt ihre subtile Wirksamkeit – die effektivste Propaganda ist bekanntlich die, die nicht als solche wahrgenommen wird. Der Beitrag, den Klgl 1 zum Buch liefert, ist ein doppelter: Einerseits führt das Lied in das Thema ein. Hierzu ist die angesprochene Offenheit sehr dienlich – sie ermöglicht, verschiedene Facetten und Blickwinkel zu präsentieren, ohne sich vorschnell festlegen zu müssen. Zudem erleichtert die ausgewogene Gliederung und klare inhaltliche Konzeption des Liedes den Einstieg in die Materie. Wie die Ouvertüre einer Oper stimmt das Lied die Hörer*innen auf eine wohl austarierte Darstellung ein und prägt das Erwarten der Rezipient*innen auf eine folgerichtige und nachvollziehbare Darstellung vor.748 Klgl 1 ist somit zuerst und zuvorderst ein guter Einstieg. Daneben wird durch die spezifische Art der Darstellung als ein Gegenüber von Sprecher und Zion die weitere Diskussion gerahmt und präformiert: Indem Klgl 1 ein normatives Set an Begriffen und Argumenten bereitstellt, wird die Gefahr gebannt, dass die nachfolgende Diskussion Grenzen überschreitet. Darüber hinaus prägt die Art, wie Klgl 1 das Bild der Frau Zion nutzt: Nachdem der Hörer in dramaturgischer Plastizität präsentiert bekommen hat, wie die subtile Got744 745 746 747

Kraus (1983), 12. So Guest (1999). Pyper (2001). Diese ist ja keinesfalls durch das Thema erzwungen. Klgl 2 zeigt deutlich, dass das Heranziehen des Motives der Frau Zion im Zusammenhang des göttlichen Zorngerichts nicht nötigt, den Topos »Zion als Ehebrecherin« aufzugreifen. Ganz im Gegenteil – hier weint der Sprecher mit Zion, und das Lied endet mit einer (unwidersprochenen!) Anklage Zions, die JHWH massiv in die Defensive drängt. 748 Dies ist gegen Westermann (1990), 82 festzuhalten. Gerade die Voranstellung von Klgl 1 macht deutlich, dass es im Buch keinesfalls nur um Klage geht. Das Ziel ist sehr wohl »ein gedanklich-theologischer Ertrag, der in eine Lehre gefasst werden könnte.«

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teskritik von Klgl 1 nicht nur abgebügelt, sondern rhetorisch in Vorwürfe an Zion umgemünzt werden kann, ist es umso schwerer, aus diesem Schema in den folgenden Liedern auszubrechen. Die folgenden Überlegungen gliedern sich daher in drei Unterpunkte: Die ungleiche Dynamik zwischen Sprecher und Zion, die spezifische Art der Thematisierung des Konfliktes zwischen Zion und Gott, sowie die Art, wie theologische Probleme innerhalb des Liedes angedeutet werden. 6.1.3.1 Das Machtgefälle zwischen Sprecher und Zion Kommentare zu Klgl 1 bemerken häufig den unterschiedlichen Diskursstil zwischen Sprecher und Zion. Der Sprecher wird häufig als objektiv beschrieben, Zion hingegen als emotional und subjektiv. Zwei ganz offensichtliche Beobachtungen werden dabei nicht weiter problematisiert: (1) Während der Sprecher außerhalb des Geschehens steht, steht Zion im Mittelpunkt der Darstellung und wird als gedemütigte und sexueller Gewalt ausgesetzte Frau präsentiert. (2) Der Sprecher ist ein Mann, Zion eine Frau. Die sich darin äußernde (und intendierte!) Machtdifferenz wurde erst in jüngerer Zeit problematisiert. Eine der umfassendsten Beschäftigungen mit dem Thema wurde von Deryn Guest vorgelegt. Ihr zufolge durchzieht insbesondere Klgl 1–2 ein sexistisch-voyeuristischer Blick, mit weitreichenden Konsequenzen sowohl für die Interpretation des Textes wie auch seine Benutzung in Lehre und Pastoral. Guest charakterisiert das im Text angelegte frauenfeindliche Bild durch eine verdichtende Zusammenschau einzelner Beobachtungen: Zion ist vereinsamt, ohne Trost, wird öffentlich nackt zur Schau gestellt und erniedrigt. Sie wird vergewaltigt und ihre Rufe nach Solidarität und Aufmerksamkeit verhallen ungehört. Zur sexuellen kommt physische Gewalt hinzu. Von Freunden und ehemaligen Liebhabern wurde sie verraten; Zion bleibt in ihrer Trauer allein. Dabei gilt: indem Zion ihre eigene Schuld beschreibt, validiert sie somit die an ihr vollzogenen Strafen. Diese Darstellung hat Folgen für die Interpretation des Liedes. (1) Klgl 1 unterstützt und perpetuiert ein stereotypes Frauenbild. Da Gott der Strafende ist, wird die der Frau angetane Gewalt normalisiert und als angemessen dargestellt.749 (2) Zion macht durch ihre Selbstbezichtigungen deutlich, dass sie ihr Los als gerecht akzeptiert. Der Verharmlosungseffekt wird dadurch noch verstärkt.750 749 Hierzu auch: Graetz (1995), 145. 750 Graetz (1995), 136f. macht darauf aufmerksam, wie derartige biblische Bilder bis in die heutige Zeit in Literatur und gesellschaftlichem Diskurs weiterwirken und damit frauenfeindliche Stereotypen perpetuieren. Es hilft daher auch nicht weiter, zu argumentieren, die dargestellte Gewalt an Frauen solle nicht verharmlosen, sondern im Gegenteil schockieren und aufrütteln (Berlin [2002], 8f.). Die Metapher basiert darauf, dass die Gewalt von Gott

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(3) Durch die Selbstbezichtigung Zions wird verschleiert, dass auch in jenen Passagen eine maskuline Perspektive zum Ausdruck kommt. (4) Schließlich besteht die Gefahr, dass die an der Frau zelebrierte Strafe zu einem Mittel männlicher Selbstvergewisserung verkommt, die in einem Moment der Krise lediglich das eigene Selbstbild stabilisiert. Guest weist darauf hin, wie biblische Kommentare diese Strategien der Schuldverlagerung perpetuieren: So wird durchweg viel zu wenig (häufig gar nicht) darauf aufmerksam gemacht, dass und wie in Klgl 1 Schuld lediglich als Schuld einer Frau im Blick ist. Es bleibt unhinterfragt, inwiefern die dargestellte Strafe – zumal in ihrer Darstellung als sexuelle Gewalt gegen Frauen – in ihrem Umfang überhaupt angemessen sein kann. Dies umso mehr, als die Sünden Zions, die als Begründung für jene Bestrafung angeführt werden, durchweg unspezifisch bleiben. Gerade wenn die Gerechtigkeit und Angemessenheit des Gerichts die unhinterfragte Prämisse bleibt, besteht die Gefahr, dass z. B. die empörten Anklagen Zions in Klgl 2,20–22 nicht angemessen wahrgenommen werden. Die Gewalt der Bilder wird heruntergespielt und damit umso nachdrücklicher im Text verankert.751 Die naheliegende Frage, wie die Opfer von Vergewaltigungen oder häuslicher Gewalt aus derartigen Bildern eine Botschaft der Hoffnung gewinnen sollen, wird praktisch nie – und wenn, dann nur von Frauen – gestellt.752 Guests Position ist für einen männlichen Leser durchaus herausfordernd – und gerade deshalb bereichernd.753 Sie sind daher einen guter Ausgangspunkt für ausgeht und damit gerechtfertigt ist: Zumindest diese Frau Zion hat derartige Strafen also verdient. Daraus würde folgen, dass sexuelle Gewalt bis hin zur Vergewaltigung zumindest manchmal die angemessene Strafe für (weibliches) Fehlverhalten sein kann. 751 Gordon et al. (1995), 323 verweist auf die exegetical gallantry, die sich gerade in älteren Arbeiten zeigt. Wenn Stinespring (1965), 136 die Vergewaltigungsmetaphorik mit den Worten kommentiert »Nothing is more touching than a ravished maiden.« oder Fitzgerald (1972), 416 bemerkt, dass »violence done to a delicate young mother is violence indeed«, so zeigt sich eine sicher zeitgeschichtlich erklärbare, damit jedoch nicht weniger problematische Tendenz der Verharmlosung. 752 Vgl. beispielsweise Leaman (2009) für pastorale Erwägungen zur Nutzung von Klgl 1–2 durch Missbrauchsopfer. 753 Natürlich kann man auf ihre Argumentation verschiedenes einwenden: (1) Es gilt, die methodischen Vorentscheidungen Guests nicht aus den Augen zu verlieren. Ihre Argumentation basiert darauf, die verschiedenen Hinweise auf Gewalt gegen Frauen in Klgl 1–2 zu bündeln und neu zu ordnen. Das heißt einerseits, dass durchaus nicht sämtliche Äußerungen über Frau Zion sexistisch oder gewalttätig sind (vgl. Klgl 2,11–22). Es heißt aber auch, dass es eine »kritische Menge« derartiger Stellen gibt, die nicht einfach ignoriert werden darf. (2) Im Umkehrschluss gilt es aber auch zu bedenken, dass das Frauenbild der Klgl nicht ausschließlich durch die problematischen Stellen von Klgl 1 umrissen wird. So ist das Frauenbild von Klgl 2 weit positiver – demgegenüber wird das göttliche Gericht sehr viel kritischer gesehen. Beides strahlt auf Klgl 1 zurück. In Klgl 3 wird der Mann gerade in der ersten Sektion motivisch an Frau Zion angeglichen; der göttliche Zorn, der sich in Klgl 1 als physischer Missbrauch äußert, sucht ähnlich auch den Mann heim. Die eine Stelle, an der innerhalb der Klgl explizit von der Vergewaltigung von Frauen die Rede ist (Klgl 5,11) lässt

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die Diskussion der in Klgl 1 eingeschriebenen Machtdifferenz zwischen Zion und Sprecher, und bestimmen zugleich ihren methodologischen Ort: Eine feministische Kritik von Klgl 1 ist nicht deshalb von Interesse, weil sie feministische Kritik ist – wenngleich diese Perspektive durchaus vermehrte Aufmerksamkeit verdient –, sondern weil sie einen Zugang ermöglicht, durch den die Ideologie des Liedes offenbart werden kann. Wäre Klgl 1 ein Erzähltext, würde man den Sprecher als heterodiegetischer Erzähler klassifizieren: Er steht weitgehend unbeteiligt außerhalb des erzählten Geschehens – weder gibt es eine direkte Interaktion des Sprechers mit Zion, noch berichtet er über seine eigenen Gedanken oder Gefühle. Weder hungert er wie die Bevölkerung, noch leidet er Schmerzen wie Zion. Zudem ist er weitgehend allwissend.754 Im Kontext biblischer Texte bedeutet das: »The very choice to devise an omniscient narrator serves the purpose of staging and glorifying an omniscient God.«755 Was Sternberg hier für narrative Texte formuliert, gilt genauso für Klgl 1: Der Sprecher ist nicht objektiv oder unbeteiligt, sondern unterstützt, bestätigt und legitimiert die göttliche Perspektive.756 keinen Zweifel an der Schändlichkeit des Vorgangs. (3) Die Mechanismen der Schuldverlagerung aus Klgl 1 basieren auf der Personifizierung der Stadt. Da diese in Klgl 4 und 5 praktisch keine Rolle mehr spielt, wird jenes shifting of blame im weiteren Verlauf des Buches konterkariert. (4) Bei allen Gemeinsamkeiten unterscheidet sich die Darstellung Zions von ähnlichen Darstellungen in der prophetischen Literatur (vgl. Jer 13,20–27; Ez 16,37–40; Nah 3,4; Jes 47,2–9) in wichtigen Details. Auch dort wird eine untreue Ehefrau öffentlich zur Schau gestellt und durch ihre Entblößung gedemütigt. Allerdings schweigt die gedemütigte Frau in diesen Szenen. Zions klagenden Aufforderungen an Gott und die Vorbeigehenden, setzt genau in dem Moment ein wo sie am verwundbarsten, einsamsten und am meisten verachtet ist. Es ist schwer, hierin nicht den Versuch zu sehen, Mitgefühl und Solidarität im Hörer zu erzeugen. Zudem gilt auch über diesen Klageausruf hinaus, dass die Solidarisierung des Hörers mit Zion ermöglicht und gefördert wird: Die Schmerzen und Verzweiflung, ihr Stöhnen und Abwenden usw. werden nicht an ihre Schuld rückgebunden (und damit als berechtigte Konsequenzen ihrer Sünden dargestellt), sondern an das Hämen und Agieren der Feinde. Dies verunmöglicht Distanz. (5) Die prophetische Ehebruch-Metapher führte schon innerbiblisch zu Kritik und Umdeutung. Ausgehend von den »Spitzentexten« in Hos 2; Jer 13; Ez 16; 23 finden sich erste Abwandlungen in der Aufnahme des Motivs in Klgl 1. DtrJes reinterpretiert die Ehebruchs-Metapher auf verschiedene Weise: in Jes 49,14–21; 54,1–10 werden JHWH und Zion als Ehepaar dargestellt; in einer Reihe von Versen erscheint JHWH gar als Mutter (Jes 42,14; 45,10; 46,3f.; 49,15). Es wäre somit möglich, Klgl 1 als Beginn der kritischen Auseinandersetzung mit der Metapher zu deuten. 754 Die Qualifizierung ›weitgehend‹ ist wichtig. Zions Gedanken erfahren wir in erster Linie durch ihre eigene Rede – und dort nur insofern sie diese Gedanken auch ausspricht. Allerdings hat der Sprecher doch Zugang zu Informationen, die einem normalen Beobachter verborgen blieben: Er kann in V 4 berichten, dass Zion »verbittert« ist, er weiß in V 7, dass Zion/Jerusalem der Tage der Not und Unrast bedenkt, und in V 8, dass ihre Verehrer Zion »verachten«. 755 Sternberg (1987), 89. 756 Anders Boase (2008b), 33.41: »God’s character is constructed by the personae in the text, but because God does not speak, divine authority is not given to any of those points of view.«

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Grundsätzlich ist die Geschlechterdifferenz zwischen Zion und Sprecher festzuhalten. Während die Personifizierung Zions auf der Überzeugung aufbaut, dass es »illicit aspects of womanhood« gibt, auf die die Darstellung aufbauen kann, verkörpert der Sprecher schon qua Gender Vernunft und Rationalität. »[A] woman’s voice, according to the cultural code of Lamentations, can achieve expressivity but not reflection.«757 Schon von daher ist Zion in einer schwächeren Position. Der Sprecher deutet Zions Zustand als Resultat göttlicher Beschlüsse und Entscheidungen. So weiß er, dass JHWH Zion betrübt wegen ihrer vielen Verbrechen (V 5), und dass JHWH gegen Jakob seine Bedränger befohlen hat (V 17). In beiden Fällen wird keine Vermutung geäußert oder aus dem beobachteten Geschehen auf göttliche Entscheidungen rückgeschlossen – vielmehr werden sie als Fakt benannt. Der Sprecher wird damit als eine Figur präsentiert, die Zugriff und Einblick in die göttlichen Entscheidungsprozesse hat, in gewisser Weise somit mit göttlicher Autorität beschreibt. Zugleich wird damit grundsätzlicher Kritik – sowohl am Sprecher wie auch den angeblichen göttlichen Entschlüssen – ein Riegel vorgeschoben. Mit welchem Recht (und welcher Aussicht auf Erfolg) könnte eine Frau gegen die Ratschlüsse Gottes opponieren? Der Sprecher bleibt trotz eines Beschreibungsstils, der beim Hörer Solidarität und Mitgefühl auslösen mag, selbst unbeteiligt. Während der Sprecher in Klgl 2,11–13 erst in Tränen ausbricht und anschließend seine eigene Rat- und Hilflosigkeit bekennt, ist in Klgl 1 keinerlei emotionale Regung erkennbar. Auch dies dient dem Ziel der Zementierung göttlicher Autorität und der Angemessenheit des Gerichts: Der Sprecher gibt durch sein eigenes Beispiel zu erkennen, dass die angemessene Reaktion auf das göttliche Gericht kühle Distanziertheit und implizite Zustimmung ist. Entsprechend erfolgt auch die Beschreibung des göttlichen Gerichtes ohne eigene Positionierung. Die nackte, vor ihren Verehrern entblößte Frau Zion beschreibt er ohne ein Wort des Mitgefühls. Dass es für Zion keinen Tröster gibt, wiederholt er zwar mehrfach (V 2.9.16), bewertet den Umstand aber nicht. Als Sprecher, der Zions Schicksal beschreibt, ist der Sprecher nicht Teil der spottenden Verehrer. Allerdings beguckt er sehr wohl die entblößte und erniedrigte Frau. Auf der Bildebene ist er somit ein (bekleideter) Mann, der eine nackte und erniedrigte Frau beschreibt. Auch hier macht das Fehlen jeglicher Wertung deutlich, dass der Sprecher diese Konstellation offenbar nicht weiter problematisch findet. Zion, auf der anderen Seite, äußert ebenfalls keine offene Kritik. Sie beschreibt die ihr zugefügte Gewalt zwar in deutlichen Worten, gibt jedoch nur in Andeutungen zu verstehen, dass sie mit ihrer Behandlung nicht einverstanden ist. Das gesamte Wortfeld menschlicher Äußerungen und Gefühlsregungen bleibt beschränkt auf vorrangig passive Ausdrücke wie weinen (V 2.16), trauern (V 4), 757 Mintz (1982), 3.9.

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seufzen (V 4.8.11.21.22), betrübt sein (V 4.12), verbittert sein (V 4), verstört sein (V 13.16), bang sein (V 20). Die Darstellung unterbindet ein Aufbegehren gegen den göttlichen Ratschluss gleichsam schon durch das verwendete Vokabular. Zusammengefasst ist somit festzuhalten, dass sich die vermeintliche Objektivität des Sprecher genauso gut als aktives Vertreten der sich hinter dem Text verbergenden Ideologie der unbedingten Gerechtigkeit göttlichen Handelns deuten lässt. 6.1.3.2 Auswahl und Darstellung der theologischen Probleme Neben den subtilen Gewichtungen, die durch die Gegenüberstellung des Sprechers mit Zion als Frau erzeugt wird, lässt sich die Parteilichkeit des Textes auch anhand der theologischen Fragen, die aufgeworfen werden, sowie die Art ihrer Problematisierung ersehen. Der exegetische Durchgang identifizierte zwei Stellen, an denen theologische Kritik durchscheint, wobei diese jeweils einmal aus dem Munde Zions, und einmal aus dem Munde des Sprechers formuliert werden. Dies war zum einen der Vorwurf in V 10bc, dass das von JHWH befohlene Gericht dazu führte, dass Gottes eigene Gebote übertreten wurden. Damit ist implizit die Frage nach der Verlässlichkeit auf göttliche Zusagen, in letzter Konsequenz auch nach der Verlässlichkeit der Erwählungszusage Gottes an Israel, gestellt. In die gleiche Richtung gingen auch die Andeutungen von V 17. Lexematisch zeigte der Vers starke Bezüge zu V 10 und dessen Kontext. Durch die Formulierung ‫ צוה יהוה ליעקב‬befohlen hat JHWH gegen Jakob … deutet der Sprecher an, dass Gottes Handeln keinesfalls Resultat eines jähzornigen Impulses war, sondern Ergebnis einer wohl bedachten Entscheidung (vgl. die parallele Stellung von ‫ זמם‬und ‫ זוה‬in Klgl 2,17: ‫עשה יהוה אשר זמם בצע אמרתו אשר צוה‬ ‫ מימי־קדם‬Es tat JHWH was er geplant, vollstreckte sein Wort, das er befohlen seit den Tagen der Vorzeit). Durch die Verwendung der theologisch aufgeladenen Bezeichnung Jakob wird nur noch unterstrichen, dass beim Gericht gegen Israel zwei zueinander in Spannung stehende Glaubensinhalte zusammen gedacht werden müssen: Gottes Erwählung Israels, sowie sein wohlüberlegter Entschluss, dieses Volk dem Gericht anheim zu geben. Auf der anderen Seite fiel auf, dass Zion die Rede vom Tag seiner Zornesglut (V 12) mit einer Darstellung konterkarierte, in der dieses Gericht über ein Individuum hereinbricht. Instruktiv ist hier der Vergleich mit Klgl 2: Klgl 2 ist das Lied, in dem das Wortfeld »göttlicher Zorn« am umfassendsten vertreten ist. Allerdings konzentrieren sich die Mehrzahl der Belege auf die erste Sektion, in der die Zerstörung Israels als Staat bzw. Nation beschrieben wird. Hier hat das Theologumenon »Zorn Gottes« seinen ursprünglichen Ort. Demgegenüber finden sich in den Partien, in denen der Sprecher Zion als Frau anredet (Klgl 2,13– 19) kein einziger derartiger Begriff. Und in der Rede Zions (Klgl 2,20–22) selbst ist

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der ‫ יום אף־יהוה‬mit dem Tod der Bevölkerung verbunden. Deutlich ist hier erkennbar, dass das Konzept als letztlich politisches Motiv den Sieg oder Untergang von Völkern und Nationen begründen kann. Als solches ist der Zorn Gottes immer noch beklagenswert – darum der Hinweis auf die getöteten Bewohner Zions –, jedoch prinzipiell verständlich. Im Kontext dessen ist auch die Abwendung von diesem Gott eine vollständig rationale Konsequenz. Genau das passiert in Klgl 1 nicht. Der Zorn Gottes wird auf Zion als Person bezogen; erst in der nächsten Sub-Stanze wird auf die »Kinder« Zions abgehoben. Zion führt den Konflikt, eine politische Deutungskategorie auf das Schicksal eines Individuums anzulegen, nicht aus. Ganz deutlich wird dies hingegen in Klgl 2, wo der ‫ יום אף־יהוה‬in V 1.21.22 genannt wird, jedoch der einzige Hinweis auf eigene Schuld in V 14 erfolgt. Auch der Mann eröffnet seine Darstellung der eigenen Verfolgung in Klgl 3,1 mit dem Hinweis auf den göttlichen Zorn, ohne in den folgenden V 2–18 auch nur einmal auf eigene Sünde hinzuweisen. Dieser Umstand wird umso stärker, je mehr man die Figürlichkeit Zions, die über die Personifikation einer Stadt hinauswächst, hervorhebt.758 Doch auch hier bleibt die Differenz zwischen Zion und Sprecher erhalten. Zions »Kritik« – es ist mehr eine argumentative Leerstelle denn tatsächlich formulierte Kritik – hebt auf die Unerklärlichkeit des sie heimsuchenden Leids ab. Sowohl in Bezug auf sich selbst, wie auch als »Stellvertreter« für die einzelnen Bewohner der Stadt, geht es ihr um das Ausmaß des Leides und die Unerklärlichkeit des Ausmaßes. Dem gegenüber dreht sich die Kritik, die der Sprecher äußert, um die Frage, ob JHWH seinen eigenen Ratschlüssen treu bleibt. Die Geschlechterdifferenz bleibt erhalten: Die Frau prangert das Leid an, der Mann theologische Inkonsistenzen. Die Kritik des Mannes ist zwar nicht breit ausgefaltet, aber doch klar formuliert. Die Kritik der Frau ist nur in Ahnungen und als »beredtes Schweigen« fassbar. Selbst in seiner Kritik schafft es der Text somit, die Belange der Frau den Fragen »ernsthafter« Theologie unterzuordnen.

6.1.3.3 Die Balance zwischen Sünde und Gerechtigkeit Guests Beitrag legte einen besonderen Fokus auf das Motiv sexueller Gewalt und die Auswirkungen der Metaphorik sowohl auf die Exegese der Texte als auch auf die Relevanz des Textes für heutige Leser*innen und kam zu dem Schluss »[T]he metaphor works its agenda into the minds of its readers, sustaining its encoded messages.«759 Dass dies nicht nur mit Hinblick auf das Frauenbild, sondern auch 758 Mintz (1982), 5: »When Zion in her own words exclaims, »Is there any agony like mine?« it has the effect of a mute and distantly observed object suddenly springing to life and coming forward to speak. What has been a personification becomes more like a person.« 759 Guest (1999), 431.

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hinsichtlich der Argumentationsstrukturen zum Komplex Sünde – göttliche Gerechtigkeit gilt, sollen die nachfolgenden Anmerkungen deutlich machen. Häufiger als jedes andere Lied hebt Klgl 1 die Sündigkeit Zions hervor. Klgl 2 übergeht das Thema fast völlig. In Klgl 2,14 wird Zions Schuld zwar nicht geleugnet, jedoch erscheint sie insgesamt eher als vorausgesetztes Faktum vor dem der eigentlich beklagenswerte Umstand – das unverantwortliche oder inkompetente Handeln der Propheten – angesprochen wird. Klgl 3 ist ähnlich kurz angebunden (V 42: ‫ נחנו פשענו ומרינו אתה לא סלחת‬wir, wir haben verbrecherisch gehandelt und getrotzt. Du, du hast nicht vergeben.). Klgl 4 bietet drei deutliche Belege (V 6.13.22) und Klgl 5 zwei (V 7.16). Klgl 1 bietet dem gegenüber sechs Belege (V 5.8.14.18.20.22). Bedenkt man weiterhin, dass die gesamte Metaphorik von V 8–10 die schwere Sündigkeit Zions prominent im Fokus bewahren, ist deutlich, dass Klgl 1 praktisch genauso oft von Sünde spricht, wie die restlichen Lieder zusammen. Hinzu kommt, dass Klgl 1 großen Wert auf die Vorsätzlichkeit des sündigen Handelns legt: Zum einen wird dreimal (V 5.14.22) der Begriff ‫פשע‬ Verbrechen verwendet, zum anderen verdeutlichen V 18.20 mittels ‫ מרה‬trotzen, dass es sich bei der Sünde um keine versehentlichen Gesetzesübertretungen handelte. Schließlich bemerkenswert, dass vier der entsprechenden Stellen Selbstbezichtigungen Zions sind (V 14 – ‫ ;פשע‬V 18 – ‫ ;מרה‬V 20 – ‫ ;מרה‬V 22 – ‫)פשע‬. Die von Guest angesprochenen Mechanismen der Schuldverlagerung von den männlichen Eliten auf die weibliche Figur Zion basieren unter anderem darauf, dass Zion ihre Schuld »einsieht«. Wenn das Gericht als Reaktion auf Sünde konzipiert ist, und die Gestrafte sich die Anschuldigungen zu eigen macht, ist der Effekt der einer Legalisierung und Normalisierung der Strafe. Dass dies so problemlos funktioniert, ist umso bemerkenswerter vor dem Hintergrund der nur einmaligen ausdrücklichen Affirmation der göttlichen Gerechtigkeit in V 18.760 Zugleich werden damit implizit Grenzen der Kritik etabliert, die gerade deshalb umso bindender sind, weil sie nicht angesprochen werden. »[W]hat is asserted is often what is most questionable«761 schreibt Pyper und bringt damit zum Ausdruck, warum der Effekt so wirksam ist: Ein deutlich formuliertes Verbot verschließt Türen – doch käme es nicht umhin, zumindest die Existenz von Türen zuzugeben. Dem vorliegenden Text gelingt es, diese Notwendigkeit zu umgehen.

760 Andere Stellen (vgl. exemplarisch V 5b.22ab) setzen sie deutlich voraus; benannt wird sie jedoch nur hier. 761 Pyper (2001), 62.

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6.1.3.4 Zusammenfassung Klgl 1 eröffnet das Buch somit in zweierlei Weise. Zum einen führt es in das Thema ein. Es etabliert die Figuren des Sprechers und Zions, es skizziert das Setting, umreißt das grundlegende theologische Problem der Frage um die Konsequenzen des Gerichts auf die Glaubensinhalte der Erwählung Israels und der Gerechtigkeit Gottes und macht die Hörer*innen mit den wichtigsten inhaltlichen Motiven vertraut. Es etabliert die Akrostichie und macht schon mit dem ersten Wort ‫ איכה‬deutlich, dass das Folgende mehr ist als eine herkömmliche Klage. Auf dieser Ebene zeichnet Klgl 1 eine bemerkenswerte Ausgeglichenheit aus. Von allen fünf Liedern ist die Personifizierung Zions in Klgl 1 am deutlichsten und nimmt den meisten Raum ein. Zugleich weist das Lied die meisten Sprecherund Perspektivenwechsel auf. Schließlich wandelt sich auch die Metaphorik, mit der die Stadt beschrieben wird, mehrmals. Das Lied setzt mit dem Vergleich Zions mit einer Witwe ein, kontrastiert dies mit ihrem früheren Status als Fürstin und leitet im nächsten Vers über zur Darstellung Zions als weinende und verlassene Frau. Wenige Verse später erscheint sie als Mutter, deren Kinder verschleppt wurden, um kurz darauf als bloßgestellte Frau und Ehebrecherin gezeichnet zu werden. In der zweiten Sektion tritt sie erneut als um ihre Kinder klagende Mutter auf und als von Liebhabern verlassene Frau.762 Die wechselnde Zeichnung Zions, die Perspektivenwechsel und der Wechsel von Sprecher zu Zion und vice versa verleihen der Darstellung eine Lebhaftigkeit, die dem Publikum die Option gibt, der Darstellung aus verschiedenen Blickwinkeln zu folgen. Es ermöglicht, eine eigene Position in Übereinstimmung, aber auch Abgrenzung zu den vorgestellten Standpunkten zu finden – etwas, das bei einer homogenen Darstellung aus gleichbleibender Perspektive, wie sie z. B. in Klgl 5 vorherrscht, sehr viel schwerer fiele. Zugleich ist damit aber auch der argumentierende Charakter der Sammlung vorgeprägt. Sowohl Zion als auch die Bevölkerung der Stadt werden durchweg als Leidende dargestellt – im Gegensatz zum Sprecher, über dessen Zustand (psychisch wie physisch) man nichts erfährt. Dabei ist einerseits bemerkenswert, dass die Zerstörung der Stadt fast vollständig als physisches Leiden der Frau vorgestellt wird. Städtische Infrastruktur wird nur selten erwähnt; Hinweise auf ihre Zer-

762 Es gehört zur Spezifik der Personifikation Zions, dass die verschiedenen Rollen Zions einerseits nicht ineinander verblendet werden dürfen (Zion ist Ehefrau oder Tochter, Jungfrau oder Ehebrecherin, doch nicht verheiratete Tochter, noch ehebrechende Jungfrau), andererseits aber auch nicht gegeneinader ausgespielt. Zion ist Jungfrau und Tochter, Ehebrecherin, Fürstin, Witwe oder Ehefrau – aber eben nicht alles zugleich. (Dearman [2009], 155–157).

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störung fehlen völlig.763 Der Tempel wird erwähnt, spielt allerdings eine untergeordnete Rolle. Von der Zerstörung des Tempels ist keine Rede.764 Weitaus häufiger finden sich Aussagen, die sich auf den emotionalen Zustand von Frau Zion beziehen,765 bzw. die Bevölkerung in ihrem Leiden darstellen.766 In V 4ab sind es zudem Wege die trauern (‫ )אבל‬und Tore die verödet (‫ )שמם‬sind. Der wortwörtlich trostlose Zustand Zions wird nicht zuletzt durch die stetige Wiederholung ‫ אין־לה מנחם‬es gibt für sie keinen Tröster immer wieder betont. Die trauernde Stadt wird einerseits ihrer Bevölkerung gleich gezeichnet; ihre Emotionalisierung erleichtert eine Solidarisierung durch die Hörer*innen. Der Fokus auf passives Erdulden durch Verben wie seufzen, abwenden, verbittert sein, betrübt sein usw. unterstützt dies. Genau entgegengesetzt wirkt die Emotionalisierung der Stadt bei der Zeichnung Zions als promiske Frau. Ist man geneigt, auf ihre Tränen und ihr Klagen um das Schicksal ihrer Kinder mit Mitleid und Zuneigung zu reagieren, gerät ihr Klagen im Kontext ihrer Sünde und der Hinweise auf ihre vielen Verbrechen zum Erweis des Erleidens der gerechten Strafe.767 Dass die im Lied verwendeten Begriffe für Personen und Bevölkerungruppen – ‫אביר‬, ‫בחור‬, ‫בתולה‬, ‫כהן‬, ‫ – זקן‬weniger der Sphäre der Familie zuzuordnen sind, sondern allgemein(er) für die (politisch relevante) Zivilgesellschaft stehen, wirkt ebenfalls relativierend. Zugleich lässt der fehlende Fokus auf die konkreten Zerstörungen der Stadt das wahre Ausmaß des göttlichen Gerichts nie deutlich zu Tage treten. Im Gegensatz zu Klgl 2,1–9, wo es gerade das Ziel ist, das Ausmaß der Zerstörungen so plastisch wie möglich vor Augen zu führen, und wo eine exkulpative Strategie dementsprechend schwieriger umzusetzen ist, bleibt die Rede in Klgl 1 metaphorisch. Durch die sehr plastisch gezeichnete Figur Zion erlangt der Text dramaturgische Qualität. Diese ermöglicht einerseits, dass die Hörer*innen der Darstellung gleich Zuschauern folgen; sie bleiben in ihren Bewertungen und Gefühlen 763 764 765 766 767

Weitere Nennungen von Infrastruktur der Stadt in V 4.10.19f. Frevel (2002), 135. V 2a.4c.5b(.7a).8c.9c.11c.12bc.13c.14b.16a.18b.20ab.21a.22c. V 3ab.4bc.5a.6bc.7c.10ab.15abc.16c.18c.19bc. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die Zeichnung Zions als Ehebrecherin nur in der Rede des Sprechers, und dort vorrangig in den V 8–10 erfolgt. Die von Zion selbst stark gemachte Perspektive ist die der (Stadt)Mutter. Man kann hier eine der inhaltlichen Differenzen zwischen Zion und Sprecher erkennen: Der mütterliche Schutzinstinkt ist nicht nur unmittelbar nachvollziehbar, er fordert auch bedingungslose Solidarität ein. Zions Schuld mag noch so groß sein – wenn sie als klagende Mutter den Verlust ihrer Kinder betrauert, muss auch ein von ihrer Schuld überzeugter Hörer ihrem Schmerz recht geben. Dass diese Perspektive der trauernden Frau und Mutter diejenige ist, mit der das Lied schließt, ist durchaus nicht irrelevant: Das, was zuletzt gesagt wurde, bleibt im Ohr. Die Perspektive des Sprechers, der Zion als Ehebrecherin zeichnet, die ihre gerechte Strafe in Form von Schändung und Beschämung bekommen hat, wird durch Zions eigene Darstellung konterkariert.

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autonom und sind nicht gezwungen, sich vom redenden Ich mit angesprochen zu fühlen. Sie können – müssen aber nicht – unbeteiligt bleiben. Andererseits erleichtert die Dramatisierung der Darstellung, nach Klgl 1 unmittelbar mit Klgl 2 anzuknüpfen. Die Hörer*innen sind mit der Figur Zion inzwischen wohlvertraut – in Klgl 1,22 war sie ja noch selbst am Wort – und dass in Klgl 2,1 offenbar wieder der Sprecher über Zion spricht, ist eine Dynamik, die man aus Klgl 1 ebenfalls kennt. Da das Setting gleichbleibt, ist es ein leichtes, Klgl 2 als Fortsetzung von Klgl 1 aufzufassen – und somit den ersten Schritt dahin zu tun, die fünf einzelnen Lieder als Elemente einer umfassenden Darstellung zu interpretieren. Klgl 1 legt somit den Grundstein dafür, dass die Rezipient*innen im Folgenden aktiv nach weitergeführten Linien suchen, Motive aufeinander beziehen und die einzelnen Lieder als miteinander diskutierende Stimmen innerhalb einer übergreifenden theologischen Diskussion auffassen. Auf einer anderen Ebene fungiert Klgl 1 als durchaus ideologisch motivierte Einführung in eine theologische Fragestellung. Der Effekt ähnelt hier dem jeder Werbung – bestimmte Dinge werden in den Mittelpunkt gerückt, während gleichzeitig anderes in den Hintergrund tritt. Klgl 1 arbeitet auf dieser Ebene mit einer Reihe von deutlichen Differenzen zwischen Sprecher und Zion, die auf den krassen sexistischen Stereotypen biblischer Geschlechterdifferenz aufruhen. Zion wird ins Zentrum gerückt – doch dort als gedemütigte, erniedrigte, vergewaltigte und von Gott brutal bestrafte Frau dargestellt. Schon damit ist die Position Zions untergraben – denn da die ihr angetane Gewalt in letzter Konsequenz von Gott ausgeht, muss Zions Demütigung gerechtfertigt sein. Verstärkt wird dies durch die Selbstbezichtigungen Zions, mit denen sie selbst die ihr angetanen Entwürdigungen rechtfertigt. Das Publikum wird auf diese Weise dazu gebracht, einerseits die gewalttätige Behandlung Zions nicht abstoßend zu finden – sie selbst sagt ja, dass es in Ordnung ist; außerdem kommt es von Gott – und andererseits zu schlussfolgern, dass die Strafen Gottes offenbar gerecht und angemessen waren.768 Die sehr zurück genommene Position des Sprechers komplementiert die deutliche und bisweilen voyeuristische Präsentation Zions. In rhetorischer Hinsicht stellt die Zurückhaltung des Sprechers sicher, dass seine Autorität praktisch ununterscheidbar von der Autorität Gottes wird. So wenig wie Gott seine Handlungen erklärt oder begründet, so wenig stellt der Sprecher sie durch 768 Dieser Effekt, der auf dem Dilemma beruht, einerseits eine unmoralische und ungerechte Situation zu beobachten, jedoch andererseits an die Gerechtigkeit und moralische Integrität des Täters zu glauben, ist in der Psychologie als Cognitive Reinterpretation bekannt. »An extreme example of the same phenomenon was reported when the British forced a group of German civilians to march through a nearby Nazi death camp in the days just after the war. One of the civilians was overheard to remark, »What terrible criminals these prisoners must have been to get such punishment.« (zitiert nach Gleitman [1987], 328f.).

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eigene emotionale Appelle oder Bewertungen in Frage. Seine vordergründig objektive, in erster Linie jedoch die Frau in ihrem geminderten Status belassende Darstellung sichert sowohl die eigene wie auch die göttliche Autorität. Diese wiederum verstärkt und unterstreicht die wertende Haltung Zions gegenüber. Mit anderen Worten: Nicht nur ist es Gott selbst, der Zion Gewalt antut, und nicht nur gibt Zion ihre Zustimmung zu dieser Gewalt zu Protokoll, auch der unbeteiligt bleibende Sprecher vermittelt dem Publikum, dass die Frau ihre gerechte Strafe erhalte. In letzter Konsequenz ist es Schuld der Frau, dass sie vergewaltigt wird. Die subtile Wirksamkeit dieser propagandistischen Leistung zeigt sich darin, dass diese Konsequenz (wenngleich in verklausulierter Sprache) in den Kommentaren tatsächlich formuliert wurde. Damit ist die zunächst rein funktionale Frage: Wie etabliert der Text argumentative Grenzen und theologische Grundannahmen? beantwortbar: Indem eine eigentlich theologische Fragestellung anhand einer Figurendynamik diskutiert wird, die zu ihrer (De)codierung stark auf sexistische Deutungsmuster zurückgreift. Umso deutlicher – und gewichtiger – erscheint es vor diesem Hintergrund, wenn der Sprecher einmal selbst als Figur in Erscheinung tritt. Dies passiert in Klgl 1 nur an einer Stelle – nämlich in V 10, wo der Sprecher nicht mehr ein unbestimmtes Publikum anspricht, sondern unvermittelt das göttliche Gegenüber, und es ist einer von zwei Stellen, an dem in Klgl 1 subtile Kritik am Gericht geäußert wird. Auch hier zeigt sich die Genderdisparität: Die Kritik des Sprechers entzündet sich nicht an der Brutalität, die Zion erfährt, sondern an der sich darin andeutenden Inkonsequenz Gottes gegenüber seinen eigenen Geboten. Der Sprecher kritisiert somit auf theologischer Ebene. In V 12–13 ist es ihrerseits Zion, die den sie heimsuchenden Zorn Gottes mit ihren Schmerzen als Individuum kontrastiert und somit implizit die Plausibilität des Theologumenons des göttlichen Zornes für ihr Schicksal in Zweifel zieht. Insgesamt ist Klgl 1 somit in zweifacher Hinsicht Eröffnung und Einleitung: Sie führt in das Thema ein, und macht mit Motiven und Themen vertraut. Andererseits stellt sie argumentative Grenzen auf, bietet ein Interpretationsmuster an und prägt damit die Rezeption der nachfolgenden Lieder vor.

6.2

Klgl 2 – Gott beschädigt sich selbst

Nach Klgl 1 ist eine Fortsetzung durch ein weiteres Lied erst einmal nicht zwingend zu erwarten. Klgl 1 schafft es, einen »runden Bogen« zu spannen, der Zion am Ende zwar seufzend und mit krankem Herzen zurücklässt, jedoch trotzdem eine in sich stimmige Aussage bietet. Zugleich ermöglichen die vielen dramatischen Elemente von Klgl 1 eine Anknüpfung bzw. Weiterführung ohne

Klgl 2 – Gott beschädigt sich selbst

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größeren inhaltliche Brüche. Den Hörer*innen sind interpretative und dramaturgische Deutungsschemata an die Hand gegeben, mittels derer die Fortführung in Klgl 2 eingeordnet werden kann. Nach der Einführung durch Klgl 1 ist eine Problemzuspitzung durch Klgl 2 nicht notwendig – sie ist aber möglich. Dabei sprengt die Metaphorik teilweise fast die Grenzen des Sagbaren und ist von einer aggressiven Unmittelbarkeit, die die Hörer*innen ohne vorherige Warnung regelrecht überfordert. Wurden im letzten Kapitel vorrangig die Mechanismen von Klgl 1 thematisiert, die die Präformierung einer weiteren Diskussion bewirken, zeigt eine Beschäftigung mit Klgl 2, dass Klgl 1 auch wichtig ist als Einführung und Vorbereitung. Erst mit einer Rahmung ist es nachvollziehbar, dass ein derart gewalttätiger und aggressiver Text wie Klgl 2 überhaupt weiter tradiert wird.769 Wie zuvor, werden die Ausführungen in einen Abschnitt exegetischer Anmerkungen und einen Bereich, in dem die Funktion des Liedes im Kontext des Buches diskutiert wird, untergliedert.

6.2.1 Gliederung Auch die Gliederung von Klgl 2 (vgl. Übersicht 17) kann eine Einteilung des Liedes in Strophen, Stanzen und Sektionen zugrunde legen. Einige Gliederungssignale sind dabei sehr deutlich erkennbar. So markiert die unvermittelte Selbstbeschreibung des Sprechers in V 11 einen Neueinsatz, der die Mitte des Liedes andeutet. Auch der Redeeinsatz Zions in V 20 ist offensichtlich. Die Feingliederung greift diese Textsignale auf. Deutlich erkennbar ist, dass der mit V 11 beginnende Bereich, in dem der Sprecher seiner persönlichen Betroffenheit Ausdruck verleiht, bis V 13 reicht. Auch anschließend bleibt Zion die Angesprochene, jedoch rekurriert der Sprecher nicht mehr auf eigene Empfindungen. Stichwort- und Motivverbindungen unterstützten den Zusammenhalt der Verse. Die folgenden Verse enthalten die Beschreibung Zions durch den Sprecher und sind durch die zunehmende Entfremdung der jeweils im Fokus stehenden Personengruppen gekennzeichnet: V 14: Propheten – V 15: Vorbeigehende – V 16: Feinde. Rhetorisch daran anknüpfend – JHWH ist noch entfremdeter als die Feinde! –, jedoch sachlich von V 14–16 abgesetzt, bezeugt V 17 das Gericht als eine Entscheidung JHWHs ‫מימי־קדם‬, d. h. von langer Hand geplant. V 18–19 ziehen daraus die inhaltliche Konsequenz: Wenn irgendetwas hilft, dann nochmals intensivierte Klage. Sowohl durch die überlange Zeile in V 19, als auch den folgenden Sprecherwechsel sind V 20–22 als eigenständiger Bereich erkennbar. Die zweite Sektion kann somit in zwei gleich lange Stanzen (V 11– 769 Linafelt (2000), 3.

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Dritter Zugriff: Die Klgl als programmatischer Diskurs

16.17–22) gegliedert werden, die sich jeweils regelmäßig in Sub-Stanzen à drei Verse untergliedern.

Stanze I (V 1–5)

1. Sektion: V 1–10 Sub-Stanze (V 1–3) Sub-Stanze (V 4–5) Sub-Stanze (V 6–7)

Stanze II (V 6–10)

Sub-Stanze (V 8–10)

(3 + 2) Strophen (2 + 3) Strophen (= 10 Strophen)

2. Sektion: V 11–22 Stanze III (V 11–16) Stanze IV (V 17–22)

Sub-Stanze (V 11–13) Sub-Stanze (V 14–16) Sub-Stanze (V 17–19) Sub-Stanze (V 20–22)

(3 + 3 Strophen) (3 + 3 Strophen) (= 11 Strophen)

Übersicht 17: Gliederung von Klgl 2

In der ersten Sektion fallen Stichwortverbindungen zwischen den einzelnen Versen auf, die mit dazu beitragen, dass die Abgrenzungen der einzelnen SubStanzen weniger deutlich ausfallen.770 Geltend machen kann man jedoch, dass V 6–10 sich vollständig auf Zion bzw. die Stadt konzentrieren, während V 1–6 auch Israel (V 1.3.5), Jakob (V 2.3) und Tochter Juda (V 2.5) nennen. Und während in V 1–5 nur die Bezeichnung ‫ אדני‬verwendet wird, taucht in V 6–10 auch das Tetragramm auf. Diese Unterteilung zugrundelegend, fällt auf, dass V 1–3 allesamt von einer vertikalen Bewegung beherrscht sind (V 1: Warf vom Himmel auf Erde; V 2: riss nieder; brachte zu Boden; V 3: Abgeschlagen jedes Horn Israels). Demgegenüber ist die Tendenz der folgenden Verse horizontal und wird vom Bild Gottes als Feind und Krieger dominiert. Während in V 1–3 von Gottes Handeln die Rede ist, geht es in der zweiten Sub-Stanze um sein Erscheinungsbild. V 6–8 enthalten sämtlich den Gottesnamen und sind mit der Verwerfung und Zerstörung Zions als Stadt beschäftigt. Demgegenüber wechselt der Fokus in V 9–10 auf die Bevölkerung (König und Fürsten, Propheten, Älteste, Jungfrauen) und streicht das Motiv der Bodennähe heraus (V 9: Tore sinken in den Boden; V 10: Älteste sitzen 770 So schon Condamin (1906), 140, dann auch Renkema (1988a), 308f.: Vgl. V 1.2: ‫ ;אדני‬V 2.3: ‫ ;יעקב‬V 3.4: ‫ ;כאש‬V 4.5: ‫ ;כאויב‬V 5.6: ‫ ;שחת‬V 6.7: ‫ ;מועד‬V 7.8: ‫ ;חומת‬V 8.9: ‫ ;יהוה‬V 9.10: ‫;ארץ‬ V 10.11: ‫ ;לארץ‬V 11.12: ‫ שפך‬/ ‫ עטף‬/ ‫ברחבות‬. Ob dadurch der Gedankenfortschritt gefördert wird (Berges [2002], 131), wäre noch zu zeigen. In jedem Fall fördert es den Eindruck inhaltlicher Kompaktheit.

Klgl 2 – Gott beschädigt sich selbst

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am Boden, Jungfrauen lassen Kopf zu Boden sinken). Man kann somit für die erste Sektion eine Gliederung in V 1–3.4–5; V 6–8.9–10 zugrunde legen.771

6.2.2 Exegetische Anmerkungen Das erste Wort von Klgl 2, ‫איכה‬, erinnert an den wortgleichen Beginn von Klgl 1 und gibt schon damit einen ersten Hinweis darauf, dass Klgl 2 als Fortsetzung von Klgl 1 gelesen werden soll. Die weiteren Motive von V 1 unterstützen dies: Die Nennung des göttlichen Zornes in V 1ac lässt an Klgl 1,12 erinnern (‫)ביום חרון אפו‬. Auch der Titel ‫ בת־ציון‬verbindet den Vers mit Klgl 1,6.15. Schließlich lässt die in V 1b angedeutete vertikale Bewegung an Klgl 1,13 denken, wo JHWH ‫ ממרום‬aus der Höhe Feuer schickte. Neben diesen motivischen Bezügen kann man auch im Begriff ‫ איכה‬selbst eine Brückenfunktion zu Klgl 1 sehen. ‫ איכה‬ist an sich eine Fragepartikel: Wie? (Dtn 1,12; 7,12; Ri 20,3; 2Kön 6,13; Ps 73,11). Auch in Klagekontexten behält sie diese Bedeutung prinzipiell bei, weswegen sie dann häufig mit Ach, wie … übersetzt wird. Behält man jedoch die wörtliche Bedeutung im Hinterkopf, so lässt sich V 1a auch inhaltlich als Überleitung zwischen Klgl 1 und 2 lesen: Nachdem Klgl 1 die göttliche Strafe fast ausschließlich in einer auf Frau Zion bezogenen Metaphorik beschrieb, geht es nun, ganz wörtlich, darum, wie die »Verdunklung« Zions denn nun konkret ablief.772 Schließlich trägt auch zur Kohärenzstiftung bei, dass nunmehr erneut der Sprecher das Wort ergreift. Der Wechsel zwischen Sprecher und Zion aus Klgl 1 findet sich hier fortgesetzt.773 Die erste Sektion von Klgl 2 vereint dabei eine Reihe bemerkenswerter Charakteristika. Zum einen fällt die hohe Anzahl Gewalt ausdrückender Verben auf.774 Legt man die von Michel entwickelte Liste zugrunde, gehören von den 40 Verben der ersten neun Verse 26 der Gruppe der Gewaltverben an; filtert man die wenigen Verben heraus, die nicht JHWH zum Subjekt haben, bleiben ins771 Condamin (1906), 137, Brandscheidt (1983), 138f. und Gous (1993), 357f. legen dem Lied eine konzentrische Struktur zugrunde, die sich unter anderem auf einige auffällige Inklusionen zwischen den ersten und letzten Versen berufen kann (V 1: ‫ – ביום אפו‬V 22: ‫ביום אף‬ ‫ ;יהוה‬V 2: ‫ – לא חמל … לארץ‬V 21: ‫ ;לארץ … לא חמלת‬V 3: ‫ – אכלה‬V 20: ‫)תאכלנה‬. Dass diese die Kohäsion des Liedes fördern ist unbestritten, allerdings sind die konzentrischen Bezüge der übrigen Verse von nur begrenzter Aussagekraft (so z. B. in V 4.19: ‫ שפכי‬/ ‫שפך‬, V 5.18: / ‫אדני‬ ‫ אדני‬oder V 6.17: ‫ יהוה‬/ ‫)יהוה‬. Insgesamt vermag dieser Vorschlag daher nicht zu überzeugen. 772 Labahn (2006), 243. 773 Koenen et al. (2015), 106. 774 Eine zuverlässige Kategorisierung der Gewalt konnotierenden Verben des biblischen Hebräisch ist schwierig; häufig entscheidet der Kontext, etwa wenn die Gewalt durch Verneinungen (z. B. V 1: ‫ )לא־זכר‬oder »Allerweltsverben« wie ‫( שוב‬z. B. V 3b.8b), ‫( נתן‬z. B. Klgl 1,14) oder ‫( היה‬z. B. V 5) ausgedrückt wird. Michel hat im Rahmen seiner Dissertation »Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament« eine Liste einschlägiger Verben vorgelegt, (Michel [2003], 391–395), die hier mit einer Ergänzung (‫ נאר‬verwerfen) zugrunde gelegt wird.

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gesamt 36 Verben übrig, von denen 26 zur Gruppe der Gewaltverben zählen.775 Der Eindruck einer regelrecht »hämmernden Anklage«776 wird durch die repetitive Syntax,777 das sehr homogene Vokabular778 und die concatenatio der einzelnen Verse durch Stichworte noch verstärkt. Die einheitlich präteritale Darstellung markiert den Text zudem als erklärende Rückblende nach Klgl 1, so dass der vorübergehende Verlust der figürlichen Seite Zions aus Sicht der Rezipierenden kein Problem darstellt. Neben der göttlichen Gewalt sticht in der ersten Stanze die Feuermetaphorik hervor. Feuer ist ein sehr sinnfälliges Bild für göttliche Gewalt – es ist »gesichtslos«, von überwältigender Macht, überwindet selbst Mauern und starke Befestigungen, findet in Blitzen und Gewitter seinen gleichsam kosmischen Ursprung usw.779 Es ist somit ein naheliegendes Bild für den göttlichen Zorn: Der »glühende« Zorn bricht sich Bahn – und verschlingt als Feuer die Welt. Dies erklärt auch, warum sich die Feuer-Metaphorik ausschließlich auf die erste Stanze beschränkt: Das Feuer steht für den »blinden« Zorn Gottes, der sich weitgehend unterschiedslos entlädt. In dem Maße, in dem einzelne Facetten der Stadt in den Blick kommen – der Tempel, die Einwohner, der König, die Kinder und Säuglinge usw. – ist eine differenziertere Sprache notwendig und verliert das Bild des Feuers seinen Ort.780 Weiterhin fällt der hervorgehobene Stellenwert auf, der der Beschreibung der Zerstörung städtischer Infrastruktur im Allgemeinen (V 2bc.3a.5b.7b.8ac.9a) und des Tempels im Besonderen (V 1bc.4c.6abc.7ac) zukommt. Insgesamt ist ein gewisses »Gewaltgefälle« erkennbar: Während die erstes Stanze von Verben wie verschlingen, töten und entbrennen beherrscht wird, geht es in der zweiten 775 V 1: ‫עוב‬, ‫שלך‬, ‫ ;זכר‬V 2: ‫בלע‬, ‫חמל‬, ‫הרס‬, ‫נגע‬, ‫ ;חלל‬V 3: ‫גדע‬, ‫שוב‬, ‫בער‬, ‫ ;אכל‬V 4: ‫דרך‬, ‫נצב‬, ‫הרג‬, ‫;שפך‬ V 5: ‫היה‬, ‫בלע‬, ‫בלע‬, ‫שחת‬, ‫ ;רבה‬V 6: ‫חמס‬, ‫שחת‬, ‫שכח‬, ‫ ;נאץ‬V 7: ‫זנח‬, ‫נאר‬, ‫סגר‬, (‫ ;)נתן‬V 8: ‫חשב‬, ‫שחת‬, ‫נטה‬, ‫שוב‬, ‫בלע‬, ‫אבל‬, (‫ ;)אמל‬V 9: (‫)טבע‬, ‫אבד‬, ‫שבר‬, (‫)מצא‬. Gewaltverben jeweils unterstrichen; Verben, die nicht JHWH als Subjekt haben, in Klammern. 776 Frevel (2002), 111. 777 S. o. Kap. 5.2: Es dominieren Sätze mit JHWH als Subjekt, einem (Gewalt-)Verb in der 3. Pers. m. Sg. sowie einem Teil der Stadt als Objekt. Auffällig sind ebenfalls die vielen Pi’el-Formen (V 2: ‫בלע‬, ‫ ;חלל‬V 5: ‫בלע‬, ‫בלע‬, ‫ ;שחת‬V 6: ‫שחת‬, ‫ ;שכח‬V 7: ‫ ;נאר‬V 9: ‫אבד‬, ‫)שבר‬. 778 Vgl. das Wortfeld »Zorn« (‫אף‬: V 1ac.3a.6c; ‫עברהא‬: V 2b; ‫חמה‬: V 4c; ‫זעם‬: V 6c), ‫ בלע‬verschlingen (V 2a.5ab.8b), der Titel ‫( בת‬V 1a.2b.4c.5c.8a), der zweimalige Vergleich Gottes mit einem Feind (V 4a.5a), sowie das Wortfeld »Feind« allgemein (‫צר‬: V 4.17; ‫אויב‬: V 3.4.5.7.16.17.22), die häufigen Anspielungen auf den Tempel (V 1b: ‫ ;תפארת ישראל‬V 1c: ‫ ;הדם־רגליו‬V 4c: ‫ ;אהל בת־ציון‬V 6a: ‫שכו‬, ‫ ;מועדו‬V 6b: ‫ ;מועד ושבת‬V 6c: ‫ ;מלך וכהן‬V 7a: ‫מזבחו‬, ‫ ;מקדשו‬V 7c: ‫בית־יהוה‬, ‫)יום מועד‬, die immer wiederkehrende Nennung von Mauern, Palästen usw. (V 2b: ‫ ;מבצרי בת־יהודה‬V 5b: ‫ארמנותיה‬, ‫ ;מבצריו‬V 7b: ‫ ;חומת ארמנותיה‬V 8a: ‫;חומת בת־ציון‬ V 8c: ‫ ;חל וחומה‬V 9a: ‫שעריה‬, ‫)בריחיה‬. 779 Zur Feuer-Metapher vgl. auch Labahn (2006), 246–248. 780 Labahn verkennt die spezifische Motivation der Feuer-Metaphorik, wenn sie sie »throughout ch. 2« erkennen will (Labahn [2006], 245). Der feurige Zorn hat seinen konkreten Ort am Beginn des Liedes.

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Stanze eher um Vorgänge wie zerstreuen, verstoßen, verwerfen. Dementsprechend wird die Darstellung in V 1–5 vom göttlichen Handeln mittels der FeuerMetaphorik dominiert, während die zweite Stanze (V 6–10) die Preisgabe des Tempels, die Planmäßigkeit des göttlichen Handelns, sowie das Schicksal für die Bevölkerung als Konsequenz der Zerstörung der Stadt hervorhebt; in V 9–10 schließlich liegt der der Fokus dann fast vollständig auf der Bevölkerung. Das in den ersten fünf Versen prominente Feuermotiv wird in V 1–3 mit Bildern kombiniert, die eine vertikale Bewegung zum Gegenstand haben.781 Demgegenüber dominieren anschließend Ausdrücke, denen eher eine horizontale Dynamik eigen ist,782 so dass insgesamt die Assoziation eines Blitzes hervorgerufen wird, der nach dem Einschlag einen Flächenbrand auslöst – ein Bild, das in Klgl 1,13 schon angelegt ist. Wenn dabei V 1bc mit der ‫ תפארת ישראל‬Zierde Israels und dem ‫הדם־רגליו‬ Schemel seiner Füße zwei Beschreibungen aus zionstheologischem Kontext wählt783 und diese mit dem Ausdruck ‫( לוא־זכר‬V 1c) verbindet, deutet dies ein Grundthema des Liedes an: Die Heilszusage an Israel wird von Gott selbst nicht mehr anerkannt.784 Dieser Aspekt wird durch die doppelte Verwendung der Bezeichnung Jakob in V 2a (‫ )נאות יעקב‬und V 3c (‫ )יעקב‬noch verstärkt: »Der Name Jakob bei den at.lichen Propheten meint … eindeutig Israel als Gottesvolk, als Gemeinde JHWHs.«785 Wenn JHWH ‫ ביום אפו‬Zion, Tempel und Jakob insgesamt in einem Sturm der Zerstörung verheert, gedenkt er gerade nicht mehr dessen, was durch alle drei im Kern repräsentiert wird – der besondere Bund Gottes mit Israel. Schon in Klgl 1,17 sagte der Sprecher, dass JHWH gegen Jakob von rings umher (‫ סביב‬nur in Klgl 1,17; 2,3.22) die Feinde aufgeboten habe. Nun wird dieser Punkt weiter ausgeführt. Dass sich die Zerstörung dabei nicht nur auf Jerusalem und Tempel bezieht, sondern das Königreich, die landwirtschaftliche Lebensgrundlage des Volkes und damit die Gesamtheit des Gottesvolkes mit einschließt, macht V 2f. mit dem Hinweis auf die »Weideplätze« Jakobs, das Königtum, und ‫ כל קרן ישראל‬jedes Horn Israels deutlich. V 3 intensiviert dabei den in V 1 genannten Zorn zu glühendem Zorn (‫ )חרי־אף‬und führt daneben die »Feinde« ein, wobei die Formulierung in V 3b: ‫ … השיב אחור ימינו מפני אויב‬zog zurück seine Rechte vor dem Antlitz des Feindes (= vor dem Feind) deutlich 781 V 1b: ‫ ;השליך משמים ארץ‬V 2b: ‫ ;הרס בעברתו‬V 2c: ‫ ;הגיע לארץ‬V 3a: ‫גדע בחרי־אף‬. 782 V 3c: ‫ אכלה סביב‬/ ‫ ;ויבער ביעקב כאש‬V 4c: ‫ ;באהל בת־ציון שפך כאש חמתו‬V 5a: ‫ ;בלע ישראל‬V 5b: ‫בלע כל־ארבנותיה שחת מבצריו‬. 783 Frevel (2002), 105–109. Vor dem Hintergrund von Ps 96,6 und Spr 20,29, die ‫ תפארת‬und ‫הדר‬ als weitgehend synonyme Begriffe ausweisen, ergibt sich zudem ein Rückbezug zu Klgl 1,6. 784 ‫ זכר‬bezeichnet kein passives Revue-passieren-lassen, sondern – zumal mit göttlichem Subjekt – »eine gedanklich engagierte Befassung mit einer Person, bzw. einem Sachverhalt« (Eising [1977], 573). Häufig drückt die Wurzel aus, dass »Gott und Mensch im gegenseitigen Gedenken wesentlich miteinander verbunden sind.« (ebd., 579). 785 Zobel (1982), 772.

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macht, dass das Handeln der Feinde auf die göttliche Verweigerung der Schutzgewährung zurückgeht. Neben der Frage der offenbar zurückgezogenen Heilszusage ist die aktive Feindseligkeit Gottes das zweite bestimmende Thema der Stanze. Während in der ersten Sub-Stanze primär die Gewalttätigkeit Gottes herausgestellt wird (hierfür sind einerseits die Gewaltverben verantwortlich, daneben die Feuer- und Zornmetaphorik. Hinzu kommt der Fokus auf Befestigungen, Mauern und sonstige Elemente städtischen Schutzes), liegt in V 4–5 der Fokus auf der rhetorischen Angleichung JHWHs an die Feinde. Der Übergang von V 3 zu V 4–5 ist dabei von zahlreichen Stichwortbezügen gekennzeichnet. V 3 spricht davon, dass Gott seine rechte Hand (‫ )ימינו‬vor dem Feind (‫ )מפני אויב‬zurückzog; V 4 lässt ihn wie ein Feind (‫ )כאויב‬den Bogen spannen, seine Rechte (‫ )ימינו‬wie ein Bedränger (‫ )כצר‬erhoben. Sowohl V 3c als auch V 4c vergleichen den göttlichen Zorn mit Feuer ( jeweils ‫)כאש‬, der im Land (V 3c: ‫ )ביעקב‬bzw. im Zelt der Tochter Zion (V 4c: ‫ )באהל בת־ציון‬wütet. Durch den dreifachen Vergleich ‫ כאויב – כצר – כאויב‬in den V 4ab.5a786 wird die göttliche Identität einer radikalen Neuinterpretation unterzogen: »[B]y metaphorizing God as »enemy,« [the poet] momentarily shifts how the humandivine relationship is perceived. It now gains a pronounced adversarial coloring to it. God may remain potent, but it is a potency that, at times, is to be actively feared, guarded against, not trusted.«787

Dabei ist die Intensivierung zu beachten: Während Gott in Klgl 1,13–15 zwar als feindselig handelte, jedoch ein direkter Vergleich mit den Feinden unterblieb, wird nun davor nicht mehr zurückgeschreckt: Klgl 2,4a vergleicht sein Handeln (das Bogenspannen) mit dem Handeln der Feinde, um ihn in V 5a schließlich als Feind zu erleben (‫)היה אדני כאויב‬. Die Aufnahme von Stichworten und Motiven aus V 1–2 verstärkt dabei den Eindruck, dass sämtliche Bereiche des Lebens vom einem Zorn heimgesucht werden, der sämtliche Maße und Beschränkungen aufgegeben hat.788 In diesem Kontext ist der Vergleich mit einem Feind dann eben auch sachlich angemessen. 786 Zur metrischen Störung in V 4a vgl. die Übersetzung z. St. 787 Dobbs-Allsopp (2002), 84. 788 Vgl. V 1a ‫ – בת־ציון‬V 4c ‫ ;בת־ציון‬V 1bc ‫ – תפארת ישראל ׀ הדם־רגליו‬V 4c ‫( אהל בת־ציון‬Sowohl die »Zierde Israels« wie auch der »Schemel seiner Füße« sind wohl allgemeiner zu fassen als konkrete Bezeichnungen für den Jerusalemer Tempel; zweifellos tragen beide Begriffe jedoch einen entsprechenden Bezug. Die Deutungen zum »Zelt der Tochter Zion« gehen auseinander; ein Tempelbezug scheint auch hier nahe liegend. Vermutungen, dass damit die Zelte des Heerlagers gemeint sein könnten [Frevel {2002}, 105], sind dann doch recht spekulativ [Boecker {1985}, 46]; Koenen et al. {2015}, 133 vermutet hinter der Formulierung das ganze Stadtgebiet inklusive des Tempels.); V 2b ‫ – בת־יהודה‬V 5c ‫ ;בת־יהודה‬V 2b ‫– בלע אדני‬ V 5ab ‫;בלע ׀ בלע‬V 2b ‫ – מבצרי בת־יהודה‬V 5b ‫מבצריו‬.

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Mit V 5ab ist damit ein erstes Zwischenfazit erreicht: JHWH verhielt sich ‫כאויב‬, der Israel und Paläste verschlang (in V 5ab jeweils ‫)בלע‬. Die mit dem einleitenden ‫ איכה‬formulierte Frage nach Art und Umfang der Zerstörung ist damit teilweise beantwortet. Der Effekt, den die ersten Verse von Klgl 2 auf eine/n Leser*in von Klgl 1 haben, ist in erster Linie verstörend: Anders als dort wird Gott hier gerade als blind wütender Feind gezeichnet. Die in den Hintergrund gedrängte Personifizierung Zions sorgt dafür, dass die göttliche Gewalt nunmehr ungeschönt beim Namen genannt wird. Durch zahlreiche Stichwortbezüge zu Klgl 1 wird gleichermaßen die Kontinuität als auch Intensivierung der Aussagen verdeutlicht.789 Mit V 5c ‫ וירב … תאניה ואניה‬und vermehrte … Trauer und Klage wird dann schon der Fokus der zweiten Stanze, die eher den städtischen Bereich und auch die Bewohner der Stadt in den Blick nimmt, angedeutet. Das in V 1.4 schon angedeutete Thema des Tempels, sowie die in V 2.5 schon in den Blick geratene Bewohnerschaft der Stadt werden in den folgenden Versen intensiver beleuchtet. V 6–7 konzentrieren sich stärker auf Tempel, Kultordnung und -personal. Die dreimalige Nennung des Stichwortes ‫ מועד‬in V 6f. etabliert diesen Ausdruck zu einem wichtigen Deutungsbegriff für Klgl 1–2. Schon in Klgl 1 wurde die anfängliche Nennung der »Festgänger« in V 4 in V 15 kontrastierend aufgegriffen: Während die traditionellen Festgänger nach Zion ausbleiben, ruft JHWH gegen Zion ein Fest aus. Zion griff die Terminologie des Sprechers in V 15 auf und benutzte sie zur drastischen Darstellung ihrer eigenen Realität. Ähnlich in Klgl 2: Schon von V 6 zu V 7 findet sich die Steigerung von der Zerstörung des Festortes und Vergessenmachen des Festes zur Preisgabe des Tempels an die Feinde. In V 22 wird Zion die Terminologie dann nochmals aufgreifen, wenn sie mit Rückbezug zu Klgl 1,15 klagt, dass JHWH gegen sie »wie zu einem Fest« rief. Nach der Schilderung von V 6 ist »die Schutzfunktion des Nationalgottes für seinen Staat endgültig aufgehoben«790. Unabhängig davon, wie die Formulierung ‫ ויחמס כגן שכו‬genau zu übersetzen ist,791 ist doch fraglos, dass es in den Versen um die Zerstörung des Tempels und damit des irdischen Wohnortes Gottes geht. Die 789 V 1: ‫ – ביום אפו‬vgl. Klgl 1,12; V 2.3: ‫ סביב‬+ ‫ – יעקב‬vgl. Klgl 1,17; V 3.4: … ‫ ויבער‬/ ‫שפך כאש חמתו‬ ‫ בחרי־אף‬/ ‫ – כאש‬vgl. Klgl 1,12c.13a; V 4: ‫ – כל מחמדי־עין‬vgl. Klgl 1,7.10.11; V 3.4.5: / ‫ כאויב‬/ ‫כצר‬ ‫ – אויב‬vgl. Klgl 1,2.5.7.10.9.16.17.20.21. 790 Frevel (2002), 115. 791 Nur hier und in Ijob 19,7 ist ‫ חמס‬Gewalt antun mit göttlichem Subjekt belegt. Es wurde daher zuweilen überlegt, ‫ ויחמס‬in das geläufigere ‫ ויהרס‬er hat niedergerissen zu ändern, was aber mehrheitlich abgelehnt wird (Albrektson [1963], 94f., Gottlieb et al. [1978], 27f.). Auch sonst ist die hiesige Verwendung bemerkenswert, da sich ‫ חמס‬nur in sehr wenigen Fällen nicht auf Menschen, sondern Objekte bezieht (Haag [1977], 1055). Normalerweise bezeichnet ‫ חמס‬die gegen Menschen gerichtete menschliche Tat, die aus Habgier oder Hass getan wird. Es geht also ausdrücklich um ungerechte Gewalt, d. h. Taten, die sich letztlich gegen JHWH bzw. die von ihm installierte Ordnung wenden (ebd., 1059).

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drei Bikola von V 6 benennen dabei den Ort des Kultes, dann die Zeit, anschließend das Kultpersonal – die Gesamtheit des Kultes wurde aktiv von JHWH zerstört. Auch dies ist eine Steigerung von Klgl 1,4. Dort trauerten die Wege, waren Jungfrauen und Priester betrübt, ‫ מבלי באי מועד‬wegen des Ausbleibens der Festgänger. Das Gericht hatte bedauernswerte Folgen für den Kult und das Kultpersonal. In Klgl 2 ist das vollständige Zerstören des Kultes nunmehr zu einem der klar identifizierbaren Ziele des Gerichts für Gott geworden. War in der ersten Stanze des Liedes der Eindruck entstanden, dass JHWH in blinder Wut handelt, wird nun deutlich gemacht, dass das Gericht sehr wohl Ergebnis bewusster Planung war.792 V 6–7 verweisen damit auf Klgl 1,10.17 zurück, wo allein schon das Eindringen der Feinde in den Tempel beklagt wurde, und verdeutlichen, dass der dortige theologischer Zweifel an der Bindung JHWHs an seine eigenen Weisungen darin seine Auflösung findet, dass sich JHWH nicht mehr an sein Wort gegenüber seinem Volk gebunden fühlt. Der letzte Vers der Sub-Stanze, V 8, verbindet vor diesem Hintergrund die bisher geschilderte Zerstörung nochmals ausdrücklich mit dem Moment des Planvollen und Systematischen.793 JHWH plante zu zerstören – ‫ שכת‬verweist zurück auf V 5.6. Er zog seine Hand nicht zurück (‫ ;לא־השיב ידו‬vgl. V 3f.) vor dem Verschlingen (‫ ;בלע‬vgl. V 2.5[bis]). Er ließ trauern (‫ ;אבל‬vgl. Klgl 1,4 – dort ebenfalls ‫ אבל‬+ städtische Infrastruktur; vgl. auch V 5c: ‫ )וירב … תאניה ואניה‬Wall und Mauer (‫ ;חל וחומה‬vgl. V 7, sowie V 2.5 [‫)]מבצר‬. Die Schilderung der Tempelpreisgabe und -zerstörung ist in diesem Sinne der Höhepunkt einer breit ausgeführten Klage über einen von Gott kühl geplanten Zerstörungsfeldzug. Die Rückbezüge zur ersten Stanze machen deutlich, dass sich spätestens mit der Zerstörung des Tempels nicht mehr die Frage nach der Verbindlichkeit Gottes ‫ תורה‬für ihn selbst stellt – ganz im Gegensatz zur Argumentation von Klgl 1,10. Die Preisgabe seines Tempels ist das Ergebnis bewusster Lenkung und Planung. Demgegenüber sind die folgenden V 9f. vom Schicksal der Bevölkerung Zions bestimmt. Während in V 9 die politischen, kultischen und gesellschaftlichen Eliten, die, ihrer Funktion enthoben, hilf- und schutzlos ‫ בגוים‬weilen, im Blick sind, thematisiert V 10 die übrige Stadtbevölkerung mittels des Merismus Älteste – Jungfrauen. Interessanterweise fehlt in diesen Versen jegliche Kritik an den politischen Entscheidungsträgern (anders als z. B. in V 14 oder Klgl 4,13), bzw. 792 Vgl. die verwendeten Verben ‫ נאץ‬in V 6c, ‫ זנח‬in V 7aα und ‫ נאר‬in V 7aβ. ‫ נאץ‬im Qal und mit göttlichem Subjekt insinuiert den praktisch vollzogenen Bundesbruch durch JHWH (Dtn 32,19; Jer 14,21: Ruppert [1986], 135). Ähnlich meint ‫( זנח‬vgl. Klgl 3,17) »die völlige Abwendung Gottes von seinem Volk.« (Ringgren [1977], 620). ‫ נאץ‬schließlich findet sich nur noch in Ps 89,40, dort im Kontext der Verwerfung des davidischen Königs. 793 »An ‫ חשב‬haftet die Vorstellung des technisch-rational kalkulierenden Rechnens.« Seybold (1982), 247. Das Bild der Messschnur (‫ )קו‬dient in prophetischen Kontexten häufig dazu, darzustellen, dass Israel dem Gericht verfallen ist (2Kön 21,13; Jes 28,17; Am 7,7–9).

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beschränkt sich darauf, diese als macht- und planlos darzustellen. Die bisherige Stimmung massiver Vernichtungs- und Zerstörungswut Gottes, wechselt zu einer, die vom Eindruck der Ermattung und Gottferne dominiert wird. Die Bevölkerung erscheint ähnlich ermattet wie in Klgl 1: War dort von seufzenden Priestern und betrübten Jungfrauen (Klgl 1,4), allgemein von Zions verstörten Kindern (Klgl 1,16) die Rede, sind die Ältesten nunmehr verstummt, die Jungfrauen senken den Kopf zu Boden. Innerhalb von Klgl 2 nehmen V 9–10 die vertikale Bewegung der V 1–3 auf: Tore (‫ )שער‬versinken im Boden; die ‫ זקנים‬sitzen am Boden, die ‫ בתולות‬lassen den Kopf zu Boden sinken. Daneben wird, wie in Klgl 1, die Motivik von Trauerzeremonien erwähnt. Die Ältesten sitzen (‫)ישב‬ schweigend (‫ )דמם‬am Boden (‫)לארץ‬, streuen sich Staub (‫ )עפר‬auf das Haupt und gürten sich mit Sackleinen (‫)שק‬. Die Jungfrauen lassen ihren Kopf sinken (‫)ירד‬ und kontrastieren die aufwärts gewandte Bewegung der ‫זקנים‬, die Staub auf ihren Kopf streuen, mit der abwärts gewandten Bewegung des Neigens des Kopfes in den Staub.794 Kommentare haben häufig Schwierigkeiten, in der ersten Sektion von Klgl 2 einen roten Faden zu identifizieren. Die Abfolge der einzelnen Bilder scheint kreisend, fast repetitiv, und mit wenig inhaltlichem Fortschritt. Das ist verwunderlich – ist doch ein gut nachvollziehbarer Gedankengang erkennbar, der die Sektion inhaltlich strukturiert und der für die in der zweiten Sektion intensivierte Fortführung als figürliche Darstellung einen plausiblen Verstehenshorizont bildet: V 1–3 werden von der oben beschriebenen vertikalen Bewegung und dem Feuer-Bild bestimmt. Hier dominiert der Eindruck eines göttlichen Zornes, der sich gleich einer Naturkatastrophe ergießt und dem damit weder aktiv noch argumentativ etwas entgegengesetzt werden kann. In den beiden folgenden V 4–5 wird die Konsequenz dieses Eindruckes auf das Gottesbild – ‫– היה אדני כאויב‬ expliziert: Ein derartiges Gericht kann nicht von einem Gott vollzogen werden, der von sich selbst den Anspruch hat, gerecht und barmherzig zu sein; insbesondere ließ dieses Gericht jegliche Bedachtheit und jedes Maß vermissen. Dieser Gott ist wie ein Feind geworden. Mit diesem derartig gewandelten Gottesbild stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Zustand des Gottesverhältnisses und der Erwählung Israels durch Gott allgemein – sinnfällig repräsentiert durch den Tempel. Dem widmen sich V 6–8. Die Preisgabe des Tempels machen insbesondere vor dem Hintergrund von Klgl 1 deutlich, dass der Eindruck aus V 5 nicht täuschte. Gottes feindgleiches Handeln gewinnt im Bild des zerstörten Tempels den Eindruck des Endgültigen – und sollte noch ein letzter Rest Zweifel bestehen, dann bekräftigt V 8 mit dem Bild der gezogenen Messschnur, dass beim Gericht nichts dem Zufall (oder dem Affekt) überlassen wurde. 794 Vgl. hierzu Labahn (2002).

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Schon mit dem Fokus auf den Tempel ist eine innerstädtische Perspektive eingenommen, bei der die Stadt selbst, sowie ihre Einwohner, in den Blick kommen.795 Der in der ersten Sektion von Klgl 1 sehr deutliche Fokussierungseffekt findet sich hier, wenngleich abgeschwächt, wieder. Die innerstädtische Perspektive wird in den V 9–10 auf die Bevölkerung hin expliziert: nun geht es um das Schicksal der Stadtbewohner, der politischen und religiösen Eliten. Auch hier wird ein Bild vollkommener Preisgabe, Verlassen- und Hilflosigkeit gezeichnet. Vermutlich entsteht der Eindruck des Repetitiven, »Hämmernden«, Kreisenden nicht zuletzt durch das eng gewobene Netz lexematischer und motivischer Aufnahmen, die V 1–10 zu einem ungeheuer dichten Text machen.796 Statt dies allerdings als Einfallslosigkeit zu deuten, ist es wichtig, sie als bewusstes stilistisches Mittel wahrzunehmen: Durch sie wird der experientielle Leseeindruck, das, was Stanley Fish affective stylistics nennt,797 beeinflusst. Der Kniff des Dichters besteht gerade darin, in den Versen das Gefühl eines erdrückenden, unausweichlichen immergleichen Horrors zu erwecken, während man gleichzeitig doch motivisch von der Perspektive der Nation über die Stadt bis zur Bevölkerung fortschreitet. Der Text hat somit nicht nur eine semantische Bedeutung, die ihrerseits als äußerst schillernde Wortkulisse für das Folgende fungiert, sondern vermittelt auch eine emotive Dimension, mittels der die ganze Hilf- und Ausweglosigkeit, die die Betroffenen des Gerichts gefühlt haben müssen, an die Leser*innen weitergibt. Erst vor dem Hintergrund dieses Ein-

795 Es fällt auf, dass zwar in V 1a die ‫ בת־ציון‬genannt ist, danach aber erst wieder in V 4c (‫באהל‬ ‫ )בת־ציון‬und V 6b (‫ )בציון‬auf die Stadt selbst Bezug genommen wird. Ansonsten finden sich in den V 1–5 vorrangig Begriffe und Eigennamen, die der politischen bzw. geographischen Sphäre entstammen: ‫ישראל‬: V 1b.3a.5a; ‫יעקב‬: V 2a.3c; ‫בת־יהודה‬: V 2b.5c; ‫ממלכה‬: V 2c. Anschließend finden sich derartige Begriffe praktisch gar nicht mehr; stattdessen wird dezidiert Zion selbst erwähnt (V 6b.8a.10ac), sowie städtische Infrastruktur: V 6a: ‫ מועד‬/ ‫ ;גן‬V 7a: / ‫מזבח‬ ‫ ;מקדש‬V 7b: ‫ ארמון‬/ ‫ ;חומה‬V 7c: ‫ ;בת־יהוה‬V 8a: ‫ ;חומה‬V 8c: ‫ חומה‬/ ‫ ;חל‬V 9a: ‫ בריח‬/ ‫שער‬. 796 Motiv »Zorn«: V 1ac.2b.3a.4c.6c; ‫יהוה‬/‫אדני‬: V 1a.2a.5a.6b.7a.8a.9c; ‫ירושלם‬/‫)בת־(ציון‬: V 1a.4c.6b. 8a.10ac; ‫לארץ‬/‫ארץ‬: V 1b.2c.9a.10ac; Motiv »Kult/Tempel/Heiligtum«: V 1bc.6b.7a[bis]c; Lexem ‫בלע‬: V 2a.5ab.8b; Titel »Israel/Jakob/Juda«: V 2ab.3ac.5ac; Motiv »Festung/Mauern/Wälle«: V 2b.5b.7b.8ac; Redewendung »König(tum) und Fürsten/Priester«: V 2c.6c.9b; Motiv »Hand/ Rechte (nicht) zurückziehen«: V 3b.4a.8b; ‫צר‬/‫אויב‬: V 3b.4a.5a.7b; Motiv »wie Feuer«: V 3c.4c(. V 1a.3a); ‫ארמון‬: V 5b.7b; Motiv »Trauer«: V 5c.8c; ‫מועד‬: V 6ab.7c; Motiv »vertikale Bewegung«: V 1b.2bc.9a.10ac. Berücksichtigt man daneben die vielfältigen Variationen Gewalt ausdrückender Verben (V 1: ‫עוב‬, ‫שלך‬, V 2: ‫בלע‬, ‫הרס‬, ‫נגע‬, ‫ ;חלל‬V 3: ‫גדע‬, ‫בער‬, ‫ ;אכל‬V 4: ‫דרך‬, ‫ ;הרג‬V 5:‫שחת‬ ‫בלע‬, ‫בלע‬,; V 6: ‫חמס‬, ‫שחת‬, ‫שכח‬, ‫ ;נאץ‬V 7: ‫זנח‬, ‫נאר‬, ‫ ;סגר‬V 8: ‫שחת‬, ‫בלע‬, ‫ ;אבל‬V 9: ‫אבד‬, ‫)שבר‬, so wird es in manchen Versen einfacher, diejenigen Lexeme bzw. Motive zu zählen, die tatsächlich singulär sind. In V 1 z.B. bleibt neben ‫ לא־זכר‬ausschließlich der Ausdruck ‫ משמים‬ohne weitere Entsprechung (wenngleich er Teil des abwärts gerichteten Bewegungsmotivs ist), in V 2 neben der Verneinung ‫ לא חמל‬ausschließlich die ‫כל־נאות‬, in V 3 die ‫ כל קרן‬sowie das Adverb ‫סביב‬ (dieses allerdings dient als verbindende Klammer zwischen Klgl 1,17; 2,3 und 2,22!), usw. 797 Fish (1970).

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druckes gewinnt der folgende Gefühlsausbruch des Sprechers seine dramaturgische Plausibilität. Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Schuld Zions spielt in dieser ersten Sektion keine Rolle! Dies ist auch dann zur Kenntnis zu nehmen, wenn man argumentieren wollte, im Zorn-Gottes-Motiv sei die vorherige Schuld Israels jeweils schon impliziert.798 Die Verknüpfung von Sünde und Gotteszorn erfolgt im corpus propheticum regelmäßig explizit799 – und zwar aus gutem Grund: Ohne den ausdrücklichen Hinweis auf die eigene Schuld droht der Zorn-Gottes-Terminologie ein »Gerechtigkeitsdefizit«800, was sich in Klgl 2,1–10 sehr gut beobachten lässt. Hier wird der Konnex von Schuld und Zorn nicht expliziert – und der ausschließliche Fokus auf die Brutalität des Gerichts führt zu einer charakteristischen Umakzentuierung, deren Wirkung sich u. a. darin zeigt, dass göttlicher Zorn und der Vergleich ‫כצר‬/‫ כאויב‬Seite an Seite treten. Im Laufe von Klgl 2 drängt sich immer deutlicher die Frage auf, welche Schuld so groß gewesen sein kann, dass sie die jetzige Vergeltung hätte rechtfertigen können. Jedoch, blieb die konkrete Beschreibung der Schuld Zions schon in Klgl 1 vage, ist sie in den ersten Versen von Klgl 2 überhaupt nicht präsent.801 Wenn in V 6 gesagt wird, dass Gott ‫ חמס‬ausübt, ein Verb, das ungerechte Gewalt, d. h. Taten, die sich gegen JHWH bzw. die von ihm installierte Ordnung wenden,802 bezeichnet, JHWH gleichsam nun selbst ein solcher Gewalttäter ist, vor denen er sonst errettet (2Sam 22,49; Ps 18,49; 140,2.5), ist dies im Referenzbereich des Zornes Gottes an sich nicht mehr erklärbar. Jener ist zwar z. T. affekthaft, dabei aber grundsätzlich gerechte Reaktion auf ungerechtes Handeln.803 In jedem Fall macht die Rede deutlich, dass JHWH tatsächlich sämtliche Fürsorgepflichten für sein Volk aufgegeben hat, seine Erwählung rückgängig gemacht hat und er Israel tatsächlich gleich einem Feind geworden ist. Die erste Sektion fungiert somit als Exposition des im Folgenden immer deutlicher mit verhandelten Themas der Reichweite und Berechtigung göttlicher Vergeltung.804

798 Westermann (1990), 133. Sehr viel kritischer Michel (2003), 226, Anm. 110, Dobbs-Allsopp (2004), 37, Anm. 60. Vgl. auch Emmendörffer (1998), 57 und Koenen et al. (2015), 115 der ebenfalls darauf verweist, dass in V 14b gerade nicht ein »Kernsatz der Schuld« erkennbar ist, sondern vielmehr »die Unfähigkeit der Propheten« im Mittelpunkt stehe. 799 Vgl. Miggelbrink (2000), 83 in pointierter Zuspitzung: »Die Sünde ist der Zorn Gottes.« Vgl. auch Boase (2006), 165–171. 800 Miggelbrink (2000), 111. 801 Greenstein (2004), 34–36. 802 Haag (1977), 1059. 803 Baloian (1992), 71. 804 Greenstein (2004), 37.

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Mit dem Beginn der zweiten Sektion in V 11 nimmt die Darstellung wieder sehr viel stärker dramatische Züge an. Der Sprecher redet nun über sich selbst,805 er thematisiert seine eigenen Gedanken und Gefühle, d. h. er tritt als dramatische Figur, erstmals in Klgl 1–2, stärker in den Vordergrund. Dramaturgisch und argumentativ ist der nunmehrige Fokus auf den Sprecher und seinen Gemütszustand geschickt: Diejenige Figur, die in Klgl 1 keinesfalls durch Solidarität mit Zion aufgefallen ist, führt eine neue, gewandelte Perspektive ein, die auch für die Zuhörer*innen eine Neubewertung des bisherigen Eindruckes nahelegt. Daneben kommen weitere Perspektiven in den Blick, die ebenfalls zum gesteigerten dramatischen Eindruck des Textes beitragen. So werden in V 12 die verzweifelten Klagen der hungernden Kinder zitiert, in V 13 spricht der Sprecher Zion direkt an – was Zions eigene Klagen aus Klgl 1 in Erinnerung ruft –, und in V 14–16 werden sukzessive neue Figuren bzw. Figurengruppen erwähnt bzw. teilweise zitiert. Insgesamt wird damit eine multiperspektivische Sicht geboten, die die Darstellung belebt und mittels der verschiedenen Sichtweisen den Eindruck einer dramatischen Darstellung begünstigen. Zudem tritt durch die direkte Anrede an Zion ab V 13 die Wahrnehmung Zions als Figur wieder in den Vordergrund, bevor Zion dann in V 20 selbst das Wort ergreift. In gewisser Weise vollzieht die Dramaturgie damit nach, was der Text aussagt: Die Stadt Zion liegt zerstört am Boden. Die Vernichtung war so umfassend, dass es für sie wenig Hoffnung auf Besserung oder Erneuerung gibt. Damit ist die eine Facette der Stadt-Frau Zion wortwörtlich aus dem Bilde – bzw. als Ruine zum Bühnenbild reduziert. Den weiteren Verlauf des Liedes bestimmt demnach die zweite Facette, Frau Zion. Die erste Sub-Stanze der zweiten Sektion, V 11–13, wird formal durch das Stichwort ‫ שבר‬Zusammenbruch, sowie die Titel ‫ בת־עמי‬bzw. ‫ בתולת‬/ ‫הבת ירושלם‬ ‫ בת־ציון‬in V 11.13 gesichert.806 V 11.12 sind zudem durch die Wurzeln ‫ שפך‬vergießen/-schütten und ‫ עטף‬verschmachten, und die Ortsangabe ‫עיר‬/‫ברחבות קריה‬ auf den Plätzen der Stadt aufeinander bezogen. Inhaltlich sind diese Verse da805 Gegen Willis (1986), 268 spricht in V 11 nicht Zion selbst, sondern der Sprecher. Es wäre verwunderlich, wenn Zion hier selbst den Ausdruck ‫ בת־עמי‬verwendete und nicht von »ihren« Kindern, wie in Klgl 1,16; 2,22, sondern »den« Kindern spricht (Berges [2002], 148). 806 Es ist auffällig, dass gerade in diesem Bereich die bisher gebrauchten Titel ‫בת־ציון‬/‫בת־יהודה‬ (V 1.2.4.5.8.10) abgewandelt werden: V 11 benutzt ‫בת־עמי‬, V 13a.15 bieten ‫ בת ירושלם‬und V 13b hat das intensivierte ‫בתולת בת־ציון‬. Erst in V 18 findet sich wieder das »normale« ‫בת־ציון‬. Inwiefern damit konkrete Bedeutungsnuancierungen zusammenhängen, ist, wie schon in Klgl 1,15, schwer zu entscheiden; Dearman (2009), 151 sieht in ‫» בתולת בת‬merely an elaboration«, Berges (2002), 56 dagegen eine »Steigerung«. Wischnowsky (2001), 18 weist darauf hin, dass ‫ בתולת‬nie allein als appositioneller Titel für eine Stadt belegt ist, sondern immer nur in der Verbindung ‫בתולת בת‬, so dass von einem »komplettierenden Ehrentitel« auszugehen sei. In beiden Fällen dürfte die »elaboration« bzw. »Steigerung« im Aspekt der größeren Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit liegen (Frevel [2017], 178).

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durch gekennzeichnet, dass der Sprecher nunmehr sich selbst in den Vordergrund stellt, beginnend mit der Beschreibung seines eigenen Gemütszustandes in V 11 und endend mit der Anerkenntnis seiner Ratlosigkeit in V 13. Nachdem der Sprecher in V 1–10 in immer neuen Anläufen das über Zion hereingebrochene Inferno schilderte, sieht er sich in V 11 außerstande, weiterhin in der beschreibenden Position zu verweilen, die er bisher – und dies schließt Klgl 1 ein – innehatte. Die von ihm verwendeten Formulierungen und Begrifflichkeiten verweisen zurück auf die Selbstbeschreibung Zions aus Klgl 1. In Klgl 1 erwähnt der Sprecher die Tränen (‫ )דמעה‬Zions in V 2; Zion selbst spricht in V 16 von ihren Augen, die vor Tränen (wörtlich: Wasser) fließen. Nun sind es die Augen des Sprechers, die vor Tränen ermatten (‫)כלו בדמעית עיני‬. In Klgl 1,20 klagte Zion ihren inneren Aufruhr zu Gott (‫ מעי חמרמרו‬mein Inneres ist in Aufruhr) – nun klagt der Sprecher in wörtlicher Entsprechung ‫ מרמרו מעי‬mein Inneres glüht. Und wenn der Sprecher seine eigene Leber (‫ )כבד‬zu Boden verschüttet sieht (‫)נשפך לארץ‬, so beschreibt dies möglicherweise maßlosen Schmerz,807 ist möglicherweise aber auch nur ein weiterer Ausdruck für unablässiges Weinen.808 In jedem Fall erinnert es an Klgl 1,20, wo Zion in ganz ähnlicher Weise auf ihre inneren Organe (dort: ‫ )נהפך לבי בקרבה‬zu sprechen kommt. Der Sprecher erscheint hier als eine Figur, die emotional ebenso aufgewühlt ist, wie es Zion in Klgl 1 war. Auch die Formulierung ‫ על־שבר בת־עמי‬wegen des Zusammenbruchs der Tochter ›Mein Volk‹ greift auf schon Bekanntes zurück. In Klgl 1,16 klagte Zion, dass JHWH ein Fest (‫ )מועד‬ausgerufen hätte, um ihre Starken zu zerbrechen (‫)לשבר בחורי‬. Das Stichwort ‫ מועד‬ist eine wichtige Deutungskategorie innerhalb von Klgl 1–2, um den Wandel göttlicher Zuneigung deutlich zu machen (vgl. Klgl 1,4.15; 2,6[bis].7.22). ‫ שבר‬Zusammenbruch hingegen ist ein das gesamte Buch durchziehendes Stichwort (vgl. Klgl 1,15; 2,9.11.13; 3,4.47f.; 4,10). Der ‫שבר‬ ‫ בת־עמי‬wird zudem in Klgl 4,10 als Zusammenfassung der Katastrophe im Kontext der Teknophagie genannt. Neben der Aufnahme von Motiven der Selbstschilderung Zions aus Klgl 1 fällt allerdings auch eine wichtige Veränderung auf: In Klgl 1 sprachen Sprecher und Zion zwar von Zions »Kindern« (V 5: ‫ ;עולל‬V 16: ‫)בן‬, meinten damit allerdings die 807 Wolff (1994), 104. 808 Collins (1971a), 18: »Basically we are dealing with a psychosomatic view of the emotions. Emotional disturbances are not distinguished from physical disturbances, and are described in terms of the latter. Distressing, external circumstances produce a physiological reaction in a man, which starts in his intestines and proceeds to affect his whole body, especially the heart. This physiological disturbance is actually a change in the physical composition of the inner organs, a general softening up, which initiates an outflow of the body’s vital force. This outflow proceeds through the throat and eyes, and issues in the form of tears which are nothing less than the oozing out of the body’s vital substance.«

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erwachsene Bevölkerung.809 Dabei ging es in erster Linie um ihr Schicksal als Folge des Gerichts: Fürsten strauchelten in die Gefangenschaft (V 6), Priester seufzten und litten Hunger (V 4.19), Jungfrauen waren gram (V 4) und gingen in die Gefangenschaft. Hier jedoch sind ‫ עולל ויונק‬Kind und Säugling genannt, deren Schicksal, in Verbindung mit ihren primären Bezugspersonen, den Müttern, dem Sprecher besonders nahegeht.810 Gerade die Mutter-Kind-Beziehung als Bild für Behütung, Fürsorge und Vertrauen kann verdeutlichen, wie umfassend der Vertrauensverlust in die Schutzfunktion der Stadt für die Bewohner Zions gewesen sein und wie radikal dies ihre Weltsicht beeinflusst haben muss. In V 13 wendet sich der Sprecher an (die nunmehr wieder personifizierte) Zion. »It has been claimed that Lam. 2,13 is one of the most important passages in biblical literature, because here the poet realizes the enormity of the destruction of the holy city by admitting the futility of his rhetoric.«811 Das dreimalige ‫מה‬ verdeutlicht die Sprachlosigkeit des Sprechers, der immer wieder versucht, einen Ansatzpunkt zu finden, mit dem er sich Zion nähern kann, nur, um jedes Mal zu erkennen, dass jeder Vergleich hinter der Realität zurück bleibt: ‫כי־גדול כים שברך‬ Ja, groß wie das Meer ist dein Zusammenbruch.812 Die Fragen des Sprechers sind rhetorischer Natur: Beim Anblick verhungernder Kinder bleibt jede theologisch gefällige Antwort im Halse stecken. »Auf die rhetorische Frage, wer Zion denn heilen könnte, gibt es nur eine Antwort: JHWH allein. Aber eben diese Antwort, die Gott in Jer 30,17; 33,6 gibt, bleibt er in den Klgl schuldig.«813 Trotzdem zeigt sich auch in der offensichtlichen Hilflosigkeit des Sprechers seine innere Wandlung. Wenn er fragt: Was könnte ich Dir gleichsetzen, ‫ ואנחמך‬um Dich zu trösten, kontrastiert dies mit dem stetigen Refrain aus Klgl 1, ‫אין־לה מנחם‬. Dort konstatierte der Sprecher mehrmals, dass ein Tröster für Zion nicht zu finden sei – hier gibt er deutlich zu verstehen, dass er selbst gerne trösten würde, jedoch nichts findet, woraus sich Trost schöpfen ließe.

809 In V 5–6 erscheint ‫ עלל‬parallel mit ‫ שר‬Fürst/Herrscher, V 16 fungiert als Zusammenfassung von V 15, in dem von den ‫ בחורים‬Jungmännern und den ‫ אבירים‬Starken die Rede ist. Ansonsten werden Jungfrauen (V 4.15.18), Priester (V 4.19), Älteste (V 19) genannt. 810 Auffällig häufig findet sich die Rede von Kindern und Säuglingen in kriegerischen Kontexten (1Sam 15,3; 22,19; Jer 44,7; Klgl 4,4; Joel 2,16). Saebø (1986), 1133: »Die Erwähnung von »Kleinkind« (bzw. »Kleinkind und Säugling«, ôlel wejôneq) scheint eine Redeweise in Kriegs- und Notschilderungen zu sein, die die Grausamkeit des Krieges und die tiefe Not des Volkes unterstreicht.« 811 Gordon et al. (1995), 325. 812 Bei der Rede vom Meer schwingen im AT häufig Vorstellungen vom Chaoskampf mit (Pham [1999], 134), bei denen JHWH ursprünglich Ordnung über Chaos etablierte (vgl. bes. Ps 104,5–9, aber auch Ijob 26,12; Ps 74,13f.; 89,10f.; Jes 27,1). Der Vergleichspunkt liegt wohl eher auf dem Aspekt der unvergleichlichen Brutalität und Gewalt, denn auf der kosmischen Dimension. 813 Berges (2002), 152.

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Auch an dieser Stelle erfolgt kein Hinweis auf die Ursache der Katastrophe. Der enge Konnex, den Zion in Klgl 1 zwischen Schuld und Strafe zog (vgl. Klgl 1,18.20.22), fehlt hier nach wie vor. Stand in der ersten Sektion von Klgl 2 die naturgewaltartige Wut Gottes im Mittelpunkt, wurden nun die Auswirkungen auf die Schutzlosesten verdeutlicht. Die Beziehung Mutter – Kind korrespondiert der Beziehung Stadt – Bewohner (vgl. Klgl 1,5.16.18f.). Der Schmerz, den Zion in Klgl 1 ob des Schicksals ihrer »Kinder« fühlte, gleicht dem Schmerz von Müttern, deren Kindern in ihrem Schoße dahinsterben. Das Schicksal der Kinder, das erneut ab V 19 in den Fokus rückt, wird zur inhaltlichen Klammer der zweiten Sektion und zum hermeneutischen Schlüssel der Deutung des Geschehens. So, wie hier der Sprecher die Fassung verliert, wird es in V 20–22 Zion selbst sein. Nachdem in der ersten Sub-Stanze der Sprecher als persona dramatis fassbar wurde, wobei der Blick nach innen, auf die Gefühlswelt des Sprechers gerichtet war, wendet sich der Blick in den folgenden Versen nach außen. Dabei ist eine zunehmende Ausweitung der Perspektive erkennbar: Von den Zion nicht vor ihrem Schicksal warnenden Propheten über die unverständigen und unsolidarischen Vorbeigehenden bis zu den schadenfrohen Feinden ist eine zunehmende Fremd- bzw. Feindlichkeit der thematisierten Gruppen deutlich. Bezeichnend ist, dass an deren Ende, in V 17, JHWH genannt wird – was vor dem Hintergrund, dass JHWH schon in V 4f. mit einem Feind vergleichen wurde, durchaus sachliche Angemessenheit innehat. In der zweiten Sub-Stanze, V 14–16, kommt das Thema eigener Schuld erstmals zur Sprache. ‫ חזה‬ist steht überwiegend als terminus technicus für göttliche Offenbarung durch die Propheten.814 Zwar kann dieses Schauen der Propheten auch im positiven Sinne eine JHWH-Offenbarung bezeichnen (Gen 15,1; Num 24,4.16; 2Sam 7,17; Hos 12,11), ist aber doch häufig negativ konnotiert (Jer 14,14; 23,16; Ez 13,6–9.16.23; 21,34; 22,28; Sach 10,2; 13,4).815 Wenn somit von Propheten gesagt wird, dass sie ‫ שוב ותפל‬Lug und Trug schauen (sonst nur noch in Ez 22,28), intensiviert es noch die Aussage aus V 9, derzufolge die ‫ נביאים‬keine Schauung fanden, dergestalt, dass sie »nutzlose, falsche, irreführende und insofern auch trügerische Visionen hatten, also nicht erst die Verkündigung, sondern schon der Empfang der Offenbarung, für den »schauen« pars pro toto steht, von Trug bestimmt ist»816. Insofern in diesem Vers überhaupt Schuld zugeschrieben wird, so trifft sie die Propheten, die ausweislich V 9c keine ‫ חזון‬von Gott mehr erhielten, allerdings trotzdem ‫ שוב ותפל‬zusammenorakelten. Inwiefern an dieser Stelle die Schuld Zions geleugnet oder relativiert wird, kann unbeantwortet bleiben. Wie weiter oben (s. o. Kap. 5) dargestellt, ist von den 814 Jepsen (1977), 832. 815 Jepsen (1977), 827. 816 Koenen et al. (2015), 157.

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drei in den Klgl verwendeten Termini zur Beschreibung eigener Schuld das Lexem ‫ פשע‬das deutlich schärfste, da hier das Element des willentlich-bewussten Handeln mit zum Bedeutungskern hinzugehört.817 ‫ עון‬hingegen impliziert nicht automatisch eine bewusste Normverletzung; auch im vorliegenden Kontext ist der Vorwurf an die Propheten ja gerade, dass sie die Schuld Jerusalems nicht hinreichend angeprangert hätten, um so eine Wendung zum Besseren und damit eine Abwendung der drohenden Katastrophe zu ermöglichen. Inwiefern Zions Schuld in bewusstem Trotz gegenüber Gottes Gebot bestand, bleibt auf der Liedebene dahingestellt.818 Im Gegensatz zu Klgl 1, wo die Schuld Zions nicht nur wiederholt bekräftigt, sondern auch von Zion selbst eingestanden wurde (Klgl 1,5.8.18.20.22), fehlt in Klgl 2 ein solches Bekenntnis. Zudem wird der Hinweis auf die Schuld Zions nicht dazu benutzt, das Gericht zu begründen und einen Ausgleich zwischen Höhe der Schuld und Ausmaß des Gerichts herzustellen; der Hinweis auf den Zorn Gottes, der hier ja sachlich seinen sinnfälligsten Ort gehabt hätte, fehlt bezeichnenderweise.819 Stattdessen ist die Formulierung derart offen gehalten, dass man die Frage: »Was kannst du, Zion, dafür, dass deine Propheten dir deine Schuld nicht offenbarten?« nicht einfach so von der Hand weisen kann. Der einzige inhaltliche Rückbezug zu Klgl 1 geschieht durch die Formulierung ‫ולא־גלו )נביאיך( על־עונך‬, der mittels der Verwendung des Verbum ‫ גלה‬einen Rückbezug zu Klgl 1,8f. und der dortigen Schilderung sexueller Gewalt gegen Zion etabliert.820 In den beiden folgenden Versen der Sub-Stanze kommen sukzessive weitere Personengruppen in den Blick, die von zunehmend offenerer Feindseligkeit Zion gegenüber geprägt sind. In V 15 werden die Vorbeigehenden (‫ )עברי דרך‬genannt, die auch schon in Klgl 1,12, nach den Bildern sexueller Gewalt gegen Zion, angesprochen waren. Die dramaturgische Abfolge, dass nach dem Blick auf Zion die Reaktion der Umstehenden mit in den Blick gerät, bleibt somit gewahrt. Anders als dort jedoch erscheinen die Vorbeigehenden nunmehr offen abweisend bzw. feindselig: Wurden sie in Klgl 1 von Zion direkt angesprochen, und waren sie somit als zumindest potentiell solidarisch Gesinnte im Blick, ist eine solche Möglichkeit in Klgl 2,15 nicht mehr gegeben. Ihre Reaktion auf Zions Leid besteht darin, in apotropäischen Gesten das fremde Unheil von sich selbst 817 Knierim (1965), 182. 818 Koenen et al. (2015), 158f. Frevel (2017), 179f., geht ebenfalls davon aus, dass hier nicht primär etwaige moralische Verfehlungen Zions im Blick sind, sondern schlicht das Versagen der »prophetischen Politikberater«, die außenpolitisch auf das »falsche Pferd« gesetzt hätten. 819 Frevel (2017), 180. 820 Neben der Grundbedeutung von ‫ גלה‬entblößen/enthüllen, bedeutet das Verbum im Pi’el »beschlafen« bzw. »Unzucht treiben« (Lev 18,6–19; 20,11.17–19; Ez 16,36f.; 23,10; Hos 2,12). Vgl. Zobel, H.-J. (1973b), 1021f.

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fortzuhalten (vgl. Ijob 27,23).821 Wie auch ansonsten im AT erscheinen die ‫עברי‬ ‫ דרך‬hier als abweisend-feindlich gesinnte Unbeteiligte, die wie in Ps 80,13; 89,42 im Zweifel eher gewillt sind, persönlichen Nutzen aus dem Schaden Anderer zu ziehen, als solidarischen Beistand zu leisten. Im folgenden Vers werden Feinde Zions genannt. Es ist dies die einzige Stelle in Klgl 2, an denen die Feinde deutlich als eigenverantwortliche Aggressoren im Blick sind.822 Das wörtliche Zitat ihrer Rede, ‫ אמרו בלענו‬Sie sagten: »Wir haben verschlungen!«, verweist zurück auf V 2.5[bis].8 auf, in denen JHWH das Verschlingen (‫ )בלע‬Zions und Israel angelastet wurde. Auch der Fokus auf ihr Maul (‫ )פה‬unterstützt die Darstellung darin, die Feinde ausschließlich auf ihr zerstörerisch-animalisches Element als verschlingender Schlund zu reduzieren.823 Insgesamt ist in der Sub-Stanze ein Dreischritt zunehmender Verlassenheit erkennbar, der als Kontrast zu den solidarischen und mitfühlenden Worten des Sprechers aus V 11–13 wirkt. Auf die Frage »Wer kann dich heilen?« wird sozusagen die Umgebung Zions vom »Zentrum« (den Propheten) über die Passanten bis hin zur »Peripherie« der schadenfrohen Feinde durchschritten – und die verzweifelte Frage des Sprechers: Denn groß wie das Meer ist dein Zusammenbruch, wer kann dich trösten!? sieht sich in V 14–16 dahingehend beantwortet, dass sich ein Bild völliger Vereinsamung und Schutzlosigkeit ergibt. Damit ist in zweifacher Hinsicht die letzte Stanze vorbereitet: Zum einen verdeutlicht es, dass die in V 13 formulierte Frage letztlich auf Gott zielt und nur in ihm eine Antwort finden kann. In den V 1–10 wurde ein statisches Bild göttlicher Zerstörung und Verwerfung gezeichnet, das allerdings in der Vergangenheit situiert war. Mit V 11 wechselte die Darstellung ins Präsens der Selbstbeschreibung des Gemütszustandes des Sprechers. Durch seine Frage, wer Zion heile könne, wurde zumindest hinsichtlich des Fragehorizontes der Blick in die Zukunft gelenkt. Damit wird die Frage nach den notwendigen Grenzen gerechter Vergeltung, wie sie in V 11 am Schicksal der verhungernden Kinder fassbar wurde, von zunehmend elementarer Bedeutung. Zum anderen wurde durch die Zeichnung der Feinde, sowie die Einspielung des Stichwortes ‫ בלע‬bewirkt, dass die schon in V 4.5 diffus gewordene Unterscheidung zwischen Gott und Feinden weiter nivelliert wird – wenngleich diesmal 821 ‫ שרק‬wird in der Mehrzahl der Fälle im Zusammenhang mit dem Pfeifen an einer Trümmerstätte genannt. Zur Deutung als apotropäischer Gestus vgl. Schmoldt (1995), 475–477. 822 Ansonsten wird nur in V 3.7.17 überhaupt von Feinden berichtet (V 22 redet noch von den ‫מגורי מסביב‬, den »Schrecken ringsum«). In V 3 geht es inhaltlich um JHWH selbst, der angesichts der nahenden Feinde selbst untätig blieb (‫)השיב אחור ימינו מפני אויב‬, in V 7 wird die Reaktion der Feinde auf die göttliche Preisgabe des Tempels beschrieben. Jeweils liegt der Fokus auf JHWH und seinem (Nicht-)Handeln. In V 17 sind die Feinde ebenfalls nur als Nutznießer des göttlichen Handelns im Blick. 823 Für die Konnotation des gierigen, schnellen Schluckens vgl. Jona 2,1.

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nicht Gott als feindähnlich beschrieben wird, sondern die Feinde rhetorisch an Gott angeglichen werden. Die in V 22 kulminierende Tendenz des Liedes, Gott und Feind zunehmend ununterscheidbar zu machen, wird in V 16 weiter vorangetrieben: »War JHWH das Subjekt des Verschlingens gewesen (2,2a.5a.b.8b), so sind es nun Zions Feinde. Dabei wird ihr Tun ins Übermenschliche gesteigert, denn sonst ist es der Erdboden (Num 16,30.32.34; Dtn 11,65), die Scheol (Spr 1,12), die Tiefe (Ps 69,69) oder ein Drache (Jer 51,34: Bild für Nebukadnezzar), die verschlingen.«824

Der bisherige Gedankenfortschritt des Liedes ist entgegen häufiger Meinung durchaus nachvollziehbar: Den Beginn von Klgl 2 bestimmt das Bild des »feurigen« göttlichen Zornes, der sich, gleich einer Feuersbrunst, über das Land ergießt. Gott selbst als Urheber dieses Zornes verliert dabei jegliche Züge eines rationalen, fairen und gerechten Gottes – JHWH wird ‫כאויב‬. Steht in der ersten Stanze somit JHWH selbst und sein Wirken im Fokus, geht es in der zweiten anschließend um die konkreten Konsequenzen für Zion und die Gläubigen: Der Tempel ist zerstört, verlassen und durch die Feinde entweiht, die Zerstörung der Stadt(mauern), die Trauer der Bevölkerung ebenso wie die Hilflosigkeit der politischen Eliten werden beschrieben. Nachdem damit eine Rundumschau vollständiger Zerstörung und Gottferne gezeichnet wurde, steht die Frage des (persönlichen) Umgangs mit dieser Realität im Raum. Die Darstellung wandelt sich dementsprechend und stellt das Erleben und Handeln konkreter Figuren – Sprecher und Zion – wieder in den Vordergrund. V 11–13 sind dabei der ausführlichen Darstellung der Rat- und Hilflosigkeit, aber auch Entsetzen und Mitgefühls, des Sprechers gewidmet, die folgenden V 14–16 weiten die Perspektive aus und machen deutlich, dass auch von sonst Niemandem Rettung, Heilung und Schutz zu erwarten sind. Während V 11–13 vom Selbstbericht des Sprechers über die verschmachtenden Kinder der Stadt auf die Frage nach Rettung hinleitet, sozusagen zentripedal ins Herz der Stadt und zum Kern des Konflikts vordringt, unterstreichen die folgenden V 14– 16 den rhetorischen Charakter jener Frage durch eine entsprechende zentrifugale Bewegung: Die Propheten konnten schon in der Vergangenheit nicht helfen (V 9), später (V 14) handelten sie gar so, dass ihr Handeln eine Abwendung des Schicksals verunmöglichte; auch von den Vorbeigehenden ist nichts außer Häme und Abgrenzung zu erwarten (V 15). Das Gebaren der Feinde hat mittlerweile Qualitäten angenommen, dass die Unterscheidung Feind – Gott zunehmend diffus wird. Hilfe und Heilung kann folgerichtig nur von Gott selbst kommen. Mit V 17 beginnt die vierte Stanze, die zugleich auf den Höhepunkt von Klgl 2 und, wenn man so will, die Klimax der Exposition aus Klgl 1–2 zustrebt. Die 824 Berges (2002), 157.

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Einteilung in Sub-Stanzen ist problemlos: Nach der Aufforderung des Sprechers in V 17–19 folgt in V 20–22 die Anklage Zions. V 17 fungiert hier als Überleitung: Einerseits nimmt der Vers die zentrifugale Bewegung zunehmender Verlassenheit aus V 14–16 auf und führt sie zu ihrem logischen Abschluss, andererseits dient sie als Ausgangspunkt für die folgenden Verse. Während in V 17–19 der Sprecher der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass intensivierte Klage einen Stimmungsumschwung bei JHWH erreichen könnte, zerstört die anschließende Klage Zions schnell diese Hoffnung und macht deutlich, dass es ein Zuviel an Schmerz gibt, nach dem nur noch Anklage und Ablehnung folgen können. V 17 ist dabei noch ganz in der sich weitenden Bewegung von V 14–16 verhaftet: nach Sprecher, Propheten, Vorbeigehenden und Feinden ist es nun JHWH, der als möglicher Tröster in den Blick kommt. Nach V 8 wird erneut bekräftigt, dass das Gericht ‫ מימי־קדם‬geplant war. ‫ עשה‬+ ‫ זמם‬drückt mit göttlichem Subjekt aus, dass etwas mit Sicherheit eintreffen wird (Jer 51,12; Sach 1,6).825 Mit ‫ צוה‬ist nicht nur der Bogen zurück zu Klgl 1,10.17 geschlagen, sondern (wie dort) insbesondere die Facette des sich auf göttliches Gebot beziehenden Handelns eingespielt.826 Die Formulierung ‫ הרס ולא חמל‬greift zudem die Schilderung der göttlichen Gewalt aus der ersten Sektion auf (V 2a: ‫בלע אדני‬ ‫ ;לא חמל‬V 2b: ‫)הרס בעברתו‬. Daneben wird aber auch eine Fährte gelegt, die in V 21 (‫ )הרגת … טבחת לא חמלת‬und später in Klgl 3,43 (‫ )הרגת לא חמלת‬wieder aufgenommen wird: Insbesondere das erbarmungslose Handeln JHWHs, das auch vor sterbenden Kleinkindern (V 11f.) nicht Halt machte, bleibt unverständlich. Und sollte nach all dem noch Zweifel an der bewussten Tat Gottes herrschen, so räumt der Sprecher ihn mit dem Hinweis auf das Erhöhen des Hornes der Bedränger Zions (‫ )הרים זרן צריך‬aus dem Weg: Wie schon mit dem Stichwort ‫ חמל‬wird an die erste Sektion erinnert: hieß es in V 3, dass JHWH in glühendem Zorn jedes Horn Israels abschlug, so erhöht er hier das Horn der Feinde. Klarer kann man die gewandelte Wertschätzung Gottes nicht in Worte fassen.827 Der Text von V 18 stellt die Forschung seit langem vor Schwierigkeiten. Wenn man von Emendationen Abstand nimmt, bieten sich als das Subjekt für ‫( לבם‬Pl. mask.) entweder die in V 19 angesprochenen Kinder oder allgemein die Einwohner Zions an.828 Inhaltlich schließt sich hier der Bogen, der mit V 13 eröffnet wurde. Das einzige, was der Sprecher Zion raten kann, ist hemmungslose Klage. 825 Koenen et al. (2015), 164. Nach Steingrimsson (1977), 600 eignet ‫ זמם‬insbesondere das Moment des Aktiv-werden-wollens, Pläne-verwirklichen-wollens. 826 García López (1989), 942. 827 Berges (2002), 159 möchte in ‫ בצע‬vollstrecken hoffnungsvolle Nuancen erkennen, denen zufolge das Lexem als terminus technicus auch in positivem Kontext verwendet werden kann (vgl. Sach 4,9; Jes 10,12). 828 Für ersteres vgl. z. B. Berges (2002), 160, Renkema (1998), 307–311; für letzteres Koenen et al. (2015), 167, Berlin (2002), 74.

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‫ צעק‬bezeichnet ein Schreien, das unbedingte Erhörung gebietet.829 Dem Hilflosen, der in seiner Not so zu Gott schreit, ist normalerweise die Zusage seiner Erhörung gegeben (Ex 8,8; 14,10.16; 15,25; 17,4; Num 12,13; 20,16 u. ö.). Gleiches gilt für das Schreien zum König (2Sam 19,29; 1Kön 20,39; 2Kön 6,26). Ob das Schreien aus ganzem Herzen830 oder aus Ermattung (vgl. V 11) nur noch in ihrem Herzen831 geschieht – es ist in jedem Fall ein Appell, der unbedingtes Handeln verlangt. Daher wird normalerweise auch ‫ אל־יהוה‬geschrien; die Formulierung ‫צעק אל־אדני‬/‫ זעק‬findet sich im AT lediglich hier.832 Im Gegensatz zum Titel ‫אדני‬, der auf die Konnotation des machtvollen Herrschers, des Allherrs abhebt,833 trägt ‫ יהוה‬mehr das Versprechen des Bundes und das Vertrauen in Gottes gnaden- und heilvolles Handeln.834 Dieses Vertrauen scheint bei Zion offenbar so nachhaltig erschüttert, dass eine direkte Klage an ‫ יהוה‬undenkbar ist. Und in der Tat – das, was Zion in V 20–22 an ‫ )!(יהוה‬formuliert, ist keine auf Erhörung und Besserung hoffende ‫צעקה‬, sondern eine vernichtende Generalabrechnung mit einem feindlich gesonnenen Gott. Unterstrichen wird der Appell des Sprechers durch den Rückbezug auf V 11 in diesem und dem folgenden Vers. Das intensive Weinen angesichts des Schicksals verhungernder Kinder rahmt den Abschnitt V 11–19. Was in V 11 noch in nur einem Vers formuliert wurde, findet sich hier in zwei Versen entwickelt.835 Wo anschließend in V 12 das Schicksal der Kinder noch einmal gesondert in den Blick genommen wurde, ergreift nunmehr Frau Zion selbst das Wort. In V 11f. 829 Hasel (1977), 638. Nach Labahn (2002), 516 ist es genau dieser Schrei, der die Trauer angemessen artikuliert. Der sachliche Bezug zu V 9f. lässt es geratener erscheinen, den Bezug von ‫ לבם‬tatsächlich in der Bevölkerung allgemein zu suchen. 830 So Koenen et al. (2015), 167, Salters (2010), 110, Groß et al. (1986), 23 u. ö. 831 So Berges (2002), 161, Berlin (2002), 65, Renkema (1998), 307, Brandscheidt (1983), 132 u. ö. 832 Koenen et al. (2015), 167. Für ‫צעק אל־יהוה‬/‫ זעק‬vgl. Ex 8,8; 14,10.25; 25,25; 17,4; Num 12,13; 20,16; Dtn 26,7; Jos 24,7; Ri 4,3; Ps 107,6.28; Jes 19,20. 833 Eißfeldt (1973), 73. Dieser Befund sieht sich in den Klgl insgesamt bestätigt. Insgesamt 30 Vorkommen des Tetragramms stehen 14 Vorkommen des Titels ‫ אדני‬gegenüber, die an charakteristischen Stellen zu finden sind. In Klgl 1 findet sich ‫ אדני‬lediglich in V 14.15, also dort, wo Zion das Gerichtshandeln Gottes an ihr schildert und dabei insbesondere auf die brutale Gewalt des Gerichts abhebt (V 15c: Die Kelter hat der Herr getreten …). Die erste Stanze, V 1–5 von Klgl 2 kennen nur ‫אדני‬, während in V 6–8, passend zum Thema des Tempels und der Geplantheit des Gerichts, das Tetragramm verwenden. In Klgl 3 ist insbesondere die Mittelsektion reich an Gottesbezeichnungen. ‫ אדני‬findet sich lediglich in den V 31.36–38, in denen die kritischen Einwände auf die weisheitliche Unterweisung des Mannes unter anderem mit dem Hinweis auf Gottes Allmacht entschärft werden. ‫ יהוה‬steht dem gegenüber in den V 22.24.25.26 (sowie der dritten Sektion), wo das gläubige Vertrauen an die Güte und Barmherzigkeit Gottes im Mittelpunkt steht. Bemerkenswerterweise fehlt der Titel ‫ אדני‬in Klgl 4–5 völlig. 834 Freedman et al. (1982), 551. 835 Vgl. Collins (1971a), 33–35. V 11a: Augen werden schwach vor Tränen – V 18bc: Tränen fließen wie ein Wadi, keine Ruhe dem Auge; V 11b: Leber ist zu Boden geschüttet – V 19b: Herz wie Wasser verschüttet; V 11c: Kinder verschmachten – V 19cd: Kinder verschmachten.

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ging es um die Reaktion des Sprechers auf den Tod der Kinder, die aus Trauer und Ratlosigkeit bestand und zu intensivierter Klage Anlass gab. Zion, der das Schicksal ihrer Kinder hier noch mal vor Augen geführt wird, reagiert anders: Das Übermaß an Leid macht Klage zu Gott schlechterdings unmöglich. Die vierte Stanze insgesamt und insbesondere die letzte Sub-Stanze, V 20–22, sind ohne Zweifel der dramatische und dramaturgische Höhepunkt der ersten beiden Lieder. Nach nunmehr 19 Versen Schweigen ergreift Zion selbst das Wort und formuliert eine Anklage, die es in sich hat. Der Umstand, dass Zion in den folgenden Liedern nicht mehr aktiv in Erscheinung tritt, kann man als ein Zeichen der Hoffnungslosigkeit deuten.836 Es kann aber auch als ein Zeichen der Stärke gelten: Es ist tatsächlich auch alles gesagt! Wenn Gott auf die Anklage Zions weiterhin schweigt, dann zum eigenen Nachteil.837 Im Text spiegelt sich diese Zuspitzung auf vielfältige Weise wieder: Schon die Aufforderung Zions in V 20a: ‫ ראה יהוה והביטה‬Schau, JHWH, und sieh her! hat Signalwirkung. Sie erinnert an die wiederholten Aufforderungen Zions in Klgl 1,9c.11c.12a.18b.20a, dass JHWH, die Vorbeigehenden, die Völker – irgendwer! – ihr Leiden zur Kenntnis nimmt. Im Besonderen verweist es zurück auf Klgl 1,11c.20a und Zions dortige Aufforderungen an Gott, ihrem Leiden Aufmerksamkeit zu widmen. Daneben sind die Verse durch ein dichtes Netz an Bezügen verklammert: im Wortspiel zwischen ‫ עלל‬jmd. etw. antun/handeln in V 20a und ‫ עולל‬Kind in V 20b,838 in dem durch ‫ טפח‬umhegen/hätscheln in V 20b.22c gebildeten Rahmen, im Rückbezug von V 22c ‫ איבי כלם‬Mein Feind (sg.!) hat sie vernichtet auf V 4.5, in denen JHWH ‫ כאויב‬bzw. ‫ כצר‬handelte, durch passivisches ‫ יהרג‬getötet werden in V 20c und aktivisches ‫ הרגת‬du hast getötet in V 21c. Weiterhin verklammert die Wortspielassonanz ‫ עולליך העטופים‬deine verschmachteten Kinder aus V 19bc und ‫ עללי טפחים‬umhegte Kinder in V 20b die beide Sub-Stanzen.839 Oft wird V 20 als um Zuwendung bittende840 oder Betroffenheit ausdrückende841 Klage Zions interpretiert. Dies ignoriert die Dramaturgie des Liedes. 836 O’Connor (2002); 43: »There is no response to Zion’s petition. God does not speak. … Daughter Zion is left with her tears, surrounded by devastation,alone without her children. She disappears as a literary figure in the book (except for 4:20) and only returns in the writing of the prophet known as Second Isaiah.« 837 Dies wurde schon früh gespürt. Zions Anklage ist von einer Schärfe, die von der rabbinischen Tradition umgehend abgemildert wurde: Tg und Midrasch fassen V 20c als göttliche Replik auf, so dass auf die Anklage Zions: »Dürfen Frauen essen ihre Leibesfrucht …?« der göttliche Konter folgt: »Dürfen getötet werden im Heiligtum des Herrn …?« (Wünsche [1967], 117, Levine [1976], 120). 838 Zion benutzt ‫ עלל‬an drei Stellen: Zu Beginn und Ende ihrer Rede in Klgl 1 und zu Beginn ihrer Rede in Klgl 2. Das recht seltene Verb ist oft negativ konnotiert (Roth, W. [1989], 152). 839 Für eine ausführliche Darstellung der vielfältigen Bezüge der Sub-Stanze zum Rest des Liedes sowie Klgl 1 vgl. Michel (2003), 222f. 840 Vgl. Westermann (1990), 135.

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JHWH wird nicht um Vergebung oder Errettung gebeten, sondern lediglich aufgefordert, sich den Konsequenzen seines Tuns zu stellen: »YHWH schlachtet, was verschmachtet!«842 In V 20–22 werden die thematischen Linien der bisherigen beiden Lieder zusammengebunden und auf ’s Höchste verdichtet: Mit der Nennung von Frauen, Kindern, Priestern, Propheten, Jünglingen, Ältesten, Jungfrauen und Burschen – jeweils als Opfer des Gerichts – finden sich in V 20b–21b die dichteste Aufzählung der Bevölkerungsgruppen im ganzen Buch. Die Legitimität von Zions Anklage wird damit noch einmal verdeutlicht. Die Verse sind streng argumentativ und in Paaren aufgebaut: Auf die Einleitung in V 20a: ‫ ראי יהוה והביטה‬folgen in V 20bc zwei gleich gestaltete rhetorische Fragen. Die Antwort auf diese Fragen ist jeweils offensichtlich: So wie Frauen ihre Kinder nicht verzehren dürfen, so undenkbar sollte es sein, dass im Heiligtum selbst Priester und Prophet getötet werden. Den beiden rhetorischen Fragen folgen zwei Bikola, V 21ab, in denen auf engstem Raum eine Darstellung der Realität gegeben wird: ‫ נער‬Jüngling und ‫ זקן‬Greis, ‫ בתולות‬Jungfrauen und ‫בחורים‬ Burschen liegen getötet in den Gassen. Die beiden Merismen verdeutlichen: alle wurden zum Opfer. Daraus folgt in den nächsten beiden Zeilen, V 21c.22a, die zusammenfassende Anklage: ‫ הרגת ביום אבך טבחת לא חמלת‬Du hast getötet am Tag deines Zorns, hast geschlachtet, nicht vergeben. Die Assonanz der Endungen unterstützt den summarischen Charakter. Hier wird nicht mehr diskutiert oder abgewogen. Die zweite Zeile der Summa, V 22a: ‫ תקרא כיום מועד מגורי מסביב‬Du riefst wie zum Festtag meine Schrecken von ringsum lässt mit dem Stichwort ‫מועד‬, sowie das Adverb ‫ סביב‬noch einmal die wichtigsten Eckdaten des bisherigen Textes Revue passieren.843 Die erneute Nennung des Tetragramms in V 22b schlägt den Bogen zurück zu V 20a und rahmt damit die Sub-Stanze. Zion bezeichnet JHWH nicht ausdrücklich als Mörder ihrer Kinder. V 22cβ ‫ איבי כלם‬mein Feind (sg.) hat sie vernichtet bleibt in dieser Hinsicht doppeldeutig.844 Doch was ist damit gewonnen!? In jedem Fall operiert der Text hier bewusst mit einer Doppeldeutigkeit, die in der Konzeption des gesamten Liedes angelegt ist (vgl. nur die Steigerung von ‫כצר‬/‫ כאויב‬in V 4f. zum Singular ‫)איבי‬. Damit führt die letzte Stanze die zweite 841 Vgl. Boecker (1985), 54. Vgl. den in seiner Abgründigkeit ähnlichen Ps 88 sowie diesbezüglich Illman (1991), 119: »The psalmist does not pray for mercy – the prayer focuses exclusively on the request for God to listen!« 842 So, in unüberbietbarer Prägnanz, Michel (2003), 225. 843 Angefangen von den nunmehr ausbleibenden ‫ באי מועד‬Festgängern in Klgl 1,4, über das ‫מועד‬, das Gott gegen Zion ausrief (Klgl 1,15) und zu dem er die Feinde ‫ סביב‬aufgeboten hatte (Klgl 1,17), was sich als Gericht manifestierte, das sich gleich einem Feuer ‫ סביב‬ringsum ausbreitete (Klgl 2,3), und infolge dessen Festort und Festzeit (Klgl 2,6.7) dem Vergessen anheimfielen. 844 Diese Doppeldeutigkeit darf nicht unter den Tisch fallen (so zurecht Michel [2003], 225, Anm. 109).

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Sektion und das Lied zu einer durchaus logischen Konsequenz:Wie oben bereits angesprochen, wird die zweite Sektion durch das Schicksal der Kinder gerahmt. Führt ihr Verhungern in V 11f. zur Wandlung des Sprechers vom gleichsam unsichtbar bleibenden, außerhalb des Geschehen stehenden Kommentator aus Klgl 1 zu einer von der Brutalität und Gewalt des Gerichts erschütterten, selbst Partei ergreifenden Figur, bringt das Leiden und Sterben ihrer Kinder Zion in V 20f. zur radikalen Anklage Gottes. Nachdem die erste Stanze der zweiten Sektion Zions Verlassenheit »in der Welt« thematisierte, schildert die zweite die noch unerträglichere Verlassenheit Zions vor Gott. Die Konsequenz, die Zion zieht, ist an Radikalität praktisch nicht zu übertreffen: Ein Gott, der jegliche lebensstiftende Realität pervertiert,845 kann nur noch als Feind begriffen und adressiert werden.

6.2.3 Die Funktion von Klgl 2 im Rahmen des Buches Klgl 2 rüttelt wach und verstört. Mit seiner zum Ende hin immer kompromissloseren Anklage an Gott ist es innerbiblisch geradezu einmalig. »Dieses Gebet ist eine einzige Anklageschrift«846, formuliert Koenen und trifft damit den Kern des Liedes. Die Radikalität der Anklage Zions weist auf eine der Funktionen von Klgl 2 im Gesamtarrangement des Buches hin. Nachdem in Klgl 1 die theologischdramaturgischen »Eckpfosten« der Darstellung festgelegt wurden, wird in Klgl 2 der theologische Konflikt des Buches in radikaler Deutlichkeit herausgearbeitet. Die Frage nach den Grenzen eines gerechten Gerichtes wird hier so deutlich wie nirgends sonst, und am schwierigsten Prüfstein überhaupt – dem Schicksal unschuldiger Kinder und Säuglinge – diskutiert. Die Erwägung fällt für JHWH nicht günstig aus, was anschließend wiederum zur Weiterführung der Diskussion in Klgl 3 bis 5 führt. Klgl 2 dient somit der Konfliktzuspitzung und -präzisierung und fungiert in seiner dramaturgischen Intensität als Referenzpunkt für sämtliche folgenden theologischen Überlegungen von Klgl 3–5. Dass diese Zuspitzung ihren Preis hat, ist offensichtlich. In dem Maße, in dem das Gericht in all seinen grausamen Facetten diskutiert wird, verliert der so handelnde Gott an Legitimität. »Besonders das zweite Klagelied forcierte das Motiv vom Zom Gottes … Mit dem Zom Gottes gipfelte auch die Verantwortung Gottes für die Katastrophe.

845 Berges (2002), 165f.: »Die Perversion der Mutter-Kind-Beziehung, die in der Teknophagie ihre größtmögliche Tragik erreicht, wird mit der Perversion der JHWH-Israel-Beziehung in Beziehung gesetzt, die darin ihren Ausdruck findet, dass die Kultdiener im Heiligtum getötet werden.« 846 Koenen et al. (2015), 184.

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Sein Handeln wird als maßlos angeklagt, so daß Gott geradezu beschädigt zurückbleibt.«847 Zum zweiten dient Klgl 2 der historischen Situierung des Geschehens. Während Klgl 1, nicht zuletzt durch die fast durchgehende Personifizierung Zions, für Rückblicke und historische Einordnungen wenig Raum hat, investiert Klgl 2 insbesondere für die Skizze der Gräuel des Gerichts – wenngleich natürlich in starker poetischer Verarbeitung – erheblichen Raum. Die Darstellung von Klgl 1 wird damit zeitlich und räumlich umfassender situiert, historisch rückgebunden und konkretisiert. Denn: So beklemmend die Bilder physischer Gewalt gegen eine Frau in Klgl 1 auch sind – es sind Metaphern, die vieles ungesagt lassen. Klgl 2 lässt es diesbezüglich an Klarheit nicht mangeln. In der Fortführung der dramaturgischen Konfiguration von Klgl 1 dient Klgl 2 weiterhin der Festigung des Dramencharakters der Lektüre und damit der Bereitschaft der Rezipient*innen, auch die folgenden Lieder als Stimmen einer liedübergreifenden Diskussion zu begreifen. Der »Paukenschlag« von Klgl 2,22 fordert diese auf Klgl 3 übergreifende Leseweise geradezu ein. Schließlich etabliert Klgl 2 noch eine konkrete Deutungsmöglichkeit der Katastrophe: Mittels Rekurs auf die ‫יום־יהוה‬-Vorstellung wird das Geschehen als Manifestation des göttlichen Zornes interpretiert und versucht, auf diesem Weg die Wirkmächtigkeit JHWHs auch über die einschneidende Erfahrung radikaler Schutzlosigkeit und Gott-Verlassenheit zu retten. 6.2.3.1 Historische Situierung Klgl 1 setzte mit dem Bild einer trauernden Stadt, die ‫ בדד‬einsam saß, ein. In V 2 wurde dem das Bild einer nächtlich weinenden Frau zur Seite gestellt, die von Freunden und Nachbarn verlassen wurde. Im weiteren Verlauf des Liedes wird Zion als eine Frau präsentiert, die vor ihren ehemaligen Liebhabern verächtlich gemacht und erniedrigt wird. Anschließend ergreift Zion selbst das Wort und wendet sich an Vorbeigehende, JHWH, die ‫( כל־עמים‬V 18b). Ihre eigene Schilderung des Gerichts bleibt dabei metaphorisch, indem sie es weitgehend in Bildern körperlicher Gewalt beschreibt. Eine historische Situierung der Erzählung, eine klare Beschreibung der historischen Realität der Zerstörungen durch die Babylonier finden sich in Klgl 1 nur am Rande.848 Das ist in der Logik von Klgl 1 auch kein Defizit. Der historische Sachverhalt und die sich daran anschließenden theologischen Fragen werden konsequent als Figurenkonflikt dargestellt. Allerdings schränkt es die Diskussion ein und verhindert eine umfassende Erörterung der Frage nach den Grenzen eines gerechten 847 Frevel (2002), 145. 848 Vgl. z. B. V 4.10.19f.

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Gerichts. Hierzu bedarf es einer detaillierteren historischen Darstellung. So, wie im Drama im Rahmen der Exposition die Vorgeschichte geklärt wird und die im Folgenden zugrunde gelegten (Figuren-)Konstellationen dargelegt werden, ist es nötig, dass dargelegt wird, wie sich das Gericht äußerte und welche Folgen es hatte. Dies leistet Klgl 2 auf zwei Weisen. Zum einen wird in der ersten Sektion einer thematisch strukturierten Abfolge von Bildern sehr plastisch illustriert, wie Gottes Gericht seinen Weg nahm, worin es bestand, welches Ausmaß es hatte, durch wen es in die Tat umgesetzt wurde, usw. Es werden die Informationen geliefert, die der folgenden Diskussion und weiteren Argumentation das historische Fundament liefern. Zum anderen wird aber auch der Blick auf Details gelenkt. Insbesondere das Schicksal der Schwächsten – illustriert am Hunger und Tod der Kinder und Säuglinge – wird zum Prüfstein für die Bewertung des Gerichts. Es ist dabei unerheblich, dass es sich hierbei sicherlich auch um geprägte Rede handelt.849 Gerade das zeigt, dass das Leiden Unschuldiger eine universelle Erfahrung kriegerischer Auseinandersetzungen ist, die trotz ihrer sprachlichen Geprägtheit nichts an unmittelbarer Relevanz eingebüßt hat. Dies gilt in Übertragung auch für die in V 20 erwähnte Teknophagie. Ob hiermit eine historische Realität im belagerten Jerusalem beschrieben sein sollte, kann getrost unentschieden bleiben – de facto ist die Frage nicht (mehr) zu beantworten. Sehr charakteristisch ist indes die Art, wie mit dieser Facette des göttlichen Gerichts textintern umgegangen wird – beispielsweise vermisst man die ansonsten präsente moralische Verurteilung der Mütter (Lev 26,27–33; Dtn 28,49–57; 2Kön 6,28f.; Jer 19,6–9; Ez 5,8–10; Klgl 4,10).850 Stattdessen wird Gott massiv belastet. Das Entsetzen darüber, dass den verhungerten Kindern noch ihr Status als Opfer genommen wird, indem man sie auch nach dem Tod noch verzweckt, ist dem Text gut anzumerken und gilt unabhängig von der historischen Genauigkeit der Schilderung. Es ist somit unbenommen, dass auch in Klgl 2 die »historische« Schilderung stark metaphorisch geprägt bleibt. Bei einem poetischen Text ist dies nicht anders zu erwarten. Trotzdem ist sie konkret genug, um eine historisierende Interpretation zu ermöglichen, die dann wiederum als Hintergrund für die weitere inhaltliche Diskussion dienen kann.851

849 Saebø (1986), 1133. 850 Vgl. hierzu LaBarbera (1984), Lasine (1991) und Lanner (1999). 851 Zwar wird man mit Recht bestreiten können, dass die Sprache der Klgl es ermöglicht, vom Text auf konkrete historische Ereignisse schließen zu können (Provan [1990b], 140). Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich ein Ereignis, das ohnehin stark im kommunalen Gedächtnis präsent ist, nicht mit Gewinn durch die metaphorisierende Beschreibung der Klgl assoziiert werden kann.

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6.2.3.2 Zuspitzung des Konfliktes Wenngleich Klgl 1 eine weitgehend einheitliche Einschätzung des Gerichts bietet, waren schon dort Konfliktpunkte erkennbar. Der weit überwiegende Teil des Liedes transportierte die Einschätzung: Zion ist für das Gericht selbst verantwortlich. Dessen Ausmaß und Intensität entsprachen der vorherigen Sünde Zions, die (bis auf V 8: dort ‫ )חטא‬mit den zwei (wenig Raum für Relativierungen bietenden) Begriffen ‫ פשע‬Verbrechen und ‫ מרה‬trotzen charakterisiert wurde. Die subtile Art, wie diese Sicht durch die Dynamik Sprecher – Zion vermittelt wurde, wurde weiter oben ausführlich diskutiert. Doch auch in Klgl 1 schon bekam diese einheitliche Fassade Risse. Einer dieser Punkte war V 10, der die Frage stellte, inwiefern Gott selbst, in der Durchführung des göttlichen Gerichts, an seine eigenen Gebote gebunden ist. Als anstößig wurde hier empfunden, dass Fremde bzw. Feinde den Tempel betraten. Das Gemeindegesetz Dtn 23,2–8 untersagte die Zulassung von Ammonitern und Moabitern in die Gemeinde (Dtn 23,4) zum Gebet und Opfer – um wie viel anstößiger muss dann der Zutritt von Feinden zur Plünderung und Schändung des Tempels gelten! Vonseiten Zions kann man Kritik nur erahnen. Man mag sie insbesondere in ihren wiederholten Aufforderungen an Gott vermuten, hinzuschauen, und ihr Elend zur Kenntnis zu nehmen (V 11c.20a), verbunden mit dem anhaltenden Schweigen Gottes, das sich auch in Klgl 2 fortsetzt. Klgl 2 wird hier deutlicher. Die gesamte erste Sektion bietet eine ungeschönte Darstellung des ungeheuer brutalen Gerichts. Der Text macht, nach dem Ende von Klgl 1, in dem Zion als ermattete und kranke Frau verlassen wurde, deutlich, dass das Gericht in erster Linie eines war: brutal, umfassend, unterschiedslos gegen alle gerichtet, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Schon darin wird deutlich, dass die Diskussion auf eine andere Ebene gehoben wird und eine intensivierte Brisanz erhält: Mittels der Schilderung des Gerichts, in deren Zuge JHWHs Wirken mit dem Handeln von Feinden vergleichen wird, verbunden mit dem fast vollständigen Fehlen des Topos »Schuld«, wird auch ohne viele Worte deutlich gemacht, dass die Balance zwischen Gericht und vorheriger Schuld nicht gewahrt wurde. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch Formulierungen wie V 2a: ‫ בלע אדני לא חמל‬verschlungen hat der Herr, nicht verschont oder V 21c: ‫ הרגת … טבחת לא חמלת‬du hast getötet … geschlachtet, nicht verschont, in denen die Erbarmungslosigkeit gerade den Kern der Aussage ausmacht und den Anstoß der Empörung darstellen.852 Dass ‫ הרג‬töten nur hier und in Klgl 3,43 ein göttliches Subjekt hat, unterstreicht die schwere der hier gegen Gott formulierten Anklage.

852 Negiertes ‫ חמל‬als Verschärfung einer anderen Aussage: Tsevat (1977), 1045.

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Zum anderen ist die Intensivierung in der direkten Rede Zions zu nennen. Weiter oben wurde schon dargelegt, dass schon die Kompaktheit und das dichte Netz von Stichwortbezügen signalisiert, dass in diesen Versen der Höhepunkt des Liedes erreicht ist. Die Botschaft Zions liegt in einer radikalen Anklage, die nur kurz vor dem offenen Gottesbruch haltmacht. Daneben sollte aber auch nicht dramaturgische Dynamik innerhalb von Klgl 2, als auch im Vergleich zu Klgl 1 übersehen werden: Klgl 2 intensiviert nicht nur hinsichtlich Zions Klage, sondern auch in Bezug auf die Figürlichkeit des Sprechers. Seine Reaktion auf die Brutalität des Gerichts liegt in der Aufforderung zur intensivierten Klage. Zion kommt dem nach – auf ihre Weise, die nur noch wenig Ähnlichkeiten mit der gedemütigten und deprimierten Frau aus Klgl 1 hat. 6.2.3.3 Festigung des dramatischen Settings Klgl 1 etablierte mit Frau Zion und dem Sprecher zwei Figuren, die die Möglichkeit einer dramatischen Inszenierung schufen. Trotzdem agierten beide Figuren nicht »auf Augenhöhe«. Zion blieb in der ersten Sektion Objekt der Rede des Sprechers, kam in der zweiten selbst zu Wort. In jedem Fall war sie Gegenstand der Diskussion. Der Sprecher hingegen blieb als Figur im Hintergrund und gewann nur dadurch einen gewissen figürlichen Selbststand, dass er in seiner Rede inhaltliche Deutungen transportierte. Im Kontext von Klgl 1 hatte Zion den Habitus einer depressiv-demütigen Frau, während der Sprecher als theologischer Beobachter »außen vor« blieb. Dies wandelt sich in Klgl 2 grundlegend. Der andere dramaturgische Aufriss hilft, die Darstellung aufzulockern. Indem Zion anfangs fast vollständig in den Hintergrund tritt, dafür nunmehr der Sprecher an figürlicher Präsenz gewinnt, wird ein Kontrast zu Klgl 1 erzeugt und das »dramaturgische« Inventar verbreitert. Daneben ist aber auch die Entwicklung Zions selbst bemerkenswert. Schon in Klgl 1 war ihre Rolle von figürlichem Selbststand geprägt. In der Dramaturgie des Liedes ist es bemerkenswert, dass Zion gerade an dem Punkt ihre eigene Stimme gewinnt und offensiv die Vorbeigehenden zum Hinsehen und Mitfühlen auffordert, wo sie in der Darstellungslogik gerade noch als entblößte und verachtete Frau dargestellt wurde. Die Selbstermächtigung ist über das Wiedergewinnen der eigenen Stimme hinaus weiter zu denken. Dies setzt sich in Klgl 2 fort. Zion kommt hier nur noch in drei Versen zu Wort – dafür aber in absolut zentralen! Die in diesen Versen formulierte Abrechnung mit Gottes Gericht etabliert Zion nicht nur gleichberechtigt neben dem Sprecher – spätestens vor dem Hintergrund von Klgl 3 und der dort weitergeführten Diskussion wird deutlich, dass es insbesondere Zions Argument, dass ein Gericht und ein Richter, die den Hungerstod von Kindern und Säuglingen und ihren Verzehr durch die Überlebenden zur Folge haben, nicht den Anspruch erheben

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kann, gerecht zu sein, der weiteren Beschäftigung bedarf. Daneben ist allerdings auch die innere Entwicklung Zions als Figur bemerkenswert. Während Zion auch in Klgl 1 schon eine sehr klare, selbstbewusste Haltung einnahm, die allerdings trotzdem in einer auf Leiden, Trauer und Bedauern fokussierten Haltung verblieb, geht es ihr in Klgl 2 überhaupt nicht um sich selbst – an keiner Stelle thematisiert sie eigenes Leiden! –, sondern ausschließlich um das Schicksal ihrer Kinder.853 Auch die Stellung und figürliche Zeichnung des Sprechers ändert sich. Anders als in Klgl 1 rückt er selbst und sein Erleben in den Fokus und wird Teil der Darstellung. Aus dramaturgischer Sicht ist dies wichtig, da es den dramenartigen Charakter der Darstellung verstärkt. Auch die direkte Anrede Zions und die direkte Aufforderung zur Klage führt zur Intensivierung des dramenartigen Eindrucks. Daneben ist seine innere Wandlung auch rückwirkend von Bedeutung für die Einordnung von Klgl 1. Indem er angesichts des Leidens der Kinder seine Fassung verliert, devaluiert er implizit seinen eigenen Standpunkt aus Klgl 1: Wie auch Zion verlässt den Sprecher angesichts des Schicksals der hungernden Kinder die Fassung. Aber auch seine Beschreibung des Gerichts in den V 1–10 haben eine Eindringlichkeit, die mit der Beschreibung aus Klgl 1 nichts gemein haben. Aus einer von Klgl 1 kommenden Perspektive ist der nunmehrige Fokus in Klgl 2,1–10, aber auch der Fokus auf die Stadt sowie das Ablegen etwaiger sexuell geprägter Terminologie bedeutsam. Der Sprecher korrigiert die Darstellung aus Klgl 1 implizit selbst. 6.2.3.4 Der Zorn Gottes als Deutungskategorie des Geschehens Die Deutung des Geschehens als Hereinbrechen des göttlichen Zornes über Israel ist schlechterdings das Thema von Klgl 2. Insgesamt neun Belege des Wortfeldes, und damit die Hälfte der Belege des Buches, finden sich hier. Wie im vorherigen Kapitel dargestellt, dominiert in Klgl 2 der »schnaubende« Zorn, der mit dem Begriff ‫ אף‬widergegeben wird (V 1[bis].3.6.21.22); daneben tauchen mit ‫עברה‬ (V 2) und ‫( זעם‬V 6) weitere Begriffes des Wortfeldes »Zorn« auf, die das affektive »Schäumen und Überwallen« der zornigen Erregung beschreiben. Im Vergleich zu Klgl 1 ändert sich der Stellenwert, dem der Zorn als Deutungskategorie zugemessen wird, erheblich. Dort wurde das Geschehen nur einmal, im zentralen V 12, als ‫ יום חתון אפו‬Tag seiner Zornesglut beschrieben. In 853 Möglicherweise ist es genau dieser Fokus, der es einerseits ermöglicht, über den leidenden Zustand von Klgl 1 hinauszuwachsen, und andererseits dazu führt, dass die Frage eigener Schuld oder Verantwortung fast vollständig außen vor bleibt. Bei einer Beschäftigung mit sich selbst (wie in Klgl 1) hat das Thema eigener Schuld einen nachvollziehbaren Ort. Bei der Frage des Schicksals von Säuglingen und Kleinkindern verstellt es nur den Blick auf den Grundkonflikt.

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Klgl 2 dagegen liegt insbesondere in den ersten sechs Versen der Fokus fast ausschließlich auf Gottes Zorneshandeln, das dort als überwältigendes, brutales Inferno beschrieben wird. Feinde als eigenständige Akteure treten demgegenüber fast vollständig in den Hintergrund; in V 1–6 werden sie lediglich in V 3b genannt. Durch das in den ersten Versen prominente Bild des alles verschlingenden (‫ )בלע‬Feuers wird verdeutlicht, wie überwältigend, unterscheidungslos und verheerend das Gericht über Israel hereinbrach. Der so agierende Gott ist einer, dem eine uneingeschränkte Machtfülle zukommt – Kritik und Zweifel wie in Klgl 3, ob Gott das Unrecht auf der Welt überhaupt wahrnehme, stehen Klgl 2 fern. Dies erklärt, warum in Klgl 2 sehr viel häufiger als in Klgl 1 der Titel ‫ אדני‬verwendet wird, der insbesondere die Macht Gottes betont. Darüber geht die Frage nach eigener Schuld fast vollständig unter, weswegen eine Deutung des Geschehens als Gericht über bzw. für frühere Sünden nur implizit erfolgt.854 Die für die Deutung des göttlichen Zornes wichtigen Kategorien Gerechtigkeit und Rationalität geraten in Klgl 2 aus dem Gleichgewicht.855 Klgl 2 versucht, zumindest einen Teil dieses Gleichgewichts wiederherzustellen – indem es die Planmäßigkeit und Bedachtheit des göttlichen Handelns betont. Um bei den Bildern brutaler Gewalt den Verdacht entgegenzuwirken Gott habe als »eifersüchtiger und jähzorniger Gott« nur im Affekt gehandelt, wird deutlich gemacht, dass das Geschehen nicht nur bewusst geplant, sondern sich aus dem seit den Tagen der ‫ קדם‬erlassenen Gesetz herleitet. Demgegenüber betont Zion gerade die Ungerechtigkeit des Leidens. Sie streicht die tödlichen Konsequenzen des Zornes für die Bevölkerung, insbesondere für Kinder und Säuglinge hervor und stellt den wütenden göttlichen Zorn als affektiven, willkürlichen Akt dar, der sich in vollkommen aus dem Ruder gelaufener, wortwörtlich blinder Wut entlädt. Damit stellt Klgl 2 insgesamt durchaus Deutungskategorien zur Verfügung, setzt auch ihre Angemessenheit voraus,856 kommt darüber allerdings zu einem Gottesbild, das nicht mehr viel mit dem beschützenden Gott zu tun hat, der Jerusalem als seine Heimstätte gewählt und unter seinen besonderen Schutz gestellt hatte. Diese zentralen zionstheologischen Glaubensinhalte überleben das Gericht nicht. Was vorerst übrig bleibt, ist ein Gott, der feindesgleich geworden ist und dessen Göttlichkeit daran Schaden genommen hat.857 Am Ende des Liedes ist die Gottesbeziehung – durchaus auf Zions aktives Wirken hin – zerrüttet. Inwiefern dieser Schaden irreversibel ist, wird sich in den nächsten Liedern zeigen. 854 Frevel (2017), 144. 855 Baloian (1992), 71. 856 Anders als z. B. Klgl 3, wo dem Theologumenon des Zornes Gottes spürbar ein Plausibilitätsdefizit zukommt. 857 Frevel (2002), 145.

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6.2.3.5 Zusammenfassung Klgl 2 greift den Faden von Klgl 1 auf und radikalisiert ihn. Auf der einen Seite führt Klgl 2 die dramenähnliche Struktur von Klgl 1 fort. Erneut wird der Text von zwei Figuren bestimmt – dem Sprecher und Zion. Wie ebenfalls schon in Klgl 1 werden durch Zitate weitere Blickwinkel eingespielt. Durch den anfänglichen Fokus auf das in der Vergangenheit stattgefundene Gericht wird eine zweite Zeitebene etabliert; die geschilderte Zerstörung des göttlichen Gerichts schafft zudem eine »historische« Basis für die anschließenden Überlegungen. Insgesamt trägt dies dazu bei, dass das Neue aus Klgl 2 als Fortführung und Akzentuierung von Klgl 1 gelesen wird. Klgl 2 etabliert somit einen Rezeptionsfokus, der über den Einzeltext hinaus geht. Daneben tritt aber auch Neues in den Fokus. Auf der inhaltlichen Ebene wird Gottes Handeln in den Fokus gerückt. Statt wie Klgl 1 zwischen dem Handeln der Feinde und dem Handeln Gottes sauber zu trennen, erscheint Gottes Handeln in Klgl 2 zunehmend ununterscheidbar vom Handeln der Feinde. Feinde als eigenständige Akteure spielen im Lied keine Rolle – zum Ende von Klgl 2 scheint es so, als habe JHWH deren Rolle vollständig übernommen. Diese Radikalisierung der Bewertung Gottes Handelns führt aufseiten des Sprechers zu einer Solidarisierung mit Zion. Statt wie in Klgl 1 als außerhalb des Geschehens stehender Beobachter zu beschreiben (und damit implizit zu bewerten), wird seine eigene Reaktion auf das beschriebene Elend nun Teil der Darstellung. Auf der Seite Zions führt die Radikalisierung zu einer Wandlung von passiv und defensiv orientierter klagender Frau zu einer vorbehaltlos, gleichsam mit dem Mut der Verzweiflung, die Ungerechtigkeit des erfolgten Gerichts anprangernden Fürsprecherin für diejenigen, die in Krieg und Kampf am ärgsten leiden. Zion konfrontiert JHWH mit den Konsequenzen seines Tuns: Priester werden im Heiligtum getötet, Kinder von ihren Müttern verzehrt. Damit ist die Frage, die das Buch im Folgenden umtreibt, auf den Punkt gebracht: Wie ist damit umzugehen, dass das Gericht auch Unschuldige trifft? Die Position von Zion in Klgl 2 ist klar: Ein Gericht, das die Unschuldigsten nicht nur zu Opfern macht, sondern ihnen in ihrem Verzehrt-werden auch noch die letzte Würde als Opfersein nimmt,858 ist

858 Von der moralischen Verwerflichkeit der Teknophagie abgesehen – sie ist als Spezialfall des literarischen Topos Anthropophagie, Schreckensbild für die Zerrüttung der öffentlichen Ordnung, altorientalisch und biblisch gut belegt (hierzu ausführlich Michel [2003], 200–245, hier 211) – sollte man diesen Punkt nicht übersehen, zumal in Klgl 2 gerade nicht die sonst mit diesem Topos verbundene moralische Verurteilung der Täter*innen erkennbar ist. Es ist in der survival literature gut belegt, dass eine der stärksten Motivationen, die Vernichtungscamps der Nazis zu überleben, der Drang war, Zeugnis abzulegen, die ungezählten Toten nicht einfach dem Vergessen (bzw. dem Nie-erinnert-worden-sein) anheim zu geben. Entsprechend bestand eine der Quälereien der SS darin, den Gefangenen darzulegen, dass

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unmenschlich und kann schon daher nicht mehr beanspruchen, gerecht zu sein. Ein Gott, der so handelt, agiert nicht nur »wie ein Feind« – er macht sich selbst zu einem Feind.

6.3

Klgl 3 – Hoffnung als Überlebensstrategie

Nach Klgl 2 ist eine Zäsur erreicht. Man kann die Stille, die auf Zions letzte Worte: ‫ אשר־טפחתי ורביתי איבי כלם‬die ich umsorgte und großzog – mein Feind hat sie vernichtet! eintritt, förmlich mit Händen greifen. Am Ende von Klgl 2 erscheint Gott als der eigentliche Feind, der Zions Kinder sehenden Auges und mit Mutwillen einem unmenschlichen Verderben anheimgab. Dass auf diesen Vorwurf hin erst einmal Stille folgt, ist nachvollziehbar – zu verstörend ist die Aussicht auf eine Zukunft, in der sich JHWH zum Feind gewandelt hätte. Dementsprechend wichtig ist, dass dieses Schweigen überwunden wird, dass Stille nicht zu Sprachlosigkeit wird. Damit ist auch der Anspruch formuliert, dem ein Neueinsatz nach Klgl 2,22 genügen muss: Die Weiterführung muss der inhaltlichen Spannung des Bisherigen gerecht werden. Es bedarf einer Antwort auf Zions Anklage, die, wenn sie schon nicht von Gott selbst kommt, so doch zumindest von einer Figur gegeben werden muss, die mit Zion »auf Augenhöhe« kommunizieren kann. Klgl 3 greift hierfür nicht auf den Sprecher aus Klgl 1–2 zurück, sondern führt eine neue Figur ein – den Mann. Inwiefern er diesem Anspruch gerecht werden kann (und wenn ja: dank welcher literarischen und poetischen Mittel), wird sich im Folgenden zeigen. Dabei gilt es festzuhalten, dass Klgl 3 zwar das zentrale Lied des Buches ist, jedoch daraus noch keine Bewertung bezüglich der inhaltlichen Zentralität folgen kann. Ob es dem Mann gelingt, Zions radikaler Gotteskritik tatsächlich etwas Produktives entgegen zu setzen, wird sich abschließend erst aus Klgl 4–5 ermessen lassen.

6.3.1 Gliederung Erneut bietet sich die Einteilung des Liedes in Strophen, Stanzen und Sektionen an, wenngleich der in den übrigen Liedern zweigeteilte Aufbau aufgegeben wurde. Einige offensichtliche Gliederungssignale erleichtern die Grobgliederung in drei Sektionen: Beispielsweise markiert der unvermittelte Übergang in die 1. Pers. Pl. in V 40 einen deutlichen Neueinsatz; ähnlich auffällig ist der Wechsel von der 1. zur 3. Pers. Sg. ab V 22. Weiterhin bemerkt man das fast vollständige Fehlen von ihrem Schicksal keine Spur bleiben würde, ihnen somit selbst der Status als Opfer genommen würde. Vgl. hierzu Des Pres (1980), 35.

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des Tetragramms und sonstiger Gottesbezeichnungen in den V 1–21 (lediglich einmal negativ »fern von JHWH« in V 18), im Vergleich zur neunmaligen Nennung in V 22–39 (4x JHWH, 3x ‫אדני‬, 2x ‫)אליון‬. Ein erster Gliederungsschritt kann somit in V 1–21.22–39.40–66 unterteilen. Eine Feingliederung der drei Sektionen ist möglich. Beispielsweise kann man in der ersten Sektion geltend machen, dass in den V 1–6 das Motiv der Dunkelheit (vgl. V 2.6) dominiert, anschließend das Thema »Verfolgung« in den Mittelpunkt rückt (sowohl in Form des verstellten Weges [V 7.9], als auch durch die Jagdmetaphorik der V 10–12), und ab V 13 Gottes Feindseligkeit, die den Man in akute Todesnähe versetzt, im Mittelpunkt steht. V 16–21 markiert dann mit einer zunehmend weniger uniformen Syntax den Übergang zur zweiten Sektion. In der zweiten Sektion ist die »theoretische« Erörterung ab V 34 ( jeweils ‫ ל‬+ Inf.) deutlich vom Vorherigen abgesetzt. In den V 22–27 fällt das viermalige Tetragramm auf. Daraus ergibt sich die Gliederung in drei Stanzen zu je zwei Strophen. Der jeweils dreimalige Versbeginn mit ‫ טוב‬in V 25–27 bzw. ‫ כי‬in V 31– 33 ist zwar auffällig, jedoch wohl primär dem paränetischen Charakter des Mittelteils sowie der Akrostichie geschuldet. Insgesamt ergeben die V 22–39 eine argumentative Einheit, in der V 22–24 ein Glaubensbekenntnis liefern, welches in V 25–30 zu einer Handlungsanleitung entfaltet wird, und in den folgenden V 31– 33 begründet, und anschließend problematisiert wird. Der klare Neueinsatz in V 40 markiert den Beginn der dritten Sektion. Der Bereich der Wir-Rede erstreckt sich bis V 47 und wird durch V 48 abgeschlossen. Mit V 49 beginnt nochmals ein Teil Ich-Rede, der sich bis V 57 zieht, um anschließend durch die V 58–66 in direkter Anrede an Gott beschlossen zu werden. 1. Sektion: V 1–21 Stanze I (V 1–6) Stanze II (V 7–12) Stanze III (V 13–21)

(2 Strophen) (2 Strophen) (3 Strophen) (= 7 Strophen) 2. Sektion: V 22–39

Stanze IV (V 22–27) Stanze V (V 28–33) Stanze VI (V 34–39)

(2 Strophen) (2 Strophen) (2 Strophen) (= 6 Strophen) 3. Sektion: V 40–66

Stanze VII (V 40–48) Stanze VIII (V 49–57) Stanze IX (V 58–66) Übersicht 18: Gliederung von Klgl 3

(3 Strophen) (3 Strophen) (3 Strophen) (= 9 Strophen)

Klgl 3 – Hoffnung als Überlebensstrategie

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6.3.2 Exegetische Anmerkungen Klgl 3 macht gleich mit den ersten Worten deutlich, dass nunmehr Neues beginnt. Statt den ‫איכה‬-Ruf von Klgl 1–2 aufzugreifen, setzt das Lied mit einer Selbstvorstellung ein (‫ אני הגבר‬ich bin der Mann), die ihrerseits allerdings wieder unbestimmt bleibt. Der in dieser Form singuläre Beginn wird häufig mit Selbstvorstellungsformeln von Königsinschriften in Verbindung gebracht und als Indiz für eine autobiographische Stilisierung genommen,859 wie man sie auch aus der Weisheitsliteratur (Ps 73, Koh 1,12; Spr 24,20–34; Sir 33,16–19) kennt.860 Für andere steht eher der Effekt der Selbststilisierung als paradigmatisches Opfer im Vordergrund, »in dem sich alle Nöte verdichten, die die Rezipientinnen in der einen oder anderen Form tatsächlich erlebt haben«861. Eine dritte Möglichkeit wäre es, beide Ansätze mit der eigentlich kraftvolljugendlichen Konnotation des Ausdrucks ‫ גבר‬zu verbinden und in der Selbstvorstellung den Auftakt einer zynisch-sarkastischen Sequenz zu sehen, die die eigentlichen Erwartungen bezüglich Gottes Handels mit dem tatsächlichen Erleben kontrastieren. Die Form der Vorstellung und die Bezeichnung als ‫גבר‬ suggerieren einen Mann in den besten Jahren,862 der folgende Bericht zeichnet allerdings das Bild eines elenden, verfolgten und verachteten Menschen. Die unbestimmt bleibende Identität des Mannes wäre dem zuträglich, da sie die Darstellung auf die Frage des Erlebens des Zornes Gottes als Individuum fokussiert. Der »disruptive« Effekt dieser der Selbstvorstellung, der das bisherige ‫איכה‬Schema aufbricht, wird aufgefangen durch den anaphorischen Verweis ‫עברתו‬ seines Zornes am Ende des Verses. Es handelt sich hierbei um die einzige Stelle gesamten Buch der Klgl, an der ein einzeltextübergreifender Verweis mit einiger Deutlichkeit erkennbar ist – trotzdem wird hierauf selten hingewiesen.863 In jedem Fall ist bemerkenswert, dass erst in V 17f., eine explizite Benennung des bis dahin ausschließlich in der 3. Pers. Sg. präsenten Widersachers des Mannes erfolgt, während im unmittelbar vorherigen Vers, Klgl 2,22, JHWH explizit als Verursacher des Elends benannt wurde. Der Beginn des Liedes macht somit schon im ersten Vers deutlich: Hier beginnt Neues als Reaktion auf das Bisherige.

859 860 861 862

Vgl. Dobbs-Allsopp (2002), 108, Berges (2002), 187, van Selms (1974), 129. Brandscheidt (1983), 41. Koenen et al. (2015), 222. Der als ‫ גבר‬bezeichnete Mann zeichnet sich in der Regel durch bestimmte beachtliche Eigenschaften aus (Kosmala [1969], 160f.). Nicht selten geht es um (physische) Stärke und Jugend, aber auch um Courage, Aufrichtigkeit, besonderer religiöser Beziehung zu Gott o. ä. 863 Vgl aber Koenen et al. [2015], 223. Stattdessen wird üblicherweise argumentiert, dass diese Leerstelle durch das Wortfeld Zorn – Elend – Stab hinreichend auf JHWH hin spezifiziert ist.

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Mit ‫ שבט‬Stab, Stock, Rute wird dabei ein Assoziationsfeld eingeführt, das auch in den folgenden Versen erhalten bleibt – allerdings eben in sarkastisch-zynischer Verkehrung: Der Stab assoziiert den »Guten Hirten« (Ps 23,4; Mi 7,14, Jes 9,3), der fürsorglich und schützend seine Herde vor Gefahren bewahrt. Im vorliegenden Kontext ist dieser gute Hirte allerdings zu einem bösartigen geworden – was mittels der Konnotationen des Strafens, Züchtigens durchaus im Begriff ‫ שבט‬mit angelegt ist (Spr 10,13; 13,24; 22,15; 23,13f. u. ö.). Die Assoziation des zum bösen Widersacher gewandelten Guten Hirten wird in den folgenden Versen kontinuierlich weiterentwickelt, und greift seinerseits die entsprechenden Formulierungen aus Klgl 2,4.5.22 auf, in denen JHWH schon einmal mit Feinden und Widersachern verglichen wurde. Was in Klgl 2 noch bezüglich der Sphäre des (politischen) Zornes-Wirkens Gottes thematisiert wird, der als zum Feind geratener ehemaliger Beschützer der Stadt auftritt, wird nun am Individuum illustriert: Gott selbst verdreht ins Gegenteil, was einst als Paradebeispiel göttlicher Fürsorge galt. Nach van Hecke wird diese Erfahrung in V 1–6 als regelrechter »Antipsalm« zu Ps 23 entwickelt.864 Der ‫שבט‬, der in Ps 23,4 selbst in der finstersten Schlucht noch Zuversicht und Sicherheit vermittelt, erscheint hier als ‫ שבט עברתו‬Stab seines Zornes wieder, mit dem der Mann in V 2 ‫ חשך ולא־אור‬ins Dunkel, nicht ins Licht geführt wird. Die Amos-Tradition, die den ‫ יום יהוה‬genau mit diesen Worten beschreibt, darf man hier mit im Hintergrund sehen (vgl. auch Ijob 12,25). Zugleich wird aber auch die Dunkelheitsmotivik aus Klgl 1,2; 2,1.19 in Erinnerung gerufen und der Zorn-Gottes-Bezug damit verstärkt. In V 2 unterstützt das Verb ‫ נהג‬treiben die Assoziation des bösartigen Hirten: Das Lexem wird sowohl für das Treiben von Vieh verwendet (Gen 31,18; Ex 3,1; 1Sam 23,5; 30,20 u. ö.), aber auch, um das Forttreiben bzw. Fortführen von Gefangenen zu beschreiben (Gen 32,26; 1Sam 30,2; Jes 20,4; vgl. auch Dtn 4,27; 28,37). JHWH erscheint als ein Hirte, der den Mann bewusst ins Unheil treibt – und auch hier erinnert die Formulierung zugleich an Klgl 1,5.6.18, wo jeweils beschrieben wird, wie Zions Kinder in die Gefangenschaft getrieben werden (dort jeweils ‫)הלך‬. V 3 intensiviert: Während in der ‫ב‬-Strophe der Mann »nur« in die Finsternis getrieben wird, legt JHWH nun selbst »Hand an«. Auch dies erinnert an Bekanntes, insbesondere an Klgl 2,3 (‫ השיב אחור ימינו מפני אויב‬er zog zurück seine Rechte vor dem Antlitz des Feindes) und Klgl 2,8 (‫ לא־השיב ידו מבלע‬er zog nicht 864 Vgl. van Hecke (2002) und davor schon Hunter (1999), 64. Riede (2000), 276 weist zudem auf die Bezüge zwischen der ersten Sektion von Klgl 3 mit dem Hiobbuch hin (vgl. V 3f. mit Ijob 19,20a; V 5 mit Ijob 19,6–8; V 7a mit Ijob 19,8a; V 9 mit Ijob 19,8; V 12b mit Ijob 16,12b; V 13a mit Ijob 16,13a; V 15a mit Ijob 9,18b; V 14 mit Ijob 30,9a). Sämtliche Beobachtungen lassen darauf schließen, dass die erste Sektion von Klgl 3 sehr präzise konzipiert wurde, um die verschiedenen Bezugnahmen (zu Klgl 1–2, zum Hiobbuch, zu Ps 23) auszutarieren.

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zurück seine Hand vom Verschlingen). Die Assoziation des pastor malignus bleibt erhalten: Während in Ps 23,6 den Beter Güte und Huld ‫ כל־ימי חיי‬alle Tage meines Lebens verfolgen, wendet JHWH hier seine Hand in unheilsvoller Absicht ‫כל־היום‬ den ganzen Tag gegen den Mann. Die vormals behütende Hand hat sich gegen den Mann gerichtet. V 4 erinnert mit ‫ בלה‬schwinden lassen (als Paronomasie zu ‫ בלע‬verschlingen) an die brutale Gewaltschilderung von Klgl 2,2a.5ab.8b. Die Nennung von ‫עצם‬ Gebein/Knochen verweist zudem zurück auf Klgl 1,13, ein Bezug, der durch das Motiv der Umkreisung/Umbauung der nächsten Verse noch verfestigt wird. Auch die nächsten beiden Verse erinnern an Früheres: Wenn es in V 5 heißt, JHWH umfing den Mann mit ‫ ראש ותלאה‬Bitterkeit und Mühsal, dann erinnert dies an Klgl 1,4.13.20. Und V 6 intensiviert gegenüber V 3, insofern dort JHWH seine Hand noch ‫ כל־היום‬gegen den Mann wendete, hier ihn nun ‫ כמתי עולם‬gleich ewig Toten in der Finsternis wohnen (‫ )במחשכים הושיבני‬lässt. Insgesamt wird in den ersten sechs Versen ein dichtes Verweisnetz zurück zu Klgl 1–2 entworfen. Dort waren es die Gewalt des göttlichen Zorneshandelns als auch ihre bewusste Planung, die für Entsetzen und Unverständnis sorgten, und auf der Seite der Betroffenen ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit hervorriefen. Klgl 3 akzentuiert in den ersten Versen dagegen besonders den Aspekt des Getriebenseins, der anschließend zunehmend in Assoziationen des Stillstandes und der Gefangenschaft übergeht.865 In der zweiten Stanze, V 7–12, kommen nun der Aspekt der Verlassenheit und Einsamkeit des Mannes, verbunden mit der Zielgerichtetheit des göttlichen Handelns hinzu. Schon in V 5 klagte der Mann, er werde von JHWH umbaut (‫)בנה‬ und umkreist (‫)נקף‬, in V 6 verglich er sein Leben wie ein Wohnen (‫ )ישב‬in Finsternis (‫)מחשך‬. Diese spatialen Bilder werden fortgeführt: In V 7.9 fühlt er sich von JHWH ummauert (‫)גדר‬, zudem wird er in Fesseln (V 7: ‫ )נחשתי‬gelegt, der Weg ihm mit ‫ גזית‬Quadern vermauert und verdreht (V 9: ‫)עוה‬. Von Gott als »schlechtem Hirten« ins Dunkel geführt, sieht der Mann schließlich seine sämtlichen Wege blockiert – und er selbst nicht nur im übertragenen Sinne gefangen. Dass mit ‫ גזית‬ein Begriff verwendet wird, der sorgfältig behauene Steine bezeichnet,866 entspricht der Kompositionsstrategie der ersten Sektion des Lie865 Vgl. hierzu Baumann (2005), die diesen Effekt als Entwicklung vom weiten zum engen Raum beschreibt. Ähnlich Eidevall (2005), 136 (»oscillation between journey metaphors and confinement metaphors«). 866 ‫ גזית‬Quadersteine werden allgemein für Prachtbauten (Jes 9,9; 5,11), konkret dann den Tempel (1Kön 5,31; 6,36; 1Chr 22,2; Ez 40,42) oder Paläste (1Kön 7,9.11.12) verwendet. Ob mit der hiesigen Verwendung angedeutet werden sollte, dass die Stadt zerstört, die sorgsam behauenen Quader der einstigen Prachtbauten nur noch als Barriere taugen (Baumann [2005], 143), kann dahingestellt bleiben. In jedem Fall macht es deutlich, dass eine aus solchen Materialien errichtete Wegsperre sorgsam geplant ist.

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des: An sich positiv besetzte Begriffe und Konzepte werden negativ besetzt, um die Hoffnungslosigkeit der gegenwärtigen Realität darzustellen. All dies erinnert deutlich an Zions Schicksal aus Klgl 1, wo in V 3 von ihren Verfolgern (‫ )רדפ‬die Rede ist, die sie »zwischen den Engen« einholen (‫)נשג‬. Zion selbst berichtet in V 13 davon, dass sie sich in dem von JHWH gespannten Netz verfängt (‫ )פרש רשת לרגלי‬und von ihm nach hinten gerissen wird (‫)השיבני אחור‬. Dass JHWH dabei behauene Quadersteine (‫ )גזית‬verwendet, den Mann ummauert (‫ )גדר‬und ihn in bronzene Fesseln schlägt (‫)נחשתי‬, unterstreicht die Ausweglosigkeit der Situation und die Unentrinnbarkeit vor Gottes Gericht. Dem korrespondiert der ebenfalls schon in Klgl 2,6.9bc angesprochene Selbstentzug Gottes vor dem klagenden Gebet des Verfolgten: Selbst, wenn der Mann schreit (‫ ;זעק‬vgl. ‫ צעק‬in Klgl 2,18867) und klagt in einer Intensität, wie sie in Klgl 2,18 vom Sprecher beschrieben wird, bleibt JHWH stumm und entzieht sich. Ein solcher Gott, bei dem die Bitte um Gehör de facto aussichtslos ist, nimmt, so schildern es die folgenden Verse, raubtierhafte Züge an. Löwe (‫ )ארי‬und Bär (‫ )דב‬lassen an die prophetische Gerichtsankündigung JHWHs gegen Israel (Hos 5,14; 13,8; Am 5,19) und die Völker (Jer 49,19; 50,44) denken, in der JHWH in als Löwe bzw. Bär dargestellt wird,868 und sie schaffen den Übergang vom Bild Gottes als schlechtem Hirten zu Gott als Raubtier (vgl. Hos 13,5–8; Jer 25,36– 38).869 Gottes feindliches Handeln, das sich bisher als ein Behindern, Beengen, Verirren und Ins-Verderben-führen äußerte, schlägt um in aktives, lebensbedrohendes Jagen. Die bisherigen Verse, die den Mann seiner Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten beraubt darstellten, kulminieren in einem Bild, in dem der angegriffene Mann, wie erstarrt, dem Angriff Gottes harrt.870 Die Tierbilder 867 Zur Schreibweise von ‫ זעק‬/ ‫ צעק‬vgl. Hasel (1977), 629f. 868 Botterweck (1973), 413. 869 Auffällig ist, dass sich der Konflikt ausschließlich zwischen Mann und JHWH abspielt. Die insbesondere in Klgl 1 prominenten »Feinde« werden übergangen. Zwar gilt auch für Klgl 1.2, dass »the actual human enemies are relegated to performing a mop-up operation after the real fighting is already over« (Dobbs-Allsopp [2004], 31f.); dennoch sticht die Unmittelbarkeit des feindlich erfahrenen göttlichen Gegenübers hervor (dies besonders angesichts der im Vergleich zu Klgl 1.2 charakteristisch gewandelten Funktion der Feinde in der dritten Sektion). 870 Das Bild eines angreifenden Bärs ist in der Individualklage sonst nicht belegt (Riede [2000], 267–277, hier 271); hier steht er vermutlich insbesondere für die Unberechenbarkeit des göttlichen Angriffs (Labahn [2005], 89). Demgegenüber ist der lauernde Löwe ein biblisch gut etabliertes Bild. Den Psalmen ist die Vorstellung, die mit dem jagenden Löwen verbunden wurde, gut zu entnehmen (Riede [2000], 162): »Sie verbergen sich im Dickicht und lauem auf Fang (Ps 10,9; 17,12), um die Beute zu packen und zu zerreißen (Ps 7,5). Um den Gegner zu erschrecken, brüllen sie (Ps 22,14). Sie haben ihr Maul geöffnet, und die reißenden Zahne sind fast schon dabei, die Beute zu zerfleischen (Ps 22,22) und die Knochen zu zermalmen (vgl. Num 24,8; Jes 38,13). Vor allem von diesem Zähnen geht die größte Gefahr aus (Ps 57,5; 58,7). Wird Gott mit einem solchen Tier verglichen, geht es dem Beter sprichwörtlich an den Kragen – und von nirgendwo ist Rettung zu erhoffen (Labahn [2005], 89–93).

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verweisen zurück nach Klgl 2: Waren es in Klgl 2,16 die Feinde, die den Mund aufrissen (dort ebenfalls ‫בלע‬, das vorher in V 2.5[bis].8 ausschließlich JHWH als Subjekt hatte) und damit gleich Raubtieren erschienen (Ps 17,11f.; 27,2; 29,14), so ist es nun JHWH selbst, der wie ein Raubtier erscheint.871 Die anschließende Kampfesmetaphorik der V 11.12 ruft anschließend wieder Klgl 2,4f. ins Gedächtnis.872 Die folgende Stanze ist dreigeteilt. Inhaltliches und formales Zentrum stimmen überein: In den V 16–18 vollzieht sich der Wandel vom der Beschreibung des Handelns des göttlichen »Er« in V 16 über die erste direkte Anrede an das göttliche »Du« in V 17 zum »Ich« in V 18, welches den Abschnitt weisheitlicher Unterweisung ab V 22 vorbereitet. Vom Zustand einer Beschreibung des äußerlich auf den Mann einwirkenden Gotteszornes wandelt sich die Betrachtung zu einem inneren Dialog. Es ist dieser Bereich, in dem die (Selbst-)Darstellung des Mannes über das am Ende von Klgl 2 formulierte Urteil hinausgeht. Die V 13–15 und 19–21 fungieren demgegenüber als Hinleitung bzw. Überleitung. V 13–15 beschreiben die vollständige Verlassenheit des Mannes (vgl. Klgl 2,14–16), nicht nur von Gott, sondern auch den Menschen. Nieren (‫)כליות‬ gelten im Alten Testament als Sitz der Gefühle (Ijob 19,27; Spr 23,16; Ps 15,7; 73,21) und stehen für das Verborgenste und Innerste des Menschen (vgl. Ps 7,10; 26,2; Jer 11,20; 17,10; 20,12 u. ö.).873 Die Verwundung der Nieren ruft starke Schmerzen hervor. Dass das Bild des gespannten Bogens hier nicht wie in Klgl 2,4 mit dem Motiv des aktiven Tötens, sondern maximaler Schmerzen verbunden wurde, unterstreicht die spezifische Akzentuierung Gottes im Bericht des Mannes: JHWH ist hier nicht in erster Linie der blindwütige Schlächter und Mörder, als der er in Teilen von Klgl 2 erscheint, sondern der überlegt Peinigende. In V 15 bilden ‫ שבע‬sättigen und ‫ רוה‬tränken ein Merismus vollständiger Versorgung, der allerdings ebenfalls ins Negative gewendet wird und mittels des Stichwortes ‫ מרורים‬Bitternis an den Gemütszustand von Zion in Klgl 1,4 (vgl. auch

871 Vgl. auch den Rückbezug nach Klgl 1,13. Das ‫ רשת‬Netz wurde für die Tierjagd – sowohl kleinere Vögel, wie auch größere Säugetiere wie Löwen, Gazellen u. ä. – verwendet (Riede [2000], 343). Der, der eigentlich aus dem Netz befreit (Ps 25,15; 31,5; 124,7), stellt Zion mit eben jenem nach. Hier nun sieht sich der Mann ähnlich verfolgt – allerdings nicht als Tier von JHWH, sondern vom raubtierhaft vorgestellten JHWH. Es ist zudem bemerkenswert, dass LXX und Vg das mask. Part. ‫ שמם‬als fem. Partizip Verödete wiedergeben und somit einen direkten Bezug zu Klgl 1,13 schaffen. 872 Es ist schwerlich Zufall, dass die ‫ד‬-Strophen von Klgl 3, die einerseits JHWH als »verschlingendes«, aus dem Hinterhalt angreifendes Raubtier zeichnen und andererseits als bogenschießenden Jäger bzw. Krieger auf die ‫ד‬-Strophe von Klgl 2 verweist, in der JHWH ebenfalls als Krieger mit gespanntem Bogen dargestellt wird. 873 Kellermann (1984), 189f.

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oben die Diskussion zu Klgl 1,18) erinnert.874 Inhaltlich geht es hier, wie schon in Klgl 1, um die Missachtung der eigentlich geschuldeten Solidaritätspflichten innerhalb der eigenen Stadt- und Volksgemeinschaft, die diejenigen, die sie missachten, zu Feinden stempeln.875 Spott (‫ )שחק‬schlug auch Zion in Klgl 2,15f. entgegen. Der folgende V 16 führt das Bild fort, indem mit zermahlenen Zähnen selbst die Möglichkeit der Nahrungsaufnahme verunmöglicht ist.876 Die folgenden Verse bis einschließlich V 21 beschließen die erste Sektion und ziehen ein erstes Fazit unter das Bisherige. Die sich im Verhalten des Volkes widerspiegelnde Verlassenheit des Mannes wird in V 17f. aufgenommen und auf Gott hin präzisiert. Die Wurzel ‫ זנח‬verwerfen verweist zurück auf Klgl 2,7; so wie dort das Verstoßen des Altars mit seiner Zerstörung einherging, trägt auch das hiesige Verstoßen vom Heil (wörtlich: ‫ משלום‬aus dem Frieden) die Konnotation einer endgültigen Verwerfung. Davor erinnerte schon ‫עפר‬/‫ אפר‬Staub, Asche an die in Klgl 2,10 beschriebenen Klageriten, wenngleich hier eher die Komponente der Erniedrigung und Demütigung im Mittelpunkt steht (Ps 7,6; 44,26; 119,25; Ijob 30,19; Jes 44,20; Ez 28,18; Mal 3,21 u. ö.). Im folgenden V 18 taucht erstmals im Lied das Tetragramm auf, zugleich wird hier eine Art kurze Zusammenfassung der ersten Sektion geboten, in der Form einer Introspektion, erkenntlich am ‫ואמר‬. Wie schon im Vers zuvor findet sich der inhaltliche Mittelpunkt des Verses mit der Präposition ‫ מן‬verbunden. Die Nomina in den Versen folgen einer chiastischen Anordnung: ‫מיהוה – נצח – טובה – משלום‬, die zusammen mit den drei Verben ‫ זנח‬verstoßen, ‫ נשה‬vergessen, ‫ אבד‬vergehen eine Dynamik der Entfernung und Deprivation nachzeichnen: Göttliche Entsagung führt zu einem Zustand, in dem die Hoffnung des Mannes »fern von/weg von/ohne« JHWH ist. »[T]he person in front of God has, so to speak, also lost God’s seed in him or her.«877 Die V 19–21, als Abschluss der ersten Sektion, umreißen diesen Zustand höchster Verletzlichkeit und setzen zugleich den Kern des kreativen Impulses, in 874 Das in V 14 genannte ‫ עמי‬mein Volk gilt als ein Argument für eine Deutung des Mannes als (historisches) Individuum. Das ist allerdings unnötig. So wie in Klgl 1 Zion in Zion verachtet und entblößt zur Schau gestellt wird, so kann der Mann als dramatische Figur von »seinem« Volk verachtet werden. Die Figur des Mannes wird in ein Setting platziert, das dem Zions aus Klgl 1 ähnelt und für die Hörer*innen unmittelbar nachvollziehbar ist. 875 Vgl. Anderson (1991), 73. 876 Nur noch in Ijob 9,18 ist davon die Rede, dass JHWH einen Menschen mit Bitternis tränkt. Im dortigen Kontext geht es genau um Ijobs Ohnmacht, einem jähzornig und ungerecht strafenden Gott gegenüber Recht zu kommen: »Gäbe es doch einen Schiedsmann zwischen uns! Er soll seine Hand an uns beide legen. Er nehme von mir seine Rute (‫)שבט‬, sein Schrecken soll mich nicht weiter ängstigen; dann will ich reden, ohne ihn zu fürchten. Doch so ist es nicht um mich bestellt.« (Ijob 9,33–35) Die in diesen Worten deutlich werdende Sehnsucht nach einem neutralen Schiedsrichter zeigt einen schon fortgeschrittenen Prozess der Distanzierung von Gott. Ähnlich wie bei Ijob wird Gott vom Mann in Klgl 3 nicht mehr als vertrauenserweckende Größe wahrgenommen. 877 Hunter (1999), 66.

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dem Klgl 3 über das Fazit von Klgl 2 hinausgeht. Unabhängig davon, wie man die Frage der literarkritischen Abhängigkeit zwischen Klgl 3,19 und Klgl 1,7 beurteilt, feststeht, dass V 19 auf engstem Raum Klgl 1 und 3 durch die Lexeme ‫( זכר‬vgl. Klgl 1,7.9; 2,1; 3,19.20[bis]; 5,1), ‫( עני‬Klgl 1,3.7.9; 3,1.19) und ‫( מרוד‬Klgl 1,7; 3,19) verklammert. Durch die Begriffe ‫ לענה‬und ‫ ראש‬verweist er zudem auf Klgl 3,5.15 zurück. Das Denken des Mannes entspricht der Betrübnis Zions aus Klgl 1, während die emotionale Ebene mit ‫ לענה וראש‬umrissen ist. V 19 kann wie eine Parallele zu und kurze Zusammenfassung des Zustands Zions in Klgl 1 gelesen werden. V 20 geht demgegenüber einen Schritt weiter und liefert eine Diagnose: Das ewig-kreisende Denken an die eigene gramvolle Existenz lässt die Seele zerfließen (‫)שיח‬.878 Es ist an diesem Punkt, dass der Mann einen entscheidenden Schritt über die Situation Zions in Klgl 2 hinausgeht: Weil fortwährendes Sinnen die Seele »zerfließen« lässt, weil das Verweilen in einem Zustand, der nur die Ungerechtigkeit der göttlicher Verfolgung reflektiert, zu einem Verlust des Selbst führt: ‫ על־כן אוחיל‬Deshalb: Ich harre aus.879 »Interessant zu sehen, wie es nicht die theologischen Inhalte … sind (VV 22–23), die die Hoffnung des Beters auslösen, sondern daß diese erst durch seine persönliche Entscheidung zur Hoffnung »reaktiviert« werden.«880 Die hier theologisch formulierte Einsicht ist anthropologisch nicht von der Hand zu weisen: So finden sich in den Schilderungen Überlebender der Vernichtungslager der Nazis immer wieder die Beobachtung, dass der unbedingte Wille zum Leben die wichtigste Voraussetzung für tatsächliches Überleben ist.881 Es ist daher nicht notwendig, die mit ‫ אשיב אל־לבי‬beschriebenen Erkenntnisse (Dtn 4,39; 30,1; 1Kön 8,47; Jes 46,8; Mal 3,24), die in V 21 selbst nur mit dem Demonstrativum ‫ זאת‬benannt werden, als kataphorischen Verweis auf die V 22ff.

878 Koenen et al. (2015), 242 hört hier einen ählichen Akzent: »Das Innere sinnt gegen den Sprecher; sein ständiges Grübeln hat etwas Selbstzerstörerisches.« 879 ‫ יחל‬in »absolutem« Gebrauch (d. h. ohne Nennung eines Zieles des Wartens) fokussiert insbesondere auf die Haltung des Wartens an sich (Barth [1982], 607). Da dem Gebrauch von ‫ יהל‬häufig die Konnotation eines gespannten »Ausschauens« beiwohnt (Mi 7,7; Ps 5,4; 69,4), und objektbezogenes Warten regelmäßig auf ein Gutes zielt (ebd., 608), ist das hiesige noch ziellose Harren tatsächlich schon als ein produktiver Akt eines sich selbst zur Hoffnung ermutigenden Gemüts zu verstehen. 880 Berges (2000), 14. 881 Des Pres (1980), 79. Ähnlich Renkema (1998), 382f., der an dieser Stelle auf V 54 hinweist: »The ‫ גבר‬is afraid that the ongoing affliction and persecution […] will eventually get the better of him and that he will no longer be able to survive under his own steam.« Dies wird m. E. übersehen, wenn hier vorschnell ein geistiger Wandel aufgrund der prinzipiell unveränderlichen Vergebungswilligkeit Gottes (so beispielsweise Boecker [1985], 65, Krasˇovec [1992], 231 oder Berges [2002], 199) oder des Bedenkens eigener Sündigkeit (z. B. Mintz [1982], 12) postuliert wird.

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zu beziehen.882 Stattdessen geht es hier um die Gesamtheit aus dem bisherigen Leidbericht auf der einen Seite, und andererseits der in V 17–20 dargestellten Bewegung von durch dieses Leid verursachter Depression, der die Gefahr innewohnt, dass daraus ein irreversibler Verlust des Lebenswillens resultiert, sowie der aktiven Entscheidung gegen diese selbstzerstörerische Dynamik.883 Fassen wir den Ertrag der ersten Sektion kurz zusammen: Klgl 3 setzt, nach Klgl 1,13–15 und Klgl 2,1–8, mit der dritten ausführlichen Schilderung göttlicher Gewalt in den Klgl ein.884 Gott wird als Anti-Hirte vorgestellt, als ein bewusst feindlich handelnder Verfolger des Mannes, der seine Fürsorgepflichten nicht nur vernachlässigt, sondern aktiv zum Schaden des Mannes wirkt. Er führt ihn in die Not und verhindert sein Entrinnen aus ihr. Dieser Gott wirkt wie ein Raubtier, dem der Mann ohne Schutz ausgeliefert ist. Bis hierhin ähnelt die Schilderung der von Klgl 1–2, die zudem durch eine Vielzahl von lexematischen und motivischen Entsprechungen zueinander in Verbindung gesetzt werden. Der Text verdeutlicht so, dass sich das Schicksal des Mannes nicht vom Los Zions unterscheidet.885 Entscheidend ist allerdings, dass die Darstellung dabei nicht stehen bleibt: Ausgehend vom Zustand völliger Vereinsamung, Gottesabkehr und Depression leitet V 18 in die »Meditation« von V 19–21 über, die ein neues, noch empfindliches Fundament einer neuen Existenz des Mannes schafft. Jenes Fundament hat vorerst nicht die kontinuierliche Hoffnung auf JHWH zum Gegenstand, sondern vielmehr Hoffnung an sich. Ohne Hoffnung, ohne Perspektive, ist eine Weiterexistenz jedenfalls undenkbar; der radikale Bruch mit Gott, der in Klgl 2,22 im Blick ist, wird damit abgewendet und überwunden. Eine Kritik, die Gott »abschafft«, zerstört das Fundament, auf dem eine neue konstruktive und heilsame Haltung überhaupt erst gedeihen kann. Sie droht, grenzenlos und damit anthropologisch destruktiv zu werden. In der Argumentation von Klgl 3 bleibt dabei festzuhalten, dass diese neue Hoffnung nicht dadurch geweckt wird, dass Gott gewissermaßen in »Vorleistung« geht, sondern sich als Lebensnotwendigkeit darstellt: Auch wenn Gott keinen Anlass zu neuer Hoffnung gibt, ist eine Existenz ohne Hoffnung schlechterdings unmöglich. Hoffnung ist Grundbedingung des Lebens – und wenn sie sich nicht auf Gott stützen kann, gründet sie sich stattdessen in ihre schiere existentielle Notwendigkeit.

882 So z. B. Koenen et al. (2015), 243, Frevel (2017), 223 u. ö. 883 So auch Berges (2002), 197, was natürlich nicht ausschließt, dass hier aus der Perspektive der folgenden Verse auch eine kataphorische Komponente vorhanden ist (Weber (2000), 115). 884 Dobbs-Allsopp (2002), 44. 885 Dies schließt im Übrigen die Vernachlässigung des Themas der eigenen Schuld mit ein – in V 1–18 macht der Mann an keiner Stelle deutlich, dass der ihn heimsuchende Zorn berechtigt sein könnte.

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Die zweite Sektion, V 22–39, dient dem Ziel, diese wortwörtlich aus der Not geborene Hoffnung argumentativ zu untermauern. Es ist daher nachvollziehbar, dass diese Sektion in einem weisheitlich-belehrenden Stil gehalten ist. Dem gewandelten Thema entsprechend, treten Gottesbezeichnungen nun gehäuft auf (‫יהוה‬: V 22.24.25.26; ‫ ;אדני‬V 31.36.37; ‫עליון‬: V 35.38).886 Auch der Fokus der Darstellung ändert sich von der Meditation des eigenen Leidens hin zu einer auf Gott hin ausgerichteten Paränese. Bemerkenswert ist dabei die Progression der Gottesbezeichnungen: während in V 22–27 ausschließlich ‫ יהוה‬verwendet wird, findet sich anschließend nur noch ‫ אדני‬und im Kontext der Erörterung der Allmacht Gottes rückt anschließend der Begriff ‫ עליון‬in den Vordergrund.887 Damit korrespondiert der Wechsel in der Argumentation von klaren Affirmationen und Bekräftigungen in den V 22–33 zu eher abwehrender Apologetik in den V 34–39, wo der Verweis auf die Würde und Majestät Gottes zunehmendes Gewicht bekommt.888 Schließlich ist die ab V 25 besonders regelmäßige Gestaltung der Versbeginne auffällig,889 sowie die die Sektion eröffnenden und beschließenden chiastischen bzw. konzentrischen Strukturen in V 22 und V 34–39.890 V 22–39 präsentieren sich damit als ein geschlossener Block mit normativer Botschaft. Zunächst liegt der Fokus auf dem Bekenntnis Gottes »eigentlichen« Wesens – wobei die chiastisch konstruierten Verneinungen von V 22 noch den Leidbericht der V 1–18 im Blick haben: Was hier verneint wird – die ‫ חסדי יהוה‬sind nicht erschöpft, seine ‫ רחמיו‬nicht zu Ende – war dort der sich unmittelbar aufdrängende Eindruck. Demgegenüber bekräftigt V 23 dann schon bestimmter in positiven Formulierungen die täglich neu ergehende Treue (‫ )אמונה‬Gottes. V 24 zieht daraus die Konsequenz: Das unbestimmte ‫ על־כן איחיל‬darum hoffe ich von V 21 weicht einem klar determinierten ‫ על־כן אוחיל לו‬darum hoffe ich auf ihn. Dem korrespondiert der erneute Dreischritt vom »Er« in V 22 über das »Du« in V 23 zum »Ich« in V 24. Während in V 22 Gottes positives Wirken noch durch Verneinungen beschrieben wird, formuliert V 23 im vertrauten »Du« positive Be886 In der ersten Sektion nur einmal negativ in V 18: ‫ מיהוה‬von JHWH weg/fern von JHWH. 887 ‫ אדני‬legt mehr als ‫ יהוה‬den Fokus auf die »überragende Würde« Gottes und stellt die »majestätische Erhabenheit« Gottes besonders in den Vordergrund (Eißfeldt [1973], 76). Daran schließt sich ‫ עליון‬an, ebenfalls mit dem Fokus »höchster Gott«. Dass ‫ עליון‬dabei primär in der Poesie beheimatet ist (Zobel [1989], 134), und häufig in engem Bezug zum Kult, speziell zum Tempel in Jerusalem (ebd., 137) vorkommt, unterstreicht die Grundsätzlichkeit der Diskussion der V 34–39: Hier geht es tatsächlich um alles: »Wie sollte der »höchste Gott« die Rechtsbeugung gegen einen »gæbær« nicht sehen, wenn sie sich doch direkt vor seinem Angesicht abspielt?« (Berges [2002], 211). 888 Berges (2002), 198. 889 V 25–27: 3x ‫ ;טוב‬V 28–30: 2x ‫ ;יתן‬V 31–33: 3x ‫ ;כי‬V 34–36: 3x Präfix ‫ל‬. 890 Der einleitende V 22 ist chiastisch komponiert: ‫ חסדי יהוה‬Die Güte JHWHs – ‫ לא־תמנו‬nicht zu Ende – ‫ לא־כלו‬nicht enden – ‫ רחמיו‬seine Erbarmungen; die abschließend argumentierenden V 34–39 dagegen konzentrisch um V 36b: ‫ אדני לא ראה‬der Herr hat es nicht gesehen!? gestaltet.

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kenntnisse. V 24 zieht daraus die Konsequenz einer individuellen, neu begründeten Hoffnung. Die folgenden Verse entwickeln, basierend auf diesem Nukleus eines Bekenntnisses, ein Programm für eine »Haltung gelebter Hoffnung«. Dies ist notwendig! Denn die V 1–18, wie auch die trostlose Realität, die in Klgl 1–2 dargestellt wurden, sind angesichts des neu gefundenen Vertrauens ja nicht vergessen. Will der Mann Zions Anklage wirksam entkräften, muss er Überzeugungsarbeit leisten! Dies geschieht mit einer dreifachen Folge von Aussagen (V 25–27), Aufforderungen (V 28–30) und Begründungen (V 31–33). Die jeweils prononcierten Versanfänge (V 25–27 jeweils ‫טוב‬, V 28–30 jeweils auffordernde Imperfekte, V 31–33 jeweils ‫ )כי‬vermitteln den Eindruck großer Kompaktheit und geben dem Abschnitt einen »summarischen« Charakter: Hier wird vermittelt, wie die Haltung eines echten ‫ – גבר‬hier nun tatsächlich im eigentlichen Wortsinne des Lexems als eines besonders frommen, glaubenskräftigen Mannes – unter dem andauernden Zorn Gottes aussehen sollte. Dabei greift der Text bewusst auf schon bekannte Vorstellungen und Motive zurück und interpretiert diese zum Teil neu. So empfiehlt V 26 das regungslose (‫ )דומם‬Ausharren auf die Hilfe (‫ )תשועה‬Gottes. Lexematisch verweist dies auf die verstummten (‫ )דמם‬Ältesten Zions in Klgl 2,10, die Aufforderung an Zion, in der Klage nicht nachzulassen in Klgl 2,18.891 Das dortige »beredte« Schweigen erscheint hier positiv gewendet. Ähnlich begrüßt es der Mann in V 27, ein ‫ על‬Joch zu tragen – und erinnert damit an die Klage Zions in Klgl 1,14, die schwer am Joch ihrer Verbrechen (‫ )על פשעי‬trug. Und unüberhörbar lässt das erste Kolon von V 28, ‫ ישב בדד וידם‬er sitze einsam und schweige, Klgl 1,1 anklingen (‫ישבה בדד‬ …‫ העיר‬einsam sitzt die Stadt), aber auch Klgl 2,10 (‫ ישבי לארץ ידמו זקני בת־ציון‬es sitzen auf der Erde und schweigen die Ältesten der Tochter Zion). V 29 unterstützt den Rückbezug mittels des Stichworts ‫ עפר‬Staub, sowie der Beschreibung der Kopfbewegung nach unten in den Staub.892 Das Sättigen an Schmach (‫שבע‬ ‫ )בחרפה‬in V 30 nimmt Bezug auf die in V 15 formulierte Klage, JHWH hätte den Mann mit Bitterkeit und Wermut gesättigt (‫)שבע‬. Zudem wird mit ‫ חרפה‬Schmach ein programmatischer Leitbegriff etabliert, durch den in Klgl 5,1 der Rückbezug zu Klgl 3 gelingt. Motivisch erinnert die Formulierung an die Selbstbeschreibung Zions in Klgl 1,11c und schafft damit eine buchumgreifende Klammer. Entbehrungen und widrige Umstände erscheinen in V 26–30 als didaktisches Mittel der Selbst- und Gotteserkenntnis. Wurde die beklagenswerte Realität in Klgl 1–2 im rituellen Trauerverhalten als grundlegend von Gottferne und Todesnähe geprägt aufgefasst, die durch Solidarität und Trost von Freunden und 891 Zur Differenzierung der Homonyme ‫ דמם‬I schweigen/still sein und ‫ דמם‬II trauern vgl. Levine (1993), sowie Eidevall (2012), 169f. 892 ‫עפר‬/‫ אפר‬ebenso in Klgl 2,10; 3,16.

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Bündnispartnern überwunden werden sollte, so gilt die gleiche Realität hier als Prüfung, die ein bestimmtes, gläubiges, Verhalten erfordert. Im Vollzug dieses Verhaltens, in der anhaltenden Beschämung, wird Gottesvertrauen bezeugt und Gottesnähe erfahren. Entsprechend gilt nicht die in Klgl 2,18 empfohlene anhaltende Klage als angemessene Reaktion, sondern das geduldige Ertragen der göttlichen Prüfung: »Wenn man schon früh gelernt hat, Leid geduldig zu ertragen, fällt es einem später leichter. Diese Schlussfolgerung ist das eigentliche Ziel der weisheitlichen Sentenz …. Es geht hier weniger um die Erklärung von Leid …, sondern vor allem um den geduldigen Umgang mit Leid und die frühe Einübung in diesen Umgang.«893

Diese Einstellung bedarf der Begründung: Vergegenwärtigt man sich, welche Dynamik die bisherige Unterweisung des Mannes im Rahmen einer szenischen Darstellung hätte, ist unschwer einsichtig, dass sich mittlerweile ein erhebliches Begründungsdefizit aufgebaut hat: Warum sollte man Erniedrigung und Verfolgung gutheißen? Käme dies nicht der Glorifizierung einer Missbrauchsbeziehung gleich? »The male survivor reassures himself of the continuing graciousness of God, but the paradox is that that constancy is to be proved by further destruction.«894 Die folgenden V 31–33 versuchen, dieses Paradox aufzulösen. Dass dies durchaus eine Herausforderung ist, lässt sich unter anderem an den Gottesbezeichnungen erkennen, die mit ‫ אדני‬bzw. ‫ עליון‬Ausdrücke verwenden, die eher die überlegene Würde und Macht Gottes betonen. Dass dabei ‫ יגה‬betrüben in V 32f. offensichtlich Klgl 1,4.5.12 aufgreift, ‫ זנח‬verwerfen, verstoßen auf Klgl 2,7; 3,17 Bezug nimmt, ‫ עולם‬wiederum an V 6 anknüpft, und mit ‫ ענה‬erniedrigen an das ‫ עני‬Elend aus Klgl 1,3.7.9; 3,1.19 erinnert wird, macht deutlich, dass dem Mann durchaus bewusst ist, dass es hier »ums Ganze« geht. Anders als in Klgl 1–2 wird hier die Betrübung durch JHWH im weiteren Horizont göttlicher Gerechtigkeit gedeutet.895 Ertrage das Leid, weil Gott sich erbarmen wird – so lautet die Argumentation, die in V 31–33 zusammengeführt wird. Mit V 34–39 beginnt ein weiterer Bereich transitorischer Ambiguität.896 Die chiastische Verwendung der Gottesbezeichnungen bindet die Stanze zusammen: während in V 34.39 keine Anrede vorhanden ist, finden sich in V 35.38 jeweils ‫עליון‬, in den V 36.37 dagegen ‫אדני‬. Inhaltlich ist die Stanze zweigeteilt und um den fokalen Punkt V 36b: ‫ אדני לא ראה‬der Herr hat es nicht gesehen!? herum strukturiert: In V 34–36 werden gegen die Paränese der V 25–33 kritische Einwände 893 Koenen et al. (2015), 251. 894 Pyper (2001), 61f. 895 Durch ‫ עילם‬als zeitliche Perspektive und die ‫ בני־איש‬als Adressaten des göttlichen Willens wird hier eine allumfassende, gleichsam kosmische, Perspektive eingenommen. 896 Weber (2000), 116–118; Dobbs-Allsopp (2001a), 383 meint mit »phantom meaning« das Gleiche.

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formuliert, die anschließend in V 37–39 zu relativeren versucht werden. Die intensivierte Dringlichkeit lässt sich auch an der veränderten Konstruktion der Verse absehen. Während in V 22 die Zweifel an Gottes Zuwendung nur mittels der Negation eines Verbes des Beendens, Aufhörens (‫ )לא־כלו ;לא־תמנו‬präsent sind, werden nunmehr drei Einwände ausführlich entfaltet. Das syntaktisch als Pendens-Konstruktion gebildete, drei Zeilen umspannende Enjambement, das vom Hauptsatz in V 36b abhängig ist, sowie der einheitliche thematische Fokus auf Rechtsbeugung, lassen die Zeilen sehr kompakt wirken. Hier finden sich die Zweifel jener wieder, die vor dem Hintergrund der tagtäglichen Ungerechtigkeit und der offenen Missachtung des in letzter Konsequenz göttlich legitimierten Rechts nicht umhinkönnen, an der Wirkmächtigkeit Gottes – alternativ: am Interesse jenes Gottes, die durch ihn selbst eingesetzte Ordnung aufrechtzuerhalten – zu zweifeln. Entsprechend der über das Einzelschicksal hinausgehenden Tragweite der Frage, ist der Skopus hier auf den Menschen an sich, den ‫אדם‬ (V 36.39), ausgeweitet. Die für Klgl 3,34–39 charakteristische Mehrdeutigkeit beruht auf einem Enjambement, bei dem V 34–36a syntaktisch auf V 36b bezogen ist.897 V 36b selbst bleibt dabei bewusst ambig: Während innerhalb der V 34–36 die Aussage ‫אדני לא‬ ‫ ראה‬als Aussage bzw. Anklage erscheint – Der Herr hat (es) nicht gesehen! –, wird durch die folgenden V 37–39 eine Lesung als rhetorische Frage – Der Herr hätte dies nicht gesehen!? – wahrscheinlicher. Neu ist dabei der thematische Schwerpunkt der Rechtsbeugung und Rechtsverdrehung als konkrete lebensweltliche Auswirkungen der Unterdrückung durch Besatzer und Feinde. Die ‫אסירי ארץ‬ Gefangene des Landes (Gen 39,20.22; Ri 16,21.25) meinen nicht so sehr Häftlinge denn durch materielle Abhängigkeit so sehr Entmündigte, dass sie nur noch auf JHWHs Hilfe hoffen können (Ps 68,7; 69,34 u. ö.). Auch in V 35f. wird mit ‫ נטה משפט‬Recht beugen und ‫ עות בריב‬im Rechtsstreit unterdrücken ein ausdrücklich juridischer Kontext eingespielt, in dem es ebenfalls die sozial Marginalisierten sind, die zu leiden haben. Die Frage göttlicher Gerechtigkeit hat hier die individuelle Beziehung Gottes zum jeweiligen Menschen erreicht und stellt sich damit in intensivierter Grundsätzlichkeit. In gleicher Grundsätzlichkeit antworten die folgenden V 37–39 mit drei Gegenfragen. In V 37 wird der Schöpfungsgedanke aus Gen 1 zitiert: Gottes Wort schafft Wirklichkeit (Gen 1,4.8.13.18; Ps 33,6.9 u. ö.)! Gottes kreatives Handeln während der Schöpfung ist Beweis genug seiner Macht und Ausdruck absoluter Souveränität und Allmacht (Ps 148,5). Das Verb ‫ צוה‬befehlen, gebieten verweist zurück auf Klgl 1,10.17; 2,17 und bereitet dadurch den folgenden Vers vor: In Klgl 1,10.17; 2,17 wird die göttliche Befehlsmacht jeweils in negative Erfahrungshorizonte gestellt. In Klgl 1,10 wird der Vorwurf gemacht, dass die Feinde 897 Dobbs-Allsopp (2001a), 375.

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trotz Gottes anderslautendem Gebot ins Heiligtum in Zion eindrangen, in Klgl 1,17 beschreibt der Sprecher, dass Gott die Feinde von rings umher gegen Jakob aufgeboten hat, und Klgl 2,17 weist darauf hin, dass er das über Zion hereingebrochene Gericht seit den Tagen der Vorzeit geplant. Jedes Mal geht es darum, dass Gottes Befehl und Gottes Wirken negative Konsequenzen hatte. Daran schließt V 38 an, indem, ebenfalls rhetorisch, die Frage aufgetan wird, ob es nicht einer Beschränkung Gottes gleichkäme, wenn diese Schaffensmacht neben dem Guten nicht auch das Böse umschlösse (vgl. Dtn 30,15–19; sowie über den konkreten geschichtstheologischen Horizont hinaus z. B. Ijob 2,10; Koh 7,14; Am 3,6; Dtn 32,39). V 39 schließlich formuliert die Konsequenz: »Anstelle sich über die Lebensumstände zu beklagen, sollte man sich freuen, überhaupt mit dem Leben davongekommen zu sein.«898 Bemerkenswert ist an diesem Vers mehreres: Zum einen ist es das erste Mal, das in Klgl 3 ein Begriff des Wortfeldes »Schuld/Sünde« auftaucht. Die verwendete Terminologie verweist allerdings auf die Abstraktion des Gedankens. ‫אנן‬ murren begegnet sonst nur noch in Num 11,1 und bezeichnet dort das Murren des Volkes gegenüber Mose bzw. JHWH. Wenn zugleich der Begriff ‫ אדם‬verwendet wird, so formuliert der Vers den Gedanken, dass der Mensch als Geschöpfter, der die Katastrophe lebendig überstanden hat, keinen Grund hat, sich über die Strafe Gottes zu beklagen.899 Zudem hat MT Ketiv ‫ חטאו‬seine Sünde, verstanden als Abstraktum. Es geht hier somit nicht um konkrete Vergehen, sondern das Phänomen der Sünde allgemein. »Das Leben soll wertgeschätzt werden als Geschenk, das der Mensch aus der liebenden Hand Gottes empfangen hat.«900 Die Verse erinnern an das Ijobbuch, wo anfangs ebenfalls zu lesen ist, dass Gutes wie Böses von Gott ausgehen (Ijob 1,22; 2,10), um anschließend ausführlich die Problematik dieser These zu entwickeln.901 Es ist das Plausibilitätsdefizit einer politischen Theologie, heruntergebrochen auf das individuelle Schicksal, die die in den V 37–39 angelegte »kosmische Überhöhung« der Argumentation notwendig macht.

898 899 900 901

Berges (2002), 212. Koenen et al. (2015), 266. Frevel (2017), 243. Vgl. Miggelbrink (2000), 170f.: »Nach der hier entwickelten Interpretation stellt das Hiobbuch die weisheitliche Widerlegung der weisheitlichen Übertragung des prophetischen TunErgehen-Zusammenhangs aus dem gesellschaftlich-politischen in den individuellen Kontext dar. Im individuellen Kontext verlangte die Herstellung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs nach einem intermittierenden Eingreifen Gottes zugunsten des Gerechten gegen die ihn bedrängende Wirklichkeit. Die Erfahrung – so die Lehre des Hiobbuches – widerspricht einer solchen Annahme. Die theologische Idee des Gotteszornes wird im Hiobuch so zu Inbegriff des Ablehnenswerten, zu der absurden Vorstellung eines den einzelnen bekriegenden kosmischen Kriegsgottes.« [Herv. i. Orig.].

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Zusammengefasst: Die zweite Sektion von Klgl 3 entwickelt den Gedanken, der zum Ende der ersten Sektion erreicht wurde (Hoffnung ist nötig, um Weiterleben möglich zu machen), in ein inhaltlich-theologisches »Programm« weiter. Ausgehend vom richtungslosen Harren des V 21, wird in V 22–39 versucht darzulegen, (1) auf wen sich diese Hoffnung sinnvollerweise richtet, (2) warum sie berechtigt ist, (3) worin ein dieser Hoffnung gemäßes Verhalten besteht, insbesondere (4) vor dem Hintergrund des anhaltenden Zornes Gottes. Die letzte Stanze der Sektion kennzeichnet dabei, was auf dem Spiel steht: »Das eigentlich unvereinbare ›Zugleich‹ von Aussage und Frage zeigt in aller Schärfe das theologische Grundproblem an, dass der Gott, der die letzte Ursache des Leides ist, zugleich die einzige Hoffnung auf die Behebung desselben ist.«902 Die dritte Sektion, V 40–66, ist durch den auffälligen Wechsel in die 1. Pers. Pl. vom Vorherigen abgesetzt. Bisher war Klgl 3 klar strukturiert: Vom anfänglichen »Ich« des Mannes, der in der ersten Sektion seine individuelle Not in all ihrer Subjektivität und, wenn man so will, Egozentrik schilderte, über das erörterndbelehrende »Er« der Mittelsektion, die diesem Leidbericht eine konstruktive Perspektive für die Zukunft entgegenstellen sollte, hin zu einem nunmehr synthetisierenden »Wir«, in dem die im Mittelteil neu geschaffene religiöse Vertrauensbasis im konkreten Handeln eines Kollektivs erprobt werden soll. In der ersten Stanze der Sektion, V 40–45,die durch das »Wir« in V 40–42 sowie das göttliche »Du« in V 43–45 in zwei korrespondierende Hälften gegliedert ist, wird oft primär das Element selbstkritischer Reflexion hervorgehoben.903 Allerdings finden sich auch Stimmen, die die zutiefst verunsicherte Grundstimmung der Stanze bemerken.904 Denn trotz des auch gestisch dargestellten Schuldeingeständnis und dem klaren Willen, sich neu JHWH zuzuwenden, wird darauf hingewiesen, dass das göttliche Vergeben auf diese neuerliche Zuwendung offensichtlich ausbleibt. Mehr noch: V 44 greift auf die Klage des Mannes aus V 8 zurück, um den anhaltenden Zorn trotz Schuldbekenntnis zu beschreiben. An der Stelle, wo an sich die neuerliche Zuwendung Gottes erwarten werden dürfte (nach Eingeständnis der eigenen Schuld und der damit wieder ermöglichten Zuwendung Gottes), folgt in unvermittelter Anklage: »Du, du hast nicht verge902 Weber. (2000), 118. 903 Berges (2002), 213f., ähnlich Koenen et al. (2015), 266 u. ö. 904 Frevel (2017), 244: »Die von der »Wir-Stimme« eingenommene Position bleibt ambivalent. Zunächst scheint sich das Kollektiv die Belehrung aus V.25–39 zu eigen zu machen und darauf mit einem Sündenbekenntnis, der Reue und dem Versprechen der Umkehr in V.40– 42 zu reagieren. In V.43–47 hingegen steht erneut eine Beschreibung der Harte des Strafgerichtes. Auf die aus der Tradition gewonnene Einsicht des Einzelnen in V.22–24.31–32, dass Gottes Liebe nicht aufhört und seine Huld unerschöpflich ist, scheint das »Wir« ebenso wenig zu reagieren wie auf die Passage zur Rechtfertigung Gottes V.34–38. Das »Wir« findet jedenfalls noch nicht zu einem neuen Vertrauen zu Gott zurück. Es bleibt auf halbem Wege stehen.«

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ben« (V 42b), »Du hülltest dich in Zorn und verfolgtest uns, hast getötet, nicht verschont« (V 43). Die Terminologie ab V 41 spielt dabei wiederum bewusst auf Früheres an: Die Aufforderung, Herz und Hände zu erheben (V 41: ‫נשא לבבנו אל־כפים אל־אל‬ ‫ )בשמים‬erinnert an die Exhortation des Sprechers in Klgl 2,19 und die Beschreibung Zions aus Klgl 1,17. Die vorbehaltlose Selbstbezichtigung in V 42: ‫נחנו‬ ‫ פשענו ומרינו‬wir haben verbrecherisch gehandelt und getrotzt erinnert an das ähnlich vorbehaltlose Schuldeingeständnis Zions in Klgl 1,14.18.20.22 in genau der gleichen Terminologie. Die intensivierende Gegenüberstellung ‫אתה – נחנו‬ Wir haben … – du (aber) hast … verdeutlicht die Konsternation der Beter.905 Ganz offensichtlich wird dies im folgenden V 43, der den göttlichen Zorn (‫)אף‬ erstmals nach V 1 (dort ‫ )עברה‬erneut beim Namen nennt, und Gottes Handeln als ein Verfolgen (‫ )רדף‬beschreibt und damit an die Verwendung der Wurzel in Klgl 1,3.6 erinnert. Der Vers greift dabei Motive und Formulierungen aus Klgl 2 auf: V 43a: ‫ סכתה באף‬Du hülltest [dich] in Zorn verweist zurück auf Klgl 2,1, V 43b nimmt mit der Formulierung ‫ הרגת לא חמלת‬du hast getötet, nicht verschont! fast wörtlich Klgl 2,21 auf (‫ הרגת ביום אפך טבחת לא חמלת‬Du hast getötet am Tag deines Zornes, hast geschlachtet, nicht verschont). Es ist dies neben Klgl 2,4.21 die einzige Stelle in den Klgl, in der von Tötung ‫ הרג‬durch JHWH die Rede ist.906 Mit anderen Worten: Die Spitzenaussage bezüglich Gottes ungezügelten Zornes und dessen grausamer Konsequenzen findet sich unmittelbar dort, wo »eigentlich« neue Hoffnung und Zukunft aufgrund Gottes neu gewährter Gnade und Zuwendung hätte bezeugt werden sollen.907 Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunli-

905 Gegen Berges (2002), 215; Koenenet al. (2015), 269, Brandscheidt (1983), 66, die die Gegenüberstellung als Anerkennen der Berechtigung der verweigerten Vergebung auffassen. Wie auch die folgenden Verse verdeutlichen, ist es gerade das nicht folgende Vergeben Gottes (Ps 103,3; vgl. Jes 55,7), insbesondere angesichts der offensichtlichen Buße der Klagenden (vgl. Jer 18,5–12), die für Verwunderung und Verzweiflung sorgt. »Given the wider context, 3:19–41 reads like macabre sarcasm. The question of 3:34–36 – ostensibly referring to the human enemy afflicting Jerusalem – appears like an indictment against JHWH.« (Stiebert [2003], 199). 906 Mit göttlichem Subjekt findet sich ‫ הרג‬ansonsten lediglich in Ex 4,23; 13,15; 22,33; 32,12; Num 11,15; Jes 14,30; 27,1; Hos 6,5; Am 2,3; 4,10; 9,1.4; Ps 59,12; 78,31.34.47; 135,10; 136,18, sowie in Num 22,33 (dort mit dem ‫ מלאך יהוה‬als Subjekt). Von besonderem Interesse sind Hos 6,5; Am 2,3; 4,10; 9,1.4; Ps 78,31.34, in denen Gott seinen tödlichen Zorn gegen das eigene Volk wendet und wo jeweils die einstige Erwählung Israels ein zentrales Thema ist (vgl. hierzu Fuhs [1977b], 492–494). Angesichts dessen ist das dreimalige Vorkommen des gleichen Motives in den Klgl bemerkenswert. Sie unterminiert die Plausibilität einer positivhoffenden Interpretation von Klgl 3: Zumindest auf der Textebene wird in den Klgl die anhaltende Erwählung Israels mehrfach in Frage gestellt (Klgl 2,7.20–22; 3,17–18; 4,6.11; 5,1– 2.20–22) – jedoch nie ausdrücklich bekräftigt. 907 O’Connor (2002), 53: »We did our part, he [= der Mann; AvdL] implies; we have turned to you, we have confessed our sins, but you have let us down. You have not reciprocated, turned

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cher, dass eben nur an dieser einen Stelle im Lied ein explizites Bekenntnis zur eigenen Verantwortung an der Katastrophe erfolgt. Der Impuls kritischer Selbstreflexion, der in V 40 begann, gerät somit schon bald, ab V 42b »auf die schiefe Bahn«. Ab dort dominiert erneut die Klage, die nunmehr allerdings im vertrauten »Du« gehalten ist – dadurch an Intensität nur noch gewinnt. V 44 erneuert den Vorwurf aus V 8 und davor schon Klgl 2,9c, dass Gott sich selbst einem betenden Zugang verwehrt und somit ein Umkehren regelrecht verhindert. Dieses Motiv wird auch in Klgl 4,16 und schließlich 5,20f. neu aufgenommen. In Klgl 5,21 mündet es in die Formulierung, dass eine Umkehr nicht (mehr) in der Verfügung der Gläubigen liegt, sondern von Gott eingeleitet werden muss. Der Eindruck, dass Gott sich aktiv dem Gebet entzieht, durchzieht das gesamte Buch. Auch daran lässt sich das Gefühl radikaler Verlassenheit und Verunsicherung erahnen, dass die Zerstörung Jerusalems zur Folge gehabt haben muss. Der Blick aus der Gruppe heraus auf die feindlich gesinnte Welt, die in V 45 mit dem Ausdruck ‫ בקרב העמים‬inmitten der Völker ins Spiel kommt, führt zurück zum aktuellen Leid – allerdings nunmehr unter dem Fokus des Handelns von Feinden. Damit hat die neu gefundene Hoffnung doch einen wichtigen Fortschritt erzielt: Aus dem Ich-zentrierten Klagenden der ersten Sektion, der sich von Gott direkt verfolgt sieht und sein eigenes Leiden unter völliger Absehung der Außenwelt beschreibt, ist eine Gruppe geworden, die von Feinden (nicht Gott!) bedrängt wird. Hier wird nunmehr erneut in Motiven formuliert, die aus Klgl 1–2 schon bekannt sind,908 doch fungiert Gott jetzt wieder als jemand, an den man sich vertrauensvoll in Situationen der Verfolgung wenden kann. Insofern sie Motive der Klage Zions aus den bisherigen Liedern aufgreifen, machen sie den Unterschied in Funktion und Zeichnung der Feinde deutlich: Während die Feinde in Klgl 1–2 hinter das Handeln Gottes zurücktraten, zeigt die Klage zu Gott über das Wirken der Feinde, dass das Bekenntnis zu JHWH erneut keinen Zweifeln und Ambiguitäten mehr unterworfen ist (V 50). War die Aufforderung in Klgl 2,18f., dass Zion sich klagend an JHWH wende, kausal determiniert (»um das Leben deiner Kinder willen«), so ist die Klage des Mannes hier zeitlich determiniert: »Bis herabschaut und sieht JHWH.« Die Überzeugung ist zurückgekehrt, dass jenes Herabschauen, das am Beginn eines göttlichen Eingreifens stehen muss, nur eine Frage der Zeit ist. to us, or forgiven us. The community alone cannot be the cause of this suffering; God, too, is implicated.« 908 Für V 46a (‫ פצו עלינו פיהם כל־איבינו‬Es rissen gegen uns ihren Mund auf all unsere Feinde) vgl. Klgl 2,16a (‫)פצו עליך פיהם כל־אויביך‬. ‫ שבר‬Zusammenbruch (V 47f.) ist ein aus Klgl 1,15; 2,9.11.13; 3,4 bekanntes Schlagwort; dass die Augen (V 48a.49a – vgl. Klgl 1,16; 2,11.18) ganze Bäche von Tränen ergießen (V 48a – vgl. 2,11.18) ist ebenfalls ein bekannter Topos, ebenfalls, dass dieses Weinen ohne Rast und Ruhen vonstattengeht (V 49 – vgl. Klgl 2,18).

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Den letzten Abschnitt von Klgl 3 »durchzieht ein eigenartiges Schillern … zwischen dem durch die Danklied-Elemente evozierten Eindruck von Erhörung und Hilfe JHWHs einerseits … und der noch ausstehenden Erlösung und FeindBestrafung andererseits …«909 V 52–57 sind dabei stark vom Motiv der Verfolgung durch die Feinde sowie dem Bild der Grube bestimmt. Beide spielten in der ersten Sektion schon eine Rolle.910 Auch hier ist der gewandelte Fokus die nun nicht mehr gestörte Gottesbeziehung: Während JHWH in V 8 noch mutwillig dem Schreien des Mannes sein Ohr verschloss,911 ist hier davon keine Rede mehr. Obwohl der Mann dachte, er sei verloren, formuliert er doch in V 56a: »Meine Stimme hörtest du!« Der in Klgl 2,9bc; 3,8.44 formulierten Kritik, dass Gott sich selbst dem Gebet entziehe,912 wird hier zwar widersprochen, allerdings lässt die Fortführung des Gebets, ‫ אל־תעלם אזנך‬verschließe nicht dein Ohr! noch deutlich die dort genannten Vorwürfe erkennen. Die charakteristische Abwandlung der Elemente der ersten Sektion setzt sich auch in den letzten V 58–66 fort. Die direkte Anrede an Gott, die vierfache Verwendung des Tetragramms (V 59.61.64.66; dazu noch ‫ אדני‬in V 58) unterstreichen, dass das Gottesverhältnis nun wieder gefestigt ist. In Aufnahme des Themas »Rechtsbruch«, dass im Kontext nur einen weiteren Aspekt der Bedrohung durch Feinde darstellt, wird nunmehr nicht mehr die Fraglichkeit göttlicher Intervention zugunsten der Schwächsten herausgestellt, sondern auf die quasifamiliäre Beziehung, die zwischen dem Beter und Gott als ‫ גאל‬Löser besteht, hingewiesen. Als Löser fungiert nach Lev 25,48f. der jeweils nächste Blutsverwandte, dessen Pflicht es ist, für den anderen einzutreten.913 Mit der Bezeichnung Gottes als Löser, als auch mit den Affirmationen der folgenden V 59–61: ‫ראיתה‬ ‫ יהוה עותתי … ראיתה כל־נקמתם … שמעת חרפתם יהוה‬Du, JHWH, sahest meine Entrechtung … sahest all ihre Rachsucht … hörtest, JHWH, ihre Schmähungen nimmt die Darstellung gegen die kritischen Anfragen der V 34–36 Stellung, die die Solidarität Gottes explizit in Frage stellten. Basierend auf diesem Verständnis

909 Weber (2000), 120. 910 Für das Motiv der Verfolgung vgl. V 2.5.10.12f., für das Bild der Grube und die damit evozierte Todesnähe (Jes 14,15.19; Ps 28,1; 30,4 u. ö.) vgl. V 6.7.17.18. 911 Das mit ‫ צעק‬wohl bedeutungsgleiche ‫( זעק‬Hasel, G. F. (1977), 629f.) verweist zudem zurück auf Klgl 2,18. 912 Wenn in der Vergangenheit die Propheten das verstockte Volk ironisch aufforderten, zu den machtlosen Göttern zu schreien (Jes 46,7; 57,13; Jer 11,12; Ri 10,14), dann war göttliche Rettung nicht zu erwarten, weil die Beter nicht »in/mit ihrem Herzen« ‫ בלבם‬zu Gott schrien (Hos 7,14), das Gebet somit nicht zum Himmel steigen und an Gottes Ohr dringen konnte. Wie weiter oben ausgeführt, bezeichnet ‫זעק‬/‫ צעק‬allerdings gerade ein Schreien, das unbedingte Hilfeleistung erfordert, d. h. eines, das aus dem Herzen kommt. So formuliert auch Klgl 2,18: ‫ צעק לבם אל־אדני‬Ähnlich wird in Klgl 3,8.43 das »zum Himmel« steigende Geschrei (welches somit ‫ בלבם‬erfolgt) von Gott ignoriert. 913 Ringgren (1973b), 886.

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von Gott als ‫גאל‬, stellt sich abschließend umso drängender die Frage, die schon in Klgl 1,21f. anklang: Soll das Handeln der Feinde ungesühnt bleiben?914 Wie fügt sich diese letzte Sektion in den Gedankengang des Liedes ein? In der ersten Sektion beschrieb der Mann das feindliche Handeln Gottes. In der Dramaturgie von Klgl 1–3 etablierte sich der Mann als einer, der das Leiden Zions durchaus am eigenen Leib erfahren hatte. Im Gegensatz zu Zion, die zumindest in Klgl 1 kein Hehl aus ihrem Beitrag zum Gericht hatte, stellt sich der Mann in Klgl 3 als ‫ גבר‬vor – normalerweise ein Mensch mit besonders inniger Beziehung zu Gott, ein Individuum ohne Fehl und Tadel. Dementsprechend spielte persönliche Schuld keine Rolle in der ersten Sektion – und umso unverständlicher war der anhaltende göttliche Zorn. Der diesem Gott ausgelieferte Mann, so V 19– 21, hat um seiner selbst willen nur die Möglichkeit, auf die Zukunft zu hoffen. Dieser Aspekt geht über die Klage Zions in Klgl 2 hinaus. Er entwertet sie nicht, oder stellt sie gar als falsch dar, jedoch macht er deutlich, dass eine Klage, die gleichsam nur noch um sich selbst kreist und keinerlei produktives Potential mehr entwickelt, ins Verderben führt. Die sich daraus ergebende Frage war: Wie lebt es sich mit einer Hoffnung, die ständig vom noch wirkenden Zorn bedroht ist? Eine Antwort hierzu wurde in der zweiten Sektion entfaltet. Hier wurde dargelegt, warum Hoffnung in Gott trotz des täglichen Erlebens seines Zornes berechtigt ist (V 22–24.25.31–33.36–39), wie ein angemessenes Verhalten angesichts der gleichwohl bedrückenden Realität auszusehen hat (V 26–30) und inwiefern diese Haltung überhaupt Plausibilität angesichts tagtäglicher Rechtsbrüche beanspruchen kann. Das neue Vertrauen in JHWH birgt die Gefahr, die in der ersten Sektion formulierte Klage als egozentrische Verengung abzuwerten.915 Die in der zweiten Sektion erreichte positive Sichtweise hat jedoch ihren Preis – dies zeigt die dritte Sektion. Nicht nur wird angesichts der Akzeptanz der eigenen Verantwortung an der jetzigen Lage der anhaltende Zorn Gottes umso unverständlicher (V 40–45), auch das Agieren der Feinde wird umso schwerer erträglich, je weniger sie als JHWHs Urteilsvollstrecker verstanden werden können. Davon zeugt die nun vorbehaltslose Bittklage zu Gott in den letzten beiden Stanzen, die Gottes Gerechtigkeit nicht nur hinsichtlich der eigenen Errettung, sondern auch der Bestrafung der Feinde fordert.

914 Dieses ist dann nicht als verfluchender Jähzorn zu verstehen (Kaiser [1992], 170f.), sondern als Erweis der wesenshaften Gerechtigkeit Gottes, die sich eben erst dann erweist, wenn auch die Feinde ihrer gerechten Strafe nicht entgehen. 915 Mintz (1982), 14, »The pursuit, torture and entombment suffered by the speaker at the beginning of the poem are his own. In his isolation he imagines that he alone has been singled out for victimization. He experiences nothing but his on persecution. Here, in contrast, […] has he achieved a capacity for empathy […].« (Herv. AvdL).

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6.3.3 Die Funktion von Klgl 3 im Rahmen des Buches Klgl 3 intensiviert die Akrostichie von Klgl 1–2 und gibt sich damit als ein literarisch anspruchsvolles Werk zu erkennen. Einst als Künstelei abgetan, kommt der intensivierten Akrostichie in der mittleren Sektion zumindest auch die Funktion zu, die Paränese des Mannes auch stilistisch als summa kenntlich zu machen. Diese sehr hervorgehobene Position der Mittelsektion von Klgl 3 wurde in der Forschung immer wieder beobachtet – und galt oft als Schlüssel für das Verständnis des Buches. Johnson spricht daher für viele, wenn er formuliert: »The answer of Lamentations is formulated in the center of the Book, i. e. in the mid section of chap. 3.«916 Die Wertschätzung von Klgl 3 als »monumental center of the book«917 ist heute fast universell. Das Buch hat damit einen erstaunlichen Aufstieg von der vernichtenden Kritik Buddes: »… ungeschickt in der Sprache, arm an Einfällen für die Anwendung des Akrostichs, unklar in den Gedanken, stets und oft genug mechanisch abhängig von zahlreichen Vorbildern, windet er sich mühsam bis zum Ende durch. … Wir haben es mit ganz secundärer Epigonenarbeit zu thun, die man kaum zu spät ansetzen kann.«918

… bis zur heutigen Wertschätzung hinter sich! Wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird, ist der hervorgehobene Stellenwert, der Klgl 3 zugemessen wird, insbesondere dann kritisch zu hinterfragen, wenn man das Lied im Kontext von Klgl 1–2 und Klgl 4–5 betrachtet. Zwar ist die Mittelsektion von Klgl 3 fraglos eine wichtige Position im Gesamt der Meinungen und Standpunkte, die im Buch entfaltet werden, doch wäre es vorschnell, sie zu privilegieren. Es geht also um eine differenzierte Würdigung der Funktion von Klgl 3 – einerseits als bewusst abgesetzte »Antwort« und Reaktion auf Klgl 1–2, andererseits aber auch als »nur« eine weitere Stimme und Position im Kontext des Buches, die durch Klgl 4–5 dann z. T. deutlich korrigiert werden wird. Die folgenden Überlegungen gliedern sich in drei Punkte: Zum einen wird die dramaturgische Weiterführung von Klgl 2 zu 3 beleuchtet, daneben die neuen thematischen Akzente diskutiert und schließlich das theologische »Programm« von Klgl 3 in seinen Konsequenzen für das Buch dargestellt. 916 Johnson (1985), 60. So auch Salters (2003), 367f.: »The author has placed the section … in the middle of his poem as though to say that in the midst of deserved adversity and misery sent by yahweh one must keep in mind yahwehs positive and loving nature. The author is probably the final contributor to the collection of poems … It is his contribution to the commemoration of the fall of Jerusalem, a commemoration which he felt was too negative, too complaining, and which had, to some extent, lost sight of the gracious and loving god of pre-exilic experience.« 917 Mintz (1982), 10. 918 Budde (1898), 92.

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6.3.3.1 Die Dramaturgie von Klgl 1–2 zu Klgl 3 Weiter oben wurde dargestellt, dass Klgl 3 in dramaturgischer Hinsicht den Faden von Klgl 1–2 aufnimmt und weiterführt. Die häufig bemerkten thematischen Leerstellen – wie etwa das völlige Fehlen des Zion-Bezuges – sind vor diesem Hintergrund unproblematisch: Das Setting von Klgl 1–2 wirkt fort und ist zu Beginn von Klgl 3 so gefestigt, dass es nicht noch einmal eigens etabliert werden muss. Damit ist die Nennung vieler bisher angesprochener Themen und Motive entbehrlich, ohne dass dadurch der vorher etablierte Zions- und Jerusalem-Kontext verloren geht. Davon abgesehen nimmt Klgl 3 aber eine äußerst wichtige dramaturgische Funktion wahr, insofern es die schrittweise Wandlung einer dramenähnlichen Darstellung in ein kommunales Gebet einleitet. Die »transitorische Ambiguität«, die Weber innerhalb von Klgl 3 an verschiedenen Stellen identifizierte, trifft in gewisser Weise auch auf das Lied insgesamt zu: Es hat eine transformatorische Funktion, insofern es eine primär dramatische Darstellung zu einer theologischargumentierenden Diskussion wandelt – und setzt zudem mit der Inkorporation eines Abschnittes gemeinschaftlichen Betens (V 41–42) einen performativen Hinweis auf Umkehr und Vertrauen zu Gott. Anfangs knüpft Klgl 3 an die dramenähnliche Darstellung von Klgl 1–2 an: Mit dem Mann wird eine weitere dramatische Figur etabliert, die ausführlich ihr eigenes Schicksal und Leiden schildert und hierbei deutliche Parallelen zu Frau Zion schafft. Damit wird der Anschluss an Klgl 1–2 gewährleistet und ermöglicht, dass der inhaltlichen Position Zions mittels einer strukturell und funktional vergleichbaren Figur etwas Ebenbürtiges entgegengesetzt wird. Die inhaltliche Ausgestaltung der Rede des Mannes macht dabei deutlich, dass es nicht um eine klar konträre Haltung geht, sondern vielmehr um eine akzentuierende Reinterpretation. Dieser Abschnitt dauert bis zum Ende der ersten Sektion; bis dahin ist eine erneute Bekräftigung des dramatischen Settings insofern auch nicht notwendig. Anschließend nimmt die Darstellung neue Züge an. Die ausführliche Darstellung der inneren conversio des Mannes von verbittertem Hadern zu demütigem, hoffenden Harren ist zum einen für sich genommen etwas Neues; sie führt zudem aber auch zu ganz unmittelbaren Einwänden, Nachfragen und teilweise theologischen Neuakzentuierungen. Diese werden in der zweiten Sektion diskutiert und dargelegt. Damit gewinnt die dortige Darstellung teilweise Züge eines theologischen Streitgesprächs und in jedem Fall die Wirkung einer weisheitlichen Paränese, in der eine Anleitung zu einem gelingenden Leben – in dem Maße, in dem dies unter dem fortwährenden Zorn Gottes möglich ist – gegeben wird. Während dieser Unterweisung spielt ein dramaturgisches Setting keine Rolle. Formal wäre hier mittels der Differenzierung »Spielzeit – gespielte Zeit« der gesamte Bereich als Selbstgespräch des Mannes zu klassifizieren (vgl. V 21: Dies

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ließ ich in mein Herz zurückkehren …), und damit zwar als Spielzeit, jedoch nicht bzw. nur begrenzt Teil der gespielten Zeit. Die kontinuierliche Aufrechterhaltung des dramatischen Settings ist hier nicht im Blick. Mit dem Beginn der dritten Sektion und dem dort anfangs zu Wort kommenden Kollektiv vollzieht sich der erste erkennbare Bruch mit dem bis dato etablierten Setting. Das Kollektiv hat nicht die Rolle einer kommentierenden Instanz, sie tritt nicht als »Ersatz« für eine Erzählerfiktion auf. Damit allerdings wird eine Distanzierung der Hörer*innen von dem sprechenden Kollektiv erschwert – man erlebt sich unwillkürlich als Teil einer Gruppe, deren Sprachrohr in diesem Moment der Mann zu sein scheint. Von der Textanlage ist dies fraglos so intendiert: Es ist dies die Stelle, an der die Rezipierenden den inhaltlichen Verlauf des Mannes zumindest ansatzhaft individuell nachvollziehen sollen. Das Kollektiv spricht nur für sieben Verse – anschließend ergreift erneut der Mann das Wort. Allerdings – auch dies ein Moment des Bruches – bezieht er sich nicht erkennbar auf die erste Sektion, noch inkorporiert er sichtlich die Erkenntnisse der Mittelsektion. Die Unabhängigkeit von Sektion zwei und drei ist so groß, dass teilweise verschiedene Autoren bzw. Ursprünge vermutet wurden. Die zweite Rede des Mannes unterscheidet sich auch inhaltlich von der ersten, insofern nun nicht mehr so deutliche Parallelen zur Selbstbeschreibung Zions aus Klgl 1–2 vorliegen und somit auch inhaltlich der Bezug zu den vorherigen Liedern geschwächt wird. Stattdessen nimmt die Darstellung hier eher generische Züge an. Der hier beschriebene Prozess setzt sich in den folgenden Liedern fort. Einerseits tritt auch in Klgl 4, und umfänglich dann in Klgl 5, ein Kollektiv auf, das einer Sichtweise auf ein Gegenüber, wie es im Drama der Fall ist, entgegensteht. Andererseits lässt auch die Darstellung von Klgl 4 nicht das dramatische Setting von Klgl 1–2 wiederaufleben, da in ihr die vorher plastisch anwesenden Figuren – Sprecher und Zion – nur noch sehr abgeschwächt in Erscheinung treten. Der Sprecher von Klgl 4 bleibt fast völlig im Hintergrund und tritt als Figur nur insofern in Erscheinung, als dass die Darstellung und Wortwahl teilweise sarkastisch-zynische Züge trägt und somit eine bestimmte Persönlichkeit erkennen lassen.

6.3.3.2 Thematische Neujustierungen Der Mann von Klgl 3 nimmt die Anklage Zions aus Klgl 2,20–22 auf, wandelt sie aber an bestimmten Punkten signifikant ab. Er führt bestimmte Motive und Themen fort, entwickelt aber auch in der Mittelsektion eine neue Herangehensweise, um mit dem anhaltenden Zorn Gottes umzugehen und bezüglich diesem ein trotz aller Klage konstruktives Verhältnis zur Realität zu finden.

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Beispiele für thematische Weiterführungen sind etwa die an die Schilderung Zions erinnernde Darstellung der Auswirkungen des göttlichen Zorns. Zwar sind in Klgl 3 die in Klgl 2 dargelegten brutale Auswirkungen auf die Stadt nun auf ein Individuum gewendet, finden sich ansonsten jedoch in ähnlicher Brutalität und Unentrinnbarkeit wieder. Auffällig ist auch das Fehlen eines Eingeständnisses eigener Schuld in der ersten Sektion oder das höhnische Verhalten der Fremden in V 14 (vgl. Klgl 2,15). Sie lassen insgesamt vermuten, dass die erste Sektion von Klgl 3 bewusst als Fortsetzung von Klgl 2 komponiert wurde. Auch in stilistischer Hinsicht, etwa in der Verwendung des Qinah-Meters oder der Formulierung in enjambierten Versen, aber auch der Satzstruktur insgesamt,919 bleibt Klgl 3 im Rahmen des aus Klgl 1–2 Vertrauten. Auch die anklagenden V 43–49 erinnern stark an Klgl 2: von der Anklage des erbarmungslosen Handeln JHWHs (Klgl 2,1–8) über die Aussetzung inmitten der Völker (Klgl 1,3), das Mundaufreißen der Feinde in apotropäischer Funktion (Klgl 2,16) über das Thema der nicht enden wollenden Tränen (Klgl 2,18f.) sind hier deutliche Anklänge an charakteristische Momente der Dynamik von Klgl 1 und 2 aufgegriffen. Und schließlich finden sich in der weisheitlichen Instruktion der V 28–30 die schon aus Klgl 1–2 vertraute Trauermotivik wieder: Nicht nur Zion sondern auch ihre Bewohner werden in Klgl 1–2 als still trauernd, im Staub sitzend, verächtlich gemacht und leidend dargestellt. Zugleich gibt es allerdings auch inhaltliche Umakzentuierungen oder neue Schwerpunkte. Diese sollen anschließend kurz thematisiert werden. 6.3.3.2.1 Hoffnung als Überlebensstrategie Wie weiter oben dargestellt, trägt die Selbstvorstellung des Mannes in der ersten Sektion deutliche Züge der Selbstbeschreibungen Zions. Wie Zion sieht sich der Mann vom Zorn Gottes verfolgt (V 1), er fühlt sich verfolgt, umzingelt und eingekreist (V 2.3.5.7.9.11). Die Tier- und Jagdmetaphorik (V 10.12) verdeutlicht die Bedrohlichkeit, die dieser Zustand für den Mann hat: In einer Situation ohne Ausweg und Fluchtmöglichkeit sieht er sich einem Gott ausgeliefert, der so gewalttätig ist wie ein jagendes Raubtier, und bei dem genauso wenig auf Erbarmen gehofft werden kann. Mit dieser vergleichbaren Ausgangssituation geht der Mann allerdings anders um, als es Zion in Klgl 2,20–22 tat. Statt aus Gottes feindseligem Handeln zu schließen, dass Gott zum Feind geworden ist, weist er auf die selbstzerstörerischen Folgen einer Klage hin, deren Adressat nur noch als Gegner wahrgenommen 919 In beiden Liedern überwiegen einfache Sätze mit JHWH (bzw. dem noch unidentifizierten »Er«) als Subjekt, der Stadt (bzw. dem Mann) als Objekt sowie einem Verb (3. m. sg.), das Zerstörung, Bedrängung oder Aggressivität ausdrückt. Vgl. Dobbs-Allsopp (2004), 22, Westermann (1990), 144.

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werden kann und die damit kein produktives Potential mehr hat (V 17–20). Stattdessen votiert der Mann für Sicht, in der Klage und Trauer – und die dazu gehörenden rituellen Praktiken – ein Mittel der Selbstprüfung sind (V 26–33). Durch das beharrliche Erdulden des göttlichen Zornes und indem man diese Zeit als Prüfung des eigenen Weges auffasst, wird ein Verhältnis zum göttlichen Zorn möglich, dass einerseits die Kritik an dessen Folgen für das Individuum nicht verunmöglicht, zugleich aber einen konstruktiven Umgang mit den zu erduldenden Entbehrungen ermöglicht. Wenn allerdings tagtägliche Ungerechtigkeit und ungesühnter Rechtsbruch die Regel sind (V 34–36), ist die Korrespondenz zwischen individueller Strafe und individueller Huld nicht gegeben und stellt sich die Frage nach der empirischen Plausibilität der vorgeschlagenen Haltung demütiger Geduld. Die Antwort, die Klgl 3 auf den Einwand, der täglich zu beobachtende Rechtsbruch zeige entweder Gottes Indifferenz oder Impotenz, anbietet, stellt auf die radikale Transzendenz Gottes ab. Gott ist der Schöpfer von allem, was da ist (V 37), und wirkt somit Heil und Unheil (V 38). Auch das Widerfahren und Ertragenmüssen von Negativem ist Erfahren göttlicher Wirkmacht und somit in gewisser Weise Grund, die vorher dargelegte Haltung geduldiger Hoffnung weiterzuführen. V 39 bringt diesen Gedanken auf den Punkt: Ein Mensch, der sein Leben Gott verdankt, kann sich schwerlich darüber beschweren, dass dieses Leben auch als Strafe zu verstehendes Leid enthält. In der dritten Sektion integriert der Mann das neu gefundene Vertrauensverhältnis in seine Klage. Dieser Punkt ist für das Verständnis wichtig: Nicht die tatsächlichen Zustände haben sich gewandelt, wohl aber seine innere Haltung zu ihnen. Nunmehr wird das ihm zuteilwerdende Leid als bösartiges Handeln von Feinden benannt und nunmehr wendet er sich in seiner Klage wieder direkt an Gott und fordert ihn auf, als Löser zu dienen. Die Botschaft des Liedes: Während eine vorbehaltlose Klage droht, in Gott nur noch das nachstellende Raubtier sehen zu können, vermag die richtige innere Einstellung zu Leid und Unheil ein vertrauensvolles Glaubensverhältnis zu Gott zu bewahren. 6.3.3.2.2 Der Zorn Gottes als Deutungskategorie des individuellen Leidens? Auch in Klgl 3 spielt die Zornes-Terminologie eine Rolle. Gleich zu Beginn des Liedes wird in V 1 mit dem Begriff ‫ שבט עברתו‬Stab seines Zornes einerseits der Bezug zu Klgl 2 hergestellt, andererseits die folgende Schilderung des persönlichen Leidens des Mannes als ein durch den göttlichen Zorn verursachtes charakterisiert. Am Ende des Liedes, in V 66, bittet der Mann Gott, die Feinde im ‫אף‬ Zorn zu verfolgen und zu vernichten. Hier ist der göttliche Zorn Reaktion auf das Handeln der Feinde. Im Zorn realisiert sich Gottes Löserfunktion (V 58f.) für den Mann. Schließlich wird der Zorn Gottes auch in V 43 von der Wir-Gruppe ins Spiel gebracht, als es darum geht, Gottes Handeln in Reaktion auf die eigenen

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Verbrechen zu beschreiben. An drei wichtigen Stellen des Liedes findet sich somit die aus Klgl 1–2 vertraute Terminologie vom Zorn Gottes als Deutungskategorie des Erlebten. Auffällig ist allerdings, dass in der Mittelsektion ein derartiger Hinweis vollkommen fehlt – und die dort entwickelte Theologie auch nicht ohne weiteres mit der Zorn-Gottes-Vorstellung vereinbar ist: Nach der paränetischen Unterweisung der V 22–33 ist die vernünftige, angemessene Weise, auf die der Mensch sich zum göttlichen Zorn verhalten sollte, die eines geduldigen Ertragens, verbunden mit kritischer Selbstprüfung. Schon die erste Sektion schilderte eindringlich die Auswirkungen des göttlichen Zornes auf den Mann als Individuum – und zwar, ohne die Frage nach eigener Schuld überhaupt zu stellen. Eine solche Sicht individualisiert das Gott-Mensch-Verhältnis und fasst den göttlichen Zorn als eine Kategorie auf, die ganz konkret Individuen trifft. Damit wird die an sich politische Kategorie allerdings erheblich strapaziert. Der sich über Völker oder Städte ergießende Zorn lässt sich schwer als etwas fassen, dass dem je-einzelnen Menschen als individuelle Prüfung auferlegt ist. Diese Individualisierung einer an sich politischen Kategorie hat aber Konsequenzen für den Erweis Gottes’ heilbringenden Handelns in der Welt. Die Wirksamkeit Gottes Handelns muss sich dann ebenfalls ganz konkret im täglichen Leben des Einzelnen, der den Zorn demütig erträgt, erweisen – diesen Punkt machen die V 34–36 der Mittelsektion stark. Der zwischen Rhetorik und Anschuldigung schillernde V 36b: ‫ אדני לא ראה‬Der Herr hat dies nicht gesehen!? deutet an, dass es mit dem Erweis der vorher bezeugten nach wie vor wirksamen göttlichen Huld und dem nicht Enden seiner Erbarmungen nicht immer um das Beste bestellt ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass ein empirisch grundgelegtes Theologieverständnis, wie es der Weisheit eigen ist, mit der an sich politischen ZornGottes-Kategorie, die ursprünglich in der prophetischen Theologie beheimatet war, nicht ohne weiteres harmonisierbar ist. Der Zorn Gottes als reaktive Kategorie, die eine vorherige Fehlentwicklung durch Zornhandeln korrigiert bzw. straft, verträgt sich nicht mit dem frei und souverän agierenden Gott von Klgl 3,37–39.920 Zudem hat die Zornes-Kategorie nur begrenzte Plausibilität, wenn es um die Verständlichmachung individuellen Leidens geht. 6.3.3.2.3 Konstruktiver Umgang mit der eigenen Schuld In Klgl 1 spielte das Thema »Schuld« eine große Rolle. Das Lied ließ keinen Zweifel daran, dass das Gericht, das über Israel hereinbrach, in seinem Ausmaß gerechtfertigt war. Die Verantwortung für das Elend, das Zion erleiden musste, hatte sie selbst zu tragen. In Klgl 2 hingegen spielte die Schuld Zions nur eine sehr 920 Miggelbrink (2000), 155.

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untergeordnete Rolle. Nur in V 14 war von Zions ‫ עון‬die Rede, und selbst dort lag der Fokus nicht in erster Linie auf Zions Schuld, denn auf dem Versäumnis Zions’ Propheten, diese Schuld zu einem Zeitpunkt anzuprangern, an dem das Schicksal noch hätte geändert werden können. Im Kontrast dazu gewinnt die Klage über das Ausmaß der Katastrophe ein übermäßiges Gewicht und wandelt sich zum Ende des Liedes in eine regelrechte Abrechnung mit Gott. Klgl 3 führt eine neue Figur ein, die im dramaturgischen Ablauf der Lieder auf die Anklage Zions reagiert. Umso erstaunlicher ist es, dass das Thema der eigenen Schuld auch in Klgl 3 eine sehr untergeordnete Rolle spielt. In der ersten Sektion kommt es überhaupt nicht vor. Mit keiner Silbe lässt der Mann erkennen, dass die Situation, in der er sich befindet, eine gerechte Strafe für frühere eigene Vergehen sein könnte. Damit steht die Darstellung von Klgl 3 allerdings nicht alleine da. Die Auswirkungen des Zornes Gottes auf ein Individuum – insbesondere dann, wenn dieses nicht ein König o. ä. ist, der als Repräsentant seines Volkes gilt – sorgen innerbiblisch in erster Linie für Verwunderung und Konsternation (vgl. Ps 6; 27; 30; 77; 88; 102). »Der Zorn Gottes ist eine Kategorie der politischen Deutung größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Je individualisierter er vorgestellt wird, umso mehr verliert er an Plausibilität.«921 Die Anerkenntnis eigener Schuld findet sich lediglich in V 40–42, wo das Kollektiv nach der paränetischen Unterweisung V 22–39 nunmehr dazu aufruft, sich der Verantwortung am derzeitigen Zustand zu stellen, und dazu auch eigenes Fehlverhalten zugeben.922 Die Spärlichkeit des Befundes wird durch die verwendete Terminologie relativiert. Die Lexeme ‫ פשע‬Verbrechen und ‫ מרה‬trotzen greifen – sicher nicht zufällig – die Terminologie von Klgl 1 auf (‫פשע‬: Klgl 1,5.14. 22; ‫מרה‬: Klgl 1,18.20[bis]) und bezeichnen zusammen das bewusste, vorsätzliches Übertreten von Gesetzen und Regeln. Der Vers mach somit keinerlei Hehl aus der Verwerflichkeit des früheren Handelns; er stellt zudem klar, dass dies den Täter*innen schon zum damaligen Zeitpunkt bewusst war. Allerdings folgt auf die Selbstbezichtigung in V 42a sofort die Klage in die nach wie vor nicht erfolgende Vergebung Gottes: ‫ אתה לא סלחת‬du (aber) hast nicht vergeben! Einsicht und Bereuen des eigenen verwerflichen Handelns führt somit nicht zu der in V 32 versprochenen Reaktion Gottes (‫ כי אם־הוגה ורחם כרב חסדו‬Ja, wenn er betrübt, dann erbarmt er sich auch wieder, nach seiner großen Güte), sondern vielmehr zu einer nach wie vor anhaltenden Bestrafung. Der Befund ist interessant, insbesondere wenn man sich die (wahrscheinliche) Buchgenese vor Augen hält, in der Klgl 3 mit einiger Wahrscheinlichkeit als das 921 Miggelbrink (2000), 42, vgl. auch Assmann (2000), 54 (»spezifisch politischer Affekt«). 922 Die Formulierung in V 39: ‫ מה־יתאונן … גבר על־חטאו‬Was beklagt sich … ein Mann über seine Sünde? ist im Kontext der V 34–39 als rhetorische Frage zu verstehen und kein individuelles Schuldeingeständnis.

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letzte Lied in die Mitte einer schon bestehenden Sammlung integriert bzw. auf diese hin geschaffen wurde.923 Der fehlende Zions-Fokus führt dazu, dass eine ausführliche Beschäftigung mit der Vergangenheit unterbleibt, so dass auch die Anerkenntnis eigener Verantwortung ungeschönt, aber zugleich auch kurz und bündig erfolgt. Insgesamt stützt dies die These, dass der Fokus von Klgl 3 darauf liegt, einen konstruktiven Umgang mit dem fortwährenden göttlichen Zorn zu finden, d. h. eine Form der Klage, die produktiv bleibt.

6.3.3.3 Zusammenfassung Die vorangegangenen Beobachtungen machen deutlich, dass Klgl 3 tatsächlich wie ein Katalysator wirkt. Durch die Rede des Mannes wird der sehr enge Fokus von Klgl 2 ausgeweitet. Einerseits wird auf die Grenzen sinnvoller Kritik hingewiesen, daneben die Frage des Gerichts in den weiteren Kontext der TheodizeeFrage gestellt und insgesamt darauf fokussiert, einen für das konkrete Jetzt lebbaren Umgang mit dem nach wie vor ergehenden Gericht zu finden. Diesem Ziel, eine gleichermaßen anthropologisch gangbare wie theologisch fundierte Position zum Zorn Gottes zu finden, ordnen sich Fragen wie der nach einer etwaigen konkreten individuellen Schuld unter, ohne allerdings vollkommen unter den Tisch zu fallen. Damit wird die Diskussion nach Klgl 2 in eine neue Richtung gelenkt – es öffnet sich die Möglichkeit, in Klgl 4–5 noch weitere Standpunkte einzubringen. Zugleich macht Klgl 3 deutlich, dass die Kritik von Klgl 2 nicht von der Hand zu weisen ist. Die Darstellung der ersten Sektion benutzt bewusst Vokabular und Motivik, das in Klgl 1–2 mit Zion assoziiert ist. Hier wird deutlich gemacht, dass die dortige Klage weder relativiert wird, noch die individuellen Auswirkungen des Gerichts negiert werden. Klgl 3 macht anfangs sehr deutlich, dass die Konsequenzen des sich an Nationen oder Königreichen ausagierenden göttlichen Zornes jeweils von einzelnen Menschen getragen werden müssen. Es lenkt den Fokus bewusst auf die Bäume, nicht den Wald. Allerdings weist es gleichermaßen darauf hin, dass ein konstruktiver Umgang mit dem Gericht nur dann gefunden werden kann, wenn – gleichsam wie zum Trotz – der Glaube in die je-größere Barmherzigkeit Gottes erhalten bleibt und als Urgrund nicht versiegender Hoffnung auf die Möglichkeit einer zukünftigen Wende des Schicksals hin zu neuer göttlicher Zuwendung wirken kann. 923 Wenn man, wie beispielsweise Koenen, davon ausgeht, dass Klgl 1 und 4 Fortschreibungen eines ursprünglichen Klgl 2 sind und der Schwerpunkt auf den Erweis der eigenen Schuld in diesen Liedern unter anderem wegen des Fehlens dieses Motivs in Klgl 2 begründet ist (Koenen et al. [2015], 43*–45*), so ist es bemerkenswert, dass das zuletzt in das Arrangement integrierte Klgl 3 dem Thema der eigenen Schuld wiederum so wenig Raum beimisst.

Klgl 4 – Vertrauen in einer unlebbaren Welt?

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Klgl 4 – Vertrauen in einer unlebbaren Welt?

Nach Klgl 3 ist im Ablauf des Buches ein Ergebnis erreicht, das an sich so stehen bleiben könnte: Klgl 3 nimmt die Kritik aus Klgl 2 auf, macht allerdings deutlich, dass eine radikale Gotteskritik die der Klage innewohnende produktive Kraft zu zerstören droht. Das Lied endet mit dem Mann als gewandeltem Individuum, das seinen Gott wieder um Schutz und Restitution anrufen kann und aus dem erneuerten Glauben in die Gerechtigkeit Gottes den Anspruch ableitet, dass das Gericht nun auch über die Feinde komme. In der argumentativen Logik von Klgl 1–3 ist damit die in Klgl 2 formulierte Kritik weder negiert noch verharmlost, jedoch andererseits auch nicht ohne Einschränkung stehen gelassen worden. Gleichzeitig wäre dann aber zuzugeben, dass diese Aussage in gewisser Hinsicht banal wäre: Auf die Exposition (Klgl 1) folgt die rhetorische Zuspitzung (Klgl 2), und anschließend die theologisch und anthropologisch begründete Befriedung der Gemüter (Klgl 3). Die eigentliche Brisanz des Buches ergibt sich allerdings zu einem nennenswerten Teil daraus, dass Klgl 3 eben nicht das letzte Wort des Buches bleibt. In Klgl 4 sieht sich der Leser demgegenüber mit einer grundsätzlich gewandelten Situation konfrontiert. Dies geschieht zum einen auf struktureller Ebene. So wandelt sich das Versschema vom dreizeiligen zu einem zweizeiligen Vers, der nun wieder das schon aus Klgl 1 und 2 bekannte akrostichische Schema verwendet. Die Häufigkeit von Enjambements geht signifikant zurück.924 Inhaltlich sieht sich der Hörer wieder in ein Setting versetzt, das, trotz Abweichungen im Einzelnen, an Klgl 1–2 erinnert. Die Darstellung ist weitgehend auf den Stadtbereich von Jerusalem beschränkt, und schildert, zum Teil von Rückblenden unterbrochen, die Folgen der Belagerung und Zerstörung Jerusalems.925 Diese Veränderungen werden manchmal als Reduktion oder Abfallen unter ein vorher höheres Niveau beschrieben.926 Der Rückgang an poetologischer Komplexität fungiere als subtiles Signal für den Hörer, um das bevorstehende Ende des Buches anzudeuten. Eine solche Deutung übersieht die inhaltlichargumentative Dynamik der letzten beiden Lieder, die im Vergleich zu Klgl 3 keinesfalls in Bedeutung abfallen.927 Es ist ebenso möglich, den durch die Ver924 Dobbs-Allsopp (2001a), 373f. 925 Eindeutig hier V 12b: ‫ כי יבא צר ואויב בשערי ירושלם‬dass einziehen Bedränger und Feind durch die Tore Jerusalems. Auch der Hinweis in V 20 auf den ‫ משיח יהוה‬Gesalbten des Herrn, der »gefangen in ihren Gruben« weilte, sowie die Affirmation ‫ תם־עונך בת־ציון‬vollendet ist deine Schuld, Tochter Zion in V 22 machen deutlich, dass die Tage der Belagerung, Einnahme und Zerstörung der Stadt vorüber sind. 926 So z. B. Dobbs-Allsopp (2002), 129: »formal diminishment« oder O’Connor (2002), 58. 927 Die Bestimmung von Klgl 3 als das inhaltliche Zentrum des Buches wurde beispielsweise von Lina-felt (2000), 5–13 kritisiert.

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kürzung der Verse erzeugten Effekt als Intensivierung zu beschreiben.928 Dies gilt einerseits bezüglich der nun nochmals verdichteten Sprache, die eine Fülle äußerst farbiger sprachlicher Bilder zum Ergebnis haben, aber auch bezüglich der nun nochmals verkürzten Zeit, die den Rezipierenden zur Verfügung steht, die evozierten Bilder und Eindrücke zu verarbeiten. Wie sich zeigen wird, arbeiten beide Effekte Hand in Hand, um die für Klgl 4 so charakteristische beklemmende Stimmung zu erzeugen. Von den Ähnlichkeiten in Thema, Setting und poetischer Form abgesehen, überwiegen allerdings auch bezüglich Klgl 1–2 die Unterschiede: Weder ist der für Klgl 2 charakteristische Fokus auf die umfassende Zerstörung der Stadt und des Umlandes erkennbar,929 noch ist die in Klgl 1 präsente politisch-relationale Perspektive von größerer Relevanz.930 Auch die Personifizierung der Stadt ist nur noch in Ansätzen vorhanden. Die dramaturgische Dynamik von Klgl 1–3, die sich im »Gespräch« zwischen Sprecher, Zion und Mann entwickelte, wird somit entweder gar nicht, oder zumindest auf anderer Ebene fortgesetzt. Der Eindruck einer gewissen Zäsur nach Klgl 3 wird auch durch den Umstand verstärkt, dass die Verkettung bzw. Vernetzung des Liedes mit seinen jeweiligen Nachbarn erheblich reduziert ist.931 Zwar finden sich durchaus wiederkehrende Themen und Motive, jedoch nicht in der Intensität, wie es von Klgl 1–3 vertraut war. Im Vorgriff der Ergebnisse der Analysen kann man formulieren, dass sich auf der Buchebene das, wovon im Lied die Rede ist, nochmals spiegelt. Die Beziehungsunfähigkeit, von der im Lied die Rede ist, und die auch in der Wortwahl des Dichters durchscheint, zeigt sich auch in der Relation des Liedes zu seinen Nachbarn.

928 Wie in der Forschung vereinzelt auch geschehen: Hunter (1999), 59, Dobbs-Allsopp (1997), 41. 929 Einen der wenigen diesbezüglichen Hinweise könnte V 9 bieten, der auf die umliegenden Felder der Stadt verweist. Allerdings lässt der Ausdruck ‫ תנובת שדי‬Dtn 32,13 und Ez 36,30 anklingen und steht dort jeweils als Bild für sättigende Fülle, die mit der Gefahr des Hungers ( jew. ‫ )רעב‬kontrastiert wird. Der Fokus liegt nicht auf dem Feld als landwirtschaftlicher Nutzfläche und damit Teil des städtischen Umlandes. 930 Unbenommen des in V 17 angesprochenen ‫ גוי לא יושע‬Volk, das nicht hilft, sowie der in V 21f. direkten Anrede an Edom. Ob sich V 17bβ auf Edom bezieht oder eher auf Ägypten (vgl. Jes 30–31 [Jes 30,5: ‫ ;]עם לא לעזר‬Jer 37,5–11), ist letztlich nicht entscheidbar, wobei Ägypten sicher die plausiblere Annahme ist. Dies nicht zuletzt, weil die V 21f. sich in die prophetische Tradition einreihen, Edom zu verfluchen und somit unabhängig von V 17 stehen können (Berges [2002], 238). 931 S. o. Kap. 5.

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Klgl 4 – Vertrauen in einer unlebbaren Welt?

6.4.1 Gliederung Die für die Auslegung von Klgl 1–3 verfolgte Gliederung in Sektionen, Stanzen und Sub-Stanzen führt auch für Klgl 4 weiter. Sie kann von einer Reihe problemlos zu identifizierender Textsignale ausgehen. So sind die V 21–22 inhaltlich ebenso deutlich vom Vorangehenden abgesetzt und durch die doppelte Nennung des Titels ‫ בת־אדם‬gerahmt, wie V 1–2 durch das Thema und die zweifachen ‫איכה‬Rufe eine Einheit bilden. Einige Verse bieten allgemeinere, interpretierende Zusammenfassungen: So ist V 11 deutlich als Zäsur zu erkennen: Der göttliche Zorn findet sich nur hier (dafür jedoch mit gleich drei Ausdrücken) thematisiert, es ist die erste Nennung des Tetragramms innerhalb des Liedes und erstmals wird der Gedanke einer Erfüllung, Vollendung, eines Zum-Ziel-Bringens des göttlichen Zornes formuliert. Ähnlich bieten V 6 und 16 allgemeine Einschätzungen. Die Feingliederung kann sich an diesen Eckdaten orientieren: Die erste Sektion (V 1–11) gliedert sich in zwei Stanzen (V 1–6.7–11). V 1–6 lassen sich in V 1– 2, V 3–4 (Hunger der Kinder und Säuglinge) und V 5–6 (Hunger der Oberschicht) gliedern. Mit V 7 beginnt ein neuer Gedanke, der sich auf syntaktischer Ebene durch die kontinuierliche Verwendung von Komparativen (V 7: »reiner als«, »weißer als«, »rötlicher als«; V 8: »schwärzer als«) äußert. Die auffällige Häufung von Farbadjektiven, sowie der prägnante Einst-Jetzt-Vergleich sprechen für eine Gliederung in V 7–8 sowie V 9–10.11. V 9f. haben wieder den Hunger zum Thema, diesmal in engster Verbindung mit dem Motiv Tod. V 11 formuliert, das Stichwort »kochen« und »Trauerspeise« in der Formulierung ‫)אש( תאכל יסודותיה‬ (Feuer) fraß ihre Grundmauern aufnehmend, eine deutende Zusammenfassung der gesamten ersten Sektion.932 1. Sektion: V 1–11 Stanze I (V 1–2) Stanze II (V 3–6) Stanze III (V 7–11)

(2 Strophen) Sub-Stanze (V 3–4) Sub-Stanze (V 5–6) Sub-Stanze (V 7–9) Sub-Stanze (V 10–11)

(2 + 2) Strophen (3 + 2) Strophen (= 11 Strophen)

932 So auch Berges (2002), 235. Auch O’Connor (2002), 64 und Dobbs-Allsopp (2002), 132 grenzen V 11 von V 10 ab. Alternativ kann man darauf hinweisen, dass die Komparative auch in V 9 noch fortgesetzt und auf die Spitze getrieben werden. Zudem formuliert V 9 seine fast schon zynische Bewertung mit Hinblick auf V 7–8. V 10–11 wiederum sind verbunden durch den Konnex von Kochen/(Fr)essen und Tod/Zerstörung, wie auch die Nennung von ‫ בת־עמי‬und ‫ציון‬, und beschließen insgesamt die erste Sektion. Bei im Einzelnen differierender Begründung gliedern z. B. Renkema (1998), 511.518 oder Berlin (2002), 108 daher in V 7–9.10–11.

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Stanze IV (V 12–16) Stanze V (V 17–20)

2. Sektion: V 12–22 Sub-Stanze (V 12–13) Sub-Stanze (V 14–15.16) Sub-Stanze (V 17–18) Sub-Stanze (V 19–20)

Stanze VI (V 21–22)

(2 + 3 Strophen) (2 + 2 Strophen) (2 Strophen) (= 11 Strophen)

Übersicht 19: Gliederung von Klgl 4

In der zweiten Sektion fällt der abrupte Einsatz einer Wir-Gruppe in V 17 auf, der die Zäsur nach dem deutenden V 16 noch unterstreicht. V 12–16 präsentiert zwei Gedanken: Während V 13 auf V 12 aufbaut und die Konsequenzen der Schuld der Priester und Propheten für die Stadt beschreibt, thematisieren V 14–15 das Schicksal jener Priester und Propheten selbst. Davon abgesetzt formuliert V 16 eine zusammenfassende Aussage, die, wie schon V 6.11, die »göttliche Sicht« der Dinge präsentiert. V 17–20 sind ihrerseits in das Geschehen innerhalb der Stadt (V 17–18), sowie außerhalb der Stadt (V 19–20) unterteilbar.

6.4.2 Exegetische Anmerkungen Ist auch Klgl 4 insgesamt weniger mit den angrenzenden Liedern vernetzt, so stellen V 1–2 davon eine deutliche Ausnahme dar. Auf engstem Raum findet sich hier Verbindungen zu den vorangegangenen Liedern und vieles dessen angedacht, was im weiteren Lied von Bedeutung ist. Prägnant ist einerseits das rahmende ‫איכה‬, das auf den Beginn von Klgl 1.2 verweist, und einen ersten Hinweis darauf gibt, dass nun, nach der weitgehend zeit- und ortlosen Darstellung von Klgl 3, wieder der vorherige Schauplatz des Geschehens aufgesucht wird. Unterstützt wird dies durch den Ausdruck ‫( יועם זהב‬wie) verdunkelt (ist) das Gold in V 1aα und die Verwendung von ‫ שפך‬schütten in V 1bα. Während ‫ שפך‬auch in Klgl 2 eines der bestimmenden Leitverben war, d. h. eher den Zusammenhang mit dem Bisherigen schafft,933 hat das Bild des verdunkelten Goldes sowohl eine rückwie auch vorausschauende Funktion. Einerseits erinnert es an den in Klgl 2,1 933 Die Wurzel ‫ שפך‬findet sich nur in Klgl 2 und 4, und ist mit insgesamt vier Vorkommen in Klgl 2 (V 4.11.12.19) und drei in Klgl 4 (V 1.11.13) jeweils einen der Leitbegriffe der Lieder. Deutlich lässt dabei die Formulierung aus Klgl 4,11: ‫( )יהוה( שפך חרון אפו‬JHWH) hat die Glut seines Zornes ausgegossen an Klgl 2,4: ‫( )יהוה( שפך כאש חמתו‬JHWH) hat wie Feuer seinen Zorn ergossen erinnern, während Klgl 4,1 das in Klgl 2,11f. Gesagte anklingen lässt: In Klgl 2,11f. vergießt/verströmt (‫ )נשפך‬sich des Sprechers Leber ob des Zerfließens (‫)בהשתפך‬ der Lebenskraft der Kinder; In Klgl 4,1 sind es nun die mittlerweile toten Kinder, die hingeschüttet (‫ )תשתפכנה‬sind.

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beschriebenen Prozess der »Umwölkung« Zions. Andererseits setzt das Bild aber auch den Ton für das folgende Lied, und zwar in zweifacher Hinsicht: (1) Die dreifache Nennung von Gold934 bereitet die im weiteren Verlauf noch häufiger vorkommenden Farbadjektive und die durch sie plastisch gemachten Einst-JetztVergleiche vor. (2) Die vordergründig verwunderliche Fügung »verdunkeltes Gold« ist in ihrer Kontrafaktualität richtungweisend. Wie sich zeigen wird, operiert Klgl 4 insgesamt mit sehr plastischen, zuweilen drastischen Bildern und stellt eine Gesellschaft dar, die gleichsam auf den Kopf gestellt ist. Wenn Kaiser daher einwendet, dass Gold nicht oxydiere,935 so trifft er genau den Nerv des Liedes: Nur in einer »verkehrten Welt« umarmen Reiche Misthaufen (V 5), kochen Mütter ihre eigenen Kinder (V 10) oder finden die Priester und Ältesten keine Achtung mehr (V 16). Das glanzlos gewordene Gold führt diese das Lied durchziehende Thematik gleich zu Beginn des Liedes ein.936 Und noch ein dritter Hinweis findet sich in V 1: die Rede von den ‫אבני־קדש‬.937 Auch hier verbinden sich Rückblick und Ausblick. Einerseits erinnert der Ausdruck ‫ תשתפכנה … בראש כל־חוצות‬hingeschüttet … an den Kopfenden aller Gassen an Klgl 2,11f.19. Andererseits führt er ein Motiv ein, das gerade in der ersten Sektion von Klgl 4 wichtig wird: Die Verdinglichung von Menschen, insbesondere Kindern, als Konsequenz einer aus den Fugen geratenen Gemeinschaft. Nach V 1, der die toten Kinder der Stadt mit verstreuten Steinen – Anlass von Aufräummaßnahmen (vgl. Jes 5,25: ‫ ותהי נבלתם כסוחה בקרב חוצות‬und ihre Leichen lagen wie Abfall in der Mitte der Gassen) – vergleicht, setzt V 2 dieses Motiv mit dem Vergleich der Söhne Zions mit wertloser Töpferware, die nach Gutdünken entsorgt und deren Zerstörung oder Verlust kein Drama sind, fort. In 934 Zudem mit den drei unterschiedlichen Begriffen ‫זהב‬, ‫ כתם‬und ‫פז‬, deren semantische Binnendifferenzierung fast vollständig unmöglich ist (Kedar-Kopfstein [1977], 535f.). 935 Kaiser (1992), 171. 936 Strong (2007), 549f. leitet die Bedeutung des Verbes ‫ עמם‬vom Nomen ‫ עם‬in der Bedeutung Verwandtschaft und der Präposition ‫ עם‬mit ab. Er kommt damit zur Übersetzung Wie gewöhnlich ist Gold geworden! Auch wenn dies insgesamt nicht überzeugt, kommt es der hiesigen Deutung im Ergebnis doch nahe: Auch bei Strong würde die Pointe auf dem Eindruck der »verkehrten Welt« liegen, in der Gold keinen Wert mehr hat. 937 Über die Bedeutung wurde häufig gestritten. Zwei Deutungen werden vertreten: Entweder man versteht den Ausdruck als parallel zu den ‫ בני ציון‬des nächsten Verses. Hierfür kann man u. a. das Wortspiel zwischen ‫ בני‬und ‫( אבני‬zumal in der ‫א‬-Strophe!) geltend machen (Berges [2002], 240). Alternativ deutet man das Bild als Hinweis auf (Edel-)Steine des Tempels. Zuletzt hat noch einmal Renkema (1998), 495 versucht, für letztere Deutung eine Lanze zu brechen. Zu stark wiegen die Gegenargumente: Die Lokalangabe ‫ בראש כל־חוצות‬wird in Klgl 2,19 im Zusammenhang mit den Kindern der Stadt gebraucht; die Straßen/Gassen sind auch sonst primär mit der sterbenden/hungernden Bevölkerung assoziiert (Klgl 2,21; 4,5.8.14); der Ausdruck »kostbare Steine« taucht auch in Sach 9,16 als Metapher für Kinder auf (dort ‫ )אבני־נזר‬und nach Emerton (1967) ist ‫ קדש‬an dieser Stelle generell nicht mit »heilig« denn mit »kostbar« zu übersetzen – vgl. auch die dadurch entstehende Parallelität mit ‫ בני היקרים‬aus V 2aα.

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V 10 sind es dann erneut die toten Kinder, die nur noch als Objekte, als Trauerspeise für die Überlebenden, dienen. Mit V 3 wird eine erste Zäsur erreicht und der erste größere Abschnitt (V 3–6) eingeleitet, der konzentrisch konzipiert ist.938 Sowohl die beiden Tierarten ‫יען‬ Strauß und ‫ תן‬Schakal,939 als auch die Wüste selbst sind Chiffren für eine unheimliche, lebensfeindliche und chaotische Sphäre.940 Doch während die Schakale es selbst in dieser Umgebung schaffen, die eigenen Jungen mit Fürsorge zu behandeln, gilt dies für die ‫ בת־עמי‬nicht einmal im geordneten Bereich des Nationalstaates.941 Für die zweite Stanze im Besonderen ist der schnelle Wechsel einzelnen Bilder prägend: Von den Gassen der Stadt, auf denen die zerschlagenen Söhne Zions liegen, wechselt die Darstellung in das Innere eines Schakalbaues, um schon in der nächsten Zeile in die Weite der Wüste zu wechseln. Anschließend fokussiert sich der Blick auf hungernde Säuglinge (man nimmt an: in den Armen ihrer Mütter). Erneut in der nächsten Zeile findet man sich in den Gassen der Stadt, wobei der Blick erst auf bettelnde Kinder gerichtet ist, dann auf in den Gassen liegende Verhungernde und anschließend Misthaufen umarmende Reiche. Erst mit V 7 mündet das Lied wieder in eine etwas breiter ausgefaltete Darstellung. Das assoziative Aneinanderreihen schneller Bilder hat einen sub938 V 3 wie auch V 6 sind allgemeine Aussagen über die Stadt, die jeweils mittels Vergleichen (die größere Grausamkeit der ‫ בת־עמי‬begründet ihre größere Schuld) arbeiten. V 4.5 beleuchten dagegen jeweils einen konkreten Aspekt des Lebens in der Stadt. Zudem verwenden sowohl V 3 als auch V 6 den Titel ‫בת־עמי‬. Schließlich assoziiert V 3 durch den Verweis auf das Leben des Schakals, der häufig als Bewohner verlassener, unbewohnbar gewordener menschlicher Lebensräume dargestellt wird (Jer 9,10; 10,22; 49,33; 51,37; Jes 34,13), das Schicksal Sodoms, wie es z. B. in Dtn 29,22 geschildert wird. 939 ‫ תנין‬als aramaisierender Plural von ‫( תן‬Frevel [1995], 702). Die genaue zoologische Eingrenzung ist unsicher; es ist nicht einmal vollständig sicher, ob damit eine Canidenart (Schakal, Hyäne, Wüstenhund, Fuchs – die Übergänge zwischen ‫ תן‬und Tierbezeichnungen wie z. B. ‫ שועל‬und ‫ אי‬sind fließend) oder eher eine Vogel- bzw. Eulenart gemeint ist (Aharoni [1938], 469f.). 940 Frevel (1995), 705. 941 Der Vergleich verwundert. Häufig wird angenommen, dass sich die angesprochene »Grausamkeit« auf das fluchtartige Verlassen des Nestes beim Nähern eines Fressfeindes bezieht, dessen eigentlicher Zweck im Weglocken des Feindes vom Nest besteht (so z. B. Berges [2002], 244, Boecker [1985], 78, Berlin [2002], 106 u.ö). Doch abgesehen von der zoologischen Fehlinterpretation bleibt fraglich, worin in diesem Fall genau das tertium comparationis zur ‫ בת־עמי‬besteht, denn ein Im-Stich-Lassen, ein Fliehen im engeren Sinne kann man der ‫ בת־עמי‬schlecht vorwerfen. Auch der häufig zur Illustration herangezogene V 10 hilft nicht weiter, da die ‫ בת־עמי‬weder Personifizierung der speziell weiblichen Stadtbevölkerung ist (Hermisson [1997], 25), noch das Thema von V 10 überhaupt mütterliche Grausamkeit ist. Vielleicht ist daher Frevel (1995), 708, der auf die Tendenz von Straußen, zuweilen nicht alle Eier auszubrüten und die Eier, mit Sand bedeckt, von der Sonne ausbrüten zu lassen (vgl. Ijob 39,13–15) hinweist, eher auf der richtigen Spur. In jedem Fall ist deutlich, dass dem »Normalfall« elterlicher Fürsorge, der durch die Schakale repräsentiert wird, eine Variante, repräsentiert durch die Strauße, zur Seite gestellt wird, die sich durch das Fehlen von Fürsorge als ‫ אכזר‬grausam erweist.

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tilen Effekt: Statt dem Hörer die Zeit für eine Entschlüsselung der einzelnen Bilder zu geben, wird er von der Abfolge der Bilder gleichsam überwältigt und in ihm ein diffuses Gefühl von Bedrohung und Verstörung ausgelöst. Der Effekt erinnert an die schnelle Schnitttechnik von Filmtrailern, die nicht darauf abzielt, den Spannungsbogen eines Filmes kurz zu skizzieren, sondern durch die schnelle Abfolge dramatischer Kurzsequenzen eine emotionale Reaktion auszulösen.942 Unterstützt wird dieser Effekt durch die grelle Sprache mit unvermittelten und z. T. unklaren Wendungen. »Emotionale Distanz bzw. Ermüdung« ist ein Motiv, das das ganze Lied durchzieht.943 Es begegnete schon in V 1–2 beim Vergleich ‫ בני ציון‬mit Töpferware. Ein weiteres Beispiel findet sich in V 5.944 Neben der Bestürzung über den Hunger und das große Leiden scheint oft eine Spur Häme oder Missbilligung mitzuschwingen: Das Bild der umklammerten Misthaufen drängt sich keinesfalls auf und ist sicher nicht wörtlich zu verstehen. Doch dann ist die Verbindung von positiv konnotiertem ‫ חבק‬und dem negativ besetzten Begriff ‫ אשפת‬sicher kein Zufall.945 Darüber hinaus enthält das Bild die sarkastische Pointe, dass die Rei942 Morse (2003), 125f.: »In photomontage, it is not just the collection of fragments but the fragments themselves that are offered for reconsideration. … These pregnant images pile upon one another, like the wealthy who now ›lie in ash heaps‹ (4.5), so that the reader experiences the full force of ruin.« 943 Nicht umsonst wird Klgl 4 häufig mit Begriffen wie »odd sense of detachment« (Berlin [2002], 102f.), »diminisment, a shriveling of feelings« (O’Connor [2002], 58), »scattered and fractured« (Dobbs-Allsopp [2002], 130 u. ä. beschrieben. Und nicht umsonst bringt Reimer [2002], 554 Klgl 4 mit dem vierten Stadium eines Trauerprozesses (»Depression«) in Verbindung. 944 Gegen Koenen et al. (2015), 326, Berges (2002), 245f., Renkema (1998), 506, oder Kaiser (1992), 179 sind in V 5 nicht die in V 4 genannten Kinder, sondern die städtischen Eliten das Subjekt (so auch Berlin [2002], 106, Dobbs-Allsopp [2002], 131 und jüngst Frevel [2017], 282f.). V 4–5 bilden einen Merismus: Während Kinder für die Schutz- und Hilflosen einer Gesellschaft stehen, repräsentieren die, die Leckerbissen aßen und auf Purpur lagerten, die machtvollen Eliten. Zudem spricht auch die verwendete Terminologie eher für ein Verständnis als Erwachsene: Der engste Bezug zu ‫ מעדנים‬Leckerbissen stellt Gen 49,20 (‫מעדני־מלך‬ Königskost) dar, ‫ תולע‬steht metonymisch für mit Karmesin (‫ )שני‬gefärbte Kleidung (Kellermann et al. [1995], 578); im AT ist ‫ שני‬nirgends mit ‫ ילד‬Kind oder ‫ יונק‬Säugling assoziiert; zudem wird derartig gefärbte Kleidung zu Repräsentationszwecken eher von Erwachsenen getragen; ‫ חבק‬bezeichnet zwar eine zumeist rein freundschaftliche Umarmung, kann aber auch erotische Konnotationen tragen (vgl. Anm. 937). Zwar hat ‫ אמן‬im Kal deutlich die Bedeutung »pflegen«, »erziehen« (vgl. 2Kön 10,1) und davon abgeleitet dann zuweilen Amme (vgl. ‫ אמנת‬in 2Sam 4,4; Rut 4,16). Allerdings gibt es mit ‫ מינקת‬noch einen zweiten Ausdruck, der eindeutig Amme bedeutet (vgl. Gen 24,59; 35,8; Ex 2,7; 2Kön 11,2; 2Chr 22,11; Jes 49,23). Die Übersetzung »Die (einst) in Purpur aufgezogen« verbindet beide Aspekte. 945 ‫ חבק‬umarmen wird weitgehend im Pi’el verwendet und bezeichnet häufig eine freundschaftliche Umarmung (Gen 29,13; Gen 33,4; 48,10). Der Umstand, dass die Wurzel auch gefaltete Hände (Spr 6,10; 24,33; Koh 4,5) oder ein Festklammern am Felsen (Ijob 24,8 ‫ )חבקו־צור‬bezeichnen kann, weist darauf hin, dass der Wurzel die Konnotation sehr innigen Kontaktes eigen ist, die dann auch durch Verwendung in erotischen Kontexten belegt ist

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chen, denen man generell geneigt ist, eine ungesunde Überbewertung materieller Güter zu bescheinigen, diesen Charakterzug offenbar auch in größter Not bewahren. Innig umarmen bzw. umklammern sie Abfallhaufen, gleichermaßen in der Hoffnung, dadurch die eigene Existenz zu verlängern, als auch, sie gegen die Begehren anderer (nach Brot fragender Kinder?) zu verteidigen. Dieser kritische Akzent ist genau genommen schon in V 4 vorbereitet. Zunächst verweist der Vers zurück auf Klgl 2,11f. Dort fragten ‫ עולל ויונק‬Kind und Säugling (V 11c) nach ‫ דגן ויין‬Getreide und Wein (V 12a) – nun wird jeweils inversiert: Erst werden die Säuglinge genannt, dann die Kinder, erst wird ihr Durst beschrieben, dann der Hunger thematisiert. Anders jedoch als in Klgl 2, wo der Hunger der Kinder ausdrücklich als lebensbedrohlich bezeichnet wird (V 12c: ‫ בהשתפך נפשם אל־חיק אמתם‬beim Zerfließen ihrer Lebenskraft im Schoße ihrer Mütter) und daher zu intensivierter Klage führt, ist das Moment intensivierter Klage in Klgl 4 abwesend. Vielmehr liegt der Fokus auf dem Ausbleiben der Bedürfnisstillung durch die Erwachsenen. ‫ פרש אין להם‬in V 4bβ müsste wörtlich mit »Einen Brotbrecher gab es für sie nicht« übersetzt werden. Zwar ist der Hunger der Kinder fraglos das übergreifende Thema, doch spricht die konkrete Aussage nicht von fehlendem Brot. So wie Klgl 1 insbesondere das Fehlen eines Gegenübers beklagt, der die soziale Funktion des Tröstens übernimmt,946 geht es hier zwar auch um den Hunger der Kinder, doch in erster Linie um das am Bild der hungernden Kinder thematisierte Fehlen von Fürsorge, Hilfsbereitschaft und Mitgefühl. Mit V 6 endet die zweite Stanze. Nach der Abfolge schneller Bilder in V 3–5 wird ein erster Ruhepunkt gesetzt. Der Vers bekommt damit auch durch die längere Verweilzeit, die dem Hörer gewährt wird, besonderes Gewicht. In den Kommentaren wird der Vergleichspunkt zwischen Sodom und der ‫ בת־עמי‬meist in der in V 6b angesprochenen Plötzlichkeit des Gerichts gesucht: Während Sodom ‫ כמו־רגע‬wie im Nu zerstört wurde, mussten die Bewohner Zions das Gericht in einem quälend langsamen Prozess erleiden.947 Eine derartige Deutung kann sich neben V 6b auch auf V 9 stützen, wo dem langsamen Hungerstod der schnelle Tod durch das Schwert vorgezogen wird. Erstaunlich ist dabei, dass die

(Hld 2,6; 8,3). ‫ אשפת‬Unrat/Asche-/Misthaufen begegnet einerseits in 1Sam 2,8 und dessen Parallele Ps 113,7. Dort wird der Begriff üblicherweise mit »Schmutz« übersetzt. Ansonsten findet er sich in Neh 2,13; 3,13f.; 12,31. Hier bezeichnet er jeweils das Mist- bzw. Aschetor (Otto [1995a], 387f.). Nach van Selms (1979), 175 wäre die Übersetzung von ‫ אשפת‬doch eher in der Richtung »Asche« oder »Feuerplatz« zu suchen. Unabhängig von der exakten Übersetzung ist die Implikation klar: Sowohl in einem Abfall- wie auch einem Aschehaufen mögen Essensreste zu finden sein; ihr Verzehr und eifersüchtiges Verteidigen sind Anzeichen äußersten Hungers und Verzweiflung. 946 Anderson (1991), 84–94. 947 Exemplarisch: Berges(2002), 246, Kaiser(1992), 180, Renkema (1998), 510.

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zwei augenscheinlichsten biblischen Bezüge nur sehr begrenzt für eine inhaltliche Deutung herangezogen werden. Zum einen ist zu bedenken, dass der Erzählung der Zerstörung Sodoms eine ausgefaltete Diskussion über die Grenzen göttlicher Gerechtigkeit vorausgeht (Gen 18,16–33): Die Erzählung setzt damit an, dass Gott Abraham darüber informiert, dass er sich über die Zustände in Sodom selbst ein Bild zu machen gedenkt (Gen 18,16–22). Abraham, das Ergebnis dieser persönlichen Prüfung ahnend, steuert sofort auf den Kern des Problems zu: »Willst du auch den Gerechten (‫ )צדיק‬mit dem Ruchlosen (‫ )רשע‬wegraffen?« (Gen 18,23) Abraham ringt JHWH durch sukzessive Nachfragen die Versicherung ab, dass schon eine Handvoll Gerechter in Sodom das Gericht verhindern würde. Abraham treibt die Argumentation nicht zu ihrem logischen Ende – doch die implizite Aussage ist deutlich: »[T]here is more injustice in the death of a few innocent than in the sparing of a guilty multitutde.«948 Wenn in Klgl 4 das Schicksal der unschuldigen Kinder die Kontrastfolie für die Schlussfolgerung von V 6 bietet, sollte dies zu denken geben.949 Zum zweiten ist Sodom ein hauptsächlich in der Gerichtsprophetie angesiedelter Topos, der verwendet wird, um die Sünden einer Stadt, eines Landes mit der sprichwörtlichen Bosheit Sodom und Gomorrhas zu vergleichen.950 Die Aussage, dass die Schuld Zions größer als Sodoms sei, findet sich allerdings nur noch in Ez 16,48. Dort wird die Schuld Sodoms jedoch gerade nicht (wie üblich) als Verstoß gegen Sexualvorschriften und das Gebot der Gastfreundschaft aufgefasst. Vielmehr wird auf Übermut, Gedankenlosigkeit und unterlassener Nächstenliebe an den Armen und Elenden (‫ )עני ואביון‬verwiesen. Sicherlich ist die Sodom-Tradition variabel und ermöglicht, dass eine Vielzahl von Sünden und Vergehen auf sie bezogen werden können,951 doch dann sollte nicht unbeachtet bleiben, wenn gerade die Stelle des AT eingespielt wird, die nicht nur die größere Sünde Zions kennt, sondern jene auch noch an mangelnder Nächstenliebe und Bescheidenheit festmacht. Kombiniert man beide Beobachtungen, bietet sich folgende Interpretation von V 6: Das »Größere« der Bestrafung Zions ist weniger im Ausmaß ihrer Schuld vor der Katastrophe zu suchen: Wie Gen 18,16–22 deutlich macht, ist das Leiden 948 Crenshaw (1970), 385. Konsequenterweise rettet JHWH den auch die wenigen Gerechten aus der Stadt (Gen 19,12–17). 949 Daran anschließend ließe sich mit Renkema (1998), 510 fragen, ob in der Formulierung von V 6b (ähnlich wie schon in Klgl 1,10) ein Vorwurf göttlichen Selbstwiderspruchs stecke: »Does YHWH really take pleasure in attenuated suffering? … If it had been YHWH’s sole intention to put an end to Judah’s iniquity then a swift and merciful death such that of Sodom would clearly have sufficed.« 950 Mulder (1986), 766. 951 Mulder (1986), 767.

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weniger Unschuldiger ein weit größeres Unrecht als die ausbleibende Bestrafung einer schuldigen Mehrheit. Vielmehr ist es eine Reaktion auf das sich durch die Not der Belagerung hindurch ziehende Sündigen der Bevölkerung: Noch immer werden die Nöte der Ärmsten und Schwächsten missachtet (V 4), suchen die einstigen Eliten, ihren Besitz gegen fremde Begehrlichkeiten zu verteidigen (V 5b), und ergreifen, wenn sich die Möglichkeit ergibt, die Flucht (V 17–20). Die Solidargemeinschaft spielte für sie nach wie vor keine Rolle – sie verhielten sich auch während des schon ergehenden Gerichts noch immer wie die »grausamen« Strauße.952 Zugleich kommt auch Gott nicht ungeschoren davon: Sowohl dem Grundsatz, dass er nicht von Herzen erniedrige (Klgl 3,33), wie auch, dass die Bewahrung weniger Unschuldiger wichtiger sei als die gerechte Bestrafung einer Vielzahl von Sündern, scheint Gott untreu geworden. Mit V 7 beginnt die zweite Stanze der ersten Sektion. Die Darstellung verlangsamt sich, insofern V 7–8 einen Gedanken ausführen, der erst in V 9 zu seinem logischen Ende gebracht wird. Dies führt jedoch nicht zu einer weniger beklemmenden Darstellung. Vielmehr geht die Verlangsamung mit einer umso plastischeren Beschreibung (vgl. die Häufung von Farbbegriffen) einher. Dabei wenden sich V 7–8 erneut der städtischen Führungsschicht zu.953 Üblicherweise wird ‫ נזיריה‬hier mit »ihre Vornehmen/Fürsten« übersetzt, was jedoch unnötig erscheint. Nach Mayer besteht »zwischen Nazir und Gott eine so enge Beziehung …, daß der Angriff auf die Integrität des einen den anderen trifft.«954 Gerade, weil in V 6 die Sündenthematik erstmals angesprochen wurde, können die ebenso verwahrlosten Naszire als lebender Ausdruck eines grundlegend gestörten Gottesverhältnisses gelten.955 Dass deren Verwahrlosung lediglich beschrieben wird 952 Folgerichtig spricht auch erst V 11, der den Zeitpunkt der Eroberung der Stadt nach der Belagerung schildert, davon, dass der Zorn Gottes ‫ כלה‬vollendet/Zum Ziel gekommen sei. 953 Es ist auffällig, wie viel Raum das Lied den oberen gesellschaftlichen Schichten gewährt. Schon der Ausdruck in V 2aβ: ‫ המסלאימ בפז‬die mit Gold Aufgewogenen (Part. Pu’al von ‫= סלא‬ ‫ סלה‬eigentlich »bezahlen«) evoziert auf der Bildebene primär jene, die ein solches Aufwiegen mit Gold finanziell überhaupt leisten können. V 5 thematisiert die Eliten ebenso, wie V 7–8. Auch V 9 scheint sich eher auf Erwachsene zu beziehen. Ebenso haben die V 13–15.16 diejenigen im Blick, die in gesellschaftliche Leitungsfunktionen innehaben. V 17–20 schließlich lässt eine Wir-Gruppe zu Wort kommen, die sich ab V 19 auf der Flucht vor Verfolgern befindet – ebenfalls keinesfalls ein Vorgang, der mit Kindern oder den Schwachen und Armen assoziiert ist. Wenn somit Berges (Berges [2000], 6, Berges [2002], 176) den Hunger der Kinder als eines der Motive identifiziert, die Klgl 2 und Klgl 4 verbinden, so lässt das das deutliche Ungleichgewicht, das diesem Motiv in beiden Liedern zukommt, außer Acht. 954 Mayer (1986), 330. 955 Vgl. Jes 1,18: Wären eure Sünden (‫ )חטאיכם‬auch wie Karmesin (‫)חטאיכם כשנים‬, sie sollen werden wie Schnee (‫)כשלג‬, wären sie rot wie Purpur (‫)יאדימו כתולע‬, sie sollen werden wie Wolle (‫)כצמר‬. Die Weiß- und Reinheit der Nasire sind mit der Sündlosigkeit verknüpft, die das besondere Gottesverhältnis der Nazire kennzeichnet. Dass Nazire nicht durch gesteigerte Reinlichkeit auffielen (Rudolph [1962], 248), geht an der Sache vorbei.

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und weder beim Sprecher noch bei den Stadtbewohner*innen zu einer emotionalen Reaktion führt, verdeutlicht den entrückten, ermatteten Zustand, der im Lied beschrieben wird. Nachdem in V 8 in sehr plastischen Worten das einst strahlende Aussehen mit der verschmutzten, »verdorrten« Realität kontrastiert wird, zieht V 9 den zynischen Schluss, dass angesichts einer derartigen Existenz ein schnelles Ende allemal vorzuziehen wäre. Dass damit die Aussage der (parallelen) ‫ט‬-Strophe von Klgl 3,25–27 vollständig konterkariert werden, ist sicherlich in erster Linie dem akrostichischen Schema geschuldet. Auf der Rezeptionsebene hingegen bleibt es gleichwohl relevant, zumal ja auch in V 6 die Frage aufkam, was von den weisheitlichen Unterweisungen der Mittelsektion von Klgl 3 zu halten wäre. Stärker noch als bisher ist in V 9 die emotional distanzierte Grundhaltung des Liedes erkennbar. Dies zeigt sich einerseits in der fast schon zynischen Art, in der der Vers über menschliches Leben und Leiden spricht. Andererseits erzählt aber auch der Text selbst von zunehmender Ermattung und dem Versiegen jeglichen Lebenswillens. In Klgl 3 ging es darum, dass der Wille zum Leben grundlegend für jegliche Hoffnung auf Überleben ist. Survival literature beschreibt beispielsweise immer wieder, wie wichtig es in Extremsituationen ist, sich allen Widrigkeiten zum Trotz zu reinigen: »By passing through the degradation of the camps, survivors discovered that in extremity a sense of dignity is something which men and women cannot afford to lose. … They learned, furthermore, that when conditions of filth are enforced, befoulement of the body is experienced as befoulment of the soul. And they came to recognize, finally, that when this particular feeling – of something inwardly untouchable – is ruined beyond repair, the will to live dies. To care for one’s appearance thus becomes an act of resistance and a necessary moment in the larger structure of survival. Life itself depends on keeping dignity intact, and this, in turn depends on the daily, never finished battle to remain visibly human.«956

Vor diesem Hintergrund hinterlassen die V 7–9 tatsächlich einen grausigen Eindruck: Schon im Bild der die Misthaufen umklammernden Reichen (V 5) ist körperliche Reinheit eine offenbar vernachlässigbare Größe. In V 8 ist sie dann zu einem unerreichbaren Zustand geworden, und in V 9 ist die Konsequenz daraus zu erkennen: Von einem Willen zum Leben ist nichts mehr zu spüren, was zählt ist 956 Des Pres (1980), 64; Herv. i. Orig. Der hermeneutische Gewinn, den Survival Literature für die Exegese der Klgl darstellt, wird mittlerweile immer deutlicher gesehen: Für Linafelt (2000), 19–34 stellt sie den hermeneutischen Dreh- und Angelpunkt seiner Klgl-Interpretation dar. Wilson (2012) votiert für ein »post-holocaust reading« der Klgl um die zeitliche, räumliche und emotionale Distanz heutiger Leser zu überwinden. Ähnliche Bemerkungen finden sich auch in O’Connor (2002), 5f., Morse (2003), 127 und Dobbs-Allsopp (2002), IX.

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ein Ende der Qualen. Die Verse laufen auf einen Zustand zunehmender Entmenschlichung hinaus. In V 10 findet diese Bewegung ihren Höhepunkt: Selbst die Teknophagie ruft nur eine begrenzte emotionale Reaktion mehr hervor – von einer Szene wie in Klgl 2,20, wo Frau Zion mit gerade diesem Vorwurf Gott all ihre Not und Verzweiflung entgegenwirft, kann keine Rede mehr sein.957 Wie weiter oben schon angedeutet, geht es an dieser Stelle nicht darum, die Mütter als »grausam« im Sinne von V 3 zu zeichnen.958 Vielmehr stehen die Kinder für die Zukunftsfähigkeit der (angesprochenen) Erwachsenengeneration, die im Verzehr aufgegeben wird.959 Damit schließt sich der Kreis: Zum Beginn und am Ende der ersten Sektion sind Kinder bzw. Menschen zu reinen Objekten degradiert. Nach der vorausschauenden Andeutung in V 1 wird, beginnend mit V 3, die Entwicklung hin zu diesem Zustand beschrieben: Die Situation göttlicher Vergeltung führt nicht zu Schuldeingeständnis und Umkehr (wie dies z. B. in Klgl 1,18 oder 3,40–42 der Fall war), sondern perpetuiert alte Unrechtsstrukturen und schafft neue. Dabei führt das anhaltende Gericht zunehmend dazu, dass Menschen ihre Würde und ihren Lebenswillen verlieren, was zu emotionaler und seelischer Ermattung und folgendem Tod führt. Mit V 11 endet die erste Sektion. Prominent im Zentrum des Liedes wird in drei Begriffen (‫חמה‬, ‫חרון‬, ‫ )אף‬der göttliche Zorn in seinem umfassenden Wüten beschrieben. ‫ כלה‬beschreibt hier das »ans Ziel kommen«, »zur Vollendung bringen« des göttlichen Zornes,960 verdeutlicht durch ein derart umfassendes Feuer, das ihm selbst die Fundamente nicht widerstehen können (ein Motiv, das aus Klgl 1,13; 2,3f. vertraut ist). Anders als in Klgl 2 wird die Vollständigkeit der 957 Anders als in Klgl 2,20 ist nicht mehr von ‫( פרים‬Leibes)Frucht und ‫( עללים‬Klein-)Kindern die Rede, sondern von ‫ילדים‬, dem allgemeinen Ausdruck für Kinder. Statt durch das Verb ‫אכל‬ essen den Fokus auf den grausigen Vorgang des Verzehrs zu lenken, hebt Klgl 4 den funktionalen Aspekt ‫ בשל‬kochen hervor. Gleiches gilt für die Formulierung ‫ הוי לברוי למו‬wurden zur Speise. Lediglich der Ausdruck ‫ רחמני‬liebevoll hebt auf eine intensivierte Emotionalität ab. Auch in Klgl 4 bleibt der göttliche Bezug durch die Parallelisierung von V 10: ‫ בשל‬kochen mit V 11: ‫ אכל‬essen erhalten. Doch auch hier arbeitete Klgl 2 mit größerer Intensität: In V 20 aßen (‫ )אכל‬die Frauen – während die erste Sektion ausführlich JHWHs Verschlingen (‫;בלע‬ V 2.5[bis].8) schilderte. 958 Gegen Berges (2002), 244. 959 Michel (2003), 208: »Jenseits des Grauens der Anthropophagie an den eigenen Kindern selbst wie auch der dusteren Konsequenzen für die aufgegessene und nicht bestattete Person beraubt sich der Teknophage doppelt seiner Zukunft, wenn er an die eigenen Kinder Hand anlegt (bzw. wird er, durch das Verscheiden seiner Sohne und Tochter, doppelt der Zukunft beraubt): Mit dem ganz konkreten Verlust seiner Nachkommenschaft entgeht ihm post mortem auch jede Möglichkeit der Totenpflege.« Ähnlich auch O’Connor (2002), 62. 960 Helfmeyer (1984), 168: »Nicht auf dem »Abschließen« liegt bei ka¯la¯h der Ton, sondern eher auf dem »Zum-Ende/Ziel-Bringen/Kommen« einer Handlung bzw. eines Vorganges.« Dementsprechend bezeichnet der Pi’el »nicht nur das Ende von etwas, sondern berücksichtigt auch den Weg dorthin und beschreibt das Ziel dieses Weges.« (ebd., 170).

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Zerstörung nicht in ihrer Auswirkung auf die Stadt, sondern in ihren Konsequenzen für die Bevölkerung beschrieben. In beiden Fällen geht es um die Darstellung eines umfassenden Gerichts, das zu vollständiger Zerstörung der Halt gebenden Strukturen führt. Damit ist hier nicht einfach der Tod der Bevölkerung gemeint. Vielmehr geht es um eine vollständige Zerstörung des »sozialen Kittes« einer Gesellschaft, dem Zerstören von Solidarität und Fürsorge, Empathie und Lebenswillen, Respekt vor Leben und Tod.961 Kurz: Das Gericht ist (erst) dann erfüllt, wenn nicht der Tod, sondern das Weiterleben als die größere Strafe erscheint. Die Verantwortung für eine derart umfassende Abrechnung wird der Bevölkerung selbst angelastet. In V 3–6 geschieht dies nur in sehr subtilen Andeutungen – jedoch lässt es die zweite Sektion hier an Deutlichkeit nicht missen. Die Darstellung ändert sich ab V 12 in mehrfacher Hinsicht. Während bislang relativ kurze, impressionsartige Bilder dominierten, stehen nun zwei länger ausgeführte Szenen im Vordergrund. Und waren in der ersten Sektion Hunger, Schmutz und körperliche und seelische Verwahrlosung die prominenten Themen, rückt nun das Schicksal konkreter Bevölkerungsgruppen in den Fokus. Die erste Szene umfasst die V 12–16: V 12–13 bilden hierbei eine erste Einheit, V 14–15, die sich mit dem Schicksal der Priester und Propheten nach der unmittelbaren Zerstörung der Stadt befassen, die zweite. V 16 formuliert daraufhin eine kurze Zusammenfassung. Dass dabei anfangs eine dritte Instanz in Form von Zuschauern oder Vorbeigehenden herangezogen wird, ist aus Klgl 1,12.18; 2,15f.; 3,14.45 schon bekannt. Allerdings ändert sich die Funktion. Während sie in Klgl 1 noch relativ neutral auftreten und als Zeugen angerufen werden, sind sie in Klgl 2,15f. (erneut ‫ )כל־עברי דרך‬und Klgl 3,14.45 (‫ כל־עמים‬bzw. ‫ )העמים‬als feindliche Instanzen im Blick, die die soziale Isolierung von Zion bzw. dem Mann verdeutlichen. In Klgl 4,12 ist von dieser Feindseligkeit nichts zu spüren.962 Der für ‫ אמן‬im Hif ’il geltend gemachte »negative Klang«963 trägt eher zu einer wertfreien,964 wenn nicht gar positiven,965 Zeichnung der Könige und Bewohner bei, 961 Auch in Klgl 2,22, das ebenfalls die Wurzel ‫ כלה‬zu Ende gehen/vollenden enthält, geht es um mehr als »nur« Töten, sondern um ein Vernichten im Wortsinne. V 22c: ‫אשר־טפחתי ורביתי‬ die ich gepflegt und großgezogen verweist durch ‫ טפח‬auf V 20c. Diese Kinder werden durch ihre postmortale Verzehrung gleichsam ihres Status als Opfer beraubt. 962 Gegen Berges (2002), 252, Berlin (2002), 110, Kaiser (1992), 182 u. ö. Die Skepsis, die im Hif ’il von ‫ אמן‬mitschwingt, ist nicht zu vergleichen mit der frohlockenden Häme, die z. B. in Klgl 2.15f. zum Ausdruck kommt. 963 Jepsen (1973), 325. Dieser negative Klang ist insbesondere auf die Anwendung von ‫» האמין‬in der Anwendung auf Menschen und ihre Äußerungen« bezogen. Hier »scheint ‫ האמין‬etwas zu sein was man besser nicht täte. … Menschen und ihre Worte sind nicht immer vertrauenswürdig.« (ebd., 331). 964 So auch Koenen et al. (2015), 342. 965 So Frevel (2017), 294.

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was inhaltlich auch guten Sinn macht: Die Verwunderung der Könige der Erde ist in V 12 zwar in erster Linie auf die Eroberung Jerusalems bezogen; diese wird jedoch im folgenden Vers ursächlich an das Sündigen der Priester und Propheten gekettet. Die resultierende Botschaft geht parallel mit der Aussage von V 6: Praktisch die gesamte Welt ist ob der Vorgänge in und um Jerusalem erstaunt und ungläubig. Die in V 13 angesprochene Sünde der Propheten und Priester ist schwer zu fassen, Deutungsvorschläge daher reichlich vorhanden.966 Auffällig ist die erhebliche Un(ter)bestimmtheit der Verse. Unklar ist das genaue Wesen der priesterlichen bzw. prophetischen Sünde. Ebenso dunkel bleibt, von wessen Blut in V 14a die Rede ist (Blut der Priester selbst? Das »Blut der Gerechten«? Opferblut? Während der Stadteroberung vergossenes Blut?), worauf sich V 14b genau bezieht (Geht es um das Verunreinigen der Kleider mit Blut oder das Verunreinigen andere Dinge durch ihre Kleider?), wer die in V 15a Rufenden sind (Die Überlebenden der Stadtbevölkerung? Die Völker aus V 15b?), und welche Rolle die Notiz des Umherwankens und -irrens in V 15b (‫ )כי נצו גם־נעו‬spielt. Sicher ist eigentlich nur, dass der Versuch einer historisierenden Deutung wenig weiterführt.967 Eine solche Ansammlung inhaltlicher Unsicherheiten ist an sich schon eine bemerkenswerte Beobachtung: Ähnlich wie die mit Blindheit geschlagenen Priester (V 14a) bewegt man sich beim Lesen »tastend« voran, den allgemeinen Sinn der Verse zwar verstehend, jedoch nicht in der Lage, die genauen Zusammenhänge der einzelnen Bedeutungselemente zu fassen.968 Das 966 Während die Einen an »schnelle Vollstreckungsurteile« denken, »mit denen die geistlichen Würdenträger jeden Widerspruch gegen ihre Heilstheologie als Landesverrat brandmarkten« (Kraus [1983], 79, so auch Brandscheidt [1989], 125f. oder Groß et al. [1986], 35), sehen Andere einen Hinweis auf »ungerechte Blutjustiz« (Boecker [1985], 81 und Frevel [2017], 296), ein generelles Verharmlosen blutiger Gewalt (Hillers [1992], 149), oder das Versäumnis, vor den Konsequenzen sündigen Handelns zu warnen (Kaiser [1992], 182 und Provan [1991a], 117). Versuche, die Aussage im übertragenen Sinne zu deuten, gibt es ebenfalls; so wird vermutet, das »Blut der Gerechten« bezöge sich auf »the city’s »lifeblood, … its economic welfare, torn away by disregard for temple justice«, (O’Connor [2002], 65), es sei »a cipher for idolatry« (Berlin [2002], 110, ähnlich Salters [2010], 314) oder es ginge um eine literarische Angleichung der Priester und ihres Schicksal an das Schicksal Kains (Lee [2002], 188). Es verwundert nicht, dass Dobbs-Allsopp (2002),133 den Bereich V 13–16 »among the most difficult in all of Lamentations« findet. 967 Liwak (1995), 433. Bemerkenswert auch, dass Rashi in seinem Klgl-Kommentar keine weitergehenden Spekulationen anstellt, obwohl ihm Jer 26,7f.20ff. – der biblische Beleg für die These der »Vollstreckungsurteile« – doch durchaus bekannt gewesen sein sollte (zitiert nach Salters [2010], 314). 968 Schon in Klgl 2 wurde auf Fish (1970) verwiesen, dessen Affective Stylistics darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Bedeutung eines Satzes bzw. eines Textes nicht nur darin liegt, was der Satz meint, ausdrückt oder sagt, sondern auch darin, was der Satz im Leser bzw. Hörer macht bzw. bewirkt. Die experientielle Komponente einer Aussage ist in Poesie, die mit einer höchst kompakten und konzentrierten Sprache arbeitet, umso größer.

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resultierende Gefühl von Unsicherheit und Zögern findet auf der Textebene in der Reaktion der Priester und Propheten auf die im Text beschriebene soziale Ächtung seine Entsprechung. Bezeichnenderweise bleibt eine Erklärung in den Kommentaren ungenannt: Es ist gute menschliche Tradition, in Notsituation schnell Verantwortliche auszumachen und Sündenböcke abzustempeln. Derartige Beschuldigungen sind in den wenigsten Fällen inhaltlich durchdacht, noch tatsächlich sachlich stichhaltig; sie funktionieren auf der Ebene vordergründiger Plausibilität, die aber ausreicht, um Prozesse der sozialen Ächtung und Ausgrenzung in Gang zu setzen, gegen sich die Beschuldigten dann nur schwer zur Wehr setzen können. Ob als bewusstes stilistisches Mittel oder nicht – V 12–16 lesen sich am problemlosesten, wenn man sie (zumindest auch) als Darstellung des Prozesses der Findung schneller und einfacher Antworten auffasst.969 Davon abgesehen, sind die groben inhaltlichen Linien deutlich genug und deuten darauf hin, dass der Sinn der Verse eher in einem Geflecht assoziativer Eindrücke, denn in präzise formulierbaren Aussagen besteht. Im Wesentlichen spielen die Verse mit drei Motiven: (a) Zum einen geht es um das bewusste Töten Unschuldiger.970 Der Konnex mit den V 14–15 durch das Blut-Motiv ist dabei vermutlich eher rhetorischer Natur: Diejenigen, deren Aufgabe darin bestand, Blut im Rahmen des Sündopfers zu vergießen (‫ שפך דם‬jeweils in Lev 4,7.18.25.30. 34), sind durch Blut selbst zu Sündern geworden. (b) V 14–15 ziehen ihre innere Logik aus den Reinheitsbestimmungen für Priester: Blindheit und Priesteramt schließen sich aus (Lev 21,18). Ein blinder Priester ist genauso amtsfähig, wie ein mit Blut besudelter Priester, der für unrein befunden wurde. (c) Dass den blinden Priestern Hilfe und Unterstützung versagt wird, verweist auf das dritte Motiv: Soziale Ächtung und Verstoßung.971 969 Die obigen Überlegungen Deryn Guests zu Klgl 1 als einem Text, der die historische Schuld der politischen Eliten Jerusalems und Israels in ideologisch-theologische Schuld der Frau Zion transformieren will, sind dabei im Blick zu behalten. 970 Gegen Berges (2002),254 sind die Wendungen »unschuldiges Blut« und »Blut Unschuldiger« austauschbar: Liwak (1995), 433. Christ (1977), 18f.: »[D]der Ausdruck bezeichnet nicht, wie man zunächst annehmen konnte, eine Tötungsweise oder einen Teil des Tötungsvorgangs, sondern einzig das nicht veranschaulichte, im allgemeinen schuldhafte Töten. Die Bedeutung kann sogar noch stärker erweitert sein und, so in Jer 22,17 alle Machenschaften einschliessen, die den Unschuldigen am Leben beschneiden.« Töten im Krieg wird fast nie als Blutvergießen bezeichnet (Ausnahme: 1Chr 22,8; 28,3). 971 Berges (2002), 256 bringt darüber hinaus den Bezug zu Jes 52,11 ins Gespräch, wo die Mitglieder des Gottesvolkes aufgefordert werden, ihr Leben unter den Völkern aufzugeben. Vermutlich liegt eher die umgekehrte Abhängigkeit vor: Mit der gleichen Dringlichkeit, mit der das Volk einst die unreinen Priester und Propheten aus ihrer Mitte ausgestoßen hat, soll sich das Volk in Jes 52 aus der Mitte der ‫ גוים‬entfernen (Willey [1997], 125.159). Lee (1999), 120 122 und mit neuen Beobachtungen Lee (2002), 187–189 möchte einen versteckten Subtext erkennen, der an dieser Stelle die Priester und Propheten mit Kain parallelisiert. Sie

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Deutlich ist, dass es insgesamt um die Darstellung eines Handelns geht, das Priestern und Propheten zutiefst wesensfremd ist. Der Vorwurf des Blutvergießens, zumal des Blutes von Gerechten, geht häufig gegen politische Machthaber im Allgemeinen, jedoch können auch spezielle Gruppen angesprochen sein.972 Die Inklusion von Priester und Propheten in diese Metaphorik ist dementsprechend auch nicht auf Klgl 4,13 beschränkt: Vgl. etwa Ez 22,26–28, wo die Priester das Gesetz vergewaltigen (‫ )חמסו תורה‬und Propheten Nichtiges schauen (‫חזים‬ ‫ )שוא‬und das Handeln derer übertünchen (‫)תפל‬, die Blut in ihrer Mitte vergießen. Wie Ez 22,26ff. zeigt, geht es bei der Redewendung ‫ שפך דמ)־צדקים( בקרבה‬weniger um konkrete Mordvorwürfe, sondern um die Beschreibung radikal schöpfungswidrigen und widergöttlichen Handelns durch diejenigen, die engsten Kontakt zu Gott haben und daher auch am genauesten wissen sollten, wie gottgefälliges Handeln aussieht. Es ist die ironische Pointe der Verse, dass gerade diejenigen, die durch ihre Rituale und Visionen den religiösen Einklang zwischen Volk und Gott sichern sollen, durch ihr vorheriges Sündigen dieser Rolle nun radikal entmächtigt sind und entsprechend auch nicht mehr geachtet werden.973 In gewisser Weise kommt es damit zu einem gleich doppelten Betrug bzw. Im-Stich-lassens durch die (religiösen) Eliten: Haben sie anfangs durch ihr sündiges Verhalten das Gericht mit heraufbeschworen, führen die Folgen des Gerichts dazu, dass sie nun, in der Zeit, wo göttliche Weisung am allernötigsten wäre, macht- und ratlos durch die Gassen wanken, sowohl auf dem »geistigen«, wie dem realen Auge erblindet, und von den Resten des Gemeinwesens einerseits, und vom ‫ פני יהוה‬andererseits ausgestoßen und verstreut. Kurz: Die gesamte Gesellschaft ist in einer a priori nicht auflösbaren Sackgasse gefangen. macht auf eine Anzahl von Stichwörtern und Motiven aufmerksam, die sowohl in Klgl 4,13– 16 wie auch in Gen 4 auftauchen: Sünde und Schuld durch Blutvergießen, ruheloses Wandern (‫ )נוע‬und Wanken (‫ ;נצו‬Der Begriff bleibt undeutlich. Wenn man nicht ein Hapaxlegomenen ‫» נוץ‬sich entfernen« annehmen will, wird häufig eine Änderung in ‫[ נדו‬von ‫נוד‬, eigentlich »schwanken«, davon dann »ruhelos«: Ringgren {1986}, 291] vorgeschlagen), in Gen 4,14 verbirgt sich Kain vor dem ‫ – פני יהוה‬in Klgl 4,16 verstreut das Antlitz JHWHs die Priester und Propheten. Beide Vorschläge haben ihre Probleme: Berges’ Hinweis bleibt diffus und allgemein, Lee’s interessanter Hinweis basiert auf einer Textemendation, die nicht weiterer untermauert werden kann. 972 So z. B. die »Mächtigen Jerusalems«: Jer 22,3.17; Ez 22,3.4.9.12.27; 24,7. Auch Völker (Edom: Joel 4,19; ‫גוים‬: Ps 79,3; Israel: Jes 59,7; Jer 7,6; Ez 23,45; 33,25; 36,18) können des Blutvergießens bezichtigt werden. 973 Albrektson (1963), 187: »The emphasis is still on the scheme of reversal: in v.14a the point is that the priests, who had shed the blood of the righteous, are now themselves the bloodstained victims, and in b that those who had been anxious to keep all the cultic rules of purity cannot avoid contact with unclean things. This understanding of the passage gives a natural transition to the next verse, which increases the contrast further: not only do they touch what they should not, they are themselves regarded as unclean.«

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V 16 fasst diese Dynamik zusammen. Der Ausdruck ‫ פני יהוה‬ist zwar nicht mit besonderer kultischer Bedeutung aufgeladen,974 jedoch ist die Häufung an dieser Stelle auffällig: ‫ חלק‬Pi’el (eigentlich »zuteilen, verteilen«) findet sich häufig in den Landverheißungsaussagen. Dort hatten die Söhne Levis keinen gesonderten Erbteil erhalten, da JHWH ihr ‫ חלק‬war (Num 18,20; Dtn 10,9; 12,12; Jos 13,14 u. ö.). Auch der Mann bezeugte in Klgl 3,24: ‫» חלקי יהוה אמרה נפשי‬Mein Anteil ist JHWH«, spricht meine Seele. Hier nun ist es Gott, der die Priester »zerteilte«, d. h. zerstreute (vgl. Gen 49,7). Vordergründig erstaunlich, jedoch aus dem Duktus von Klgl 4 heraus nicht verwunderlich ist der Hinweis auf die Ältesten. Auch sie kamen schon in den sonstigen Liedern vor, waren dort jedoch durchweg positiv gezeichnet (Klgl 1,19; 2,10.21). Dass in einem dissoziierenden Sozialsystem auch der Respekt, der traditionsgemäß den Ältesten gebührt, nicht mehr gezollt wird, verwundert nicht. Mit V 17 beginnt die zweite Szene der zweiten Sektion. Unmittelbar auffällig ist der plötzliche Wechsel in eine Wir-Perspektive, aus der rückblickend die Erlebnisse während der Belagerung und anschließender Flucht geschildert werden. Der abrupte Wechsel, der im hebräischen Text noch ungleich markanter ausfällt, trägt zur Dramatisierung bei. Nach Berges spricht dabei insbesondere die Tendenz eines solchen Wir-Berichtes, den Hörer*innen eine intensivierte Identifizierung mit den sprechenden Figuren bzw. Gruppen zu ermöglichen, gegen die Annahme, dass das sprechende Wir an dieser Stelle identisch mit den städtischen Eliten aus V 14–16 ist, denn: »Wer wollte sich schon mit ihnen identifizieren?«975 Dies ist wohl zu eindimensional gedacht: Zum einen muss eine solche Identifizierung nicht automatisch mit moralisch-theologischer Zustimmung einher gehen.976 Zum anderen ist generell nicht ausgemacht, dass die in V 17–20 dargestellte Wir-Gruppe positiv konnotiert ist bzw. sein soll. Zweifellos hingegen ist, dass sich durch den Wechsel zur Wir-Perspektive die Unmittelbarkeit der Darstellung erhöht: Die Beklemmung der Belagerung, das Gefühl, auf der Flucht von Feinden umzingelt zu sein, die sich verfestigende Einsicht, dass keine Rettung in Sicht ist, lässt sich aus der Perspektive der Betroffenen plastischer und intensiver darstellen. Die Szene lässt sich in V 17–18, die das Geschehen innerhalb der Stadt schildern, und V 19–20, die das Fluchtgeschehen außerhalb der Stadt beschreiben, einteilen. Geschichtlicher Hintergrund ist offenbar die Flucht Zidkijas aus dem belagerten Jerusalem (2Kön 25,3–7; Jer 39,4f.; 52,7–11; Ez 12,12–16). Damit ist ein zweites 974 Simian-Yofre (1989), 650. 975 Berges (2002), 258. 976 Diese Differenzierung legt sich schon von V 17b her nahe: Dass die Hoffnung auf Rettung durch Ägypten eine gefährliche Torheit war (Jes 30–31; Jer 2,18.36), ist im Rückblick kaum zu bestreiten. So können die Hoffenden von V 17b doch bestenfalls als naiv gelten. Dann stellte sich allerdings erneut die Frage: Wer wollte sich mit ihnen identifizieren?

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Indiz benannt, dass eine positive Identifikation des Hörers mit der Wir-Gruppe nicht automatisch gewollt sein muss: Das fliehende Wir, wie auch das ursprünglich auf Hilfe hoffende Wir ist offenbar in der städtischen Oberschicht zu verorten.977 Es ist verwunderlich, dass in den Kommentaren nicht auf die doch so augenfällige Parallelität zwischen V 3b und V 19f. hingewiesen wird. Ist die flüchtende Preisgabe der Stadt und der in ihr ausharrenden Zivilbevölkerung nicht genau das, was gängigem Verständnis nach im Bilde der »grausamen« Strauße angeprangert wird? Berges kommt einer solchen Deutung zumindest nahe: »Nachdem sich die Hoffnung der Wir-Gruppe auf (ägyptische) Hilfe von außen zerschlagen hatte, stand ihr Sinn nur noch auf Flucht. Doch dagegen formierte sich scheinbar gewaltsamer Widerstand, denn man stellte den ›Wir‹ nach, auf dass sie nicht zu ihren Plätzen kämen …«978 Dies mag eine etwas »krimihafte« Interpretation sein,979 doch stellt sich die Frage: Könnte man es der Bevölkerung verübeln, wenn sie sich dagegen wehrte, von den Eliten, die das über Israel hereinbrechenden Gericht doch maßgeblich verursacht hatten, nun klammheimlich im Stich gelassen zu werden? So scheint es, dass während in V 13–16 die religiösen Eliten in ihrem sündigen Handeln vor und während des Gerichts dargestellt werden, die V 17–20 parallel dazu das verantwortungslose Handeln der politischen Eliten in einer Situation höchster Bedrängung und Not darstellen. Parallel zur ersten Sektion, die die sich auflösenden gesellschaftlichen Banden der einfachen Zivilbevölkerung beschreibt, illustriert die zweite Sektion dies für die religiösen und politischen Eliten – und erneut ist der Vorwurf nicht zuletzt, dass noch während des ergehenden Gerichts das Handeln fortgesetzt wird, welches das Gericht überhaupt erst heraufbeschworen hat. Dieser Deutung wird dadurch gestützt, dass die Rede vom Nahesein unseres Endes (‫ )קרב קצינו‬in V 18b auf die Gerichtsprophetie verweist.980 Die Unaufhaltsamkeit – sowohl des Gerichts, wie auch des persönlichen Endes – wird im folgenden Vers durch die Schilderung der Flucht verdeutlicht. Der ‫ – נשר‬ob Adler, Geier oder allgemein Raubvogel gemeint ist,981 ist im konkreten Kontext unerheblich – ist gleichermaßen schnell als auch scharfsichtig, so dass eine 977 Hierfür spricht unter anderem, dass die tägliche Hungersnot, die in V 1–11 so präsent war, hier keine Rolle mehr spielt. 978 Berges (2002), 260. 979 So ist nicht einzusehen, warum das Belagern der Schritte nicht z. B. durch feindliche Bogenschützen passiert sein konnte. ‫ צוד‬jagen findet jedenfalls in Klgl 3,52 Verwendung (‫צוד‬ ‫ צדוני כצפור‬wie einen Vogel jagten sie mich) um das Handeln der Feinde zu beschreiben. 980 Vgl. das »Kommen des Endes« ‫ בא הקץ‬in Am 8,2; Ez 7,2.6 als Bild für das Gericht an Israel, Babel (Jer 51,13) oder der Welt (Gen 6,13). Dass dieses Ende ‫ קרב‬nahe ist, in der prophetischen Rede insbesondere etwas, das vom ‫ יום יהוה‬gesagt wird (Jes 13,6; Ez 7,7; 30,3; Joel 1,15; 2,1; 4,14; Obd 15; Zef 1,7.14). 981 Vgl. hierzu Kronholm (1986), 680–689, Riede (1993), 359.

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einmal erspähte Beute wenig Hoffnung auf Entkommen hat.982 Darüber hinaus erinnert es allerdings auch an das biblische Bild von JHWH als ‫נשר‬, der schützend seine Flügel über dem Volk ausbreitet (Ex 19,4; Dtn 32,11).983 Der durch den mächtigen Vogel symbolisierte einstige Schutz ist zu einer tödlichen und unentrinnbaren Gefahr geworden. Wie Klgl 4 mit einer verkürzten Stanze von zwei Versen begann, so endet es auch. In erneutem abruptem Wechsel werden zwei weibliche Figuren angesprochen, ohne dass es irgendeinen Hinweis darauf gäbe, dass noch immer das Kollektiv aus V 17–20 das Wort führte. Ebenso abrupt wie die Sprecherperspektive ändert sich das Thema: Nun wird in einem Schuldspruch an Edom zugleich ein Ende der Schuld Zions bezeugt. Üblicherweise deutet man V 21f. als Zuspruch des Endes des Gerichts. Zuweilen sieht man in ihm gar den »Gipfel der Hoffnung, zu dem Threni gelangt«984. Die verwendete Lexik weist vordergründig in der Tat in diese Richtung. ‫ תמם‬meint prinzipiell »zu einem Abschluß gelangen bzw. bringen« und entwickelt sich davon ausgehend sowohl ins Positive (»Vollkommheiten«, »Vollendung«) wie auch Negative (»Aufhören«, »Schwund«, »Vernichtung«).985 Der Hif ’il von ‫» גלה‬bedeute[t] ausschließlich ›(in die Verbannung) fortführen‹ … und bezieht sich fast ausnahmslos auf die Fortführungen Israels und Judas)«986. ‫ יסף‬als verneintes Hilfsverb bedeutet oft »nicht fortfahren«, d. h. aufhören. Allerdings legen die V 21bβ.22bβ nahe, dass die Doppeldeutigkeit von ‫ גלה‬im Sinne von »enthüllen«, »entblößen« (die ja schon in Klgl 1,3.8f. eine Rolle spielte) an dieser Stelle mitzuhören sind.987 Die Aufforderung an die ‫בת־אדום‬, sich doch zu freuen, meint mehr als den Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit. Die beiden Wurzeln, ‫שישי ושמחי‬, greifen frühere Lieder auf: während mit ‫ שמח‬in Klgl 1,21 die Freude der Feinde angesichts Zions Schicksal bezeichnet wurde, gilt gleiches für die Wurzel ‫ שוש‬in Klgl 2,17. Allerdings fällt auf, dass zwar ‫שמח‬, jedoch nicht ‫ שוש‬negativ konnotiert ist, d. h. normalerweise keine hämische Freude bezeichnet. Vielmehr taucht die Wurzel häufiger in den Psalmen auf (und kennzeichnet dort durchweg genuine Freude der Beter: z. B. Ps 35,5; 40,17; 68,4; 70,5; 119,14.162) oder in Jes 56–66 »zur Bezeichnung höchstmöglicher Freude«988. Die vorbehaltlose Freude wird allerdings nicht ohne Hintergedanken gewünscht: 982 Labahn (2005), 74–76. 983 Riede (2000), 328f.; vgl. auch Jes 31,5, dort ist es Jerusalem, die durch Gottes Schwingen beschützt werden. 984 Wischnowsky (2001), 100. Ähnlich Provan (1991a), 123: »…the first and last real note of unfettered hope in the book.« 985 Kedar-Kopfstein (1995), 688.691f. 986 Zobel (1973b), 1021. 987 Vgl. auch die Onomatopoesie der Aussage »du wirst dich betrinken« und dem »kichernden« Klang TisKürî wütit`ärî. 988 Fabry (1993), 723f.

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Edom soll im Überschwang der Gefühle den herumgehenden Becher ohne Vorbehalt leeren,989 um anschließend vom Gericht genauso hart getroffen zu werden und ein ebenso böses Erwachen zu erleben, wie die ‫בת־ציון‬. Hier geht es darum, dass das selbst erfahrene Entsetzen hinsichtlich des schnellen und vollständigen eigenen Endes im Gericht nun auch das Nachbarvolk ergreifen solle.990 Es fällt vor diesem Befund schwer, in V 21f. den »Ausdruck der festen Überzeugung« zu sehen, »dass JHWH seine Gerechtigkeit weltweit durchsetzt«991. Dieses Moment vergeltender Gerechtigkeit ist durchaus präsent, wird jedoch begleitet von einer deutlich rachsüchtigen, hämischen Note.992 Entsprechend lässt sich auch V 22a deutlich zurückhaltender als üblich übersetzen: »Deine Schuld hat sich vollendet, Tochter Zion!« Vor dem Hintergrund der ersten Sektion kann dies als Aussage verstanden werden, die weniger eine hoffnungsvolle Zukunft voraussagt, sondern vielmehr das sich durch Bedrückung und Gericht hindurch ziehende Verhalten der Bevölkerung zum Gegenstand hat – in der zweiten Sektion verdeutlicht am sündigen Handeln der Priester einerseits, die dadurch das Gericht mit heraufbeschwörten, und dem unsolidarische Verhalten der Eliten (einschließlich des Königs) andererseits, die bei Gefahr die Flucht antraten und die Stadt, samt wehrloser Zivilbevölkerung ihrem Schicksal überließen. ‫לא יוסיף להגלותך‬, als Hilfsverb mit Hif. Inf. cstr. bedeutet regelmäßig »fortfahren, etwas zu tun« bzw. »etwas noch mehr oder weiter tun«.993 Der Ausdruck wäre damit mit Nicht länger werde ich dich verbannen! zu übersetzen, und ebenso zynisch zu verstehen, wie schon V 9.11: Wenn 989 Zu ‫ כוס‬vgl. Mayer (1984) 109. Das Bild des bis zur Neige zu leerenden Bechers ist in gerichtsprophetischen Texten häufiger anzutreffen (Jes 51,17–23; Jer 25,15–29; 51,7; Ez 23,31– 34. Der bzw. die Trinkende (Neben Klgl 4,21 sind auch in Jes 51,17–23 und Ez 23,31–34 Frauen die trinkenden Subjekte) verliert jegliche Hemmungen und macht sich öffentlich lächerlich: Bis zum letzten Tropfen schlürft er den Becher leer (Ez 23,34), spuckt (Jer 25,27), schwankt und taumelt (Jer 25,16; Hab 2,16), fällt gar und steht nicht mehr auf (Jer 25,27) oder entblößt sich in aller Öffentlichkeit (V 21bβ; Ez 23,34). Auf der Bildebene geht mit der Lächerlichkeit der Verlust sozialen Ranges und Achtung einher, inhaltlich stehen die aufgezählten Verhalten selbstverständlich für die naheliegenden Auswirkungen des Gerichtes. 990 Vgl. Lanahan (1974), 48: »All that is left to him is the spiteful wish that his own sense of chaos may now be transferred elsewhere so that the distant enemy will also suffer this same shock of dislocation. His final word, his curse on Edom and Uz (vss. 21–22), implies that willful indulgence in moral anarchy functions as the universal cause of inevitable material ruin in any society. His ultimate resolution thus comprises neither insight nor resignation, but merely an ineffectual tantrum of vindictiveness. … After he has observed the chaos and experienced the confusion, his reaction is the wish that the evil be spread out even further.« 991 Berges (2002), 268. 992 O’Connor (2002), 69: »The community gloats over the future pain of its enemies. … To suggest that the people have learned little from their experience … is to misunderstand the nature of laments and to deny normal response to trauma, catastrophe, and subjection. Hatred and wishes for vengeance against cruel and oppressive enemies are typical and normal human responses to trauma.« 993 André (1982), 687.

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das Zum-Ziel-kommen des Gerichts in der vollständigen Zerstörung der Solidargemeinschaft lag, dann hat die sich im Anschluss vollziehende Verbannung nunmehr ebenfalls ihre Vollständigkeit erreicht: Es gibt kein Zion mehr, keine gesellschaftliche Größe, die man weiterhin verbannen könnte. Gous hat treffend bemerkt, dass es in der Literatur schon fast einem Klischee gleichkomme, auf das Fehlen eines nachvollziehbaren Gedankenganges in Klgl 4 hinzuweisen.994 Der exegetische Durchgang zeigte, dass dies keinesfalls dem Text entspricht: (1) Strukturell ist das Lied harmonisch konzipiert: zwei Sektionen von gleicher Länge, die jeweils etwa in ihrer Mitte (V 6 bzw. V 16) theologische Zusammenfassungen des Dargestellten liefern. Zugleich findet sich auch die Mitte und das Ende des Liedes durch theologische Spitzenaussagen markiert. Von einem Rahmen (V 1f. und V 21f.) umgeben, teilt sich die Darstellung ansonsten in vier inhaltlich klar abgrenzbare Blöcke: V 3–5; V 7–9.10; V 12–15.16; V 17–20. (2) Die strukturelle Einteilung ist auch auf inhaltlicher Ebene nachvollziehbar. In der ersten Sektion dominiert die Darstellung der konkreten Auswirkungen der Belagerung auf die Bevölkerung. Bestimmend ist hier die Darstellung des allgegenwärtigen Hungers, sowie dessen Auswirkungen auf die Psyche der Menschen. Die zweite Sektion wird vom Erleben der religiösen und politischen Eliten geprägt. Auch hier dominieren Motive, die den Zerfall der sozialen Kohäsion innerhalb der städtischen Solidargesellschaft demonstrieren. Den vier Teilblöcken kann man jeweils einen Schwerpunkt zuordnen: Während es im ersten Block um den Hunger an sich geht, wird im zweiten das daraus resultierende Versiegen eines allgemeinen Lebenswillens thematisiert. Die Sünde der Priester und Propheten führt darüber hinaus zu einer auch religiös-kultischen Führungslosigkeit und verstärkt die gesellschaftlichen Dissoziationsprozesse. Die resultierende »Rette sich, wer kann«-Mentalität wird im letzten Block bildlich dargestellt, wobei der Fokus insbesondere auf der Hoffnungslosigkeit eines solchen Unterfangens liegt. Die abschließenden V 21f. beinhalten neben dem Wunsch ausgleichender Gerechtigkeit auch ein Moment vorausnehmender Schadenfreude, die die emotional-moralische Ermattung der Bevölkerung auf anderer Ebene nochmal verdeutlicht. (3) Neben diesen konkreten Themen durchziehen einige Tendenzen das Lied, die für die angemessene Einordnung der Liedaussage von Bedeutung sind. Dies ist zum einen der schon häufiger beobachtete Mangel an emotionaler Ausdruckstärke. Zum anderen aber auch der Mangel an Empathie und Solidarität, sowohl auf der Bild- wie auch auf der Textebene. Bemerkenswert zudem der Mangel an direkter Anrede an Gott (die, angesichts des in V 13–16 dargestellten Schicksals der

994 Gous (2005), 232.

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Priester und Propheten gleichwohl vollkommen konsequent ist).995 Der Beitrag, den diese stilistischen Nuancen zur Liedaussage hinzufügen, liegt darin, dass nach Klgl 4 die Belagerung anfangs zu menschenunwürdigen Zuständen in der Stadt führte. Dann jedoch, in seiner Fortdauer, hatte es aber auch unmenschliches Handeln der Betroffenen selbst zur Folge, was zu einer vollständigen Zersetzung der städtischen Solidargemeinschaft führte,996 und erst dadurch zu dem gegenwärtigen Gericht in seinem allumfassenden Ausmaß führte.

6.4.3 Die Funktion von Klgl 4 im Rahmen des Buches Bestünde das Buch der Klgl lediglich aus Klgl 1–2 und Klgl 4–5, ließe sich Klgl 4 in eine problemlose inhaltliche Linie integrieren: Während Klgl 1 das Thema des göttlichen Gerichts einführt, präzisiert Klgl 2 dies, indem es einerseits die Auswirkungen des Gerichts auf die Stadt schildert und pointierter nach der Angemessenheit des Ausmaßes des Gerichts fragt. Klgl 4 stellt der Schilderung der Stadtzerstörung die Perspektive des Schicksals der Stadtbevölkerung zur Seite. Klgl 5 fragt darauf hin: »Wie lange noch!?« Diese einfache Lösung wird durch die Inkludierung von Klgl 3 erheblich differenziert. Nach Klgl 3 sieht man sich in Klgl 4 mit einer signifikant gewandelten Situation konfrontiert. Der in Klgl 3 fast vollständig vermisste Jerusalem-Bezug ist in Klgl 4 wieder deutlich gegeben. Das Schicksal der Bevölkerung steht in einer Deutlichkeit im Mittelpunkt, wie es weder in Klgl 3 noch Klgl 1–2 der Fall war. Von der demütig-ausharrenden Gemütshaltung des Mannes ist in Klgl 4 nichts mehr zu spüren. Die Personifizierung Zions bzw. des Mannes sind praktisch völlig aufgegeben; die Figur des Sprechers kann nur schwer als Kontinuum von Klgl 1–2 gelesen werden. Klgl 4 ist durch Stichworte und Bezüge nur sehr lose an Klgl 3 angebunden. Damit fragt sich, wie Klgl 4 im bisherigen argumentativen Zusammenhang von Klgl 1–3 verortet werden kann. 6.4.3.1 Dramaturgische Kontinuität Der manchmal fast zynisch-sarkastische Ton des Liedes wurde in der Exegese immer wieder thematisiert. Berlins Formulierung »an odd sense of detachment«997 beschreibt ihn gut. Die Ursachen dieses Eindruckes lassen sich beschreiben: (1) Zum einen bewirkt die schnelle Abfolge schnappschussartiger 995 O’Connor (2002), 59. 996 O’Connor (2002), 63: »[I]t depicts a world turned upside-down in a swirling chaos of dehumanization and brutality. This is what the enemy has wrought against a whole people.« 997 Berlin (2002), 103.

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Bilder, dass der Hörer teilweise überfordert wird. (2) Weiterhin fällt auf, dass das Wortfeld »Klagen«, und allgemeiner: eine Solidarität erzeugende Emotionalität, fast vollständig abwesend ist.998 (3) Es werden regelmäßig Szenen beschrieben und Bilder verwendet, die schockieren sollen.999 Daneben weist Klgl 4 auch weniger dramaturgische Elemente auf, als es in den bisherigen Liedern der Fall war: (1) Von figurae dramatis im eigentlichen Sinne kann man weder beim Sprecher der V 1–16, noch dem Kollektiv der V 17–20, noch der Figur, die V 21f. verkündet, sprechen. Die dramatischen Bezugspersonen der vergangenen Lieder treten somit nicht wieder – oder zumindest nicht in wiedererkennbarer Weise – in Erscheinung. (2) Charakterliche Entwicklungen, Figurenkonflikte und ähnliches sind ob des Mangels an entwickelten dramatischen Figuren nicht erkennbar. (3) Wechselnde Zeitebenen, die den Unterscheid zwischen Spielzeit und gespielter Zeit dramaturgisch ausnutzen, sind nur in der Klammer aus V 1.21f. erkennbar – und haben dort eher einen resümierenden Charakter. Trotz eines im wesentlichen gleichen Settings vermag sich der dramenartige Eindruck von Klgl 1–2 in Klgl–4 nicht einzustellen. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Lied keinen Eindruck hinterlässt – im Gegenteil! Die Sprache ist farbig (auch im wörtlichen Sinne; vgl. V .7f.13f.) und reich an poetischer Kreativität. Durch das Beschreiben von Gerüchen, Farben, Geräuschen usw. werden Hörer*innen in die beschriebene Situation hineinversetzt.1000 Nach der ahistorischen Erörterung von Klgl 3 werden sie daran erinnert, an welcher konkreten historischen Situation sich die dort entwickelte Lösung messen soll. Klgl 4 fungiert als »Praxistest«, der die theoretisch-theologische Erörterung von Klgl 3 der radikalsten Infragestellung unterzieht, die denkbar ist: Hoffnung mag überlebenswichtig sein – doch radikaler Hunger zermürbt letztlich jeden Lebenswillen. Hatte Klgl 3 ein Programm entworfen, das Demut und Geduld empfiehlt und aus dem aktuellen göttlichen Zorn die Hoffnung schöpft, dass JHWH nicht auf immer betrübe, fragt Klgl 4 radikal nach dem Wert von Demut in einer unlebbar gewordenen Welt, in der der Tod eine Erlösung ist. Wie in Klgl 3 ergreift auch in Klgl 4 unvermittelt eine Wir-Gruppe das Wort. Jeweils findet sich die Wir-Rede im letzten Drittel der Lieder, jedoch nicht an deren Ende. Die Notwendigkeit einer Rahmung eines derartigen Einschubes war 998 So finden sich keine der in Klgl 1 und 2 emotionales Verhalten beschreibenden Verben wie trauern, weinen, seufzen, stöhnen, klagen oder schreien, und auch die mit Emotionalität assoziierten Substantive wie Tränen, Herz, Nieren usw. sucht man vergebens. Vorhanden sind vereinzelte Ausdrücke wie ‫ בני ציון היקרים‬die wertvollen Söhne Zions oder ‫ידי נשים‬ ‫ רחמניות‬die Hände liebevoller Mütter oder die Aufforderung ‫ שישי ושמחי בת־אדום‬Juble und freue dich, Tochter Edom! 999 Man denke an das Bild der ehemaligen Reichen, die Misthaufen umklammern (V 5) oder die Vorstellung der blind und blutbesudelt umherirrenden Priester (V 13–15). 1000 Gous (2005), 230.

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offenbar bewusst. Der erzeugte Effekt ist in beiden Liedern grundsätzlich ähnlich: Die Darstellung wird dynamischer, man fühlt sich stärker in das Geschehen integriert und bezieht es damit auch stärker auf sich selbst. Während die Figur der Frau Zion (insbesondere Hörern) ermöglicht, eine gewisse Distanz zu wahren, wird dies durch die Rede eines Kollektives verunmöglicht. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand korreliert damit eine ebenfalls zunehmende emotionale Unmittelbarkeit.1001 Ist der emotive Effekt der Wir-Rede vergleichbar, dient sie doch einem jeweils unterschiedlichen inhaltlichen Ziel: Klgl 3 zeichnet den Leiden- und Glaubensweg des Mannes nach, der nach einer ausführlichen Klage zu einem neuen Glaubens- und Hoffnungsverhältnis zu Gott findet. Diese Horizonterweiterung des Mannes wird anschließend aus der Perspektive eines Kollektivs nachvollzogen, wobei der Mann als Kontinuitätsgarant fungiert und sich als Paradigma all jener begreifen lässt, die in ähnlicher Situation seinen Weg zu neuem Vertrauen mit- und nachvollziehen. Im Rahmen dieser Wir-Rede (V 40–47) werden die beiden wichtigen Eckpunkte des Liedes nochmals dargestellt: Einerseits das neu erreichte Vertrauensverhältnis in Gott, das zur Suche nach und Einsicht in die eigene Schuld (V 40–42) führt. Andererseits aber auch das massive Ausmaß des Gerichts Gottes, das bei allem Gottvertrauen bis an die Grenzen des Nachvollziehbaren und Vertretbaren ging (V 43–47). Der neu erreichte Vertrauenszustand – so dann wieder in persönlicher Rede der Mann – ist damit nicht automatisch besser als vorher, er ist jedoch in anderen Kategorien beschreibbar und damit leichter erträglich. Kurz: Die Wir-Rede dient eines intensivierten Nachvollzuges des an der Figur des Mannes exemplarisch dargelegten Glaubensweges im Kontext einer Existenz unter dem Zorn Gottes. Klgl 4 zeigt die Konsequenzen des Zorngerichts auf das Sozialgefüge und die einzelnen Menschen. Während anfangs der Hunger und der beginnende innergesellschaftliche Zerfall beschrieben wird, geht es später um den versiegenden (Über-)Lebenswillen der Bevölkerung. Anschließend wird die kultisch-religiöse Oberschicht in den Blick genommen, die einerseits als Auslöser des Gerichts, andererseits als unrein dargestellt wird und damit aber auch ihre Fähigkeit eingebüßt haben, die Gesellschaft zu lenken oder integrativ tätig zu werden. Im Bild der durch ihre blutigen Gewänder zu Aussätzigen gewordenen Priester zeigt sich eine Gesellschaft, die nicht mal theoretisch in der Lage ist, eine genuine Beziehung zu Gott aufzubauen. In diesem Moment kommt eine Wir-Gruppe zu Wort und berichtet von der Bedrohung innerhalb der Stadt, Flucht, Verfolgung und schließlich Gefangenschaft und Resignation. Wie auch in Klgl 3 geht es um einen inneren emotionalen 1001 Dobbs-Allsopp (2002), 34f. Es passt gut ins Bild, dass Klgl 5 dann vollständig aus der Sicht eines Kollektivs verfasst ist.

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Nachvollzug durch die Hörer*innen – doch hier den Nachvollzug eines Gefühls von Ausweg- und Perspektivlosigkeit. Fast könnte man meinen, der Dichter – da er die Hörer*innen nicht zum Hungern zwingen kann – versucht auf diese Weise, die gesamte Trostlosigkeit der Bevölkerung zu vermitteln. Als wichtiger Unterschied ist festzuhalten, dass die so portraitierte Wir-Gruppe moralisch ambivalent bleibt. Damit ist der inhaltliche Beitrag, den die Wir-Gruppe in Klgl 4 für die Funktion des Liedes im Rahmen des Buches leistet, angedeutet: Er wirkt durch seine Unmittelbarkeit verstärkend hinsichtlich des in Klgl 4 dargestellten Kontrastes zu Klgl 3.

6.4.3.2 Das menschliche Leid Der kontinuierliche Fokus auf das Schicksal der Bevölkerung ist eine bemerkenswerte Neuerung von Klgl 4. Zwar ist die hungernde Bevölkerung auch in Klgl 1 und 2 im Blick,1002 jedoch sind die dortigen Hinweise einem anderen inhaltlichen Ziel verpflichtet. Am deutlichsten wird der Unterschied in Klgl 2. Hier werden die hungernden Kinder sowohl in V 11f. als auch V 19f. als Auslöser intensivierter Emotionalität eingeführt. Während das Schicksal der Kinder in V 11f. den Sprecher selbst zu Tränen rührt, ist es in V 19 der Sprecher, der Zion zur intensivierten Klage auffordert. Der Hunger als Phänomen tritt dabei in gewisser Weise in den Hintergrund. Aus Sicht von Klgl 2 ist dies auch nicht verwunderlich: Die Grenzenlosigkeit des Gerichts wurde in den V 1–9 ausführlich dargestellt, und ist innerhalb eines zionstheologischen Deutungshorizontes auch sehr viel prägnanter an der Zerstörung der Stadt selbst zu zeigen. Die hungernden Kinder dienen hier eher der Emotionalisierung und sinnfälligen Verdeutlichung eines Gerichtes, dass jegliches Maß verloren hat. Ähnlich, jedoch in weniger deutlicher Zuspitzung, verhält es sich in Klgl 1. Auch hier wird Hunger als eine Begleiterscheinung des Gerichts erwähnt (V 6.11.19), jedoch als eher generisches Bild für Ermattung (V 6) und Todesbedrohung (V 11.19). In Klgl 4 dagegen wird die inhaltliche Linie anhand der Auswirkungen des göttlichen Gerichtes auf die Bevölkerung entwickelt; Hunger als Hunger rückt in den Fokus. Dementsprechend spielt zerstörte Infrastruktur bis auf die Notiz in V 11 praktisch keine Rolle. In ungekanntem Umfang und Kompromisslosigkeit wird dagegen dargestellt, wie das Gericht die Bevölkerung in Mitleidenschaft zieht. Dabei geht die Darstellung über die rein körperlichen Folgen des Gerichts weit hinaus; wenn Reiche Misthaufen umarmen (V 5b), niemand Kindern Brot 1002 Interessanterweise spielt das Thema Hunger bei der Selbstdarstellung des Mannes in Klgl 3 eine sehr untergeordnete Rolle. In V 4 findet sich ein Hinweis auf das »Schwinden« ‫ בלה‬des Fleisches und der Haut. Weitere Andeutungen finden sich in V 11b und V 16a.

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bricht, die ehemals als prachtvoll und rein vorgestellten (V 7) Nazire beschmutzt und ausgezehrt dahin vegetieren (V 8), Priester und Propheten in blutverschmierter Kleidung blind durch die Gassen wanken und die Ältesten nicht mehr geehrt werden (V 13–16), so ist neben den tragischen Schicksalen der Einzelnen auch der massive Verfall gesellschaftlicher Wertesysteme (Fürsorge, Solidarität, Nächstenliebe, Respekt, aber auch Respekt vor den Toten oder der elterliche Schutzinstinkt) als auch individuellen Lebenswillens und mentaler Widerstandskraft angesprochen. Es gibt noch einen weiteren signifikanten Unterschied: Während in Klgl 1–2 die Bevölkerung weitgehend positiv konnotiert ist, ist dies in Klgl 4 nicht durchgängig der Fall. Illustrativ ist hier Klgl 1: Zwar wird aus der eigenen Verantwortung für das Gericht kein Hehl gemacht, jedoch erfolgt die diesbezügliche Diskussion ausschließlich hinsichtlich Frau Zion bzw. Jerusalem. Die Bevölkerung wird dagegen als Opfer brutaler Feinde und einer schrecklichen Situation dargestellt.1003 Die emotionale Reaktion der Hörer*innen ist Mitleid. Entsprechend ist das Motiv der sich um ihre Kinder sorgenden Mutter Zion auch nie fern, wenngleich es erst in Klgl 2 dominant in den Vordergrund tritt. In Klgl 4 ist die Darstellung der Bevölkerung sehr viel ambivalenter. Am deutlichsten zeigen dies die V 13–15, die den Priestern und Propheten die Schuld an der Misere geben. Doch auch sonst finden sich Hinweise, die ein eher negatives Licht auf die Bevölkerung werfen: Die in V 17–20 beschriebene Flucht ist eben auch ein Im-Stich-lassen der Zurückgelassenen. Dass die Kinder niemanden fanden, der ihnen Brot brach (V 4), ist auch eine Aussage über fehlenden innerstädtischen Zusammenhalt. Der Einst-Jetzt-Vergleich in V 5 ist auch deshalb schockierend, weil das beschriebene Verhalten unangemessen und unmoralisch wirkt. Und das Entsetzen über die Teknophagie in V 10 ist auch Entsetzen über das Handeln der Mütter. Die damit erzielte Botschaft ist schon genannt worden: Nachhaltiger als eine Vernichtung des Staates von außen jemals sein kann, ist seine Zersetzung von innen. Klgl 4 stellt dar, was passiert, wenn eine Gesellschaft ihre Seele verliert. Ein solcher Verlust, so bezeugt es die survival literature, ist häufig irreversibel – das Gericht wäre damit dann wahrlich ‫ כלה‬zum Ziel gebracht. 6.4.3.3 Die Welt im Chaos Die teilweise schillernden Vergleiche und sprachlichen Bilder von Klgl 4 wurden schon mehrfach angesprochen. Was impliziert, aber bisher nicht weiter thematisiert wurde, ist der Umstand, dass sie in aller Regel eine erstaunliche Verkeh1003 V 4.19: Priester; V 4.18 Jungfrauen; V 5.16: Zions Kinder; V 6: Fürsten; V 7.11: Volk; V 15.18: ( junge) Männer; V 19: Älteste.

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rung der »normalen« Verhältnisse beschreiben. V 5b: Die getragen wurden auf Purpur – umarmten Misthaufen. ist hierfür ein gutes Beispiel. Bilder wie diese gehören dem sog. Mundus-Inversus-Topos an, der im AT auch anderswo bezeugt ist.1004 Die Darstellung einer Welt, in der die normale Ordnung auf den Kopf gestellt ist und auf natürliche Gesetzmäßigkeiten kein Verlass mehr ist, kann verschiedenen rhetorischen Zielen dienen. Sie kann als Utopie die Vision einer anderen, besseren Welt zeichnen.1005 Als Kehrseite dazu kann der Topos auch dazu dienen, sozio-politische Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu begegnen. Beispielsweise zeichnet Jes 3,1–7 eine Gesellschaft, in der die »normalen« gesellschaftlichen Zustände auf den Kopf gestellt sind – und der kritische Unterton der Darstellung ist unüberhörbar. In diese Richtung gehen in Klgl 4 die V 1–2.5.16. Schließlich ermöglicht der Topos schlicht die Darstellung von Chaos.1006 Dies ist es, was in den Klgl allgemein und in Klgl 4 im Speziellen auftaucht. Schon der Hinweis auf das »verdunkelte« Gold in V 1a macht deutlich, dass die nachfolgend beschriebene Welt nicht den normalen Gesetzmäßigkeiten folgt. Die folgenden Verse bleiben dieser Grundaussage verpflichtet. ‫ – אבני־קדש‬seien es nun tatsächlich »heilige Steine« oder eine Metapher für Kinder – liegen normalerweise nicht auf den Straßen verstreut (V 1b). Kinder – V 2 – werden nicht wie Töpferware behandelt, sondern fürsorglich und mit Liebe. Mütterliche Liebe und Sorge für den Nachwuchs existieren zwar auch in der Welt von Klgl 4 – doch lediglich bei den Schakalen in der Einöde. V 3 fokussiert die Botschaft auf das Engste: In der paradigmatischen Chaossphäre, bei den exemplarischen Wüstentieren finden sich verlässliche, »ordentliche«, verwandtschaftliche Bindungen und Beziehungen. In der Stadt hingegen, Symbol für eine von Gott gefügte und garantierte Ordnung, verhalten sich die Menschen wie Strauße, und sind die Verhältnisse in jeglicher Hinsicht auf den Kopf gestellt. Im Kontext des Buches trägt der Mundus-Inversus-Topos dazu bei, die in Klgl 4 geschildert Realität als eine grundlegend lebensfeindliche, unverständliche und unverstehbare, gottferne und chaotische zu beschreiben. Die Stadtbevölkerung – so sie nicht ihr Heil in der Flucht suchte – erscheint nicht mehr als ein Sozialgefüge, das Regeln von Vernunft und Moral folgt, sondern als atomisierte Individuen, ohne Halt und Hoffnung. Klgl 4 zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die aufgehört hat, eine zu sein.

1004 Vgl. hierzu Kruger (2009), Kruger (2012a), Kruger (2012b) und Dobbs-Allsopp (1993), 39– 42. 1005 Kruger (2009), 181–184. Ein biblisches Beispiel wäre Jes 11,6–8. 1006 Kruger (2012a).

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6.4.3.4 »Größer als die Sünde Sodoms…« Nach Frevels Einschätzung steht Klgl 4 »vielleicht nicht zeitlich, aber theologisch«1007 zwischen Klgl 1 und 2. Zwar würde auch hier mit dem Verweis auf den Zorn Gottes ein wichtiges Theologumenon deuteronomistischer Theologie aufgenommen,1008 jedoch dessen eigentlich springenden Punkt – die Verletzung des göttlichen Ausschließlichkeitsanspruches – nicht mehr in den Mittelpunkt gestellt. Vielmehr würde schon stärker mit einem Geschichtsmodell gearbeitet, das »in den Verfehlungen der Führungsschicht die Katastrophe verortet«1009. Die Art und Weise, wie Klgl 4 das Gericht als Resultat eigener Schuld und Sünde zeichnet, und welche Konsequenzen es daraus zieht, sind für die Deutung des Liedes als Einzeltext wie auch als Teil des Buches von Bedeutung. Zum einen ist bemerkenswert, wie viel Raum das Thema in Klgl 4 einnimmt. Insgesamt 14 Zeilen beschäftigen sich in der einen oder anderen Art mit der eigenen Schuld und stellen damit sämtliche der übrigen Lieder in den Schatten.1010 Neben der Anzahl der Belege ist auch inhaltlich eine Intensivierung erkennbar. Nur noch in Ez 16,48 findet sich die Aussage, dass Zions Schuld selbst die Sünde Sodoms übertreffe. Das Benennen konkreter Bevölkerungsgruppen und Vergehen, wie es in V 13–16 (aber in Andeutungen auch in den V 3–6) zu erkennen ist, ist für die sonstigen Lieder untypisch.1011 Das Verhalten der Priester und Propheten kommt einem dreifachen Verrat am Volk gleich: das Blut Gerechter zu vergießen ist offenkundig rechtswidrig und insofern ein Missbrauch des in sie gesetzten Vertrauens. Dieses Handeln beschwor das Gericht herauf. Nun sind sie unrein und können damit nicht mehr als Adressaten für eine göttliche Weisung, die in der jetzigen Lage nötiger wäre denn je, fungieren. Letztlich ist auch V 22a – sei es als ein Zuspruch von Hoffnung, sei es als zynisches Urteil über das Ausmaß des eigenen Schuldmaßes – eine im Rahmen der Klgl singuläre Aussage. In die gleiche Richtung geht die Beobachtung, dass Klgl 4 das einzige Lied, ist, das Gott nicht direkt anspricht.

1007 1008 1009 1010

Frevel (2002), 146. Lohfink (2000). Frevel (2002), ebd. Klgl 4: V 3b.6.11ab.13a–16b.22a. Demgegenüber in Klgl 2 nur V 14a–c, in Klgl 3 nur V 39.40– 42. Selbst in Klgl 1 ist das Thema mit V 5b.8f.18a.20b.22b weniger präsent. 1011 In Klgl 1 sind V 5.8 auf Zion gemünzt, V 18.20.22 werden von Zion selbst geäußert. In Klgl 3 (und dann auch wieder in Klgl 5) sieht sich das gesamte Kollektiv zum Schuldeingeständnis bewegt. Die Aussage in Klgl 2,14 ist zwar auf den ersten Blick ähnlich, kommt der Schuldzuschreibung von Klgl 4 jedoch nicht nahe; während in Klgl 2 die Propheten zwar eine Teilverantwortung am Hereinbrechen der Katastrophe tragen, werden in Klgl 4 in parallelen Aussagen die Sünde der Propheten und die Schuld der Priester zur Erklärung des Gerichts herangezogen und mit konkreten Vergehen – wenngleich diese historisch nicht fassbar sind – unterlegt.

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6.4.3.5 Zusammenfassung Kombiniert man sämtliche Beobachtungen, so ergibt sich eine nahe liegende argumentative Linie, die am einfachsten dargestellt werden kann, wenn man die auffälligste theologische Differenz zwischen Klgl 3 und Klgl 5 in den Blick nimmt. Klgl 3 steht ganz unter dem Motto der Entwicklung eines lebensfähigen Verhaltens zum Erleiden des anhaltenden göttlichen Zornes. Der Mann schlägt einerseits demütig-geduldiges Warten und Hoffen auf Gottes Huld vor (V 22–30), sowie ein klares Bekenntnis zur eigenen Schuld (V 40). Aus beidem folgt die erneute Zuwendung Gottes, denn: ‫ לא ענה מלבו‬Nicht erniedrigt er von Herzen (V 33), was zum Glauben berechtigt: ‫ לא יזנח לעולם אדני‬Nicht verstößt für immer der Herr (V 31). In Klgl 5 kommt dagegen ein Kollektiv zu Wort, das zwar nach wie vor unter dem göttlichen Zorn leidet, jedoch nicht mehr darauf vertraut, dass eigenes Bereuen hinreichend ist für die erneute Zuwendung Gottes.1012 Nicht eigenes Umkehren, sondern nur die dem vorausgehende Neuzuwendung Gottes kann die Wende einleiten. Doch dann ist die Existenz unter dem anhaltenden Zorn Gottes umso unverständlicher! Warum verweigert sich Gott einer erneuten Zuwendung, wie es der anhaltende Zorn ja augenscheinlich demonstriert? »In der misslichen Situation, die Folgen der Sünden der Väter tragen zu müssen, ohne diese verursacht zu haben, ruft der Beter Gott also zur Entscheidung auf: entweder ewige Verdammnis oder Neubegründung des Gott-Mensch-Verhältnisses; aber kein weiteres Verweilen in dem Zustand aktuellen Leids und immer wieder enttäuschter Hoffnung auf Gnade.«1013

Klgl 4 fungiert hierzu als Bindeglied. Es erneuert die aus Klgl 2 bekannte Darstellung eines richtenden Gottes, der bei seinem Gerichtshandeln scheinbar sämtliche Zurückhaltung fallen lässt, führt diesen Punkt dann jedoch nicht im Sinne einer Anklage an Gott fort, sondern nimmt stattdessen das in Klgl 3 eingeführte Thema des individuellen Erlebens des Gerichtshandelns auf. Dieses wird auf zwei Ebenen entwickelt: Zum einen liegt der Fokus konsequent auf den Auswirkungen des Gerichts auf die Bevölkerung. Daneben wird allerdings auch die Schuld deutlicher als in den übrigen Liedern bei konkreten Bevölkerungsgruppen gesucht. Die Darstellung läuft auf die Schlussfolgerung zu, dass JHWH 1012 Vgl. Klgl 5,21: ‫ השיבנו יהוה אליך ונשוב‬Kehre uns, Herr, zu dir, so kehren wir um! Bemerkenswert ist nicht nur, dass damit die eigene Fähigkeit zur erneuten Zuwendung zu Gott negiert wird, sondern auch, dass die Aussage von zwei Versen gerahmt wird, die mit dem klaren Gegenteil des hier Erwünschten befasst sind. V 20 beschreibt den gegenwärtigen Zustand als ein fortwährendes Vergessen (‫ )שכח‬und Verlassen (‫ )עוב‬durch Gott, V 22 nimmt in der schwierigen Formulierung ‫ כי אם־מאס מאסתנו קצפת עלינו עד־מאד‬es sei denn, du uns völlig verworfen hast, uns gar zu sehr zürnst. durchaus die Möglichkeit eines vollständigen Scheiterns der Gottesbeziehung in den Blick. 1013 Wagner (2012), 635.

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nicht nur die Stadt als politische Größe, sondern auch die Stadtbevölkerung als soziokulturelle Solidargemeinschaft praktisch vollständig ausgelöscht hat – und zwar auf einer so elementaren Ebene, dass ihr physisches Überleben ihren psychisch-emotionalen Tod, das Sterben des community spirit, nicht verhehlen kann. Im Kontext des Buches wird damit der »Lösung« von Klgl 3 zumindest in Teilen eine deutliche Absage erteilt. Paradigmatisch ist hier die (sicherlich dem Zufall geschuldete) Kontrastierung der ‫ט‬-Strophen von Klgl 3 und 4: Auch demütiges Ausharren und vertrauensvolles Hoffen erfordern ein Mindestmaß an körperlich-geistigem Wohlergehen. Sie bedürfen eines sozialen Gefüges (das Schuldbekenntnis in Klgl 3 erfolgt innerhalb des Kollektives!), in dem die oder der Einzelne sich aufgehoben fühlen kann und in dem elementare moralische und gesellschaftliche Normen zum Wohle Aller weiterhin gelten. Vor allem bedarf es einer Situation, in der der Überlebenswille der Betroffenen nicht ständig zu verlöschen droht, d. h. die elementaren Bedürfnisse des Menschen müssen zumindest grundlegend gesichert sein. Ein Gericht, in dem all dies verloren geht, ist wahrlich »zur Vollendung« gekommen. Klgl 4 ist in diesem Sinne eine äußert kritische Replik auf die »Leben ist Gnade genug«-Argumentation von Klgl 3,37–39. Daran anschließend ist zu fragen, mit welcher Begründung ein derartiges Gericht dann noch als gerechtes Gericht gelten kann? An dieser Stelle setzt Klgl 5 an und führt zum einen die Wir-Rede fort, und bringt aus erkennbar späterer Perspektive die in V 19–22 gipfelnde Entscheidungsfrage gegen Gott vor. So wie Klgl 3 als »Antwort« auf die Herausforderung von Klgl 2 fungiert, kontrastiert Klgl 4 die von Klgl 3 präsentierte Lösung mit der desaströsen Situation der Bevölkerung während des Gerichts und seiner unmittelbaren Folgezeit, also gerade mit der Zeit, für die das Programm des Mannes ja Weisung und Ratschlag sein sollte. Es insistiert, dass die von Klgl 3 formulierten Verhaltensmaßregeln nur so lange Plausibilität beanspruchen können, wie ihr Befolgen nicht lebensbedrohlichen körperlichen und geistigen Verfall zur Folge hat. Der Mann wies zu Recht darauf hin, dass eine Gotteskritik, die uferlos wird, ihr produktives Potential verliert; Klgl 4 gibt im Gegenzug zu bedenken, dass die Fähigkeit, Extremsituationen zu ertragen und Würde zu bewahren, begrenzt ist. Wird hier die Grenze des Erträglichen überschritten, kommt der Punkt, an dem es scheint, dass ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende allemal vorzuziehen ist. Dieser Punkt, so insistiert Klgl 4, wurde während des Gerichts, während der Belagerung Jerusalems überschritten, das Gericht überschritt das Maß des Erträglichen. Es liegt nun an Klgl 5, auch JHWH davon – wenigstens für die Zukunft – zu überzeugen. Auch hinsichtlich der Gottesbeziehung, die sich in Klgl 3 sich als zunehmend wieder als gefestigte und von Vertrauen geprägte präsentierte, schließt Klgl 4 mit einem beklemmenden Votum: Klgl 3 machte deutlich, dass sich Gottes Gerech-

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tigkeit in der sozialen Sphäre erweist, sich auch die Gottesbeziehung selbst innerhalb eines sozialen settings aktuiert – nämlich im Gebet, welches sich in Klgl 3 ganz pointiert durch einen gemeinschaftlichen Aufruf und in einer Gruppe vollzog. Klgl 4 hingegen zeichnet eine Welt, in der jegliche Gemeinschaft zu existieren aufhörte und wo Solidarität, Mitgefühl und Verantwortung keine Rolle mehr spielten. In der Abfolge von Klgl 3 zu Klgl 4 muss man sich demnach fragen: Wie ist in einer Welt, wie sie Klgl 4 zeichnet, Gottesbeziehung überhaupt möglich? Klgl 4 nimmt insofern den Faden von Klgl 2 auf und beschreibt eine Welt, in der nicht einmal mehr die Voraussetzungen für eine heilsame Gottesbeziehung gegeben sind.

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Mit Klgl 5 endet das Buch. Damit verbindet sich die Erwartung, dass der Gedankengang zu einem Abschluss gelangt, ein Ergebnis präsentiert und ganz allgemein die Darstellung zu einer »runden Sache« wird.1014 Andere sehen in Klgl 5 den Höhepunkt des Buches.1015 Welcher Sicht der Vorzug zu geben ist, wird das aktuelle Kapitel zeigen. Unmittelbar auffällig ist, dass Klgl 5 nur noch 22 Bikola umfasst,1016 und nicht mehr als Alphabetakrostichon verfasst ist. Wie schon in Klgl 4 wäre es unbegründet, hierin einen Rückschritt, ein Abflachen o. ä. zu sehen. Vielmehr sprechen eine Reihe von Beobachtungen dafür, darin eine bewusste stilistische, aber auch inhaltliche Entscheidung zu sehen.1017 (1) Klgl 5 setzt nicht mehr mit dem 1014 Berlin (2002), 117 fasst es gut zusammen: »Many commentators consider it a coda, a reprise of the thoughts of the four chapters before it, and a poetic closure to the collection as a whole.« 1015 Assis (2007), 723. 1016 Die reduzierte Zeilenanzahl geht mit einer leicht erhöhten Anzahl von Silben einher: Statt wie in Klgl 1–4 durchschnittlich 13,5 Silben pro Zeile, sind es in Klgl 5 etwa 16,5. (Freedman [1972], 392). 1017 Inwiefern die formalen Modifikationen neben ihrem Hinweischarakter auch noch eine eigenständige inhaltliche Bedeutung haben, ist schwierig zu entscheiden. Die Gefahr, strukturelle Indizien übermäßig mit inhaltlicher Bedeutung aufzuladen, ist erheblich. So sehen O’Connor (2002), 70 und Provan (1991a), 124 die Hoffnungslosigkeit, die sich durch das ganze Buch hindurch immer deutlicher manifestierte und bislang durch die Akrostichie wenigstens noch formal in Schach gehalten wurde, nun endgültig die Oberhand gewinnen. Zu einer genau entgegengesetzten Sicht kommt Assis (2007), 723f. Die Klage, die in Klgl 1–4 durch die Akrostichie auch äußerlich in Form und Ordnung gehalten wurde, weiche in Klgl 5 einem von Herzen kommenden Bittgebet an Gott. »As befits prayer from the heart, it is not written as an acrostic.« In beiden Fällen koinzidieren die inhaltliche Interpretation des Liedes mit der Deutung seiner Struktur, was vermuten lässt, dass die Deutung der Struktur eher eine Allegorese auf die vorher etablierte inhaltliche Deutung ist. Wagner (2012), 624: »für seinen direkten Kontext von eher geringem Wert erscheint«.

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Klageruf ‫ איכה‬ein, sondern direkt mit einer Aufforderung an Gott. Beides signalisiert, dass das Lied nicht einfach nur eine Fortführung des Bisherigen darstellt. (2) Ausschließlich in Klgl 4 fehlte eine direkte Anrede an Gott. (3) Klgl 4–5 umfassen zusammen 66 Bikola (und damit die gleiche Anzahl von Zeilen, wie jedes der Lieder 1–3). (4) Klgl 5 nimmt die in Klgl 4,17–20 plötzlich aufscheinende Wir-Perspektive wieder auf und führt sie weiter.1018 Es liegt nahe, dass Klgl 5 zwar als eigenständiger Text verfasst, jedoch bewusst hinter Klgl 4 platziert wurde, um den dortigen Gedankengang weiterzuführen. Auch inhaltlich legt sich die Vereinfachung der Form als Interpretationshinweis nahe: Nach Klgl 1–4 steht nun die alles entscheidende, aber doch auch sehr einfache Frage an: Neues Vertrauensverhältnis zu Gott – oder Verwerfung?

6.5.1 Gliederung Auch in Klgl 5 wird eine Gliederung in Strophen und der entsprechenden höheren Einheiten zugrunde gelegt. Deutlich als Bereich erkennbar sind die V 19– 22: Mit Ausnahme von V 1 ist nur hier das Tetragramm zu finden; V 19 setzt zudem mit dem betonten ‫ אתה יהוה‬ein. Schon die Masoreten sahen nach V 18 einen Neueinsatz, und setzten daher eine Petucha. Ebenso deutlich sind V 11–14 als Einheit erkennbar: Nur hier (und in V 18) wird beschreibende Rede statt einer Darstellung in der 1. Person Plural verwendet. Dass ausschließlich in V 11 und V 18 der Ortsbegriff »Zion« auftaucht, spricht für eine Teilgliederung in drei Stanzen V 11–14.15–18.19–22, die gleichzeitig eine ungefähre Mitte des Liedes in V 10 markiert. Damit scheint auch in Klgl 5 eine Anlage aus zwei etwa gleich langen Sektionen vorzuliegen. Schwieriger ist die Gliederung der ersten Sektion. Berges und Renkema nehmen die weitgehend zweistrophige Feingliederung der V 11–22 zum Anlass, eine vergleichbare Anlage auch für V 1–10 zugrunde zu legen.1019 Für die V 9–10 ist daran nichts auszusetzen: Beide Verse verbinden die Motive »lebensbedroh1018 Berges(2002), 273. Zudem weist Dobbs-Allsopp (2002), 140 darauf hin, dass eine der wichtigsten dichterischen Möglichkeiten, das bevorstehende Ende des Buches anzukündigen, darin besteht, etablierte Schemata zu durchbrechen: »Modification creates the expectation of nothing, and therefore the audience is satisfied with the failure of continuation. Thus, one of the most common and effective ways to conclude a sequence of poems is simply to modify its governing patterns of repetition.« In diese Richtung weist auch die Beobachtung, dass in Klgl 5 wieder der klassische Parallelismus dominiert; enjambierte Zeilen, die für Klgl 1–2 den Normalzustand darstellten und in Klgl 3–4 noch häufiges Gestaltungsmittel waren, findet sich nur noch selten (lt. Dobbs-Allsopp [2001a], 374 nur noch 14–24 % enjambierte Zeilen). 1019 Berges (2002), 274 schließt sich ohne weitere Begründung der Argumentation aus Renkema (1988c), 349 an.

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licher Hunger« und »Hitze«; zudem taucht in beiden Versen der Ausdruck ‫מפני‬ auf. Auch V 1–4 lassen sich als Einheit begreifen: Nach der in V 1 eingeforderten Aufmerksamkeit JHWHs, führt V 2 aus, worin die in V 1 angesprochene Schmach liegt. V 3–4 explizieren diese dann hinsichtlich sozialen Statusverlustes und Versorgungsnot.1020

Stanze I (V 1–4)

1. Sektion: V 1–10 Sub-Stanze (V 1–2) Sub-Stanze (V 3–4)

Stanze II (V 5–6)

(2 Strophen) Sub-Stanze (V 7–8)

Stanze III (V 7–10)

Stanze IV (V 11–14) Stanze V (V 15–18) Stanze VI (V 19–22)

(2 + 2 Strophen)

Sub-Stanze (V 9–10) 2. Sektion: V 11–22 Sub-Stanze (V 11–12) Sub-Stanze (V 13–14) Sub-Stanze (V 15–16) Sub-Stanze (V 17–18) Sub-Stanze (V 19–20) Sub-Stanze (V 21–22)

(2 + 2 Strophen) (= 10 Strophen)

(2 + 2 Strophen) (2 + 2 Strophen) (2 + 2 Strophen) (= 12 Strophen)

Übersicht 20: Gliederung von Klgl 5

Problematisch sind die V 5–10, da das Gleichgewicht zur zweiten Sektion in jedem Fall gestört wird. Eine umfassend befriedigende Lösung scheint es nicht zu geben. Für die von Renkema und Berges vorgeschlagene Einteilung in V 5–6.7– 8.9–10 lässt sich vorbringen, dass V 8 die Konsequenzen des in V 7 beschriebenen Sündigens darstellt. Sind somit V 1–4 und V 7–10 als Stanzen identifiziert, kommt man nicht umhin, V 5–6 als weitere, nur zwei Verse umfassende Stanze aufzufassen.

1020 In V 3 die Zerstörung von Familienstrukturen thematisiert zu sehen (Wagner [2012], 626) ist abwegig. Der Vergleich der Mütter mit Witwen zielt, wie schon in Klgl 1,1 auf den sozial und rechtlich prekären Status von Witwen; dementsprechend bezieht sich ‫ אב‬nicht auf den leiblichen Vater, sondern die gesellschaftlichen und politischen Eliten (Berges [2002[, 282, Gottwald [1962], 68, Renkema [1995a], 122, Anm. 12).

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6.5.2 Exegetische Anmerkungen Wurde in Klgl 4 insbesondere eine direkte Anrede an Gott vermisst, so setzt Klgl 5 genau damit ein. Der Imperativ ‫ זכר‬Gedenke! tritt dabei an die Stelle des bisher zu findenden ‫איכה‬. ‫ זכר‬wird häufig antithetisch zusammen mit ‫ שכח‬vergessen verwendet, sowohl im positiven, (gedenken – nicht vergessen: Dtn 9,7; 1Sam 1,11; Ps 9,13), wie auch negativen Sinne (vergessen – nicht gedenken: Gen 40, 23; Ijob 24,20; Spr 31,7; Jes 17,10; 54,4). Wenn dann V 20 fragt, warum JHWH die Gemeinschaft auf immer vergisst (‫)למה לנצח תשכחנו‬, wird deutlich, dass die normale Ordnung der Dinge außer Kraft gesetzt ist: JHWH gedenkt – und vergisst trotzdem! Die Wurzel selbst tauchte schon in Klgl 1,7.9; 2,1; 3,19.20[bis] auf und fungiert damit als wichtiger buchinterner Rückverweis. Auch die Weiterführung ‫ מה־היה לנו‬was uns geschah erinnert an die Darstellung aus Klgl 1–4. Was liedintern als kataphorischer Verweis gilt, wird im Rahmen des Buches damit als anaphorischer aufgefasst. Die Verbindung mit dem Bisherigen wird durch die Aufforderung, zu sehen und zu schauen (‫ )ראה והביטה‬noch verstärkt. Auch diese Forderung fand sich schon in Klgl 1,9.11.20 und in Klgl 2,20. Dass Gott Unrecht auf der Welt sieht und durch sein Handeln abwendet, war in Klgl 3,31–39 zu einem zentralen Punkt der theologischen Bewältigung des Gerichts ausgebaut. Schließlich erinnert auch das Stichwort ‫ חרפה‬Schmach an Klgl 3,30.61 und verweist motivisch zurück auf Klgl 1 und die dort öffentlich entblößte und verächtlich gemachte Zion.1021 Auf vielfältige Weise knüpft damit der erste Vers an die bisherigen Lieder an und bereitet zugleich auf das Folgende vor. Von Beginn an steht damit die Frage im Raum: Hat sich etwas geändert? Die Formulierung in der 1. Person Plural setzt zudem stilistisch die Rede des Kollektivs in Klgl 4,17–20 fort; dass jeweils ein unterschiedliches Setting vorausgesetzt ist, wird in Klgl 5 erst durch die Fortsetzung in V 2ff. deutlich. Zusammen mit der oben dargestellten Überlegung, dass die direkte Gottesanrede in Klgl 5 die diesbezügliche Fehlstelle in Klgl 4 füllen soll, ergibt sich mit Klgl 5,1 ein sehr bewusst konzipierter Beginn, der auf engstem Raum die gesamte bisherige Darstellung nochmals präsent macht. Die folgenden V 2–4 diskutieren, was in V 1 mit »Schmach« schon angedeutet wurde: Einmal der Verlust der ‫ נחלה‬als JHWHs an Israel gegebener Erbteil.1022 Wenn dieser an ‫ זרים‬Besatzer, Usurpatoren, Fremde geht, konnotiert dies die in erster Linie die fraglich gewordene Erwählung Israels durch JHWH. Im profanen Sinne ist die ‫ נחלה‬aber auch schlicht der Erbteil, auf den man per Erbfolge ein Recht hat.1023 Geht dieser an Besetzer, heißt dies auch, dass die althergebrachte 1021 Olyan (1996), 216f. 1022 Berges (2002), 280. 1023 Lipin´ski (1986), 345.

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Rechtsordnung nicht mehr geachtet und von Usurpatoren verdreht wird – eben jener Vorwurf, der in Klgl 3,35 formuliert wurde! Dass darüber hinaus auch sonstige Immobilien (‫ )בתינו‬verloren gehen, verdeutlicht die Mittel- und Rechtlosigkeit, die nun herrscht. V 3 vergleicht den resultierenden Zustand mit der sozialen und rechtlichen Unsicherheit, die mit den Begriffen Witwe und Waise konnotiert ist.1024 V 4 illustriert dies damit, dass selbst für die Ressourcen, die normalerweise weitgehend umsonst verfügbar sind, inzwischen Geld zu zahlen ist. Spätestens hier wird auf der Textebene deutlich, dass mit zeitlicher Distanz auf die Belagerung und Zerstörung Jerusalems zurückgeblickt wird: Statt drohender Tod durch Hunger und Feinde steht die beschwerliche Existenz als Unterjochte und Rechtlose im Vordergrund. Die versagte Ruhe (‫ )נוח‬erinnert an Klgl 1,3 (dort ‫)מנוח‬. Hier wie dort gilt das Ruhen bzw. die Ruhe als Heilsgut (vgl. Jes 25,10; 57,2), als Ruhe vor Krieg und Feinden im Land (Dtn 3,10; 12,10; 25,19; Jos 1,13.15 u. ö.).1025 Ihre Verkehrung ins Gegenteil verdeutlicht das fraglich gewordene Gottesverhältnis. Mit dem Schuldeingeständnis in V 7 wird eine Differenzierung eingeführt, die bislang keine Rolle spielte: die Vätergeneration hat gesündigt (‫)חטא‬, die Kinder hingegen tragen ihre Schuld (‫)עון‬. Diese Aussage kollidiert auf den ersten Blick mit V 16 (‫)אוי־נא לנו כי חטאנו‬. Dies jedoch zum Anlass zu nehmen, für Klgl 5 eine mehrstufige Redaktionsgeschichte zu postulieren,1026 ist unnötig. Zwar wird in V 7 die Täterschaft der Väter besonders betont, und durch die Kontrastierung mit dem eigenen Schicksal die Eigenständigkeit der eigenen Generation herausgestellt, jedoch geschieht dies nicht, um vor Gott die Sippenhaft anzuprangern, in die sich die Nachfolgegeneration genommen sieht, sondern um Kritik an den Vätern zu formulieren, eben gerade weil deren Sünde zu immer noch währender Strafe führte. »In ihrer eigenen Sündigkeit … gleichen sie ihren Vätern, doch anders als sie, die nicht mehr leben …, leiden die Betenden noch tagtäglich unter der Schuld.«1027 Hier wird angesprochen, was auch in Klgl 4,9 schon – dort allerdings weitaus zynischer – zur Sprache kam: Die Dauer des Leidens ist von Bedeutung! Wenn die eigentlich ursächlich Verantwortlichen 1024 ‫ יתום ואלמנה‬Waise und Witwe stehen häufig zusammen (vgl. Ex 22,21; Dtn 10,18; 27,19; Ps 146,9; Jer 7,6; 22,3; Ez 22,7; Zef 7,10; Mal 3,5 u. ö.) und damit pars pro toto für die Entrechteten und wirtschaftlich Schutzbedürftigen. Diesen Schutz zu gewähren, ist in erster Linie JHWHs Aufgabe (vgl. Dtn 10,18). Die Übersetzung mit »vaterlos« (Ringgren [1982], 1077) ist wohl zu eng (Renkema [1995a]). Vgl. auch Hoffner (1973). 1025 Preuß (1986), 300. 1026 Wagner (2012). 1027 Berges (2002), 286. Vgl. auch Kilpp (1985), 219f. Kessler (1996), 33: »Die Feststellung des Zusammenhangs zwischen den »Sünden der Väter« und den Folgen für die Nachgeborenen … ist also nicht an sich falsch. Sie wird aber dann falsch, wenn sie bloß der Ent-Schuldigung der nachfolgenden Generationen dienstbar gemacht wird.« Genau dies ist in Klgl 5 (ausweislich V 16) aber nicht der Fall.

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schon tot sind – wäre es nicht an der Zeit an der nachfolgenden Generation Gnade walten zu lassen? Die folgenden Verse führen weiter aus, worin die fortdauernde Not besteht. V 8–10 verbleiben dabei noch in der Darstellung des bedrückenden Hungers sowie der Unterjochung (vgl. V 5) durch Knechte. V 9–10 lesen sich dann wie ein Echo auf Klgl 4: Klgl 5,9 enthält wie Klgl 4,9 die Motivkombination Schwert (‫)חרב‬ – Nahrung (‫ לחם‬Brot bzw. ‫ תנובת שדי‬Erträge des Feldes).1028 Klgl 5,10 erinnert mit dem Bild der vor Hunger »glühenden« (‫ )כמר‬Haut an Klgl 4,8, wo die Haut der Nasire vor Trockenheit schrumpft und spannt. Doch macht die Motivaufnahme zugleich den Unterschied deutlich: Ging es in Klgl 4 um die Darstellung einer im Sterben begriffenen Sozialgemeinschaft, wird die Schilderung hier in V 8 durch die Klage ‫ עבדים משלו בנו‬Sklaven herrschen über uns! eingeleitet. Es geht nicht so sehr um akute Todesbedrohung, sondern die kontinuierlich beschwerliche Existenz in einer Welt, die wortwörtlich nicht in Ordnung ist.1029 Damit schließt die erste Sektion. Ausgehend von V 1α ‫זכר יהוה מה־היה לנו‬ Gedenke, JHWH, was uns geschehen! entwickeln die V 2–10 das Bild einer Existenz, die von Verlust und Bedrückung, aktuellen Entbehrungen und Gefahren geprägt ist. Neben den Motiven materieller Verlust (V 2) und Unsicherheit (V 3– 4) bzw. Hunger (V 6.9–10) ist es insbesondere die Erfahrung, unterdrückt und beherrscht zu werden (V 5.8), die die Darstellung prägt. Die darin enthaltende, gleichsam doppelte Erniedrigung – einst Freie wurden zu Knechten, die ihrerseits von ‫ עבדים‬unterdrückt werden – wird in V 11–14 in ihren gesellschaftlichen Folgen expliziert, wobei auffällt dass die Verse, die am eindringlichsten von den Erniedrigungen sprechen, denen die Bevölkerung ausgesetzt ist, nicht in der 1. Person Plural, sondern in »unpersönlicher«, beschreibender Sprache der 3. Person verfasst sind. V 11–14 machen deutlich: Es herrscht Unterdrückung und Rechtlosigkeit, Frauen und Jungfrauen werden geschändet,1030 den gesellschaftlichen Eliten droht Ehrlosigkeit oder gar der Tod. Die auffällige Frontstellung des Bildes der vergewaltigten Frauen lässt vermuten, dass es hier um deutlich mehr geht, als die Klage über »theft of sexual property«1031. Der Vers beschreibt ein umfassendes Geschehen: Hinsichtlich der Städte folgt auf die konkrete Stadt ‫ ציון‬der allgemeine Ausdruck ‫ערי יהודה‬. Umgekehrt nennt der Vers anfangs allgemein ‫ נשים‬Frauen 1028 Berlin (2002), 121 schlägt vor, ‫ חרב‬in V 9 (analog zu Dtn 28,22) mit Dürre zu übersetzen. Damit wäre der Bezug zu Klgl 4,9 noch enger. 1029 Mit der Vorstellung, dass ‫ עבדים‬Knechte herrschen, ist nicht zuletzt der auch in Klgl 4 prominente Verkehrte-Welt-Topos eingespielt. 1030 Bemerkenswerterweise findet sich trotz der sexualisierten Metaphorik von Klgl 1 nur hier und in Klgl 3,33 die Wurzel ‫ענה‬, die normalerweise mit vergewaltigen übersetzt wird. Zur Frage der Angemessenheit der Übersetzung vgl. Gravett (2004), 287. 1031 So die Definition von rape im Alten Testament von Thistlethwaite (1993), 62.

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und steigert anschließend mit ‫ בתלת‬Jungfrauen. Nicht nur in Zion, sondern überall im Lande werden nicht nur Frauen allgemein, sondern insbesondere auch unverheiratete, junge Frauen vergewaltigt. Neben der offensichtlichen Gewalttätigkeit des Bildes wird verdeutlicht, dass im ganzen unterjochten Land – in allen Städten Judas – Rechtlosigkeit, Willkür und Gewalt herrscht, die Vergewaltigung zu einer bewussten und umfassenden Demütigung praktisch des gesamten Sozialsystems führt. Beschrieb V 11 die an Frauen verübte Gewalt, geht es in V 12 um die politischen und gesellschaftlichen Führungseliten. Ob mit ‫ תלה‬hängen oder pfählen gemeint ist, kann dahingestellt bleiben.1032 In beiden Fällen läge der Akzent auf der Zurschaustellung eines – im Falle des Hängens sicher, im Falle der Pfählung vermutlich – schon vorher toten Menschen, um damit abzuschrecken, aber auch die Opfer über den Tod hinaus verächtlich zu machen. Dass man das ‫ פנה‬Antlitz der Ältesten nicht ehrt, erinnert an Klgl 4,16, wo es das Antlitz der Priester war, denen man keine Ehrfurcht zollte (‫)פני כהנים לא נשאו‬. Der traditionell positive Blick auf die ‫ זקנים‬Ältesten1033 wird in den Klgl immer dort eingespielt, wo es darum geht, das Leiden der Zivilbevölkerung in den Blick zu nehmen, ohne die Frage eigener Schuld aufzumachen (Klgl 1,19; 2,10.21; 4,16; 5,12.14). V 13 verdeutlicht daraufhin, dass die Jungen unter den Unterdrückern ebenso zu leiden haben wie die Alten. Das Bild der Handmühle verweist vermutlich auf die eigentlich von Frauen zu verrichtende Arbeit des Getreidemahlens – die unter dem Holz strauchelnden jungen Knaben (‫ )נער‬verdeutlichen die Beschwerlichkeit des täglichen Lebens. V 14 fasst den Abschnitt zusammen, indem es die Torgerichtsbarkeit, als Bild für »kommunale Selbstverwaltung«, ebenso sistieren lässt wie das gemeinsame Musizieren als Ausdruck gemeinschaftlicher Kulturpflege und Freizeitbeschäftigung. Die vier Verse V 11–14 umreißen eine Gemeinschaft, die ihres Selbststandes und Würde beraubt ist, erniedrigt und unterdrückt ein Dasein fristet, das keinen Anlass für Hoffnung gibt. Alter wird ebenso wenig respektiert wie Jugend; die Bevölkerung wird zu Fronarbeit gezwungen; gesellschaftliche Selbstregulierung, die ja auch einen Widerhall im gesellschaftlichen Selbstwertgefühl hat, ist unmöglich. Die V 15–18 bereiten den Höhepunkt des Liedes in V 19–22 vor, indem sie zunehmend auf die gestörte Gottesbeziehung abheben. Die gehäufte Nennung von Körperteilen (V 15: Herz, V 16: Haupt; V 17: Herz, Augen) führt ein Moment expressiver Emotionalität ein, dem im Ausruf ‫ אוי־נא לנו כי חטאנו‬Weh uns, dass wir sündigten! Ausdruck verliehen wird.1034 Im Gegensatz zu den V 11–14 wird nun 1032 Für letzteres votiert Koenen et al. (2015), 399–401. 1033 Buchholz (1988), 103f. 1034 Vgl für (‫ אוי)־נה‬Wehe! Jer 4,31; 45,3; 1Sam 4,7f.; Jes 6,5; 24,16; Jer 4,13; 6,4; 10,19; 15,10.

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wieder in der 1. Person Plural formuliert und damit die »distanzierte« Haltung der V 11–14 aufgegeben. Da es inhaltlich nunmehr zunehmend um das Gottesverhältnis geht, ist dies unmittelbar einleuchtend. V 16 spricht davon, dass die Krone (‫ )עטרת‬vom Haupt gefallen (‫ )נפל‬sei. Dies erinnert an Klgl 2,1 – dort war es die ‫ תפארת ישראל‬die Zierde Israels, die zu Boden geworfen war und sich in erster Linie auf Jerusalem als Tempelstadt bezog. Der hiesige Verweis, zusammen mit den in V 15 verwendeten Begriffen Freude und Reigentanz, geht in die gleiche Richtung. ‫ משוש‬Freude taucht in den Klgl ansonsten nur noch in Klgl 2,15 auf und bezeichnet dort im Rahmen eines zionstheologischen Psalmenzitates Jerusalem selbst (vgl. Ps 48,3). Dieser Bezug wird durch die Nennung des ‫ מחול‬Reigentanz noch verstärkt. Der Begriff ist liturgisch konnotiert (Ps 87,7; 149,3; 150,4), und verweist zurück auf die Zeit in der die Pilger im Rahmen der Wallfahrtfeste nach Jerusalem zogen (vgl. Klgl 1,4).1035 Der Gegensatz Freude – Trauer, samt seiner liturgisch-rituellen Konnotationen, illustriert die An- bzw. Abwesenheit Gottes.1036 ‫ אבל‬Trauer ist dabei in der Parallelisierung mit ‫ מחול‬Reigentanz nicht in erster Linie als emotionaler Gemütszustand zu verstehen, sondern als Vollzug etablierter Trauerbräuche.1037 Auch das Lexem ‫ הפך‬wenden, umwerfen, auf den Kopf stellen ist schon aus Klgl 1,20; 3,3; 4,6; 5,2 bekannt und bezeichnet eine radikale Wendung, einen Umsturz o. ä.1038 Auch dies korrespondiert mit der Bewegung der vom Haupt fallenden Krone (V 16). V 17 fungiert als Scharnier zwischen V 15–16 und 18. Die Einleitung des Verses mit ‫ על־זה‬deshalb (wörtlich: über das) verweist einerseits zurück auf die in den V 15–16 geschilderten schmachvollen Erfahrungen und knüpft an diese sachlich mit dem Hinweis auf das »kranke«, schwache Herz (‫ )דוה לבנו‬an. Die Formulierung erinnert zurück an Klgl 1,13, wo Zion klagte, JHWH hätte sie ‫כל־היום דוה‬ siech für alle Zeit gemacht. Das Herz als Bild für die Gefühlswelt tauchte ebenfalls schon in Klgl 1,20.22; 2,18f. auf. Gleiches gilt für die »verdunkelten« (‫)חשכו‬ Augen, die als Bild für derart intensives Weinen, dass es die Augen nachhaltig geschwächt hat,1039 dienen. Im weiteren Lesen zeigt sich allerdings, dass V 17 sich auch auf V 18 bezieht – und von dort mit ‫ על הר־ציון‬wegen des Berges Zion aufgenommen wird. Gleichsam als impliziter Abschied von der einstigen zionstheologischen Überhöhung Jerusalems, fungiert das Bild des verödeten Zions 1035 1036 1037 1038

Frevel (2002), 126–131. Vgl. Anderson (1991), 107–109 zur rituellen Funktion der Darstellung von Freude. Baumann (1973), 47. Dies schon im ganz profanen Gebrauch – so werden in Hos 7,8 Fladen gewendet, in 2Kön 21,13 Schüsseln, in Hag 2,22 Wagen umgeworfen. Besonders deutlich dann ist der Gebrauch in der Sodom-Gomorra-Tradition (vgl. Gen 19,21.25.29), die sich dann wiederum auch in Klgl 4,6 eingespielt findet. Seybold (1977), 458. 1039 Collins (1971a), 22.

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als Darstellung des krassen Falls der Stadt. Zion selbst, einst Wohnstätte Gottes, ist zur Einöde geworden,1040 Chaos hat sich im Zentrum von Ordnung breit gemacht. Ähnlich wie die Schakale aus Klgl 4,3 repräsentieren die in V 18 genannten Füchse (‫ )שועלים‬die widermenschliche Lebenswelt, das Chaos. Als Bewohner von Ruinen und der Wüste behaupten sie sich in einer Umwelt, die dem Menschen entweder natürlicherweise Feind ist, oder die der Mensch verlassen hat.1041 Wenn sie nun gerade an jenem Ort, der Innbegriff von Ordnung und göttlich versichertem Schutz sein sollte, einkehren, verdeutlicht das symbolisch das Zerfallen des göttlichen Schutzversprechens. Die das Lied beschließenden V 19–22 wurden schon von den Masoreten mit einer Petucha von V 1–18 abgesetzt. Die formale Textgestaltung unterstreicht somit die Darstellung der V 14–18, indem das in diesen Versen geschilderte Versiegen von Freude, Musik und Lachen einerseits, und der verwüstete und dem Chaos anheimgefallene Berg Zion andererseits gleichsam auditiv-visuell noch durch eine Pause unterstreicht. V 19–20 weisen eine auffällige Häufung von Zeitbegriffen auf: V 19α: ‫לעולם‬ ewig, V 19β: ‫ לדור ודור‬von Geschlecht zu Geschlecht, V 20α: ‫ לנצח‬auf immer, V 20β ‫ לורך ימים‬für die Länge der Tage. Alle vier Ausdrücke sind »Zeitbestimmungen für nicht begrenzte Dauer«1042. Die Kontrastierung des verödeten irdischen Wohnortes mit der ewigen Herrschaft Gottes und dem genauso endlosen Zorn weist darauf hin, dass es weniger um die Zerstörung der irdischen Wohnstatt Gottes an sich geht, denn um die Dauer des sich darin zeigenden göttlichen Gerichts.1043 Hierbei sind V 19.21 deutliche Zentren: V 19 ist eine doxologische Affirmation des ewig thronenden Gottes, während V 21 mittels der Formulierung … ‫השיבנו‬ ‫ אליך‬Kehre uns … zu dir! deutlich macht, dass die eigene Reue nicht mehr als genügend angesehen wird, um göttliche Neuzuwendung zu erzielen. V 21 setzt hier einen im Vergleich zu Klgl 3 neuen Akzent. Dort war im paränetischen Mittelteil noch davon ausgegangen worden, dass Gottes Strafe nicht ‫ מלבו‬von Herzen komme (V 33), seine Huld und sein Erbarmen trotz aller widrigen Erfahrungen nicht erschöpft sei (V 22: ‫ )לא־כלו ;לא־תמנו‬und Umkehr des Menschen (V 40: ‫ נשובה עד־יהוה‬kehren wir um zu JHWH) daher eine Neuzuwendung Gottes nach sich ziehen würde. Der Grund lag darin, dass ‫לא יזנח לעולם‬ ‫ אדני‬nicht für immer verwirft der Herr (V 31). Von dieser Zuversicht in die Möglichkeit, durch eigenes Bereuen die Gottesbeziehung wiederherstellen zu können, ist hier nicht mehr zu spüren. »Damit eine Rückkehr der Israeliten zu 1040 ‫ שמם‬ist darüber hinaus eines der bestimmenden Stichworte des Buches: Klgl 1,4.13.16; 3,11; 4,5. 1041 Labahn (2005), 82–84. 1042 Jenni (2000), 274f. 1043 Anderson (1986), 567: »Die meisten Beispiele von næsaH … finden sich in Kontexten, die beschreiben, wie Gott sich abgewandt oder eine Strafhandlung vollzogen hat.«

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Jahwe möglich wird, bedarf es … des Eingreifen Gottes. Die Neuwerdung des Gott-Mensch-Verhältnisses wird in Thr 5,21b als Wiederherstellung der heilvollen Urzeit verstanden.«1044 Die Übersetzung des letzten Verses des Buches ist schwierig; abhängig von der Deutung des einleitenden ‫ כי אם‬klingt V 22 mehr oder weniger hoffnungsvoll.1045 Unabhängig jedoch von der korrekten Übersetzung ist deutlich, dass schon in der frühen Rezeption die zweifelnd-mutlosen Akzente zumindest so präsent waren, dass in der Tisha B’Av-Liturgie nach V 22 noch einmal V 21 wiederholt wurde.1046 Vor dem Hintergrund des Buches und V 21 stellt V 22 die Möglichkeit in den Raum, dass sich das Gottesverhältnis gerade nicht mehr richtet. Hatten die bisherigen Lieder auf den anhaltenden und aktuellen Zorn Gottes schon jeweils eigene Reaktionen vorgeschlagen, so setzt Klgl 5,22 noch eine weitere Möglichkeit in den Raum: Angesichts eines Gerichts, dass inzwischen in jedem Fall nicht mehr jene erreicht, deren Sünden es einst heraufbeschworen hatte, und vor dem Hintergrund der massiven menschlichen und gesellschaftlichen Folgen des anhaltenden Gerichts, verbunden mit jeweils neu enttäuschter Hoffnung, gilt es für Gott, eine Entscheidung zu treffen: »entweder ewige Verdammnis oder Neubegründung des Gott-Mensch-Verhältnisses.«1047 Wenn Klgl 5 häufig weniger Beachtung findet,1048 so liegt dies sicher zum Teil auch mit daran, dass dem Lied vor allem die Funktion zugeschrieben wird, dem

1044 Wagner (2012), 632. Ähnlich auch Berges (2002), 299: »für die Beter steht fest, dass die Kluft zwischen der positiven Dauer des göttlichen Thronens und der negativen Dauer seines Vergessens nur durch JHWH selbst geschlossen werden kann … Damit betonen die Betenden ihre Unfähigkeit, sich aus eigener Kraft Gott zuwenden zu können. Anders als in der deuteronomistischen Vorstellung (Dtn 4,29f.; 30,2f.) und in Klgl 3,40; Sach 1,3 gelingt die Rückkehr zu Gott nach der Strafe des Exils nicht aufgrund der eigenen Entscheidung zur Umkehr, sondern hängt völlig von JHWHs Heilszuwendung ab.« 1045 Gordis (1974b), 196–198, Gordis (1974a) und Gous (1990) diskutieren ausführlich die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten (vgl. auch Bail [2004], 49–52 und Koenen et al. [2015], 414f.). Zu den dortigen Vorschlängen fügen Urbanz (2005) und Linafelt (2001), 343 weiteren hinzu. Insbesondere Linafelts Vorschlag ist bedenkenswert: Ihm zufolge eröffne ‫כי‬ ‫ אם‬die Protasis eines Konditionalsatzes, die den gesamten restlichen Vers umfasst: »It is quite possible … to take ‫ כי אם‬in the most natural sense of »for if …,« and to understand all of v. 22 as the protasis of a conditional sentence in which the apodosis is understood rather than stated.« 1046 Levine (1976), 195. 1047 Wagner (2012), 635. 1048 Hierfür gibt es verschiedene Gründe; darunter sicherlich einerseits seine Kürze, die »nur« alphabetisierende Anlage, sein im Vergleich zu den übrigen Liedern wenig individueller Charakter sowie seine vordergründig recht problemlose Gattungsbestimmung. Klassischerweise wird es wegen seines Inhalts und der dominierenden Wir-Perspektive als Volksklage eingestuft (Boecker [1985], 88, Kaiser [1992], 189 u. ö.) Allerdings ist auffällig, dass die Notschilderung übermäßig lang ist, andere Elemente der Volksklage (z. B. der heilsgeschichtliche Rückblick, die Feindklage, das Bekenntnis von Zuversicht) dagegen

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Buch einen Abschluss zu geben. Das ist zu ungenau. Ein Abschluss kann verschiede Form annehmen: er kann versöhnlich und hoffnungsstiftend sein, fordernd, kämpferisch oder anklagend, resignierend, ermattet oder indifferent. Die Funktion, ein Abschluss zu sein, sagt somit noch nicht viel aus, sondern muss hinsichtlich des Wie des Endens präzisiert werden. Tritt man unter dieser Maßgabe an den Text heran, zeigt sich schnell, dass Klgl 5 nicht ohne Grund viele Themen und Motive der vorherigen Lieder nochmals aufgreift. Statt viele neue Themen anzuschneiden geht es zunächst einmal darum, die bisherigen Linien fokussierend zu einem Ende zu bringen. Dies geschieht durch eine charakteristische Nuancierung des aus Klgl 1–4 Bekannten. Einerseits wird den Hörer*innen sozusagen eine mentale Checkliste präsentiert und in kurzen Verweisen das in Erinnerung gerufen, was bisher besprochen wurde. Andererseits werden aber auch einige tatsächlich neue Momente und Akzentuierungen eingeführt, die die Aussage des Buches ein letztes Mal fokussieren und zu einer letzten konkreten Handlungsaufforderung an Gott führen. Das Lied gliedert sich in zwei Sektionen, von denen die erste, weitgehend homogen, die anhaltende Not in Jerusalem schildert, jedoch zum einen durch die beklagten Zustände (Haus- statt Lebensverlust; fortwährender Hunger und Erniedrigung statt drohender Tod; Unterdrückung durch »Knechte« statt Exilierung), zum anderen durch den Hinweis in V 7 deutlich macht, dass man sich mittlerweile in erheblicher zeitlicher Distanz zur Katastrophe befindet. In der zweiten Sektion wird in drei Stanzen auf die konkrete Forderung des Liedes in V 21 hingearbeitet. Die erste Stanze (V 11–14) beschreibt die sozialen und gesellschaftlichen Folgen der fortwährenden Unterdrückung. Entsprechend der größeren zeitlichen Distanz ist nicht mehr der vollständige Zusammenbruch des gesellschaftlichen Lebens im Blick, sondern eine Realität, die von Erniedrigung und Not geprägt ist. Die anschließenden V 15–18 thematisieren die gestörte Gottesbeziehung, die sich in radikaler Gottesferne äußert.1049 Die dritte Stanze (V 19–22) gibt einem theologischen Verständnis Ausdruck, dass zum einen die theologische Krise, die durch die Zerstörung Jerusalems ausgelöst wurde, über-

weitgehend fehlen, so dass man »von Klage im eigentlichen Sinn nicht mehr sprechen kann.« (Westermann [1983], 137). 1049 Interessant hier die Beobachtung von Boase (2008a), 466, der zufolge innerhalb des Buches eine inversive Beziehung zwischen Gottespräsenz und Gewalt erkennbar ist. Während es z. B. in Klgl 2,1–9 die unmittelbare Präsenz Gottes ist, die für Gewalt und Zerstörung steht, ist es in Klgl 5 die vollständige Gottesferne, die das Treiben der Unterdrücker ermöglicht.

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windet,1050 und die andererseits nicht mehr davon ausgeht, dass eigene Reue ein hinreichender Grund für neuerliches göttliches Wohlwollen ist.

6.5.3 Die Funktion von Klgl 5 im Rahmen des Buches Schon der Umstand, dass in der synagogalen Lesepraxis der vorletzte Vers von Klgl 5 wiederholt wird,1051 weist darauf hin, dass das Buch der Klagelieder nicht uneingeschränkt versöhnlich endet.1052 Es gibt an sich auch wenig Grund, warum man dies erwarten sollte, schließlich ist auch in Klgl 5 die Not längst nicht überstanden, und das Gottesverhältnis noch keineswegs wieder repariert. Gleichwohl ist deutlich, dass Klgl 5 mit einigem zeitlichen Abstand auf die Zerstörung der Stadt und den Verlust der Unabhängigkeit zurückblickt. Man sollte demnach erwarten dürfen, dass sich der Blick auf die Katastrophe, seine Gründe und Konsequenzen, mit zunehmender zeitlicher Dauer differenziert hat. Geht man zudem davon aus, dass im Sinne des Achtergewichts die hinteren Texte eines Arrangements von hervorgehobener Wichtigkeit für das Gesamtprogramm sind, da sie vor dem Hintergrund der anfänglichen Texte eine Bewertung und Einschätzung liefern, die ihrerseits nicht wieder widersprochenen oder relativiert werden kann, so ist zu erwarten, dass sich die Sicht von Klgl 5 auf die Interpretation des gesamten Buches auswirkt. Es fragt sich somit, wie sich »die Sicht der Spätgeborenen«, die sich im Lied wiederfindet, in den bisherigen argumentativen Zusammenhang einfügt. 6.5.3.1 Wir-Perspektive Schon in Klgl 3 und 4 ergriff jeweils für einige Verse ein Kollektiv das Wort. Neu ist hingegen in Klgl 5, dass die Wir-Perspektive praktisch durchgängig vorhanden ist (Ausnahme sind V 11–14.18), während sie vorher eher an strategisch wichtigen Schnittstellen der Lieder auftauchte. Die diesbezüglichen Bemerkungen in Klgl 3 und 4 gelten auch hier: Durch die Rede in der 1. Person Plural wird die 1050 Vgl. Hartenstein (1997), 244–250, hier 249: Klgl 5,19–22 sucht »in dem Gegensatz zwischen dem verwüsteten Heiligtum und dem dennoch thronenden Gott die Grundlage für die Bitten um Erneuerung der Heilszeit und Wendung der Not.« 1051 Dies im Einklang mit dem talmudischen Entscheid, dass bei öffentlicher Lesung der vorletzte Vers eines Kapitels oder Buches zu wiederholen sei, wenn der letzte Vers auf einer pessimistischen Note ende (Levine [1976], 195). 1052 Zuweilen wird dieser Eindruck auch als »odd petulance« abgewertet, die durch den »catalogue of their griefs« durchklänge. Die sich darin äußernde Ambivalenz charakterisiere den paradigmatischen Überlebenden, der bzw. die gerade im Überleben und der nicht enden wollenden Not der aktuellen Realität Anlass zur Klage sehen (Pyper [2001], 63). Kritisch zum Konzept der sog. survival guilt vgl. Des Pres (1980), 39–45.

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Darstellung plastischer und unmittelbarer. Als Hörerin oder Hörer fühlt man sich intensiver in das Geschehen involviert, man wird gleichsam von einem Beobachter zu einem Beteiligten. Die vom jeweils sprechenden Kollektiv eingenommene Haltung oder Sichtweise wird damit zu einer, die die Hörerin, der Hörer, zumindest temporär und versuchsweise, übernimmt. In Klgl 5 tritt dieser Aspekt durch die Anlage als Gebet (vgl. die Anrede an Gott in V 1: ‫ )זכר יהוה מה־היה לנו‬noch deutlicher in den Vordergrund. Es wird von Beginn an deutlich, dass es nunmehr »ums Ganze« geht – die Darstellung nun in die persönliche Perspektive der Lesenden übergeht und eine je-individuelle Positionierung verlangt. Zugleich hat die Anlage als Gebet auch die Funktion, deutlich zu machen, dass eine endgültige Positionierung der Lesenden bezüglich des im Buch verhandelten Themas der Grenzen eines gerechten Gerichts nur in kritischer Konfrontation mit Gott gelingen kann. Letztlich ist er es, und das von ihm gewirkte Gericht, zu dem eine (neue?) Position gefunden werden muss. Das Buch endet damit, dass der Hörer, der dem Schicksal Zions und des Mannes aus Klgl 3 solidarisch und mitfühlend gegenüberstand, in die Pflicht genommen wird: Nun steht er selbst mit im Mittelpunkt; eine Distanzierung ist damit nicht mehr möglich.1053 Statt an einem Gegenüber, wird in Klgl 5 die Konsequenz aus dem Bisherigen anhand eines »Wir« diskutiert. Zugleich gilt aber auch, dass eine Distanzierung, wie sie durch die Einführung von figurae dramatis ermöglicht wird, zum Ende des Buches nicht mehr notwendig sein sollte. Die in Klgl 5 ganz deutliche zeitliche Distanz zum Geschehen einerseits, aber auch die im Verlaufe des Buches erreichte Reflexion über das Geschehen sollte es den Lesenden ermöglichen, die Neubestimmung des Verhältnisses zu Gott auch in eigener Person, ohne die Vermittlung über eine dramatische Figur, zu vollziehen. Zugleich erhöht dies natürlich in theologisch-existentialer Hinsicht »den Einsatz«: Die Position, die in Klgl 5 erreicht wird ist von bemerkenswerter Konsequenz: Hopp oder Top – entweder Verwerfung oder Neubeginn, aber kein Weiter-So im Ertragen eines unlebbaren Zustandes. Allein diese durchaus kompromisslose Position, die ja auch von erheblichem Mut zeugt, lässt auf das Fortbestehen bzw. Neubegründen der Gottesbeziehung hoffen.

1053 Assis (2007), 722f. skizziert die Abfolge von Klgl 3 zu Klgl 5 als einen Prozess individuellen Nachvollziehens einer Lernerfahrung. Während Klgl 3 das theologische Zentrum des Buches sei, dass den Umschwung von Klage zu Hoffnung schaffe, müsse diese »abstrakte« Perspektive auf individueller Ebene nachvollzogen werden. Dies geschehe in Klgl 5. Ihm ist zuzustimmen, dass in der kommunalen Perspektive von Klgl 5 die Aufforderung an die Hörer enthalten ist, den skizzierten Argumentationsgang des Buches je für sich nachzuvollziehen.

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6.5.3.2 Aufnahmen aus den bisherigen Liedern Es wurde schon darauf hingewiesen, dass eine Vielzahl von Stichworten aus Klgl 5 schon aus den bisherigen Liedern bekannt sind.1054 Neben reinen Wortund Wurzelparallelen finden sich auch motivische Ähnlichkeiten (von offensichtlichen thematischen Parallelen wie »ständiger Hunger«, »Verfolgung durch Feinde« u. ä. ganz abgesehen).1055 Natürlich ist es problematisch, daraus allzu weit gehende Schlussfolgerungen zu ziehen – das ähnliche Vokabular ist u. a. dem gleichen Thema, dem relativ ähnlichen Genre und nicht zuletzt auch dem im Vergleich zu modernen Sprachen recht begrenzten Wortschatz des biblischen Hebräisch geschuldet.1056 Gleichwohl bleibt es ein bemerkenswertes Phänomen, das in der Deutlichkeit für die sonstigen Lieder nicht zutrifft.1057 Der inhaltliche Effekt ist ein doppelter: Zum einen lässt er Revue passieren, was in den bisherigen Liedern diskutiert wurde, und inwiefern sich in der Zwischenzeit »etwas getan hat«. Dies ist nicht zuletzt deshalb so wirkungsvoll, weil Klgl 5 ja durchaus andere Dinge anspricht: Die Aussage, dass selbst für Wasser und Holz zu zahlen wäre, findet sich sonst nirgends. Auch der Gedanke, dass Knechte herrschen, die Hinweise auf Assur und Ägypten oder der Verweis auf die Gefahren durch das »Schwert der Wüste« sind neu. Durchgängig ist eine Realität angesprochen, in der andere Probleme und Nöte vorherrschend sind, als es in Klgl 2 und 4 der Fall war. Damit ist der zweite Punkt angesprochen: Ohne es in dieser Deutlichkeit sagen zu müssen, wird der Eindruck vermittelt, dass sich nichts Grundsätzliches, und schon gar nichts zum Besseren geändert hätte. Lediglich in Abstufungen hat sich etwas getan – etwa indem die Tod und Vernichtung bringende Gottesnähe aus Klgl 2 einer Gottesferne gewichen ist, die Not und Erniedrigung bedeutet. Eine grundlegende Restitution des Gottesverhältnisses oder Bewältigung der Katastrophe hat es nicht gegeben. Dies hat zur Folge, dass sich die Frage nach den wichtigen inhaltlich-thematischen foci des Liedes auf zwei Themen beschränken kann: einerseits die Frage nach dem Gottesverhältnis – dies sowohl im Blick zurück (als Frage nach der 1054 Eine Aufzählung der Stichwortaufnahmen der ersten Sektion gibt einen Eindruck der Häufigkeit derartiger Stichwortbezüge: V 1: ‫ – זכר‬Klgl 1,7.9; 2,1; 3,19f.; ‫– ראה והביטה‬ Klgl 1,9.11.18; 2,20; 3,63; ‫ – חרפה‬Klgl 3,30.61; V 2: ‫ – הפך‬Klgl 1,20; 3,3; 4,6; V 3: ‫– אלמנה‬ Klgl 1,1; V 5: (‫ – )על‬Klgl 1,14; 3,27; ‫ – צואר‬Klgl 1,14; ‫ – רדף‬Klgl 1,3.6; 3,43; 4,19; ‫ – נוח‬Klgl 1,3 (‫ ;)מנוח‬V 7: ‫ – חטא‬Klgl 1,8; 3,39; 4,16; ‫ – עון‬Klgl 2,14; 4,13.22; V 9: ‫ – לחם‬Klgl 1,11; 4,4 (vgl. auch Klgl 1,20 (‫ )אכל‬und 2,12 (‫ – חרב ;)דגן‬Klgl 1,20; 2,21; 4,9; ‫ – מדבר‬Klgl 4,3.19; V 10: ‫– עור‬ Klgl 3,4; 4,8; ‫ – רעב‬Klgl 2,29; 4,9. Vgl. auch Salters, R. B. (2001) für weitere Stichwortbezüge, sowie die in Kap. 4.2 diskutierten Arbeiten Renkema und Marcus. 1055 Ebenfalls exemplarisch für die erste Sektion: V 1: »Sieh unsere Schmach!« – Klgl 1,8f.11; 3,14.45; 4,13–16; V 2: »verlorenes Erbland« – Klgl 1,1.3.7; V 5 »Unterjochung/Erschöpfung« – Klgl 1,1.14; V 8: »Knechte herrschen« – Klgl 1,5; V 10: »rissige Haut« – Klgl 3,5; 4,8. 1056 Salters (2001), 105. 1057 Vgl. hierzu Kap. 4.

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eigenen Verantwortung und Schuldigkeit des Volkes an der erlittenen Strafe) wie auch im Blick auf die Zukunft (als Frage nach der zukünftigen Art und Zustand des Gottesverhältnisses,. andererseits das Thema der anhaltenden Not der Bevölkerung. Dies hat zwei Gründe. Zum einen wurde in Klgl 3 eine Theologie entwickelt, in der das Gottesverhältnis konsequent als Beziehung zwischen Individuum und Gott gedacht wurde. Zwar spricht in Klgl 5 ein Kollektiv, jedoch sieht man z. B. an V 7, dass ein einfaches Verständnis von Kollektivschuld, wie es in Klgl 1–2 vorherrscht, nicht mehr gilt. Zum anderen spiegeln beide Topoi die im Buch generell im Hintergrund stehende Grundfrage: Wie ist die Katastrophe zu deuten – gerechtes Gericht oder göttliche Überreaktion? Was bedeutet dies für die Gegenwart und Zukunft? Kann es ein neues Gottesverhältnis geben und wie würde dieses aussehen? 6.5.3.2.1 Schicksal der Bevölkerung Wie schon für Klgl 4 trifft auch auf Klgl 5 die Beobachtung zu, dass sich die Darstellung weitgehend auf das Schicksal der Bevölkerung konzentriert. Erneut ist der anhaltende Hunger ein dominantes Thema, zusammen mit dem Fokus auf die vorrangig sozialen Folgen der Unterdrückung, wie öffentliche Beschämung, Ehrverlust und Rechtlosigkeit. Deutlich ist aber auch, dass es nicht mehr um die akute Lebensbedrohung der Menschen durch die Belagerung und Einnahme der Stadt geht, sondern um die Dauer der Unterdrückung, die die physische, aber auch psychische und gesellschaftlich-kulturelle Regeneration der Menschen verhindert. So ist z. B. der für Klgl 2 und 4 charakteristische Fokus auf das Schicksal der Kinder ebenso wenig vorhanden wie die damit einher gehende Darstellung eines Gerichts, das bevorzugt die Unschuldigsten und Wehrlosesten trifft. Das Bild der verhungernden Kinder, die diesen Punkt in Klgl 2,11.19; 4,3f. besonders prägnant illustrierten, findet sich in Klgl 5 nicht mehr. In die gleiche Richtung geht die Beobachtung, dass auch der Hunger selbst (anders als z. B. in Klgl 2,19; 4,9) nicht mehr als Bild für den dadurch verursachten Tod steht.1058 Schließlich fügt sich auch die Aussage von V 4 (»Unser Wasser trinken wir für Geld – unser Holz kommt für einen Gegenwert«) in dieses Bild. Zwar wurde auch schon vorher berichtet, dass Reiche ihre letzte Habe für Nahrung gaben (Klgl 1,11), sich um erbärmliche (Essens-)Reste zanken (Klgl 4,5) und ständig vom Hungerstod bedroht sind (Klgl 1,19; 4,9f.). Jedoch war die in Klgl 5,4 mitschwingende Note, dass 1058 Nach Seidl (1993), 562, findet sich die Gleichsetzung von Hunger und daraus resultierendem Tod generell häufig, und z. B. in den dtr. Fluchandrohungen auch als bewusst eingesetztes Bild eines ganz besonders qualvollen Todes (vgl. Dtn 28,48; 32,24, sowie die z. B. bei Jer auftauchende formelhafte Nomialreihe Schwert – Hunger – Pest [Jer 14,12; 21,7.9; 24,10 u. ö.]).

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nun Geld für eine normalerweise kostenfreie Ressource zu bezahlen ist, Hunger hier somit vorrangig mit dem Motiv Rechtslosigkeit und Willkür durch Unterdrücker verknüpft wird, bislang fremd. In die gleiche Richtung geht, dass die Widersacher in Klgl 5 nicht mit den bisher vorherrschenden Ausdrücken ‫» צר‬Bedränger«, ‫» אויב‬Feind« oder ‫רדף‬ »Verfolger« bezeichnet werden,1059 sondern mit ‫ זרים‬Fremden (V 2a), ‫ נכרים‬Ausländern (V 2b), ‫ עבדים‬Knechten (V 8a), gar ‫פני חרב המדבר‬, das Antlitz des Schwertes der Wüste (V 9b).1060 Offensichtlich hat sich die Situation geändert: Während ‫ צר‬und ‫ אויב‬vorrangig politische und militärische Feinde bezeichnen,1061 sind ‫ זר‬und ‫ נכרי‬eher Ausdrücke für Ursupatoren, Tyrannen oder »gewalttätige Völker in herrschender Funktion«.1062 Mit dem Ausdruck ‫ עבד‬Knecht ist eine Relationsbeziehung beschrieben, d. h. der Fokus liegt auf der Marginalisierung, weniger auf kämpferischer Bedrohung.1063 Insgesamt hat sich die Sicht auf die Widersacher somit nachhaltig geändert: Sie sind nicht mehr als todbringende feindliche Mächte im Blick, sondern als Beherrscher und Unterdrücker, die Not und Erniedrigung sozusagen institutionalisieren und in einen unabsehbaren Dauerzustand verwandeln. Zugleich ändert sich damit aber auch die Art, in der das Handeln der gegnerischen Mächte als Handeln Gottes interpretiert wird. Während in Klgl 2 das übermächtige Wirken der Feinde in Zerstörung und Tod als göttliches Handeln interpretiert wird, bleibt das anhaltende Erniedrigen der Eroberer auf jene bezogen. Sie agieren im Schatten der göttlichen Ignoranz. Waren früher die Gegner Zeichen göttlicher Nähe im Zorn, sind sie jetzt Konsequenz göttlicher Ferne. Dieser veränderte Fokus lässt sich auch an weiteren Stellen beobachten. Schon der erste Vers bezeichnet die gegenwärtige Lage als »Schmach«. Damit ist ein sozialer Zustand angesprochen, der sich nicht primär in Kriegskontexten, sondern den nachfolgenden Herrschafts- und Unterdrückungsszenarien konstituiert.1064 In die gleiche Richtung geht der Vergleich der Mütter mit Witwen und der 1059 Der Verbalstamm ‫» רדף‬verfolgen« findet sich einmal in Klgl 5,5; ebenso noch in Klgl 3,43.66. 1060 Dies ist umso bemerkenswerter, als die Belegbasis der Ausdrücke ‫ צר‬und ‫ אויב‬insbesondere in Klgl 1.2 sehr breit ist: ‫אויב‬: Klgl 1,2.5.9.16.21; 2,3.4.5.7.16.17.22; 3,46.52; 4,12; ‫צר‬: Klgl 1,5 [bis].7[bis].10.17; 2,4.17; 4,12; ‫ רדף‬als Partizip findet sich in Klgl 1,3.6; 4,19. 1061 Ringgren (1989b), 1123, Ringgren (1973a), 231. 1062 Snijders (1977), 559. 1063 Einzig der Ausdruck »Antlitz des Schwertes der Wüste« scheint eine Gruppe gegnerischer Kämpfer (Beduinen?) zu bezeichnen (vgl. Ri 6,3); hierbei liegt der Fokus aber eher auf der Unberechenbarkeit dieser Bedrohung, der es ja nicht um eine Eroberung und Beherrschung des Landes geht, sondern um kurze überfallartige Raubzüge. Kaiser (1992), 195. 1064 Nach Bechtel (1991), 47f., muss man sich vor zwei falschen Gleichsetzungen hüten: Zum einen muss man genau zwischen dem Gefühl von Scham/Schande und etwaiger gefühlter Schuld unterscheiden. Zum anderen ist die Differenz von Schmach und Schande als öffentlich attribuiertem Status und privater bzw. punktueller emotionaler Reaktion zu beachten. Schande funktioniert als dauerhafter sozialer (Sanktions-)Mechanismus, der in

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Gemeinschaft der Betenden mit Waisen (V 3), was auf deren prekäre soziale, wirtschaftliche und rechtlich Stellung abhebt. Damit wird eine Linie aufgenommen, die in Klgl 3 angelegt war: In Klgl 3 verspricht der Mann für die Zukunft die Hulderweise Gottes als Reaktion auf das »Sattwerden an Schmach« (vgl. V 22– 25.31–33: das Versprechen der Huld Gottes rahmt die Anweisungen des angemessenen Verhaltens eines Mannes, was in der Aufforderung in V 30 gipfelt, »satt an Schmach« zu werden). Klgl 3,61–63 berichtet von der Erfüllung dessen: JHWH konnte das Schmähen der Feinde gegen den Mann hören. Nun wäre es an JHWH gewesen, durch sein Eintreten für den Mann die versprochenen Hulderweise auch folgen zu lassen. Diese lassen jedoch in Klgl 5 noch immer auf sich warten. Auch die V 11–14 zeichnen primär ein Bild sozialer Verächtlichmachung: Weder werden die Lebenden geachtet (Vergewaltigung der Frauen – Nichtachtung der Ältesten – Knechtung der Kinder und Jugendlichen), noch die Toten (Aufhängung der Fürsten statt Bestattung). Das öffentliche Leben, repräsentiert durch die Torgerichtsbarkeit der Ältesten, und das Lebensfreude repräsentierende Saitenspiel der Jüngeren kommt zum Erliegen. Dieser emotionale Komplex aus öffentlicher Beschämung, Rechtlosigkeit und Verlust an Freude und Selbstbestimmung im öffentlichen Leben findet sich schließlich auch in den Aussagen von V 15.17 zusammengefasst und auf die Betenden gewendet. Im deutlichen Gegensatz zu Klgl 4, wo Aussagen zu emotionalen Vorgängen weitgehend fehlten, wird hier der Gefühlszustand der Beter*innen deutlich geschildert. In der Kombination der Aussagen ist hier die gesamte Existenz des Menschen im Blick; während die Verdunkelung der Augen vorwiegend auf die emotionale Dimension des Weinens und der Tränen abhebt, »fungiert [leb] in sämtlichen Dimensionen menschlicher Existenz und findet sich als Bezeichnung für sämtliche Schichten der Person: der vegetativen, emotionalen, rationalnoetischen und voluntativen Schicht«1065. 6.5.3.2.2 Die Unzugänglichkeit Gottes Klgl 5 stellt sich den Hörer*innen als Gebet dar. Es beginnt in V 1 mit ‫זכר יהוה‬ Gedenke, JHWH! und schließt in V 21 mit den Bitten ‫ השיבנו יהוה אליך‬Wende uns, JHWH, zu Dir! und ‫ חדש ימינו כקדם‬Erneuere unsere Tage wie dereinst. Damit sind zwei verschiedene Blickrichtungen skizziert: Zum einen der Blick in die Vergangenheit; hier geht es um das Gericht, aber auch die eigene Verantwortung daran. Zum anderen der Blick in die Zukunft; hier geht es um die Frage einer Normalisierung bzw. Neukonstitution des Gottesverhältnisses nach einer als überlang empfundenen Periode der Strafe. Fällen, in denen er aus Sicht des bzw. der Betroffenen unrichtig angewandt wird, als praktisch unerträglich erlebt wird. 1065 Fabry (1984), 425.

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Beide Fragen fanden in Klgl 3 eine erste zusammenfassende Beantwortung: Zwar ist Reue und das Eingestehen eigener Schuld wichtig für die erneute Zuwendung Gottes, jedoch kommt aus dem Mund des Höchsten das Gute und das Böse (V 38). Seine Entscheide sind nur schwer zu durchschauen – man kann daher nur unter dem anhaltenden Zorn Gottes schweigend Hoffen und auf neuerliche Hulderweise wartend ausharren. Dieses weisheitlich geprägte Lebensund Leidenskonzept konnte mit dem prophetisch-deuteronomistischen Theologumenon des göttlichen Zorns nicht mehr viel anfangen. Das göttliche Gericht vollzieht sich nicht mehr an Völkern, sondern im täglichen Leben am jeweiligen Individuum. Hier hilft die Rede vom Zorn Gottes nicht weiter, da die Folgen des Gerichts im Leben des Einzelnen mittels dieser Kategorie nicht sinnvoll fassbar sind. Das Konzept eines demütigen Harrens und kritischer Selbsterforschung, wie es Klgl 3 propagiert, wird in Klgl 4 mit einer ungeschminkten Schilderung des Gerichts konfrontiert, die deutlich macht, dass eine Haltung des vertrauensvoll auf Besserung Hoffens ein Luxus ist, den nicht Jede*r hat. Wenn der Hungerstod droht, ist weder Zeit noch Kraft für Selbsterforschung. Ganz im Gegenteil – das Gericht war von einer Brutalität, dass die Gesellschaft als solche zu dissoziieren begonnen hat und damit die individuellen aber auch gesellschaftlichen Abwehrkräfte und Schutzmechanismen zum Erliegen kamen. Nun ist es an Klgl 5, zu diesen Positionen eine abschließende Stellung zu finden. 6.5.3.2.2.1 Der Blick in die Vergangenheit: Eigene Verantwortung an der jetzigen Situation Das Bekenntnis eigener Schuld steht auch in Klgl 5 nicht an erster Stelle. Die diesbezüglichen Hinweise finden sich mit V 7.16 jeweils etwa mittig in den beiden Sektionen des Liedes. Wie schon in den bisherigen Liedern dominiert die Darstellung des eigenen Leidens, wobei schon mit V 1 wichtige Rückverweise zu den bisherigen Liedern gegeben werden. Mit V 2 mischt sich (wie schon in Klgl 1,10 und 4,6) subtiles Kopfschütteln in die Klage: Wenn JHWH nicht nur seinen Tempel preisgibt, sondern es auch zulässt, dass seinem Volk die ‫נחלה‬, die er ihm einst zugesprochen hatte, nun entrissen wird, dann muss man wohl schlussfolgern, dass »[d]er derart angeklagte Gott … also nicht willens oder imstande [war], seine allereigensten Belange wahrzunehmen«1066. Der Beginn des Liedes nimmt damit bewusst zentrale Motive und Anfragen der bisherigen Lieder auf, ohne vorerst die eigene Verantwortung zu thematisieren. Die Aussage ist klar: Gott steht vor der Entscheidung, endlich sein Verhalten zu ändern, oder aber die mit dem Verlust der ‫ נחלה‬im Raum stehende Hinfälligkeit der Erwählung Israels tatsächlich »aktenkundig« zu machen. Das 1066 Perlitt (1972), 295.

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Kollektiv macht in V 19.21 deutlich, dass es auf ersteres hofft, gibt jedoch mit V 1.22 zu verstehen, dass es auch der Alternative ins Auge blickt.1067 Damit wird eigene Schuld nicht geleugnet. Inwiefern in V 7 Identifikation oder Distanzierung mit der Sünde der Väter ausgedrückt ist, wird kontrovers diskutiert.1068 Gerade die Doppeldeutigkeit scheint jedoch dem Ziel des Textes am nächsten zu kommen: Der in V 2–6 formulierte Rückblick gewinnt seine argumentative Kraft nicht zuletzt daraus, dass die Folgen eben nicht mehr von denen getragen werden, die einst für das Kommen des Gerichts verantwortlich waren. Die Strafe trifft nicht mehr jene, auf die sie einst bezogen war.1069 Hier ergäbe sich die Gelegenheit zum Lernen aus der Geschichte und dem Übernehmen von Verantwortung für die Zukunft. Wenngleich die eigene Schuld und die generationenübergreifende Verantwortung, die aus dem Handeln der Väter erwuchs, nicht geleugnet wird, wird doch darauf verwiesen, dass dies zum Leiden weiter Teile der Bevölkerung führt, die (wenn überhaupt) nur in abgeleiteter Form Schuldige sein können bzw. konnten.1070 Ist dieser Gedanke zwar auch schon vorher implizit mit angelegt – etwa, wenn darauf hingewiesen wird, dass gerade die Unschuldigsten und Schwächsten am meisten unter dem Gericht zu leiden haben –, so tritt er erst hier in »Reinform« zutage. Die Mehrdeutigkeit der Formulierung aus V 7 wird erst in V 16 aufgelöst – wobei wie in den Liedern zuvor bemerkenswert ist, dass es zwischen V 7 und V 16 nicht zu einer detaillierteren Schilderung eigener Vergehen (oder derer der Vorgängergeneration) kommt, sondern der anhaltenden Versorgungsmangel (V 8–10), die umfassende Verächtlichmachung und Degradierung der gesamten Gesellschaft (V 11–12) und die sich daraus ableitenden gesellschaftlichen Konsequenzen (V 13–15) im Fokus stehen. Das schon in den anderen Liedern be-

1067 Perlitt (1972), 294 und Crenshaw (1970), 392f. haben darauf hingewiesen, dass die damaligen Menschen bei weitem nicht so fromm und gottesfürchtig gewesen sein dürften, wie es die in der Bibel überlieferten Schriften glauben machen wollen: »›Warum willst du uns immer vergessen, uns lebenslang verlassen?‹ (Klgl 5,20) Hinter einer solchen … Frage verbirgt sich ja gewiß die vox populi, die diesen Inhalt ursprünglich und spontan nicht einmal als Frage formuliert haben dürfte, sondern als Tatsachenfeststellung!« 1068 Wagner (2012) und Kessler (1996) votieren für letzteres; in ähnliche Richtung geht auch Kilpp (1985), 219, Dobbs-Allsopp (2002), 145f., Koenen et al. (2015), 392f. Eher eine Identifikation mit den Vätern sehen Berges (2002), 285f., Renkema (1998), 606 und Randriambola-Ratsimilah (2013). 1069 Freedman (1975), 179: »The Deuteronomic insistence on the mechanical inevitability of punishment and blessing led to the elaboration of ideas of joint responsibility which extended not just over whole communities at a single time but, further, through time. … If such a wrongheaded and drastic extension is necessary to maintain the Deuteronomic theory of divine action, then it is the theory that must go. The extension asks too much of the human spirit, contradicts intuitive knowledge too greatly…« 1070 Ähnlich zwischen beiden Positionen vermittelnd: Frevel (2017), 333f.

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merkte massive Ungleichgewicht zwischen Notschilderung und Schuldeingeständnis gilt auch für Klgl 5. Im Gegensatz zu Klgl 2 jedoch, wo das ausführliche Ausbreiten des göttlichen Zornes dazu führte, dass Gott gleichsam beschädigt zurück blieb, bleibt JHWH in Klgl 5 davon unberührt: Angesichts eines »geradezu gänzlich aus der Verantwortung genommen[en]«1071 Gottes – die Not wird praktisch vollständig auf das Wirken der Besatzer statt auf JHWH zurück geführt – ist ein gegenseitiges Aufrechnen unnötig geworden und verliert im Kontext eines zunehmend transzendenten Gottesbildes an hermeneutischer Plausibilität.1072 6.5.3.2.2.2 Der Blick nach Vorn: Neuausrichtung des Gottesverhältnisses »In welcher Weise von Gott zu reden wäre, ja ob von ihm überhaupt noch zu reden wäre, wenn die Überprüfung seiner Eide zu für ihn negativen Resultaten führte, wagte vor der Katastrophe wohl kaum jemand zu Ende zu denken. … Mit dem Zusammenbruch bekamen zwei Redeformen ein gar nicht erstaunliches Übergewicht: die Frage und die Klage. … Und doch kommt jetzt ein befremdender Ton hinein: Der Gott, dem man klagt, scheint nicht zuzuhören Die Klage ergeht zwar, wenn überhaupt, weiter zu ihm hin, aber hier und da wie in einer Ahnung seiner Taubheit oder Abwesenheit.«1073

Perlitt fasst hier etwas in Worte, das im Laufe des Buches an verschiedenen Stellen schon anklang: Nicht nur das Ausmaß des göttlichen Zornes schockierte, sondern gerade auch die gefühlte Indifferenz Gottes zum Leiden der Einzelnen und Unschuldigen. Die wiederkehrenden Bitten, zu Schauen und zu Sehen (Klgl 1,11; 2,20; 5,1; vgl. auch Klgl 1,12; 3,63), offenbaren ja sehr deutlich, dass der IstZustand vom Eindruck geprägt war, dass Gott dem Elend der Menschen gerade keine Aufmerksamkeit schenkt (vgl. Klgl 3,36). Das Hadern mit dem göttlichen Zorn brachte verschiedene Lösungen hervor, die jedoch sämtlich nicht vollständig zu überzeugen vermochten. Klgl 2 fokussierte die Darstellung auf das unmenschliche Leid und kam zu dem Ergebnis: ‫היה‬ ‫ אדני כאויב‬Gott war wie ein Feind (V 5), was in V 22 dann nochmals intensiviert wurde. Klgl 3 mochte dies nicht gelten lassen und stellte eine Theologie dagegen, die die je-größere Huld Gottes zur Grundlage aller Überlegungen machte. Klgl 4 kontrastierte dies mit dem Blick auf ein Gericht, dass das Volk in sämtlichen Dimensionen – als politische, wirtschaftliche, kulturelle, soziale Gemeinschaft – zerstörte. Das Vertrauen in die göttliche Gnade hat mindestens dort Grenzen, wo die physische Kraft zum Glauben und Vertrauen nicht mehr ausreicht. Klgl 5 ist 1071 Frevel (2002), 146. 1072 »Mit dem Untergang des salomonischen Tempels und der davidischen Dynastie wurde das Volk des Exodus das unmittelbare Ggenüber des zürnenden, sich aber auch erbarmenden Gottes Jhwh.« Emmendörffer (1998), 289. 1073 Perlitt (1972), 293f.

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einer theologischen Weltsicht verpflichtet, die Klgl 3 ähnelt.1074 Jedoch stimmt es Klgl 4 insofern zu, als dass ein immer neues Hoffen, dass doch immer wieder nur enttäuscht wird, nicht eine befriedigende theologische Antwort auf die immer noch massive Not sein kann. Wenn Klgl 4 bekräftigt, dass das Gericht seine Vollendung, sein Ziel erreicht hat – dann, so Klgl 5, muss aber auch mal gut sein! Dieser Gedanke wird programmatisch in den letzten, schon formal vom Rest des Liedes abgesetzten, V 19–22 entwickelt. Eingeleitet mit dem Bekenntnis zum ewig thronenden Gott, der nicht mehr räumlich auf dem Berg Zion (auch nicht räumlich »im Himmel«), sondern eher in einer Dimension der »größeren Zeit«1075 verortet wird, kommt V 20 direkt auf den Kern des Problems: Sowohl ‫נצח‬ wie auch die Formulierung ‫ לארך ימים‬ist negativ konnotiert1076 und kontrastiert die ewige Herrschaft Gottes mit den negativen Zukunftsaussichten der Beter. Durch die Frage ‫ למה … תשכחנו‬wird zudem auf die Forderung des »Gedenkens« aus V 1 zurückverwiesen. Das göttliche Vergessen ist selbst zu einem unerklärlichen Skandalon geworden: »Nicht die (theoretische) Nichtexistenz Gottes, sondern die (praktische) Unwirksamkeit Gottes war die Anfechtung, die den Menschen zerriss.«1077 Vor dem Hintergrund von Klgl 3 und Klgl 4 müsste man sagen: Gott wirkt durch die Gläubigen im sozialen Bereich. Wo keine Gläubigen – oder wo keine Gemeinschaft mehr –, dort auch kein göttliches Wirken. Es ist daher folgerichtig, wenn V 21 daraufhin die Hoffnung auf eine Neubesinnung in dem Bewusstsein formuliert, dass diese ihren Ausgangspunkt in Gott nehmen muss. »Für die Beter steht fest, dass die Kluft zwischen der positiven Dauer des göttlichen Thronens und der negativen Dauer seines Vergessens nur durch JHWH selbst geschlossen werden kann.«1078 Im Gegensatz zu Klgl 3 schreckt der Text hier nicht mehr vor der Alternative, die in V 22 in den Blick kommt, zurück. In der Buchlogik ist es die durch Klgl 4 vermittelte Differenz der Positionen von Klgl 3 und Klgl 5, die das letzte Wort des Buches zur Katastrophe von 586 v. Chr. darstellen: Als lang ausgebreitete Darstellung eines Leidens, das tatsächlich unerträglich geworden war, bei dem den Opfern nicht mal im Tod 1074 Zwar ist anzunehmen, dass Klgl 5 historisch vor Klgl 3 entstanden ist (vgl. hierzu u. a. Hartenstein [1997], 244–248), jedoch sind die theologischen Hinweise aus Klgl 5 nicht spezifisch genug, um es im Zuge einer linearen Leseweise deutlich von Klgl 3 zu trennen. 1075 Hartenstein (1997), 246f. »[A]uch für Thr 5,19 [ist] die Gegenwart und Ansprechbarkeit Gottes in der ›Tiefe‹ der Welt mit seiner nach wie vor hintergründig wirksam gewußten Königsherrschaft verknüpft. Dies bringt die personale göttliche Zeitdimension des ‫עולם‬ zum Ausdruck. … Die vorexilisch enge symbolische Bezogenheit zwischen Gottesthron und Zion kann angesichts des zerstörten Tempels noch nicht in räumlichen Kategorien neu formuliert werden.« 1076 Wagner (2012), 633. 1077 Perlitt (1971), 367. Dies zeigt sich auch am Begriffspaar ‫שכח – זכר‬, das mehr als nur ein kognitives Wissen bezeichnet, sondern auch voluntative Momente miteinschließt (Berges [2002], 298): Ein Vergessen ist immer auch ein Nicht-Erinnern-Wollen! 1078 Berges (2002), 299.

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Dritter Zugriff: Die Klgl als programmatischer Diskurs

Selbststand und Würde behalten, ist Klgl 4 nicht zuletzt ein Votum dafür, dass es einen Moment gibt, an dem der Tod tatsächlich die würdevollste Weise ist, mit einer unlebbaren Welt umzugehen. Doch dann ist Klgl 3 dementsprechend zu korrigieren: Gut ist es, wenn man harrt, schweigend, auf die Hilfe JHWHs (Klgl 3,26) – es sei denn, dieses schweigende Harren führt geradewegs in ein entwürdigendes Siechen bis zum Tode.

6.5.3.3 Zusammenfassung In Kap. 6.3 wurde geltend gemacht, dass die theologische Position von Klgl 3 ihrerseits wiederum einer Kontextualisierung bedarf. So, wie Klgl 3 die Position von Klgl 1–2 differenzierte, bedarf es nach Klgl 3 einer Überprüfung der theologischen Unterweisung von Klgl 3 an der Realität. Klgl 4–5 leisten diesen Realitätscheck. Klgl 4 dokumentiert einerseits den Versuch, das Gericht mittels des Theologumenons des göttlichen Zornes zu erklären.1079 Daneben machte die Darstellung von Klgl 4 deutlich, dass es physische Grenzen für eine Haltung demütigen Hoffens gibt. Klgl 5 stellt dagegen die Konsequenzen eines individuell-dyadisch gedachten Gottesverhältnisses dar. Dies geschah in Klgl 5 in einem doppelten Gedankengang. Schon in Klgl 3 spielte die Frage persönlicher Schuld eine Rolle. Klgl 5 greift dies auf und entwickelt das Thema in zwei Richtungen: Zum einen weist es darauf hin, dass die persönlich Verantwortlichen des Gerichts nicht mehr leben (V 7). Die Zurechenbarkeit der Schuld der Väter auf die Nachfolgegenerationen wird zwar nicht geleugnet, sie verliert allerdings mit wachsender zeitlicher Distanz an Plausibilität für die Hinterbliebenen. Zum anderen macht V 21 deutlich, dass die Zuversicht aus Klgl 3, individuelle Reue und Umkehr würden neues Erbarmen Gottes zur Folge haben, verloren gegangen ist. Stattdessen wird die Überzeugung formuliert, dass trotz Reue und Umkehr der erste Schritt einer Resitution des Gottesverhältnisses bei Gott liegt – und die anhaltende Bedrückung daher umso prekärer ist. Zusammen genommen verdeutlicht dies wachsendes Unverständnis aufseiten der Betenden: Zwar bereuen sie ihre eigene Schuld und die Schuld der Vorväter, sind grundsätzlich auch bereit, für diese Verantwortung zu übernehmen, doch sind sie in einer Situation gefangen, in der nur Gott ihr Schicksal richten kann – was allerdings nicht geschieht. Es ist hier, wo die in V 7 gemachte Unterscheidung zwischen eigener Schuld und Schuld der Vorväter am relevantesten wird: Wenn 1079 Man kann geteilter Meinung sein, inwiefern dies gelingt. Wenn Klgl 4,6 eine Schuld postulieren muss, die noch größer ist als die Schuld Sodoms, um das Ausmaß des Leidens verständlich zu machen, dann scheint damit eher die Fruchtlosigkeit der Suche nach einem angemessenen Vergleich dokumentiert zu sein (ähnlich auch Freedman [1975], 178).

Klgl 5 – Eine radikal offene Zukunft

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anders als in der ehemaligen deuteronomistischen Theologie, nicht mehr Staaten oder Völker, sondern Individuen, zu Gottes Gegenüber werden, manifestiert sich Gottes Gegenwart und Schutz nicht mehr im Wohlergehen des Staates oder des Volkes, sondern in seinem konkreten Handeln am einzelnen Individuum, in der Wahrung von Recht, Schutz vor Unterdrückung, Rettung aus Not. All jene Indizien für Gottes heilsames Wirken fehlen jedoch in Klgl 5 – und lassen somit die Frage offen, ob Gott eine Zukunft mit Israel überhaupt im Blick hat. Gottes Präsenz ist nicht mehr an Tempel und Stadt gebunden – dies ist nicht nur für die Menschen eine theologische, sondern auch für Gott eine praktische Herausforderung. Entgegen der verbreiteten Auffassung, dass Klgl 5 lediglich einen im Vergleich zu den übrigen Liedern abfallenden Abschluss des Buches bilde, endet Klgl 5 erstaunlich mutig. Das Lied fordert JHWH nicht nur zum wiederholten Mal auf, die aktuelle Not wahrzunehmen, sondern auch, hinsichtlich des Gott-MenschVerhältnisses klare Ansagen zu machen. Wenn Gott die Klage der V 2–18 tatsächlich hört und die Zustände der Betenden ernst nimmt, wird er eine Entscheidung treffen müssen: Neuschöpfung oder dauerhafte Verwerfung. Klgl 5 setzt, wenn man so will, alles auf eine Karte: Aus einer Position der Schwäche und Bedrängung heraus fordert es von Gott in erster Linie klare Verhältnisse: »entweder ewige Verdammnis oder Neubegründung des Gott-Mensch-Verhältnisses; aber kein weiteres Verweilen in dem Zustand aktuellen Leids und immer wieder enttäuschter Hoffnung auf Gnade.«1080 Zugleich gibt Klgl 5 insgesamt, aber insbesondere der Schluss des Liedes, performativ einen Hinweis auf eine Zukunft mit Gott: Indem das Lied als Gebet verfasst ist, setzt es den gläubigen Selbstvollzug eines Verhältnisses mit Gott – mit wie viel Schmerz und Verletzungen dieses auch immer behaftet sein mag – schon voraus. Die bemerkenswerte Klarheit von Klgl 5, am Ende alles auf eine Karte zu setzen und »mit dem Mut der Verzweiflung« eine Entscheidung zu fordern, exemplifiziert zugleich das Vertrauen in zumindest die Möglichkeit einer guten Zukunft. Oder anders formuliert: Das »Entweder – Oder« von Klgl 5 ist präformiert hin zur Hoffnung auf eine Zukunft mit Gott.

1080 Wagner (2012), 635.

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Ertrag

Die Untersuchung hatte die These aufgestellt, dass das Buch der Klgl ein planvolles Arrangement von Einzeltexten darstellt, die, kontinuierlich gelesen, ein nachvollziehbares inhaltlich-theologisches Programm entwickeln. Im Verlauf der Arbeit konnte diese These bestätigt und durch eine Vielzahl von Indizien gestützt werden. Der Ertrag der Arbeit lässt sich thesenartig so formulieren. 1. Die Diskussion um die Exegese größerer Textkorpora bedarf textlinguistisch fundierten Kategorien und einer intensivierten Methodendiskussion. Kap. 3 machte deutlich, dass eine der Schwierigkeiten der Diskussion um die Exegese größerer Textkorpora in den wenig spezifischen Beschreibungskategorien lag, die in der Methodendiskussion bislang verwendet wurden. Eine von sprachlichen Bildern oder Metaphern dominierte Begrifflichkeit neigt dazu, Erwartungen zu schüren, die durch die Untersuchung später dann nicht erfüllt werden. Besonders in der Psalterexegese war dies auffällig. Die Beschreibung textlicher Phänomene und Beobachtungen verbleibt dort zuweilen in einem »als ob«-Modus: durch die Verwendung sprachlicher Bilder und Metaphern zur Beschreibung textlicher Phänomene erhebt man die mangelnde begriffliche Präzision regelrecht zu einem positiven Merkmal der Analyse. Zugleich wird suggeriert, dass gerade durch die unpräzisen Vergleiche relevante inhaltliche Einsichten beschrieben werden (können). Es resultiert eine Sprache, die nie sagen kann bzw. muss, wie ernst es ihr mit den verwendeten Vergleichen eigentlich ist. Damit wird eine inhaltliche Diskussion erschwert, da gerade bei der Beschreibung des Verhältnisses von Einzel- zu Gesamttext begriffliche Genauigkeit unabdingbar ist. Dementsprechend war erkennbar, dass viele der kontroverseren Thesen – das Dodekapropheton als Narration, der Psalter als quasi-narrativer Text, Psalmen als lediglich semi-autonome Texte – auf einem wenig differenzierten Textbegriff basierten. Eine intensivere Beschäftigung mit textlinguistisch fundierten Begriffen und Kategorien würde schnell die Grenzen derartiger Interpretationsvorschläge zu Tage fördern.

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Ertrag

2. Die teilweise noch anzutreffende Dichotomie zwischen einer endtextorientierten Gesamtlesung und einer redaktionsgeschichtlich orientierten Einzeltextexegese ist zu überwinden; sie ist insbesondere methodologisch nicht notwendig. Insbesondere in der Dodekaprophetonexegese existiert nach wie vor eine lebhafte Diskussion über die Grenzen einer synchron orientierten Exegese, sowie darüber, wie das Verhältnis zwischen der Aussage oder dem Programm des Buches und den jeweiligen Bedeutungen der einzelnen Schriften zu bestimmen ist. Auch in der Klgl-Exegese gab es einige redaktionsgeschichtlich orientierte Versuche, das Buch der Klgl als Gesamtwerk wahrzunehmen. Charakteristisch ist jenen Ansätzen, dass sie im Kern diachron argumentieren und denken. Sie fassen jüngere Texte als Rahmung, Kommentierung, Reaktion auf ältere Texte auf, sehen jedoch nicht die Möglichkeit einer umgekehrten Beeinflussung und Bezugnahme älterer Texte auf neuere vor. Hier konnte mit Verweis auf die Narrative Audiences Rabinowitz’ ein Modell angeboten werden, dass diese Beschränkung als eine scheinbare offenbart und eine Möglichkeit bietet, auf methodisch saubere Art eine Synchronlesung diachron entstandener Texte im Kontext eines Gesamtwerkes zu etablieren. Indem ernst genommen wird, dass es neben den derzeitigen Jetzt- und historischen Erstlesern weitere Instanzen von Rezipient*innen gibt, die literaturtheoretisch irreduzibel sind, wird sichtbar, dass jede*r Leser*in – sei es Jetzt- oder Erstleser*in – bei der Rezeption zumindest ein autoriales, in aller Regel aber auch ein narratives (oder dramatisches) Publikum kreiert. Dieses ist allerdings nicht mehr an die historischen Begrenzungen einer unterschiedlichen Entstehungszeit o. ä. gebunden, sondern existiert zumindest dann einzeltextübergreifend, wenn die zugrunde liegenden Texte eine derartige Lesung zulassen. Auf der Ebene des autorialen Publikums des Buches, in jedem Fall aber auf der Ebene des narrativen Publikums ist eine synchrone Lesung, mit bidirektionaler Beeinflussung, Kommentierung usw. älterer und jüngerer Texte unproblematisch. 3. Bei einer Exegese des Buches der Klgl sollte auf den Begriff »Gesamttext« verzichtet werden: Die mit diesem Begriff verbundenen textlinguistischen Kategorien werden auf der Ebene der Textsammlung nicht erfüllt. Gleiches gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für die Psalter- und Dodekaprophetonexegese. Insbesondere in der Psalterexegese war deutlich, dass die Rede vom Text (oder dem Gesamttext) »des« Psalters vom Wunsch getrieben war, die Bedeutung bzw. Aussage der Psalmengruppen bzw. Teilpsalter ihrerseits wiederum als Textbedeutung zu fassen. So, wie ein einzelner Psalm als Gedicht eine poetische, epische, liturgische usw. Aussage oder Botschaft hat, so wäre dann auch auf der Ebene der Psalmengruppe eine derartige Bedeutung zu erheben. Die zunächst durch ihre methodische Schlankheit attraktive Herangehensweise führt allerdings zu unauflösbaren Problemen, vergegenwärtigt man sich die im einem

Ertrag

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solchen Textbegriff verbundenen Ansprüche an Kohäsion, Kohärenz, Informationalität usw. Stattdessen sollte das Verhältnis der einzelnen Texte zum Gesamtarrangement eher als Netz von intertextuellen Bezügen, die durch Querverweise und Stichwortbeziehungen etabliert werden, konzipiert werden. Damit ist eine sich aus dem Gesamt ergebenden Botschaft, Argumentation o. ä. ihrerseits nicht als Textbedeutung zu denken und bedarf somit auch nicht der Rückbindung auf einen kontinuierlich gedachten Gesamttext. Dies nötigt dann nur noch auf der Ebene der Einzeltexte zu einer methodisch und theoretisch plausiblen Zugrundelegung eines anspruchsvollen Textbegriffes, während auf der Ebene des Buches lediglich von einem Arrangement von Einzeltexten gesprochen werden muss, die durch vielfältige Bezüge eine »privilegierte Intertextualität«1081 etablieren. 4. Die Klgl sind ein Arrangement von unabhängig voneinander entstandenen und redaktionell wenig bzw. nicht überarbeiteten Texten, denen lediglich durch ihre Anordnung eine einzeltextübergreifende Aussage zukommt. Damit nimmt das Buch eine interessante literaturtheoretische Stellung ein. Sowohl beim Psalter als auch beim Dodekapropheton handelt es sich auf der Ebene der Einzeltexte um redaktionell mehr oder weniger stark bearbeiteten Texte. Es ist hier naheliegend, einzeltextübergreifende Sinnlinien gerade dort zu vermuten, wo diese durch eine zielgerichtete Bearbeitung der Einzeltext im Zuge der Anordnung zu einem Gesamtarrangement – sei es eine Psalmensammlung oder das Zwölfprophetenbuch – entstehen konnten. Beim Buch der Klgl liegen die Dinge anders. Hier wird weitgehend einhellig von redaktionell nicht oder zumindest wenig bearbeiteten Texten ausgegangen, die lediglich durch ihre Anordnung und das vermutlich auf das Gesamtarrangement hin geschaffene Klgl 3 eine Gesamtaussage bekommen, die aus den Einzeltexten so nicht erhoben werden kann. Die Möglichkeit von »neuen Sinnbezüge[n] zwischen verschiedenen Einzelschriften, die auch unabhängig von redaktionellen Texteingriffen bei der Herstellung eines kanonischen Makrotextes entstanden sind, in vielen Fällen vielleicht sogar ohne spezielle redaktionelle Absicht«1082 wurde von Norbert Lohfink schon vor Jahren angesprochen und die literaturtheoretische Beschäftigung damit gefordert. Das Buch der Klgl ist diesbezüglich ein interessanter test case. Es ermöglicht, literaturtheoretische Intuitionen zu hinterfragen und den Gedanken von Lohfink bis zu seinem konsequenten Ende zu denken. Die Klgl präsentieren sich als der Extremfall, bei dem Texte, die unabhängig voneinander entstanden sind und redaktionell nicht überarbeitet wurden, durch lediglich eine kluge Anordnung eine sinn- und ge1081 Steins (1999). 1082 Lohfink (2001), 23.

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haltvolle Aussage, ein Programm erhalten, die über die jeweilige Aussage der einzelnen Texte hinausgeht. Zugleich bietet das Buch Hinweise darauf, wodurch einzeltextübergreifende Bedeutung auch ohne redaktionelle Bearbeitung entstehen kann: Literarische Figuren fungieren als Stifter von Kohärenz, die auch über die Grenzen eines Liedes hinweg erhalten bleiben und als Bezugspunkt dienen können. Dramaturgische Elemente fördern, dass man ein liedübergreifend gleichbleibendes Setting voraussetzt. Der gleiche historische Anknüpfungspunkt bei gleichzeitig unterschiedlichen thematischen Akzentuierungen sorgt für verschiedene Perspektiven auf das gleiche Thema. Zugleich sorgt die Akrostichie für klar voneinander abgesetzte strukturelle Einheiten, so dass deutlich bleibt, dass das Buch der Klgl ein Arrangement aus Einzeltexten ist, nicht ein in Kapitel, Akte, Absätzen o. ä. unterteiltes einheitliches literarisches Werk. 5. Das Buch der Klgl stellt eine theologische Diskussion um die Grenzen eines gerechten Gerichts dar. In den einzelnen Liedern werden hierzu unterschiedliche Standpunkte, Argumente und Auffassungen präsentiert, ohne dass im Buchverlauf dazu eine letztgültig verbindliche Aussage getroffen würde. Im Kontext des Buches kommen den einzelnen Liedern dabei klar beschreibbare Funktionen zu. Der historische Anknüpfungspunkt der Diskussion, die sich im Verlauf des Buches entwickelt, liegt in der Belagerung und Eroberung Jerusalems durch die Babylonier im Jahre 586 v. Chr. Insbesondere in Klgl 2 und 4 drängt sich diese historische Deutungsfolie geradezu auf. Trotzdem ist das Thema des Buches nicht nur die theologische Berechtigung dieses konkreten Gerichts, sondern ein allgemeineres: Klgl 3 macht die allgemeinere Fragestellung auf, wie ein Mensch sich überhaupt angemessen gegenüber einem aktuell ergehenden göttlichen Zorn verhalten soll, während Klgl 5 aus der Perspektive der Nachfolgegeneration(en) die Frage aufwirft, ob auf ein Ende des Gerichts im Zusammenhang mit einer sich erneuernden Zuwendung Gottes zu seinem auserwählten Volk überhaupt noch zu hoffen sei, oder ob der göttliche Zorn sich nicht vielmehr vollständig von seinem historischen Anknüpfungspunkt gelöst hat und zu einem »Selbstläufer« geworden ist. Klgl 1 hat dabei die Funktion einer Einleitung. Das Lied führt ins Thema ein, etabliert mit Zion und dem Sprecher die beiden bestimmenden figurae dramatis, präpariert den grundlegenden theologischen Konflikt heraus, indem es einerseits Zions eigene Verantwortung am Gericht bekräftigt, zugleich das Gericht als in seinen Konsequenzen gegen göttliches Gebot verstoßend charakterisiert. Das Gericht selbst wird dabei als körperliche Gewalt an einer Frauenfigur dargestellt – und die weitere Diskussion damit einzuhegen versucht, dass eben jene Frau das Gericht an ihr selbst als legitim darstellt – und sie damit als passive Empfängerin einer grundsätzlich gerechten Gewalt erscheint.

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Klgl 2 setzt hier an und radikalisiert einerseits die Schilderung des Gerichts, andererseits aber auch die Reaktion Zions. Die erste Sektion des Liedes fokussiert die Darstellung auf das Ausmaß der Zerstörung und die Folgen für die Zivilbevölkerung, insbesondere deren schwächsten und unschuldigsten Mitglieder. Diese Intensivierung spiegelt sich auch im Verhalten des Sprechers wider, der in der zweiten Sektion des Liedes seine beschreibende Haltung aus Klgl 1 aufgibt und stattdessen seine eigene Bestürzung und seine (erfolglosen) Versuche, Zion Trost zu spenden, wiedergibt. Als Reaktion darauf ergreift Zion erneut das Wort – und ist praktisch nicht wieder zu erkennen. Statt wie in Klgl 1 als passive Frau ihr eigenes Leid zu beklagen, nimmt sie das Leid ihrer Kinder zum Anlass, Gott radikal anzuklagen und eines Gerichts zu bezichtigen, das jedes nachvollziehbare Maß verloren hat. Im Kontexte des Buches übernimmt Klgl 2 somit die Funktion der Konfliktverschärfung und -pointierung. Klgl 3 nimmt die Kritik Zions aus Klgl 2 auf und versucht, sie in konstruktive Bahnen zu lenken. Dies geschieht in mehreren Schritten. Zunächst muss eine Figur etabliert werden, die Zion überhaupt »auf Augenhöhe« begegnen kann. Dies geschieht durch die Einführung einer weiteren figura dramatis, den Mann. Anschließend wird deutlich gemacht, dass es nicht darum geht, Zions Kritik am Ausmaß Gottes’ Gericht grundsätzlich abzuweisen oder als verfehlt darzustellen – ganz im Gegenteil: Durch eine an die Selbstdarstellung Zions angeglichene Darstellung etabliert sich der Mann als eine Figur, die eine vergleichbare Geschichte durchgemacht hat, die auch Zion zu erleiden hatte. Allerdings möchte der Mann durchaus Kritik anbringen – nämlich am Ausmaß Zions’ Kritik. Dieses wird in einem dritten Schritt als unproduktiv und selbstzerstörerisch erwiesen, wobei auch dies wiederum als Selbsterkenntnis des Mannes dargestellt wird. Auch der Mann, so die Botschaft, hat die Tiefen der Verzweiflung Zions durchschritten und kann einordnen, woher Zions radikale Kritik kommt. Er kann sie dennoch nicht gutheißen. Dementsprechend geht es in einem vierten Schritt darum, ein alternatives, konstruktiveres, Umgehen mit dem ergehenden göttlichen Zorn vorzuschlagen und gegen Einwände zu verteidigen. Inhaltlich vertritt Klgl 3 die Position, dass Zion in Klgl 2 gleichsam den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Ihre Kritik an Gott mag sachlich berechtigt sein, in ihrer Grundsätzlichkeit führt sie allerdings dazu, dass sämtliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und damit auch die Kraft und der Wille zum Weiterleben versiegt. Stattdessen schlägt der Mann vor, in Demut und Vertrauen in Gottes jegrößeres Erbarmen auf das Ende des Zornes zu warten und Gottes Gericht als persönliche Prüfung zur Selbstvervollkommnung zu nutzen. Klgl 4 kontrastiert diese Sicht mit der grausamen Realität zur Zeit des belagerten Jerusalems. Jeder Verhaltensvorschlag, der die Kritik Zions aus Klgl 2 als unangemessen zurückweist, muss seinerseits erweisen können, dass er auch in der Extremsituation der Belagerung, in akuter Todesbedrohung praktikabel ist.

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Schließlich ist das genau die Situation, für die das Verhaltensprogramm des Mannes entworfen wurde. Kann der Vorschlag des Mannes diesen Praxistest nicht bestehen, steht er im Verdacht, lediglich abstrakte Theologie, und in der konkreten Situation des Gerichts nicht hilfreich zu sein. Klgl 4 kommt damit die Funktion zu, die in Klgl 3 ins Theoretische abzugleiten drohende Diskussion zurück in die konkrete Realität des Gerichts zu verorten. Durch den starken Fokus auf die Leiden der Bevölkerung während der Belagerung Jerusalems wird im Verlauf des Liedes deutlich, dass die Lösung des Mannes aus Sicht von Klgl 4 lediglich eine scheinbare ist. In einer Situation, in der der schnelle Tod durch das Schwert wie eine Erlösung scheint, verliert der Appell eines »Hoffen um jeden Preis« seine Plausibilität. Klgl 5 ist das letzte Lied des Buches – weswegen ihm zunächst einmal die Funktion zukommt, die Diskussion abzuschließen. Dies geschieht allerdings nicht durch eine letztverbindliche Antwort oder Aussage, sondern vielmehr durch die deutliche Darstellung der nach wie herrschenden Unsicherheit, in der Gottes Verhältnis zu seinem Volk nach wie vor ungeklärt ist. Tatsächlich ist die einzige bemerkenswerte Änderung, dass an Stelle der Gräuel des Gerichts die täglichen Entbehrungen getreten sind. Klgl 5 schließt mit einer Frage (V 20) und einem Konditional bzw. einer Protasis (V 22). Die Frage nach der abschließenden Bewertung des Gerichts an Israel und nach dem Zustand des Verhältnisses Gottes zu Israel, wird durch die letzten Verse gerade auf die Zukunft hin geöffnet. 6. Dramenelemente, die insbesondere in Klgl 1–2 dominieren, haben maßgeblichen Anteil daran, dass zu Beginn des Buches die einzelnen Lieder als ein größerer Sinnzusammenhang rezipiert werden. Dramenelemente wurden für Klgl 1–2 schon Anfang des 20. Jahrhunderts geltend gemacht, dann allerdings lange Zeit nicht weiter beachtet. Diese Elemente etablieren zu Beginn des Buches ein kontinuierliches Setting, das auch nach dem Schluss des ersten Liedes erhalten bleibt und somit zum Weiterlesen einlädt. Die zu Beginn von Klgl 1 etablierten figurae dramatis, der Sprecher und Zion, teilen den gesamten Text von Klgl 1 untereinander auf; als literarische Figuren fungieren sie als Bezugspunkte für die Kohärenzbestrebungen der Rezipient*innen, insbesondere im Übergang von Klgl 1 zu Klgl 2. Die in der Rede des Sprechers erkennbare Unterteilung in Spielzeit und gespielte Zeit ermöglicht, die präsentische Beschreibung des Verhaltens Zions und des Sprechers und die präteritalen Rückblicke auf das Gericht und dessen Vorgeschichte zu trennen – und damit indirekt das dramatische Setting wiederum zu stärken. Die Einführung des Mannes zu Beginn von Klgl 3 verliert vor dem gefestigten Setting von Klgl 1–2, sowie der zu diesem Zeitpunkt gefestigten Leser*innenerwartung, dass die Darstellung nach Klgl 2 fortgesetzt wird, vieles von ihrer häufig beschriebenen Unvermitteltheit.

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The present thesis attempts to read the individual poems of the Book of Lamentations as a meaningful sequence; it posits that their arrangement is tied to a theological program developed throughout the book. Thus, Lamentations as a whole becomes part of the relevant exegetical context of interpretation of each individual poem. Though relatively new with regards to Lamentations, such an approach can point to two independent trends in recent exegesis and can be seen as their continuation or application to the book of Lamentations. For one, one can point to the significantly increased awareness of the artistic character of Lamentations since around the turn of the millennium. This in turn has led to broader and much more diverse discussions about the remarkable poetics of the poems as well as the relationships between individual poems. However, so far these observations and discussions have been rather cursory – which in turn calls for a comprehensive study of such observations. One obvious follow-up question would be, whether these observations can be integrated into a plausible interpretation of Lamentations as a whole. Secondly, one may point to new approaches in the exegesis of the Psalter, the Book of the Twelve and other text corpora of the OT, in which the focus on the setting and function of individual texts within the context of the respective book has successfully been incorporated into the canon of exegetical methods and questions. Thus, the book of Lamentations would simply be yet another set of texts in the Old Testament, where such an approach would appear to be suitable. The very fact that within the exegesis of Lamentations these kinds of questions are just starting to gain traction, enables us to benefit from know-how already gathered in comparable exegetical contexts. The current thesis reflects this: (1) In the opening chapter, selected points of the history of research into Lamentations are discussed in order to highlight that while the proposition of a meaningful sequence of poems within Lamentations has previously not been widely discussed, such an approach can nonetheless build on previous work and

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discourses in other areas of OT research and may be understood as their obvious adaptation to a new group of texts. (2) In the following chapter, by way of a heuristic intermediate step, the current methodological state of research in comparable fields of OT research is examined. Some of the methods that will be used in the later stages of the current thesis have been successfully tested for quite some time in the exegesis of the Book of Psalms or the Book of the Twelve, among others. By taking stock of the methodological inventory and approaches of those studies, some initial conclusions regarding promising methodological approaches to exegesis of Lamentations, as well as to the terminology used further in the present study will be presented. (3) In the second part of the thesis, the entire textual analysis is presented. Here, the overall point is to substantiate the initially formulated thesis. To this end, the text of Lamentations is examined in three successive rounds of analysis. First, textual evidence is gathered that shows that the arrangement of the individual poems reveals a consciously conceived structure. Each of the poems many and diverse references to each other are discussed – from quite obvious ones, such as the recurring acrostic in Lam 1–4, to a comprehensive analysis of key words, thematic foci and references that connect the poems. (4) While the first round of analysis focusses on structural evidence, the second round examines the content of the poems and traces the progression of ideas, themes and theological points with regards to the initially observed structure of the book. The goal here is to develop a train of thought or line of reasoning, a program, spanning Lamentations as a whole, by which the intentionality apparent on the structural level also translates to intentionality on the content level of the book. (5) In a final round of examination, the previously found program is being validated and illustrated by way of a comprehensive exegetical examination of Lamentations as a whole. (6) A final conclusion sums up the major findings of the thesis. The following pages summarize the relevant points of each chapter: Ch. 2 – Laying the ground work I: previous research into Lamentations The tendency to focus not just on individual texts but also on macro-corpora is nothing unusual in current Old Testament research. Research that focusses on the macrostructure has been published for the Psalter, the Book of the Twelve, the Song of Songs, even Proverbs. However, an introductory overview of the history of research into Lamentations makes clear that here comparable approaches have so far failed to provide conclusive answers. The status quo can be described as follows: Authors who assume that Lamentations consists of a set of largely in-

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dependent texts have hitherto been mostly associative and cursory when referencing links between neighboring texts. Although recent exegeses of Lamentations have developed quite a multi-faceted view of each individual text, overall their observations could not justify the thesis of a cohesive message spanning the entire book. Those however who assumed a unified book, consisting of texts composed as a set or at least with regards to each other, were only able to suggest a cohesive set of poems on a structural level. By and large, they were unable to provide an explanation to the obvious follow-up question, namely as to why the literary references presupposed in such a model remain relatively scarce and less than convincing. Alternatively, they were tasked with showing Lamentations to be a well-conceived composition from start to finish, following the approach of Johan Renkema – with all its resulting problems and plausibility deficits. Despite this seeming impasse, it is quite obvious that in recent research the idea of supposing at least some level of uniformity of the book – if not at the level of text production then certainly at the level of text reception – continues to gain acceptance. It is therefore time to integrate the previous rather cursory approaches into a comprehensive interpretation of Lamentations. To this end, a distinction of four different types of audicences, first proposed by Peter Rabinowitz in the 1970s as a means of analyzing truth in fictional texts, proved to be a helpful model for overcoming the apparent dichotomy between the classical historical-critical exegesis and recent canonical approaches. By paying close attention to the different audiences presupposed during the reading process, it is possible to maintain key assumptions of both the historical-critical approach as well as the canonical approach. In particular, it is possible to explain how one can simultaneously assume independently composed poems (thereby presupposing a graded chronology of creation of the book), while also insisting on bringing the individual poems of the book into conversation with each other, regardless of their relative chronology. Thus, the current thesis maintains (with the bulk of the literature) a diachronically differentiated history of the composition and redaction of Lamentations, as well as literary independence of the individual poems to each other. At the same time, however, we employ a synchronous exegetical approach (similar to the canonical approach), which interprets the poems based on the Endtext of the book and thereby also pays attention to what would otherwise be discarded as “anachronistic” references (i. e. references by older poems to younger ones). Ch. 3 – Laying the ground work II: methodological considerations Further methodological insights were gained through a heuristic intermediate step in the form of a survey of comparable exegetical projects. The aim of this section was to identify methodological deficits in previous research, but also to summarize the potential benefits. Based on this, it was possible to draw con-

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clusions as to suitable methodological systematizations for such the present study. The following key initial insights and systematizations could be formulated: (1) Biblical exegesis that pays attention not just to the individual text but also its setting, its Sitz im Buche, has proven its potential. Also exploring its applicability regarding Lamentations is therefore quite promising. (2) However, accurately describing the relationship between individual texts and the entire biblical book requires a conceptual and terminological precision, that so far has often been lacking. Quite frequently authors use terminology that employs comparisons, imagery or metaphors – which in turn tend to give rise to interpretative expectations that the following exegesis then fails to meet. This, in turn, complicates the discussion about the merits and deficits of such studies. (3) Structural indicators, or references between individual texts alone are not sufficient proof for a substantive theory of a comprehensive meaning, message or program of an arrangement of individual texts such as the Psalter or Lamentations. Thus, although such indicators may hint at the existence of a programmatic arrangement of individual texts, and although they may further support and strengthen a theory that posits the existence of some overarching program spanning the entire book, they cannot justify it in and of themselves. (4) References to a Gesamttext, as is often the case in German-language literature, should be avoided, as it raises interpretative expectations which mostly cannot be met. This is the case at least with regards to the Psalter and the book of the Twelve, as well as for Lamentations. In each case, the individual texts contain only few prolepses and analepses, such that their thematic, spatial, and temporal similarities, sometimes combined with recurring literary figures, may be enough to evoke some narrative feeling, but they do not achieve the status of true narrativity. (5) The obvious thematic consistencies between the individual texts, the way they take up or react to previous motives or thematic foci, sometimes rejecting or criticizing earlier ideas, which in some cases certainly reaches the impression of speech, response, counter-argument etc., are better described as intensified modes of intertextuality. This holds true for Lamentations as well as the Psalter and the Book of the Twelve. (6) Literary or dramatic figures serve as important ‘anchor points’ of intensified literary coherence. For Lamentations, the degree of coherence generated by the speaker, Zion, and man merits discussion especially for Lam 1–3. Accordingly, the absence of such figures in Lam 4–5 requires an explanation in light of the overall thesis. (7) The most convincing approaches to the exegeses of the Psalter or the book of the Twelve conceive of their overarching message or program as a web of intertextual references ‘overlying’ the text, which are then brought into dialogue

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with each other. Thus, the message of the book is not dependent on treating the entire book as a continuous text, but rather dependent on thematic motives, theological foci etc. which are being brought into interaction with other each other. This structure of intertextual relationships may then be further enriched and supported by narrative, dramatic or thematic elements – but it is not based solely on them. As a consequence, it is not necessary to force all aspects of an interpretation into some (narrative, dramatic, argumentative, …) scheme – in fact, it is one of the advantages of such an approach that it allows for the necessary “fuzziness” with regards to how specific motives and thematic ideas fit into the larger whole. Regarding Lamentations, it suggests that the more promising approach is likely not to attempt to identify the overall message of the book not as narrative meaning on the textual level, but rather as a theological-argumentative message located on the level of intertextual references. An obvious candidate for such a comprehensive theological-argumentative discussion spanning the entire book would be the question of theodicy arising from the judgement of Israel. Ch. 4–6 – Lamentations as an intentional arrangement of texts As a result of Ch. 2 and 3, the Lamentations presents itself less as a unified text, in which the individual texts contribute their respective parts, much like chapters of a novel. Instead we are dealing with independently composed texts, which nonetheless can be meaningfully related to each other via a dense network of intertextual references. This enables readers of the text to view the poems as separate (though contributing) voices or positions within a broader theological discussion about the limits of divine judgement. Within this discussion, the individual poems have different but specific functions, such that a comprehensive theological argumentation results over the course of the book. Following Ch. 2 and 3, the study proceeds to conduct an exhaustive analysis of Lamentations by cataloging and examining the sequence of themes, motives and accents which bring the individual poems of the book into dialogue with one another. The discussion arising between the individual texts can be summarized as follows: Lam 1 opens the book. The poem introduces the main thematic elements, establishes the historical frame of reference and creates a drama-like setting which will help to maintain textual coherence beyond the limits of individual poems. Lam 1 also provides background information about the events under discussion and establishes the judgement of God as a just – and justified – reaction to the sin of Israel. With speaker and Zion, Lam 1 establishes two figures who explicate the theological conflict discussed in Lamentations: on the one hand the empirical truth of an incomprehensibly violent day of judgement, on the other the theological truth of a righteous God. In light of this conflict, both figures employ different coping strategies: while the speaker stresses Gods divine

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judgement, Zion stresses the extent of her injuries inflicted by God. In terms of the poems function with regards to the entire book, Lam 1 lays considerable focus on Zion’s considerable guilt, thereby simultaneously legitimizing the extend of Gods punishment and preempting criticism about to its severity. The fact that Gods judgement is presented as physical punishment of Zion both individualize as well as relativizes it – after all, despite the gravity of the situation, Zion is still alive and can complain! Lam 2 then intensifies the conflict delineated in Lam 1. The first half of the poem describes at length the gruesome brutality of Gods judgement. Here, the text focusses on the military violence inflicted on the city, but it also highlights the effects of Gods punishment on the weakest and most innocent, the children and babies. Since the dramatic setting from Lam 1 (as well as its figurae dramatis) remain in place, Lam 2 is easily readable as a continuation of Lam 1. However, during Lam 2 both speaker and Zion undergo a psychological development which subtly undermines the argument of Lam 1. Throughout Lam 1, the speaker maintained the façade of a dispassionate and distant observer. In Lam 2 however, he turns into a compassionate supporter of Zion, trying to give comfort and advice. Apparently, the effects of Gods punishment on children and babies is too much for even the most distant of observers. For her part, Zion changes from a humiliated woman, whimpering and despondent, into a mother who is fiercely accusing God of issuing a punishment, the brutality of which vastly exceeding what could be considered just. Her own sins and her responsibility for Gods judgement plays virtually no role at all, while Gods divinity, due to the incomprehensible severity of his punishment, appears positively compromised. During the course of the poem, Gods proximity comes to signify nothing but hostility; consequently Zion closes with the conclusion that God has turned into her enemy. Lam 3 is meant to react to this escalation. To this end, a new figure is introduced: the man, who otherwise remains anonymous. Much has been made of the mans mysteriously vague identity. However, in the context of Lam 1–3 his introduction serves an obvious purpose: In order to counter Zions accusations against God, a fresh figure must be established that can see eye to eye with her. This is achieved by introducing another figura dramatis, the man. In the first section of the poem he emphasizes the similarities between his current situation and the fate of Zion. Like her, he portrays himself as being under the wrath of God. Though Lam 3 employs slightly different imagery than Lam 2, it is used to represent broadly similar experiences. Early on God is depicted as a pastor malignus, who leads the man straight to ruin; at another point, he appears as a ravenous predator. Thus, the man establishes himself as a character who is speaking from a situation and against a background of experiences that is comparable to those of Zion. It is not simply a question of rejecting Zion’s

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criticism Gods punishment, or to dismiss her criticism as misguided – quite the contrary. At the same time, he does not merely voice similar criticism to Zion’s. Instead (and this is where the man cautions against the Zions radical point of view) he points out that any criticism that threatens to liquidate God entirely, loses its productive potential. He then proceeds to develop a program of behavior intended for dealing with the ongoing divine wrath, which is characterized by humility, hope and trust in a future return of God, thus leaving the possibility for a future relationship with God intact. Through this inner conversio, the man is able to reevaluate his past experiences, which enables him to both recognize his own responsibility for his current situation as well as to regain a relationship of trust with God. Lam 4 contrasts this theological solution with the cruel historical reality of the siege of Jerusalem. It paints the picture of a population that has no strength left for even the slightest humanitarian impulse, a society that has lost all of its solidarity and compassion. The position of Lam 3, namely to trust in the future grace of God despite the depressing present, and to view the current situation as an opportunity for self-examination, is thus contrasted with the very concrete historical reality of Gods judgement. Lam 4 points out that the credo of Lam 3, “hope against all odds”, is only possible for as long as the will to live has not yet been completely extinguished by inhumane torments and privations. Lam 4 suggests that the part of Lam 3 where the man develops this program of coping with the continuing wrath of God, is in danger of appearing as nothing but “aloof theology” with no relevant bearing on the daily reality of those currently affected by the wrath of God. Lam 5, finally, takes up this argument and extends it with regards to its present and future consequences for the relationship with God. The poem makes clear that despite the fact that quite some time has passed since the days of judgement, the situation in Jerusalem is still dire. Although the destruction of Jerusalem is now so far in the past that the fathers, whose sin had originally triggered Gods judgement, have since died, the wrath of God remains a daily reality. The daily humiliation by strangers and occupiers underlines the continuing uncertainty of the relationship with God. The stance of patiently waiting for improvement, trusting in the evergreater kindness and mercy of God, has not been successful. It was of questionable applicability back during the time of Gods judgement, and it did not lead to a more stable, robust trustful relationship with God for subsequent generations. From this rather devastating account of the present, the poem proceeds to draw the only consistent theological conclusion: It is no longer clear whether YHWH is even willing to heal the relationship with His chosen people. The confidence of Lam 3 proved to be premature. It remains yet to be seen whether further hope makes sense, or whether (with regard to the election of Israel) a miserable end is pref-

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erable to endless misery. Thus, the discussion of the book opens up into an uncertain future and every reader is invited to join the discussion. Lam 5 marks a plausible end of the book – not only in formal terms, but also in terms of content. The books individual poems have taken various differing views on the issue at hand: Lam 1 forcefully made the point about Zions own responsibility for Gods judgement; Lam 2 instead argued the disproportionality of Zions sins vs. the extent of the ensuing punishment. Lam 3 tried to mediate between both views, while Lam 4–5 in turn contrasted that attempt with the grim reality of the siege of Jerusalem as well as the humiliating reality of a continuing existence under Gods wrath. None of these perspectives gets the last word or the upper hand – all have their validity and truth and serve as starting points for readers to form their own opinions. The very last verses of the book – Lam 5:20– 22 – ensure that indeed each and every reader is set on this path of introspection and soul-searching. The verses pose perhaps the ultimate question: Has God rejected Israel forever? By the end of the book of Lamentations, the only certainty that remains, is radical uncertainty. Ch. 7 – Conclusion and results The study had two primary goals, which simultaneously outline its relevance to the scientific discourse of biblical exegesis more broadly. For one, a fresh interpretation of Lamentations is presented, which last but not least attempts to take seriously the fact that the individual poems exist primarily as part of the Book of Lamentations. For example, it is quite likely Lam 3 was composed with the final arrangement of the book in mind. If that is the case however, an interpretation of the poem that does not at least pay some attention to its Sitz im Buche remains incomplete. In many instances, the broadened scope of inquiry led to shifts in focus that enriched the evaluation of individual verses, indeed sometimes entire poems. As a fresh perspective on the Book of Lamentations, this can only be beneficial for the exegetical discussion of Lamentations. In addition, the current study argues that one of the weaknesses of many current studies of larger text-complexes is the little-differentiated manner in which methodological discussions of exegetical approaches are being conducted. In this regard, the book of Lamentations presents an exceptionally good test case for clarifying basic methodological issues. At this point the value of this thesis extends well beyond the context of Lamentations. The results of the study can be formulated as follows:

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1. The discussion of the exegesis of larger text corpora requires descriptive categories that are text-linguistically well-defined, and more broadly requires intensified discussions of exegetical methodology. The present study showed that one of the weaknesses of discussions of larger text corpora lay in the less-than precise descriptive categories used therein. If descriptive terminology employs images or metaphors, it tends to fuel expectations that the subsequent research will be unable to meet. This was particularly noticeable in discussions of the Psalter. Frequently, the description of textual phenomena remained in a kind of “as if”-mode: by using images and metaphors to describe textual phenomena, rather than well-defined categories and terminology, the inherent lack of precision appears to count as a de facto positive feature of the analysis. Though never stated explicitly, it appears as though some kinds of insight can (only) be described precisely by this type of imprecise terminology. This results in a language that cannot, and at the same time needs not, say how serious it actually is about the statements it makes and the comparisons it establishes. This tendency complicates quite a number of discussions of exegeses of macro-structures. Accordingly, it became evident that many of the more controversial approaches – the book of the Twelve as a narrative, the Psalter as a quasi-narrative text, psalms as merely semi-autonomous texts – were the results of an insufficiently detailed concept of text that lacked sufficient precision. A more intensive study of text-linguistical concepts and categories would serve to establish “solid ground” with regards to methodological assumptions and valid approaches to the exegesis of biblical macro-structures. 2. The false dichotomy of either endtext-oriented exegesis of macro-corpora or historical-critical exegesis of individual texts must be overcome; in any case it is not methodologically necessary. In Lamentations, a number of analyses considered the book as a compilation of texts, the arrangement of which being based on some specific intention of the redactors of the book. It is characteristic of those approaches that they argue and think diachronically: They take newer texts as framing, commentary, responses to older texts, but do not provide for the possibility of an inverse direction of influence (i. e. older texts commenting on or responding to newer ones). Such approaches also dominate the exegesis of the book of the Twelve. As a consequence, there is still a very lively discussion about the limits of a synchronous, endtext-oriented exegeses, as well as discussions as to how to reconcile the message or program of the book of the Twelve with the individual messages of its scriptures. Still quite frequently the question is framed as an either-or: Either a synchronous exegesis that disregards the relative chronology of the texts in

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question, or a diachronous exegesis which tends to focus only on intertextual references from later texts to earlier ones. With Rabinowitz’ theory of Narrative Audiences, this dichotomy is exposed as misleading and unnecessary. Instead, it offers a methodically coherent account of how to reconcile a synchronous reading of an arrangement of texts with the fact that these texts were composed at different times, by different poets. Rabinowitz argues that besides the current and historical audience, there are two other audiences (which he calls authorial and narrative audience), who are irreducible linked to the reading process in terms of literary theory. Every competent reader, whether it be a contemporary or ancient reader, cannot help but re-create these authorial and narrative (or, in case of a drama-like work, a dramatic) audiences during the reading process. However, since these two audiences are no longer bound by the limitations imposed by the relative chronology of the underlying texts, an interpretation might arise that spans across texts of different relative chronology while containing references that would ordinarily be considered anachronistic. Thus, at the level of the books’ authorial audience, certainly at the level of the narrative audience, a synchronous reading with bi-directional influence or commentary, going back and forth between older and newer texts can be presented without any methodological difficulties. The only requirement would be that the underlying texts allow for such a reading (i. e. provide a similar setting, set of figures, similarity in content and thematic foci etc.). 3. In an exegesis of the Book of Lamentations, the term Gesamttext should be avoided: the text-linguistic assumptions and connotations associated with it cannot be met. The same likely holds true for the Psalter and the book of the Twelve. Especially with regards to the Psalter, it was clear that the discussion about the text (or the Gesamttext) of the Psalter was primarily driven by the attempt of conceiving of the message of the groups of psalms as text meaning, similar to how the content of a novel arises from the sum of contents of its chapters. Just as an individual psalm has a poetic, epic, liturgical, statement or message or meaning, which can be deduced from its individual sentences, a quite similar additive process should yield the overall meaning of the group of psalms. Or so the theory goes. However, such an approach, while attractively simple, leads to unsolvable problems due to the demands it imposes on the text with regards to text-linguistical categories such as textual cohesion, coherence, informationality etc. Instead, it seems more promising to conceive of the relationship between individual texts within a larger whole and the overall message of the arrangement as the result of a web of intertextual references. Thus, the resulting message or argument needs not be conceived of as text meaning, and consequently needs not be tied to some sort of basic continuous text matter. Consequently, a text-linguistically viable account of text needs only be established and maintained with

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regards to the individual texts (where it is trivial to do so), while the arrangement of texts needs only to be referred to as texts which establish a kind of “privileged intertextuality” (i. e. what we ordinarily consider the confines of a biblical book) through manifold intertextual references1083. 4. Lamentations is an arrangement of independently composed and just minimally edited texts. Their overall theological message arises merely due to the specific order in which the texts were arranged. Thus, the book represents a theoretically interesting case for future research. Both the Psalter as well as the Book of the Twelve are comprised of texts that are more or less heavily edited and redacted. If one is to look for an overarching message in these books, the obvious place to start would be where the individual texts were redacted. After all, it is quite likely that redactions occur predominantly in places where the individual texts need to be brought “on message” with regards to the intended overall theme. The case of Lamentations is quite different. Here it is widely held that the individual texts only contain very limited redactorial editing. If one is to assume an overall message, it can only stem from their arrangement, and possibly from the composition for and inclusion of Lam 3 into a formerly assembled group of poems. The possibility of creating new meaning between individual texts despite no specific editorial alterations, perhaps occasionally even without any specific editorial intention, was considered by Norbert Lohfink years ago1084, and represents a logical consequence of many strands of literary theory that place the creation of meaning squarely with the reader. Lamentations represent an interesting test case for this. It enables us to challenge our literary-theoretical intuitions and to follow Lohfink’s ideas to their logical conclusion. Lamentations is a case, in which texts that have been composed independently of one another and which have not been editorially revised, receive a substantive overall meaning, a program that goes well beyond the respective meanings and messages of the individual texts, merely through clever arrangement. At the same time, the book shows just how such overarching meaning can arise even with no editorial alterations of the individual texts: literary figures can act as “anchors” of intertextual coherence which serve as points of reference even beyond the boundaries of the individual texts. Dramaturgical elements enable the reader to presuppose a consistent setting and transfer it from one poem to the next. Referring to the same historical starting point while simultaneously providing differing thematic accents provides different perspectives on the same topic – which in turn helps to create the impression of a coherent whole. At the 1083 Steins (1999). 1084 Lohfink (2001), 23.

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same time, the acrostics ensures that the individual poems remain clearly separated structural units. Thus, it remains clear to the reader that Lamentations is an arrangement of individual texts, and not a unified work comprised of chapters, acts, paragraphs or similar. 5. Lamentations presents a theological discussion about the limits of a divine judgement that seeks to remain an enactment of justice. The individual poems present different points of view, arguments and opinions, while not trying to come to some unified, binding conclusion. In the context of the book, the individual poems have clearly describable functions. The historical starting point of the discussion is the siege and conquest of Jerusalem by the Babylonians in 586 BC. This historical reference is especially prominent in Lam 2 and 4. Still, the book is not just concerned with the theological justification of this one particular historical event, but raises a more general point: Lam 3 in particular discusses how a person should conduct itself in the face of continuing divine wrath, while Lam 5, from the perspective of future generation(s), raises the question of whether there is any hope for an end of Gods judgement, or whether the divine wrath has, in fact, become the new normal. Lam 1 serves as an introduction to the book. The poem introduces the main themes, establishes the two defining figurae dramatis, Zion and the speaker, and lays out the main theological conflict. Gods punishment is portrayed as physical violence against a woman. The fact that Zion herself explicitly affirms the justness of her punishment serves to preempt any questions about the appropriateness of divine violence against defenseless women. Instead, Zion appears as an albeit passive recipient of fundamentally justified violence. Lam 2 starts here and intensifies both the description of Gods judgement and Zion’s reaction to it. The first section of the song focuses on the scale of destruction and the consequences for the civilian population, especially its weakest and most innocent members. In response, Zion speaks up again – and is virtually unrecognizable. Instead of complaining of her own suffering, as she did in Lam 1, the suffering of her children causes her to accuse God of a judgement that has become completely disproportionate. In the context of the book, Lam 2 thus serves to intensify as well as focus the conflict. Lam 3 takes up Zion’s criticism from Lam 2 and tries to transform it into a more constructive critique. The poem argues that Zion in Lam 2 is in danger of sawing off the branch on which she sits. Her criticism of God may be factually justified; however, it threatens to lead to a situation in which all hope for a better future is lost and consequently, the strength and the will to carry on as well. Instead, the man proposes to wait and endure God’s wrath in humility and continue to trust in God’s ever greater compassion – until the day when God’s wrath will come to an end. Thus, Lam 3 attempts to provide an alternative to

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Zions accusatory stance of Lam 2 without actually rejecting her position or belittling her grief. Lam 4 contrasts this proposal with the cruel reality within the besieged city. Any potential solution that implicitly characterizes Zion’s criticism in Lam 2 as too-far-reaching must, in turn, show that it is practicable even in the extreme situations such as the siege of Jerusalem, where anyone was in acute danger of death. After all, that is the situation for which the man’s behavioral program was supposedly developed! If the man’s proposal cannot pass this test, it reveals itself to be merely abstract theology. Lam 4 thus has the function of placing the discussion of Lam 3, which threatens to divert completely into the realm of lofty theology, squarely back within the theoretical reality of the historical judgement of Israel. By focusing on the suffering of the population during the siege, Lam 4 makes clear that it considers the man’s solution to be only an apparent one. In a situation where swift death by the sword seems like a blessing (Lam 4:9), any appeal to “hope at all costs” loses its plausibility. Lam 5 is the last poem of the book – which is why its primary function is to bring the discussion to some kind of finale. However, this is not done by providing a conclusive answer or statement, but rather by focusing on the remaining uncertainty. The only clearly notable change seems to be that the horrors of judgement have been replaced by never-ending days of humiliation and deprivation. Lam 5 concludes with a question (v. 20) and a conditional or a protasis (v. 22). The final verdict of Gods judgement of Israel and the state of God’s relationship with Israel is thereby opened towards the reader and thus into the future. 6. Elements of drama, which are particularly prevalent in Lam 1–2, contribute significantly towards the readers ability to consider the poems of the book parts of a larger whole. Though elements of drama were identified in Lam 1–2 as early as the beginning of the 20th century, they generally haven’t received much attention. These elements however are key to understanding how Lam 1 manages to establish a setting that remains constant from Lam 1 to Lam 2 and thereby invites the reader to consider Lam 2 a continuation of Lam 1. The figurae dramatis, speaker and Zion, share the entirety of Lam 1 between themselves; as literary figures, they serve as important points of reference for the readers’ attempts to incorporate new information into a coherent whole. This is particularly important at the transition from Lam 1 to Lam 2, as well as from Lam 2 to Lam 3. One of the basic distinctions in dramatic texts is that between play time (i. e. the duration of time in which a play is being enacted) and played time (i. e. the time or period enacted in the play). Applying this to Lamentations, it is possible to discern the parts where the speaker is describing the present behavior of Zion, and those, where he shares his recollections about her past. It also is a useful distinction to make sense of the rapid

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changes between play time and played time throughout Lam 1. Also, the introduction of the man at the beginning of Lam 3 loses much of its oft-discussed suddenness and mystery in view of the established setting of Lam 1–2, as well as the reader’s expectation that the portrayal of Lam 2 would be continued in a further poem.

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Übersetzung

Klgl 11085 1a b c

Ach1086, wie sitzt vereinsamt die Stadt, (einst)1087 reich1088 an Volk, sie wurde einer Witwe gleich, die Große unter den Völkern, der Fürstin über die Provinzen1089 kam Frondienst zu.

1085 Die nachfolgende Übersetzung der Klgl legt – bei Abweichungen im Einzelnen – die gelungene Übersetzung von Berges (2002) zugrunde und schreibt sie fort. 1086 Gegen BHS gehört ‫ איכה‬zu V 1a und stellt keine Anakrusis dar. 1087 ‫ בדד‬ist an sich durchaus positiv konnotiert: In Num 23,9 wird die Abgesondertheit Israels mit seiner zahlenmäßigen Stärke parallelisiert, in Dtn 33,28 steht die Alleinheit synonym mit Sicherheit. Dies muss mitgehört werden und erklärt die häufige Einfügung eines Temporaladverbs, die die hier ins Negative gewendete Bedeutung von ‫ בדד‬erläutert. 1088 ‫ רבתי‬ist Adj. fem. st. cs. von ‫ רב‬mit ‫י‬-compaginis, »groß, viel«. McDaniel (1968a), 29–31 und Renkema (1998), 97 fassen es als Subst. fem. von ‫ רב‬Herr. Sie verweisen hierzu auf ugaritische Parallelen, in denen derartige ehrende Appellative belegt sind, sowie auf die Parallelität mit V 1b ‫ רבתי בגוים‬und V 1c ‫שרתי במדינות‬. In V 1b ist eine solche appellative Übersetzung gut denkbar, in V 1a würde damit jedoch ohne Not ein zweites Subjekt eingeführt (»die Stadt, die Fürstin des Volkes«). Für die adjektivische Übersetzung vgl. auch 1Sam 2,5: ‫רבת בנים‬. 1089 ‫ שרי המדינות‬sonst nur noch in 1Kön 20,14.15.17.19; dort häufig mit »Provinzstatthalter« übersetzt. Boecker, H. J. (1985), 19 »Die Länder beherrschte« ist zu ungenau, da es den juridisch konnotierten Ursprung von ‫ מדינה‬übergeht. Erst später bedeutet ‫ מדינה‬dann allgemein »Land(schaften)« (Hamp [1977], 202). Wie Hamp auf die Idee kommt, Klgl 1 mit Koh und Dan zu den »späten Texten« zu gruppieren, ist unklar.

416 2a b c 3a b c 4a b c 5a b c

Übersetzung

Weinend weint sie des Nachts, und ihre Tränen auf ihrer Wange. Kein Tröster ist ihr unter all ihren Freunden. All ihre Nächsten handelten treulos an ihr, wurden ihr zu Feinden. Bloß gestellt ist Juda durch1090 Elend und schwere Knechtschaft. Sie sitzt unter den Völkern; nicht findet sie Ruhe. All ihre Verfolger erreichten sie inmitten von Bedrängnissen1091. Die Wege Zions trauern ob der fehlenden Festgänger, all ihre Tore sind verstört, ihre Priester seufzen, ihre Jungfrauen sind betrübt1092, und sie – bitter ist ihr. Ihre Bedränger sind obenauf, ihre Feinde haben Ruhe, denn JHWH hat sie betrübt wegen der Vielzahl ihrer Verbrechen1093. Ihre Kinder gingen in Gefangenschaft vor dem Bedränger her.

1090 ‫ גלה‬im Hif ’il oder Hof ’al bedeutet regelmäßig »in die Verbannung gehen« (Zobel [1973b], 1022). Auch Vg hat Migravit Iudas. Allerdings steht ‫ גלה‬hier im Kal, so dass eine derartige Übersetzung nicht zwingend ist. Die häufige Übersetzung »weggeführt aus Not und harter Knechtschaft« (so z. B. ELB) macht im Kontext wenig Sinn, während »Gefangen ist Juda im Elend, in harter Knechtschaft« (EÜ) sehr frei ist. Belässt man ‫ גלה‬in der Grundbedeutung »entblößen, enthüllen« und fasst man ‫ מן‬kausativ auf (so auch Gottwald [1962], 7 und Diller [2007], 63; vgl. Gesenius [1962], 434), ergibt sich ein guter Sinn. 1091 ‫ בין המצרים‬ist die crux des Verses. Basierend auf der unpunktierten Form ‫ המצרים‬einen Bezug nach Ägypten zu suchen (Berges [2002], 101; Frevel [2002], 126, Anm. 74; Salters [1986], 84f.), scheint gesucht. Gesenius (1962), 94 schlägt für ‫ בין‬an dieser Stelle »in« vor, was guten Sinn macht (so auch Koenen et al. (2015), 1). 1092 Nif ’al Part. fem. pl. von ‫( יגה‬vgl. Zef 3,18). MT ist beizubehalten (Barthélemy [1986], 863f., Albrektson [1963], 59). 1093 ‫ פשע‬mit »Frevel« (Boecker [1985], 19, Brandscheidt [1983], 73 u. ö.) oder allgemein »Sünde« (Kaiser [1992], 114) zu übersetzen, trägt eine zunächst unnötige religiöse Konnotation ein. Das im Englischen häufige »transgression« (vgl. Berges [2002], 85: »Vergehen«) ist zu schwach. Berges (2002), 105 postuliert eine Steigerung zwischen V 5: ‫ פשע‬und V 8: ‫חטא‬: Erst Letzteres konnotiere einen radikalen Bruch des Gottesverhältnisses. Da ‫חטא‬, anders als ‫פשע‬, aber auch unbewusst begangene Sünden bezeichnen kann (z. B. Gen 20,9; Num 22,34; Lev 4,2.22.27; 5,15.18), ist dies fraglich. Vielmehr liegt der Fokus bei ‫ פשע‬regelmäßig auf dem Moment der aktiven, bewussten Übertretung von Rechtsnormen (vgl. V 18a sowie V 20b in Konjunktion mit V 22b). Damit wäre ‫ פשע‬der stärkere Begriff von beiden, der von Knierim (1965), 178–180 mit »Verbrechen« wiedergegeben wird.

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Klgl 1

6a b c 7a1094 b c d 8a b c

Und es wich von der Tochter Zion all ihr Glanz. Ihre Fürsten wurden gleich Hirschen, die keine Weide fanden. Und sie liefen kraftlos vor dem Verfolger her. Es gedenkt Jerusalem der Tage ihrer Not und Heimatlosigkeit, all ihrer Kostbarkeiten, die gewesen seit den Tagen der Vorzeit, als ihr Volk in die Hand des Bedrängers fiel und es keinen Retter für sie gab. Die Bedränger sahen sie – sie lachten über ihr Ende1095. Schwer gesündigt hat Jerusalem – darum ist sie zur Ausgesetzten1096 geworden. All ihre Verehrer verachten sie denn sie sahen ihre Scham. Sie selbst1097 seufzt und wendet sich ab.

1094 Der einzige Vers in Klgl 1 mit vier Bikola, weswegen häufig V 7b oder V 7c gestrichen wird. Gegen V 7c kann man anführen, dass es nur eine Erklärung des seltenen ‫ מרודיה‬Heimatlosigkeit aus V 7a bietet. Doch kann man darin auch die Fortsetzung des Gedankens aus V 7a sehen und daher V 7b tilgen. Die Versionen stützen durchweg MT. Schäfer (2000), 144 argumentiert, basierend auf der Textfassung von 4QLam, für einen ursprünglichen Text in V 7a von ‫ זכרה יהוה כל מרודיה אשר היו מימי קדם‬Gedenke, JHWH, all unserer Leiden, die seit den Tagen der Vorzeit sind, der Teile von V 7ab zusammenfasst und damit die überzählige Zeile eliminiert (ähnlich auch kürzlich wieder Koenen et al. [2015], 6–8). Schäfer (2006) versucht, diese Lesart gegen die von Berges (2002), 88f. vorgebrachten Einwände zu verteidigen. letzter Konsequenz ist Berges (2002), 89 zuzustimmen: »4QLam bietet … keinen besseren, sondern nur einen in sich sinnvollen und kürzeren Text.« MT ist daher beizubehalten (Renkema [1988a], 300.318; vgl. die ausführliche Diskussion in Diller [2007], 22– 24.68–72). 1095 ‫ משבת‬ist hapax legomenon von ‫שבת‬, aufhören, ablassen, enden. Emendationen erübrigen sich. 1096 Drei Möglichkeiten der Übersetzung von ‫ נידה‬bieten sich an. Man kann es als pleneSchreibung von ‫ נדה‬Unreinheit auffassen und dann im übertragenen Sinne mit Abscheu o. ä. übersetzen (so die ältere Forschung und z. B. der Midrasch; vgl. Wünsche [1967], 71). Man kann ‫ נידה‬als Hif ’il-Form von ‫ נוד‬schwanken, schütteln, wanken deuten und mit Hinweis auf Jer 18,16; Ps 44,15 die Übersetzung Kopfschütteln (ergo: »Spott«) wählen, oder, ausgehend von der gleichen Wurzel, die Übersetzung Wankende/Ausgestoßene vertreten. Berlin (2002), 54 trifft wohl den eigentlichen Kern, wenn sie zusammenfasst, dass »all three associations adhere to the word, and the dominant one shifts as we proceed from line to line – from the consequence of sin, to the scorn of others, to the idea of nakedness and impurity in her skirts«. Die Übersetzung Ausgesetzte versucht, dieser sicher gewollten Mehrdeutigkeit gerecht zu werden. 1097 Gegen McDaniel (1968a), 31 (‫ גם‬sei adverbiale Bestimmung zu ‫אנח‬: »sie stöhnte laut«) und das häufig zu findende »auch«, hat ‫ גם‬hier betonende Funktion (vgl. Gen 32,19; weitere Stellen diskutieren Jacob [1912], 279–282; Gottlieb et al. [1978], 14): »sie selbst«.

418 9a b c 10a b c 11a b c 12a b c

Übersetzung

Ihre Unreinheit ist an ihrem Saum, sie dachte nicht an später. Erstaunlich tief ist sie gesunken, es gibt für sie keinen Tröster. »Sieh, JHWH, mein Elend, denn der Feind tut groß!« Seine Hand streckte der Bedränger über alle ihre Kostbarkeiten. Ja, sie sah Völker in ihr Heiligtum kommen, von denen du geboten, sie träten nicht ein in die Gemeinde zu dir1098. All ihr Volk seufzt, suchend nach Brot. Sie gaben ihre Kostbarkeiten für Nahrung, um ihr Leben wiederzubringen. »Sieh, JHWH, und schau her, denn erniedrigt1099 bin ich!« »Ist es euch egal1100, all ihr des Weges Gehenden? Schaut und seht, ob es einen Schmerz gibt, gleich meinem Schmerz, mir zugefügt, mit dem betrübte JHWH am Tag seiner Zornesglut?

1098 Gegen LXX und Vg qualifiziert ‫( לך‬trotz Endstellung) das Verb, nicht ‫( בקהל‬Gottlieb et al. [1978], 15, Albrektson [1963], 65f.). 1099 Gegen Hurowitz (1999) Part. Kal. von ‫ זלל‬II »niedrig, verachtet sein«. Thomas (2011) schlägt mit Verweis auf Dtn 21,20 und Spr 28,7 die Übersetzung »gedankenlos« vor. Dies trifft sicherlich die generelle Botschaft des Liedes, das die Verantwortung für das Gericht vollständig Zion zuschreibt, doch übersieht es, dass die wiederholten Aufforderungen an JHWH, zu schauen und zu sehen, regelmäßig die desolate Situation zum Gegenstand haben. 1100 Möglicherweise die schwierigste textkritische crux von Klgl 1. Wenngleich sämtliche Versionen den Konsonantenbestand von MT bestätigen, nimmt man häufig an, dass der Beginn von V 12: ‫ לוא אליכם‬nicht für/zu/auf euch verderbt ist. In der Diskussion dominieren drei Übersetzungsmöglichkeiten (eine Zusammenschau sämtlicher Vorschläge bietet Koenen et al. [2015], 10f.). Will man MT beibehalten, kann man ‫ לוא אליכם‬als Frage im Sinne von: Geht es euch nichts an? oder: Ist es euch nichts/egal? auffassen (so kürzlich wieder Berges [2002], 86; davor schon Gottwald [1962], 8 und Keil [1872], 567). Ähnlich, mit dem Bezug zu Klgl 2,15, Frevel (2017), 120. Alternativ kann man auch als Aussage übersetzen: Nicht euch betreffend: …, Nicht an euch gerichtet: … (so schon Nägelsbach et al. [1868], 2, dann Al-brektson [1963], 66–69, ihm zustimmend Gottlieb [1987], 15–17, Barthélemy [1986], 868f. und in Abwandlung auch Brandscheidt [1983], 76: Auch wenn es euch nicht betrifft: …). Die dritte Möglichkeit lehnt MT ab. Häufig wird mit Rudolph (1962), 207 vermutet, dass eine ursprüngliche Randglosse (mögl. mit apotropäischer Funktion: Nicht für euch gedacht!) in den Text eingegangen sei. Das Problem liegt darin, dass weitere Konjekturen notwendig sind, um den akrostichischen Beginn der ‫ל‬-Strophe zu retten: Ohne ‫ לוא אליכם‬würde V 12 MT mit (‫ כ)ל‬beginnen. Häufig wird der auf Praetorius (1895), 143 zurückgehende Vorschlag aufgegriffen, dass der ursprüngliche Versanfang ‫ְלכוּ כל־עברי‬ ‫ דרך‬Wohlan, alle Vorbeigehenden! lautete. Zuletzt entschied sich auch Diller (2007), 39 wieder für diese Lösung und vermutet, dass ‫ לוא אליכם‬vor ‫ לכו‬zu stehen kam. Da dies keinen

419

Klgl 1

13a b c 14a b c 15a b c

Aus der Höhe schickte er Feuer, in meine Knochen ließ er es hinabdringen1101. Er spannte ein Netz meinen Füßen, riss mich zurück, gab mir Verstörung, ein Siechen den ganzen Tag. Aufgelegt1102 ist das Joch meiner Verbrechen, durch seine Hand gebunden. Sie stiegen auf meinen Nacken, er ließ straucheln meine Kraft. Der Herr übergab mich in die Hände derer, denen ich nicht standhalten konnte. Verworfen hat all meine Starken der Herr in meiner Mitte. Er rief gegen mich ein Fest aus, um meine jungen Männer zu zerschlagen.« Die Kelter trat der Herr gegen die Jungfrau Tochter Juda.1103

rechten Sinn ergab, sei das ‫ ל‬von ‫ לכו‬an das Wortende gerutscht (‫ )כול‬was zu einer pleneSchreibung von ‫ כל‬führte, die noch in 4QLam belegt sei. Allerdings weist 4QLam insgesamt eine ausgeprägte plene-Schreibung auf (Schäfer [2000], 132); jene ist insgesamt für die qumranische Schreiberpraxis charakteristisch (Tov [1997], 89–92). Die plene-Schreibung auch an dieser Stelle hat somit wenig Beweiswert. Bemerkenswerterweise ähnelt sich die eigentliche Aussage der ersten und dritten Lösung deutlich. Jeweils ist der springende Punkt, dass sich Frau Zion direkt an die ‫ עברי דרך‬wendet und sie auffordert, selbst Stellung zu beziehen. Wenn somit die Wahl zwischen zwei weitgehend bedeutungsgleichen Übersetzungen getroffen werden muss, bei der die eine Variante syntaktisch schwierig ist, die andere hingegen auf Konjekturen angewiesen ist, ist MT zu bevorzugen. Grundsätzlich ist Berges (2002), 89 zuzustimmen, dass die direkte Anrede der Passanten – sei es als einfaches Auf!, sei es als Ist es euch egal!? – zu Beginn von V 12 ein wichtiges Signal der Rezipient*innenlenkung darstellt. 1101 Für gewöhnlich liest man statt MT, der 3. Sg. m. Impf. Kal von ‫ רדה‬zertreten, beherrschen, bestrafen bietet, mit der LXX entweder ‫( הרידה‬3. Sg. m. Pf. Hif ’il) oder ‫( וירדנה‬3. Sg. m. Impf. Hif ’il), jeweils von ‫ ירד‬hinabbringen, -steigen. Behielte man MT bei (wie z. B. Kraus [1983], 23 mit Verweis auf Joel 4,13, oder Barthélemy [1986], 870), störte dies das Bild der in die Knochen fahrenden, selbst die Grundmauern zerstörenden Feuersbrunst (vgl. Klgl 4,11). Die Lesung als Impf. von ‫ירד‬, die auch in Qumran belegt ist (für 4QLam, dort als pleneSchreibung: ‫ויורידנו‬, vgl. Schäfer [2000], 138–140, für 4Q111 vgl. Diller [2007], 42), ist daher vorzuziehen (vgl. Koenen et al. [2015], 11f.). 1102 ‫נשׂקד‬, als 3. Sg. m. Pf. Nif ’al von ‫ שׂקד‬ist ein hapax legomenon. LXX bestätigt den Konsonantenbestand, indem es ‫ שׁקד‬wachsam sein voraussetzt, ebenso Vg. Auch die übrigen Versionen lassen nicht an MT zweifeln (Diller [2007], 42–46). So wird man die Bedeutung aus dem Kontext erschließen müssen. 1103 Bis auf Marcus (1986) wird V 15c traditionell ebenfalls Zion zugeschrieben. Dies leuchtet nicht ein: Es wäre das einzige Bikolon, in dem Zion nicht in der 1. Sg. formuliert; nur hier würde sie sich (oder das Umland) mit dem Titel ‫ בתולת בת‬bezeichnen. Naheliegender ist es, das Bikolon als kurzen Einwurf des Sprechers zu deuten, zumal das Bild eine brutale Gewaltschilderung enthält, die zumindest in der Tradition auch teilweise sexuelle Untertöne annahm (Koenen et al. [2015], 76f.). Derartige Schilderungen in der 3. Sg. stammen auch an anderen Stellen – vgl. V 8–10 – nicht aus Zions eigenem Mund. Zusammen mit V 17

420 16a b c 17a b c 18a b c

Übersetzung

»Darüber1104 weine ich, mein Auge, mein Auge1105 fließt vor Wasser, denn fern ist von mir ein Tröster, der mein Leben zurückbrächte. Meine Kinder sind verstört, denn mächtig ist der Feind.« Ausgestreckt hat Zion ihre Hände, es gibt keinen Tröster für sie. Befohlen hat JHWH gegen Jakob seine Bedränger ringsum. Es ist Jerusalem geworden zur Unreinen1106 zwischen ihnen. »Gerecht ist er – JHWH, denn seinem Befehl trotzte ich. Hört doch, alle Völker, und seht meinen Schmerz. Meine jungen Frauen und jungen Männer, sie gingen in Gefangenschaft.

ergäbe sich eine schöne Parallelität: Zion unterbricht den Sprecher in V 9c.11c – er wiederum meldet sich in ihrer Klage ebenfalls zweimal zu Wort. 1104 Anders als in Klgl 2–4 findet sich in Klgl 1 die heute übliche Buchstabenabfolge ‫פ – ע‬. Inwiefern Klgl 2–4 (sowie Pss 9; 10 und Spr 31,10–31 LXX, die ebenfalls die Abfolge ‫ע – פ‬ aufweisen) auf die Existenz eines alternativen (bzw. noch nicht fixierten) Alphabets hindeuten, ist unklar. Brug (1990), 286–290 diskutiert die Frage unter Einbeziehung archäologischer Funde. Auch der Befund aus 4QLam, das einen Großteil von Klgl 1 enthält, und ebenfalls die aus Klgl 2–4 bekannte Buchstabenabfolge bietet, ändert daran nichts. Ob die heutige Anordnung in Klgl 1 eine nachträgliche Modernisierung einer vormals umgekehrten Buchstabenfolge, oder die Anordnung in 4QLam eine nachträgliche Vereinheitlichung mit Klgl 2–4 darstellt, ist textkritisch nicht zu klären (Schäfer [2006], 244f.). Der Versuch von Schäfer (2006), auch für Klgl 1 eine ursprüngliche Anordnung ‫ ע – פ‬zu erweisen, überzeugt nur begrenzt, da er – ähnlich dem Ansatz Renkemas – auf der Annahme mehrerer sich überlagernder und ergänzender Gliederungs- und innertextlicher Verweissysteme beruht. 1105 Häufig wird mit Vg, LXX, Sym, Syr und »wenigen« (BHS) Mss ein ‫ עיני‬als Dittographie eliminiert (vgl. Diller [2007], 46–49 für eine Zusammenfassung der Diskussion). Auch 4QLam hat nur ein ‫עיני‬. Davon am schwersten wiegt wohl das Fehlen eines doppelten οφθαλμος μου in der LXX, die ansonsten MT extrem wortgetreu folgt (Maier et al. [2011], 2829). Dagegen verweist Gottlieb et al. (1978), 19 auf die im biblischen Hebräisch nicht unüblichen emphatischen Wortwiederholungen (Jer 4,19: Mein Leib, mein Leib!; 2Kön 4,19: Mein Kopf, mein Kopf!; Dtn 16,20: Gerechtigkeit, Gerechtigkeit; Jes 21,9: Gefallen, gefallen ist Babel!; Ps 68,13: Die Könige der Heere fliehen, sie fliehen!; zudem noch in der Form von Anreden wie Ps 22,2 Mein Gott, mein Gott usw.). Dass eine solche Betonung nur bei der Verdopplung des Verbes Sinn ergäbe, (Westermann [1990], 102) ist mit Jer 4,19 und 2Kön 4,19 widerlegt. 1106 Vgl. Kap. 6 z. St.

421

Klgl 1

19a b c 20a b c 21a b c 22a b c

Ich rief meine Liebhaber, sie verrieten mich. Meine Priester und meine Ältesten – in der Stadt schieden sie hin. Ja, sie suchten Nahrung für sich, um ihr Leben wiederzubringen. Sieh, JHWH, bang ist mir! Meine Eingeweide glühen, gewendet ist mein Herz in meinem Inneren, weil ich widerspenstig trotzte.1107 Draußen macht kinderlos das Schwert, im Haus gleicht es dem Tod1108. Sie hörten1109, wie ich seufzte – kein Tröster für mich. All meine Feinde hörten von meinem Unglück, sie freuten sich, dass du es getan. Du brachtest1110 den Tag den du riefst. Sie sollen werden wie ich! Es komme all ihre Bosheit vor dich, und tue ihnen, wie du an mir getan wegen all meiner Verbrechen. Denn viele sind meine Seufzer, und mein Herz ist krank.1111

1107 Fraglich ist die Ableitung: Stammt ‫ מריתי‬von ‫ מרה‬widerspenstig sein/trotzen oder von ‫מרר‬ bitter sein? Die Argumentation von Seow (1985), die ursprüngliche Version habe ‫מרר מרתי‬ sehr bitter gelautet, und sei erst später, unter dem Einfluss von V 18, zu ‫ מריתי‬misvokalisiert worden, ist unnötig. MT ist finite Verbform mit Inf. abs. von ‫מרה‬. 1108 Eine alte crux. Die Lösungen älterer Kommentare (Perle [1920], 158 schlägt vor, ‫ ְכּמוּת‬zu lesen und dieses als akkadisches Lehnwort von kamûtu Gefangenschaft aufzufassen; Kraus [1983], 23 unterschlägt das ‫ כ‬gänzlich, Kaiser [1992], 116 übersetzt mit Hunger, Groß et al. [1986], 16 – wie schon Wiesmann [1929a], 100 und EÜ – mit Pest) sind sämtlich unnötig. »Etwas Totgleiches« ist mitnichten so künstlich ist wie Rudolph (1962), 208 meint. Mit Hinblick auf Klgl 2,6, ‫כגן‬, wo wohl die Präposition ‫ ב‬durch Elision nach ‫ כ‬ausgefallen ist (Joüon [1996], §133 h), wäre auch hier denkbar, »wie im Tod« o. ä. zu übersetzen (Albrektson [1963], 82, Koenen et al. [2015], 15). 1109 LXX hat einen Imp. Pl., Syr (und EÜ) einen Imp. Sg. Vg und Tg hingegen bestätigen die 3. Pers. m. Pl, des MT. Es gibt keinen Grund, an MT zu zweifeln: »Es handelt sich nicht um eine erneute Bitte an die Passanten (vgl. V 12.18), sondern um das Fazit, trotz ihres Hörens sei niemand als Tröster aufgetreten.« (Berges [2002], 90). 1110 Statt dem von LXX und Vg als 2. Pers. Sg. bestätigten MT du brachtest wird oft (neben EÜ auch Westermann [1990], 102, Rudolph [1962], 208, Kraus [1983], 23, Diller [2007], 53f.) mit Syr der Vorschlag von BHS aufgenommen, ‫ הבא את־‬als Imperativ zu lesen. Da die Versionen die Änderung nicht begründen können, wird inhaltlich argumentiert: MT beizubehalten würde einen abrupten und syntaktisch schwierigen Übergang von Bericht zu Zukunftsaussage bedeuten, der ein perfektisches Verständnis von ‫» הבאת‬sehr schwierig« mache (Diller [2007], 53f.). MT ist beizubehalten (Berges [2002], 90; Albrektson [1963], 84; Barthélemy [1986], 881f. u. ö.).

422

Übersetzung

Klgl 2 1a b c 2a b c 3a b c 4a b c

Ach1112, wie verdunkelt1113 in seinem Zorn der Herr die Tochter Zion, warf vom Himmel zur Erde die Zierde Israels und gedachte nicht des Schemels seiner Füße am Tage seines Zorns. Verschlungen hat der Herr, verschonte nicht alle Weideplätze Jakobs, riss ein in seiner Wut die Festungen der Tochter Juda, stürzte1114 zu Boden, entweihte das Königtum1115 und seine Fürsten. Abgeschlagen hat er in glühendem Zorn das ganze Horn Israels, zog zurück seine Rechte vor dem Angesicht des Feindes und entbrannte in Jakob wie flammendes Feuer, das ringsum fraß. Er spannte seinen Bogen wie ein Feind, aufgestellt1116 – seine Rechte wie ein Bedränger1117, und tötete alle Kostbarkeiten des Auges. Im Zelt der Tochter Zion vergoss er wie Feuer seinen Grimm.

1112 Erneut keine Anakrusis. 1113 ‫ יעיב‬ist ein hapax legomenon, bei dem zwei Ableitungen diskutiert werden. LXX, Vg und Syr setzen eine Ableitung von ‫עוב‬/‫ עיב‬verdunkeln/umwölken voraus (vgl. ‫ עב‬Wolke). Dem folgen viele Übersetzer bis heute. Alternativ wird eine Abhängigkeit von arabisch ᾿yb vorausgesetzt und entsprechend mit entehren bzw. verachten übersetzt (Kopf [1958], 188f., McDaniel [1968a], 34f.; auch Tg scheint diese Ableitung vorauszusetzen). Beide Ableitungen sind möglich; der Kontext spricht eher für die erste Variante (Albrektson [1963], 86; Berges [2002], 128). Zu Beginn von Klgl 2, zudem in Rahmung der ersten Sub-Stanze, treten zweimal Bilder »negativer Theophanie« auf: V 1a – vgl. Ex 19,9; V 3c – vgl. Ex 3,2f. 1114 ‫ נגע‬im Hif ’il eigentlich berühren. Mit Erde oder Staub als Präpositionalobjekt dann jedoch »zu Boden stürzen (lassen)« (Schwienhorst [1986b], 221). 1115 LXX setzt offenbar ‫ מלכה‬voraus. Dass LXX das erste ‫ מ‬von ‫ ממלכה‬nicht gesehen habe (Maier et al. [2011], 2834), ist wohl eher unwahrscheinlich. Plausibler die Vermutung von Albrektson (1963), 88f., dass βασιλεα eine spätere Textverderbnis von ursprünglichem βασιλειαν darstellt. In jedem Fall ist MT vorzuziehen. 1116 Die Schwierigkeit von MT liegt darin, dass die Lösung der Masoreten, ‫ כצר‬noch zu V 4aβ zu zählen, die Metrik des Verses empfindlich stört: Je nach Gliederung scheint anschließend entweder in V 4b oder V 4c ein Kolon zu fehlen (Gottlieb et al. [1978], 26). Will man einen metrisch ausgewogenen Text, wäre es mit Robinson (1933), 257 möglich, ‫ כצר‬als Subjekt hinter ‫ ויהרג‬in V 4b zu setzen. Die jedoch macht das zweite Kolon von V 4a ‫ נצב ימינו‬im Verständnis problematisch, weswegen BHS (ähnlich Rudolph [1962], 218f., dem wiederum viele folgen) stattdessen ‫(» חץ בימינו‬sein) Pfeil in seiner Rechten« liest. Allerdings ist ein Schreibfehler von ‫ ח‬zu ‫ נ‬an dieser Stelle schwer nahezulegen. Ebenso hypothetisch ist die These von Albrektson (1963), 92, der in V 4a ‫ כצר ויהרג‬einen Schreibfehler von ‫ ב‬zu ‫כ‬

423

Klgl 2

5a b c 6a b c 7a b c 8a b c

1117

1118 1119 1120

Es war der Herr wie ein Feind, verschlang Israel, verschlang all ihre1118 Paläste, zerstörte seine Befestigungen und vermehrte in der Tochter Juda Kummer und Klage. Er tat wie in einem Garten1119 seiner Sukka1120 Gewalt an, zerstörte seinen Festplatz. Vergessen machte JHWH in Zion Fest und Sabbat und verwarf im Toben seines Zornes König und Priester. Verstoßen hat der Herr seinen Altar, sein Heiligtum verworfen, ausgeliefert in die Hand des Feindes die Mauern ihrer Paläste. Sie erhoben die Stimme im Haus JHWHs wie an einem Festtag. JHWH plante zu zerstören die Mauer der Tochter Zion. Er spannte die Schnur, zog nicht zurück seine Hand vor dem Verschlingen. Und er ließ trauern Wall und Mauer, zusammen sanken sie dahin.

vermutet und ‫ בצר‬als Verb mit Parallelbedeutung zum folgenden »und er tötete« annimmt. Da auch die Versionen nicht für eine Textänderung stimmen, scheint es trotz der dann gestörten Metrik am sinnvollsten, mit BHK ‫ כצר‬noch zu V 4aβ zu zählen. V 4b enthält damit zwei sehr kurze Kola. ‫ כצר‬gehört entweder noch zu V 4a, oder als Subjekt hinter ‫ויהרג‬. Eine wörtliche Übersetzung muss zwar in Kauf nehmen, dass das Metrum von MT gestört wird (»wie ein Bedränger« rutscht von V 4bα zu V 4aβ), kommt dafür ohne Ergänzungen wie »seine Pfeile in der Rechten« (s. Anm. 1105) o. ä. aus. Eine Harmonisierung der Suffixe von ‫ ארמנותיה‬und ‫ מבצריו‬ist unnötig. Elision von ‫ ב‬nach Präposition ‫( כ‬Joüon [1996], §133 h); vgl. Klgl 1,20; Jes 28,21; Ps 95,8; Ijob 29,2; Gen 34,31; Jos 1,15 – dort Elision von ‫ל‬. ‫ שׂך‬ist orthographische Variante von ‫סך‬/‫סכה‬: Albrektson (1963), 95; vgl. auch LXX und Vg sowie diverse Mss, die ‫ סכו‬lesen (McDaniel [1968a], 36). Die Übersetzung mit Hecke (vgl. Jes 5,5: ‫ ;משוכתו‬Barthélemy [1986], 883, Brandscheidt [1983], 128) oder Ast (vgl. Ri 9,49 ‫ ;שוכה‬vgl. McDaniel [1968a], 37, Provan [1990a], 254), macht zusätzliche Änderungen (z. B. von ‫ כגן‬in ‫ )כגפן‬nötig. Zwar muss man Provan (1990a), 254 recht geben, dass eine lokale Übersetzung von ‫ מועד‬mit Festort nicht ohne Probleme ist (allerdings bietet schon Tg mit ‫ אתר מזומן לכפרא‬der Platz, bestimmt zur Entsühnung eine lokale Deutung), jedoch ist sie aufs Ganze gesehen die am wenigsten unwahrscheinliche Lösung (so auch Gottlieb et al. [1978], 29).

424 9a b c 10a b c 11a b c 12a b c 13a b c

Übersetzung

Im Boden versanken ihre Tore, er hat ihre Riegel vernichtet und zerbrochen1121. Ihr König und ihre Fürsten sind unter den Völkern, es gibt keine Weisung. Selbst ihre Propheten: nicht finden sie Schauung von JHWH. Es setzen sich zu Boden, es schweigen die Ältesten der Tochter Zion. Sie streuten sich Staub aufs Haupt, gürteten sich mit Sackleinen. Es senkten zu Boden ihr Haupt die jungen Frauen Jerusalems. Vor Tränen versagen mir meine Augen, es glühen meine Eingeweide. Vergossen zu Boden meine Leber wegen des Zusammenbruchs der Tochter ›Mein Volk‹1122, weil verschmachten Kind und Säugling auf den Plätzen der Stadt. Ihren Müttern sagen sie: »Wo sind Getreide und Wein?«, bei ihrem Verschmachten, wie durchbohrt, auf den Plätzen der Stadt. Beim Zerfließen ihrer Lebenskraft im Schoß ihrer Mütter. Was dir bezeugen1123, was dir gleichsetzen, Tochter Jerusalem, was dir gleichstellen, dass ich dich tröstete, Jungfrau Tochter Zion? Denn groß wie das Meer ist dein Zusammenbruch, wer vermag dich zu heilen?

1121 Das Bikolon ist auffallend lang, weswegen zuweilen eines der Verben als Glosse ausgeschieden wird. Allerdings herrscht Uneinigkeit darüber, ob ‫ שבר‬als sekundäre Konkretisierung (so z. B. Kaiser [1992], 131) oder vielmehr ‫ אבר‬als spätere Verallgemeinerung (Gottlieb et al. [1978], 30) aufzufassen sei. Salters [2004], 274f. vermutet als ursprünglichen Text ‫טבעו בארץ שעריה אבדו בריחיה‬, der dann über verschiedene Überlieferungsstufen zur heutigen Fassung geriet. Da metrische Argumente nur sehr begrenzte Beweiskraft haben, ist an MT festzuhalten (Koenen et al. [2015], 101). 1122 Zur Übersetzung von ‫ בת־עמי‬vgl. Hermisson (1997) und Maier (1998), 179, Anm. 20. 1123 Gegen Gordis (1974b), 164 bilden die vier Verben keinen Chiasmus; vielmehr spricht die dreifache ‫מה‬-Konstruktion für eine weitgehend synonyme Bedeutung der ersten drei Verben, gefolgt von einer inhaltlichen Weiterführung durch das abschließende ‫( ואנחמך‬so auch LXX und Vg). Es gibt keinen Grund, ‫ מה־אעידך‬im Sinne des Polel (Ps 146,9; 147,6) mit »aufhelfen«, »wieder aufrichten« zu deuten; die Grundbedeutung des Hif ’il, »bezeugen«, ergibt einen guten Sinn.

425

Klgl 2

14a b c 15a b c 16a b c 17a b c 18a b c

Deine Propheten schauten dir Trug und Tünche, und deckten deine Schuld nicht auf, abzuwenden dein Schicksal1124, und so schauten sie dir Sprüche von Trug und Verführung. Über dich klatschten in die Hände, alle des Weges Gehenden, sie zischten und schüttelten ihren Kopf über die Tochter Jerusalem: »Ist das die Stadt von der sie sagten: ›Vollkommene Schönheit, Freude aller Welt1125‹?« Es rissen auf gegen dich ihren Mund all deine Feinde. Sie zischten und knirschten mit den Zähnen, sie sagten: »Wir haben verschlungen. Wahrlich, das ist der Tag, den wir erhofften, [den wir] fanden, sahen.« JHWH tat, was er geplant, erfüllte sein Wort, das er befohlen seit den Tagen der Vorzeit. Er riss nieder und schonte nicht, und ließ jubeln über dich den Feind, erhöhte das Horn deiner Bedränger. Es schrie ihr Herz1126 zum Herrn: »Mauer1127 der Tochter Zion, lass herabstürzen wie ein Wadi die Tränen, zu Tage und nachts. Nicht gönne Ruhe dir, nicht harre dein Augapfel!«

1124 Qere statt Ketiv. 1125 ‫ משוש לכל־הארץ‬ist bewusstes Zitat aus Ps 48,3. Die auffällige Überlänge des Bikolons hat immer wieder zu Streichungen geführt (Albrektson [1963], 113f.). Selbst, wenn man zwecks Rettung des Zitates nur den Zusatz ‫ שיאמרו‬streicht (Berges [2002], 129), kommt man nicht umhin, einen bedeutungsgleichen Zusatz zumindest in Gedanken hinzuzufügen; MT ist beizubehalten. 1126 Die Stelle ist schwierig, da ‫ לבם‬wörtlich mit ihr (mask. pl.) Herz zu übersetzen wäre und fraglich ist, wer als entsprechender Bezug in Frage käme. Emendationen gibt es daher viele (Albrektson [1963], 116–119, Gottlieb et al. [1978], 35–37; vgl. Koenen et al. [2015], 103f.). Mittlerweile wird oft ganz wörtlich zu übersetzt (so schon Brandscheidt [1983], 132f. und Barthélemy [1986], 887f., dann auch Berges [2002], 127, Bier [2015], 204f. u. ö.). Berges, Barthélemy u. a. sehen in der Formulierung einen Vorgriff auf die Kinder aus V 19c, Brandscheidt Bier u. a. beziehen es auf die (im Text ungenannte) Bevölkerung der Stadt. ‫ לבם‬auf die Kinder von V 19c zu beziehen (Barthélemy [1986], 889: »sommaire anticipé«), ist nur dann die vorzuziehende Lösung, wenn ein solcher Bezug im Leseprozess naheliegend ist. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. 1127 Der Einwand von Rudolph (1962), 220, die Mauer könne nicht so weit personifiziert werden kann, dass von ihren Tränen gesprochen werden könne ( jüngst auch wieder Koenen et al. [2015], 104), ist unberechtigt (Dobbs-Allsopp [1993], 90, Berges [2002], 161f.).

426

Übersetzung

19a11- Steh auf, klage des Nachts, am Anfang der Nachtwachten. Schütte wie Wasser dein Herz aus vor dem Angesicht des Herrn. b Erhebe zu ihm deine Hände, um das Leben deiner Kinder willen, c die verschmachten vor Hunger am Kopfende aller Gassen. d 20a »Sieh, JHWH, und schau her, an wem du so gehandelt! b Dürfen essen Frauen ihre (Leibes)Frucht, sorgsam umhegte Kinder? c Dürfen getötet werden im Heiligtum des Herrn Priester und Prophet? Es liegen am Boden der Gassen 21a Jüngling und Greis. b Meine jungen Frauen und Burschen sind gefallen durchs Schwert. c Du hast getötet am Tag deines Zorns, hast geschlachtet, nicht verschont. 22a Du riefst wie zum Festtag meine Schrecken von ringsum, b und es war niemand am Tage des Zorns JHWHs, der entkam und entronn. c Die ich gepflegt und großgezogen, mein Feind hat sie vernichtet.« 28

Klgl 3 1 2 3

Ich bin der Mann1129, der Elend sah durch die Rute seines Zornes. Er trieb und führte mich ins Dunkel, nicht zum Licht. Ja, gegen mich wandte er immerzu seine Hand den ganzen Tag.

1128 Erneut ist die Überlänge des Verses, die Gedanken aus Klgl 2,11f. und 4,1 aufnimmt, zu akzeptieren. 1129 Die jugendlich-kraftvollen Konnotationen des Ausdrucks, der normalerweise einen Mann in den »besten Jahren« bezeichnet, sind mitzuhören. (Kosmala [1969], 160f.).

427

Klgl 3

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Schwinden ließ er mein Fleisch und meine Haut, zerbrach meine Knochen. Er hat mich umbaut und kreiste mich ein mit Gift1130 und Siechtum. In Finsternis ließ er mich wohnen wie die ewig Toten. Er mauerte mich ein, ich kam nicht heraus, er beschwerte meine Fesseln. Sooft ich auch rief und schrie, er verschloss mein1131 Gebet. Er vermauerte meine Wege mit Quadern, verdrehte meine Pfade. Ein lauernder Bär war er mir, ein Löwe im Hinterhalt. Meine Wege leitete er fehl und legte mich brach, ließ mich veröden. Er spannte seinen Bogen und stellt mich hin wie ein Ziel für den Pfeil. Er ließ kommen in meine Nieren die Söhne seines Köchers. Ich wurde zum Gespött meines ganzen Volkes1132, ihr Spottlied den ganzen Tag. Er sättigte mich mit Bitternis, tränkte mich mit Galle. Er ließ meine Zähne sich am Kiesel zermürben, trat1133 mich in den Staub. 1134 Du hast mich vom Heil verstoßen, ich vergaß, was Gutes ist. Ich sagte: »Zerstört ist meine Dauer, mein Hoffen [ist] ohne JHWH.«

1130 Die LXX fasst ‫ ראש‬nicht als ‫ ראש‬II Gift sondern ‫ ראש‬I Kopf auf. Dem folgt dann u. a. Praetorius, F. (1895), 326, der das folgende ‫ ו‬als Suffix 1. Sg. an ‫ ראש‬anfügt und somit zu ‫ ראשי תלאה‬er umgab mein Haupt mit Mühsal kommt. Die Übersetzung von ‫ ראש‬mit Bitterkeit ist möglich (so Rudolph [1962], 230; Kaiser [1992], 149 hat »mit bitterer Qual«) und wird indirekt dadurch gestützt, dass »Gift« oft mit ‫ לענה‬Bitterkeit/Wermut verbunden wird (vgl. V 19), ist jedoch keinesfalls zwingend. MTund die naheliegende Übersetzung Gift sollte beibehalten werden: vgl. auch Barthélemy (1986), 892. 1131 Teils wird angenommen, dass hier das hapax legomenon ‫ שתם‬unter Berufung auf arab. ˇstm mit zurückweisen zu lesen wäre (Albrektson [1963], 132, Gottlieb et al. [1978], 40). Häufiger wird es aber als orthographische Variante zu ‫ סתם‬verstopfen/verschließen aufgefasst. Um die Formulierung Er verschließt mein Gebet zu vermeiden, wird zuweilen ein durch Haplographie ausgefallenes ‫ מ‬zu ‫ מתפלתי‬eingefügt (Rudolph [1962], 230 und Kaiser [1992], 149), was aber unnötig ist. 1132 Gegen z. B. Koenen et al. (2015), 191 trägt die Entscheidung über Sg. ‫ עמי‬oder Pl. ‫ עמים‬nichts zur individuellen oder kollektiven Deutung des Mannes aus. Die Versionen, die überwiegende Anzahl der Handschriften und nicht zuletzt die masoretische Kennzeichnung von ‫ עמים‬als Sebir (also die zu erwartende, aber ausdrücklich nicht zu lesende Variante; vgl. Tov [1992], 64) sprechen für den Singular. 1133 Das Hapax legomenon ‫ כפש‬ist als Nebenform von ‫ כבש‬niedertreten, niederwerfen aufzufassen (Berges [2002], 174, Koenen et al. [2015], 191).

428 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Übersetzung

An mein Elend und meine Unrast zu denken1135 ist Bitterkeit und Gift. Fortwährend grübelnd1136 zerfließt1137 in mir meine Seele. Dies nehme ich mir zu Herzen, darum harre ich aus: Die Treuetaten JHWHs, ja, sie sind nicht zu Ende1138, ja, es hören nicht auf seine Erbarmungen. Neu sind sie jeden Morgen, groß ist deine Gnade. »Mein Anteil ist JHWH«, sagt meine Seele, »darum harre ich auf ihn!« Gut ist JHWH zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht. Gut ist es zu harren, schweigend1139, auf die Hilfe JHWHs. Gut ist es für den Mann, dass er trage ein Joch in seiner Jugend. Er sitze einsam und schweige, denn er hat es ihm auferlegt. Er neige in den Staub seinen Mund, vielleicht ist da Hoffnung. Er gebe dem ihn Schlagenden die Wange, sättige sich an Schmach. Denn nicht auf ewig verstößt der Herr. Sondern wenn er betrübt hat, erbarmt er sich, gemäß der Größe seiner Huld. Denn nicht von Herzen erniedrigt er und betrübt die Menschen.

1134 Die Lesung als 2. Sg. mask. Qal ist als lectio difficilior gegen Renkema (1998), 375, Berlin (2002), 78, Salters (2010), 189 u. a., die die 3. Sg. fem. Nif ’al mit ‫ נפש‬als Subjekt lesen, beizubehalten. Weber (2000), 113 erwägt, ob in der alternativen Vokalisierungsmöglichkeit eine bewusste Ambiguität des Textes zu sehen ist. 1135 Wegen der sonst anzunehmenden Reihung von vier Objekten wird ‫ זכר‬als Inf. zu fassen sein. 1136 Subjekt ist »meine Seele«, darum nicht 2. Sg. mask. (so Westermann [1990], 138, Albrektson [1963], 143 oder auch Gottwald [1962], 13), sondern 3. Sg. fem (Barthélemy [1986], 901, Berges [2002], 174, Koenen et al. [2015], 193). 1137 Entweder von ‫ שחח‬beugen oder ‫ שוח‬zerfließen. Inhaltliche Erwägungen sprechen für letzteres. 1138 Wegen der Parallelität mit ‫ לא כלו‬hier wohl keine irreguläre Form der 1. Pl. Pf. Qal (anders Koenen et al. [2015], 194), sondern mit Tg und Peschitta Emendation zu ‫תמו‬, 3. Pl. 1139 Die Übersetzung ignoriert beide ‫ו‬, deren Übersetzung schwierig ist (wörtlich: »Gut, und Harren, und stumm), aber den Sinn des Verses nicht fraglich machen.

429

Klgl 3

34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Dass man zertritt unter seinen Füßen alle Gefangenen des Landes, dass man beugt das Recht eines Mannes vor dem Angesicht des Höchsten, dass man bedrückt einen Menschen in seinem Rechtsstreit – der Herr, er sieht es nicht!?1140 Wer hat gesprochen, und es geschah – der Herr, er hat es nicht geboten!? Aus dem Mund des Höchsten – kommen da nicht Unheil und Gutes hervor? Wie klagt ein Mensch, der lebt, ein Mann über seine Sünde? Prüfen und ergründen wir unsere Wege und kehren wir um zu JHWH! Erheben wir unser Herz samt Händen1141 zu Gott im Himmel. Wir, wir haben verbrochen und getrotzt. Du, du hast nicht vergeben! Du hülltest in Zorn und verfolgtest uns, hast getötet, nicht verschont. Du hülltest dich in Wolken, so dass kein Gebet hindurchdrang. Zu Dreck und Auswurf machtest du uns inmitten der Völker. Gegen uns rissen ihren Rachen auf all unsere Feinde. Grauen und Grube wurde uns zuteil, Verwüstung und Zusammenbruch. Wasserbäche vergießt mein Auge wegen des Zusammenbruchs der Tochter ›Mein Volk‹. Mein Auge fließt und ruht nicht, es gibt kein Versiegen, bis herabschaut und sieht JHWH vom Himmel. Mein Auge setzt meiner Seele zu wegen aller Töchter meiner Stadt. Eifrig jagten mich wie einen Vogel meine Feinde ohne Grund. Sie beendeten in der Grube mein Leben, warfen Steine auf mich. Es strömte Wasser über meinen Kopf, ich sagte: »Ich bin verloren!«

1140 Gegen z. B. Rudolph (1962), 231 oder Renkema (1998), 420f. ist die Ambiguität zwischen Aussage und rhetorischer Frage beizubehalten! 1141 Eine Änderung von ‫ אל‬in ‫ על‬auf (den Händen) oder ‫ ֶאל‬das Herz, nicht die Hände« ist unnötig, da ‫ אל‬auch zusammen mit/samt bedeuten kann (vgl. Lev 18,18; 1Kön 10,7).

430 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Übersetzung

Ich rief deinen Namen, JHWH, aus der tiefen Grube. Meine Stimme hörtest1142 du: »Verschließe nicht dein Ohr zu meinem Aufatmen, zu meinem Hilferuf!«1143 Du warst nahe am Tag, da ich dich rief, du sprachst: »Fürchte dich nicht!« Du führtest, Herr, meine Rechtssachen, hast mein Leben erlöst. Du sahst, JHWH, meine Bedrückung, verhilf mir zu meinem Recht! Du sahst all ihre Rache, all ihre Pläne gegen mich. Du hörtest ihr Schmähen, JHWH, all ihre Pläne gegen mich. Die Reden meiner Gegner und ihr Sinnen gegen mich den ganzen Tag. Ihr Sitzen und ihr Aufstehen – schau her! Ich bin ihr Spottlied. Vergilt ihnen das Tun, JHWH, nach dem Werk ihrer Hände. Gib ihnen Verblendung des Herzens, dein Fluch über sie! Verfolge im Zorn und vernichte sie, weg unter dem Himmel JHWHs.1144

Klgl 4 1a b

Ach1145, wie verdunkelt1146 das Gold, verändert1147 das wunderbare Feingold! Hingeschüttet sind die heiligen Steine am Anfang aller Gassen.

1142 Zur Frage der Übersetzung der Perfekta in V 56ff. (‫שמעת‬, ‫קרבת‬, ‫רבת‬, ‫ ראיתה‬usw.) als prekative Perfekta vgl. Provan (1991b), sowie kritisch Berges (2002), 220 und im Anschluss daran Weber (2000), 118–120 und jüngst noch mal ausführlich Koenen et al. (2015), 278f. 1143 Oft wird letzteres metri causa gestrichen – was jedoch durch die Versionen nicht gedeckt wird (Barthélemy [1986], 906–907). 1144 Die Formulierung ‫ שמי יהוה‬Himmel JHWHs ist singulär und wird daher häufig geglättet. Auch hier ist MT beizubehalten (Barthélemy [1986], 908, Berges [2002], 175, Koenen [1995], 199). 1145 Gegen BHS erneut keine Anakrusis. 1146 Kaiser (1992), 171 Anm. 1 und Hillers (1992), 137 bemängeln, dass Gold nicht oxydiere und schlagen daher »zerdrückt« vor. ‫יועם‬, als Hof ’al von ‫ עמם‬verdunkeln, glanzlos sein macht guten Sinn. Der Kontrast zwischen einstigem Glanz und jetziger Not sowie die Evozierung »unmöglicher« Gegensätze sind bevorzugte Stilmittel der ersten Sektion von Klgl 4. 1147 ‫ ישנא‬aramaisierend anstelle des zu erwartenden ‫ ;ישנה‬vgl. Dan 5,6.9.

431

Klgl 4

2a b 3a b 4a b 5a b 6a b 7a b

1148 1149 1150 1151 1152

1153

1154 1155

Die kostbaren Söhne Zions, aufgewogen1148 mit Gold, ach, wie Tonkrüge galten sie, Machwerk von Töpferhänden. Selbst Schakale1149 geben die Brust, säugen ihre Welpen. Die Tochter ›Mein Volk‹ war grausam, wie Strauße in der Wüste. Es klebte die Zunge des Säuglings an seinem Gaumen vor Durst, Kinder fragten nach Brot, niemand brach1150 es ihnen. Die Köstlichkeiten zu essen pflegten, verschmachteten in den Gassen. Die getragen wurden auf Purpur, umarmten Misthaufen. Größer war die Schuld der Tochter ›Mein Volk‹ als die Sünde Sodoms, das umgestürzt1151 wurde im Nu. Nicht regten sich in ihr Hände.1152 Reiner waren ihre Geweihten1153 als Schnee, weißer als Milch, rötlicher der Leib1154 als Korallen, saphirblau ihr Haar1155

Part. Pu’al von ‫ סלה = סלא‬II aufwiegen, bezahlen. Aramaisierender Plural von ‫ תן‬Schakal. ‫ פרש‬aramaisierend für ‫ פרס‬brechen; vgl. Mi 3,3. ‫» הפך‬auf den Kopf werfen, umwerfen« ist terminus technicus für Gottes Gerichtshandeln im Rahmen der Sodom-Gomorra-Tradition; vgl. Seybold (1977), 458. Die Übersetzung bleibt umstritten. Diskutiert wird für ‫ חלו‬die Ableitung von ‫ חלה‬erschlaffen, erkranken, von ‫ חלל‬I anfangen oder ‫ חלל‬II durchbohren, von ‫ חול‬tanzen, sich bewegen, zuwenden, ‫ חיל‬I sich winden oder ‫ חיל‬II kräftig sein. Die plausibelste Lösung scheint die Ableitung von ‫ חיל‬I zu sein (s. Kap. 6 z. St., sowie Koenen et al. [2015], 303f.). Der Einwand, eine Übersetzung von ‫ נזיריה‬mit ihre Vornehmen, Fürsten (vgl. Gen 49,26; Dtn 33,16; diejenigen, die ein nezær tragen; vgl. Mayer [1986], 333) sei unwahrscheinlich, da eine derartige körperliche Entstellung bei den Reichen nicht zu erwarten wäre (Rudolph [1962], 248), erlaubt nicht die Emendation zu ‫ נעריה‬ihre Jugend. Neben der Übersetzung als terminus technicus mit ihre Nasiräer kann der Begriff auch im weiteren Sinne Ausgesonderter, Geweihter bedeuten. Wenn »zwischen dem Nasir und Gott eine so enge Beziehung besteht, daß der Angriff auf die Integrität des einen den anderen trifft« (Mayer [1986], 330), wäre im Umkehrschluss zu folgern, dass die in V 8 bescheinigte Ununterscheidbarkeit aufgrund körperlicher Verwahrlosung das grundlegend gestörte Gottesverhältnis demonstriert. Vgl. Spr 16,24; 15,30; Ps 31,11; 102,4 für die Verwendung von ‫ עצם‬im Sinne von »Leib«. Die Herleitung von ‫ גזרה‬von der Wurzel ‫ גזר‬bietet die Bedeutung Schnitt. Davon auf Gestalt zu schließen (vgl. franz. taille »Figur« – tailler »abhauen, beschneiden«), bleibt hypothetisch. Dagegen spricht einiges für eine Ursprungsbedeutung Haar (Koenen et al. [2015], 332–334), eine Bedeutung, die schon den Versionen nicht mehr präsent war (Koenen et al. [2015], 304).

432 8a b 9a b 10a b 11a b 12a b 13a b 14a b 15a b 16a b 17a b 18a b

Übersetzung

Schwärzer als Ruß war ihr Aussehen, man erkannte sich nicht in den Gassen. Ihre Haut schrumpfte auf ihrem Leib, ausgetrocknet wie Holz. Besser dran waren die Schwertgefallenen als die Hungergefallenen, (besser) die, die verflossen, durchbohrt, als die, die fernab der Erträge des Feldes.1156 Die Hände liebevoller Frauen kochten ihre Kinder. Sie wurden ihnen zur Trauerspeise beim Zusammenbruch der Tochter ›Mein Volk‹. Vollendet hat JHWH seine Wut, ausgegossen die Glut seines Zornes. Er entfachte Feuer in Zion und zerfraß ihre Fundamente. Nicht glaubten die Könige der Erde, und alle Bewohner der Welt, dass ein Bedränger und Feind einzöge durch die Tore Jerusalems. Wegen der Sünden ihrer Propheten, der Schuld ihrer Priester, die vergossen haben in ihrer Mitte das Blut von Gerechten. Sie irrten blind durch die Gassen, besudelt mit Blut, was sie nicht durften, berührten sie mit ihren Kleidern. »Fort, unrein!«, rief man ihnen zu, »Fort, fort! Rührt nichts an!« Denn sie wankten, auch schwankten sie umher. Unter den Völkern sagte man: »Sie dürfen nicht länger weilen!« Das Angesicht JHWHs hat sie zerstreut, nicht länger schaut er sie an. Das Antlitz der Priester ehrte man nicht, die Ältesten fanden keine Gnade. Solange1157 erschöpften sich unsere Augen nach unserer Hilfe – umsonst. Von unserer Warte aus spähten wir nach einem Volk, das nicht hilft. Man jagte1158 unsere Schritte, wir konnten nicht auf unsere Plätze. Nah war unser Ende, erfüllt unsere Tage, ja, es kam unser Ende.

1156 Der Text ist schwierig; eine Fortsetzung des Vergleiches Schwertgefallene – Hungergefallene scheint am plausibelsten. 1157 Ketiv mit Suffix 3. fem. Pl. ist vorzuziehen (Koenen et al. [2015], 306f.). Subjekt ist »unsere Augen«; der Sinn gleicht dem in Klgl 2,11. 1158 Nicht von ‫ צרר‬II einengen abzuleiten (Kaiser [1992], 174, Salters [2010] 284, Rudolph [1962] 246, u. a.), sondern von ‫ צדה‬I nachstellen, jagen, belauern.

433

Klgl 4

19a b 20a b 21a b 22a b

Schneller waren unsere Verfolger als Raubvögel am Himmel. Auf den Bergen stellten sie uns nach, in der Wüste lauerten sie uns auf. Unser Lebensatem, der Gesalbte JHWHs, war gefangen in ihren Gruben, von dem wir sagten: »In seinem Schatten leben wir unter den Völkern.« Juble und freue dich, Tochter Edom, Wohnende im Lande Uz. Auch zu dir wird der Becher kommen, du wirst dich betrinken und entblößen. Vollendet ist deine Schuld, Tochter Zion, er wird nicht fortfahren, dich zu verbannen. Er ahndet deine Schuld, Tochter Edom, deckt auf deine Sünden.

Klgl 5 1 2 3 4 5 6 7

Gedenke, JHWH, was uns geschehen, schau her und sieh unsere Schmach! Unser Erbland ging an Fremde, unsere Häuser an Ausländer. Waisen1159 sind wir geworden, ohne Vater, unsere Mütter wie Witwen. Unser Wasser trinken wir für Geld, unser Holz kommt gegen Bezahlung1160. Über unseren Nacken1161 werden wir verfolgt, wir sind erschöpft, nicht vergönnt man uns Ruhe. Nach Ägypten streckten wir die Hand1162, (nach) Assur, um satt zu werden an Brot. Unsere Väter haben gesündigt; sie sind nicht mehr. Wir aber, ihre Schuld tragen wir.

1159 Vgl. hierzu Renkema (1995a). 1160 Es ist unklar, ob ‫ כסף‬und ‫ מחיר‬synonym oder synthetisch bzw. komplementär zu verstehen ist. Jes 55,1 scheint für letzteres zu sprechen; vgl. auch Mi 3,11; Sir 31,5; Dan 11,39; Jes 45,13; 55,1; Jer 15,13 die alle offen lassen, um welche Zahlungsart es sich handelt. Zuweilen (Mi 3,11; Dtn 23,19) nimmt ‫ מחיר‬eine deutlich pejorative Note an. Zwar bleibt unklar, worin genau jener ‫ מחיר‬besteht, doch kann man aufgrund Gen 38,27.20.23; Lev 3,2.10; 6,9f. auf eine geldlose Leistung schließen: vgl. Lipin´ski (1984), 808–811. 1161 Die wörtliche Übersetzung von MT, die auch von LXX und Vg gestützt wird. Häufig wird ein durch Haplographie ausgefallenes ‫ על‬Joch ergänzt um zu einer Übersetzung wie »Ein Joch auf unserem Nacken – wir sind verfolgt« zu kommen (z. B. Berges [2002], 270). Es erscheint am sinnvollsten, mit einer festen Redewendung zu rechnen, die uns nicht mehr zugänglich ist (Koenen et al. [2015], 371). 1162 Vgl. 2Kön 10,15; Jer 50,15; Ez 17,18 für die Verwendung der Formel »die Hand geben« in der Bedeutung »eine vertragliche Vereinbarung schließen«.

434 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Übersetzung

Knechte herrschen über uns, niemand entreißt aus ihrer Hand. Unter Lebensgefahr kommen wir an unser Brot, vor dem Schwert der Wüste. Unsere Haut ist rissig geworden wie ein Ofen wegen der Hungerqualen. Frauen vergewaltigt man in Zion, Jungfrauen in den Städten Judas. Fürsten werden durch ihre Hände gehängt, das Angesicht der Ältesten wird nicht geehrt. Junge Männer tragen die Mühle, Knaben straucheln unter der Holzlast. Die Alten bleiben dem Stadttor fern, junge Männer ihrem Saitenspiel Beendet ist die Freude unseres Herzens, zu Trauer gewendet unser Reigentanz. Gefallen ist die Krone unseres Hauptes. Weh doch uns, dass wir sündigten! Darüber ward krank unser Herz, über dies wurden finster unsere Augen: Wegen des Berges Zion, der verödete, Schakale streifen auf ihm herum. Du aber, JHWH, thronst auf ewig, dein Thron von Geschlecht zu Geschlecht. Warum vergisst du uns für immer, verlässt uns für die Länge der Tage? Kehre uns, JHWH, zu dir, so kehren wir um, erneuere unsere Tage wie dereinst. Es sei denn1163 du hast uns völlig verworfen, zürnst uns gar sehr!?

1163 Zur Übersetzung vgl. Kap. 6 z. St.

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