Scham und Würde: Über die symbolische Prägnanz des Menschen 9783495998588, 9783495486955


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German Pages [233] Year 2014

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Table of contents :
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I. Einführung in die Fragestellung
Einheit und Zerlegung
Vernachlässigung der Sinnfrage
Das Rätsel der Synthesis
Erkenntnis und Unerkennbarkeit
Darstellbarkeit
Kritische Anthropologie
Gebrochenheit
Der Fortgang der Untersuchung
II. Die Erscheinung der Scham
Im Zwielicht der Scham
Zeigen und Verbergen
Aufmerksamkeit und Selbstaufmerksamkeit in der Scham (Darwin)
Ambivalenzen im Schamaffekt
Ambivalenz zwischen Individualisierung und Generalisierung (Scheler)
Ambivalenz zwischen Teil und Ganzem, Herauf- und Herabsetzung des Ich (Simmel)
Ambivalenz zwischen Subjektsein und Objektsein, Kontrolle und Kontrollverlust, Macht und Ohnmacht (Sartre)
Zusammenfassender Vergleich
III. Anschluss an den Kritizismus Kants
Antinomische Struktur
Lebendigkeit und Freiheit
Philosophie und Würde
Selbstdarstellung und Verdoppelung der Lebendigkeit
Stufen und Richtungen des Vollzugs und Mitvollzugs lebendiger Synthesen
Erweiterung der Erfahrungsbasis
Offene Systematik
Paradoxe Form
Die praktische Bestimmung der Philosophie
Die Krisis des Anfangs und der Prozess des Verstehens
Aktivität und Objektivität der Sinne
Die Verschmelzung des Einen mit dem Anderen
IV. Die symbolische Funktion von Scham und Würde
Die Struktur der Mitwelt
Mitvollzug des synthetischen philosophischen Verfahrens
Symbolische Prägnanz
Stadien und Funktionen im Zusammenhang und die Bildung des Bewusstseins
Zum Kategorialcharakter von symbolischer Prägnanz und Verkörperung
Natürliche und künstliche Symbolik – der Leib als Symbol
Historische Krisen und Anfänge
Selbstartikulation des Lebens
Dialektische Bewegung des Selbstbewusstseins
Die Stadien des Schamausdrucks und die symbolischen Funktionen der Scham
Der Begriff der Verschränkung – Ausdrucks- und Ding-Wahrnehmung
V. Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen
Zeit und Raum als Bedingungen der Möglichkeit von Synthesen
Intentionalität des Leibes
Die mitvollziehbare Haltung ermöglicht die Leibsymbolik
Die Modi der Verkörperung bzw. der Leibsymbolik
Konkordanz und Akkordanz der Verkörperungsmodi
Das Rätsel der Akkordanz im Kreis der Zustandssinne oder der Verleiblichung
Die Funktion des dualen Modus und die Bedeutung des Numinosen
Akkordanz der Schamhaftigkeit
Der Ort der Scham in der Architektonik der menschlichen Person
Die Verschränktheit des Körperleibs im Bild der Scham – Verkörperung und Entkörperung
Die irreale Geltungssphäre und die Funktion des ästhetischen Scheins
Stil, Haltung, Ethos
VI. Die Leibessynthese von Leben und Tod
Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung
Erlebte Verschränkung
Realität (Sein) und Irrealisierung (Geltung)
Maske und Scham, Darstellung und Bloßstellung
Äußerung und Entäußerung in Gesicht und Sprache
Die Krise des dualen Modus als moralische Krise
Die Funktion des Philosophierens unter Einsatz des Lebens
Sinn und Dauer – die Dauer der Würde
VII. Schluss: Der Sinn der Paradoxie
Literatur
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Scham und Würde: Über die symbolische Prägnanz des Menschen
 9783495998588, 9783495486955

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Richard Breun

Scham und Würde Über die symbolische Prägnanz des Menschen

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495998588

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Richard Breun Scham und Würde

ALBER PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495998588 .

Über dieses Buch: Menschliche Lebendigkeit zu verstehen, verlangt einen Nach- und Mitvollzug, der an der Anschauung dieser Lebendigkeit anzusetzen hat. Von einem solchen synthetischen Verfahren ist bereits die Wahrnehmung geprägt. Dafür stehen die Konzepte der symbolischen Prägnanz bei Cassirer und der sinnlichen Verkörperungsmodi bei Plessner. Sie lassen sich auf die Erscheinung des Menschen selbst anwenden. Dann zeigt sich, dass das menschliche Leben von der sinnlichen Wahrnehmung bis hin zur geistigen Sinngebung von Antinomien durchzogen ist, von einem Widersinn, dem sich scheinbar kein Sinn abringen lässt. Gerade diese fundamentale Gebrochenheit aber macht die Würde aus, die sich der Mensch zuschreibt; ihr Gegenpol ist die Beschämbarkeit bzw. Schamhaftigkeit. Die lebendigen Synthesen entzünden sich am Körperleib und prägen ihn. Er ist sie und zeigt sie. Das macht am Ende auch die Leibessynthese von Leben und Tod deutlich. Der Tod, der etwas anderes ist als das Leben und dennoch in es hineinwirkt, muss es sich gefallen lassen, auch umgekehrt vom »Abglanz« des Lebens gestreift zu werden. Gerade der Tote erscheint uns im Licht einer Würde, deren Verletzung als Schandtat gilt. Philosophisch-systematisch und historisch geht der Weg von Kants Kritizismus als einem Verfahren, das die Synthesis nicht unsachgemäß zerlegt und dabei zerstört, zu einem Denken, das seinerseits Kant nicht zerlegt, sondern seine offene Systematik weiter vorantreibt, erneuert und erweitert (so bei Dilthey, Simmel, Cassirer und Plessner).

Über den Autor: Richard Breun, geb. 1953, Promotion über Helmuth Plessners Philosophiebegriff, Habilitation mit einer Arbeit über die Verkörperung von Moral, Privatdozent und Akademischer Oberrat an der Universität Erfurt, Mitherausgeber der Zeitschrift »Ethik & Unterricht«.

https://doi.org/10.5771/9783495998588 .

Richard Breun

Scham und Würde Über die symbolische Prägnanz des Menschen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495998588 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48695-5

https://doi.org/10.5771/9783495998588 .

Inhalt

I.

Einführung in die Fragestellung . . Einheit und Zerlegung . . . . . . Vernachlässigung der Sinnfrage . . Das Rätsel der Synthesis . . . . . Erkenntnis und Unerkennbarkeit . Darstellbarkeit . . . . . . . . . . Kritische Anthropologie . . . . . . Gebrochenheit . . . . . . . . . . . Der Fortgang der Untersuchung . .

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II.

Die Erscheinung der Scham . . . . . . . . . . . . . . . Im Zwielicht der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeigen und Verbergen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aufmerksamkeit und Selbstaufmerksamkeit in der Scham (Darwin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambivalenzen im Schamaffekt . . . . . . . . . . . . . . Ambivalenz zwischen Individualisierung und Generalisierung (Scheler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambivalenz zwischen Teil und Ganzem, Herauf- und Herabsetzung des Ich (Simmel) . . . . . . . . . . . . Ambivalenz zwischen Subjektsein und Objektsein, Kontrolle und Kontrollverlust, Macht und Ohnmacht (Sartre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassender Vergleich . . . . . . . . . . . . . .

. . . . Selbstdarstellung und Verdoppelung der Lebendigkeit .

III. Anschluss an den Kritizismus Kants Antinomische Struktur . . . . . . . Lebendigkeit und Freiheit . . . . . . Philosophie und Würde . . . . . . .

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Inhalt

Stufen und Richtungen des Vollzugs und Mitvollzugs lebendiger Synthesen . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung der Erfahrungsbasis . . . . . . . . . . . Offene Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradoxe Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die praktische Bestimmung der Philosophie . . . . . . Die Krisis des Anfangs und der Prozess des Verstehens Aktivität und Objektivität der Sinne . . . . . . . . . Die Verschmelzung des Einen mit dem Anderen . . .

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IV. Die symbolische Funktion von Scham und Würde . . . . Die Struktur der Mitwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitvollzug des synthetischen philosophischen Verfahrens . Symbolische Prägnanz . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stadien und Funktionen im Zusammenhang und die Bildung des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . Zum Kategorialcharakter von symbolischer Prägnanz und Verkörperung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche und künstliche Symbolik – der Leib als Symbol . Historische Krisen und Anfänge . . . . . . . . . . . . . . Selbstartikulation des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . Dialektische Bewegung des Selbstbewusstseins . . . . . . Die Stadien des Schamausdrucks und die symbolischen Funktionen der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der Verschränkung – Ausdrucks- und Ding-Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . .

V.

Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen Zeit und Raum als Bedingungen der Möglichkeit von Synthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intentionalität des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mitvollziehbare Haltung ermöglicht die Leibsymbolik . Die Modi der Verkörperung bzw. der Leibsymbolik . . . . Konkordanz und Akkordanz der Verkörperungsmodi . . . Das Rätsel der Akkordanz im Kreis der Zustandssinne oder der Verleiblichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Funktion des dualen Modus und die Bedeutung des Numinosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Richard Breun

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Inhalt

Akkordanz der Schamhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . Der Ort der Scham in der Architektonik der menschlichen Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verschränktheit des Körperleibs im Bild der Scham – Verkörperung und Entkörperung . . . . . . . . . . . Die irreale Geltungssphäre und die Funktion des ästhetischen Scheins . . . . . . . . . . . . . . . . . Stil, Haltung, Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI. Die Leibessynthese von Leben und Tod . . . . . . . Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung . Erlebte Verschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . Realität (Sein) und Irrealisierung (Geltung) . . . . . . Maske und Scham, Darstellung und Bloßstellung . . . Äußerung und Entäußerung in Gesicht und Sprache . Die Krise des dualen Modus als moralische Krise . . .

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Die Funktion des Philosophierens unter Einsatz des Lebens Sinn und Dauer – die Dauer der Würde . . . . . . . . . .

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VII. Schluss: Der Sinn der Paradoxie . . . . . . . . . . . . . 211 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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I.

Einführung in die Fragestellung

Einheit und Zerlegung Die Auflösung der Philosophie in einzelne Forschungszweige ist eine Tatsache. In ihr wiederholt sich die historische Entwicklung, die von der Ausdifferenzierung der Philosophie in Einzelwissenschaften Zeugnis ablegt. Was vordem Rätsel und unbeantwortbare Frage war, löst sich in Probleme auf, die weiter zerlegt und methodischen Verfahren ausgesetzt werden können. In ihrer Fassung als Problem verändert sich die Frage selbst allerdings so, dass die ursprüngliche Frage, die als Rätsel auftrat, verlorengeht. 1 Inwiefern dies zulässig ist, muss sich für jede Vgl. dazu Helmuth Plessner: Über die Rätselhaftigkeit der Philosophie (1943). In: ders.: Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hg. von Salvatore Giammusso und Hans-Ulrich Lessing, München 2001, S. 217–230. Georg Simmel (Das Abenteuer. In: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 14, hg. v. Rüdiger Kramme u. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1996, S. 168–185, hier S. 175), sieht im Philosophen den »Abenteurer des Geistes«, denn er behandele das »Unlösbare, als wäre es lösbar«. Das trifft den Kern der Rätselfrage im Unterschied zur Problemstellung. Letztlich sind die philosophischen Fragen unlösbar im Sinne einer vorgängigen wissenschaftlich-problematisierenden Methode. Dennoch zielen sie auf eine Lösung; diese zeigt sich jeweils in der Art, wie man auf sie eingeht, im Gang der Suche nach einer Antwort, auch wenn er bloß in eine neue Frage mündet. Zuweilen behandeln philosophische Analysen, die sich an vorgegebenen Methoden orientieren, das Lösbare, als wäre es unlösbar. – Vgl. auch Diltheys Rede vom Leben als einem »Rätsel« und von den »Rätselfragen«, die sich durch »in der Mehrseitigkeit des Lebens enthaltene Gegensätze« stellen (Wilhelm Dilthey: Handschriftliche Zusätze und Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der Weltanschauung. In ders.: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften 8, hg. v. Bernhard Groethyusen, Stuttgart 19916 , S. 121–165, hier S. 144), woraus das lebensphilosophische Prinzip der Unergründlichkeit sowohl in theoretischer als auch praktischer Hinsicht resultiert. Dazu Dilthey (ebd., S. 145): »[…] diese Fragen sind es, die keine Einzelwissenschaft auflöst, die eben nur einzelne Probleme im großen Rätsel des Lebens bilden. Dieses steht immer vor jedem neuen Menschen, Lösung heischend, immer als dasselbe, immer gleich unergründlich.« (Vgl. dazu auch Salvatore Giammusso: Hermeneutik und Anthropologie, Berlin 2012, S. 13).

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Einführung in die Fragestellung

Frage jeweils neu erweisen. So ist es etwas völlig Verschiedenes, ob die Frage lautet: Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts? – oder: Wie haben sich die Wissenschaften die unterschiedlichen Bereiche dessen, was ist, aufgeteilt, und welche Verbindungen gibt es dazwischen? Kant hat an der ursprünglichen ›Rätsel‹-Frage festgehalten, indem er der letztlich nicht vollständig objektivierbaren Synthesis den Vorrang vor der Analysis gab, denn erst die vorgängige Synthese ermöglicht eine nachträgliche Analyse. Nichts kann zerlegt werden, was nicht zuvor schon vereint war. Kants transzendentale Hauptfrage, wie synthetische Urteile a priori möglich seien, hält an der Ursprünglichkeit der anfänglichen Einheit fest, auch wenn er diese in die Situation der Beantwortbarkeit führt, um der Rätselhaftigkeit des metaphysisch in den Blick Kommenden gleichsam eine Physiognomie zu geben, ohne es in seiner Rätselhaftigkeit aufzulösen und damit, obgleich es in seiner Existenz nicht auszulöschen ist, erkenntnistheoretisch verschwinden zu lassen. Der Weg zum Ganzen muss schon beschritten sein, bevor dieses in Einzelteile zerlegbar wird, und erst im Bewusstsein dieses Verfahrens, das ja lediglich den Mangel der intellektuellen Anschauung ausgleichen möchte, entgeht man der Gefahr, die getrennten Einzelteile für das Ganze zu halten. Ein häufig zitiertes Beispiel für eine solche Verwechslung: die Farbe Rot ist etwas anderes als deren Auflösung in physikalisch-chemische Bestandteile. Die Qualität der Farbempfindung (Synthesis) geht nicht auf in der Quantität ihrer naturwissenschaftlichen Beschreibung oder Erklärung (Analysis).

Vernachlässigung der Sinnfrage Am Beispiel der Analyse orientiert sich die moderne Philosophie. Sinnfragen hat sie vernachlässigt und sich vornehmlich Fragen der Wissenschaften und Wissenschaftlichkeit gewidmet. Sinn löst sich in Funktionalität auf. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsphilosophie treten an die Stelle der Ontologie, Metaphysik und der Philosophie selbst; sie überspringen die Lebenserfahrung, insofern sie von vornherein an wissenschaftlichen Erfahrungen ansetzen. Bestrebungen, die Grundlagen der Wissenschaften zu klären, lösen Versuche ab, die Grundlagen des Seins, des menschlichen Daseins und seines Sinns näher zu bestimmen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass man eine klare Sprache fordert, sich von dem Hirngespinst der Vorausset10

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Das Rätsel der Synthesis

zungslosigkeit zu verabschieden und sich überhaupt von philosophischen Sondersprachen und Sonderwegen, letztlich also von Ontologie und Metaphysik abzuwenden sucht, wenngleich diese nun in neuer Gestalt aus dem Boden des analytischen Philosophierens emporwachsen, allerdings im Gewand der Analyse von Begriffen, einer Begriffslogik also, die wiederum keinen Bezug zur wirklichen oder möglichen Lebenserfahrung aufweist, vielmehr das, was diese ausmacht, ihre Dynamik, Offenheit und Vielfalt, durch die objektivistisch-abstrahierende Ausrichtung verfehlt.

Das Rätsel der Synthesis Lebendige Synthesen dagegen, bei Kant etwa die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins, sind nicht vollständig objektivierbar, wenn man sie nicht zerstören oder auf das, was an ihnen zerlegbar ist, reduzieren will. Kants Konsequenz, an der Frage nach der Möglichkeit der Synthesis unbeirrt festzuhalten, ließ ihn auf das stoßen, was letztlich unbegreiflich blieb, auf das Faktum der Vernunft, d. h. die Möglichkeit eines praktischen Gesetzes, dessen Gründe nicht weiter erhellt werden können, weil man dann immer noch mit den Mitteln theoretischer Erkenntnis etwas suchen würde, was gerade nicht in Bestimmungen theoretischer Art aufgeht und gerade durch die Verwendung solcher Mittel unwirklich und unwirksam bliebe, da es doch bloß durch davon unabhängiges, freies Selbstbestimmen wirksam wird und objektive Realität erhält. Diese Konstellation ist der Orientierung Kants an der Geometrie und der in mathematischem Denken entspringenden Physik zu verdanken. Letztlich wurzelt seine Rätselfrage demnach in einem Ethos der Gesetzmäßigkeit, wie es die Naturwissenschaften klassischerweise bevorzugen. Das Rätsel der Synthesis stellt sich durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit regelgeleiteter und gesetzmäßiger Bestimmungen der Welt und des Selbst, d. h. der Natur und der Moral. Naturgesetz und Freiheitsgesetz bilden den Rahmen, aus dem wir nicht herausspringen, und zeichnen das Bild, hinter das wir nicht schauen können. Die Synthesis ist das Rätsel, das der Philosophie bleibt und das ihr, solange es als Rätsel ungelöst ist, ihr Auskommen sichert. Im Falle seiner Lösung oder Umwandlung in ein Problem werden Philosophie und Moral überflüssig. Denn dann läge alles vor dem Auge der ErA

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Einführung in die Fragestellung

kenntnis da, Entscheidungen könnten nicht anders getroffen werden, als es von den erkennbaren und unwiderstehlich zwingenden Gesetzen verlangt wird. Die Wissenschaft transformiert das Rätsel in die Probleme der Analyse. Sie zerlegt die Synthesis in ihre Einzelteile, zerstört sie damit und verdrängt das Rätselhafte so, dass es entweder als irrationales Mysterium wiederkehrt oder hinterrücks als Unbewusstes in der Wissenschaft wirksam wird. Die Flucht in statistische Erhebungen und der Hang zu einer Fetischisierung der Messbarkeit zeugen von einem Mangel an Selbstreflexion, der dann eintritt, wenn man sich der Mühe zu entledigen sucht, die beim Umgang mit Rätseln erforderlich ist: das Unbeantwortbare wenngleich nicht zu beantworten, so doch wenigstens in den Horizont einer reflektierten menschlichen Lebenspraxis zu rücken. Umgreift dieser Horizont ausschließlich das Theoretische, Problematisierbare und potenziell Beantwortbare, dann wird diese Lebenspraxis auf das reduziert, was an ihr technisch machbar ist. Praxis wird Technik. Um das zu vermeiden und die Begriffe des Menschen, der Menschheit und der Person vor der Usurpierung durch die alles in Beschlag nehmende naturwissenschaftliche Verfahrensweise zu retten, musste Kant die Welt der Erscheinungen von der Welt der Dinge an sich scharf trennen und so gegeneinander ausspielen und im Verhältnis zu einander austarieren, dass beides möglich war: das Leben des Menschen in der sichtbaren, wirklichen Natur und das Leben des Menschen in der unsichtbaren, aber ebenso wirklichen Freiheit. Die Synthese dieser beiden Gebiete wiederum wurde möglich durch die Funktion der reflektierenden Urteilskraft, das Unbestimmte, das in den nicht mit gesetzmäßigen Erkenntnismitteln aufzuklärenden Erscheinungen der Biologie (die Zweckmäßigkeit der Organismen und der Natur überhaupt) und der Ästhetik (die Zweckmäßigkeit des Schönen in Natur und Kunst) lag, wenigstens für die Selbstreflexion des Menschen bestimmbar zu machen. So kann sich in der Selbstreflexion die Lebendigkeit erhalten, wodurch sie sich von der theoretischen Reflexion qualitativ unterscheidet. Denn Lebendigkeit zeichnet sich ja gerade darin aus, dass zu ihr etwas Unbestimmtes oder Unbestimmbares gehört, während Theorien die Tendenz haben, das Leben dogmatisch zu bestimmen und ihm dabei die Lebendigkeit auszutreiben. Für deren Rettung musste Kant in seiner dritten Kritik die organischen Erscheinungen der Natur, sprich den Gegenstand der Biologie, zu einem Thema eben nicht der bestimmenden, sondern der reflektierenden Urteilskraft 12

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Erkenntnis und Unerkennbarkeit

machen. Ihr obliegt es, das wesentlich Unbestimmte und, wie Kant meint, im Letzten Unbestimmbare wenigstens für den anschauenden Menschen soweit bestimmbar zu machen, dass er für sein eigenes Nachdenken über das, was ihm darüber hinaus ein Rätsel bleibt, Anhaltspunkte gewinnt.

Erkenntnis und Unerkennbarkeit Die Orientierung an der Wissenschaft und ihrem Erfolg war für Kant maßgebend. Bei ihm trat die transzendentale Analytik des Verstandes an die Stelle der alten Ontologie. Nicht mehr das Sein selbst, sondern unsere Erkenntnisart vom Seienden sollte erforscht werden. Allerdings verfolgte er nicht lediglich erkenntnistheoretische Interessen, sondern es war ihm ein Anliegen, das mögliche Wissen einzuschränken, um für das Platz zu bekommen, was er den Glauben nannte. Damit war gemeint, dass immer ein Rest bleibt, von dem wir grundsätzlich (a priori) nichts wissen können, auch wenn das Wissen noch so sehr fortgeschritten und die Erkenntnisse des Menschen über sich selbst und seine Welt ins schier Ungeheure erweitert sind, so wie man es heute der Hirnforschung und der Genbiologie zuschreibt bzw. von ihnen erwartet. Man glaubt die Fragen nach dem Selbstbewusstsein oder der Freiheit – Fragen also, die für Kant noch jenseits möglicher Erkenntnis lagen und auf andere als theoretische Art beantwortet werden mussten – mit ihrer Naturalisierung lösen zu können: die Repräsentation ›mentaler‹ Vorgänge im ›Material‹ des Gehirns und der menschlichen zoë (die vom bios als der Lebensführung zu unterscheiden ist) soll Aufschluss auch über Bedeutungs-, Wert- und Sinnfragen geben. Entweder werden diese als luxuriöse Wucherungen eines überzüchteten Gehirns zum Zwecke der Selbsttäuschung und damit Selbsterhaltung entlarvt, oder das Bild ihres Ausdrucks im Bereich des sichtbar und messbar Physiologischen soll das Geistige ins Materielle auflösen: das Mentale als Wurmfortsatz des Stofflichen erscheint uns nur solange als etwas anderes als Materie, als wir die Myriaden der nervlichen und synaptischen Verknüpfungen nicht durchschauen können. Für Kant war der unerkennbare ›Rest‹ die Welt des Intelligiblen, Übersinnlichen. Notwendig war diese Welt, um dem Wirkungsbereich praktischer Vernunft, dem Moralischen, Platz zu verschaffen, denn die Erweiterung der Theorie über das ihr Mögliche innerhalb der Grenzen A

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Einführung in die Fragestellung

der Erfahrung hinaus usurpiere den Raum, der der moralischen Praxis allein gebühre, und führe zu Schwärmerei und Mystizismus, zur Seuche des Theoretisierens, das die moralische Praxis und die guten Absichten mit falschen Zielen oder Ausreden überlagere. Inzwischen hat sich auch die Moralphilosophie in theoretisch aufgespaltene und angelegte Einzeldisziplinen aufgelöst, einerseits in bestimmte ethische Ansätze, die sich an methodisierbaren oder quantifizierbaren Fragestellungen orientieren, andererseits in sogenannte Bereichs- oder angewandte Ethiken, nicht zuletzt auch in metaethische Reflexionen.

Darstellbarkeit Die Frage nach dem Ganzen, die Kant noch gestellt und mit der Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins (unter den Stichworten des höchsten Guts, der Proportion der Erkenntnisvermögen und des Charakters der Menschengattung) sowie dem Wert der Person (unter dem Stichwort der Würde) systematisch verknüpft hatte, scheint obsolet geworden zu sein. Man überlässt sie Esoterikern, Mystikern oder religiösen Fanatikern. Die aber wissen nicht, wo die Grenze zwischen Theorie und Praxis verläuft und also auch nicht, wie sie so zu verbinden sind, dass das eine nicht unter dem anderen leidet. Grenzbestimmungen sind die Voraussetzung dafür, das Ganze so in den Blick zu bekommen, dass es als Ganzes nicht unter der Beobachtung und Handhabung verschwindet. Das erfordert Sorgfalt darin, den richtigen, der Sache gerecht werdenden Anfang zu machen. Denn irgendein Anfang muss sein. Er muss aber so gesetzt sein, dass er alles aufnehmen kann, was von der Sache selbst gefordert ist. Es war eine der großen Leistungen Kants, einen solchen Anfang zu machen. Seine Revolution der Denkart hatte den Anfang ins Subjekt versetzt statt ins Objekt, und damit konnte er die Leistung der Wissenschaften und die der Moral, von deren Faktizität er ausging, begreifen, mehr noch: er konnte auch noch die Übergänge zwischen den Teilen, die das Ganze allererst zu einem systematischen und damit verständlichen wie nachvollziehbaren Zusammenhang machen, (re)konstruieren, indem er das, was, in den Funktionen der reflektierenden Urteilskraft, sowohl an dem Gang der Wissenschaft als auch an der Forderung der Moral und ihrer Verwirklichung – obzwar nicht Sinn stiftend und garantierend, aber doch ihn anzeigend und symboli14

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Kritische Anthropologie

sierend – teilhatte, identifizieren und zwanglos einzubeziehen vermochte. Der Grundgedanke, durch den ihm dies möglich wurde, war derjenige der Darstellbarkeit. Mit diesem Grundgedanken erläutert er die Funktion der Urteilskraft: »Wenn der Begriff von einem Gegenstande gegeben ist, so besteht das Geschäft der Urteilskraft im Gebrauche desselben zum Erkenntnis in der Darstellung (exhibitio), d. i. darin, dem Begriffe eine korrespondierende Anschauung zur Seite zu stellen […].« 2 Das bedeutet: Was eine Rolle innerhalb des systematischen Zusammenhangs spielt, muss sich durch Darstellung ausweisen können, ob schematisch (Erkenntnis ermöglichend), typisch-nomologisch (Praxis ermöglichend und zwingend vorschreibend) oder symbolisch (die ästhetische und teleologische Betrachtung ermöglichend). Auf diese Weise arbeitete Kant in seiner Systematik genaue Entsprechungen heraus zwischen Elementen der gedanklichen (geistigen, mentalen) Sinngebung und Elementen der anschaulichen (körperlichen, materiellen) Versinnlichung, wozu sowohl Analoga zu direkten Anschauungen als auch indirekt veranschaulichende Symbole gehören können. Damit hat Kant einen systematisierenden Gesichtspunkt bestimmt, der dazu geeignet ist, nicht nur die disparaten Bestandteile des Urteils miteinander zu verbinden, sondern auch noch den Urteilsformen (theoretisch, praktisch, ästhetisch, teleologisch) und den dazu gehörigen Bereichen des Anschauens und Denkens (physische Natur und Mathematik sowie Physik, menschliche Natur und Moral, schöne Natur und Kunst, lebendige Natur und Biologie) ihre Isoliertheit voneinander zu nehmen, so dass am Ende ein teleologisch reflektiertes Selbstverständnis des Urteilssubjekts, des Menschen, steht. Deshalb sollte ja eine kritische Anthropologie das Projekt abschließen.

Kritische Anthropologie In einer solchen Anthropologie müsste nun aber nicht das Urteil, in dem sich die verschiedenen Teile zu einer synthetischen Einheit verknüpfen, sondern das Leben selbst im Zentrum stehen; in der Tat hat Kant dies unter dem Stichwort des Leibes in ersten Schritten versucht. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, A XLVII, B XLIX (Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 19773 , Bd. X, S. 103).

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Einführung in die Fragestellung

Denn es kann dann nicht mehr nur um die naturwissenschaftlich oder anderweitig in Urteilen mehr oder weniger unzureichend vermittelte Erfahrung gehen, sondern um Erfahrung überhaupt, und das ist eine Erfahrung, die das Leben selber mit sich und seiner Stellung in der Welt leiblich macht. 3 Im Urteilen mit seiner Verbindung von Anschauung und Begriff, mal gelingend in zutreffender und d. h. nachvollziehbarer Synthese, mal misslingend in falschen, d. h. sich nicht bewährenden Zusammensetzungen, werden die Verschiedenheiten unter der Bedingung des höchsten, Einheit verbürgenden Punktes, des Urteilssubjekts – bei Kant die transzendentale ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption –, so zusammengeführt, dass sich diese Einheit zugleich ihrer selbst in dieser Funktion bewusst wird und sich damit der Leistung apriorischer Synthesis als tauglich erweist. Im Leben aber geht es gerade nicht vorrangig um das Urteilenkönnen, denn es wehrt sich geradezu mit den Mitteln seiner Lebendigkeit gegen die äußerliche und ihm aufgrund des äußeren Standpunkts nicht gerecht werdende Be- und Verurteilung. Das hat Dilthey in seiner Kritik der historischen Vernunft deutlich gemacht, die die Fesseln der Kritik der reinen urteilenden Vernunft abstreift und die unhintergehbare Position des Darinnenseins im Leben und (sich seiner) Innewerdens gegenüber der sekundären und davon abgeleiteten Fensterguckerposition ausspielt. Im Leben vollzieht sich die Verbindung von Sinnlichem und Sinn überhaupt zu einer Synthese, wie sie in den Erscheinungen des Lebendigen zum Ausdruck kommt, sich darstellt, Bedeutung generiert und sich für Deutungen anbietet. 4 Auch diese Synthese muss Vgl. Kurt Hübner: Leib und Erfahrung in Kants Opus Postumum. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. VII/1953, S. 204–219; S. 205: »Erst im O.P. erfolgt eine Deduktion des Leibes als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung.« 4 Martin Asiáin (Sinn als Ausdruck des Lebendigen. Medialität des Subjekts – Richard Hönigswald, Maurice Merleau-Ponty und Helmuth Plessner, Würzburg 2006) rekonstruiert im Anschluss an die im Untertitel genannten Autoren die Stufen des Sinns in Entsprechung zu den Stufen des Organischen und legt den Sinn überhaupt als Ausdruck des Lebendigen selbst frei (wobei er leider die Arbeiten von Adolf Portmann übersieht). Er baut dabei eine Systematik auf (vgl. die Tabelle S. 363), die vom offenen über den geschlossenen und zentrischen zum exzentrischen Sinn führt (und parallel dazu die Sinnesmodi des Sinns, der Bedeutung, der Geltung und des Werts enthält). Es sind Stufen der Reflexivität des Lebendigen. Die Systematik wird detailreich entwickelt und begründet. Es fehlt aber trotz oder gerade wegen der ausgeklügelten Subtilität eine Position, wie sie in Kants Heautonomie und Plessners Freiheit gegenüber dem System 3

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Kritische Anthropologie

nachvollziehbar, d. h. erlebbar sein; die Bedingung ihrer Möglichkeit ist, wie beim Urteilen, eine ursprünglich-synthetische Einheit, die wiederum Verschiedenes umfasst. Es ist die Einheit des organischen Körpers, der sich selbst begrenzt und deshalb in zwei Entwicklungsschritten weiter differenziert. Denn als Konsequenz dieser spezifischen Art der Grenze, welche im Unterschied zum Anorganischen dem Körper so angehört, dass er als lebendig erscheint5 , kann sich der Leib als fungierendes, die lebendige Beweglichkeit zündendes Moment eigens vom zum Ausdruck kommt. Diese Art von systematischer Ausarbeitung lässt nicht den freien Spielraum, den das Lebendige braucht, um gegenüber der theoretischen Bestimmung durch den Betrachter, Urteilenden, Gelehrten seine konstitutive Unbestimmtheit zu wahren – ein Spielraum, der in der Lebenspraxis selbst für jeden anschaulich werden kann, sich aber nicht in ein begrifflich-systematisches Korsett zwingen lässt. Das Moment der Gebrochenheit, wie es etwa in Scham und Würde je verschieden zur Erscheinung kommt bzw. das Erscheinen überhaupt bedingt, ist dem Bestreben, alle Nenner gleichnamig zu machen, zum Opfer gefallen. Dennoch ist diese Studie wegweisend für die philosophische Suche nach Sinn; sie verzichtet auf die üblich gewordenen überblicksartigen Zusammenfassungen oder Paraphrasierungen, hält sich abseits der ausgetretenen sprachanalytischen Pfade und ist wohl auch aus diesem Grund kaum rezipiert worden, auch nicht in sorgfältig ausgearbeiteten Büchern a) zur Thematik des Sinns, von denen folgende genannt seien: Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinn (Berlin, Boston 2011); Oswald Schwemmer: Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, München 2011 (bes. 7. Kap.: Das Sein von Sinn, S. 139–145); Emil Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (Tübingen 2010); Christian Thies: Der Sinn der Sinnfrage. Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage (Freiburg, München 2008) – b) zur Thematik der Artikulation, hier vor allem: Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin, New York 2009; (zeitgleich mit Asiáin) 2006 Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006. Beide Autoren lassen ihre Erörterungen in eine Ethik des Ausdrucks bzw. der Artikulation münden, was in der Tat angesichts der universalen und auf Anerkennung angelegten reziproken Struktur der Expressivität naheliegt. Noch schärfer aus dem Prinzip der Lebendigkeit heraus erarbeitet eine solche Ethik Elisabeth List: Ethik des Lebendigen, Weilerswist 2009; sie orientiert sich dabei an dem Zusammenhang zwischen Freiheit und Begrenztheit, Leben und Tod (vgl. ebd., S. 187 f.). Vgl. grundsätzlich zum möglichen Zusammenhang zwischen einer Ontologie bzw. philosophischen Biologie und Ethik Hans Jonas: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, hier bes. das 12. Kapitel und der Epilog (S. 373 ff.). Das ethische Moment in der synthetischen Struktur zum einen von Sinnlichem und Sinngebung, zum anderen von Leben und Tod, wird in der vorliegenden Arbeit noch zur Sprache kommen. 5 Vgl. dazu Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften (1928), Bd. IV. Plessner wird im Folgenden zitiert nach: Gesammelte Schriften. Hg. v. Günter Dux, Odo Marquard, Elisabeth Ströker, Bände I bis X, Frankfurt a. M. 1980 ff. A

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Einführung in die Fragestellung

Körper abheben, obwohl er doch nichts anderes ist als das, was der Körper stofflich anbietet. Beim menschlichen Organismus setzen sich Körper und Leib überdies in ein Verhältnis, das ihn dazu auffordert, »in seine eigene Instrumentalisierung hineinwachsen« und, wiederum in Unterscheidung dazu, »ein Selbst werden« 6 zu sollen, welches dazu tendiert, sich vom Stofflichen zu lösen. In einem solchen Gefüge ist das körperliche Material, das eigene und das fremde, in seiner Wahrnehmbarkeit zugleich mit Bedeutung und Sinn aufgeladen und kann gedeutet werden. Das ist der Grund für die Möglichkeit einer Hermeneutik des Organischen, wie sie Plessner vorgelegt hat, und für alle Deutungen von Naturerscheinungen jeglicher Art, wie sie nicht nur in der Einstellung des kindlichen und archaischen Animismus, sondern auch mit dem so genannten Alltagsverstand und seinem Hang zur Symbolik und Metaphorik mannigfaltig vorgenommen werden; und auch hier werden die Verschiedenheiten unter der Bedingung des höchsten, Einheit gewährenden Punktes, des stofflich gebundenen, als Körper präsenten und im Körper repräsentierten, nach Befreiung vom bloßen Material strebenden menschlichen Selbst, in welchem das Leben seine Reflexion vorantreibt (und ob vorläufig oder abschließend darin gipfelt, können wir nicht wissen), so zusammengeführt, dass sich diese Einheit zugleich ihrer selbst in dieser Funktion bewusst wird und sich damit der Leistung apriorischer Synthesis als tauglich erweist. Allerdings ist das Apriori der Lebendigkeit, die im Menschen selbstreflexiv wird, so in sich gebrochen, dass die ursprünglich-synthetische Einheit weder bloß apperzeptiv im kantischen Sinne noch identitätslogisch im Sinne der einen Substanz oder des einen Prinzips und dergleichen mehr zu verstehen ist, sondern als Hiatus zwischen Körper und Leib sowie zwischen den intern damit verknüpften Momenten der menschlichen Lebendigkeit. Diese Struktur ist weder dualistisch noch monistisch zu verstehen; sie lässt sich mit Plessner als »›Hiatusgesetzlichkeit‹« 7 des Lebens bezeichnen. In letzter Konsequenz zeichnet sie auch die Form des philosophischen Zugangs überhaupt, d. h. die (synthetische) Form der Auffassung vor. 8 »Das ZuPlessner: Der Mensch als Lebewesen, 1967, VIII, S. 314–327, hier S. 322. Vgl. zum Konzept des leiblich fundierten Selbst Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, hg. v. Regula Giuliani, Frankfurt a. M. 2000. 7 Plessner: Stufen, IV, S. 208. 8 Aus diesem Grund wird die hiatusgesetzliche Struktur im Folgenden noch mehrfach von Bedeutung sein. 6

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Gebrochenheit

sammen von Leib und Körper als Verschränkung«9 geht nicht nur in alles menschliche Anschauen, Erleben und Erfahren ein, sondern strukturiert das Verhältnis von Selbst und Welt ebenso streng hiatusgesetzlich, wie es, an die Grenzen der menschlichen Existenz rührend, die Aufeinanderbezogenheit von Leben und Tod tut.

Gebrochenheit So ist die in lebendigen Vollzügen zur Erscheinung kommende und die Erscheinungen in Aussehen, Darbietung, Ausdruckskraft, Bedeutungsgehalt, auch in ihrer Auslöserqualität und Anmutung, jeweils und je nach Modus unterschiedlich bestimmende Verbindung von Sinnlichkeit und Sinn anders zu beschreiben als die von Anschauung und Begriff in der transzendentalen Deduktion Kants. Sowohl darin, wie sie zur Anschauung kommt, als auch darin, wie sie aufgefasst wird, ist diese Synthesis gekennzeichnet von den Brüchen, welche der Mensch im Zuge seiner Versuche, die auseinanderdriftenden Kräfte seiner Existenz (theoria und pragma, Begehren und Vernunft, Wollen und Sollen usw.) zu integrieren und nicht bloß eine Einheit in der unüberschaubaren Vielfalt der ›Dinge‹, sondern auch seine ›Identität‹ zu finden – nicht bloß die Welt zu ordnen, sondern auch sich selbst als Selbst zu bestimmen –, vorrangig als pathische Momente seines Daseins erlebt. Das drängt sich ihm spürbar dann auf, wenn ihm die Kontrolle über die Tätigkeit des Bestimmens und Selbstbestimmens entgleitet und sich die Kluft zwischen Körper und Leib als oft genug schmerzliche Unterbrechung des lebendigen Vollzugs auftut. Auch dafür muss es eine Anschauung geben, die mit der für das menschliche Selbst typischen, auf Verstehen und Selbstverstehen gerichteten Auffassung korreliert. Das ist, auf den ersten Blick überraschend oder gar abstrus, die Erscheinung akuter Scham. Die dem Schamaffekt zugrundeliegende Schamhaftigkeit oder Scheu hat eine zentrale Bedeutung für das menschliche Selbstkonzept – als paradoxe Bedingung seiner Möglichkeit. Diese Bedingung muss ihrerseits nicht anschaulich werden, so wie auch, folgt man Kant, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung bzw. Erkenntnis selbst nicht erscheinen; allerdings liegen sie den ErscheinunPlessner: Zur Frage der Vergleichbarkeit tierischen und menschlichen Verhaltens (1965). VIII, S. 284–293, hier S. 291.

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gen notwendig zugrunde. Die nicht bloß marginale, sondern für die Selbstauffassung konstitutive Bedeutung der Schamhaftigkeit geht auch aus einschlägigen Theorien der psychischen Ontogenese hervor, der Entwicklung eines Selbst- und Körperbildes sowie des Verhältnisses, das das Ich zu den Anderen, zu sich selbst und, phylogenetischkulturell wie individuell in mannigfaltigen Formen, zu einer höheren Macht einzugehen gezwungen ist, zu dem, was, in der phänomenologischen Religionswissenschaft als das Numinose bezeichnet, unvergleichlich größer ist als es selbst. 10 Der Begriff davon mag sich wandeln, es ›verkörpert‹ sich aber im Tod als der unbezwingbaren Macht über das eigene Leben, vor der man nichts (mehr) ist. Es gibt ein erstaunliches Zeugnis von Ludwig Wittgenstein, das diese Sachlage nicht bloß illustriert, sondern deren wesentliche Struktur erhellt. In seinen Tagebüchern berichtet er von einem Traum, in dem sich seine Selbstauffassung mit ihrer zwischen Selbsterhöhung und Selbstabwertung schwankenden selbstquälerischen Tendenz verdichtet. Seine Schwester habe ihm ob seines überlegenen Geistes geschmeichelt, und er habe sich stolz gefreut, was sich darin äußerte, dass er die im Vergleich zu ihm weniger gescheiten Menschen, auf die sich seine Schwester bezog, künstlich lobend zu erhöhen suchte. Dann aber träumt er von Gott, der alles von ihm verlangen könne, was er wolle, und wenn er ungehorsam sei, würde sein Leben sinnlos. »Darauf erwachte ich und schämte mich meiner Eitelkeit und Gemeinheit […]. Ich empfand auf einmal meine völlige Nichtigkeit […].« 11 WittgenGünther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München, Nachdruck der 7. Aufl., 1992) hat in seiner luziden Art unter dem Stichwort der prometheischen Scham den Übergang der Scheu gegenüber einer Instanz, die das Individuum mit ihrer Macht und Überlegenheit (bei Anders die technische Gerätewelt) zu einem »›Niemand‹« (S. 331) herabsetzt, zur Scham vor dieser Instanz herausgearbeitet. Es ist die Scham dessen, der sich frei dünkt und die Freiheit verloren hat, so dass der Selbstbezug scheitert und der Sichschämende (eben der Mensch) irritiert, desorientiert, in seiner »Selbst-Identifizierung« (S. 66) verstört ist. Diese im Folgenden weiter zu thematisierende Paradoxie des Selbst zwischen Geltung und Nichtigung, die fundamentale Zweideutigkeit des Selbst, kulminiert in der Scham. »Aufs Zweideutigste ist er also zugleich er selbst und nicht er selbst […]« (S. 71), und die Formel der Scham lautet: »nichts dagegen tun können, daß man nichts dafür kann« (S. 70), d. h. weder seiner Ohnmacht Herr werden zu können noch überhaupt Macht zu haben über das, was man selbst zu sein und tun zu können glaubt. 11 Ludwig Wittgenstein: Licht und Schatten. Ein nächtliches (Traum-)Erlebnis und ein Brief-Fragment, hg. von Ilse Somavilla, Innsbruck, Wien 2004, S. 20 (Tagebuch-Eintrag vom 13. 01. 1922). 10

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Gebrochenheit

stein fasst zusammen: »Wie gesagt habe ich heute Nacht meine völlige Nichtigkeit eingesehen.« 12 Die Stellung jedes menschlichen Individuums zwischen diesen beiden extremen Polen der (absoluten) Nichtigkeit und der (absoluten) Geltung muss nicht bei jedem Menschen so scharf und klar zum Ausdruck kommen, sie grundiert aber, gerade mit der existenziellen Verunsicherung, die sie auslösen kann, die Menschenwelt mit ihren Erscheinungen in Ausdruck, Darstellung, Verhalten und Handeln, und sie verweist auf die paradoxe Wurzel ihres Erscheinens. Die entscheidenden Ingredienzen sind in Wittgensteins Erlebnisbericht versammelt: der (hybride) Stolz auf sich selbst, der Fall ins Nichts, die Scham über sich vor einer Instanz, die unvergleichlich mächtiger ist und in einer unerreichbaren Ferne steht; in Wittgensteins Fall ist es Gott, es kann aber auch etwas anderes sein, etwa die (z. B. bei Durkheim auch als numinos bzw. heilig ausgezeichnete 13 ) Person als eine von moralischen Werten überzeugte und bestimmte, die man zu verkörpern glaubte und plötzlich selbst durch das eigene Wollen oder Tun vernichtet hat. In Plessners Anthropologie erhält die Schamhaftigkeit (als Gefühl der eigenen Nichtigkeit und Vertretbarkeit) geradezu einen ontologischen Status und steht, zusammen mit dem Verlangen nach Geltung und dem daraus resultierenden Stolz (als Gefühl der eigenen Unvertretbarkeit), für die fundamentale ontologische Zweideutigkeit der menschlichen Stellung 14 . Ähnlich ist es bei Simmel, für den die Scheu insofern ontologisch ausgezeichnet ist, als sie den Grundton der Relation des Menschen zu den anderen, zu sich selbst und zur Welt anschlägt, sowohl im Modus der respektvollen Zurückhaltung als auch in dem von respektlosen Bemächtigungsgesten, deren vermeintliche Selbstgewissheit sich letztlich aus einer Illusion speist, weil sie der Eigenheit des oder der Überwältigten nicht gewahr wird 15 . So sind Scham und Scheu Voraussetzungen dafür, dass überhaupt erst Selbsterkenntnis und Selbstverstehen möglich werden. Werden sie aus irgendeinem Grunde überspielt, nicht zugelassen oder antagonisiert, bleibt eine solche Negation dennoch an die SelbstverständigungsverEbd., S. 21. Vgl. Emile Durkheim: Soziologie und Philosophie, Frankfurt a. M. 19963 , S. 86 ff. 14 Vgl. Plessner: Stufen, IV, Siebentes Kapitel: Die Sphäre des Menschen, hier S. 422 f. 15 Vgl. Georg Simmel: Die Mode. In: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur (Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 14), hg. v. Rüdiger Kramme u. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1996, S. 186–218, hier S. 206 f. u. 211. 12 13

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Einführung in die Fragestellung

suche gebunden und das Selbstverständnis einem phantasierten Gebilde verhaftet. Scham und Scheu zeigen als Bezeichnungen für ein zwar nicht notwendigerweise explizit werdendes, aber offensichtlich wesentliches, konstitutives Moment der menschlichen Daseinsform zum einen die inhaltliche Richtung an, in der die ursprüngliche synthetische Verbindung, die in das Bild dieser Daseinsform eingeht, anzusiedeln ist. Zum anderen geben sie einen Hinweis auf die antinomische Struktur dieser Verbindung. Es ist ja das Kennzeichen ursprünglich-synthetischer Einheit, dass sie polar aufeinander bezogene Momente in sich birgt, die analytisch nur als nicht zu vereinbarende und unbegreifliche Widersprüche bestimmt werden können. 16 Das gilt auch für die Synthesis in Kants Systematik; das transzendentalkritische Verfahren dient dazu, die Widersprüche zu begreifen und zu überwinden.

Der Fortgang der Untersuchung Jeder Versuch, die Richtung nach der Sinnfrage einzuschlagen und systematisch-selbstreflexiv auszuarbeiten, ist, wie schon Kant in seinen drei Kritiken, auf die Korrelation von Anschauung und Auffassung angewiesen. Dem wird im Folgenden Rechnung getragen. Zunächst wird die Struktur der Zweideutigkeit, Ambivalenz oder Gebrochenheit aufgewiesen, wie sie sich anschaulich und mehrdimensional in der Erscheinung der Scham zeigt (II). Dann wird der Anschluss an den Kritizismus Kants hergestellt, um auf einer erweiterten Erfahrungsbasis (III) die symbolische Funktion von Scham und Würde anthropologischsystematisch in der rechten Weise auffassen und verstehen (IV) sowie davon ausgehend das menschliche Selbstverstehen durch die nähere Beschreibung der Verbindung von Sinnlichem und Sinngebung in den Leibessynthesen vertiefen zu können (V), was in eine aus der Sache selbst hervorgehende Betrachtung der Leibessynthese von Leben und Vgl. zu dieser Grundstruktur neben Kant (in der Kritik der reinen Vernunft) Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, GA 14, S. 385–416, hier S. 397 f.). Er unterscheidet klar die nachträgliche Synthese analytisch getrennter Elemente von der ursprünglichen Einheit z. B. »des Subjektiven und Objektiven, die sich erst auseinanderlegen muß, um […] in ganz anderer, synthetischer Form gewissermaßen zu erstehen« (ebd., S. 398). Simmel versucht in seinen Schriften immer wieder, solche ursprünglichsynthetische Einheiten im Nachvollzug zu beschreiben.

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Der Fortgang der Untersuchung

Tod mündet (VI). Zum Schluss (VII) werden einige Antinomien rekapituliert, die einen Bezug zur Möglichkeit der Scham aufweisen und den Sinn der Paradoxie menschlichen Daseins anzeigen. Was mit dem Wort ›Scham‹ bezeichnet wird, hat unzählige Nuancen und Facetten. Jeder Versuch einer philosophisch-systematischen Arbeit mit solchen Phänomenen tut gut daran, sich an das Vollbild zu halten, von dem alle Varianten lediglich fragmentarische, situativ und psychisch bedingte Schattierungen sind. Das Vollbild mag zwar selten zur Erscheinung kommen und, wenn es erscheint, aus unterschiedlichen Gründen – fehlende Empfindsamkeit, Tendenzen des Verbergens, mangelnde Erfahrung usw. – nicht ohne Weiteres als solches wahrgenommen werden; es allein kann aber dazu dienen, das Wesentliche des Phänomens ergründen zu können. 17 Es geht also um die Möglichkeit eines Erlebens, dessen Realität jeder kennt, der sich einmal ›zu Tode geschämt hat‹, eines Sichschämens ›bis auf den Tod‹, einer Schamhaftigkeit auch, aufgrund derer man eher das Leben hinzugeben bereit ist als die Scheu hinter sich zu lassen, die von bestimmten (auch heimlich begangenen) Taten, Verhaltensweisen oder Symbolisierungen abhält, ungeachtet dessen, dass sie der Mensch dennoch, die scheue Haltung dementierend, und wohl gerade aus der merkwürdigen Verstricktheit in seine zweideutige Lage heraus, zu begehen imstande ist und möglicherweise auch deshalb begeht, um sich der tiefen Scham nicht stellen zu müssen.

Vgl. damit die Verfahrensweise von Plessner, wenn er die Grenzen des menschlichen Verhaltens an den Beispielen des Lachens und Weinens untersucht, und zwar an den Vollbildern ihres möglichen Erscheinens, wenn wir uns vor Lachen schütteln oder weinend in Tränen auflösen (Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, VII, S. 201–388).

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II. Die Erscheinung der Scham

Im Zwielicht der Scham Das Bild der Scham ist ein Signum der tiefen Paradoxie, in der der Mensch zu leben hat. Die antinomische Struktur der menschlichen Lebendigkeit lässt sich mit der Differenzierung von Körper und Leib so nachvollziehen, dass der Widerspruch nicht als solcher stehenbleibt, sondern theoretisch in der richtigen Unterscheidung, praktisch im Vollzug ›aufgelöst‹ werden kann, und viel mehr noch: die Körper-LeibDifferenzierung erweist sich überhaupt als notwendige Bedingung der Möglichkeit des Vollzugs. Ohne sie, deren Notwendigkeit für das spezifische Erscheinen des Menschen zu begründen sein wird, scheitert eine Hermeneutik des menschlichen Selbst. Zunächst aber stellt sich hier die kritische Frage nach der Möglichkeit von Selbsterkenntnis überhaupt: Bedeutet die unter kritizistischen und hermeneutischen Gesichtspunkten zu rekonstruierende Richtung steigender Bewusstheit und zunehmender Souveränität auch Selbsterkenntnis, wenn es zugleich, im Ausdruck der Scham, einen Modus des Erscheinens und Darstellens gibt, der gerade nicht der Kontrolle dessen unterliegt, der da erscheint? Kant hat diese Möglichkeit der Selbsterkenntnis verneint. Das Erkenntnisproblem hat er durch das Vermögen der Synthesis und in dessen Nachvollzug zu erläutern und zu klären versucht. Der höchste Punkt der Synthesis – die transzendentale Einheit der Apperzeption, das Ich – kann aber selber nicht objektiviert, d. h. nicht selbst wiederum so synthetisiert werden, dass er als das allen synthetischen Akten Zugrundeliegende zum Inhalt einer Erkenntnis werde; er ist, gleichsam als blinder Fleck, lediglich Grundvoraussetzung aller Synthesen und mag zwar in »der besonderen Art«, wie er »das Mannigfaltige« verbindet, sich selbst erscheinen (und das auch nicht äußerlich, sondern »in der inneren Anschauung« 1 , also zeit1

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Im Zwielicht der Scham

lich bedingt und deshalb vornehmlich historisch, wie Dilthey es ausgearbeitet hat 2 ), nicht aber als Aktzentrum selbst, so dass Kants Schlussfolgerung lautet: »[…] so ist zwar mein eigenes Dasein nicht Erscheinung (vielweniger bloßer Schein), aber die Bestimmung meines Daseins kann nur der Form des inneren Sinnes gemäß […] geschehen, und ich habe also demnach keine Erkenntnis von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine. Das Bewusstsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst« 3 . Ich bin mir lediglich bewusst, »dass ich bin« 4 , mein Erscheinen resultiert nur aus der Bestimmung meines Daseins durch die vollzogenen Synthesen, durch mein Tun also, nicht aber das Ich selbst ist es, das in der Erscheinung zur Anschauung gelangt. Das ist konsequent kritisch gedacht, und diese Selbstbegrenzung sollte nicht grundlos aufgegeben werden. Man fällt hinter Kant zurück, wenn man vom Fortschreiten der Bewusstheit über das eigene Tun sogleich auf eine gelungene Selbsterkenntnis schließt, wenn also historische Einsichten dazu verleiten, Selbstbeschreibungen des Menschen zu unumstößlichen Erkenntnissen umzufunktionieren. Nun gerät aber das Subjekt in der akuten Scham sich selbst in den Blick, und das auch inhaltlich (je nach Anlass verschieden). Was also zeigt sich im Erscheinen der Scham, etwa in der Schamröte, wenn diese ein Exempel menschlicher Selbstoffenbarung ist und das Bewusstsein, ja den ganzen Körperleib durchflutet? Weshalb ist es gerade die Scham, die sich dann äußert, wenn das Subjekt auf sich selbst gestoßen wird, und zwar in Situationen, in denen es zugleich die Kontrolle über die Verwendung willkürlicher, bewusst gesetzter Zeichen und damit über sich selbst verliert? Das Erröten zeigt den sich schämenden Menschen, der ganz ausgefüllt ist mit diesem Affekt, und dessen Welt. Was bedeutet das für den Menschen und seine Welt, wenn er sich körperlich-sinnlich in einer Weise zur Erscheinung bringt, die er eher vermeiden statt initiieren möchte, geschweige denn gestalten kann? Anders gefragt: Wie müssen ein Lebewesen und seine Welt beschaffen sein, damit Vermeidungsstrategien notwendig werden, die, um Cassirers Worte zu verwenden, in künstlicher Symbolik (der habi-

Vgl. z. B. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1981 (Gesammelte Schriften 7, hg. v. Bernhard Groethuysen, Stuttgart 19928 ). 3 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 157 f. (Werkausgabe Bd. III, S. 152 f.). 4 Ebd., B 157 (S. 152). 2

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tualisierten Mimik und Gestik) die zugrunde liegende natürliche Symbolik (der vegetativ-physiologischen Vorgänge) gerade verdecken sollen? Es liegt nahe, das Faktum des Schamaffekts und seiner Vermeidung oder Umgehung durch allerlei kulturspezifische Verhaltensweisen in einem Zusammenhang mit dem blinden Fleck der Selbsterkenntnis zu sehen. Trotz der kritischen Selbstbegrenzung in der Frage möglicher Erkenntnis des Aktzentrums scheint es mit dem Phänomen der akuten Scham eine Anschauung zu geben, die mit diesem, allem Tun zugrunde liegenden Aktzentrum in irgendeiner, näher zu bestimmenden Weise korreliert. Eine kritisch rekonstruierte oder konstruierte Systematik muss sich an der Erfahrung bewähren können; deren Möglichkeit muss begründet und ihre wirklichen Erscheinungsformen müssen verstanden werden können. Die Systematik kann sich in ihrer interpretativen und begründenden Kraft besonders an jenen Phänomenen der Erfahrung des Menschen mit sich selbst messen, die ihn an seine Grenzen stoßen und die Ränder seines Daseins abtasten lassen, an denen es dunkel wird. Diese Phänomene lassen sich nicht in dualistischer Manier einer Seite der produktiven Einbildungskraft, d. h. des Gefüges von Sinnlichkeit und Sinngebung, zuschlagen, also weder in naturalistischer noch spiritualistischer Perspektive verstehen und schon gar nicht auflösen. Das Dunkel, das den Menschen umgibt und über die Ränder in die Mitte zu dringen droht (in Atmosphären der Verzweiflung, Resignation und des ennui besonders spürbar werdend, aber auch in Formen der Bewältigung wie der Religion oder der Verdrängung wie des Suchtverhaltens eingehend), ist wohl der härteste Probierstein für jeden philosophischen Entwurf, der sich nicht lediglich den Einzelwissenschaften und ihren Erfolgen nachträglich anschließen, sondern einen primären Zugang zu den Fragen, Rätseln und Phänomenen der menschlichen Existenz gewinnen will. Die Scham ist eines jener Alltagsphänomene, an welchen die Unhaltbarkeit dualistisch vorgeprägter Deutungsmuster mit einseitig dominierten Zugängen zu vieldeutigen Phänomenen besonders ins Auge fällt: eine Auffassung der Scham als bloß körperliches oder rein geistiges Phänomen muss misslingen. Schon das Phänomen in seiner Anschaulichkeit selbst zeigt, dass beide einseitig fundamentalisierten Zugänge hier nicht möglich sind: ein körperlicher Vorgang und, etwa in der moralischen Scham, ein geistiges bzw. kognitives Motiv verbinden sich so, dass die Erscheinung des Schamausdrucks möglich wird. Ohne eine vorgängige ursprünglich26

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synthetische Einheit ist diese dualistisch unbegreifliche Verbindung weder vollziehbar noch nachvollziehbar. Jede Synthesis dieser Art gründet aber auf einem »›Aktus der Selbsttätigkeit‹« 5 ; das scheint auf die Scham aber gerade nicht zutreffen zu können, obwohl sie doch in ihrer Verbindung zweier Momente zu den synthetischen ›Akten‹ bzw. passiven Synthesen gezählt werden muss und als Synthese einen »ursprünglichen Akt des Vorzeichnens in sich schließt« 6 . Es wird nachzuweisen sein, dass es das körperleibliche Selbst ist, das sowohl übermannt wird als auch in seiner eigenen Vorzeichnung Platz lässt für gerade diese Art von Überwältigung, ohne deren Möglichkeit es gar nicht selbst sein könnte. 7 Wie also verhalten sich Selbsttätigkeit und reine Passivität des Ausgeliefertseins an den Affekt im Schamausdruck? Autoren wie Darwin, Scheler, Sartre und Simmel haben das Phänomen der Scham näher betrachtet, dessen merkwürdige Ambivalenz beschrieben und dabei unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten, die in den Kern der oben gestellten Fragen und damit in die Richtung der nachzuvollziehenden Synthesis führen. Die Ambivalenz von Zeigen und Verbergen in der Scham drängt sich dem Beobachter wie dem Betroffenen geradezu auf, und es ist die verwerfliche Kunst der gezielten Beschämung, in böser Absicht damit zu spielen. Andere Zwei- oder Mehrdeutigkeiten mit psychischem oder sozialem Schwerpunkt erhalten ihre Färbung von dieser Ambivalenz.

Ernst Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt. In: Ernst Wolfgang Orth, John Michael Krois (Hg.): Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, Hamburg 19952 , S. 121–140, hier S. 122; Cassirer verwendet hier Kants Bezeichnung der Synthesis in der Kritik der reinen Vernunft, B 130 (Werkausgabe Bd. III, S. 135), wo es heißt, dass »unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die […] nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist.« Das gilt auch für den Vollzug jeglicher Verbindung von Sinnlichem und Sinngebung im Leben. 6 Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, 19952 , S. 122. 7 Vgl. zu dieser vorprädikativ aufweisbaren, nicht-propositionalen Sinn-Struktur u. a. des Selbstseinkönnens den Sammelband von Hans-Dieter Gondek, Tobias Nikolaus Klass, László Tengelyi (Hg.): Phänomenologie der Sinnereignisse, München 2011, hier bes. Thomas Fuchs: Leibliche Sinnimplikate, S. 291–305; Rolf Kühn: Trauma und Tod als Lebensbezug. Radikale Phänomenologie und Patho-genese, S. 306–323. 5

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Zeigen und Verbergen Der gängigste Ausdruck der Scham ist das Erröten, aber auch das Erbleichen ist bekannt 8 . Die Verfärbung legt sich unfreiwillig auf das Gesicht. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass es sich damit maskiert 9 , und zwar dann, wenn das Erröten der Verhüllung dienen würde, aber gerade im Gegensatz dazu stellt es zur Schau, was im Verborgenen bleiben sollte. Andererseits dienen auch Masken nicht bloß der Verhüllung, sondern zeigen etwas, sei es, als dem Gesicht aufgesetzter Gegenstand, etwa den göttlichen Helden, einen Dämon oder eine Figur der Commedia dell’arte, sei es, als kontrollierte Mimik, ein Befinden oder eine gespielte oder auch vorgetäuschte Haltung. Aber ein solches Zeigen ist beabsichtigt und unterliegt der Kontrolle des Maskenträgers, es sei denn, er geht, wie der Schamane, in der Figur der Maske auf und gerät in den Zustand der Trance. Das Zeigen der Scham ist unbeabsichtigt und unkontrollierbar. Sich schämen bedeutet, sich verbergen zu wollen, am liebsten im Erdboden zu versinken. Der Ausdruck der Scham enthüllt, wo doch gerade die Hülle ersehnt wird. Das Erröten oder Erbleichen wirkt wie die Entkleidung des Körpers vor unbefugten Blicken, und umgekehrt kann die Bekleidung 10 , inklusive der Maskierung des Gesichts, vor der Scham schützen. 11 Allerdings gibt es auch die gespielte Scham. Zu verschämten Blicken findet die Kokette mit voller Absicht. 12 Das Erröten aber lässt sich Vgl. Talmud. Ausgewählt, übersetzt u. eingeleitet v. Reinhold Maier, München 1999, Bawa mezia 58 b, S. 508. 9 Léon Wurmser (Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin, Heidelberg, New York 19983 ) spricht hier in der Tat von »Maskierungen« (ebd., S. 302): Scham kann »als Deckaffekt« (vgl. ebd., S. 40) tiefer reichende Verletzungen verbergen, und umgekehrt können sich Schamgefühle »in mancherlei Verkleidungen« (ebd., S. 7) präsentieren. Wurmser schildert viele Beispiele für die Überzeichnung aller Lebensbezüge durch die Scham und das, womit deren bloß vegetative Reaktion aktiv überhöht und verdeckt werden soll. Er zeigt, dass tiefe Scham übergehen kann in vielfältige Formen psychopathologischer Symptome, wobei in der Regel ein traumatisch bedingtes »Gefühl des Liebesunwertes« (ebd., S. 302) zugrunde liegt. Auch das ist ein Indiz für die Dialektik von Zeigen und Verbergen. Zur Verwandtschaft von Maske und Scham vgl. Hans-Thies Lehmann: Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug der Darstellung, in: Merkur 1991, S. 824–839, hier S. 824. 10 Vgl. Genesis, 1 Mose 3, 1–11. 11 Vgl. Georg Simmel: Die Mode. In: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur (GA 14), Frankfurt a. M. 1996, S. 186–218, hier S. 206. 12 Vgl. Simmel: Die Koketterie. In: ebd., S. 256–277. 8

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Aufmerksamkeit und Selbstaufmerksamkeit in der Scham (Darwin)

nicht mimen 13 . Eine Expression, die völlig unkontrollierbar ist und sich jeder darstellerischen Gestaltung entzieht, ist für den Gedanken der Selbstbestimmung ein Skandalon. Der Vorgang deutet auf Unwägbarkeiten des menschlichen Daseins, in welchen sich der oben benannte Widerspruch im Verhältnis von Selbsttätigkeit im synthetischen Akt und Passivität in der Scham dokumentiert. Scham ist eines der deutlichsten Signale für die fundamentale und auf die Spitze getriebene Zweideutigkeit des Menschen, denn sie gibt preis, was er verstecken, sie zeigt unbarmherzig, wovon er jeden Hinweis vermeiden wollte, und sie zerrt ans Licht, was er gerne im Dunkel belassen hätte. Scham ist eine Maske, die nichts verbirgt, in einer Situation, wo das Verlangen nach einer Maske, die alles verbergen sollte, übermächtig wird. In der akuten Scham ist das Gesicht nackt und schutzlos. Masken sind nur da nötig und entstehen nur da, wo es ein Gesehenwerden und Entdecktwerden gibt, das vom Erblickten wahrgenommen wird – wo es den Anderen gibt und mich und die Beziehung zwischen uns 14 . Es ist die interne Beziehung von ›Ich‹, ›Du‹ und ›Zwischen‹ – von Buber in das dialogische Prinzip gefasst 15 –, die neben dem Verlangen nach wechselseitiger Anerkennung und Bestätigung auch den Affekt der Scham generiert und ihn noch steigert, wenn es zur moralischen Scham kommt, also zu einer körperlich repräsentierten, spürbaren Reaktion auf Verfehlungen, die von Anderen und von einem selbst moralisch beurteilt werden.

Aufmerksamkeit und Selbstaufmerksamkeit in der Scham (Darwin) Schon Darwin hat die Schamröte als eine aus geistigen Ursachen hervorgehende körperliche Reaktion bewertet 16 und insofern eine interne Verbindung von Körper und Geist vorausgesetzt. Der entscheidende Faktor für diese Verbindung ist für Darwin die besondere AufmerkVgl. Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Kritische Edition v. Paul Ekman, übers. v. Julius Victor Carus u. Ulrich Enderwitz, Frankfurt a. M. 2000, S. 347 f. 14 Vgl. Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004, S. 56; vgl. Darwins »Rekapitulation«, 2000, S. 383 ff. 15 Vgl. Martin Buber: Das dialogische Prinzip. Gerlingen 19947 . 16 Vgl. Darwin 2000, S. 347: »Es ist der Geist, welcher affiziert sein muss.« 13

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samkeit, die andere auf das Schamsubjekt richten, dessen Selbstaufmerksamkeit und »Selbstbeachtung« 17 dadurch provoziert werden und ein so hohes Maß erreichen, dass ein Einfluss auf die physiologischen Vorgänge möglich wird 18 . Darwin stellt fest, dass »Aufmerksamkeit oder Bewusstwerden […], auf beinahe jeden Teil des Körpers concentrirt, irgend eine gewisse directe physikalische Einwirkung auf denselben hervorruft« 19 . Er hat die moralische Scham evolutionär als sekundäre Folge aus der ursprünglichen Körperscham abgeleitet, ohne darin aber einen evolutionären Vorteil sehen zu können 20 . Die Aufmerksamkeit, die sich auf ein auffälliges körperliches Merkmal richtet, könne zum Erröten führen, und dies sei dann auch die Reaktion auf die Aufmerksamkeit, die ein Täter aufgrund eines Vergehens gegen eine anerkannte soziale Norm findet. Darwin sieht den Übergang von der Aufmerksamkeit auf eine körperliche oder bekleidungstechnische Besonderheit eines Menschen, die dessen Schamröte hervorrufen kann, zur Verursachung der Schamröte durch moralische Verfehlungen darin, »dass die Missbilligung der Menschen über unmoralisches Betragen ihrer Natur nach mit der Geringschätzung unsres persönlichen Erscheinens etwas verwandt ist, so dass beide durch Assoziation zu ähnlichen Resultaten führen« 21 . Beide Formen der Bewertung aber unterliegen Bedingungen, aufgrund derer sie assoziiert werden können, und zwar dem Bedingungszusammenhang der Synthesis, wie sie sich im Körperleib manifestiert.

Ebd., S. 369. Vgl. ebd., S. 375 ff. – Michael Tomasello (Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution des Kognitiven, Frankfurt a. M. 2002) hat in einem ganz anderen Zusammenhang die gemeinsame Aufmerksamkeit, die ein Kind mit einem Erwachsenen teilt, als den entscheidenden Faktor für Ursprung und kulturelle Entwicklung des Geistigen bzw. des Denkens herausgestellt und empirisch belegt. Das sei hier erwähnt, um vorweg das Spezifikum des Geistigen eigens zu benennen: seine mitweltliche, intersubjektive Verfasstheit, auch wenn es im stillen Kämmerlein und im einsamen Tun des Denkers oder Dichters zu seinen höchsten Ausdrucksformen gelangen mag. 19 Darwin 2000, S. 377. 20 Vgl. ebd., S. 376. 21 Ebd., S. 371. 17 18

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Ambivalenzen im Schamaffekt

Ambivalenzen im Schamaffekt Der Schamausdruck des Errötens lässt sich nicht direkt aus dem Bewusstsein des Vergehens ableiten, sondern aus dem der Blicke, die sich auf das Schamsubjekt richten. Das ist ein Indiz dafür, dass die zu postulierende vorgängige Synthese des Körperleibs und das an sie geknüpfte und von Darwin thematisierte Zusammenspiel von Körper und Geist mit einem weiteren synthetischen Gliederungsmoment verbunden ist: mit der Verbindung zwischen dem Ich (das sich schämt) und dem Anderen (dessen Blick die Schamröte auslöst). Was aber bedeutet das? Wie lassen sich die nicht (immer) in Schamröte sich äußernden Möglichkeiten stellvertretender Scham, Mitscham, Scham ohne Schamzeugen und Scham von Opfern einer Erniedrigung verstehen? Die Motive, Ursachen und Äußerungsformen der Scham scheinen so verschieden zu sein, dass man sich fragt, ob es sich überall um das gleiche Phänomen handelt. Wäre dies der Fall, dann müsste sich eine ursprüngliche Schamhaftigkeit bestimmen lassen, die sich ganz unterschiedlich, je nach Anlass und Bedingungsfaktoren, äußern kann und die weitere Hinweise gibt auf das Postulat der vorgängigen Synthese. Dann könnte auch verständlicher werden, weshalb ein Lebewesen eine unwillentliche und unkontrollierbare körperliche Reaktion auf bestimmte Aufmerksamkeitsrichtungen der Anderen entwickelt, die es in eine Lage bringen, deren Hauptmerkmal eine unangenehme und unbehagliche Affizierung des Selbst ist; denn unbestritten ist es eine Eigentümlichkeit des akuten Schamaffekts, dass das Schamsubjekt einen erzwungenen Reflex auf sich selbst erlebt, eine Selbstaufmerksamkeit, die zur Selbstreflexion führen kann. Zu dieser Thematik hat sich geradezu ein eigener Forschungsbereich etabliert. Dabei lässt sich im Vielklang der Themen ein Grundton ausmachen: es geht vorwiegend um die Thematik der Selbsterfassung, der Gestaltung eines akzeptablen Selbstverhältnisses, damit aber in der Tendenz doch, und sei es nur bruchstückhaft, um menschliche Selbsterkenntnis – kein Wunder, wenn man die Aktualität des theoretischen und praktischen Konzepts der reflexiven Lebensführung und Loslösung von Traditionen bedenkt, welches mit der Forderung einhergeht, sich gleichsam selbst zu erfinden. Damit schließen die neueren Theorien an die großen Entwürfe des letzten Jahrhunderts an, in denen Scham eine nicht unwesentliche Rolle spielte, z. B. bei Scheler, Simmel oder Sartre. So ist nicht zufällig A

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gerade bei einem Psychoanalytiker, der eine Nähe zur Philosophie hat, von einem selbstreflexiven Affekt 22 die Rede. Es handelt sich also um einen Affekt, der in einer noch zu spezifizierenden Weise den Selbstbezug (mit-)konstituiert, und zwar im Modus der Gebrochenheit. Dieser Bruch in der intendierten Einheit zeigt sich in unterschiedlichen Dimensionen des Selbstverhältnisses. Drei Hauptaspekte lassen sich hier beschreiben, wenn man die einschlägige Literatur zu Rate zieht. Ein Aspekt ist, im Anschluss an den bei Darwin beschriebenen Phänomenbestand, die Konstitution des Selbst in Abhängigkeit von dessen Bezug zum Anderen. In diesen Bezug ist (etwa bei Scheler und Simmel), als zweiter Aspekt, die Ambivalenz von Individuellem und Allgemeinem eingelassen, zugleich (vor allem bei Sartre), als dritter Aspekt, das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, wie es in soziologischen Theorien zu Status und Macht 23 ausgearbeitet worden ist. Da Scham dann auftreten kann, wenn die hier bezeichneten antagonistischen Kräfte in ihrer Einwirkung aufeinander irgendwie manifest geworden sind (z. B. im Blick, in Normverfehlungen, in einem Machtgefälle, in Statusverlusten) und einen Schnittpunkt bilden, ist sie ganz treffend auch als »Schnittstellenaffekt« 24 , ähnlich bereits von Simmel als »Drehpunkt« 25 bezeichnet worden. Was gibt dessen Möglichkeit über die Struktur des Menschseins preis? Konkreter: warum legen wir soviel Wert auf unsere Erscheinung? Und warum genügt es uns nicht zu sein, sondern müssen wir ›ein Jemand‹ sein, uns mit einem Status schmücken, als jemand gelten, um uns nicht fortwährend schämen zu müssen? Die Ambivalenz, die im akuten Schamaffekt zum Ausdruck kommt, wird von Scheler, Simmel und Sartre gesehen, aber unterschiedlich, abhängig von der je anders gewählten theorieleitenden Vgl. Günter H. Seidler: Scham als Mittlerin zwischen Innen und Außen. Von der Objektbeziehungstheorie zur Alteritätstheorie, in: Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze (Hg.): Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven, Opladen 1997, S. 127–143, hier S. 128. 23 Vgl. z. B. Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt, New York 1991; Hilge Landweer: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999. 24 Seidler 1997, S. 130. Vgl. dazu grundlegend ders.: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham, Stuttgart 1995. 25 Georg Simmel: Zur Psychologie der Scham. In ders.: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hg. v. Heinz-Jürgen Dahms u. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 19924 , S. 140–150, hier S. 144. 22

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Ambivalenz zwischen Individualisierung und Generalisierung (Scheler)

Dimension, beschrieben und gedeutet. Dabei variiert die je konkrete Schnittstelle; die Struktur ist ihnen aber gemeinsam. Es ist die der Gebrochenheit, die noch und gerade in dem Versuch, die Integrität zu wahren, sichtbar wird.

Ambivalenz zwischen Individualisierung und Generalisierung (Scheler) Scheler ging von der ungesicherten Stellung des Menschen zwischen der Klarheit des zu sich selbst gekommenen Geistes und dem trüben Dunkel der Körpergebundenheit aus – er spricht vom »Clair-obscur der menschlichen Natur« 26 . Er hat diese ambivalente Stellung von biologisch-metaphysischen Grundlagen her erörtert und dies insbesondere für das menschliche Schamgefühl exemplarisch ausgeführt. Dieses leitet er aus phänomenologisch differenzierten Stufungen der organischen Formen ab. Die zunehmende Individualisierung und die damit verbundene »Wertwahl« 27 im Fortpflanzungsprozess bedinge das Schamgefühl, das dennoch nicht bloß geschlechtlich-erotisch – als Ersatz für die zeitlich-rhythmische Eingrenzung der Fortpflanzungsmöglichkeit – zu verstehen sei, sondern sich auf das ›Ganze des Lebens‹ 28 beziehe. Scham sei eben der Ausdruck der wählerischen Zurückhaltung überhaupt und manifestiere sich ebenso in Takt und Diskretion gegenüber der ›fremden Seele‹ wie in der Limitierung sexueller Beliebigkeit. Was alle Schamsituationen auszeichne, sei die »›Rückwendung auf ein Selbst‹« 29 , und zwar dann, wenn die Richtung, in der die Person gemeint war, ob in ihrer Individualität oder als Repräsentant einer allgemeinen Funktion, abirrt in die Gegenrichtung mit zugleich ungeklärtem Vorrang einer der beiden Richtungen auf das Individuelle oder Allgemeine. So kann es etwa jemandem passieren, der einen wichtigen Geschäftspartner nach Hause einlädt, dass er sich in der Ambivalenz zwischen Individuell-Privatem und Allgemein-Funktionalem verirrt und Schamanlässe produziert, weil Intention und Gegenintention der Max Scheler: Über Scham und Schamgefühl. In ders.: Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre (Gesammelte Werke, Bd. 10, hg. v. Maria Scheler), Bern 19572 , S. 67–154, hier S. 67. 27 Ebd., S. 73. 28 Vgl. ebd., S. 74. 29 Ebd., S. 78. 26

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Beteiligten nicht übereinstimmen und überdies die gefühlte Intention des einen oder beider zwischen Individualisierung und Generalisierung schwankt. 30 Solche Schwankungen kann es auch zwischen Idealbild und Wirklichkeit geben 31 , zwischen geistigem Anspruch und animalischer Bedürftigkeit, schließlich als Kluft besonders spürbar im Gegensatz zwischen einer Norm und dem Versagen vor ihrer Forderung, sofern sie vom Schamsubjekt selbst anerkannt ist. Anschaulich zum Ausdruck gebracht werden diese Ambivalenzen, die in Schwankungen des Verhaltens oder in Fehlleistungen mit unabsehbaren Konsequenzen münden können, in der mythisch-religiösen Ursprungserzählung der Genesis; nach Scheler verbindet sich in ihr das Verderbnis des Menschen, der Sündenfall, als ›Fall‹ aus einer angemaßten Höhe (Gott ähnlich sein zu wollen), mit dem erstmaligen und ursprünglichen Erleben der Scham. 32 Das Selbst, auf das man sich im Schamgefühl zurückwendet, muss nicht das eigene sein. Scheler bringt ein Beispiel für eine ihm zugestoßene stellvertretende Scham: ein obszöner Witz wurde in Gegenwart eines jungen Mädchens erzählt, das sich dabei nicht einmal schämen musste, damit er, Scheler, sich für den Anderen, den Erzähler und/oder das Mädchen schämte. Das Gemeinsame all dieser Rückwendungen sei »ein Schuldgefühl für das individuelle Selbst überhaupt« 33 , unabhängig von seinem aktuellen Repräsentanten. In der stellvertretenden Scham versetzt sich der sich Schämende also in die Position eines anderen Menschen, und zwar in diejenige, die kategorial als Selbst ausgezeichnet werden muss, weil nur in Richtung auf ein solches Selbst das auf sich selbst reflektierende Moment der Scham möglich wird, auch wenn das Selbst desjenigen sich gerade nicht in der gleichen Weise auf sich zurückbeugt wie das an seiner statt sich schämende Selbst. Das ist eine Art von Perspektivenübernahme, deren Möglichkeit näher zu begründen sein wird. Fazit: Die wesentliche Ambivalenz ist für Scheler diejenige zwiVgl. ebd., S. 79 (Schelers Beispiel: einem Maler gerät das Allgemeine einer als Aktmodell posierenden Frau aus dem Blick, er richtet sich auf sie als von ihm begehrtes Individuum, und sie schämt sich plötzlich ihrer Nacktheit). 31 Ein Beispiel findet sich in Kleists Amphitryon: Alkmenes ambivalente Haltung gegenüber ihrem Gatten und Jupiter als Bild des Gatten (Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, München 19939 , Erster Band, S. 245–320). 32 Vgl. Scheler: Über Scham und Schamgefühl, 19572 , S. 68 f. 33 Ebd., S. 81. 30

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Ambivalenz zwischen Teil und Ganzem, Herauf- und Herabsetzung des Ich (Sim-

schen individualisierender und verallgemeinernder Tendenz in den intentionalen Richtungen auf das Schamsubjekt, in Verbindung mit der für Scheler typischen Antagonisierung von Geist und (körperlich fundiertem) Drang bzw. Trieb. An diesen beiden sich überlagernden Schnittstellen sitzt die Schamhaftigkeit und kann als konkreter Schamaffekt zum Ausdruck kommen.

Ambivalenz zwischen Teil und Ganzem, Herauf- und Herabsetzung des Ich (Simmel) Simmel hat die Gemeinsamkeit der mannigfaltigen Äußerungen des Schamgefühls in der Gleichzeitigkeit einer Betonung des Ichgefühls und seiner Herabdrückung gesehen, einem Zugleich von Herauf- und Herabsetzung des Ichbewusstseins. Dieses Zugleich entstehe, wenn die Aufmerksamkeit Anderer auf das Ich gerichtet ist, es sich hervorgehoben fühlt, und dies deshalb, weil irgendeine Norm verletzt worden ist. Simmel nennt als Möglichkeit sachliche, sittliche, konventionelle, personale Normen. Also auch hier spielt die Diskrepanz zwischen einer anerkannten Norm und deren Verfehlung eine maßgebliche Rolle. Auch Simmel meint, dass das Schamgefühl »den ganzen Menschen« 34 betreffe; es wurzele gerade im Kontrast zwischen dieser Idee des Ganzen (einem Idealbild, einer persönlichen Norm) und einer entindividualisierenden, verallgemeinernden Teilbedeutung, die dieses Ganze herabsetze, z. B. in seiner momentanen Verfassung. 35 So sei ein Loch im Ärmel eines heruntergekommenen Mannes dann beschämend, wenn die Konfrontation mit einem ehemaligen Bekannten, dessen Anwesenheit bessere Zeiten heraufbeschwört, eine Verminderung und Deklassierung der ganzen Persönlichkeit auslöse, die momentan auf eine Teilbedeutung, hier ›Armut‹, reduziert werde. 36 Die Aufmerksamkeit von außen kann im Ich selber durch dessen Spaltung in ein beobachtendes und ein beobachtetes Teil-Ich ersetzt werden (gleich einer ›parlamentarischen Repräsentation der Gruppe

Simmel: Psychologie der Scham, 1992, S. 143; vgl. ders.: Das individuelle Gesetz. In ders.: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. u. eingeleitet v. Michael Landmann, Frankfurt a. M. 1987, S. 174–230, hier S. 201 ff. 35 Vgl. Simmel: Psychologie der Scham, 1992, S. 142. 36 Vgl. dazu paradigmatisch Knut Hamsun: Hunger, Berlin 2010. 34

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in uns selbst‹), so dass wir uns vor uns selbst schämen. 37 Hinsichtlich der Schamvermeidungsstrategien ist, Simmel zufolge, zweierlei von Interesse. Erstens: Die Verhüllung des Ich, entweder im Umgang mit Fernstehenden, für die wir im flüchtigen Umgang gar nicht individuelle Geltung besitzen, oder durch Verbergen des Gesichts (etwa im Karneval) als der »Erscheinung und Ausprägung der Individualität« 38 , vermindert oder verhindert die mögliche Entstehung des Schamgefühls; und im Verkehr mit Nahestehenden, Freunden, Vertrauten ist es in der Regel so, dass die Diskrepanz zwischen dem Ideal-Ich und einem ›rudimentären‹ Ich nicht zur Darstellung kommt 39 , weil der vertraute Umgang es gar nicht erst dazu kommen lässt. Simmel zufolge ist das Individuum in dem Zwischenbereich zwischen weder völlig fern noch ganz nah Stehenden in seiner ambivalenten Position gefährdeter. Es ist allerdings hinzuzufügen, dass sowohl vertraute Nähe als auch Fremdheit Schamanlässe bieten können 40 , weil auch hier die sensiblen Schnittstellen nicht einfach beseitigt sind. Zweitens: das Schamgefühl kann völlig versagen bzw. seine Vermeidung kann intendiert werden, wenn die Handlung eines Normverstoßes in Gemeinschaft mit anderen Personen geschieht, denn dann geht das Ichbewusstsein, sprich: das Verantwortungsgefühl, verloren. Das Ich geht im diffusen Allgemeinen auf. Hieraus würden sich die häufig festzustellenden massiven Verstöße gegen klare und ›normalerweise‹ anerkannte soziale und moralische Normen ohne Scham- und Schuldgefühl der einzelnen Beteiligten erklären: der Mangel an individueller Scham über ein kollektiv begangenes Verbrechen. Fazit: Nach Simmel sitzt die Scham an einer Schnittstelle zwischen Personganzem und einer Teilbedeutung. Da diese eine Verallgemeinerung in Gestalt einer Norm, eines Idealbilds oder eines allgemeinen Begriffs impliziert, kann zugleich von einer Schnittstelle zwischen Individuellem und Allgemeinem gesprochen werden.

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Vgl. Simmel: Psychologie der Scham, 1992, S. 144 f. Ebd., S. 146. Vgl. aber Landweer: Scham und Macht, 1999, S. 97 f. Vgl. Neckel: Status und Scham, 1991, S. 94 ff. u. 101 ff.

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Ambivalenz zwischen Subjektsein und Objektsein, Kontrolle und Kontrollverlust,

Ambivalenz zwischen Subjektsein und Objektsein, Kontrolle und Kontrollverlust, Macht und Ohnmacht (Sartre) Sartre hat gezeigt, wie Scham als Manifestation des ubiquitären Blicks des Anderen erstens zwar den Einbruch des Anderen in meine Welt und deren Desintegration ausdrückt, zweitens aber auch das (ontologische) Zeichen dafür ist, dass ich den Anderen brauche, um mich selbst zu erfassen, in Sartres ontologisch-dialektischer Sprache: »das Für-Sich verweist auf Für- Andere.« 41 Sartre zeigt in einigen Beispielen, wie der Einzelne aus der alltäglichen Einstellung, mit der er einer Aktivität nachgeht, herausgerissen wird, wenn ihm zu Bewusstsein kommt, dass er hier und jetzt in dem, was er tut, wie er dabei aussieht, wie er ist und sich gibt, anderen erscheint. Dabei bringe das akute Schamgefühl nur zur konkreten Wahrnehmung, was ohnehin mein Dasein ausmache: dass ich als Subjekt, als das ich mich verstehe und zu verstehen habe, wenn ich tätig werde, ohne dass ich mich, außer wenn es zu Störungen kommt, reflexiv dabei erfasse, dass ich also als Subjekt zum Objekt werden kann, das von einem anderen Subjekt erfasst wird, dass ich so gesehen werde, wie ich als Objekt bin, so also, wie ich mich gerade nicht als Subjekt erfassen kann, was mir aber erst in dem Moment des Schamgefühls deutlich wird. »Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt« 42 . Das gilt selbst und gerade dann, wenn ich als solcher, wie der Andere mich jetzt sieht, nicht festgelegt werden wollte und mir die entsprechenden Eigenschaften und Merkmale niemals zuschreiben würde. Überwindung der Scham hieße zugleich Überwindung der Deutungsmacht des Anderen durch Umkehrung der Blickrichtung (was gegenüber einem Subjekt, das nie Objekt werden kann, also Gott, nicht möglich sei, meine Objektheit und d. h. Ohnmacht wäre verewigt 43 ). In der Schamsituation findet ein Perspektivenwechsel statt. Das Zentrum meiner Welt-Ordnung verlagert sich von mir auf das Zen-

Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Philosophische Schriften, Bd. 3, hg. v. Traugott König), Reinbek 1993, S. 407. 42 Ebd., S. 471. 43 Vgl. ebd., S. 518. 41

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trum des Anderen, des Blickenden. Meine Welt dezentriert sich. Und in dieser dezentrierten Welt habe ich meine Mitte verloren, was zugleich aber Voraussetzung dafür ist, mich zu erfassen, wenn auch als Objekt des Anderen, dessen Perspektive und Urteil ich anerkenne, indem ich mich schäme. Das geschieht dann, wenn das Erblicktwerden realisiert wird. Dazu braucht es nicht immer einen konkreten Anderen, denn ich bin immer schon im Zustand des Erblicktwerdens, und es genügt in bestimmten Situationen etwa ein Geräusch im Dunkeln, um mir diesen Zustand gleichsam wieder vor Augen zu stellen und meine ursprüngliche Scham zu aktivieren: ich fühle mich ertappt. 44 Geklärt ist nicht, ob es notwendige oder gar hinreichende Bedingungen gibt, um WeltSicht und Lebens-Gefühl des potenziellen Scham-Subjekts derartig umschlagen zu lassen. Entwicklungspsychologische, soziale, kulturelle und historische Voraussetzungen müssten in die Aktualisierung dieses Perspektivenwechsels eingehen. 45 Obwohl konkrete soziale Normen keine Rolle spielen, interpretiert Sartre die Scham evaluativ (und normativ), wenn er das ObjektSein mit Unfreiheit, nämlich Entfremdung und Verdinglichung identifiziert. 46 Denn es geht Sartre um ein Verständnis von Faktizität (Geworfenheit) und Freiheit (Entwurf) des Menschen. Die Existenz (bzw. Freiheit) gehe seinem Wesen, seiner Essenz (des An-sich) voraus: er ist, wozu er sich macht. Frei ist der Mensch aber nur, wenn er sich nicht festlegen lässt 47 , da er sich anders, nämlich unter der Prämisse einer vermeintlichen menschlichen ›Natur‹ oder als Objekt im Blick des Anderen, gar nicht zu sich (als Für-sich) verhalten kann. Um frei zu sein, ist er gezwungen, sich im Sinne einer apriorischen Wahl, einer ›fundamentalen Wahl‹, stetig selbst zu entwerfen 48 , sich ins Nicht-Sein

Vgl. ebd., S. 497. Solche Voraussetzungen sind von Norbert Elias (Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1997) und Hans-Peter Duerr (Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1, Frankfurt a. M. 19944 ) kontrovers erforscht worden und ließen sich mit George Herbert Meads Lehre von der Perspektivenübernahme des ›generalisierten Anderen‹ näher beschreiben (Geist, Identität und Gesellschaft – aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a. M. 199811 ; vgl. Neckel: Status und Scham, 1991, S. 32 f.). 46 Vgl. Axel Honneth: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a. M., 2003, S. 147 f., 151 f. 47 Vgl. Sartre 1993, S. 764. 48 Vgl. ebd., S. 800. 44 45

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Zusammenfassender Vergleich

des Kommenden zu engagieren (statt ins An-sich, aus Angst vor der Unsicherheit dessen, was der Entwurf bringen mag). 49 Fazit: Im Subjekt-Objekt-Verhältnis, in welches das Individuum verstrickt ist, lokalisiert Sartre die seine Analyse prägende ontologische Ambivalenz. Diese versucht er durch eine Konzeption des Selbstseins aufzulösen, dessen Freiheit sich in einer ursprünglichen und stetig zu erneuernden Selbstwahl dokumentiert. Zwischen Subjekt und Objekt, Freiheit und Verdinglichung, Selbstsein und Entfremdung findet sich die Schnittstelle, in der akute Scham das dialektische, aber nicht in einer Synthese aufzuhebende Verhältnis beider Seiten offenkundig machen kann. 50

Zusammenfassender Vergleich Scheler, Simmel und Sartre haben die paradoxe anthropologische Struktur, die sich als Sphäre des Zweideutigen Raum verschafft und mit der akuten Scham nicht mehr bloß eine Wesensbehauptung ist, sondern konkret in Erscheinung tritt, inhaltlich verschieden, formal aber durchaus vergleichbar beschrieben. Schelers Wort vom ›Clair-obscur‹ verweist ganz richtig auf eine gewisse Zwielichtigkeit dieser Sphäre. Darin seine Position zu finden, ist für das Individuum nicht unmittelbar möglich. Wenn überhaupt, lassen sich Klarheit und Deutlichkeit, was das eigene Selbstsein und seine Stellung im Verhältnis zu den Anderen und der Welt angeht, nur vermittelt herstellen. Es sitzt zwischen den Stühlen. Im Zwielicht des Zweideutigen ist das Individuum also von Grund auf unbestimmt. Gerade deshalb sucht es sich zu bestimmen. Es stellt sich hier wiederum die Frage Kants in der Kritik der Urteilskraft: Wie lässt sich etwas Unbestimmtes und, aus Sicht nomologisch verfahrender Wissenschaften, kategorial Unbestimmbares bestimmen? Von dieser Ausgangslage her zeigen sich in den sonst sehr disparaten Ansätzen als ihr Gemeinsames durchgehend Bestrebungen, die Unsicherheit und Ungesichertheit der menschlichen Position 51 von Vgl. ebd., S. 116. Grundthema ist also die Dialektik der wechselseitigen Anerkennung der Subjekte, die bei Sartre allerdings scheitern muss, weil die Waage der Gegenseitigkeit nicht ins Gleichgewicht gebracht werden kann; immer überwiegt eine der Waagschalen. 51 Vgl. bereits Eric R. Dodds: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 19912 , S. 17 (amerik. Orig. 1951). 49 50

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ihren Quellen her zu verstehen und soziologische, psychologische, philosophische Folgerungen daraus abzuleiten. Diese Unsicherheit zumal lässt sich verstärkt dann feststellen, wenn fortschreitende Individualisierung das Individuum immer mehr von traditionellen und vermeintlich selbstverständlichen Mustern der letztlich nie endgültigen Sicherung (wie z. B. eindeutige Statuszuschreibung, Gruppenzugehörigkeit, tradierte soziale Bindungen) herauslöst und in eine prekäre Lage im Verhältnis zu den Anderen und zum Allgemeinen bringt (also im Verhältnis zum ›Wir‹, zur Norm, Klasse, Gruppe, Gesellschaft, zum Menschengemäßen überhaupt). Immer dann, wenn die Entsicherung der individuellen Position aktualisiert und bewusst wird, kann sich Scham einstellen oder, um diese zu umgehen, zu verschieben 52 , zu überbieten oder inhaltlich zu dementieren, offensiv die Schamlosigkeit gesucht werden – wie es in Gesellschaften, in denen eine Lockerung konventioneller Regeln stattgefunden hat, nicht selten der Fall zu sein scheint. Scham wird zum Umschlagspunkt der jeweiligen antagonistischen Tendenzen. Sie ist wie in einem Magnetfeld an die Pole (von Körper und Geist, Ich und Anderen, Individualisierung und Verallgemeinerung 53 , Macht und Ohnmacht usw.) gebunden, und sie wird zum Motivationshebel, um nach dem Verlust eines Gleichgewichts die Balance erneut zu suchen. In diesem Magnetfeld hin- und hergerissen, ist sich der individuelle Mensch seiner selbst im Letzten nicht sicher: er hat keinen festen Boden unter den Füßen. 54 Das ist keine neue Feststellung. Sie findet sich, in historisch je anderer Fassung und Zuspitzung, etwa bei Augustinus, Pascal, Nietzsche, Kierkegaard und kommt auch in einem anthropologischen Theorem wie der ›ungeselligen Geselligkeit‹ bei Kant zum Ausdruck. Die Folge dieser Einsicht war aber zumeist die Flucht in einen Dualismus, mit dem man glaubte, sich der Ambivalenz und Unsicherheit entziehen zu können, wenn man sich auf eine der polaren Seiten schlägt: also ›Vergeistigung‹ auf Kosten Vgl. Wurmser: Maske und Scham, 19983 , S. 399. Vgl. Simmel: Das Problem des Stiles. In: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. II (GA 8), hg. v. Alessandro Cavalli u. Volkhard Krech, Frankfurt a. M. 1993, S. 374–384, hier S. 377; ders.: Die Koketterie. In: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur (GA 14), hg. v. Rüdiger Kramme u. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1996, S. 256–277, hier S. 274. 54 Darwin (2000, S. 359) spricht angesichts des Schamaffekts von einer »Verwirrung des Geistes«, die mit ihm einhergeht und an konfusen Verhaltensweisen sichtbar werden kann (Beispiele ebd., S. 359 ff.). 52 53

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Zusammenfassender Vergleich

der Ablehnung des Körpers, Vernunft- bzw. Verstandesorientierung auf Kosten der Abwertung der Sinne und Emotionen oder Materialisierung bzw. Naturalisierung auf Kosten des Sinnverstehens und Verfehlens einer angemessenen Selbstauffassung. Auch die Forderung des ›Übermenschen‹ enthält noch Reste des Dualismus in der Vergötterung des Menschen durch sich selbst. In Hinsicht auf eine mögliche Überwindung des Dualismus findet sich bei Scheler das nietzscheanische Bild vom Menschen als Brücke und Übergang 55 , bei Sartre das Verfahren der ontologischen Dialektik, in dem er die Trennung von Wesen und Erscheinung aufzuheben sucht. Letztlich aber wertet Scheler in seiner Wertstufentheorie den Bereich des Sinnlichen gegenüber dem des Geistigen ab, ohne ihres tatsächlichen Ineinanders gewahr zu werden. So verkennt er auch die soziale Machtdimension, die sich an die Möglichkeit sinnlich und affektiv verankerter gesellschaftlich-historischer Konditionierungsprozesse heftet. Obwohl auf der anderen Seite Sartre gerade den Machtaspekt würdigt, kehrt auch bei ihm der Dualismus wieder, trotz aller Anstrengungen, ihn zu überwinden. Denn Sartre lässt das Selbstsein in der Unmittelbarkeit der Selbstwahl entspringen und stellt dem die Objektivierung des Subjekts (bzw. des Selbst) als Entfremdung und Verdinglichung gegenüber, statt diese als notwendiges Mittel des vermittelten Selbstseinkönnens zu erkennen. Während der Dualismus nach Eindeutigkeit strebt, zeigen die antagonistischen Spannungen den Bruch an – die tiefe Zweideutigkeit von Mensch und Welt, die in der Scham nicht aufgehoben, sondern in eine plastische Form gegossen wird. Simmel hat in dieser Hinsicht, in feiner Abhebung vom cartesianischen Dualismus, von einer »Dualistik« 56 gesprochen, der Simmel-Interpret Landmann von einer »›Dialektik ohne Versöhnung‹«57 . In dem Band Hauptprobleme der Philosophie 58 hat Simmel einige Kategorien der Zweideutigkeit und deren unangemessene dualistische Fassung betrachtet, so etwa »Sein und Werden« 59 oder »Subjekt und Objekt« 60 . Die präzise Beschreibung von anthropologischen Phänomenen, in welVgl. Scheler: Scham, 19572 , S. 69. Simmel: Das individuelle Gesetz, 1987, S. 196; ders.: Die Koketterie, GA 14, 1996, S. 256–277, hier S. 276. 57 Michael Landmann: Einleitung. In: Simmel 1987, S. 16. 58 Vgl. Simmel, GA 14, 1996, S. 7–157. 59 Vgl. ebd., S. 13–43. 60 Vgl. ebd., S. 44–79. 55 56

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chen sich diese Zweideutigkeit alltäglich in der spezifisch menschlichen Existenzform ausprägt, ist ihm in vielen kleineren Beiträgen gelungen. Sie sind ein Schritt in Richtung einer Überwindung der dualistischen Betrachtung der polaren Struktur. Cassirer und Plessner haben weitere Schritte getan. 61 Die oben rekapitulierten Antworten auf die Frage nach der merkwürdigen Struktur der Scham beleuchten drei bzw., nimmt man Darwin hinzu, vier Dimensionen der paradoxen anthropologischen Struktur, aus deren Antagonismus heraus sie sich entfalten. Diese Struktur bleibt dunkel, wenn man sie in ihrer Widersprüchlichkeit bloß hinnimmt. Sie kann sich mit dem Begreifen ihrer synthetischen Grundlage erhellen. Dazu muss die synthetische Funktion der Philosophie in der Nachfolge Kants mitvollzogen und neu ausgeschöpft werden, um so die Manifestation der synthetischen Funktion überhaupt in den Modi der Verkörperung (Plessner) und der symbolischen Prägnanz (Cassirer) in den Blick nehmen zu können. Denn man sieht (die Erscheinungsweisen der lebendigen Synthesen) nur, wofür man das Auge (durch eine Hermeneutik der synthetischen Funktion) geschult hat.

Man darf davon ausgehen, dass nicht nur Cassirer, sondern auch Plessner mit Simmels Schriften vertraut war.

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III. Anschluss an den Kritizismus Kants

Antinomische Struktur Das Selbstverstehen zu vertiefen und zu verbessern, ist ein wesentliches Motiv dafür, Theorien mit systematisierender Kraft hervorzubringen. Das Interesse an einem zunehmend besseren Verstehen der Welt und Begreifen der eigenen Stellung in der Welt ist dreifach gerichtet. Es gilt erstens, technisch-praktisch Einfluss auf das Naturgeschehen auszuüben, zweitens, das Dasein pragmatisch zu organisieren, drittens, den Dingen des Lebens eine Bedeutung zu geben, die sich vor der Tatsache des Todes gerade auch moralisch-praktisch bewähren kann. Dass dieses dreifache Interesse verschiedene Formen von Wissenschaftlichkeit erforderlich macht, ist häufig thematisiert, und um den ›wahren‹ Charakter von Wissenschaft ist gestritten worden. Kants Diktum, dass Weisheit durch Wissenschaft gehen müsse, wird aber zu wenig ernst genommen, wenn man dabei die Selbstbegrenzung der Wissenschaft, auf die es Kant mit der Erweiterung der Vernunft im praktischen Gebrauch ankommt, leichtfertig übergeht. Diese Erweiterung war durch die Widersprüche notwendig geworden, in die sich die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch verstrickt. Nun ist die Orientierung an der Lebenserfahrung ihrerseits antinomisch strukturiert, und dies manifestiert sich nicht nur, wie bei Kant, in der philosophischen Reflexion über die Grundfragen nach absoluten Bedingungen, sondern verkörpert sich in der Lebendigkeit des Menschen selbst: im Bild der Scham erscheint etwas, das nicht erscheinen soll; in ihm zeigt sich etwas, das nicht gezeigt werden soll. Es ist kein Zufall, dass dies zugleich einen – Kants Forderung einer moralisch-praktischen Erweiterung der Vernunft aufnehmenden und bestätigenden – Hinweis auf die moralische Verfasstheit und Aufgabe des Menschen enthält. Der transzendentalen Reflexion, die ja in Kants Systematik zur Freilegung der moralischen Funktion der Vernunft führt, entspricht analog eine Rückwendung bzw. Reflexion des Lebens auf sich selbst, wie sie in der A

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Scham vollzogen wird; sie legt die moralische Funktion der menschlichen Form der Lebendigkeit frei, auch wenn der Schamaffekt außermoralisch ausgelöst werden und außermoralische Bedeutung annehmen kann. Das verweist auf seine Plastizität und Formbarkeit, die damit zu tun haben, dass das Selbst in seiner Verunsicherung auch aus geringfügigen Anlässen heraus Scham empfinden und es zu einer Vermischung, Verwechslung oder Stellvertretung von moralischem und außermoralischem Affekt kommen kann. Die strukturelle Analogie zwischen der transzendentalkritischen Reflexion und der lebendigen Selbstreflexion ist ein starkes Motiv für die Wiederaufnahme und Erweiterung kritischer Systematik unter dem Aspekt der antinomischen Struktur und ein möglicher Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der menschlichen Lebensform und ihres Sinns. Nach der vorläufigen Zerschlagung der kritischen Systematik u. a. durch Hegel und den Historismus sowie ihrer Aufsplitterung in Einzelfragen hauptsächlich erkenntnistheoretischer Art muss es, auch gegen die Systemphobie des postmodernen und nachpostmodernen Denkens, eigens betont werden, dass sich der Kritizismus als System zur Begrenzung von Geltungsansprüchen, das sich überdies selbst begrenzt und dadurch – weil es sich nicht ungeprüft fremden Maßstäben unterwirft – seine Würde wahrt, für einen weiteren Ausbau und eine Erneuerung anbietet. Der Weg dahin ist die Überwindung Kants durch Nachfolge, d. h. durch einen kritischen, auf sich selbst angewandten Kritizismus, der sich in Auseinandersetzung mit der Frage nach seinen eigenen Voraussetzungen die Einsicht zu eigen macht, dass das System eine Angelegenheit des Menschen geworden ist und nicht mehr umgekehrt. 1 Der Mensch versteht systematisch sich selbst. Analytisch gelingt ihm das nicht, weil er dann sich selbst als Ganzes aus dem Blick verliert, mal hier, mal da ansetzt, um Klärungen vorzunehmen, so wie man mit dem Licht einer Taschenlampe einen kleinen Ausschnitt beleuchtet. Systematisches Selbstverstehen kann sich das Verfahren Kants zum Vorbild nehmen, weil die Möglichkeit, das kantische System der modalen Verbindungen zwischen den synthetischen Teilen zu erweitern, es gestattet, die Frage der Synthesis nicht mehr bloß auf die Verbindung von

Vgl. Plessner: Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (1918), I, S. 143–308, hier S. 308.

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Antinomische Struktur

Anschauung und Begriff aus wissenschaftlicher Perspektive, sondern überhaupt auf den antinomisch gegliederten Zusammenhang zwischen Sinnlichkeit und Sinngebung im Leben selbst aus der Perspektive der ganzen Lebenserfahrung zu beziehen. Damit stellt sich die Rätselfrage nach der Synthesis des absolut Verschiedenen (Sinnlichkeit und Sinngebung, Materie und geistige Bedeutung) neu und anders, und die systematische Form füllt sich mit neuen Inhalten. Wie in der kantischen Systematik, nun aber unter der erweiterten Perspektive der Lebenserfahrung, geht es darum, die Widersprüche aufzudecken, in welche sich der Mensch bei Versuchen solchen Selbstverstehens unweigerlich verstrickt, und zu zeigen, wie diese Widersprüche aus der Ineinssetzung von Hinsichten resultieren, die als verschiedene Aspekte einer ursprünglichen Einheit – derjenigen der körperleiblich und selbstreflexiv verfassten menschlichen Lebendigkeit – auseinandergehalten werden müssen. Dabei ist es diese Lebendigkeit selbst, die jene beiden Hinsichten hervorbringt, um sich in ihrer Eigenart zu realisieren. Ebenso merkwürdig wie diese »Antithetik« 2 des menschlichen Lebens und auf den ersten Blick geradezu verblüffend ist der Sachverhalt, dass der mühselige Durchgang durch die Theorie notwendig sein soll, um diesem Leben vollends zuteil werden zu lassen, was es ausmacht: seine ureigene und von anderen Lebensformen zu unterscheidende Lebendigkeit. Wie aber lässt diese sich beschreiben, wenn doch keine Theorie gebildet werden soll, die jene Lebendigkeit wieder zerstört, indem sie sie zu bestimmen und in Bahnen zu lenken sucht, die ihr nicht angemessen sind? Auch in dieser fundamentalen Dialektik manifestiert sich die antinomische Struktur. Sie hat ganz unterschiedliche Formen der Bewältigung hervorgebracht. Eine davon ist die theoria, die (vermeintlich) reine Betrachtung aus der Distanz dessen heraus, der sich nicht in das Geschehen hineinziehen lassen will, um es unvoreingenommen anschauen und für sich transparent machen zu können. Das aber reduziert sich schnell auf ein bloßes Theoretisieren, das den Zugang zum Angeschauten verfehlt, weil es ihn vorweg filtert. Die Lebendigkeit entzieht sich dem Begriff. Vortheoretisch, vorwissenschaftlich und außerreligiös hat man sich angewöhnt, das Alltagsleben, das gemeistert werden muss, indem man es zeitlichen, bürokratischen und vermeintlich gemeinschafts-

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Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 448, A 420 (Werkausgabe Bd. IV, S. 409). A

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sichernden Regeln unterwirft, zu trennen von Zeiten, in denen man ›sich auslebt‹, ›entspannt‹ und ›fünfe gerade sein lässt‹. Was von alters her außeralltägliche religiöse Feste oder mysterienkultische Orgien, durchaus gemeinschaftsfördernd, geleistet haben, wird nun in eine Freizeit verlegt, in der eine Lebendigkeit zum Ausdruck gebracht werden soll, mit der man gerade dann Schwierigkeiten hat, wenn die Selbstauffassung des Menschen – das Bild, das er von sich hat – von den Resultaten eines bereits objektivistisch gedeuteten symbolischen Formens bestimmt ist. So mündet das ›Freizeitleben‹, das die Last des gesuchten Außeralltäglichen, sprich: nicht Vorgestanzten, übernehmen soll, in eine bloße Flucht aus dem Alltag, in Medienkonsum, Alkohol, Drogen oder Gewaltlust, überhaupt in Konsumieren als Ersatz›tätigkeit‹. Was es mit der spezifischen Lebendigkeit des Menschen auf sich hat, muss sich nun aber gerade an dem Sachverhalt erweisen, dass er sie interpretiert. Er drückt sie aus, stellt sie dar, zeigt sie vor und deutet ihren Sinn. So entstehen jene Konstrukte, die aus den Kulturen der Menschheit bekannt sind: Rituale, Masken, Mythen, Sprache, Religion, Wissenschaft – kurz: Objektivationen, die geronnene Selbstentäußerungen des Menschen sind und die er wiederum dazu verwendet, sich anzuschauen, aufzufassen und Theorien zu bilden, aus welchen sich seine Handlungsweisen und Selbstdeutungen speisen. Dann wird er so, wie er sich sieht. Er verkörpert sich und seine Welt in symbolischen Darstellungen aller Art bis hin zu Theorien, die dazu neigen, dogmatisch zu werden und auch noch bestimmen wollen, welche Kleidung er zu tragen hat. Alle diese expressiven Vorgänge und möglichen Resultate (Objektivationen) stehen im Dienste der Auflösung der Antinomien durch Verlebendigung, führen aber leicht zu Erstarrungen, die diesem Ziel entgegenwirken.

Lebendigkeit und Freiheit Nun ist es gerade die Eigenart des Lebendigen, sich bestimmt-unbestimmt zu geben, die Kant zur Frage der dritten Kritik gemacht und die ihn zu den Übergängen zwischen den Systemteilen geführt hat. Daraus war die Thematik der Lebensphilosophie hervorgegangen, wie sie insbesondere Georg Misch im Anschluss an Dilthey für den Aufbau der Logik auf der Struktur des bestimmt-unbestimmten Lebens frucht46

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Lebendigkeit und Freiheit

bar gemacht hat 3 . In der Frage nach der Bestimmbarkeit der unbestimmten Position des Menschen, zumal in seiner Gestalt als Individuum, hatte sich deutlich die Analogie zu Kants Problematik der reflektierenden Urteilskraft gezeigt 4 : diese versucht etwas kategorial Unbestimmtes, nämlich die besonderen, individuellen Naturerscheinungen, dennoch zu bestimmen, zwar nicht durch einen Verstandesbegriff, aber durch ein Prinzip, das Ordnung, zumindest im Denken und Urteilen, schafft und eine Leitlinie vorgibt, ohne naturwissenschaftlich-mathematisch gesetzgebend werden zu können. So reflektiert auch der Mensch über seine eigene individuelle Unbestimmtheit, um sich zu bestimmen (und die Scham ist ja gerade das Zeichen eines Mangels an selbst hervorgebrachter Bestimmtheit). Denn es fehlt hier ein bestimmender Begriff, ein Prinzip, nach dem die bestimmende Urteilskraft tätig werden könnte. Es gilt, eine Bestimmung zu finden, aber ohne objektives Prinzip; das bedeutet, sich selbst eine Regel zu geben, um die Besonderungen (hier: des Menschseins) beurteilen zu können. In Kants Kritik der Urteilskraft ist das die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, für Schiller ist sie verwirklicht im Spiel 5 ; bei beiden ist es die Funktion der Einbildungskraft, den Freiraum für Bestimmungen der theoretisch unbestimmbaren Lebendigkeit zu schaffen. Mit der Entdeckung dieser Funktion gelingt es Kant, Platz zu schaffen für eine Freiheit, die – im Unterschied zur praktischen Freiheit als Unabhängigkeit von den Naturgesetzen, die sich selbst das Gesetz gibt, und über diese hinaus – sowohl zur Natur als auch zur Moral einen Abstand hat, um im freien Spiel der Einbildungskraft einen Reflexionsstandpunkt einzunehmen, von dem aus der Mensch sich nicht unfrei an Dogmen, Theorien und Technik binden muss, sondern sie von diesem Punkt außerhalb schöpferisch hervorbringt, ohne ihnen zu verfallen. Trotz seiner Orientierung an Mathematik und Physik hält also Kant am obersten Prinzip der Freiheit fest und weist ihm eine systemerzeugende Funktion zu. Seine Systematik fußt auf dem Begriff der Vgl. Georg Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Hg. v. Gudrun Kühne- Bertram u. Frithjof Rodi, Freiburg, München 1994. 4 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, A XXXV, B XXXVII; A 329 ff., B 333 ff. (Werkausgabe, Bd. X, S. 95; S. 349 ff.). 5 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart 2000, bes. 15. Brief (S. 60 ff.) und 26. Brief (S. 107); vgl. ders.: Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart 1971, bes. S. 96. 3

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Freiheit im Sinne der Autonomie und der Heuautonomie: Verstand und Vernunft sind jeweils auf ihrem Gebiet, Natur bzw. Freiheit, autonom gesetzgebend; die Urteilskraft gibt sich heautonom ein Gesetz zur Ermöglichung ihrer Reflexion über die Naturerscheinungen in ihrer Mannigfaltigkeit, um Ordnung hineinbringen zu können 6 . Das System selbst ist als Ganzes am Anfang und durch den Anfang antizipiert und wird in seinen einzelnen Verfahrensschritten kritisch konstruiert, wobei es sich wie jedes seiner Teile zu bewähren hat: an einem zufälligen Faktum, demgegenüber es seine, dessen Ermöglichungsbedingungen erschließende und es begründende, Kraft beweist 7 . Freiheit als Autonomie wird, zur Gewährleistung der Übergänge zwischen den Systemteilen (Verstand und Vernunft, Natur und Freiheit), ergänzt durch eine Art von Freiheit, die sich in ihrer Gesetzgebung bzw. Regelgenerierung nicht auf ein ihr zustehendes Gebiet der Anwendung bezieht, sondern reflexiv auf sich selbst richtet, um eine Zusammenstimmung in der Korrelation zwischen Subjekt und Objekt zu schaffen. Mit dieser Wendung sprengt Kant sein eigenes systemimmanentes Freiheitsverständnis und gibt den Boden frei für eine Freiheit gegenüber der Autonomie, also eine solche, die sich auch noch von sich selbst und ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit distanzieren kann und die Frage nach einem freien Verhalten gegenüber dem System zu stellen vermag. Auch wenn er diese Frage nicht mehr gestellt hat, hat er doch den ersten Schritt dahin, die Position außerhalb des Systems einzunehmen, auch noch getan: indem er der reflektierenden Urteilskraft in Verbindung mit dem freien Spiel der Einbildungskraft, das trotz aller Verstrickung in das System die Distanz dazu allererst ermöglicht, ganz bewusst die Funktion der Übergänge zwischen den Systemteilen zugewiesen hat. Darin lag die Vollendung seines Kritizismus als enzyklopädische Propädeutik zu einer Metaphysik als Wissenschaft. 8 Philosophen in der Nachfolge Kants wie Dilthey, Cassirer und Plessner haben den Gedanken der Freiheit in Richtung einer Befreiung weitergeführt, einer Selbstbefreiung, welche sich dem philosophischen Bewusstsein verdankt und der damit verbundenen Überschau über die ›Systemteile‹ bzw. Disziplinen und Konzepte. In Cassirers Denken geht Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, A XXXV/ B XXXVII (Werkausgabe Bd. X, S. 96). Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 764 f., A 737 (Werkausgabe Bd. IV, S. 629). 8 Vgl. dazu Plessner: Kants Kunstsystem der enzyklopädischen Propädeutik (1976), II, S. 437–454. 6 7

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es darum, sich von der undurchschauten Bindung an eben diese Formen, seien es archaische Mythen oder ausgefeilte Theorien, Sprachstrukturen oder religiöse Vorstellungen, Kunst oder Technik, frei zu machen. Das hat zur Folge, dass sich das Leben selbst den Raum und die Zeit verschaffen kann, die es braucht, um sich seinem eigenen Maßstab gemäß zu entwickeln. Und dieser Maßstab ist – in Abgrenzung zu allen Maßstäben, die von den objektivierten Formen oktroyiert werden können – die Gestaltungskraft des Menschen mit der Zielrichtung auf die »Selbstbefreiung« 9 hin. Ähnlich hatte es Dilthey gesehen, als er formulierte, das Leben solle »[…] frei [werden] vom Erkennen durch Begriffe, der Geist […] souverän allen Spinnweben dogmatischen Glaubens gegenüber« 10 . Plessner schließlich traut der Philosophie zu, der es gelingt, einen solchen Reflexionsstandpunkt einzunehmen, die aus dem kritischen Kritizismus resultierende Forderung zu realisieren, »Freiheit – auch noch von sich, Souveränität – auch noch über sich selbst zu erlangen« 11 . Darin tut es die Philosophie der Würde gleich, die die Haltung des freien Menschen trägt und zugleich zum Ausdruck bringt. 12 Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 345. 10 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften 7, Stuttgart 19928 , S. 290 f. 11 Plessner: Die Frage nach dem Wesen der Philosophie (1934), IX, S. 96–121, hier S. 121. 12 Begriff, Prinzip und Idee der Freiheit haben hier einen anderen Sinn als in der Diskussion über Willens- und Handlungsfreiheit. Diese Debatte wird aus der Perspektive der Naturwissenschaften und ihres Naturbegriffs geführt; dieselbe Perspektive wird auch von den Kritikern des Determinismus eingenommen. Die an der Debatte Beteiligten halten sich in der Regel an das Ethos der Gesetzmäßigkeit, das auch Kants Autonomiebegriff bestimmt. Mit dem Prinzip der Heautonomie jedoch hat Kant selbst bereits den Schritt getan, dieses Ethos zu überwinden bzw. zu ergänzen oder zu erweitern und einen Freiheitsspielraum zu eröffnen, dessen Grundlage die Distanz ist, die man gegenüber dem theoretischen System, damit auch gegenüber der Naturgesetzlichkeit und nicht zuletzt sich selbst gegenüber einnehmen kann. Selbst wenn sich dadurch ein Geschehen nicht verändern ließe, so verändert diese freie Distanz doch die Perspektive auf das Geschehen und ermöglicht es, auch das noch zu artikulieren, was seine übermächtige Kraft beweist. Vgl. zu den Dimensionen der Freiheit im kritischen System Breun: Plessners philosophische Systematik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), 4, S. 529–543, hier S. 531 f. Vgl. auch Birgit Recki: Zwischen Kantischem Kompatibilismus und Naturalismus: Ernst Cassirers Begriff der Freiheit, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 4 (2010), 1, S. 95–110; dies.: Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben 9

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Philosophie und Würde Sinn und Funktion der Würde resultieren daraus, dass unter kritischsystematischer Perspektive die Forderung nach einem Ausweis durch Darstellung auch für den systematischen Zusammenhang, das Ganze selbst, gilt. Wie jeder Begriff als Teil des Ganzen eine (direkte oder indirekte) anschauliche Entsprechung vorweisen muss, um seine Stelle im Ganzen behaupten zu können, und umgekehrt jedes anschauliche Moment eines begrifflichen oder anderweitig ideierten Korrelats bedarf, um nicht durch das Raster der Erkennbarkeit zu fallen, muss sich auch die Vollständigkeit des Systems (des begrifflichen Gesamtkonzepts) in der genauen Entsprechung zur Vollständigkeit menschlichen Daseins (seiner bildhaften Anschauung bzw. seiner in einem Bild verdichteten Materialisierung) zeigen können. Schon für Kant steht Philosophie als Inbegriff systematischer Vollständigkeit in genauer Korrelation zur Würde als dem Bild menschlicher Ganzheit. Beide vollenden sich in der Moral: – die Philosophie als praktische Philosophie mit ihrem Primat im Verhältnis zur theoretischen: die Richtung der Vernunft auf den Endzweck hin lässt sich nicht theoretisch erkennen, aber praktisch und das theoretische Interesse regulierend beglaubigen; konnte, in: Dorothea Frede, Reinhold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, S. 58–78, hier S. 77 f.: »die spezifische Differenz der moralischen Fragestellung« bleibe »im Ansatz stecken«, weil Cassirer »alle prägnanten Äußerungen schon als Form der Selbstbestimmung« begreife und das normative Element unserer Selbstbestimmung im Handeln nicht davon abheben könne. Der Umgang mit ethischen Normen verlangt allerdings, wie bereits Kant betont, Urteilskraft; und diese grundiert mit einer Haltung, die sich am besten durch die beiden alten Metaphern »Takt« und »Stil« umreißen lässt, die Gestaltung des normativen Bereichs (vgl. dazu das Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit). Vgl. auch Martina Plümacher: Der ethische Impuls in Ernst Cassirers Philosophie. In: Reto Luzius Fetz, Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«, Hamburg 2008, S. 93–116. Plümacher weist die ethischen Impulse für jede der von Cassirer behandelten symbolischen Formen eigens nach. Die Kunst schärfe »den Sinn für Formen und feine Unterschiede in der Form«, so auch im moralischen Kontext: »Verletzung und Anerkennung der Würde des Menschen ist zuweilen eine Frage von Takt und Stil« (ebd., S. 108); sie schließt ihre Erörterung mit Bemerkungen zu der Verantwortung, die jeder Mensch mit seinen Artikulationen übernimmt, sowohl für die Sicherung einer »Vielgestaltigkeit der Zugänge zur Wirklichkeit« als auch für die »Bestimmung der Grenzen der Zuständigkeit einer symbolischen Form und ihren Geltungsbereich« (ebd., S. 115).

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– die Würde als moralische Haltung mit ihrem Primat im Verhältnis zur Erkenntnishaltung: über die Pflicht aus Achtung vor dem Sittengesetz und der Person als Zweck an sich selbst gibt es nichts zu vernünfteln, nichts zu spekulieren und zu theoretisieren. Dieser Zusammenhang wird auch unabhängig von der kantischen Philosophie und mit anderen inhaltlichen und formalen Gehalten verständlich, wenn man den zum allgemeinen Habitus gewordenen szientifisch-analytischen Objektivismus einmal hinter sich lässt und unvoreingenommen den Menschen und seine Lebendigkeit in ganz unterschiedlichen kulturellen Manifestierungen betrachtet. Worin da jeweils die Würde gesetzt wird, ist inhaltlich je anders gefüllt – dass es aber um die Sicherung einer individuellen und sozialen Integrität (der synthetischen Einheit in der Mannigfaltigkeit der Lebensbezüge) geht, ist bereits an Faktum und Funktion von Zeremonien und ritualisierten Umgangsformen, von Techniken der Selbstpräsentation, der Dokumentation und Wahrung hierarchischer oder egalitärer Abstände sowie der Vergewisserung von Zugehörigkeit ersichtlich: Beschämung und Scham sollen vermieden, Respekt soll bezeigt und Würde dargelebt werden; historisch- kulturell wurde sie verschieden, z. T. unter dem relativierenden Prinzip der Ehre, gedeutet: von rigider Abgrenzung zwischen Ständen, Klassen und Gruppen bis zu einem Universalismus der Inklusion aller Menschen. 13 Jedenfalls ist eine solche Sicherung geradezu ontologisch notwendig, weil der Mensch sich gegen die existenzielle Unsicherheit (die sich ganz besonders im Schamausdruck zeigt) stemmen muss, unter deren Bedingungen er sich in der Welt und unter seinesgleichen vorfindet. So liegt es wesentlich an der Form der menschlichen Lebendigkeit, dass sich die Scham als Bild für die Paradoxie der anthropologischen Struktur immer wieder aufdrängt. Denn die Möglichkeiten der Würde und Scham bzw. Beschämbarkeit sind aufeinander bezogen. Sie sind die expressiven Korrelate der Suche nach dem Ganzen, m. a. W. nach der synthetischen Einheit des Menschen. In ihnen kulminiert das Rätsel der Synthesis; diese Rätselhaftigkeit wird darin deutlich, dass Würde und Scham erstens nicht willentlich herbeigeführt werden können bzw. Vgl. zu einer Deutung des Hervorgehens des Prinzips der Würde aus dem der Ehre Kwame Anthony Appiah: Ethische Experimente. Übungen zum guten Leben, München 2009, S. 143 ff.; ders.: Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, München 2011.

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sich einer intentionalen Bewusstseinshaltung versagen, zweitens die Angewiesenheit auf den anderen zur unabdingbaren Voraussetzung haben. Damit schließt sich der Kreis, der ausgehend von der Analogie zwischen kritischem System und Leben gezogen werden kann. Denn jene interne Verbindung zwischen ›Selbst‹ und ›Anderem‹, die überhaupt erst Erscheinungen wie Scham und Würde erzwingt, verweist auf die Moralität als Grundmerkmal der anthropologischen Struktur und als die mögliche Lösung, die im Rätsel der Synthesis immer schon steckt (so wie in jeder echten Rätselfrage die Antwort bereits enthalten ist, nur eben in einer aufzulösenden Verrätselung, wie sie aus den Halsrätseln der Antike bekannt ist 14 ). Genau das war auch die Intuition Kants, als er die Frage nach der synthetischen Einheit des Urteilenkönnens letztlich nicht theoretisch, sondern moralisch- praktisch beantwortete und auf eine ebensolche Begründung der Freiheit stieß, die er mit der Funktion der freien Einbildungskraft noch überbieten konnte, mit welcher er der Lebendigkeit und den Anforderungen an die Möglichkeit einer ihre Eigenart nicht verfehlende oder zerstörende Auffassung gerecht zu werden versuchte. Diese präzise strukturelle Entsprechung zwischen den Möglichkeiten des Urteilssubjekts und dem lebendigen Selbstseinkönnen, d. h. zwischen ›System‹ und ›Leben‹ 15 , im Hinblick auf die Funktion des Moralischen, verweist darauf, dass es sich nicht bloß um eine Analogie im Sinne von Vergleichbarem zwischen Elementen zweier ansonsten disparater Bereiche handelt, sondern dass sich die menschliche Lebendigkeit verdoppelt, wenn sie sich selbst zum ›Gegenstand‹ einer ›Theorie‹ bzw. eines systematischen Nachdenkens macht. Es ist, als ob das Leben sich im System widerspiegelt und insofern verdoppelt wie die Person in der Vielzahl ihrer Rollen, in welchen sie sich, sich entäußernd, objektiviert und darin selbst kennenlernen kann. Wie aber ist diese Verdoppelung genauer zu verstehen?

Selbstdarstellung und Verdoppelung der Lebendigkeit Kulturgeschichtlich war es ein langer Weg der Suche nach einer Einheit, die von der ursprünglichen Synthesis verbürgt wird, und sie stand Vgl. André Jolles: Einfache Formen, Tübingen 19997 ; zum Rätsel: S. 126–149, hier S. 129 f. u. 133. 15 Vgl. dazu Breun: Plessners philosophische Systematik, 2006. 14

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im Zeichen einer existenziellen Selbstvergewisserung. Es ging um nichts weniger als darum, die Welt und den Menschen selbst unter seinem verengten Blick und seiner nicht bloß schaffenden, sondern auch zerstörerischen Hand zu retten vor der Gefahr der Zersplitterung in unzählige Mosaiksteine und der Auflösung in nichts. Aus europäischer Sicht führte der Weg, unter anderem, von den religiösen und metaphysischen Bestimmungen des Göttlichen und des Einen Gottes, der einen Substanz oder der zwei Substanzen aus einem Grund u. a. m. über die wissenschaftlich, insbesondere naturwissenschaftlich orientierte Bestimmung des Denkens überhaupt, des Bewusstseinssubjekts in transzendentaler, dialektischer, absolut-idealistischer oder transzendentalphänomenologischer Fassung bis hin zur kritischen Selbstanwendung solcher Bestimmungen, die ja immer systematisch gemeint sind. Mit der Anwendung kritisch- systematischen Denkens auf sich und seine Resultate selbst verflüssigt sich aber jede theoretische Fixierung, und zurück bleibt das, woraus sie letztlich hervorgehen: das Leben selbst, das im Menschen ein neues Kapitel aufschlägt, weil es in ihm selbstreflexiv wird. Er muss sich und seine Lebendigkeit deuten, um sich so zu bestimmen, dass er leben kann. Er wird so, wie er sich sieht. Und umgekehrt bestimmt er sich danach, wie er lebt, und so versucht er, sich zu sehen. Unter der Hand geschieht es ihm, dass er eine Prototheorie über sich bildet, die dann in der philosophisch-anthropologischen Reflexion mit voller Bewusstheit systematisch und im Detail ausgeführt wird. Da aber zeigt sich nichts anderes, als dass das Leben auf der Stufe seines Reflexivwerdens doch wiederum eine Art von Theorie braucht. Es verdoppelt sich darin, wie es sich sieht, und diese Verdoppelung ist nichts anderes als seine reflexiv gewordene Selbstdarstellung. Portmann hat in seiner philosophischen Biologie darauf hingewiesen, dass alles Lebendige so, wie es zur Erscheinung kommt, sich selbst darstellt, und er hat die »Selbstdarstellung […] als eine der Selbsterhaltung und der Arterhaltung gleichzusetzende Grundtatsache des Lebendigen aufgefaßt […].« 16 Sie konstituiert eine Sphäre des zu deutenden Sinns,

Adolf Portmann: Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde. In: Klaus Ziegler (Hg.): Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957, S. 29–41, hier S. 40. Portmann nennt u. a. das Beispiel der Hutpilze, bei welchen die Selbstdarstellung »nicht auf anschauende Augen hin geleistet wird, sondern eine letzte Gegebenheit dieser Organismen ist« (ebd., S. 36).

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der mit jeder lebendigen Darstellung aufscheint. Selbst pflanzliche und tierische Organismen zeigen »Farb- und Formwerte besonderer Art«, die in diesem »besonderen Sinnbereich ihre Deutung finden« 17 . So gehört die Selbstdarstellung, über den Bereich der lebenserhaltenden Funktionen hinaus, einer Region an, in der »die organischen Gestalten […] ihren besonderen Sinn haben, von dem einiges sich dem forschenden Verstand erschließt« 18 , aber eben nicht alles 19 . Anders wäre die Phänomenologie, die ja letztlich über die präzise Beschreibung hinaus auf die Bedeutung und den Sinn der aufgewiesenen Erscheinungen zielt, gar nicht möglich. Die außermenschlichen Weisen der lebendigen Selbstdarstellung funktionieren ohne ein Bewusstsein dieses Vorgangs, z. T. »›unadressiert‹« bei einfacherer Organisation, z. T. »›adressiert‹« bei höherer Organisation 20 ; beim Menschen tritt das reflexive Bewusstsein hinzu, das ihm alles Darstellen und Selbstdarstellen so schwer macht. Es ist ihm nicht unmittelbar gewährt. Er muss es leisten, üben und zur zweiten Natur werden lassen. Es kann ihm aber auch hypertroph zum Selbstzweck werden; dann trägt er seine eigene Darstellung wie einen Bauchladen vor sich her, statt seine, nun schwer und starr gewordene, Lebendigkeit damit zu unterfüttern, um sie leicht und beweglich werden zu lassen. (So ist auch das darstellende Geschäft der Urteilskraft nur möglich unter der Bedingung der darstellenden Akte des Lebens selbst, so dass auf jedes Urteil zutrifft, was auch für das Leben gilt: es ist nicht nur inhaltlich bestimmt, sondern, ob mündlich oder schriftlich, in einer bestimmten Form ausgeführt, stellt sich in diesem seinem Stil selbst dar und stärkt so seine Überzeugungskraft oder beeinträchtigt sie.) Der Mensch verdoppelt sich in dem, was er von sich zeigt und wie er sich zeigt. Seine Lebendigkeit zeigt sich unausweichlich in Verkörperungen. 21 Verkörperung heißt: ein Verhältnis zum Körper zu haben, Ebd., S. 36; S. 34 spricht er auch von »einem weiteren Felde der Sinngebung«. Ebd., S. 40. 19 Aus diesem Grund spricht Portmann auch von einem ›Rätsel‹ (vgl. ebd., S. 40), das mit bestimmten Umschreibungen oder Begriffen für das Lebendige und seine Leistungen lediglich bezeichnet, nicht aber erklärt oder gelöst wird. 20 Ebd., S. 39. 21 Der Begriff der Verkörperung im philosophischen Gebrauch ist älteren Datums. Er wird wohl erstmals eingesetzt von Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung der kosmologischen Antinomien (hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Buschendorf. Eingeleitet von Brigitte Falkenburg, Frankfurt a. M. 2001). Es handelt sich um die bei Cassirer angefertigte Habilitationsschrift Winds, die bereits 17 18

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diesen vielfältig einzusetzen, um etwas zu tun, zu bewegen, zu zeigen und ihn dadurch zugleich zum Leib zu machen, der, obgleich identisch mit ihm, sich (und damit den zu deutenden Sinn, die symbolische Bedeutung des Gezeigten) von ihm (der körperlichen Materie) trennt, um jene Verdoppelung zu erzielen, mittels derer er, als Leib fungierend, 1934 in Tübingen erschienen war. In philosophisch-systematischer Absicht verwendet Plessner den Begriff in dem Aufsatz Zur Anthropologie des Schauspielers (erstmals 1948, VII, S. 399–418); dieser Verwendung liegt die Körper-Leib-Verschränkung zugrunde, die als Basis der Verkörperung zu gelten hat. In derselben Weise gebraucht Plessner den Begriff in seiner 1970 erschienenen Anthropologie der Sinne, die die Thematik der Einheit der Sinne (erstmals 1923) wieder aufnimmt und unter dem Stichwort der Verkörperungsfunktion der Sinne (im Unterschied zu ihrer Wahrnehmungsfunktion) neu ordnet sowie schlüssiger formuliert. Daraus lässt sich ersehen, wie der Begriff der Verkörperung nach und nach aus Plessners Haltung des kritischen Kritizismus hervorgeht und den Kantischen Schematismus ersetzt. Ähnlich war bei Cassirer der Begriff der symbolischen Prägnanz in viel umfassenderer Bedeutung an die Stelle des Schematismus getreten. Wind verwendet den Begriff im Sinne dessen, dass sich eine Theorie, ein Maßsystem, eine Gesetzmäßigkeit im Experiment und im Messinstrument verkörpern muss, um bestätigt oder widerlegt werden zu können. Symbole, hier der theoretischen Physik, müssen sich verkörpern lassen, um über ihre ›Realität‹ entscheiden zu können (vgl. John Michael Krois: Kunst und Wissenschaft in Edgar Winds Philosophie der Verkörperung. In: Edgar Wind – Kunsthistoriker und Philosoph, hg. v. Horst Bredekamp, Bernhard Buschendorf, Freia Hartung u. John Michael Krois, Berlin 1998, S. 181– 199, bes. S. 183, 185, 190). Bedingung der Möglichkeit dieser Art von Verkörperung ist aber die Differenz zwischen Körper und Leib, die, ausgehend von der Verkörperung, die bereits die Sinne selbst leisten, allererst zum Erzeugen von Symbolen bereits beim Wahrnehmen und zur Verkörperung von Bedeutungen führt. – Belege für die systematische Bedeutung der Kategorie ›Verkörperung‹, sowohl für erkenntnistheoretische als auch für anthropologische Fragen, finden sich in dem Sammelband Embodiment in Cognition and Culture. Ed. by John Michael Krois, Mats Rosengren, Angela Steidele, Dirk Westerkamp, Amsterdam, Philadelphia 2007. Vgl. auch Hans-Peter Krüger: Gehirn, Verhalten und Zeit. Philosophische Anthropologie als Forschungsrahmen, Berlin 2010; Krüger sieht in der »Personalität« das Dritte, das die Differenz zwischen Körperhaben und Leibsein ermögliche, und er betont, dass es paradox sei, »wenn die Körper-LeibDifferenz zugleich die Identität von Körper und Leib ausdrücken wolle« (S. 62). Aber das ist gerade jene Paradoxie, die in der Synthesis des Verschiedenen liegt und sich im Vollzug ›auflöst‹. Dass das so ist, zeigt sich bei Plessner auch darin, dass er zuweilen von Körpersein oder von Leibhaben spricht (z. B. in Plessner, Lachen und Weinen, VII, S. 241), außerdem dadurch, dass das ›Körperding‹ das ›Leibselbst‹ vertreten kann. Er beschreibt klar die paradoxe Struktur: »Leib und Körper fallen, obwohl sie keine material von einander trennbaren Systeme ausmachen, sondern Ein und Dasselbe, nicht zusammen.« (Stufen, IV, S. 367) Die Begriffe sind austauschbar, weil der Körperleib das Eine ist, das sich dann in sich differenziert. Wie sonst ließe sich der leibliche Ausdruck, der sich körperlicher Merkmale bedient, im Anschauen zugleich deuten? Es ist wie in der Synthesis des Urteils. Im Urteil sind Subjekt und Prädikat so miteinander verknüpft, A

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sein Leben führen kann. Die Verdoppelung fängt also bereits da an, wo der menschliche Körperleib in ein sich ausdifferenzierendes Selbstverhältnis treten muss. 22 Diese Differenz ist nicht substanziell oder räumlich und zeitlich zu verstehen, sondern die Folge des Generierens von Sinn, der den Körper hinsichtlich des jeweils angezeigten Sinns zum Leib macht; den Sinn verkörpernd geschieht es ihm, dass er sich verleiblicht – sich von sich selbst abhebt, um die Bedeutung darzustellen, die man nur versteht, wenn man sie durch den Körper hindurch auffasst. 23 Solche Verdoppelungen fangen mit einfachsten Verkörperungen von Sinn an, mit ritualisierten Bewegungen, die symbolische Bedeutung erhalten – d. h. Symbolisierungen, die noch an den konkreten Körper gebunden sind –, führen über die Felszeichnung und die rituell eingesetzte archaische Maske zu Mythos, theatralischem Spiel und Religion bis hin zu wissenschaftlichen Theorien, die immer auch gelesen werden können und müssen als Selbstausdruck des Menschen, als Selbstobjektivation, die er braucht, um zu wissen, wer er ist, weil er es ›von Natur aus‹, ohne solche ›Entäußerung‹, nicht weiß und ohne dieses Wissen um sich nicht existieren kann. 24 Das muss kein explizites Wissen über sich sein, sondern es genügen in manchen Zeiten ein Bild von etwas, das ihn beschäftigt, etwa ein Bison als der Nahrung dienendes und zu jagendes Tier oder eine Zeichnung, die nichts darstellt als eine bloße Ornamentierung, um ihm zu sagen: du darfst nichts mehr abbilden, weil du dir, um dich nicht an etwas Äußerliches zu binden, dass durch ihre Auseinanderlegung zugleich ihre Einheit in der Verschiedenheit ›sichtbar‹ wird. Person wird bei Plessner als Einheit von Körper, Seele und Geist eingeführt (in den Stufen, IV, S. 365), man kann sie auch als Einheit aller körperleiblichen Dimensionen, Aspekte und ›Schichten‹ sehen, von der vegetativen bis hin zur selbstreflektierenden, die sich ja auch im Ausdruck des Körperleibs zeigt. Verengt man die Personalität auf das Dritte von Körper und Leib, dann fehlt ein Begriff für das, was diese drei Strukturmomente umfasst, denn das Dritte (die Relation) muss als Moment seinerseits eingehen in die übergreifende Struktur, für die das Wort von der Person reserviert bleiben sollte. 22 Vgl. zur Verdoppelung der Leiblichkeit in Körper und Leib Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994, S. 465. 23 Vgl. zu diesem Gedanken, dass die Auffassung von Sinn »durch die Körperauffassung hindurchgeht«, Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, hg. v. Marly Biemel, Husserliana IV, Den Haag 1952, S. 240. 24 Vgl. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a. M., 6. erw. Aufl. 2004.

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kein Bild machen sollst. In anderen Zeiten wieder sind es ausgefeilte Theorien, die das Verhalten des Menschen bis ins kleinste regulieren. Immer aber ist es eine Verdoppelung seiner Lebendigkeit, die diese einerseits als gesellschaftliches Leben – im Verhaltensspiel der Rollen und Masken (soziologisch ist hier vom »Doppelgängertum« 25 die Rede) – ermöglicht, andererseits – in den Zwängen der Spielregeln und Konventionen – einschränkt. Auch eine philosophische Theorie fungiert als Verdoppelung dieser Lebendigkeit in einer Form, in der der Mensch sich seiner selbst bewusst werden kann, eine Verdoppelung seiner – ›des Menschen‹ – selbst, in der er sich und das menschliche Leben überhaupt anschauen kann, denn er braucht diesen Halt am ›Objektivierten‹, um leben, d. h. seiner Lebendigkeit gerecht werden, sie in ›Bewältigungsformen‹ und ›Lebenstechniken‹ umsetzen zu können, die dann wiederum nicht selten die Tendenz haben, der Lebendigkeit ›objektivistisch‹ Fesseln anzulegen. In wissenschaftlich-philosophischen Zeiten stehen sich am Ende Leben und System gegenüber, das Leben verdoppelt sich im System, um sich darin zu spiegeln und sich formen zu können. Darin ist die Tendenz zum Systemzwang, zur rigiden Ordnung und Beschränkung des Lebens enthalten, weil es durch die Terminologie des Systems festgelegt und vorweg in seinen Äußerungen bestimmt wird. Frei und zugleich systematisch ist das Nachdenken des Lebens über sich selbst erst dann, wenn es seine eigenen Hervorbringungen unter einer Kategorie zu begreifen vermag, die aus ihm selber stammt und seine Leistungen allererst ermöglicht, so dass eine Ordnung gefunden werden kann, die zum Selbstverstehen des Lebens führt. Dies eben ist die Kategorie der Verkörperung und korrelativ dazu der Verleiblichung (eingeschlossen der jeweilige Gegenzug der Entkörperung und Entleiblichung). Mit dem roten Faden, den diese Kategorie an die Hand gibt, ist es möglich, die Selbstanschauung des Lebens systematisch zu leisten.

Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur (1960), X, S. 227–240, hier S. 233. Bereits Émile Durkheim (Der Selbstmord, Neuwied 1973) entwirft das Bild vom Homo duplex, ebenso Georg Simmel (vgl. Regina Mahlmann: Homo duplex. Die Zweiheit des Menschen bei Georg Simmel, Bamberg 1983).

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Stufen und Richtungen des Vollzugs und Mitvollzugs lebendiger Synthesen Die apriorische transzendentale Synthesis vergleicht Kant mit dem Ziehen einer Linie 26 , und so ist auch die lebendige Synthesis nur im Vollzug da. Analytisch kann weder die transzendentale Synthesis noch die lebendige Synthesis erfasst werden, beide entziehen sich dem analytischen Blick und gehen im analytischen Verfahren unwiederbringlich verloren. Zwar können solche Verfahren die jeweiligen Bestandteile präzise zerlegen, so sehr, dass das Analytische sich nicht nur durchgesetzt hat, sondern als Inbegriff von Wissenschaft und Richtigkeit gilt. Aber die Sinnfrage gerät nicht einmal mehr in seinen Horizont, drängt allerdings durch die Hintertür wieder herein: als das logisch Nachweisbare, das technisch Machbare, das argumentativ Mächtigere. Das gilt dann zugleich als das Sinnvolle im Sinne einer sich durchsetzenden Bedeutung; und es entfaltet seine Wirksamkeit bis in die technokratische Sprache hinein. Die einzige Möglichkeit der Auffassung ursprünglicher Synthesen als Synthesen und nicht als nachträgliche künstliche und kunstvolle Zusammensetzungen aus analytisch isolierten Momenten – als Synthesen mit ihrem Zug zur Sinngebung im Verein mit der sinnlichen Grundlage und in der Nutzung des Widerlagers, das der Körper der Existenz als Leib entgegenhält, 27 die hyle der morphé bietet, der Stoff für die Formung hergibt –, ist der Mitvollzug, der die Differenzierungen, die aus der originären Verbindung resultieren, systematisch zu erfassen vermag und zur Neuschöpfung auffordert. Was hier Vollziehen und Mitvollziehen meinen, und welche Richtung die Suche nach dem Sinn im Verhältnis zur Sinnlichkeit einschlägt, muss aus Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 154 (Werkausgabe Bd. III, S. 150): »Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, […] die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie […] bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn sukzessiv bestimmen […], Acht haben.« Hier wird, nebenbei, sogleich eine kulturelle Relativität deutlich: die Zeit ließe sich in anderen Kulturen, z. B. der indischen, eher durch das Beschreiben eines Kreises symbolisch prägnant machen bzw. figürlich synthetisieren. 27 Vgl. zur Beschreibung des Körpers als »Widerlager« für die leibliche Existenz Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, S. 125. 26

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dem Phänomenbestand erschlossen werden. Was für den erkenntnistheoretischen und wahrnehmungspsychologischen Aspekt des Verständnisses ursprünglicher Synthesen gilt, und was die Synthesis des Lebendigen ausmacht, trifft auch zu auf die Linie, die von der Philosophie selbst als der Geschichte und Systematik des Nachdenkens über das Ganze von Mensch und Welt gezogen wurde. Auch hier ist es notwendig, den Weg mit- und nachzuvollziehen, den die Bestimmung der ursprünglichen Synthesis einschlägt. Es ist ein historisch zurückgelegter und weiter zu gehender Weg, der in seinen Grundlinien von Kant über Dilthey zu Plessner und Cassirer führt 28 , und er führt durch eine systematisch angelegte Landschaft. Historisch gewachsen muss die Bestimmung sein, weil jeder Vollzug einer zeitlichen Folge unterliegt; systematisch ist sie, weil das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Sinngebung – anders gesagt: zwischen Körper und Geist – durch eine beschränkte Anzahl von Möglichkeiten strukturiert ist, die wiederum eine bestimmte Weise des Mit- und Nachvollzugs sowie der Neuschöpfung erzwingen, sowohl Es ist kein Zufall, dass die Problematik der symbolischen Formen allmählich in Fragen der philosophischen Anthropologie mündete; vgl. Ernst Cassirers Beschäftigung mit der philosophischen Anthropologie in den Manuskripten zum geplanten vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen, in Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, hg. v. John Michael Krois, Hamburg 1995. Zum Verhältnis zwischen einer Philosophie der symbolischen Formen und der philosophischen Anthropologie im Hinblick auf die Frage nach der philosophischen Grundlegung vgl. Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin 2010, bes. S. 455–458; Kreis erörtert nicht die Prinzipien der Verschränkung und Verkörperung, ebenso nicht Plessners Gedanken zu einer Grundlegung der Philosophie, so dass er zu der Auffassung gelangt, dass »die Anthropologie das Wesenhafte des Menschen gerade in seiner ›geistigen‹ Lebensform sieht« (S. 457), den Geistbegriff damit aber voraussetze, »ohne ihn selbst entwickeln und begründen zu können« (ebd.). Auf Plessners Anthropologie trifft das nun gerade nicht zu, da es ihm gelingt, ›Geist‹ (ebenso wie Körper, Leib und ›Seele‹) aus dem Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze heraus verstehen zu können. – Zu Cassirer und Plessner vgl. z. B. Ernst Wolfgang Orth: Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner. In: Frithjof Rodi (Hg.): Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Bd. 7/1990–1991, Göttingen 1991, S. 250–274; Volker Schürmann: Anthropologie als Naturphilosophie. Ein Vergleich zwischen Helmuth Plessner und Ernst Cassirer, in: Enno Rudolph, Ion O. Stamatescu (Hg.): Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997, S. 133–170; Heike Delitz: Spannweiten des Symbolischen. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 917–937.

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(1) diachron (vertikal) in der in großer Vielfalt möglichen, geschichtlich-kulturell je verschieden ausgeprägten Entwicklung mit einer gewissen Entwicklungslogik als auch (2) synchron (horizontal) in dem Aufeinandereinspielen der Verhältnismomente, sprich: der sinnlichen Modi, auf die Arten der ›geistigen‹ Sinngebung, die die menschliche Kultur kennt und die sie dem Stoff abgetrotzt hat, wie der Bildhauer seine Skulptur aus dem Stein meißelt. Der erste Aspekt der Synthesis (1) ist von Cassirer mit den Stufen des Ausdrucks (mimisch, analogisch, symbolisch) wie auch den symbolischen Funktionen (Ausdruck, Darstellung, Bedeutung) erörtert worden, wobei er in einigen historischen Studien die Krisen beschreibt, von welchen die geschichtliche Entwicklung geschüttelt und vorangetrieben wird. Den zweiten Aspekt (2) hat Plessner mit den Verhältnisbestimmungen der Konkordanz und der Akkordanz in der Verschmelzung von Sinnlichem und Geistigem freizulegen versucht. Beide Aspekte lassen sich unter das Stichwort der Verkörperung bzw. Verleiblichung fassen, und so kann die von Cassirer wie Plessner je anders aufgebaute Architektonik als Phänomenologie der Verkörperung gelesen werden. Beide, Cassirer und Plessner, haben ihre teils phänomenologischen, teils hermeneutischen und teils transzendentalkritischen Erörterungen trotz ihrer Anknüpfung an den Kritizismus mit dem Ziel seiner kritischen Überwindung nicht explizit in den Rahmen eines Mitvollzugs von synthetischen Leistungen gestellt, wenngleich ihre ausgreifenden Überlegungen von einem solchen Rahmen eingefasst werden. So erscheint ihre Begrifflichkeit auf den ersten Blick zuweilen verwirrend und inkonsequent. Aber gerade unter der Fragestellung nach der ursprünglichen Synthesis und dem Sinn, den sie generiert, kann sich das Knäuel entwirren, welches beide aus den Fäden gesponnen haben, die sie historisch in kritischer Anknüpfung an Kant, systematisch in der Betrachtung der Prozesse des Anschauens und Auffassens aufgenommen haben.

Erweiterung der Erfahrungsbasis Für Aufbau und Inhalt einer philosophischen Systematik ist es entscheidend, welche Erfahrung man als Orientierung und Maßstab nimmt. Der Horizont wird entsprechend verengt, erweitert, geschlos60

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Erweiterung der Erfahrungsbasis

sen oder geöffnet. Der Horizont des kantischen Kritizismus wird von den Erfahrungen vorgezeichnet, die den Wissenschaften der Mathematik und Physik zugrundeliegen; hinzu kommt noch (in der Kritik der Urteilskraft) die Erfahrung, die wir von den Organismen, dem Naturschönen und der Kunst haben, solche Erfahrungen also, die über das Mathematisch-Physikalische hinausgehen. Kant stößt mit der Orientierung am Erfolg der Naturwissenschaften auf das Verstandes-Apriori, das mit der Ergänzung durch die Zweckmäßigkeit (ohne Zweck) nicht gesprengt, sondern den Anforderungen des ästhetischen und teleologischen Denkens angepasst wird. Dilthey hat dies klar gesehen und mit der Verlagerung des Schwerpunkts auf das historische Moment all unserer Erfahrungen, dem auch das Regelwerk von Verstand und Vernunft unterliegt, die Lunte gelegt, um das Apriori zu revolutionieren. Das Bewusstsein war geweckt worden, dass das Apriori seinerseits abhängig war von dem, was man als Erfahrung ernst nehmen musste und der Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit aussetzen konnte, und zwar so, dass diese Bedingungen der Lebendigkeit des Erfahrenkönnens weder entgegen stehen noch sich dieser Lebendigkeit präjudizierend bemächtigen, um sie theoretisierend in den Griff zu bekommen. Im Horizont geschichtlicher Erfahrungen lässt sich ein historisches Apriori gestalten, unter dessen Prämisse das, was man verstehen und erkennen wollte, in der Einstellung des Historismus zu zerrinnen droht. Das war Diltheys Problem, dem er in stetiger Vertiefung sowohl in die Geschichte und ihren ›Stoff‹ als auch in ihre ›Form‹, das Geschichtliche, Herr zu werden versuchte. Es mangelte ihm am rechten Verständnis für das, was hinter der Kulisse der historischen Gestalten lag, die Natur, deren Relation zum Menschlich-Geschichtlichen er zwar für bedeutsam hielt, für deren Aufklärung ihm aber die Mittel fehlten. Es ist der Horizont der Lebenserfahrung überhaupt, der beide Perspektiven in sich fasst, sowohl die ›Naturgrundlage‹, die sich darin offenbart, dass der Körper uns ›hat‹ und wir nicht ungebrochen über ihn nach Belieben verfügen können, als auch der kulturell-geschichtliche ›Bau‹ (nicht Überbau, denn er sitzt der Grundlage nicht auf, sondern beide sind eng ineinander verzahnt), der sich in all dem dokumentiert, was der Mensch expressiv und objektivierend zu leisten imstande ist, weil er seinen Körper hat. Die Kritik setzt dann nicht mehr an Verstand und Vernunft (mit A

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ihren supponierten überzeitlichen Formen) an, sondern an allen erfahrbaren Erscheinungen, wie sie der Mensch im Laufe seiner Geschichte und in der Pluralität seiner Kulturen hervorgebracht und erlitten hat. Hinzu kommen die möglichen Erfahrungen an den Grenzen des Menschseins bzw. Menschseinkönnens. Dabei handelt es sich um solche Formen der Selbsterfahrung und Selbstauffassung, der Erfahrung und Auffassung vom Anderen, die von den äußersten Möglichkeiten der Geltung und der Nichtigung begrenzt werden; sie manifestieren sich in den Bildern von Scham und Würde sowie in dem ›absoluten‹ Bruch des Lebens, den es durch den Tod erfährt. Ein solchermaßen über die Kritik und Selbstkritik der Vernunft hinausgehendes kritisches Verfahren muss die Möglichkeit der geschichtlichen und transkulturellen Erfahrungsvielfalt zu verstehen und deren Bedingungen zu bestimmen suchen; es sind nicht mehr nur die Bedingungen, in deren Rahmen sich das Darstellungsgeschäft der Vernunft vollzieht, sondern die der Expressivität, des symbolischen Formens, der Verkörperung und Entkörperung überhaupt. So machen Cassirer und Plessner aus der Kritik der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft in strenger Konsequenz eine »Kritik der Kultur« 29 bzw. eine »Kritik der Sinne« 30 ; diese lassen sich rekonstruieren als eine Kritik des Ausdrucks- und Objektivationsvermögens und eine Selbstkritik des Menschen in seiner Lebendigkeit, die sich kulturell Ausdruck verschafft, um sich ineins damit zu begrenzen. Die Entscheidung für eine solche Erweiterung des Horizonts hat Folgen für die Systematik selbst (1), ihre paradoxe Form (2), die praktische Bestimmung der Philosophie (3) und den Prozess des Verstehens (4), der schon bei der Aktivität der Sinne anhebt (5) und aus der Verschmelzung des Einen mit dem Anderen resultiert (6). Diese sechs Punkte werden in den nächsten Abschnitten behandelt.

Cassirer, PsF I, S. 11. Die Zitierung erfolgt nach Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt 199410 . PsF I = Erster Teil: Die Sprache (1923); PsF II = Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925); PsF III = Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929). 30 Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), III, S. 7–315, hier S. 16 u. 31. 29

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Offene Systematik Eine der Funktionen des kantischen Kritizismus lag darin, einen Plan zu entwerfen, der realisierbar war, einen Plan dafür, was menschliches Erkennen, Wollen und Urteilen zu leisten in der Lage sind. Der philosophische Sinn dieses Unternehmens sollte darin liegen, einmal Schluss zu machen mit den unbegründbaren Behauptungen unkritischer Spekulationen, statt dessen zu zeigen, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sein könne. Das aber ging nur systematisch, d. h. als vollständige Benennung und Erörterung der metaphysischen Fragen, und kritisch, d. h. als Begrenzung der dem Menschen dazu zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und Möglichkeiten. Schon bei Kant ist es keine geschlossene Systematik, denn er lässt offen, was Nachfolgern weiterzubauen am Gebäude der Vernunft und Philosophie möglich sein wird, und er legt nicht ein für alle Mal fest, was Philosophie zu sein hat (nicht zuletzt, um das nicht festzulegen, unterscheidet er den Weltbegriff vom Schulbegriff der Philosophie), sondern er liefert lediglich den Entwurf, den auszuführen jeder in der Lage sein kann, der sich den Regeln kritischen Denkens unterwirft. Und diese verweisen darauf, dass das, was kritisch möglich ist, sich in den Grenzen möglicher Erfahrung auszuweisen hat. Dieser Entwurf ist so gezeichnet, dass er es zulässt, andere Erfahrungshorizonte als die von Kant gewählten in ihn einzuzeichnen, sofern deren Relevanz für Erkennen, Handeln und Hoffen einsichtig gemacht werden kann. Das aber gelingt sowohl Cassirer als auch Plessner dadurch, dass sie die Kategorialität unterschiedlicher menschlicher Tätigkeiten, Perspektiven, Wissenschaften und Deutungsformen im erweiterten kritischen Verfahren nachweisen. Beide erzeugen dadurch eine Systematik, wenngleich mit einem je anderen Akzent, Cassirer eine eher kulturphilosophische, Plessner eine auch naturphilosophische und ästhesiologische. Cassirers wie Plessners Systematik ist offen und pluralistisch, d. h. keine der menschlichen kulturellen Leistungen wird von vornherein aus der Betrachtung ausgeschlossen, und keine erhält, zumindest der Idee und dem Prinzip nach, einen Vorrang vor anderen; auch wenn etwa bei Cassirer der (monotheistischen) Religion ein entwicklungslogischer ›Fortschritt‹ gegenüber dem Mythos hinsichtlich möglicher ›Kultivierung‹ eingeräumt wird: an der Systematik selbst ändert das nichts; sie schlägt sich im Verfahren nieder, nicht in einer fertigen Theorie, und sie manifestiert sich in einer Richtung, die der kulturelle A

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Prozess Cassirer zufolge einschlägt: die Kultivierung 31 im Prozess des symbolischen Formens zielt auf die »Selbstbefreiung des Menschen« 32 durch Gewinnung einer Distanz, die allererst Selbstbewusstsein als ein Bewusstsein seiner Möglichkeiten zulässt. Mit Plessner ist aber sogleich darauf hinzuweisen, dass eine solche Distanz von geschichtlichpolitischer Warte aus konsequenterweise die Selbstrelativierung und »Selbstentsicherung«33 des eigenen Standpunktes nach sich zieht. Ein solcher Standpunkt kann sich nur in einer Haltung realisieren, die, mit Misch gesprochen, »alles, was Menschen bindet, der Kritik unterwirft« 34 . Es ist ja gerade die Gebundenheit im ursprünglich mythischen, das Zeichen mit dem Gegenstand identifizierenden Verhalten, die ihre Dialektik bereits in sich trägt und den Prozess der Befreiung von Verhältnissen einer identischen Einheit, wie etwa der magischen Kausalität, anstößt 35 . Dieser Prozess endet nicht, sondern erzeugt immer neue Symbolisierungen und realisiert immer neue kulturelle Möglichkeiten. Plessner spricht hier im Anschluss an Diltheys lebensphilosophische Hermeneutik vom hermeneutisch-logischen Prinzip und »Ethos der Unvorhersehbarkeit« 36 , dem sich jenseits aller formallogischen und analytischen Fixierungen Möglichkeiten allererst eröffnen. Philosophisch hat diese Orientierung an der Lebendigkeit eine paradoxe Konsequenz. Die Paradoxie besteht darin, eine »Universalperspektive« 37 einzunehmen, wie sie sich im ›europäischen Menschentum‹ (Husserl) 38 durchgesetzt hat, eine Perspektive allerdings, die sich, will sie wirklich universal sein, auch noch »ihrer eigenen RelatiErnst Wolfgang Orth (Cassirers Philosophie der Lebensordnungen. In: Ernst Cassirer: Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. v. Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 1993, S. 9–30) spricht von einer »Kultivierung von Lebensordnungen« (ebd., S. 24), die im Sinne Cassirers auch das Ziel von Philosophie und Wissenschaft sei. 32 Cassirer: Versuch über den Menschen, 1996, S. 35 u. 345. 33 Plessner: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), V, S. 135–234, hier S. 214. 34 Georg Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Dilthey’schen Richtung mit Heidegger und Husserl, Leipzig, Berlin 1931, S. 322. 35 Vgl. z. B. Cassirer, PsF II, S. 286 ff. 36 Plessner: Macht und menschliche Natur, V, S. 184. 37 Ebd. 38 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, Weinheim 1995. 31

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vität bewusst« 39 wird, ihre Verabsolutierung zurücknimmt und ihre bloße Historisierung überwindet – sie zur Voraussetzung des Blicks macht, die sich nicht wiederum selbst vor den Blick schiebt; so lernt dieser Standpunkt zuletzt, weil er doch alles, auch sich selbst, von sich abrückt, die selbst zugestandene Relativität seiner universalen Perspektive mit ihrer erkämpften Selbsttransparenz 40 »als die Bedingung einer echten Objektivität begreifen« 41 . Dann erst gelingt es, unter Verzicht auf den hegemonialen Anspruch der eigenen Symbolisierung andere Konkretisierungen symbolischer Formung, d. h. andere Kulturen und Lebensordnungen, als gleichmöglich und gleichwertig in den Blick zu bekommen und zugleich darauf setzen zu können, dass die eigene Ordnung Bestand hat 42 , gerade deshalb, weil sie nicht von der Kritik ausgenommen wird. Weder ein multikulturelles Konzept der Nivellierung aller partikularen symbolischen Formungen noch eine absolute Zentrierung im eigenen (europäischen oder anderweitigen) Symbolsystem ist damit präferiert. Das erste verzichtet auf den Ernst der eigenen Haltung und Stellungnahme, die zweite erhebt sich über andere Möglichkeiten, negiert oder überwältigt sie. Der der exzentrischen Position verpflichtete philosophische Standpunkt 43 reiht sich ein in die Plessner: Macht und menschliche Natur, V, S. 185. Vgl. Plessner: Das Ärgernis des Denkens. Zum Thema: Schuld und Aufgabe der Philosophie (1955), IX, S. 320–324, hier S. 323. 41 Plessner: Macht und menschliche Natur, V, S. 185. 42 Vgl. ebd., S. 186. 43 Vgl. dazu Plessner selbst im Vorwort zur ersten Auflage der Stufen, IV, S. 12. An dieser Stelle weist er darauf hin, dass es das Verdienst von Josef König (Der Begriff der Intuition, Halle 1926) sei, die »Situation der Exzentrizität […] als Boden und Medium der Philosophie zum ersten Mal bestimmt zu haben«. Cassirers Lösungsvorschlag zeigt eine deutliche Nähe hierzu, wenn er sich gegen ein geschlossenes System wendet: »Der Gefahr eines derartigen Abschlusses vermöchte die philosophische Betrachtung nur dann zu entgehen, wenn es ihr gelänge, einen Standpunkt zu finden, der über all diesen Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt: – einen Standpunkt, der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen und der in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander, nicht das Verhältnis, das sie zu einem äußeren, ›transzendenten‹ Sein oder Prinzip haben. Dann erstünde eine philosophische Systematik des Geistes, in der jede besondere Form ihren Sinn rein durch die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchen sie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit deren Allheit steht.« (Cassirer, PsF I, S. 14) Die lebenslange Arbeit Cassirers galt nicht zuletzt dem Aufbau einer solchen ›Matrix‹, in welcher jede kulturelle Form nicht nur die ihr zustehende 39 40

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Riege der symbolischen Formungen, weiß sich zum gesamten Tableau gehörig und stellt es dar wie ein Maler, der sich selbst einen Platz darin zuweist. Cassirers und Plessners perspektivische Blicke koinzidieren in diesem Punkt: sie suchen den Überblick, aber nicht von oben herab, und sie suchen den archimedischen Punkt (des Verstehens und Selbstverstehens), ohne ihn an einer einzigen Stelle fixieren zu wollen.

Paradoxe Form Es sollte hinreichend deutlich geworden sein, dass die Paradoxie (die sich entgegensetzenden und eigentlich ausschließenden Richtungen der einen Sinngebung, also der Widerspruch, die Sinnwidrigkeit, der Widersinn) in der anthropologischen Struktur überhaupt tief verwurzelt ist, so tief, dass deren wesentliche Erscheinungsformen und die korrelativen Auffassungsweisen ihren Stempel tragen. In der Perspektive der offenen Systematik bekommt die Paradoxie Konturen. Sie durchdringt mit ihrer Form sowohl die Philosophie (auch wenn diese versucht, den Schwierigkeiten des Paradoxen durch die Präferenz logisch-analytischer Maßnahmen zu entgehen) als auch das Leben und Bewusstseinsleben. In dieser Perspektive zeigt sich, dass das sich im historisch-kulturellen Prozess phylogenetisch und ontogenetisch entwickelnde Bewusstsein des Menschen von sich selbst unauflösbar an Scham und Scheu gebunden ist, auch noch in den Modi der (theoretisch-epistemischen und praktisch-moralischen) Schamlosigkeit und Aufdringlichkeit; und gräbt man hier bis auf den Grund, findet man, (a) als Untergrund der existenziellen Scham wie auch der Schamlosigkeit entgrenzter Hybris, das Nichts: im Scheitern des hybriden Anspruchs wie im brüchigen Selbstbezug dessen, der, im grellen Licht einer sich als frei, selbstbestimmt und kontrolliert sich präsentierenden Individualität stehend, zugleich im Boden versinken möchte, weil er auf seine Machtlosigkeit, Unfähigkeit und Unfreiheit gestoßen wird; Stelle zugewiesen bekommt, sondern deren Quelle, Umfang, Grenze und Beziehungsvielfalt im Verhältnis zu den anderen Formen so bestimmt wird, dass sich ihr jeweiliger Sinn offenbart und am Ende der Sinn des Ganzen aufscheint – der Sinn von Kultur überhaupt und damit des Verhältnisses von Selbst und Welt. Das ist eines der Motive dafür, dass Cassirer nach und nach Technik, Geschichte, in gewisser, wenngleich noch undeutlicher Weise auch Ethik und Politik in die Matrix der symbolischen Formen und kulturellen Leistungen einzubauen versucht hat.

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(b) im Gegenzug aber und im Lichte einer Moralität, die sich des Scheiterns und der Nichtigkeit in Formen praktizierbaren Umgehens mit der Brüchigkeit annimmt, findet man die Würde. Das gilt sowohl für das individuelle Selbstbewusstsein, hier nachvollziehbar (a) einerseits im Bild der akuten Scham und Beschämbarkeit, (b) andererseits im Bild der würdevollen Haltung, als auch für das ›allgemeine‹ Selbstbewusstsein ›der‹ Philosophie, in ihrem Bestreben, (a) sich weder ein Wissen und eine Weisheit ungeprüft und unbegründet anzumaßen noch vorschnell normativ und ratgebend tätig zu werden (als Analogon der Scheu), sowie (b) sich von außen, d. h. von anderen Kulturmächten, Einzelwissenschaften oder ungeprüften Überzeugungen, nichts vorschreiben zu lassen (als Analogon der würdevollen Haltung). 44 Das Verbot der theoretischen Selbstüberhebung und das Gebot der Selbstbegrenzung beschränken das Streben und Suchen der Philosophie in einer Weise, die ihr zugleich den Freiraum verschafft, sich in ihrem Recht neben anderen kulturellen Formen zu beweisen, zu behaupten und ihnen in gewisser Weise dienlich zu sein, indem sie mit dem Votum für eine reflektierte Lebenspraxis die Risiken der spekulativen Maßlosigkeit theoretischen wie moralischen Eigendünkels begrenzt.

Die praktische Bestimmung der Philosophie Die Stellung der Philosophie im Spektrum der kulturellen Leistungen lässt sich klar umreißen, wenn man mit Cassirer die Unterscheidung zwischen theoretischem System und systematischem Philosophieren eigens betont. In der Philosophie lässt sich spätestens seit der Kritik an Hegel eine deutliche Aversion gegen jegliche Systembildung ausmachen. Das ist berechtigt, weil das Systemdenken dazu neigt, Erfahrungen in unzulässiger Weise vorwegnehmen, alles Besondere und Individuelle aus dem Allgemeinen deduzieren, die Vielfalt der PhänoDiese beiden Merkmale unterscheiden die Philosophie von pseudophilosophischen Varianten, die ihren Namen usurpieren, etwa Ratgeberliteratur, wissenschaftshöriger Theoriebildung oder dogmatischen, d. h. unkritischen und der Selbstreflexion ermangelnden Denkgebäuden. Nebenbei: Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, München 1992, S. 331) unterscheidet Scham- und Stolzphilosophien je nach ihrer Einstellung zu dem Anspruch, den der Mensch einlösen oder dem er in falscher Selbsteinschätzung nicht gerecht werden kann.

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mene dem Begriff unterwerfen zu wollen. Inzwischen lässt sich aber auch die Tendenz feststellen, das systematische Denken über Bord zu werfen. Schon das Wahrnehmen enthält allerdings eine Systematik, denn es strukturiert und symbolisiert unter anderem nach Raum-, Zeit- und Dinghaftigkeit. Die Philosophie verliert sich nicht bloß in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht im Grau des Ungefähren, wenn sie keinen systematisierenden Anspruch mehr hat. Sie stochert im Nebel der Pulverisierung von analytisch zerkleinerten Größen, die unverbunden nebeneinander stehen; das erzeugt zugleich eine Haltung praktischer Unverbindlichkeit, die den ethischen Fragen, die sich gerade durch die Dominanz der analytisch-technischen Kultur stellen, normativ nicht mehr gerecht werden kann. Cassirer entwickelt die Differenz zwischen System und Systematik am Beispiel der Denker der Aufklärung, weil hier ein entscheidendes Moment des Philosophierens hervorbricht, das aber doch schon in früheren Zeiten von einer Bedeutung war, die nicht bewusst reflektiert worden sein mag, aber das Philosophieren selbst getragen hat und auf deren praktische Dimension zielt. Cassirer stellt fest, dass sich die Denker der Aufklärung vom »›esprit de système‹« verabschieden und an seiner Stelle einen »›esprit systématique‹« 45 pflegen. Das bedeutet: Auch wenn an den Lehrbestand der vorangehenden Epochen angeknüpft wird, bildet sich doch »eine durchaus neue und eigentümliche Form des philosophischen Gedankens« 46 aus. Der »universelle Prozeß des Philosophierens« 47 wird nun anders gesehen und bestimmt. Es geht nicht mehr um Axiome und Deduktionen, sondern um die Erschließung der »Grundform der Wirklichkeit« 48 . Genau das ist das Anliegen, das mit den sich ergänzenden Verfahren zum einen der Ästhesiologie des Geistes und der Philosophischen Anthropologie (bei Plessner), zum anderen der Philosophie der symbolischen Formen und der kulturhistorischen Studien (bei Cassirer), die jeweils (mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung) Natur und Geschichte, Transzendentalkritik und Hermeneutik auf der Basis der Phänomenologie verknüpfen, verfolgt wird. Die Wirklichkeit gilt es, systematisch so aufzufassen, wie sie ›ist‹ und vom Menschen erlitten und gemacht 45 46 47 48

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Ernst Cassirer: Philosophie der Aufklärung, Hamburg 1998, Vorrede, S. X. Ebd., S. IX. Ebd., S. X. Ebd.

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wird, um von dieser Auffassung her moralisch-praktischen Einfluss auf sie auszuüben (was z. B. schon dadurch gelingen kann, dass man die Grenze der Leistungsfähigkeit einer symbolischen Form respektiert). Cassirer bestimmt von dieser Interpretation der Aufklärung als Wirklichkeitserschließung aus die Rolle der Philosophie, konkretisiert damit ihren paradoxen Standpunkt des immanenten Überblicks und weist ihr in einer bemerkenswerten Standortbestimmung, darin wiederum Plessners Verknüpfung der Philosophie mit der Exzentrizität ähnlich, eine mediale und atmosphärische Funktion zu. Wie bereits Kant ordnet er der Philosophie kein eigenes Gebiet der Erkenntnis zu, sondern, darin wiederum Plessner gleich, einen Boden als »das allumfassende Medium«, in dem die Sätze aller Erkenntnisformen (Cassirer nennt die der Natur, des Rechts, des Staates) »sich bilden, sich entwickeln und sich begründen«. Er spricht sogar davon, dass die Philosophie für all diese Erkenntnisse, Wissenschaften und Kulturformen »[…] gleichsam den belebenden Odem [bildet]; die Atmosphäre, in der sie allein dasein und wirken können.« Und er wendet seine ältere Unterscheidung zwischen Substanz- und Funktionsbegriff 49 auf die Philosophie an: sie sei »nicht mehr die abgesonderte, die abstrakte Substanz des Geistigen, sondern sie stellt den Geist als Ganzes in seiner reinen Funktion, in der spezifischen Weise seines Forschens und Fragens, seiner Methodik, seines reinen Erkenntnisganges dar.« 50 Lässt sich ein Begriff von Philosophie als der Atmosphäre, in der die großen kulturellen Leistungen entstehen, in der sie, darin atmend, wirklich und erlebbar werden sowie ihre Wirksamkeit entfalten können, rechtfertigen im Sinne der kantischen Frage nach der Rechtsgültigkeit eines Begriffs, die sich ausweisen können muss – etwa durch Anschaulichkeit, Anwendbarkeit, Objektivität? Lässt sich die Philosophie als ›Darstellung‹ des Geistes verstehen, so wie er ›als Ganzes‹ fungiert und sich zeigt – und so, dass dieser Darstellung eine korrespondierende Anschauung verschafft werden kann? Bezieht man Cassirers Beschreibung der philosophischen Funktion auf die kantische Frage nach ihrer Rechtsgültigkeit, könnten sich drei verschiedene Antworten ergeben. Vgl. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 19232 (Gesammelte Werke, hg. v. Birgit Recki, Bd. 6, Hamburg 2000). 50 Cassirer: Philosophie der Aufklärung, 1998, S. X f. 49

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(1) Der Philosophie müsste in der Wirklichkeit etwas entsprechen, wofür sie selbst die Bedingungen seiner Möglichkeit liefern kann – analog zur kantischen Beweisführung, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind. Der Philosophie müsste etwas Gegenständliches bzw. eine Wirklichkeit gegenüberstehen, die von ihr unabhängig ist, deren Möglichkeit aber nur durch Philosophie begriffen wird. Aber da verbliebe man im Rahmen der theoretisch-bestimmenden Urteilskraft und damit innerhalb von Grenzen, die Philosophie gar nicht erforderlich machen, weil hier bereits die Wissenschaft, ausgehend von einem fraglos Gegebenen, alle Ansprüche erfüllt. (2) Oder die Philosophie symbolisiert etwas, das nicht theoretisch bestimmt werden kann, aber für die Zwecke der reflektierenden Urteilskraft immerhin so weit bestimmbar gemacht wird, dass es der Selbstreflexion des Menschen dient. Dann würde sie entweder etwas der Kunst Ähnliches zu leisten versuchen, was diese mit ihren konstruktiven Formen besser kann, oder sie würde der Religion gleichen, die der Hoffnung Nahrung gibt, indem sie das Telos mit Glaubensinhalten füllt. (3) Oder der Philosophie müsste es gelingen, mittels ihres Begriffs bzw. ihrer Idee wirklich zu machen, was dieser Begriff enthält und in den Sätzen einer praktischen Urteilskraft so zum Ausdruck kommt, dass sie, so Cassirers Auffassung, schöpferisch wird und sich der »Aufgabe der Lebensgestaltung« 51 annimmt. Die philosophische Reflexion gefällt sich dann nicht bloß in einem müßigen und manchmal ärgerlichen Theoretisieren und bis zur Haarspalterei gehenden Analysieren, sondern gibt dem Leben eine sinnvolle Struktur. Anders gesagt: Die Verdoppelung des Lebens in der Philosophie (und ihrer Vorformen) ist das Mittel des menschlichen Lebens, sich gemäß seiner spezifischen Wesenszüge zu formen und zu verwirklichen. Philosophie leistet damit die Synthesis der Synthesen, die der Lebendigkeit inhärent sind und die zu durchschauen »einer universellen, synthetischen Anschauung, die alle individuellen Formen in sich begreift« 52 , gelingen kann, einer Ästhesiologie des Geistes, wie sie Pless51 52

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Ebd., S. XII. Cassirer: Versuch über den Menschen, 1996, S. 113.

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ner inauguriert hat und wie sie, in der Variante einer Phänomenologie des Geistes, in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen vorliegt. In der Bezeichnung und Idee des Universellen kommt das ethische Moment der praktischen Bestimmung der Philosophie ins Spiel. Denn das Feld der Möglichkeiten, die uns die Sinne in ihrer Verschmelzung mit dem geistigen Sinn eröffnen, ist allen Menschen gemeinsam, und seien ihre sinnlichen Leistungen aufgrund von Schädigungen, körperlichen Einschränkungen usw. noch so begrenzt. Die Einheit der Menschheit sieht Cassirer (wie Plessner) in der sinnlich vorstrukturierten Expressivität als Voraussetzung, schöpferisch tätig zu werden. 53 Die aus der ursprünglichen Synthesis quellende Einheit, nach der die Philosophie sucht, ist demnach nicht die »Einheit der Wirkungen« (wie in den Wissenschaften mit ihren Resultaten), sondern die »Einheit des Handelns« (wie in der moralischen Praxis); es geht nicht um die »Einheit der Erzeugnisse« (wie in der Technik), sondern um die »Einheit des schöpferischen Prozesses« 54 (wie in der Kunst, aber auch in der Moral). 55 In den Akten der symbolischen Prägnanz bzw. der Verkörperung und Verleiblichung (und das heißt im Körperleib und seiner Auffassung selbst 56 ) realisiert sich der schöpferische Prozess und ist die synthetische Einheit aller Synthesen von Sinnlichkeit und Sinngebung als moralische Aufgabe beschlossen. Jede Zeit und jede Kultur hat sich ihr zu stellen. Dass es nicht bloß eine technische oder eine ästhetische, sondern eine moralische Aufgabe ist, lässt sich daraus ersehen, dass Vgl. dazu aus moralphilosophischer Sicht den Ansatz des capability approach bei Martha Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a. M. 1999, S. 49–59; dies.: Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge, London 2006, S. 76–78. 54 Cassirer: Versuch über den Menschen, 1996, S. 114. 55 Ähnlich ist für Maurice Merleau-Ponty Philosophie »[…] nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, der Kunst gleich, Realisierung von Wahrheit« (Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, S. 17). Da sie nicht bloß Reflex sei, mache sie die »immer erneute Erfahrung ihres eigenen Anfangens« (ebd., S. 11). »Philosophie heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen.« (ebd., S. 18) Auch Merleau-Ponty gibt, in der Nachfolge Cassirers, der Philosophie das dynamische und kreative Moment zurück, was sie dann verliert, wenn ihr Schulbegriff das Übergewicht über den Weltbegriff erlangt. 56 Vgl. zur Einheit von Körperleib und Sinn Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, hg. v. Marly Biemel, Husserliana IV, Den Haag 1952, S. 240 f. 53

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jegliche Sinngebung, jedes Setzen einer Bedeutung ein Zusammenspiel des je eigenen Leibes mit dem der Anderen voraussetzt – mimisch, gestisch, sprachlich. Es wird Einiges an Aufklärung über das Rätsel, das mit der Synthesis überhaupt gegeben ist, möglich sein, wenn man die Kategorien der Verkörperung und der symbolischen Prägnanz in ihrer systematischen Stellung und synthetischen Leistung nach allen Seiten betrachtet.

Die Krisis des Anfangs und der Prozess des Verstehens Eine offene, prozessuale Systematik lässt sich nur als Kritik, nicht als Doktrin bzw. als dogmatische Theorie durchführen 57 . Philosophisch hat das die Konsequenz, dass das Denken den kritischen Standpunkt auf sich selbst und sein eigenes Verfahren anwendet. Damit wird jene Distanz eingenommen und philosophisch zu ihrem Recht gebracht, die den Menschen im Unterschied zum Tier zu einem exzentrischen Wesen macht: es steht über seinem Zentrum, ohne jedoch das Zentrum verlassen zu können. Der Vollzug selbst aber kann reflektiert werden. Das kann ihm hinderlich oder förderlich sein, jedenfalls liegt darin eine Steigerung in den Möglichkeiten des umsichtigen Bewegens, Tuns und Handelns. »Alle Erkenntnis der Welt und alles im engeren Sinne ›geistige‹ Wirken auf die Welt erfordert, daß das Ich die Welt von sich abrückt, daß es, im Betrachten wie im Tun, eine bestimmte ›Distanz‹ zu ihr gewinnt. Das tierische Verhalten kennt diese Distanz noch nicht: das Tier lebt in seiner Umwelt, ohne sie sich in dieser Weise gegenüberzustellen und sie, kraft dieser Gegenüberstellung, ›vorzustellen‹.« 58 Das könnte ein Zitat von Plessner sein, mit dem er die zentrische Position des Tieres von der exzentrischen des Menschen abgrenzt. Es stammt aber von Cassirer, der den ihm eigenen Schluss zieht: »Diese Gewinnung der ›Welt als Vorstellung‹ ist vielmehr erst das Ziel und der Ertrag der symbolischen Formen – das Resultat der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst und der theoretischen Erkenntnis.« 59 Vgl. Plessner: Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft (1920), II, S. 7–321, hier S. 290; Cassirer, PsF I, S. 11. 58 Cassirer, PsF III, S. 322 f. 59 Ebd., S. 323. 57

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Die Krisis des Anfangs und der Prozess des Verstehens

Plessner würde es wohl anders sehen. Die naturphilosophisch begründbare und phänomenologisch aufweisbare Stellung des Menschen, das ihm eigene Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze, ermöglicht die von Cassirer hier genannten symbolischen Formen; sie sind die Modi der vermittelten Unmittelbarkeit, in denen der Mensch lebt, weil ihm ein unvermitteltes Leben nicht möglich ist. Seine Position der Fernnähe – ein Wort, das an Nietzsche und Simmel erinnert und mit dem Plessner manchmal den Terminus der Exzentrizität umschreibt – zwingt ihn zum Griff nach diesen Mitteln, die er (er)findet, um seiner Natur gerecht zu werden: die Künstlichkeit der Mittel muss zu einer Kunst führen, die ihm zur Natur werden kann. Sowohl in Cassirers als auch in Plessners Verfahren liegt eine Dialektik, die analog zu Kants transzendentaler Dialektik der reinen Vernunft verläuft. Sie ist schon deshalb nicht zu umgehen, weil sich bereits im und mit dem Anfangen selbst eine Krisis manifestiert, welcher sich beide Philosophen voll bewusst sind (und auch an dieser Stelle wiederholt sich die paradoxe Form, wiederum analog zur Krisis des Anfangs im Schambewusstsein). Während aber Plessner diese Krisis zunächst philosophisch herausarbeitet, um sie dann für sein Verfahren methodologisch zu nutzen, stößt Cassirer bei der Betrachtung des mythischen Bewusstseins und dessen Entwicklung auf den kritischen Punkt. Er identifiziert ihn als Dialektik zwischen Bild und Sinn, die sich in den symbolischen Formungen der Religion, der Kunst oder der Wissenschaft, ja auch der Politik und Ethik, je unterschiedlich auswirkt. Bei beiden, Cassirer wie Plessner, ist jedenfalls die Dialektik bzw. Krisis konstitutiv für den Gang der Entwicklung, zum einen des jeweiligen philosophischen Verfahrens, zum anderen der jeweils zu beschreibenden Stufen – bei Plessner: die Stufen des Organischen und die kulturellen Möglichkeiten des Menschen bis hin zum Verstehen des Lebens selbst, d. i. Selbstverstehen des Menschen und seiner exponierten Stellung; bei Cassirer: die Stufen des Verhältnisses zwischen Bild und Sinn, Repräsentation und Repräsentiertem, vom mimischen über das analogische zum symbolischen Stadium mit der Richtung auf das Selbstverstehen des Menschen und seiner Weltgestaltung vermittels der symbolischen Formen. Was beide eint, ist der aus der von ihnen je anders vollzogenen Selbstanwendung des Kritizismus notwendig resultierende Gedanke der Selbstbefreiung, der in solchem Selbstverstehen liegt. Wer zum vollen Bewusstsein seiner Situation durchdringt, hat die Chance, die Gebundenheit an diese Situation zu überwinden, nicht, A

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indem er aus ihr herausspringt, sondern, indem er sie durchschaut und damit jene Distanz gewinnt, die man sich immer dann zu verschaffen sucht, wenn man handlungsfähig sein will. Solche Distanz erzeugt Spielräume des Handelns. Andernfalls unterwirft man sich Bedingungen, die man gar nicht kennt. Bleibt es bei der Unkenntnis über die eigenen Bedingtheiten, d. h. über das körperleiblich-welthafte Konformitätssystem, dem man als Lebewesen nicht entrinnen kann, widerstreitet das der menschlichen ›Bestimmung‹, die schon mit der hermeneutischen Struktur des anthropologischen Systems gegeben ist: sich einen Überblick zu verschaffen, um es zu gestalten, ohne es aber verlassen zu können. Wir stehen ›innerhalb außerhalb‹ 60 und damit in einer von Antinomien geprägten Struktur. Deren Widersprüche lösen sich auf in lebendigen Synthesen. Das gilt auch für die Frage nach der Gegenständlichkeit, die Cassirer erkenntnisphänomenologisch und Plessner ästhesiologisch stellt.

Aktivität und Objektivität der Sinne Der kantische Kritizismus konnte auch deshalb zum Vorbild für eine Nachfolge werden, weil er das Problem der Gegenständlichkeit der (sinnlichen) Wahrnehmung auf neue Weise anging. Wie kommt es zur Objektivität, zur Wahrnehmung eines Gegenstandes? Inwiefern ist das, was unser Sinnesapparat (in Verbindung mit dem Gehirn usw.) leistet, gegenstandsbezogen? Die erkenntnistheoretische Fassung des Problems wird bei Cassirer und Plessner zum Anlass genommen, um grundsätzlich danach zu fragen, ob das, was Husserl originär gebende Anschauung nennt, überhaupt möglich ist, und ob es nicht Erfolg versprechender sein könnte, das Problem zu überführen in den kulturphilosophischen Rahmen, den beide, wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunkten, dem Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff,

Vgl. Plessner: Macht und menschliche Natur, V; Plessner beschreibt hier »die Position des Menschen« als »Innerhalb seiner Perspektive außerhalb seiner stehen«, eine »Verschränkung«, die »kein Widerspruch« (S. 223) sei, sondern die Struktur der offenen Immanenz anzeige, die aus der Distanz der Binnenperspektive heraus den Blick nach außen und zurück auf sich selbst ermöglicht. Was vom logischen Standpunkt aus widersprüchlich erscheint, ist die Bedingung des hermeneutischen Vollzugs, der den Widerspruch hinter sich lässt.

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zwischen Sinnlichkeit (der Anschauung, der Wahrnehmung) und Sinngebung (Auffassung, Deutung) geben. Husserls Vorgehensweise ist, zumindest in den veröffentlichten Schriften bis etwa 1915, letztlich analytisch, wie Plessner insbesondere in seinen beiden frühen Schriften zu Kant bzw. Husserl gezeigt hat. 61 Die analytische Methode hat den Nachteil, dass sie das, was sie zunächst aus einem Ganzen heraus isoliert hat, danach wieder mühsam auf andere isolierte Momente beziehen und aus den so herausgefilterten Teilen das Ganze erneut zusammensetzen muss – was nicht gelingen kann, weil das zerstörte Ganze unter dem analytischen Blick immer im Zerfall begriffen ist und dem neu Zusammengesetzten nachträglich kein Leben eingehaucht werden kann. Dagegen stellen Cassirer und Plessner die Synthese an den Anfang: sie gehen von einer Verschmelzung von Sinnlichem und Geistigem, einer Korrelation zwischen Leib und Geist aus, die analog ist zur Synthesis des Verschiedenen, wie sie Kant für das synthetische Urteil a priori reklamiert. Cassirer bezeichnet diesen Vorgang als symbolische Prägnanz und zeigt, wie diese sich je unterschiedlich und in dreifacher Funktion in den kulturellen Leistungen von Mythos und Religion (Ausdruck), Sprache und Kunst (Darstellung), Wissenschaft und Mathematik (Bedeutung) niederschlägt. Plessner beschreibt den gleichen Vorgang zunächst unter dem Stichwort der Modalitäten, in denen sich, drei an der Zahl, Sinn und Sinngebung so treffen, dass Gegenständlichkeit und kulturelle Leistung möglich werden 62 : Kunst, insbesondere Musik (Ausdruck bzw. thematische Prägnanz); Sprache und Schrift (Kundgabe durch Zeichen bzw. syntagmatische Präzisierbarkeit); Wissenschaft, insbesondere Geometrie (Handlung bzw. schematische Darstellbarkeit). Später, in der Erörterung der dem Schauspieler möglichen Leistung, bezeichnet Plessner den hier gemeinten Vorgang als Verkörperung, dem er die bereits in der Einheit der Sinne und in Lachen und Weinen ausdrücklich genannte Verleiblichung zur Seite stellt. Man sieht schon an den Bezeichnungen in der jeweiligen Klammer, dass es hier Unterschiede geben muss. Sie rühren daher, dass Plessners Verfahren auch naturphilosophisch ist, Cassirers eher semiotisch. ›Gegenstand‹ ist für Cassirer, der in dieser Frage erkenntnistheoretisch vorgeht, ein Grenzbegriff; Plessner verschiebt den Akzent zu61 62

Vgl. Plessner, I und II. Vgl. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 220. A

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nehmend (gerade wenn man die frühe mit der späten Schrift zum Thema der Sinne vergleicht) von der Erkenntnistheorie auf die Pragmatik. Während er noch im Buch von 1923 das, was er später Verkörperung nennt, nämlich die je sinnesspezifische Verbindung von Stoff und Sinngebung sowie deren systematische Einheit im Leib, als Voraussetzung objektiver Wahrnehmung bestimmt 63 , schränkt Plessner dies später, in der Abhandlung von 1970, ein und spricht von der »Aktionsrelativität der Sinne« 64 ; d. h. je nachdem, was man mit ihnen tut, wird das Wahrgenommene gegenständlich; es ist z. B. ein Unterschied, ob ich einen Apfel als Obstesser oder mathematisch als Exemplar für eine Kugelform betrachte. So ist die Gegenständlichkeit korrelativ zum Verkörperungsmodus. Es liegt nahe, hier auf eine Grenze zu verweisen, nämlich ein Nichtwissen in dieser Frage. Deshalb paraphrasiert Plessner den berühmten Vers Goethes: »Am Licht hat sich das Licht gebildet, heißt es bei Goethe: ›wär nicht das Auge sonnenhaft‹.« 65 Das verweist auf obige Korrelation, woraus zugleich folgt, dass wir nicht wissen können, ob »das Ding noch aussieht, wenn kein Auge mehr es ansieht« 66 . Lediglich die Art, wie es sich (uns) darstellt, ist mit dem jeweiligen Sinnesmodus und dessen Aktivierungsweise verbunden. Das bedeutet, wie bei Cassirer, dass es keinen Sinn hat, von einem Ding an sich auszugehen, das hinter dem erscheinenden Gegenstand schlummert, sondern dass Gegenständlichkeit überhaupt auf eine spezifische Modalität bzw. eine syn- und kinästhetische Mischung, in der sie sich präsentiert, bezogen bleibt. Zumindest in dieser Hinsicht gibt es keine Transzendenz, die Bestimmung eines wahrgenommenen Gegenstandes hat sich immer im Rahmen der Modalitäten zu halten. Plessner versteht es aber, die Offenheit in dieser Frage zu nutzen, um den naturphilosophischen Weg, der dem sinnlichen Wahrnehmen Vgl. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 305. Vgl. hier auch S. 310: »Unsere Theorie […] begründet die Objektivität der Modalitäten, die Wirklichkeit des Aussehens der Dinge, die Wahrheit des Antlitzes der Natur. Die Qualitäten sind nicht absolute Seinszustände und sie sind keine subjektiven Zustände. Sie sind vielmehr Weisen, in denen absolutes, das heißt, vom Bewußtsein losgelöst beharrendes Sein, der Stoff, die Materie gegenständlich: für ein Bewußtsein wirklich werden kann. Als solche Weisen ermöglichen sie die Natur […].« 64 Plessner: Anthropologie der Sinne (1970), III, S. 317–393, hier S. 375. 65 Ebd., S. 370. 66 Ebd., S. 371. 63

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folgt, in den kulturphilosophischen überzuleiten. Dieser Weg einer Kritik der Sinne ist deshalb möglich, weil man von der ›dinghaften bzw. zeughaften Bindung‹ des Materials absehen und den Blick auf die jeweilige »Reinheit« der Modalität »als Ton, Farbe, Linie usw.« 67 richten kann. Denn es gibt Grenzfälle, in welchen das sinnliche Material sich den menschlichen Aktionen oder Passionen, seiner Hand, seinem Auge oder seinem Ohr, nicht bloß gegenständlich-komplex entgegenstellt, sondern »in seiner reinen Modalität« 68 fügt oder aufdrängt. Diese Grenzfälle sind es, die das Rätsel des Sinns der Sinne und ihrer Einheit einer Lösung näher bringen. Das heißt: Wahrnehmungs- und Verkörperungsfunktion der Sinne müssen unterschieden werden. Die erste betrifft das »wahrgenommene Was« 69 , entsprechend den Modalitäten, in denen dieses Was erscheint, und ihrer in der Regel synästhetischen Mischung; und da kann es auch heißen: »Soviel Sinne, soviel Scheuklappen« 70 , weil das vom Menschen Wahrgenommene nicht mit dem überhaupt Wahrnehmbaren zusammenfällt. Die zweite betrifft das »empfindungsmäßige Wie« 71 und differenziert sich nach den sinneskreisspezifischen Verkörperungsmodi, in deren reinen Betätigung (auch im Erleiden) Blicke auf kulturelle Prozesse und Produkte frei werden, von welchen ausgehend ein vertieftes Verstehen von leiblichem Selbst und Welt gewonnen werden kann. Entscheidend ist nun, dass bereits auf dieser Ebene der sinnlichen Tätigkeit mit ihrer Differenzierung in drei Modi der Vollzug der ursprünglichen Synthesen beginnt; er führt zu den daraus resultierenden kulturellen Leistungen und ihren historischen, in den Kulturen je verschiedenen Entwicklung, die sich nachvollziehen lässt, und der Mitvollzug gipfelt im synthetischen Verfahren der Philosophie.

Die Verschmelzung des Einen mit dem Anderen Anschauliche Beispiele für lebendige Synthesen sind die auf der Grundlage sinnlicher Leistungen in wohl allen Kulturen gängigen Ver-

67 68 69 70 71

Ebd., S. 380. Ebd., S. 379. Ebd., S. 378. Ebd., S. 374. Ebd. S. 378. A

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körperungen des Menschen und seiner Welt in Masken: Geistiges und Sinnliches, Selbst und Darstellung gehen hier eine symbolisch prägnante Verbindung ein, die beide Aspekte der Verbindung allererst ermöglicht. Das gilt entsprechend für die ebenso anschaulichen Synthesen von Rollenträger und Rolle, Schein und Sein, Innen und Außen; das eine ist nicht ohne das andere – schärfer noch: das Eine ist im Anderen 72 – der Rollenträger in der Rolle, das Sein im Schein, das Innen im Außen, das Antlitz in der Maske und jeweils umgekehrt. Es ließen sich viele solche polar-synthetischen Verbindungen in der Realität des Menschlichen finden; allgemeiner lauten sie: das Selbst in der Darstellung, das Geistige im Sinnlichen, noch fundamentaler: der Leib im Körper und jeweils umgekehrt. Beide Aspekte werden jeweils erst durch ihre Verschmelzung das, was sie sind und in sich unterscheidbar macht. Besonders deutlich ist das zu sehen, wenn man sich klar macht, dass nichts Geistiges ist, wenn es nicht sinnlich dargeboten wird, in einem Material, das ihm genuin entspricht, einem Stoff, der zurücktritt vor dem, was er zeigt, der übersehen werden kann, weil er sich nicht über das Geistige stülpt, sondern von ihm durchdrungen wird, und der zugleich gesehen, in den Blick genommen werden muss, weil er es ist, der das Sein des Geistigen allererst ermöglicht – durch den Schein, den er erzeugt, indem er in prononcierter Weise hervortritt. Dann ist etwa die Farbe nicht mehr bloß Farbe (auch wenn sie das bleibt), sondern Gestaltung des (symbolisch artikulierten) Sinns, der sich im Bild mitteilt; die mündlichen Äußerungen sind nicht mehr bloß Geräusche, die schriftlichen Äußerungen nicht mehr bloß Striche, sondern Wörter mit einer (syntagmatisch artikulierten) Bedeutung, die sich im Reden bzw. Schreiben mitteilt; die Töne sind nicht mehr bloß Laute, sondern Rhythmus und Melodie, deren (thematisch artikulierter) Sinn sich im Tanzen, Singen oder Musizieren mitteilt; (Punkt-) Mengen sind nicht mehr bloß Anhäufungen, sondern Geraden, Kurven, Kreise, Zahlen u. v. m., deren (schematisch artikulierter) Sinn sich im Zeichnen, Zählen oder Rechnen mitteilt. Gleiches gilt übrigens auch für die Scham: sie ist nicht mehr bloß Röte, sondern Ausdruck des Bewusstseins von

Vgl. zu dieser Struktur und Bezeichnung Herbert Plügge: Über die Verschränkung von menschlicher Leiblichkeit und Körperlichkeit, in ders.: Der Mensch und sein Leib, Tübingen 1967, S. 57–68, hier S. 67; ders.: Vom Spielraum des Leibes. Klinisch-phänomenologische Erwägungen über ›Körperschema‹ und ›Phantomglied‹, Salzburg 1970, S. 57.

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sich selbst als einem Nichtselbst, dessen Sinn sich in einem Modus artikuliert, der über die spezifischen Sinneskreise hinausgeht, den ganzen Leib umfasst und sich als ursprungshafte Krise mitteilt. Die Synthesen (deren in Klammern gesetzte Artikulationsweise der Terminologie Plessners folgt 73 ) zeigen sich in der jeweiligen Aktion, die sinnesorganspezifisch Bedeutung schafft und sinngebend fungiert (oder, im Fall der Scham, im Stocken jeglicher Aktivität). Der Gesamtsinn, der Leib als sensus communis, korreliert so mit einer Welt, deren Gegenstände und stoffliche Beschaffenheit trotz aller Eigen- und Widerständigkeit das Material bilden für die sinnschöpfenden Synthesen, die aus der symbolischen Form des Leibes, der ja ein Teil der Welt bleibt, hervorgehen. Plessners Kritik der Sinne ist insofern eine Kritik der Kultur, als er von den reinen geistigen Ausprägungen ausgeht, die einen bestimmten sinnlichen Modus voraussetzen, also etwa die Geometrie das Sehen, die Musik das Hören. Die kulturellen Leistungen werden auf die (ästhesiologischen) Bedingungen ihrer Möglichkeit hin befragt und kritisch fundiert. Cassirers Kritik der Kultur kann insofern als eine Kritik der Sinne verstanden werden, als auch er Wert darauf legt, die spezifische materielle Vermitteltheit einer kulturellen Leistung nicht zu übersehen, auch wenn er dieses materiale Moment sogleich dem Zeichen beilegt, ähnlich wie es Humboldt tut, wenn er vom Laut als einer Einheit von Stoff und Form spricht. Das materiale Moment ist bei Plessner viel schärfer herausgearbeitet, aber auch Cassirer spricht von einer Korrelation zwischen Sinnlichem und Geistigem, von einem »Akt ›symbolischer‹ Ideation« 74 , in dem der »sinnliche Inhalt« 75 immer schon unter der Regel einer »ursprünglichen Formung« 76 als solcher erscheint. Er ist nicht einfach gegeben und wir werden von ihm affiziert, sondern er drückt immer schon etwas aus oder stellt etwas dar, so wie der Leib insgesamt die Seele symbolisiert 77 ; »er bildet eine konkrete Einheit von ›Präsenz‹ und ›Repräsentation‹« 78 . Plessner könnte dieser Rede von Einheit noch diejenige von der »psychophysischen Indifferenz« 79 73 74 75 76 77 78 79

Vgl. Plessner, Die Einheit der Sinne, III, S. 7–315. Cassirer, PsF III, S. 155. Ebd., S. 149. Ebd., S. 155. Vgl. ebd., S. 117. Ebd., S. 149. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 20. A

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hinzufügen, aufgrund derer Cassirer zu sagen befugt ist: »Wie im Sprachlaut der Begriff, so steckt im Leib die Seele: jener ist der Sinn des Wortes, diese der Sinn des Leibes« 80 . Darin manifestiert sich der doppelte Sachverhalt »des Hineinragens des Physischen ins Psychische, die Wahrnehmung, des Psychischen ins Physische, die Ausdrucksbewegungen und –formen« 81 . Solche wechselseitig sich ergänzenden und stützenden Formulierungen beider Autoren dokumentieren ihre Nähe auch in dieser gleichsam pragmatischen ›Aufhebung‹ der körperleiblichen Gebrochenheit und Lösung der Spannung zwischen Sinn und Sinnlichem, Geist und Körper. Festzuhalten bleibt, dass beide von einer im »›Tun‹« statt im »›Sein‹« 82 sich vollziehenden Verschmelzung oder Verbindung von Sinnlichem und Sinngebung ausgehen. So meint Plessner in seiner späten Wiederaufnahme der ästhesiologischen Fragestellung, dass das »Geheimnis« der Sinne nicht in ihrer Funktion als »Modalitäten des Daseins«, sondern »in der Arbeit mit und an ihnen« 83 zu entschlüsseln sei. Zu ergänzen ist zum einen die Möglichkeit einer passiven Verschmelzung bzw. Synthesis 84 , wie sie im Schamausdruck offensichtlich vorliegt, zum anderen das Tun der Philosophie bei ihren Versuchen, die Entfaltung der ursprünglich-synthetischen Einheit nach- und mitzuvollziehen.

Cassirer, PsF III, S. 117. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 20. 82 Cassirer, PsF I, S. 11. 83 Plessner: Anthropologie der Sinne (1970), III, S. 393. 84 Zum Begriff der passiven Synthesis vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, Hamburg 1977. Hier wird die Leistung der passiven Synthesis darin gesehen, dass sich »Gegenständlichkeiten« (S. 53) aufbauen, so dass das Ding »in der Ursprünglichkeit des ›es selbst‹ in der Synthesis passiver Erfahrung gegeben« (S. 81) ist. So ist es wohl auch mit dem Leibselbst, das in der akuten Scham objektiviert wird und sich darin als ›es selbst‹ in der passiven Erfahrung ›gibt‹. 80 81

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IV. Die symbolische Funktion von Scham und Würde

Die Struktur der Mitwelt Mitvollzogen und nachgeahmt kann nur das werden, was darstellbar ist. Kants Topos der Darstellbarkeit und ihrer verschiedenen Ausprägungen fordert zum Mitvollzug und, je nach historisch-kulturell neu erschlossenen oder zu entdeckenden Verbindungen zwischen sinnlichsinngebenden Zugängen, zur Erweiterung in der Nachfolge auf. In der Philosophie der symbolischen Formen und der Philosophischen Anthropologie wird die Frage der Darstellbarkeit übergeleitet zum einen in die Thematik der Erzeugung und Verwendung von Symbolen, zum anderen in die Frage nach der Möglichkeit von Verkörperung überhaupt, d. h. nach der Verbindung von Sinnlichkeit und Sinngebung in dem, wie der Mensch sich und seine Welt artikuliert. Beide Richtungen können interpretiert werden als Antwort auf die Rätselfrage der Synthesis. Wie stellt sich das Ganze von Mensch und Welt dar? Wie macht sich der Mensch ein Bild vom Ganzen bzw. wie zeigt es sich ihm? Welche Anschauung lässt sich vom Ganzen gewinnen, wenn doch der Mensch selbst ein Teil davon ist und es nie ganz zu überblicken vermag – und welchen Sinn hat es dann, wenn man seiner nicht vollständig ansichtig werden kann? Ein Bild vom Ganzen ist nur zu gewinnen, wenn man die Quellen und Grenzen seines Erscheinens kennt. Die Quellen des Erscheinens von Mensch und Welt liegen zu tief, als dass sie sich unmittelbar bestimmen ließen. Eine seiner Grenzen wird durch das Phänomen der Scheu und konkret des Sichschämens angezeigt, da das in und mit ihm sich ausdrückende Moment der Gebrochenheit in der zu integrierenden Einheit so in diese eingeht, dass es überhaupt das Erscheinen des Menschen in der Welt sowie der Welt für den Menschen zwar in variablen Modi und mannigfaltigen Formen, aber doch konstitutiv bestimmt. Die Erscheinung des Menschen als potenziell sich schämendes A

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Wesen verweist auf den Bruch, der die Selbstdarstellung des Menschen kompliziert und paradox macht; das zeigt sich erstens in zeitlicher und zweitens in räumlicher Hinsicht. Erstens: In Plessners Wendung, dass der Mensch sich zu dem, was er »schon ist, erst machen« muss 1 , wird der interne Widerspruch auf den Punkt gebracht und dessen Übergang in einen zeitlichen Vollzug unter der Bedingung der Dauer angedeutet; diese Zeitförmigkeit geht in die Erscheinung des Sichschämens ein: retrospektiv als Gefühl der Reue und des Bedauerns, auch Verzweiflung darüber, etwas nicht rückgängig oder wiedergutmachen zu können, prospektiv in Praktiken des Vermeidens von Schamanlässen und des Entwerfens von Handlungsmöglichkeiten, geradezu des Neuentwurfs seiner selbst. Auf der Seite von Zeugen mit einem gewissen Quantum an Wohlwollen drückt sich die Zeitförmigkeit in umgangssprachlich geläufigen Aufforderungen aus, sich ›nicht so zu haben‹, sich ›nichts draus zu machen‹, was zugleich meint, sich ›nicht gehen zu lassen‹ oder ›schnell drüber hinweg zu kommen‹, nicht ›stehenzubleiben‹ ; das verweist auf die unausgesprochene Forderung, sich darauf zu besinnen, was und wie man ›eigentlich‹ war und dauerhaft zu sein gewillt ist, indem man im fortwährenden, neuschaffenden Anderswerden den Stillstand überwindet. Zweitens: In Plessners auf den ersten Blick dunklem Wort von der »absolute[n] Punktualität« 2 der Mitwelt, und von der Mitwelt als dem »Einen Menschen« 3 , der sich in den vielen verschiedenen lebendig artikuliert, bzw. der vielen Menschen, die, »ursprünglich verknüpft« 4 , Einer sind, ist der räumliche Aspekt dieser Antinomie zum Ausdruck gebracht; auch diese Raumförmigkeit geht in die Erscheinung des Sichschämens ein: als ein starkes Gefühl mit zwei Vektoren, zum einen, die (missbilligenden) Blicke aller Menschen seien auf einen gerichtet, mithin der eine Blick der Menschheit selbst könne einen gar vernichten, zum anderen, als Mensch überhaupt, in seinem Menschsein, versagt zu haben, so dass der Spielraum des Verhaltens auf einen Punkt zusammenschrumpft. Zeit und Raum sind die Bedingungen der Möglichkeit der für die menschliche Selbstdarstellung zu vollziehenden Verbindung. Dabei 1 2 3 4

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Plessner: Stufen, IV, S. 383. Ebd., S. 378. Ebd. Ebd.

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Die Struktur der Mitwelt

manifestiert sich die ursprünglich-synthetische, sich auseinanderlegende Einheit, aus der die stetig zu vermittelnden Differenzierungen hervorgehen, in der Mitwelt. Denn die Mitwelt ist, im Unterschied zur Außenwelt der Gegenstände und zur Innenwelt der Ablagerung und Verarbeitung von Erlebtem, jene Sphäre, die es ermöglicht, dass sich der Mensch vermittels der anderen selbst ›erkennt‹, vor allem durch jene spezifisch menschliche Rückbezüglichkeit, die in der Reziprozität der Blicke kulminiert und es ihm erlaubt, Distanz zum Gegenüber und dessen Perspektive zu halten und zugleich wegen dieser Distanz und über sie hinweg sich selbst so nahe zu kommen, dass er sich, vermittelt über das Gegenüber und dessen Perspektive auf ›mich‹, mit ihm und zuletzt mit ›sich‹ und der eigenen Perspektive auf sich selbst identifizieren kann 5 – als Voraussetzung dafür, sich zu dem machen zu können, was er ist. In dieser spezifischen Hinsicht ist die Mitwelt die Sphäre des leiblich-reflexiven Selbst, das sich zugleich mit der Welt (hier wiederum: Außen-, Innen- und Mitwelt selbst) im Werden befindet, bildet, ausdifferenziert und in jeglicher Hinsicht verfeinert (im Empfinden, Wahrnehmen, Anschauen, Denken, Erkennen, Auffassen, Fühlen, Wollen, Können etc.). In dieser Fassung der Mitwelt liegt eine Neuformulierung der moralischen Bestimmung des Menschen, die den Weg zur Auflösung der Antinomie zeigt, den schon Kant gewiesen hat; und es ist eine Formulierung, die Schelers Beschreibung der Scham als Rückwendung auf das Selbst überhaupt verständlich macht. Denn die Mitwelt ist ja nichts anderes als die Sphäre, in der, vermittelt über Blicke, Mimik, Gestik, ein reflexiver Bezug möglich und notwendig wird – eine Reflexivität, die jedes Individuum trifft und betrifft, weil jeder Mensch ein »Glied der Mitwelt« 6 ist und als solches genau jene Position einnimmt, in der es ins Blickfeld gerät, einen Ausschnitt besetzt, den es zugleich selbst im Blick hat (sonst könnte es sich nicht schämen), in der es im Zentrum steht, ohne Zentrum zu sein, also »da, wo der andere steht« 7 . Anders gesagt: Jeder ist der Eine Mensch, der allen anderen gegenübersteht

Vgl. zu dieser »Reziprozität der Blickpunkte der Perspektive« Plessner: Zur Frage der Vergleichbarkeit tierischen und menschlichen Verhaltens (1956), VIII, S. 284–293, hier S. 288. 6 Ebd. 7 Ebd. 5

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und zugleich deren Position einnimmt 8 ; diese Gebrochenheit an der Wurzel des Menschseinkönnens mag nicht jedem jederzeit und an jedem Ort bewusst sein, kann sich aber mit einer Plötzlichkeit bemerkbar machen, die überwältigend wirkt. Jeder, der sich schämt, weiß oder glaubt zu wissen, dass er sich zu etwas gemacht hat, was er nicht ist; denn was er schon ist, hat er bereits erfahren, er hat es gezeigt und darin Bestätigung bekommen oder auch vermisst, dementiert es aber aktuell mit seinem Tun, ohne es vergessen machen zu können. In das Selbst hat sich etwas eingeschlichen und eingenistet, was es nicht als Selbst ist. Das nagt an ihm, zerbricht es nahezu, reut es, es schämt sich. Es fühlt sich gebrochen. Es erlebt den Bruch und ist im Umbruch begriffen. Wie ist mit dieser Antinomie philosophisch umzugehen? Analog zu Kants kritizistischem Verfahren, bei welchem die Gegenprobe auf die Bewährung der Grundannahmen in der Auflösung von Antinomien durch die Differenzierung von Erscheinung und Ding an sich liegt 9 , zeigt sich, dass sich die Antinomie, die dem menschlichen Selbst in seiner Darstellung und Auffassung Schwierigkeiten bereitet, durch die Differenzierung von Körper und Leib auflösen, d. h. in ihrer Erscheinungsweise verstehen lässt, so dass das menschliche Selbstverständnis gerade an dieser Stelle eines vermeintlich unaufklärbaren Widerspruchs eine Vertiefung erfährt (wie bei Kant an der Stelle des vermeintlich unaufklärbaren Widerspruchs zwischen dem Vermögen zur Erkenntnis und der Unfähigkeit dazu, der sich in den Antinomien der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft dokumentiert). Plessners These der Differenz von Körper und Leib trotz ihrer Ununterschiedenheit im Körperleib, von der »Verschränkung von Leib und Körper als Schlüssel zur philosophischen Anthropologie« 10 , mit welcher er die paradoxe Struktur der menschlichen Lebendigkeit zu erläutern versucht, muss sich demnach an einer Gegenprobe bewähren, in welcher sich die Annahme der Körper-Leib-Differenz bei gleichzeitiger anschaulicher Einheit des Körperleibs dadurch bestätigt, dass unter dieser Bedingung jene antinomische Struktur in einem neuen Licht

Darin liegt wohl auch der Sinn der kantischen Rede von der ›Menschheit in der Person‹. 9 Vgl. die Abschnitte zur Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. 10 Plessner: Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie (1973), VIII, S. 380– 399, hier S. 396. 8

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betrachtet werden kann, welches den Modus erhellt, in dem der Mensch erscheint. Erscheinend realisiert er über Krisen hinweg die körperleibliche Verschränkung: er muss sich verkörpern und damit Bedeutungen versinnlichen, selbst dann, wenn ihm der Akt des Bedeutens oder Sinngebens entgleitet, d. h. in Vorgängen der Entkörperung bzw. Entleiblichung, die ihrerseits aber doch auch einen Sinn transportieren; dieser Widerspruch lässt sich aber nur verstehen, wenn man von der Differenz zwischen Körper und Leib ausgeht, die trotz der Einheit beider statthat. Der Bruch in der ursprünglich-synthetischen Einheit der Mitwelt manifestiert sich als gebrochene Einheit von Körper und Leib und damit von körperleiblich gebundenem Selbst und Welt; er lässt individuelle und historische Krisen hervorgehen und ist selbst nichts anderes als die Krise der menschlichen Lebendigkeit überhaupt an ihrer Basis. Die notwendige Möglichkeit der Scham verweist auf den moralischen Sinn dieser Lebendigkeit. Ihre Krisen sind wesentlich moralisch zu verstehende und zu lösende. Moralisch meint hier: bezogen auf die Selbstauffassung des Menschen als mitweltlich verfasstes Lebewesen, das sieht und gesehen wird, das weiß, dass es gesehen wird, und jeweils auch vom Anderen weiß, dass er all das weiß, und das sich in dieser Selbstauffassung verfehlen kann, gerade deshalb, weil die Mitwelt weder an der Oberfläche der Gegenstände noch an der Innenseite der deutlich spürbaren Gefühle liegt und ihre phänomenale Verborgenheit zu mitunter tragischen Fehldeutungen einlädt; sie ist mit ihrem entscheidenden Merkmal der Reziprozität, schärfer noch und den Bruch betonend: der sphärischen Ununterschiedenheit bei gleichzeitig scharfer Differenziertheit ihrer Glieder – aus der ersten resultiert die Möglichkeit der Mimesis bis hin zu vollständiger Identifikation (»ich will so sein wie der andere«), aus der zweiten die der Individuation bis hin zu Isoliertheit (»ich will nicht so sein wie der andere«) 11 –, weder ein Teil der Außenwelt noch kommt sie einem gesonderten Erlebnis gleich, das die Innenwelt anreichert. Im Vergleich mit diesen beiden ist sie geradezu unsichtbar, bedingt aber die Verhaltensweisen und Gewohnheiten Die erste Thematik ist, in kritischem Anschluss an Freud, pointiert von René Girard unter dem Stichwort des mimetischen Begehrens bearbeitet worden (z. B.: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 19993 ), die zweite als Defizit der Erscheinungswelt insbesondere von Arthur Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2 Bde., hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Frankfurt a. M. 1993) im Anschluss an buddhistische Motive.

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und geht in sie ein. Exemplarisch dafür ist der Schamaffekt. Er resultiert aus der Struktur der Mitwelt als dem Ort des reflexiven Selbst und zeigt deshalb die Krise des Selbstbewusstseins zwischen Behauptung und Vernichtung an, die in denselben Rahmen einer Verbindung von Sinnlichkeit und Sinn, d. h. Verkörperung, gestellt werden kann wie andere Krisen im Prozess des symbolischen Formens. So ist es kein Zufall, dass Cassirer seinerseits die Schamröte als ein Exempel für die symbolische Prägnanz beschrieben hat 12 , wenngleich sie bei genauerem Hinsehen eher als Beispiel für den Gegenzug der Verkörperung, die Entkörperung, steht.

Mitvollzug des synthetischen philosophischen Verfahrens Den hier gewählten Zugang in das Labyrinth, das sich mit der Rätselfrage nach dem Ganzen von Mensch und Welt auftut und in dem das Individuum (sowie mit ihm die Formen seiner Selbstanschauung wie die Philosophie) zwischen Scham und Würde mäandert, bietet der hermeneutische Mitvollzug der Verfahren, mit welchen der Weg im Anschluss an Kant systematisch weitergegangen werden kann. Das philosophische Moment der Fortführung und Überwindung des kantischen Kritizismus liegt in dem Aufweis von Synthesen, wie sie philosophisch-anthropologisch systematisch in ihrem Rechtsanspruch auf objektive Gültigkeit begründet werden und objektive Realität haben können. Objektiv gültig und objektiv real sein heißt hier: den notwendigen, unhintergehbaren Rahmen zu bilden für das menschliche Leben, das sich vom System befreit hat, ihm gegenübersteht, es aber auch hervorbringt und benutzt, um sich selbst anzuschauen und transparent zu machen; so kann der Gedanke, wie von Cassirer gefordert, tätig werden und Einfluss auf die Wirklichkeit der menschlichen Praxis nehmen. Synthesen dieser Art sind solche einer Verkörperung, in welcher Sinnliches und Geistiges zur Einheit des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung verschmelzen, Verbindungen, die eingegangen werden müssen, um den Bedingungen der Lebendigkeit zu genügen, und ohne die es nicht das Bild des Menschen gäbe, das wir kennen: als prekäre Einheit von Körper und Leib. Vgl. Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs. In ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 19948 , S. 201–230, hier S. 222 f.

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Mitvollzug des synthetischen philosophischen Verfahrens

Der Körperleib ist ein Amalgam aus Selbst und Welt, Aktzentrum und Dinghaftigkeit. Im Leib in sich verschränkt, stehen sich Selbst und Welt zugleich gegenüber. Unter diesem Aspekt kann die leitende Frage umformuliert werden: Gibt es ein Paradigma für die lebendige Synthese, in welcher sich das Ganze des Menschen, seine Einheit als Selbst, ausweist, so wie sich die Welt als Inbegriff des Gegenständlichen ausweist? Die mögliche Antwort folgt den bisherigen Überlegungen: es müsste eine Verkörperung (oder etwa auch eine Verleiblichung) sein, in welcher, mit oder gegen den Willen des jeweiligen Selbst, nichts anderes sich zeigt als eben dieses Selbst als Selbst, unangesehen der spezifischen kultur-, kontext-, zeitabhängigen Bedingungen, die zwar den Anlass zu dem jeweils Gezeigten bilden mögen, nicht aber die Seinsbedingung für die entsprechende Symbolik hergeben, welche hier realisiert wird. Es muss also etwas sein, das in einer sich geradezu aufdrängenden Materialität, wie es Farben, Laute, Töne sind, das Ganze dessen anzeigt, was der Mensch in seiner Bedeutung unabhängig von zufälligen Situationen und schicksalhaften Lagen ist. Als Kategorie für diese kontextfreie reine Bedeutung des Menschen hat sich historisch, anthropologisch-systematisch und transkulturell, wenngleich je anders verstanden und in ihrer Deutung umstritten, die Würde, die er sich selbst zuspricht, herauskristallisiert, weil sie der Inbegriff der Integrität eines Menschen als Menschen, man kann auch sagen: der Person, ist – trotz aller Strittigkeit über Form, Inhalt und Bewertung dessen, was da als Würde bezeichnet wird; Würde als Titel für das Ganze des Menschen, das sich in der würdevollen Haltung anschaulich zeigt. Diese kann auch gespielt sein, sie kann in Gravität übergehen, und sie kann bloß prätendiert sein, sie mag aufgrund der Realität gesellschaftlicher oder anderweitiger Bedingungen gar nicht konkretisiert werden können, und sie lässt sich schwer beschreiben, bestenfalls in Annäherungen umreißen: dennoch oder gerade deswegen symbolisiert sie den ganzen Menschen, seinen Anspruch, als Person, d. h. hier: unreduzierbare Einheit in der Vielfalt ihrer Möglichkeiten und Selbstauffassungen, wahrgenommen zu werden, und sein legitimes Bestreben, die damit unweigerlich verbundenen Rechte zur Wahrung ihrer Integrität wahrnehmen wie auch die moralischen Zugeständnisse einer angemessenen achtungsvollen Behandlung einfordern zu können. 13

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In den beiden möglichen Bedeutungen von ›wahrnehmen‹ dokumentiert sich die speA

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Was aber genau und wie symbolisiert die Würde? Es ist doch merkwürdig, dass es dafür kein Bild oder ein anderweitiges Material gibt, in dem sie sich ausdrückt oder darstellt – außer dem Menschen selbst, dessen Bild aber kaum jemals eindeutig jene Prägnanz erreicht, dass sich von Würde sprechen ließe. Gerade deshalb kann sie so leicht geleugnet oder als Hirngespinst verunglimpft, ins Reich einer mit anthropozentrischen Vorstellungen gespeisten Selbstüberhebung abgeschoben werden. Mit den Überlegungen, die Lévinas zur kontextlosen, der Du-Wahrnehmung noch vorausliegenden Bedeutung des Antlitzes 14 angestellt hat, ließe sich die Würde in diesen exponierten Bereich des menschlichen Auftretens verlegen, aber dennoch lässt sich schwerlich behaupten, dass mit dem Material des Gesichts und dem, was damit sichtbar und darstellbar gemacht werden kann, zugleich der Sinn der Würde aufscheint, so wie mit dem Punkt der Raum, mit dem Augenblick die Zeit repräsentiert wird. Die Repräsentationsleistung des Antlitzes hat nicht dieselbe Unausweichlichkeit wie sie der Repräsentationsleistung des Punktes und des Augenblicks zukommen. 15 Nun lässt sich aber gerade im Gesicht das Erscheinen der Scham feststellen. Es wurde bereits darauf hingewiesen: Scham ist die andere Seite der Würde. Im Schamausdruck verschmelzen sinnliche Anschaulichkeit und Sinngebung so, dass mit der materiellen Erscheinung deren Bedeutung sogleich mit offenbart wird: die Röte ist die Scham und steht für das Selbst, das sich seines Nichtselbstseins schämt (nicht für irgendeine seiner Teilbedeutungen). Eine so weitgehende Verschmelzung zwischen dem Material und seinem Sinn lässt sich für die Würde nicht feststellen. Da gibt es nichts, das stofflich das Selbst und dessen Integrität und Ganzheit repräsentiert, zu welchen doch unabdingbar das leiblich vollzogene selbstreflexive Moment gehört, so wie die Röte die Scham zeigt, in der diese Integrität zumindest momentan in der Gefahr steht zu zerbrechen. Die Würde ›gibt es‹ nicht wie die Scham, obwohl es in beiden um die integrierte Einheit des Selbst geht. Offensichtlich fehlt eine vergleichbare symbolische Konturierung, wie sie die

zifische symbolische Prägnanz des Menschen, die im letzten Kapitel als moralische Prägnanz thematisiert wird. 14 Vgl. Emmanuel Lévinas: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1992, S. 65; ders.: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München 19932 , bes. das Kap. Antlitz und Ethik, S. 277–318. 15 Vgl. zu diesem Begriff der Repräsentation die folgenden Abschnitte zu Cassirer.

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Mitvollzug des synthetischen philosophischen Verfahrens

Scham kennt, wenn, als Gegenbild zur Nichtigkeit, die Würde symbolisch prägnant werden soll. Das macht diesen Begriff auch moralphilosophisch so schwierig. Um diese anthropologische Sachlage zu verstehen, muss die Bestimmung der Synthesis des Selbst in Verbindung mit dessen Darstellung im Körperleib präzisiert werden. Dazu gilt es, die aus dem Rahmen des gestaltungsfähigen Symbolisierens fallende Symbolik der Scham von der Frage nach dem Selbstbewusstsein her weiter zu beleuchten. Die Bilder der Scheu und Scham verkörpern die anthropologische Struktur selbst in einer Weise, dass daraus der Geltungsanspruch der Würde notwendig resultiert, aber auch die Gefahren der Beschämung und Nichtigung. Hier muss auch der Schlüssel zu einer Antwort auf die Rätselfrage liegen. Das bedeutet methodologisch: Wird die Bewegung des systematischen Denkens und des synthetischen philosophischen Verfahrens von Kant über Dilthey zu Cassirer und Plessner selbst als Vollzug einer lebendigen Synthese verstanden, dann entsteht Klarheit darüber, dass die Denkmotive und Verfahren der symbolischen Prägnanz und der Verkörperung ihrerseits nichts anderes sind als Versuche, den lebendigen Vollzug, der das Empfinden, Wahrnehmen, Denken, Erkennen und Verstehen trägt, mitzuvollziehen, und zwar so, dass die Philosophie, die das tut, ihrerseits wirksam wird: im vertieften Selbstverständnis des Menschen, das ihn dazu führt, den moralischen Sinn wahrzunehmen, welcher sich mit dem leiblich verfassten Selbst des Menschen historisch-kulturell je verschieden offenbart und der allein die Antithetik der anthropologischen Struktur aufzulösen und ihren Widersinn (ihre Paradoxie) aufzuheben vermag. ›Auflösen‹ und ›aufheben‹ heißt hier: den moralischen Sinn verwirklichen. Der philosophische Gedanke ebnet den Weg dazu – als Medium und Atmosphäre, in der der Mensch sich seiner selbst so weit durchsichtig werden kann, dass er sich die für seine schöpferische Entfaltung notwendigen freien Spielräume erobert. Insofern impliziert jener Sinn eine Entwicklungslogik, die, den vielen Möglichkeiten der menschlichen Expressivität zwischen Scham und Würde folgend, die historisch und kulturell inhaltlich je anders geprägte Artikulation von Selbst und Welt formt.

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Symbolische Prägnanz Vorgänge des Empfindens und Wahrnehmens werden in der Regel analytisch betrachtet. Subjekt und Objekt stehen sich gegenüber, und irgendwie nimmt das Subjekt Merkmale des erscheinenden Objekts auf und fügt sie zu einem Ding bzw. Gegenstand zusammen. Das Wahrnehmungssubjekt liefert die Form des Anschauens und Begriffs, das wahrgenommene Objekt den Stoff. Passt beides zusammen, dann haben wir am Ende den erkannten Gegenstand. Es ist gerade eine der Konsequenzen aus der Kritik des kritizistischen Verfahrens, dass dieses Verhältnis sich anders darstellt, wenn man genauso, wie es der Kritizismus tut, von Resultaten ausgeht, um die Bedingungen zu ergründen, wodurch sie möglich werden. Es kommt aber darauf an, welche Resultate man wählt – eben nicht mehr bloß die Gegenstände, wie sie in den naturwissenschaftlichen Blick kommen; das ist ja nur eine bestimmte Art des Auffassens, welche zwar zu den Erfolgen der nomologischen, kausalanalytisch verfahrenden Wissenschaften und der Technik geführt hat, auf der anderen Seite aber in den Fragen des Verstehens der Welt und des Selbstverstehens keinen Schritt weiterbringt, sogar die Schritte lähmen oder in die Irre leiten kann. Das Wahrnehmen und das, was sich darin als Prozess des Anschauens und Auffassens vollzieht, um bestimmte Objektivationen hervorzubringen, muss unvoreingenommen betrachtet werden. Dann zeigt sich, dass das ›Apriori‹ der Erkenntnis bzw. des Verstehens anders beschrieben werden muss, als es die spezifische Sicht von Mathematik und Physik nahelegt. Außerdem wird dann diese Sicht neben andere Sichten zu stellen sein, so dass sie, wie diese auch, in ihrer Funktion und ihrem Sinn allererst verstanden werden kann. In jedem Wahrnehmungsakt findet etwas statt, das Cassirer als symbolische Prägnanz bezeichnet. Sie ist erkenntnistheoretisch relevant, da sie doch die Modi des Erkennens, Verstehens, Auffassens überhaupt ermöglicht. Sie hat naturphilosophische bzw. anthropologische Bedeutung, da Cassirer von einer ›natürlichen Symbolik‹ ausgeht, auf der die ›künstliche Symbolik‹ willkürlicher Zeichen aufbauen kann 16 . Und sie ist kulturphilosophisch von Belang, weil in ihr die verschiedenen Modi des symbolischen Formens sowie die symbolischen Formen selbst als kulturelle Leistungen mit spezifischen Erfahrungswerten und 16

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Vgl. Cassirer, PsF I, S. 41.

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Symbolische Prägnanz

als Quellgrund von Kulturmächten fundiert sind. Das ist deshalb möglich, weil bereits im Urphänomen der symbolischen Prägnanz die Momente des Wahrnehmungsverhältnisses zur Einheit synthetisiert sind, die sich dann ausdifferenzieren können – je nach Schwerpunktsetzung in einem sozial und historisch je anderen Bedingungen ausgesetzten Akt der Gestaltung. Man kommt nicht umhin, die vielzitierte Definition der symbolischen Prägnanz erneut wiederzugeben, um zu zeigen, wie sich daraus fünf Merkmale herausfiltern lassen, wenn man sie entsprechend gliedert, und wie darin der Vollzugscharakter des Wahrnehmens betont wird: »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden,« (1) »in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis,« (2) »zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt« (3) »und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.« (4) Cassirer spricht diese Fähigkeit der Wahrnehmung selbst zu, »die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt –« (5) »die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört.« 17 Cassirer, PsF III, S. 235. Bezüglich der ›symbolischen Prägnanz‹ gab es Kritik an Cassirer und Repliken. Vgl. zur Kritik vor allem Philipp Dubach: »Symbolische Prägnanz« – ein Schlüsselbegriff in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen? In: Enno Rudolph, Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, S. 47–84. In guter analytischer Weise zerlegt Dubach den Begriff der symbolischen Prägnanz, ohne allerdings dessen synthetische Leistung im Rahmen des Gesamtentwurfs zu würdigen (vgl. dazu die Bemerkung zu Dubachs »allzu ›analytische[r]‹ Haltung« von Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, S. 118, Fußnote 148). Dubach betont vor allem auch den Unterschied zwischen der Spontaneität in der Form eines Wahrnehmungserlebnisses und der Rezeptivität von affektiven u. a. Ausdrücken. Das ist aber nur einer jener dialektischen Widersprüche, über die hinweg sich Symbolisierungen vollziehen; Dubach bezieht sich hier auf PsF III, S. 88, wo Cassirer klarmacht, dass die Differenzierungen und Gliederungen des Bewusstseinsganzen, die die geistige Spontaneität erst allmählich zustande bringt, in der Rezeptivität des Ausdrucks-Erlebens als eines Erleidens wurzeln. Das heißt aber nicht, dass in der Wahrnehmung eines Ausdrucks wie der Schamröte oder einer »drohenden Geste« (Dubach, S. 65) keine ›Sinnstiftung‹ (vgl. ebd., S. 64) stattfände. Es ist ja gerade der Gang der Betrachtungen, die Cassirer anstellt, wie sich im menschlichen Bewusstsein selbst, z. B. durch Sprachbildung (vgl. PsF III, S. 90), zunehmend Artikulationen von Mensch und Welt ausbilden, und zwar immer über Krisen hinweg, in denen

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Mit dem Konzept der symbolischen Prägnanz wendet sich Cassirer gegen die Annahme einer unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung eines Gegebenen. Nach ihm ist (1) das vermeintlich Gegebene immer schon (2) symbolisch vermittelt. Das meint er, wenn er (2) von ›nicht-anschaulichem Sinn‹ spricht. Dennoch gibt es ja (1) das sinnliche Erlebnis, aber eben nur in (2) bereits geprägter Form. Umgekehrt jedoch wird (2) der nicht-anschauliche Sinn, die Form des sinnlichen Erlebnisses, (3) zur ›unmittelbaren konkreten Darstellung‹ gebracht. Das aber ist wiederum nur (5) aufgrund des Verhältnisses der ›Repräsentation‹ möglich, dass nämlich das präsente Einzelne auf ein größeres Gefüge, ein Ganzes hinweist, dem es zugehört und von dem es gleichsam Zeugnis ablegt. Dieses Gefüge ist (4) gegliedert – wie sonst könnte das Einzelne präsent sein, wenn es bloß einem ungegliederten Chaos angehörte –, und die Gliederung wird in und mit der Wahrnehmung erfasst bzw. sie artikuliert sich bereits im Akt des Wahrnehmens selbst, andernfalls wäre gar keine wahrnehmungs- und sinnesfundierte Erfassbarkeit möglich. Eine nicht geringe Schwierigkeit verbirgt sich im vierten Merkmal. Cassirer meint, dass die Wahrnehmung selbst immanent gegliedert ist und kraft dessen eine ›Art von geistiger Artikulation‹ gewinnt. Diese interne Beziehung bleibt etwas dunkel, verliert aber an Undurchsichtigkeit, wenn man sich die Beispiele ansieht, die Cassirer selbst gibt, und wenn man sich klar macht, dass das, was hier als immanente Gliederung des eigentlich Sinnlichen bezeichnet wird, zugleich die artikulierte Sinngebung meint. Das würde eine bloße Behauptung bleiben, wenn nicht die objektiven kulturellen Formen selbst Zeugnis davon ablegten. Es ist nichts anderes als die synthetische Einheit, die Cassirer hier zu Grunde legt, und die sich erst im Fortgang der kulturellen Prozesse und der Erfassung dieser Prozesse so entfalten kann, dass ihre Möglichkeiten konkretisiert und ›sichtbar‹ werden. Es ist eine der Aufgaben der Philosophie, dies darzustellen und somit an dem Artikulationsprozess mitzuwirken, jene Aufgabe, die Cassirer der Philosophie als Medium und Atmosphäre kultureller Leistungen überhaupt zugewiesen hat 18 . sich der jeweilige Widerspruch kundgibt. Die Krise des Anfangs überhaupt ist ja gerade diejenige zwischen Freiheit der Gestaltungskraft und Gebundenheit an die Form als einer Norm bzw. zwischen Befreiung und Bindung; das lässt sich besonders aufschlussreich in mancher historisch ausgerichteten Schrift Cassirers nachvollziehen (z. B. in: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Darmstadt 19946 ). 18 Vgl. Cassirer: Philosophie der Aufklärung, 1998, S. X.

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Es soll hier zunächst ein anderes Beispiel als die von Cassirer bevorzugten angeführt werden. Sinnfällig wird das Verhältnis der symbolischen Prägnanz als synthetischer Einheit an einem seiner frühen, d. h. archaischen Exempel. Der rituelle Tänzer stellt den Dämon oder Gott zunächst nicht bloß dar, sondern er ist es. Das sinnliche Erlebnis ist allumfassend, d. h. es ist noch gar keine bewusste Differenz zwischen dem Sinnlichen selbst und dem ihm innewohnenden Sinn gesetzt. Es ist aber kein allzu großer Schritt zu dieser Differenzierung und Ausfaltung der synthetischen Einheit. Denn immer schon fasst das sinnliche Erlebnis den Sinn in sich, dass hier ein machtvoller Gott da ist (in Gestalt des Schamanen) und gerade die Macht, die er besitzt und an der man irgendwie teilhaben will, nicht-anschaulich in der Wahrnehmung selbst ›gezeigt‹ und ›erfasst‹ wird. Dieser Sinn ist seinerseits im rituellen Tanz des Schamanen zur ›unmittelbaren konkreten Darstellung gebracht‹. Unmittelbar, weil sich nichts zwischen das Wahrnehmen und Darstellen schiebt; das Erlebnis ist in seiner Präsenz da und deshalb auch konkret; und eine Darstellung ist es deshalb, weil mit jeder Präsenz eine Repräsentation aufscheint. Darin und in dem sinnlich zu erlebenden Tanz selbst sind das ganze Universum des jeweiligen Glaubens und die je in sich gegliederte Welt sowie Lebensund Weltauffassung impliziert. Sie lassen sich als das Sinngefüge, dem der Tanz angehört, explizieren 19 . Der interne Bezug, in dem die fünf Merkmale der symbolischen Prägnanz stehen, ist prozessual zu verstehen, als stetig fortschreitender Prozess der Synthesis: das Verhältnis gliedert sich allmählich in seine Momente, ohne dass sie sich wechselseitig beseitigen, auch dann nicht, wenn dies manchmal so aussieht, z. B. im Bilderverbot des strengen Monotheismus, der die konkrete Darstellung verabscheut, ohne die Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Beschreibung und Deutung, die Aby Warburg vom Regentanz der Pueblo-Indianer in Nordamerika gibt, in: Das Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1995. Vgl. auch die Deutung der Masken von Indianern im Nordwesten Amerikas bei Claude Lévi-Strauss: Der Weg der Masken, Frankfurt a. M. 2004 (frz. Genève 1975). Zum Verhältnis zwischen dem Besonderen und Allgemeinen vgl. Cassirer selbst: er zitiert Goethes Bestimmung des Grundverhältnisses, das »den Kern aller wahren Symbolik bezeichnet: dass ›das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen‹« (Freiheit und Form, 1994, S. 264; Zitat von Johann Wolfgang von Goethe: Geschichte meines botanischen Studiums, Naturwissenschaftliche Schriften VI, S. 131). Vgl. auch die »Tätigkeit der Repräsentation«, die zur Perzeption gehöre, bei Berkeley, in Cassirer: Philosophie der Aufklärung, 1998, S. 148.

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doch andererseits der nicht-anschauliche Sinn auch nicht zur Geltung gebracht werden könnte. Der lebendige Vollzug der Wahrnehmung und daran anschließender Akte der Gestaltung lässt Entwicklungen aus sich hervorgehen, die Cassirer als Stadien beschreibt (1), und funktionale Differenzierungen, die die kulturellen Leistungen in ihrer aufeinander bezogenen und gegeneinander sich abgrenzenden Vielfalt allererst ermöglichen (2). Dabei kommt es jeweils zu neuen Synthesen, sowohl in der Anschauung und Wahrnehmung als auch in der Begriffsbildung und Gestaltung.

Stadien und Funktionen im Zusammenhang und die Bildung des Bewusstseins Der Vollzug der Synthesis bewegt sich zwischen Sinnlichem und Sinngebung. Das Geistige schält sich aus Stofflichem heraus, d. h. geformte Ordnung, ideelle reine Bedeutung, alles Morphologische ist hyletisch infiziert. Die Sprache etwa verwandelt das, was in ihr ausgedrückt, bezeichnet und dargestellt wird, in geistige Form, obwohl sie doch sich selbst dazu des Materiellen bedienen muss; sie objektiviert durch Hinaussetzen der Laute, die im Ohr des Gegenübers aufgenommen werden, und durch deren Rückkehr ins Ohr des Sprechenden selbst. Die Objektivierung führt bis hin zur formalen Sprache der Mathematik, die so aufnahmefähig und unendlich vielfältig anwendbar zu sein scheint, dass man die Wirklichkeit selbst, so wie sie objektiv ist, ohne jeglichen subjektiven Einschlag, in ihren Gesetzen und kausalen Verknüpfungen, vorzeichnen und technisch bestimmbar machen zu können glaubt. Andererseits bleibt die Bindung an die sinnliche Anschauung bestehen. Vergleiche, Vorstellungsbilder, Gedankenexperimente sollen die Brücke bilden, um der Loslösung vom körperlich Daseienden ein Gegengewicht zu bieten, damit die Symbolik nicht vom Boden des Dargestellten und Darzustellenden abhebt und dort landet, wo nichts ist als Hirngespinste, blinde Anschauungen oder leere Begriffe. Gleiches gilt für die Versuche der Religion, sich vom mythischen Bild zu lösen, um die reine Bedeutung des Göttlichen zu fassen; auch sie werden immer wieder zurückgeworfen auf das, was die Anschauung verlangt, um sich auch noch vom Geistigsten selbst – ein Bild zu machen. Das Wechselverhältnis zwischen Sinnlichem und Sinn führt in seiner Dynamik, wie gezeigt, (1) zur Entwicklung des Ausdrucks, die 94

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vom mimischen ›Kleben‹ am Körper 20 dessen, was er bezeichnet, über das analogische wechselseitige Widerspiegeln zwischen geistiger Bedeutung und Dasein (etwa in der Metaphorik) bis hin zum rein Symbolischen des vielsagenden Wortes, der flexiblen Schriftzeichen oder der mathematischen Symbole reicht. Zum anderen (2) resultiert daraus der Aufbau der symbolischen Funktionen, die mit dem primären Ausdruckserlebnis anheben und über dessen Darstellung, vornehmlich in der Sprache, bis zur reinen Bedeutung führen, in welcher Relationen zum Ausdruck kommen, wie sie etwa in die Zahl und die mit ihr zu bildenden Reihen eingehen. In beiden Folgen, derjenigen (1) des Ausdrucks und derjenigen (2) der symbolischen Funktionen, behauptet sich das Bewusstsein, dessen Tätigkeit sie ja sind und das sie in ihrem Fortgang zu immer höherer Bewusstheit der eigenen Leistung hinleiten, so dass sich parallel dazu das Selbstbewusstsein ausprägt, und zwar dadurch, dass es immer wieder das vernichtet oder verdeckt, was es hindert, weiter fortzuschreiten. Diese Richtung auf die »Freiheit des Bewußtseins« 21 hin ist für Cassirer gleichbedeutend mit dem bereits erläuterten Prozess der »Selbstbefreiung« 22 . Am Ende ist die Welt des Daseins vom reinen Geist durchdrungen und das Leben sinndurchflutet. Dieser Bewegung folgt Cassirer in den verschiedenen Regionen symbolischer Formungen. So geht das mythisch-religiöse Bewusstsein (2) den Weg vom ursprünglichen Ausdruckserleben im Ritual bis hin zur reinen Bedeutung der strengen Formen des Monotheismus, der jegliches Bild von dem, was als heilig bestimmt wird, verbietet, oder der Lehre vom Nichts, welcher nicht die Mittel diskursiver Erkenntnis, sondern die der Erleuchtung gerecht zu werden vermögen. In der absoluten Loslösung vom sinnlichen Dasein, vornehmlich im Schweigen (des Mystikers) oder in der Leere (der Zen-Kunst) dokumentiert sich der Sinn des Daseins als Erlösung, entweder vom Dasein selbst oder von seiner Gebundenheit an die Erdenschwere. Dabei macht der Ausdruck selbst (1) eine Entwicklung durch: ist er zunächst mimisch in der Nachahmung des göttlich-dämonischen Urbilds, so wird er am Ende, über die Stufen seiner sinnlichen Bildhaftigkeit (der Allegorie, des Tro-

Cassirer spricht davon, dass der Mythos mit seinen Bedeutungen am Dasein (vgl. PsF II, S. 286), also »an den Körpern klebt« (ebd., S. 76), woraus sich etwa der Wort- und Namenzauber speist. 21 Cassirer, PsF II, S. 311. 22 Cassirer: Versuch über den Menschen, 1996, S. 345. 20

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pos, der Anagoge 23 ) hinweg, rein symbolisch, d. h. in seinem sinnlichen Charakter offenbart sich der Sinn selbst. Dieser aber liegt im Geistigen. So ist es, in der christlichen Variante religiös-geistiger Bedeutung, nicht das Fleisch der Inkarnation, auf das es ankommt, sondern dass mit dem Fleisch das Göttliche selbst lebendig wird und das zum Tode bestimmte Fleisch mit der Durchdringung seiner eigenen Geistigkeit erlöst, m. a. W. von seiner bloßen Sinnenhaftigkeit befreit. Ähnliche Wege geht auch das wissenschaftliche Erkennen, wenn es im Mythischen anhebt, um dessen Objektivierungsformen im magischen Wort, im Namen- und Bildzauber, am Ende zu verwandeln in die ›reine‹ Objektivität, die jedem Einzelinhalt, ihn aus der mythischen Verschmelzung mit anderen Inhalten, sei es äußerlich ähnlichen, sei es zeitlich oder räumlich nahen, lösend, seinen eigenen Ort innerhalb der Ordnung der Zeichen und damit der Welt der Gegenstände gibt. Die systematische Ordnung der Symbole im System der Relationsbegriffe mit reiner Bedeutung – Leibniz’ characteristica universalis – verbürgt die Objektivität und Wahrheit der Erkenntnis. Maß der Wahrheit ist dann nicht die mimische Identifikation oder analogische Anschmiegung bzw. Adäquatheit, sondern die Kohärenz des Systems, die sich nicht zuletzt in der Anwendbarkeit etwa in physikalischen Theorien durch deren »Bewährung« in der »Anschauung«24 dokumentiert. Ein solcher Versuch der Loslösung vom ursprünglichen Ausdruckserlebnis hat auch in der Philosophie stattgefunden mit der Suche nach einer Idealsprache, allerdings war er wenig von Erfolg gekrönt, wenngleich die Projektion mathematischen Denkens auch auf Fragen der Philosophie immer wieder durchzusetzen versucht wird. Die Kunst schließlich macht die Darstellungsmittel zunehmend als solche bewusst, kehrt sich ab von einem vorgegebenen Sinn und versucht, die Autonomie des Bildes durchzusetzen, indem sie die konkrete Darstellung als Darstellung (und nicht als Hinweis auf etwas Darzustellendes, auf den Sinn) realisiert. Die Sprache als herausgehobene Sphäre der Darstellung kennt ebenfalls die Hauptlinien dieses Fortgangs. (1) Ihre Formen 25 reichen von der mimischen Interjektion oder onomatopoetischen Bezeichnung über die analogischen Mittel der Bedeutungsdifferenzierung (z. B. 23 24 25

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Vgl. PsF II, S. 306. Vgl. Cassirer, PsF III, S. 543 f. Vgl. Cassirer, PsF I, S. 140 ff.

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durch Reduplikation für die Pluralbildung) bis hin zur Flexibilität und Vieldeutigkeit des vom Sinnlich-Gegenständlichen befreiten Lauts bzw. der Buchstaben als reiner Symbole; (2) und sie transformiert sich vom anfänglichen Haften am Ausdruckserlebnis, wie es noch dem urtümlichen Dialekt eigen ist, über die Darstellung als der spezifischen Leistung der Sprache, bis hin zur reinen Bedeutung der sprachlichen Formel, des mathematischen Zeichens, der präzis definierbaren Begriffe. Es ist offensichtlich, dass im Aufbau der Funktionen ein je anderes Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Sinngebung, Präsentem und Repräsentiertem, Besonderem und Allgemeinem, Subjekt und Objekt realisiert wird. Verlust an sinnlicher Anschauung, abstraktere, umfänglichere und zugleich detailliertere Repräsentationsbeziehung, höhere Verallgemeinerungsgrade und zunehmende Objektivierung sind die Richtungen, die eingeschlagen werden: in Sprache und Wissenschaft, aber auch in der Religion (als Überwindung des ausdrucksstarken Mythos) und selbst in der Kunst (deren objektivierende Distanzierung dahin geht, jeglichen Hinweis auf ein Objekt vermissen zu lassen, um die Farbe als Farbe oder das reine Bild als Bild zum Vorschein zu bringen). All das geht einher mit einer steigenden Bewusstheit der statthabenden Beziehungen einschließlich der eigenen Bedeutung als derjenige, der Stellung nimmt und Beziehungen ›herstellt‹ (findet, erfindet, entdeckt, schafft), was in komplementärer Ergänzung zu den eben genannten Richtungen zugleich heißt: stärkere Subjektivierung, kritischere Reflexion auf Repräsentationen und ihre ›Richtigkeit‹ oder ›Wahrheit‹, auf die dabei benutzten normativen Kriterien, und das Bewusstsein der Freiheit bei der Konstruktion solcher Bezüge, denn es hat sich ja – zumindest auf den ersten Blick – die Bindung an das (vormals rituell und mythisch bearbeitete) Anschauungsmaterial gelöst. Übrigens mag es auffallen und inkonsequent erscheinen, dass Cassirer von den drei Entwicklungsstadien des Ausdrucks spricht und andererseits diesen Begriff für die erste symbolische Funktion reserviert. Das hieße doch, dass auch jene Zeichen, die nicht mehr (wie noch in Mythos und Magie) den ›primären‹, ›physiognomischen‹ Ausdruckscharakter an sich tragen, immer noch etwas ausdrücken und ihrerseits unter dem Aspekt der Ausdrucks- bzw. Du-Wahrnehmung (und nicht bloß Ding- bzw. Es-Wahrnehmung) 26 betrachtet werden können. Da26

Vgl. zu dieser Unterscheidung Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, HamA

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für gibt es tatsächlich Beispiele, etwa die von Mathematikern präferierte Schönheit und Eleganz einer Formel, die zugleich als Ausdruck der Richtigkeit bzw. Wahrheit der Lösung des gestellten Problems gilt.

Zum Kategorialcharakter von symbolischer Prägnanz und Verkörperung Cassirers Beschreibung der Ausdrucksstadien und Funktionen ist keine Deduktion, kommt aber einer transzendentalen Deduktion insofern gleich, als sie die Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Kultur angibt. Sie muss sich an der Erfahrung bewähren. Das bedeutet: die Phänomene der menschlichen Lebendigkeit von einfachen Bewegungen und Ritualen bis hin zu Religion und Wissenschaft, letztlich auch Philosophie, müssen verstanden werden können als Sachverhalte, in welche jene Bedingungen so eingegangen sind, dass sich sagen lässt, sie seien nur deshalb möglich: dann wären die hypothetisch vorgetragenen Bedingungen als notwendige, damit als Kategorien zu bezeichnen, und die symbolische Prägnanz (bzw. die Verkörperung, die in Plessners Ästhesiologie die entsprechende Stelle einnimmt) käme einem synthetischen Apriori gleich, das sich in der (historisch-hermeneutischen) Zirkulation zwischen Erfahrung (Wahrnehmung) und deren Ermöglichungsgrund geltend macht. 27 Und so ist es kein Zufall, dass die symbolische Prägnanz mit der Du-Wahrnehmung in der noch ungeschiedenen, aber die Unterscheidungen entwicklungslogisch zwingend machenden Sphäre der Mitwelt anhebt. Der lebendige Vollzug der Synthesis zirkuliert erstens von der ursprünglichen Imitation, die bereits den Bruch anzeigt, da sie ja nichts völlig Identisches erzeugt (mimisches Stadium), über die Stellvertretung dessen, was nachgemacht oder nachgeahmt werden soll, durch etwas ihm weitläufig Ähnliches (analogisches Stadium), bis zur Negation dieser Mittel im Gefüge symbolischer Relationen. Der Vollzug kehrt aber immer wieder zum Mimischen und Analogischen zurück, um der symbolischen Relation Leben einzuhauchen. Das zeigt sich ins-

burg 2011, hier die zweite Studie: Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, S. 37–59. 27 Vgl. zu dieser Zirkulation Plessner: Macht und menschliche Natur, V, S. 174.

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Natürliche und künstliche Symbolik – der Leib als Symbol

besondere beim Spracherwerb und in der Sprachverwendung, zumal der poetischen, in der die Anschaulichkeit und sinnliche Greif- wie kognitive Begreifbarkeit gerade mit Mitteln phonetischer und syntaktischer Art deutlich werden. Zweitens lässt sich in diesem Vollzug der hermeneutische Zirkel wiederfinden, denn er bewegt sich vom ursprünglichen Ausdruckserlebnis über das Zeigen (Darstellen) bis hin zum Begreifen (reine Bedeutung) und zurück. Das entspricht Diltheys Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen, die ja auch so in sich verschlungen ist, dass das Verstehen in einen neuen Ausdruck mündet, der erlebt wird, was zu neuem Verstehen führt. 28 Beide Dimensionen des Vollzugs erzeugen so eine Bewegung, die am Körper ansetzt und vom davon sich allmählich abhebenden Leibselbst in ein Selbstbewusstsein übergeht, das sich nicht mehr an den Körper binden muss, ohne ihn doch hinter sich lassen und völlig negieren zu können. Denn er bleibt ja das Mittel allen Tuns und Medium allen Leidens. In Cassirers Beschreibung, die immer wieder, je nach Gegenstand und historischer Schwerpunktsetzung, neu anhebt, kommt ein Weiteres hinzu, das die Lebendigkeit des Vollzugs anzeigt. Die Zirkulation zwischen der Erfahrung und dem, was sie möglich macht, zeigt sich nicht zuletzt in der dialektischen Bewegung zwischen dem, was er natürliche Symbolik und künstliche Symbolik nennt. Die erste ist bereits mit der spezifischen Form des Anschauens und Auffassens eines Lebewesens gegeben, das wie der Mensch ein reflexives Bewusstsein hat; die zweite ist die willkürlich veranlasste und kontrollierte Fortführung der symbolischen Tätigkeit auf der Basis der natürlichen Symbolik.

Natürliche und künstliche Symbolik – der Leib als Symbol Im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen trifft Cassirer diese Unterscheidung, von der er später kaum noch, jedenfalls nicht explizit Gebrauch macht. Die willkürlichen Zeichen in Sprache, Kunst oder Mythos fasst er unter die künstliche Symbolik; deren Möglichkeit aber verdanke sich allererst der natürlichen Symbolik. In beiden Arten von Symbolik werde etwas repräsentiert, d. h. ein »Inhalt in einem Vgl. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1981 (und: Gesammelte Schriften 7).

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anderen und durch einen anderen« 29 dargestellt. Darin liege die »Grundfunktion des Bedeutens« 30 , die aller Setzung von Zeichen vorausgehe und »im Wesen des Bewusstseins selbst« 31 gründe. Dieses ›Wesen‹ nun, m. a. W. der »Grundcharakter des Bewusstseins« 32 , zeige sich in der natürlichen Symbolik. Die »›natürliche Symbolik‹« sei nichts anderes als »die Darstellung des Bewusstseinsganzen, die schon in jedem Moment und Fragment des Bewußtseins notwendig enthalten oder mindestens angelegt ist« 33 , d. h. in ihr sei repräsentiert (das, was zur Erscheinung kommt), was sich der einzelnen Wahrnehmung hier und jetzt präsentiert (die Erscheinung). So zeige sich im Jetzt, d. h. im »Bewusstsein des Augenblicks«, die Zeit, im Punkt, d. h. im »Bewusstsein einer einzelnen räumlichen Stelle« 34 , der Raum, in den Eigenschaften, den gegenständlichen Qualitäten, das Ding 35 , und in der Verknüpfung von aufeinanderfolgenden Ereignissen das Kausalverhältnis 36 . Das sind Cassirers Beispiele für die natürliche Symbolik. »Jetzt«, »Punkt«, »Eigenschaft« und »Ursache-Wirkungs- Zusammenhang« erhalten ihre symbolische Prägnanz dadurch, dass sie ›Sinnlich-Einzelnes‹ sind, in denen sich »Tendenzen und Richtungen« zur Geltung bringen, oder, anders gesagt, dass sie Teile sind, mit deren »Setzung« die »Setzung des Ganzen« mitvollzogen ist, »nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner allgemeinen Struktur und Form nach« 37 . Ähnlich formuliert Georg Simmel, den Cassirer in Berlin gehört hat, das Grundverhältnis des Lebens, im Anschluss an Wilhelm Dilthey, als hermeneutischen Zirkel zwischen Teil und Ganzem: »[…] das Leben […] ist ein stetiges Gleiten, in dem […] jeder [Teil] nur innerhalb jenes Ganzen und von ihm aus gesehen, seinen Sinn zeigt.« 38 Man kann Cassirer: PsF I, S. 41. Ebd., S. 42. 31 Ebd., S. 41 f. 32 Ebd., S. 37 u. 42. 33 Ebd., S. 41 (Hervorheb. v. R. B.); vgl. ebd., S. 27: gemeinsam sei allen Synthesen (hier nennt er die Melodie als Einheit in der Folge von Tönen und den Satz als Einheit in der Mannigfaltigkeit von Sprachlauten), dass »[…] die sinnlichen Einzelheiten nicht für sich stehen bleiben, sondern dass sie sich einem Bewusstseins-Ganzen einfügen und von diesem erst ihren qualitativen Sinn erhalten.« 34 Cassirer, PsF I, S. 40, vgl. ebd., S. 37. 35 Vgl. ebd., S. 37. 36 Vgl. ebd., S. 28. 37 Ebd. 38 Simmel: Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik, in: ders.: 29 30

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Natürliche und künstliche Symbolik – der Leib als Symbol

Cassirers Rede vom Bewusstsein hier mit Simmels Verwendung des Begriffs ›Leben‹ gleichsetzen, denn Cassirer selbst spricht von einem »Leben ›im‹ Sinn«, wenn er die symbolische Prägnanz, nämlich die »Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes« 39 , zu erklären sucht. Den Zusammenhang beschreibt Cassirer als Bewusstseinsleben: »Der symbolische Prozeß ist wie ein einheitlicher Lebens- und Gedankenstrom, der das Bewusstsein durchflutet« 40 . Dabei lassen sich graduelle Unterschiede ausmachen, je nach Elaboriertheit der Symbolverwendung: im Prozess des Spracherwerbs wird dem Kind nach und nach bewusst, dass Wörter etwas bedeuten; wer mehr als eine Sprache beherrscht, verwendet sie bewusster als ein reiner Dialektsprecher, der sich eher von Affektlauten leiten lässt; der Dichter reflektiert das Symbol in der Angemessenheit, Stilsicherheit, Rhythmik seiner Darstellungsqualität mehr als der Alltagssprecher. So sind Bewusstheit und Bewusstwerden ein intrinsisches, geradezu ›natürliches‹ Ziel des ›Lebens im Sinn‹, das der Mensch als »animal symbolicum« 41 führt, und ein Signum der Kultur, die dann nichts anderes ist als der Prozess, in dem sich der Mensch allmählich und nicht ohne Rückfälle von seiner Gebundenheit an ihm äußerliche Formen löst 42 . So lässt sich also auch unter dem Aspekt des Bewusstseinslebens, in welchem ›Natur‹ und ›Kultur‹ in der Tätigkeit des Symbolisierens hermeneutisch-zirkulär aufeinander bezogen bleiben, eine gewisse Entwicklungslogik beschreiben: Zunächst bleiben die eingeübten und gelernten symbolischen Formen äußerlich, der Mensch unterliegt ihrem Zwang bis hin zur Bewusstseinstrübung durch ideologische Verblendung 43 , solange er den Prozess des Formens nicht durchschaut und zu einer Transparenz des Bewusstseinsganzen für das Bewusstsein vordringt. Von der natürlichen Symbolik über die künstliche Symbolik führt der Weg zur vollen Bewusstheit der Symbolverwendung und zur möglichen »Selbsterkenntnis« 44 . Auf diesem Weg aber gilt es, die aus der antinomischen Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v. Michael Landmann, Frankfurt a. M. 1987, S. 174–230, hier S. 188. 39 Cassirer, PsF III, S. 235. 40 Ebd. 41 Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, 1996, S. 51 (im Orig. kursiv). 42 Vgl. ebd., S. 345. 43 Vgl. Ernst Cassirer: Vom Mythus des Staates, Zürich 1949. 44 Cassirer: Versuch über den Menschen, 1996, S. 16. Trotz der Bedenken Kants, was die A

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anthropologischen Struktur resultierenden Krisen zu meistern, in denen das Bewusstsein das dialektische Umschlagen von wechselseitig sich bekämpfenden Bestimmungen, Setzungen und Vernichtungen zu vollziehen hat. Das betrifft auch das Bewusstsein von sich selbst, so dass eine entsprechende Dialektik von Vernichtung und Aufbau des Selbst (inklusive seines Daseins als Körperleib) zu beschreiben sein wird.

Historische Krisen und Anfänge Cassirer selbst hat die Krisen im Gange der kulturellen Entwicklung (der europäischen Geschichte des Denkens) in seinen historisch orientierten Schriften paradigmatisch nachvollzogen. Er zeigt, wie Bedeutungen symbolisch geformt, Bestimmungen getätigt und Setzungen vollzogen werden durch Beseitigung der (noch) nicht verstandenen Merkmale eines bloßen Daseins als factum brutum, wie hyle und morphé eine synthetische Verbindung eingehen, so dass ein historisch notwendig gewordenes Selbstverständnis daraus hervorgeht. Seine großen Studien zu symbolisch prägnanten und deshalb einteilbaren Zeiträumen (Epochen) der Philosophiegeschichte thematisieren im Kern jeweils eine entscheidende Krise und Spannung, die mit dem tätigen Denken selbst und seinen Mitteln, z. T. unter Zuhilfenahme bestimmter symbolischer Formen wie der Kunst oder der Mathematik, gelöst werden. Man kann aus europäischer Sicht, 45 Cassirers historisch orientierten Schriften folgend, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne ins Detail zu gehen, korrelativ zu Epochen folgenden Ablauf von Krisen feststellen:

Möglichkeit einer Selbsterkenntnis angeht, verwendet Cassirer hier diesen Begriff, um anzuzeigen, dass der Mensch das, was ihn und seine Lebensform ausmacht, durchschaut, so dass es ihm nicht mehr bloß im Rücken liegt, sondern gleichsam vor Augen. 45 Vgl. aus einer das europäische und indische Denken umgreifenden Sicht Kiran DesaiBreun: Anschauen und Denken, Reden und Schreiben. Zur Struktur philosophischer Tätigkeit in ihren Anfängen in Indien und Europa, Würzburg 2007; dies.: Rationalistische Züge indischen Denkens, Nordhausen 2009.

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Historische Krisen und Anfänge

– die Krisis zwischen ›Sein‹ und ›Nicht-Sein‹ bzw. Sein und Werden im griechischen Denken 46 ; – die Krisis zwischen Notwendigem und Zufälligem im Denken der Renaissance; 47 – die Krisis der Aufklärung, die verschiedene, in sich zusammenhängende Aspekte aufweist: a) zwischen Beschreibung (Beobachtung) und Deduktion 48 , Detailtreue (Empirie) und Systematik (Vernunft) 49 , Empirismus und Rationalismus; b) zwischen Offenbarung und Vernunft, Bindung (an transzendente Größen) und Befreiung (durch die Immanenz der Fragestellungen und Lösungsvorschläge); c) zwischen Anschauung und Begriff (Beispiel ›Bild‹ der Ellipse und Differentialquotient) 50 ; – die Krisis zwischen ›Freiheit‹ und ›Form‹, Individualität und (allgemeiner) Norm, Besonderem und Allgemeinem 51 im Werden des deutschen Idealismus. In Cassirers Nachvollzug dieser Krisen und Anfänge wird jeweils deutlich, wie er den Gedanken des Gestaltens, des Formens, das auf der Basis der symbolischen Prägnanz Gegenständlichkeit allererst erzeugt, zur Lösung der Krisen nachweisen und überdies auf das eigene Denken in der gegenwärtigen Situation anwenden kann. Die gegenwärtig feststellbare Krisis kann aufgefasst werden als Krisis zwischen ›Natur‹ (Leben) und ›Kunst‹ (Kultur), zwischen Unmittelbarkeit des Lebens und Mittelbarkeit der Darstellung, und wird unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt in der Regel unter dem Stichwort der Medialität verhandelt. Spätestens seit Cassirers Fassung des Symbolbegriffs und Plessners detaillierter Ausarbeitung der medialen und konstruktiven Leistung der sinnlichen Modi beim Aufbau kultureller Formen ist das unentwirrbare Ineinander von Unmittelbarkeit und Vermittlung ins Licht der philosophischen Aufmerksamkeit und Vgl. Cassirer: Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon. In: Max Dessoir: Die Geschichte der Philosophie. Bd. I: Die Geschichte der antiken Philosophie (Erster Teil), Wiesbaden, Nachdruck der Ausgabe von 1925, o. J., S. 7–139, hier S. 10 u. 55. 47 Vgl. Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1994. 48 Vgl. Cassirer: Philosophie der Aufklärung, 1998, S. 398. 49 Vgl. ebd., S. 330. 50 Vgl. ebd., S. 385 f. 51 Vgl. Cassirer: Freiheit und Form, 1994, S. 241. 46

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damit als einer jener krisenhaften Anfänge ins Bewusstsein gerückt, der das Leben zu einer Zeit entscheidend bestimmt; in diesem Falle durchwirkt er es mit dem Leitmotiv der Darstellung und Selbstdarstellung. 52 In dieser Art der historischen Betrachtung unter philosophischer Perspektive zeigt sich, wie die Philosophie selbst unter dem Verhältnis der symbolischen Prägnanz betrachtet und in ihrer Funktion verstanden werden kann. Cassirer hatte, an Erkenntnisse der Gestaltpsychologie anknüpfend, dieses Verhältnis zwar in der Analyse des Wahrnehmungsaktes gefunden. Jedoch gelten die Kriterien der symbolischen Prägnanz auch für die Akte des Denkens und begrifflichen Bestimmens, wie überhaupt für jede symbolische Form. Denn alle haben es mit Gestalten und deren Auffassung zu tun. Deshalb trägt auch jede symbolische Form, wie in den historischen Beispielen gezeigt (man denke insbesondere an die Kooperation von Kunst und Mathematik bei Leonardo, der die zufälligen Verbindungen schwärmerischer Phantasie ersetzt durch notwendige, symbolisch prägnante Verbindungen, die sich ihm als Künstler durch das Stilempfínden einer obzwar freien, aber formbewussten Aktivität ergeben 53 ), zum Akt des Gestaltens und, sofern ihr das gelingt, gleichzeitig zu steigender Bewusstheit des Lebens- und Selbstgestaltungsprozesses bei. Philosophie macht diese Struktur der Kultivierung als Selbstbefreiung selbst noch einmal durchsichtig. Das wurde oben die Verdoppelung der Lebendigkeit genannt.

Selbstartikulation des Lebens Cassirer kennt zwei Richtungen, in denen sich seine Methode ausbildet: die regressive, mit der er auf die natürliche Symbolik stößt, und die für die Philosophie der symbolischen Formen entscheidende progressive, die angesichts der Widersprüche, die sich erkenntnistheoretisch immer neu auftun – Stoff und Form, Körper und Geist, Sinne und Sinn u. v. m. –, vorwärts schreitet zum Nach- und Mitvollzug der künstDie aktuelle Krisis wird sich ihrerseits als eine solche des Modus der Zustandssinne bzw. des dualen Modus herausstellen. 53 Vgl. Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1994, S. 161 ff. 52

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Selbstartikulation des Lebens

lichen Symbolik: »Statt den Weg zurückzutun, muß sie [die philosophische Betrachtung, R. B.] versuchen, ihn nach vorwärts zu vollenden.« 54 Das heißt, sie geht die Bewegung des Bewusstseinsganzen bzw. des Lebens- und Bewusstseinsstroms mit und zieht ihre Linien so weit aus, dass die in der Bewegung vollzogenen Verbindungen und Übergänge 55 klar und deutlich vor Augen liegen. Im Verlauf dieser Bewegung ergibt sich das, was sich für Cassirer in den Formen der Kultur zeigt und in der Philosophie der Idee nach vollendet: »Das Leben tritt aus der Sphäre des bloß naturgegebenen Daseins heraus: […] es wandelt und vollendet sich zur Form des ›Geistes‹«. 56 Darin liegt für ihn der Akt, den man als Gestalten, Formen, Sinngebung oder Selbsttätigkeit bezeichnen kann, eben jener Akt, der zur inneren Gegliedertheit und Begrenzung des Bewusstseinsganzen bzw. des Lebens als eines individuell geformten, sprich: zu dessen Artikulation führt; diesbezüglich spricht Cassirer auch vom »Urphänomen des Tuns, das sich von innen her begrenzt« 57 . Mit diesem Urphänomen verlässt Cassirer den Bereich der natürlichen Symbolik, und es kommt für das animal symbolicum ja auch gerade darauf an, im Reich der künstlichen Symbolik seinen Spielraum immer weiter zu entfalten. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass Cassirer, dem es ja um die Bewegung zur SelbstCassirer, PsF I, S. 51. Vgl. z. B. die Dialektik des mythischen Bewusstseins, PsF II, S. 281 ff. 56 Ebd. 57 Ernst Cassirer: Freiheit und Form, 1994, S. 242; vgl. ders.: Kants Leben und Lehre, Darmstadt 1994, S. 280; vgl. dazu auch die Darstellungen, etwa Leonardos da Vinci, in: Individuum und Kosmos im Zeitalter der Renaissance, Darmstadt 1994, S. 6 u. 161. Später kennt Cassirer drei Ur- oder Basisphänomene (zum einen an Goethes ›Urphänomen‹, zum andern an Carnaps ›Basissätze‹ anschließend, vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer, 1997, S. 199 f.): Ich bzw. Selbst, Wirken und Werk; diese entsprechen den grammatisch identifizierbaren Perspektiven von Ich, Du und Es (vgl. Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, Hamburg 1995). John Michael Krois (Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen. In: HansJürg Braun, Helmut Holzhey, Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1988, S. 15–44, hier S. 26) bezeichnet die symbolische Prägnanz als »Urphänomen«, was sich wiederum nach Dubach (1995, S. 70 ff.) nicht begründen lasse, zumal wenn es sich um eine transzendentalphilosophische Denkfigur handeln solle. Allerdings beurteilt Dubach den ganzen Zusammenhang bloß unter erkenntnistheoretischer Perspektive. Er übersieht den hermeneutischen Zusammenhang der Zirkularität zwischen ›Apriori‹ und ›Aposteriori‹. In Cassirers Systematik können wir jedenfalls nicht hinter die symbolische Prägnanz zurück, da aus ihr auch die Subjekt-Objekt-Differenz allererst hervorgeht. 54 55

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erkenntnis hin, zur Überschau über die Formen geht, nicht mehr explizit auf die natürliche Symbolik zurückkommt. Dennoch bestimmt diese weiterhin das Geschehen und Produzieren mit, einerseits verborgen schlummernd, andererseits im Akt der Selbsttätigkeit nicht bloß mitgehend, sondern diesen insofern tangierend, als er die ›natürliche‹ Basis des Bewusstseinsganzen oder des Lebens nicht überspringen kann. Das zeigt sich auch bei Cassirer. Es ist daran abzulesen, dass sich für ihn die Synthesen, die er darstellt, fortlaufend am Leib entzünden. Dem Menschen dient das »Bild des eigenen Körpers […] zum Modell, nach welchem er sich das Ganze der Welt aufbaut« 58 . Maurice Merleau-Ponty war einer der ersten, der diesen ursprünglichen Zusammenhang, der sich wie ein roter Faden durch Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zieht, in seiner Tragweite erfasst und für seine eigene Phänomenologie der Wahrnehmung fruchtbar gemacht hat. 59 Die Entdeckung des Leibes als Symbol, als »verkörperter Sinn« 60 , macht die fundamentale Differenzierung erforderlich, welche sich der anschaulich nachvollziehbaren, internen Artikuliertheit des Leibes selbst bedient: der Verschiedenheit von Körper und Leib, die zugleich als synthetische Einheit alles Weitere fundiert. 61 Denn für sein symbolisches Fungieren muss der Leib sich selbst als Material nutzen können, die symbolische Sinngebung realisiert sich (in den Vorgängen der Verkörperung) durch und in seiner eigenen Cassirer, PsF I, S. 159; vgl. z. B. auch PsF II, S. 112, wo der Leib als »Bezugssystem« für die mythische »Artikulation« des Raumes erörtert wird. Vgl. bereits Kant: Was heißt sich im Denken orientieren? Werkausgabe V, 1968, S. 265–283, hier A 308 f. (S. 269 f.), wo die geographisch-räumliche Orientierung zunächst »durch das bloße Gefühl eines Unterschiedes meiner zwei Seiten, der rechten und der linken« erfolgt. 59 Vgl. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1974, bes. S. 197 ff. 60 So bezeichnet Merleau-Ponty (1974, S. 198) im Anschluss an Cassirer den Leib, der als Symbol fungiert. Die mediale Funktion des Leibes als symbolische Form wird neuerdings häufiger thematisiert, etwa bei Klaus Wiegerling: Leib als symbolische Form und Ursprung von Medialität. In: Reto Luzius Fetz, Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«, Hamburg 2008, S. 77–92; Rolf Elberfeld: Bewegungskulturen und multimoderne Tanzentwicklung. In: Gabriele Brandstetter, Christoph Wulf (Hg.): Tanz als Anthropologie, München 2007, S. 219–229. 61 Diese Differenzierung wird bei Cassirer allerdings nicht durchgehend in dieser Form durchgeführt, wenngleich er auf die Reduktion des Sinnträgers Leib auf den Körper als ausgedehnte Materie im metaphysisch-theoretisierenden Denken hinweist, indem dieses »alles, was der Sphäre des reinen ›Ausdrucks‹ angehört, prinzipiell von ihm abstreift« (PsF III, S. 120). 58

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sinnlich-materiellen Körperlichkeit. Der Leib ist zugleich Körper und als solcher ein wahrnehmbares Objekt; hieraus resultiert die Möglichkeit des Gegenstandsbewusstseins. Der Körper ist zugleich Leib und als solcher (in den Vorgängen der Verleiblichung) das Subjektzentrum, das Selbst, das symbolisch tätig wird und sich vom Anderen abhebt wie es zugleich dadurch mit ihm in Verbindung tritt; hierin wurzelt die Möglichkeit des Selbstbewusstseins 62 . Diese synthetische Einheit wird, je nach Schwerpunktsetzung und Blickrichtung, in den Worten ›Körperleib‹ oder ›Leibkörper‹ versprachlicht. Den Körperleib als letzte Basis der Symbolik zu nehmen, bedeutet also nicht, den Naturalismus neu zu begründen, sondern es heißt, die letzte Wurzel des Prozesses der symbolischen Prägnanz dort ausfindig zu machen und zu zeigen, dass alle Symbolisierungen bereits mit dem kulturell prägbaren Verhältnis des Menschen zu seinem Körper bzw. dem Verhältnis, das der Körperleib immer schon ist, beginnen. Mit dem Körperleib ist die Artikulation zugleich ›gesetzt‹, so dass immer neue Synthesen zwischen Sinnlichem und Sinn möglich und notwendig werden. Da sich diese Synthesen unter verschiedenen Aspekten auffassen lassen, kann einmal von Verkörperung, ein andermal von Verleiblichung, drittens auch, vom Prozess des Wahrnehmens aus aufgefasst, von symbolischer Prägnanz die Rede sein.

Dialektische Bewegung des Selbstbewusstseins 63 Geistige Sinngebung ist nur deshalb möglich, weil die bedeutungsstiftende Funktion des Bewusstseins sich vom Sinnlichen lösen und befreien, das Sinnliche, an das sie doch ›andockt‹, um es zu bezeichnen, auszudrücken, in Symbolen zu fixieren und es dadurch allererst zu bestimmen oder zumindest bestimmbar zu machen, in seinem bloßen Dasein vernichten muss, damit sie ihre Leistung ausüben kann. Diese besteht ja darin, das Allgemeine im Einzelnen zu erschließen, das Ganze im Teil, die reine Bedeutung im Stofflich-Körperlichen, die Idee in Vgl. Merleau-Ponty 1974, S. 277 f. Die weiteren Ausführungen zu dem Verhältnis von Scham und Selbstbewusstsein folgen z. T. einer Veröffentlichung des Verf., vgl. Breun: Symbolische Prägnanz und Körper-Leib-Verschränkung. Ein Beitrag zur Philosophischen Anthropologie zwischen Cassirer und Plessner (Zeitschrift für Kulturphilosophie, Bd. 6, 2012/1, S. 161–178).

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der Äußerung, den Sinn im Sinnlichen, und, was dazukommt, all dieses Ideelle, nicht Gegebene zugleich wieder äußerlich, also wahrnehmbar zu machen, in sinnlichen Ausdruck zu gießen, d. h. zu äußern. Das geht nur, indem die Sinngebung als »Vorzeichnung« 64 fungiert, nicht als Abdruck oder Abbild einer bereits vorhandenen Musterzeichnung, denn die wäre ja selbst wieder allererst zu zeichnen und kann nicht lediglich vorgefunden werden. Zeichnen ist weglassen, verallgemeinern vernichten, bedeuten übersehen. Umgekehrt wird das, was in der Zeichnung weggelassen, in der Verallgemeinerung vernichtet, im Bedeuten übersehen wurde, gerade deshalb in eine ›handhabbare‹ Form überführt. Einem Vexier- oder Kippbild gleich, kommt Sinn nur in der Wechselbeziehung mit dem Vernichteten und Weggelassenen zur Deutlichkeit. Wenn sich das symbolische Formen selbst in allen seinen Funktionsbereichen in einer dialektischen Bewegung zwischen Sinn und Sinnlichkeit, Vergeistigung und Versinnlichung, Loslösung und Bindung, Position und Negation, Selbstbehauptung und Vernichtung 65 vollzieht, muss das Folgen haben für die Bestimmung der Richtung, in die es geht. Die Sphäre des Geistes, die es zu betreten und zu erfüllen hat, kann kaum von einer Reinheit sein, die uneingeschränkt die Kennzeichnung als ›ideal‹ rechtfertigt 66 , sondern muss durchzogen sein von Spuren des hier angedeuteten Kampfes. In der Tat: im Selbstbewusstsein zeichnet sich diese Spur mit der Möglichkeit des akuten Schamausdrucks scharf ein. Cassirer sieht den dialektisch auszutragenden Grundkonflikt angelegt in der »Sphäre des Lebens« 67 selbst, denn diese ist es doch, die sich »in sich selbst unterscheidet«68 , indem sie sich, schon im Prozess Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, 19952 , S. 122. Vgl. Cassirer, PsF II, S. 283. 66 Zur ›idealen Welt‹, die sich der Mensch im symbolischen Formen errichtet, vgl. Cassirer: Versuch über den Menschen, 1996, S. 345. Cassirer fährt an dieser Stelle fort: »Die Philosophie kann die Suche nach einer grundlegenden Einheit dieser idealen Welt nicht aufgeben.« Er erläutert, dass es sich dabei um eine Einheit in der Vielfalt und Disparatheit handelt, und verwendet dabei eines seiner Lieblingszitate, ein Wort von Heraklit (Frg. 54): »›gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier‹« (ebd., S. 346). Cassirer ist mit der Bestimmung dieser Richtung auf das Ideale, Geistige hin häufig der Vorwurf des Idealismus gemacht worden. Es kommt aber immer darauf an, diese Richtung auch in ihrer dialektischen Dynamik im Verein mit der Gegenbewegung zum Versinnlichen hin zu sehen. 67 Cassirer, PsF III, S. 103. 68 Ebd. 64 65

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des Wahrnehmens und d. h. Unterscheidens, artikuliert und damit alles Weitere aus sich hervorgehen lässt: die Subjekt-Objekt-Differenz, die Distanz zwischen Subjekt und Objekt und das daraus entstehende Wissen des Subjekts um sich und die Welt der Dinge, die Genese des Bewusstseins aus der Positionierung des eigenen Körperleibs gegenüber der Welt, so dass am Ende des Prozesses ein entwickeltes Selbstbewusstsein und zugleich, komplementär dazu, ein Weltbewusstsein stehen. All dies schält sich aus der ursprünglichen Artikuliertheit und der von Portmann aufgewiesenen Funktion der Selbstdarstellung des Lebens heraus – aus der »Ausdrücklichkeit« 69 , zu der sich, Plessner zufolge, das menschliche Leben präreflexiv und reflexiv steigert, in der es sich erscheint und wahrnimmt. Diese Ausdrücklichkeit und Symbolvermitteltheit zeigt sich exemplarisch etwa in den Artefakten, den mimisch-gestischen und sprachlichen Äußerungen, im Opferkult – alles Tätigkeiten, in welchen der symbolisch Tätige und Produzierende sich vom eigenen Produkt löst und es sich als Objekt gegenüberstellt. Beide Seiten verselbstständigen sich, Welt und Selbst stehen, symbolisch vermittelt, einander gegenüber. Die ursprüngliche artikulierte Einheit des Lebens weicht einer internen Spaltung, die auf immer neuen Ebenen des symbolischen Prozesses überwunden werden muss und sich dabei fortlaufend reproduziert. So bleibt es auch dem Selbstbewusstsein nicht erspart, den Grundkonflikt, in dem sich das »Bewußtsein in sich selbst spaltet« 70 , erleben und lösen oder untergehen zu müssen. Dass auch dies manifest wird, folgt aus der Form der Ausdrücklichkeit bzw. der Funktion der Verkörperung. Das auf sich selbst zurückgewandte Bewusstsein wird sich zum Inhalt, den es symbolisch zu formen hat, und muss in vergleichbarer Weise symbolisch prägnant werden können wie das, was das Bewusstsein anderweitig wahrnimmt; es spaltet sich in sich selbst auch und besonders da, wo es zugleich Subjekt und Objekt des Wahrnehmens ist. Plessner: Stufen, IV, 1980, S. 399; Ausdrücklichkeit ist eine der Gesetzmäßigkeiten, die sich, ähnlich wie bei Portmann, aus Plessners Aufweis der Lebenskategorien im Anschluss an das Verhältnis des Lebendigen zu seiner Grenze mit zunehmender Reflexivität ergibt. Vgl. Portmann: Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde, 1957. 70 Cassirer, PsF II, S. 282. An dieser Stelle erörtert Cassirer die Spaltung des mythischen Bewusstseins, die darin besteht, dass es die Bilder braucht und sich zugleich allmählich kritisch ihnen gegenüber verhält: die »[…] Äußerung [beginnt] selbst zu etwas ›Äußerlichem‹ zu werden« (ebd.), das Sinnliche wird dem Sinn inadäquat. 69

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Die dialektische Struktur von Negation und Position muss sich hier in einer Ausdrucksmodalität realisieren, in der sich die Vernichtung des Selbst (in seinem bloßen Dasein, d. h. als Sinnlich-Körperliches) so kundgibt, dass sich darin zugleich seine ureigenste Bedeutung in reiner Form herauskristallisieren kann, und zwar, paradox und doch punktgenau, mit den Mitteln der physiologischen Ausstattung. Genau das vollzieht sich in der Schamhaftigkeit, und die der akuten Scham eigene Äußerung des Errötens (oder auch des Blickabwendens oder im Boden versinken Wollens) zeigt, wie das Selbst gezwungen ist, Bedeutung in seine Selbstdarstellung zu legen und selbst zum Symbol zu werden, das mit jedem seiner Einzelinhalte das ›Bewusstseinsganze‹ repräsentiert. So ist der Schamausdruck das Paradigma der unwillkürlich zeichengebenden ›natürlichen Symbolik‹, in der Cassirer den Ursprung des Symbolisierens ausmacht. Um aber diesem Bewusstsein von der eigenen Nichtigkeit im bloß sinnlichen Dasein eine feste, belastbare Haltung entgegenzusetzen, geht die Selbstdarstellung über in eine ›künstliche Symbolik‹ unter Verwendung arbiträrer Zeichen, die eben diese Haltung in den Ausdrucksweisen der Scheu – dem Inbegriff der seinsmäßigen Schamhaftigkeit – anzeigt, in Expressionen, die Schutzbedürftigkeit signalisieren und Schonung erbitten. Im zeitlichen Verlauf dieser Entwicklung verwandelt sich die Anmut, die, zumindest für den sensiblen Betrachter, der scheuen Zurückhaltung zukommt, schließlich in den Ausdruck der Würde als des Inbegriffs reiner, vom sinnlichen Dasein unabhängiger Bedeutung oder, wenn dies misslingt, Gravität 71 ; beide Expressionen, die gelungene wie die misslungene, tendieren jedenfalls dazu, jenen auratischen Raum der Unantastbarkeit um sich zu verbreiten, der der fundierenden und darin verborgenen Scheu eigen ist. Es ist kein Zufall, dass das ethisch-politische Prinzip der Würde mit dem Gedanken der Unantastbarkeit unzertrennlich verbunden ist; es findet seine Anschauung in der Haltung der Würde, die jedem unabhängig von seinem sinnlichen Dasein (Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Behinderung usw.) zu ermöglichen ist, wozu die Politik, die soziale Organisation und das individuelle Gebaren in stetigem Bemühen die Bedingungen zu schaffen verpflichtet sind. 72 Kaum jemand hat diesen Zusammenhang so eindringlich geschildert wie Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: Sämtliche Werke und Briefe, 2. Bd., hg. v. Helmut Sembdner, München 19939 , S. 338–345. 72 Vgl. dazu Avishai Margalit: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 71

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Die Stadien des Schamausdrucks und die symbolischen Funktionen der Scham

Die Stadien des Schamausdrucks und die symbolischen Funktionen der Scham Aufgrund dieser inneren Notwendigkeiten im Prozess des Symbolgebrauchs und seiner selbstreflexiven Wendung ist es naheliegend, dass Cassirer in einer Replik auf eine scharfe Kritik an seiner Konzeption und insbesondere am Begriff der symbolischen Prägnanz gerade die Schamröte als spezifisches Beispiel vorführt 73 , auch wenn er es an dieser Stelle, über die Bestimmung eines artikulierten Ganzen hinaus, nicht weiter erläutert; er bedenkt nicht die Verknüpfung von Scham und Selbstbewusstsein und damit von Schamausdruck und symbolischer Tätigkeit überhaupt, deshalb auch nicht die Dialektik von Sinnlichkeit und Sinn, wie sie im moralisch bedeutsamen Zusammenhang von Nichtigkeit und Würde, Selbstdarstellungszwang und Beschämbarkeit offenbar wird. Dieser Konnex zeigt sich aber in den Stadien des Ausdrucks (1), die die Symbolik der Würde hervortreiben, und die Entwicklung eines Selbstbilds lässt sich in der Abfolge der symbolischen Funktionen wiederfinden (2) bis hin zur reinen Bedeutung des Selbst oder des Menschseins im ›Vexierbild‹ der Scham. (1) Die Schamröte als mimischer Ausdruck will wegen ihrer Unkontrolliertheit und Dementierung der Selbstbestimmung vermieden sein. Kontrolle darüber erlangt man nur indirekt durch lange Vorbereitung und sublime Maßnahmen, die dem Bereich der künstlichen Symbolik, speziell dem symbolischen Ausdruck zuzuordnen sind. Zwischen dem mimischen und symbolischen Ausdruck liegen analogische Ausdrucksweisen, in denen sich das Verhältnis zwischen der ausgedrückten Sache, hier dem Selbst, und deren Sinn, der sich hier noch nicht in ›reiner‹ Form offenbart, wechselseitig spiegelt. Das heißt, dass die unter Erwachsenen selten vorkommende Schamröte oder sonstige Schamausdrücke zugunsten anderer Formen ›feiner Scham‹ 74 bzw. der Scheu weichen. An die Stelle des kompromittierenden Schamausdrucks treten die zu fixierten Verhaltensweisen geronnenen und allgemein mehr 1997. Vgl. auch Anton Leist: Menschenwürde als Ausdruck. Ein nicht-metaphysischer Vorschlag, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53/2005, H. 4, S. 597–610. 73 Vgl. Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs,1994, S. 222 f. 74 Vgl. Simmel: Die Mode, GA 14, S. 186–218, hier S. 206; vgl. ders.: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hg. v. Otthein Rammstedt u. Heinz-Jürgen Dahme, Frankfurt a. M. 19924 , S. 136 f. u. 382. A

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oder weniger geschätzten Formen des Selbstbewusstseins als Schambewusstsein, z. B. Stil, Takt, Bescheidenheit, oder Inszenierungen des individuellen Selbst in den gesellschaftlich akzeptierten, erwarteten und geforderten Formen der sozialen Rollen und Masken 75 , des Status, Prestige, Nimbus und anderen Zeichen der Würde sowie ihrer Sicherung 76 angesichts der Fragilität des menschlichen Selbst und seiner immer drohenden Vernichtung. Als Aktzentrum hat das Selbst sein sinnliches Korrelat im Körperleib, dem sich jene expressiven Formen einschreiben. Analogisch sind dann ebendiese Formen zu nennen, die sich so eng an das sinnliche Dasein des Auszudrückenden binden, dass das Risiko des Umschlagens in die akute Scham dem Ausdruck selbst anhaftet, und zwar im Modus des Geltungheischens. So kann die Statusinszenierung leicht beschämend werden, wenn der mit dem Statuszeichen verknüpfte (reine) Sinn so sehr in die sinnliche Vermittlung selbst, etwa in Kleidung oder Gestik, eingeht, dass sich diese in den Vordergrund schieben und das Selbst der Lächerlichkeit preisgeben kann. Die Identifikation des Selbst mit seinem sinnlichen Ausdruck ist dann zu eng, wenn es sich von dessen Metaphorik nicht zu distanzieren versteht und sie als Spiegel benutzt: »Ich bin diese gesellschaftliche Position, dieses Eigenheim, diese Limousine, dieser wohlgestaltete Körper usw.«. Ein rein symbolischer Ausdruck des Selbstbewusstseins wäre jener, der an den sinnlichen Momenten seiner Darbietung entweder kein Interesse zeigt oder dessen sinnliche Umsetzung selbst zum Symbol wird. Beispiele dafür sind Menschen wie Mahatma Gandhi, deren einfacher, bis zum Bild der Armseligkeit gehender Stil nicht vom reinen Sinn des Selbst ablenkt, so dass dessen Erscheinung ihrerseits eben diesen Sinn – den aus dem Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit hervorgerufenen Habitus der Würde, Freiheit und Unabhängigkeit – symbolisch zeigt, oder auch Künstler- und Wissenschaftlernaturen, deren ›reiner‹ Existenzsinn in ihrer ›vergeistigten‹ Erscheinung zum Ausdruck kommt; aber auch sogenannte einfache Menschen, in deren Vgl. Joachim Fischer: Panzer oder Maske. ›Verhaltenslehre der Kälte‹ oder ›Sozialtheorie der Grenze‹. In: Eßbach, Joachim Fischer, Helmut Lethen (Hg.): Plessners »Grenzen der Gemeinschaft«, Frankfurt a. M. 2002, S. 80–102; ferner Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004. 76 Vgl. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), V, 1981, S. 7–133, bes. S. 58 ff. u. 95 ff. 75

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Die Stadien des Schamausdrucks und die symbolischen Funktionen der Scham

scheuem Wesen das Wesentliche des Existierens aufscheint: dem andern nichts zuleide zu tun und für sich selbst nichts in Anspruch zu nehmen außer der minimalen Achtung, die jeder benötigt, um ›da sein‹, d. h. beim Menschen: selbst sein zu können. Zwar kann auch all das lächerlich wirken, gerade weil die Symbolik von Unauffälligkeit geprägt ist, aber es ist eine Lächerlichkeit, die eher den Beobachter als den Akteur zu beschämen vermag, wenn er die in der absoluten Selbstzurücknahme und Demut zum Ausdruck gebrachte Nichtigkeit nicht recht zu deuten weiß. Dass auch dieses vermeintliche Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit gespielt sein kann, verweist auf die unaufhebbare Krisis der Selbstdarstellung; das Selbst ›kämpft‹ unaufhörlich mit sich selbst und seiner Erscheinung. (2) »[…] der Mensch reift zum Bewußtsein seines Ich erst in seinen geistigen Taten heran; er besitzt sein Selbst erst, indem er, statt in der fließend immer gleichen Reihe der Erlebnisse zu verharren, diese Reihe abteilt und sie gestaltet. Und nur in diesem Bilde der gestalteten Erlebniswirklichkeit findet er sodann sich selbst als ›Subjekt‹, als monadischen Mittelpunkt des vielgestaltigen Daseins wieder.« 77 Diese kurze Beschreibung pointiert die Ausdifferenzierung der symbolischen Funktionen im Hinblick auf das Selbst. Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung sind »qualitativ-verschiedene Arten der Sinngebung« 78 ; sie gehen nicht in eine geradlinig fortschreitende Entwicklung ein, wenngleich sie historisch in eben dieser Abfolge auftreten. Zunächst geht das Selbst im Ausdruckserlebnis auf, im Ritual, in den gewohnten Verrichtungen des Alltags und immer wiederkehrenden Interaktionen. Es findet sich dann wieder in der Reihe seiner Hervorbringungen, der Darstellungen, zu welcher auch die Selbstdarstellung gehört, ohne die überhaupt keine Darstellung möglich zu sein scheint. Die reine Bedeutungsfunktion sieht Cassirer in wissenschaftlichen Begriffen und Formeln verwirklicht. Genau das wurde auch für den Begriff des Selbst versucht, in psychologischen, soziologischen und philosophischen Theoriebildungen. Im Unterschied zu solchen objektivierenden Theorien des Subjekts oder Selbst zielt Cassirer darauf ab, das Selbst und sein Werden in dem zu finden, worin es eingeht, wenn es symbolisch tätig ist; er 77 78

Cassirer, PsF III, S. 106. Ebd., S. 67. A

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beabsichtigt, es, »gemäß dem Worte Platons, wie ›in großer Schrift geschrieben‹« zu lesen: »An den großen Schöpfungen des Kulturbewußtseins wird auch das ›Werden zum Ich‹ erst eigentlich lesbar.« 79 Man kann den letzten Zweck seiner Philosophie der symbolischen Formen geradezu darin sehen, das Ich oder Selbst sichtbar zu machen, so wie Platon auf die Seele vom idealen Aufbau des Staates her ein Licht zu werfen sucht. Das Selbst kommt nur in seinen Tätigkeiten zur Erscheinung, und wir wissen, was es ist, wenn wir sehen, was es zu leisten imstande war. Nun zeigt sich aber an ihm selbst die selbstreflexiv gesteigerte Dialektik zwischen der Bindung an das Sinnliche und der Freiheit vom Sinnlichen wiederum als interne Verschiedenheit von Dasein und Bedeutung: in jener Differenz, die die natürliche Symbolik, zumal des Schamausdrucks, allererst ermöglicht – in der Differenz zwischen Körper und Leib. Diese ist es, die die Einheit seiner Erscheinung, von den Nichtigkeitsindizes des Schamausdrucks bis zur Bedeutungsemblematik der würdevollen Haltung, gewährleistet, und zwar unter der Bedingung stetigen Vollzugs. In der Körper-Leib-Differenz ist der Grundkonflikt als Hiatus zum Ausdruck gebracht, und zwar so, dass die Überwindung der Differenz zum Ausdrücken überhaupt veranlasst. So kommen hier, in der untrennbaren synthetischen Einheit des Körperleibs bei gleichzeitiger Verschiedenheit der beiden Bindeglieder ›Körper‹ und ›Leib‹, mit deren vollzogenem Wechselspiel sowohl (1) die drei Stadien des Ausdrucks als auch (2) die drei symbolischen Funktionen zum Zuge. Denn nur weil derselbe Leib, der das Zentrum seiner selbsttätigen und spontanen Akte (das Selbst) ist, zugleich sich selbst in seiner körperlich-sinnlichen Existenz zum Werkzeug machen kann, mit dem er seine Akte ausführt, sich gleichsam ›entäußert‹, kann Cassirer von dem ›Bilde der gestalteten Erlebniswirklichkeit‹ sprechen, in dem sich der Mensch als ›Selbst‹ oder ›Subjekt‹ findet. Bedingung des Ausdrückens überhaupt ist die Körper-Leib-Differenz, also muss in dieser die ursprüngliche symbolische Relation ihren Ort haben, und es muss ein, wenngleich davon nicht völlig unabhängiges, sinnliches Dasein (hyle) geben, auf das das Verhältnis zurückgeführt wird, wenn das Bedeutungs- oder Formmoment (morphé) 80 aus irgendeinem Grund oder Anlass verdeckt, behindert oder zerstört 79 80

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Ebd., S. 105 f. Vgl. Cassirer, PsF III, S. 231.

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Der Begriff der Verschränkung – Ausdrucks- und Ding-Wahrnehmung

wird, so wie Cassirer ja gezeigt hat, dass das jeweilige sinnliche Moment der symbolischen Prägnanz zwar immer schon sinntragend wahrgenommen wird, es dennoch zumindest als Moment vom geistigen Moment der Bedeutung unterscheidbar bleibt und in diesem Unterschied festgehalten werden kann. Und so ist es in der Tat: die akute Scham ist eine anschauliche, sinnlich wahrnehmbare Reduktion des Leibes bzw. Selbst auf den Körper als Ding, dem keinerlei leiblich ausgedrückte Bedeutung mehr zu eignen scheint, und zwar dann, wenn dieses Selbst sich vernichtet sieht oder wähnt – das kann akut-gegenwärtig, voraus- oder zurückblickend sein –, was unterschiedliche, moralische wie außermoralische, Gründe haben kann. Denn die Scham und ihr Ausdruck setzen, wie Scheler gezeigt hat, nicht eine Gestaltung und Formung voraus, sondern sind gerade gegen diese ein »›Überkommenwerden‹ oder ›Überlaufenwerden‹« 81 des Selbst und damit ganz konkret des Leibes, dessen Steuerungsmechanismen ausgesetzt werden. Dann aber geschieht eben das Merkwürdige: zwar verliert der Mensch seine Kontrolle, zeigt aber dennoch eine physiologisch fundierte Symbolik, der er zugleich nicht gewachsen ist. Das ist nur möglich unter der Bedingung, dass der Körper dann an die Stelle des Leibzentrums tritt, wenn dieses nicht mehr in der Lage ist, seinen Ausdruck zu formen und sich in seiner Selbstdarstellung expressiv zu gestalten. Das Körperding selbst findet, unkontrollierbar vom Leibzentrum aus, einen Ausdruck: im Erröten, Blick abwenden, in den Anzeichen des ›im Boden versinken Wollens‹.

Der Begriff der Verschränkung – Ausdrucks- und Ding-Wahrnehmung In gewisser Weise kennt auch Cassirer die Differenz von Körper und Leib, denn sie geht mit der Differenz von Ding- bzw. Es-Wahrnehmung und Ausdrucks- bzw. Du-Wahrnehmung einher. Den Körper als solchen wahrnehmen heißt, vom Leiblich-Expressiven abzusehen und ihn der Welt der Dinge einzugliedern; den Leib wahrnehmen bedeutet, das Expressive an ihm zu erfassen, ihn zu sehen, wie man sich selbst sieht, weil man die eigene dingliche Körperhaftigkeit in der Regel übersieht. Sie gerät nur dann in den Blick, wenn man in einem zweiten 81

Max Scheler: Über Scham und Schamgefühl, 19572 , S. 81. A

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Schritt das expressive Moment negiert. Alles hebt mit der noch ungeschiedenen Einheit des Ausdruckserlebens an, und so beginnt die Reihe der symbolischen Funktionen mit der des Ausdrucks, und dessen Stadien setzen mit dem mimischen ein. Folgerichtig sieht Cassirer in der Ausdruckswahrnehmung die »originäre […] Weise des Wahrnehmens« 82 , die alle anderen Wahrnehmungen, auch die der Objekte, allererst ermöglicht und dem Mythos eigen ist. Die Ausdrucks- bzw. DuWahrnehmung geht der Ding- bzw. Es-Wahrnehmung voraus 83 wie der Mythos der Wissenschaft und generiert »ein eigenes Gebiet«, und zwar »jene Form des Wissens, in der sich uns die Wirklichkeit, nicht sowohl von Gegenständen der Natur, als vielmehr von anderen ›Subjekten‹ erschließt« 84 . Subjekt ist dasjenige, was in der symbolischen Relation nicht bloß zum Ausdruck kommt, sondern sich ausdrücken muss, um zu sein, und die Wahrnehmung von anderen als Subjekten (auch, wie im Mythos, von Naturobjekten als lebendige Mächte, die sich ausdrücken) kann nur so erfolgen, dass sie selbst mit einem Ausdruck verknüpft ist, und sei es lediglich in einer Varianz des Blicks, die sich beim wahrnehmenden Subjekt angesichts der Begegnung mit einem anderen Subjekt feststellen lässt oder erwartet wird. Aufgrund des Primats der Du- vor der Es-Wahrnehmung, der intersubjektiven Beziehung vor dem Subjekt-Objekt-Verhältnis, geht die Dialektik von Körper und Leib zunächst über in die Dialektik von Ich und Anderem. Es ist bezeichnend, dass sich in Hegels Phänomenologie die Beschreibung der hier aufgewiesenen Struktur in verallgemeinerter Form findet. Denn was Hegel für den dialektischen Prozess des werdenden Selbstbewusstseins reziprok zum Selbstbewusstsein des Anderen festgestellt und in den Begriff der (wechselseitigen) Anerkennung gefasst hat, muss ja in dem Quellgrund auftreten, aus dem es kommt und in den es gestaltend hineinwirkt, nämlich in dem ›dialektischen‹ In- und Gegeneinander von Körper (Es-Wahrnehmung) und Leib (Du-Wahrnehmung). Hegel hat den Vorgang in den Begriff der Verschränkung gefasst, und zwar konsequenterweise in mindestens zweifacher Bedeutung 85 . Damit umreißt er in wenigen Worten die Struktur der Mitwelt Cassirer, PsF III, S. 72. Vgl. ebd., S. 74; vgl. auch Cassirer: Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung. In ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften, Hamburg 2011, S. 37–59. 84 Cassirer, PsF III, S. 93. 85 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 19773 , S. 145. 82 83

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Der Begriff der Verschränkung – Ausdrucks- und Ding-Wahrnehmung

mit ihrem gleichzeitigen Zwang zu Identifikation und Abgrenzung, die als einander ebenbürtige Optionen gelten können. Die eine Formel der Verschränkung folgt den Maßgaben der Ausdrucks bzw. Du- Wahrnehmung und lautet: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« 86 Denn einerseits ist die Rückwendung auf das Selbst in der Scham nicht bloß individualisiert zu verstehen 87 , sondern auf das Ich in jener allgemeinen Form bezogen, in der sich das Wir im Ich so reflektiert, dass sich das Ich im Wir wiederfindet, nämlich zunächst im ursprünglichen Wir alles Lebendigen, dann in der Ausdifferenzierung gemeinsamer Haltungen, sozialer Gesten, sprachlicher Symbole, kultureller Werke, zu Normen geronnener intersubjektiver Bezüge 88 ; das heißt, Ich und Wir, individuelles und allgemeines Selbst, reflektieren sich in diesen Gemeinsamkeiten, wie sie anfänglich in Ritual und Mythos zum mimisch-gestischen Ausdruck und zur sprachlichen Darstellung gebracht werden, und zwar in einer Weise, dass sie sich identifizieren, indem sie sich abgrenzen und umgekehrt: sich identifizierend steht etwa der rituelle Tänzer als göttlicher Held für die ganze Gemeinschaft, die im gemeinsamen Erleben eins wird; sich abgrenzend spielt der rituelle Tänzer den göttlichen Helden, und die Gemeinschaft schaut ihm zu. Dieser Dialektik von Ich und Wir folgend werden jene Möglichkeiten der Scham, in denen das Ich das Wir ist, nämlich Mitscham und stellvertretende Scham, in ihrem notwendigen Hervorgehen aus der mitweltlich angebundenen Leibstruktur des Selbst allererst nachvollziehbar. Die andere Formel der Verschränkung zielt auf deren zweite Komponente, die Es- bzw. Dingwahrnehmung: »Indem ein Selbstbewusstsein der Gegenstand ist, ist er ebenso wohl Ich wie Gegenstand« 89 . Denn andererseits sind es die Blicke der Anderen (formal die aller Menschen überhaupt), die das Schamsubjekt so überfluten, dass es sich selbst, sich absolut getrennt von den Anderen erlebend, in einer Weise angestarrt weiß, die es zum bloßen Objekt aller Subjekte macht 90 oder zum Gegenstand der Es-Wahrnehmung. Es wird als Leibzentrum vernichtet, d. h. entleiblicht. Ebd. (›Ich‹ und ›Wir‹ im Orig. kursiv). Vgl. Scheler: Über Scham und Schamgefühl, 19572 , S. 81 (im Orig. kursiv). 88 Vgl. dazu George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft – aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a. M. 199811 , bes. S. 81 ff., S. 140, S. 222 ff. 89 Hegel: Phänomenologie des Geistes, 19773 , S. 145. 90 Vgl. das Kapitel »Der Blick« in Sartre: Das Sein und das Nichts, 1993, S. 457 ff. 86 87

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Genau diese merkwürdige und in sich verdoppelte Ineinandergewobenheit von Ich bzw. Wir auf der einen und zugleich Subjekt bzw. Objekt auf der anderen Seite bezeichnet Hegel als »eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung, so dass die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Unterscheidung zugleich auch als nicht unterschieden oder immer in ihrer entgegengesetzten Bedeutung genommen und erkannt werden müssen« 91 . Es ist eine Beschreibung, die präzise auf die »Verschränkung des Leibes in den Körper« 92 zutrifft. Ihre Vielseitigkeit und Vieldeutigkeit gehen ein in den Ausdruck der Scham. Denn gerade die »spezifisch menschlichen Erscheinungen des Übermanntwerdens« sind es, in denen die Verschränkung »sichtbar« 93 wird. Die Schamröte bzw. die ihr verwandten Formen einschließlich der Weisen des Geltungheischens bzw. Stolzes indizieren ineins die Gegenständlichkeit und Selbstheit, Objekthaftigkeit und Subjekthaftigkeit des Körperdings wie des Leibselbsts und überdies die Identität von Körper und Leib ebenso wie ihre absolute Verschiedenheit. Weil das Menschlich-Lebendige sich zeigen muss, um zu sein, bildet die Schamhaftigkeit seinen Humus und grundiert die Formen des öffentlichen Sichzeigens und Darstellens ebenso wie die Formen des Selbstseinkönnens, ob im Modus der Zurückhaltung (in Takt und Diskretion) oder in dem des Sichexponierens (bis hin zu Schamlosigkeit und Dreistigkeit, die nur vor dem Hintergrund der Schamhaftigkeit zu verstehen sind). Als körperleibliches Selbst ist der Mensch exponiert-expressiv und beschämbar zugleich 94 .

Hegel: Phänomenologie des Geistes, 19773 , S. 145. Plessner: Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie (1973), VIII, S. 380– 399, hier S. 396. 93 Ebd., S. 397. 94 Vgl. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, V, S. 7–133, hier S. 74; ders.: Lachen und Weinen, VII, S. 201–387; ders.: Stufen, IV, S. 419 ff. 91 92

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Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen

Zeit und Raum als Bedingungen der Möglichkeit von Synthesen Synthesen müssen bewerkstelligt, die Einheit in der absoluten Verschiedenheit muss stetig vollzogen werden. Die Verbindung wird ermöglicht durch Bedingungen, die sich am Resultat erschließen lassen. Nun hat Kant das Rätsel der Synthesis im Schematismus-Kapitel so weit beleuchtet, dass er für das Verbinden zwischen Anschauung und Begriff die Bedingung der Zeit ausfindig machen konnte. Dabei war, gemäß der Orientierung an der Geometrie, ausschließlich der optische Modus des Verbindens in den Fokus gerückt. Die Modi des Akustischen, Haptischen und des Geschmacks (des Olfaktorischen und Gustatorischen) gerieten in den Hintergrund, erhielten allerdings teilweise eine Bedeutung für die Analyse der ästhetischen, auf den Geschmack zentrierten Synthesen in der dritten Kritik. Was darüber hinaus noch fehlt, ist ein Modus jener allen Synthesen übergeordneten Synthesis, die die Einheit der sinnlichen Leistungen wie auch die korrelative Einheit der Bedeutung bzw. des Sinnes gewährleistet. Nun ist der Mensch, um Verbindungen jeglicher Modi sowohl zu erkennen als auch hervorzubringen, auf Ausdruck und Darstellung überhaupt angewiesen, wie Cassirer sowohl systematisch als auch historisch zur Genüge gezeigt hat. Also muss sich diese »Synthesis hinsichtlich der Synthesis«1 oder die Verbindung aller Synthesen in der spezifisch menschlichen Expressivität zeigen und nachweisen lassen. Es muss eine Synthesis sein, die sich auf Ausdruck und Darstellung des menschlichen Subjekts bezieht, das mit anderen in Kontakt und Austausch tritt, denn nur unter dieser Voraussetzung sind Ausdruck und Darstellung möglich; dafür steht einerseits, sphärentheoretisch gesehen, der Begriff der Mitwelt, da sie die synthetische Leistung überhaupt garantiert, andererseits, ausdrucks- und entwicklungspsy1

Plessner: Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (1918), I, S. 234. A

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chologisch gesehen, der Begriff des Selbst, da es sich nicht um das Erkenntnissubjekt handelt, sondern um den individuellen Menschen in interindividuellem Kontakt, in welchem sich das Selbst in Abgrenzung zum Anderen und in z. T. mimetischer, z. T. auch identifikatorischer Wechselwirkung mit dessen Expressionen leiblich-reflexiv herausbildet bzw., wie es in psychologischen und soziologischen Kontexten oft heißt, konstruiert. Es wurde bereits ansatzweise gezeigt, dass dabei nicht bloß die Bedingung der Zeit, sondern auch die des Raums eine Rolle spielt, was sich schon in der Anschauung nachvollziehen lässt: Ausdrucksbewegungen und –gebärden sind auf räumliche Weise mit dem verbunden, was sie symbolisch repräsentieren, denkt man etwa an die Hand- und Armbewegungen mit indexikalischer oder ikonischer Funktion beim Reden oder, wie etwa Ortega y Gasset beispielhaft gezeigt hat, die Umsetzung der Erregung in der Gebärde des Zorns. 2 Auch öffnen oder verengen ästhetische Formen in Ton und Bild Räume und schaffen Atmosphären, sei es durch die Voluminosität und den Lagewert der musikalischen Töne, die Farb- und Formgebung in der Malerei oder durch die Dynamik einer Skulptur. Selbst der Geschmackssinn agiert und reagiert mit dem Ausweiten oder Zusammenziehen der Nervenkanäle und korrelativ dazu mit dem Gefühl der sich öffnenden Lust oder sich zurückziehenden Unlust (zum Essen, Trinken oder gar zur Kontaktaufnahme und zum Kommunizieren). Die Bedeutung des Raums wird durch die Beschreibung der Einheit von Empfinden und Bewegen bei Erwin Straus bestätigt. Straus löst das Problem der Mannigfaltigkeit der Sinne und ihrer Einheit damit, dass er jeden Sinn als Modalität der »Ich-Welt-Beziehung« 3 , d. h. als »eine bestimmt spezifische Weise der Kommunikation von Ich und Vgl. José Ortega y Gasset: Über den Ausdruck als kosmisches Phänomen. In ders.: Gesammelte Werke, Band I, Stuttgart 1978, S. 393–415. So heißt es S. 403: »Die Gebärde realisiert die Zornhandlung […]. Symbolisieren heißt einen Gegenstand für einen anderen setzen.« Das kann aufgrund von Konvention oder von Identität in einem Grundbestandteil erfolgen; im ersten Fall z. B. die Beziehung zwischen Vaterland und Fahne, im zweiten Fall etwa die »Zorngebärde: sie ist symbolischer Vollzug der intentionalen Handlung, die das Zorngefühl ausmacht.« Das Gemeinsame zwischen der Handlung, die in der Gebärde ausgedrückt wird, und der Gebärde selbst, ist nun der räumliche Aspekt: »[…] so ist verständlich, dass die Gemütsbewegungen in räumlichen Bewegungen ihre Entsprechung, ihre Metapher finden können.« 3 Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin, Göttingen, Heidelberg 19562 , S. 237. 2

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Zeit und Raum als Bedingungen der Möglichkeit von Synthesen

Welt« auffasst, wobei »den einzelnen Sinnen jeweils verschiedene Formen des Räumlichen zugehören« 4 . Die synthetische Einheit liegt in der Kommunikation von Ich und Welt, die sich in unterschiedlichen räumlichen Perspektiven entfaltet; z. B. erscheint die Farbe »uns stets gegenüber«, »auf eine Stelle beschränkt, den Raum in Teilräume begrenzend und gliedernd, in einem Neben- und Hintereinander sich entfaltend«, während der Ton »zu einem Eigendasein gelangt, auf uns zukommt, uns erreicht und erfaßt, vorbeischwebt, den Raum erfüllt und durcheilt, sich in einem zeitlichen Nacheinander gliedert.« 5 Die Formel für die Einheit in der Mannigfaltigkeit lautet: »Die Ich-WeltBeziehung ist eine, die Weisen der Beziehung sind viele.« 6 Diese Relationalität betont auch Merleau-Ponty: der »Leib ist nicht zunächst im Raum, er ist zum Raum« 7 . Der Mensch öffnet sich der Welt, und die Welt öffnet sich ihm. Bedingung dafür ist die Distanz, die der Mensch in seinen Anfängen zu den Dingen der Welt und dann auch zu sich selbst aufbaut. Das ist keine metaphysische Behauptung, sondern kann aufgrund der Lebensverhältnisse des frühen Menschen nachvollziehbar abgeleitet werden. Dieter Claessens hat das vom Fluchtverhalten ausgehend beschrieben und den Schluss gezogen, dass sich durch die öffnende Distanzierung ein hoher »Druck der Interpretation der Welt« aufbaut, der wiederum gesenkt wird, indem der Mensch »dieser neuen Welt Ausdruckshaftigkeit« aufprägt. Diese Reziprozität zwischen wachsendem »Aufnahmevermögen« und »höherem Plastischwerden der Welt« 8 erzeugt das, was wir Stimmung oder Atmosphäre nennen: »Die Welt ist (evolutionär gerechnet: plötzlich) gestimmt« 9 – und dann stellt sich ganz praktisch die Frage: »welche Stimmung entspricht ihr als die richtige Antwort?« 10 . Claessens, einer romantizistischen oder metaphysischen Denkweise unverdächtig, meint: »Als Antwort auf innen- und außenvermittelte Stimmungslagen kann der Mensch mit sich selbst tanzen, d. h. er kann sich in Ebd., S. 212. Ebd. 6 Vgl. ebd., S. 237; vgl. ders.: Die Formen des Räumlichen. In: Der Nervenarzt, 1930, S. 633. 7 Merleau-Ponty; Phänomenologie der Wahrnehmung, 1974, S. 178. 8 Dieter Claessens: Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt a. M. 1980, S. 115. 9 Ebd., S. 116. 10 Ebd., im Orig. kursiv. 4 5

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Bewegungsabfolgen ausdrücken […]« 11 ; damit aber wird die ›Räumigkeit‹ der Verkörperung als Verbindung zwischen Mensch und Welt zugleich zeithaft. Denn in der dem Menschen eigenen Beweglichkeit, in welcher sich die reziproke Beziehung zwischen Welt und Leib, Gestimmtheit der Welt und Stimmung des Menschen, Atmosphäre und Sichzeigen spiegelt und präsentiert, »[wird] bereits die Verbindung zwischen der Entstehung seines Bewegungsapparates und seiner gesamten nervlichen Verfassung aus der Vergangenheit in die Zukunft hergestellt […]« 12 . Was ursprünglich räumlich angelegt war und die Verbindung zwischen Selbst und Welt in den Formen, die das Material zulässt, also auch die Verschmelzung von Sinnlichem und Sinngebung ermöglichte, wird in die zeitliche Sukzession überführt. Die von den Lebensumständen erzwungene Synthese, die der Mensch mit der Welt, welche ihm aufgrund der Distanz zugleich fremd bleibt, eingehen muss, um sich zu erhalten, vollzieht sich expressiv und damit geschichtlich 13 . Nichts anderes zeigen die drei Stadien der Entwicklung und die drei symbolischen Funktionen bei Cassirer, die dem historischen Vollzug immanent sind.

Intentionalität des Leibes Wie Cassirer gibt Plessner diesem synthetischen Verhältnis, dem Ganzen, den Primat vor den zu ihm gehörigen Elementen, den Teilen. Plessner bezeichnet diese Relation als »Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Geistigkeit«, das er an gleicher Stelle, wohl mit Seitenblick auf Cassirer, paraphrasiert als »das innere Konditionssystem, welches zwischen den symbolischen Formen und der physischen Organisation herrscht«14 . Bereits hier, wo er das einzige Mal in seinen Hauptwerken einen Begriff Cassirers aufnimmt, zeigt sich die Differenz zu dessen Theorie. Erhält der Begriff der symbolischen Form bei Cassirer noch eine übergeordnete Stellung, um die Vorgängigkeit des (schwerpunktmäßig kulturell) Symbolischen vor allem Wahrnehmen und Erkennen, und das heißt auch vor aller Trennung in Körperleib und Geist, zu 11 12 13 14

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Ebd., S. 117. Ebd. Vgl. Plessner: Stufen, IV, S. 415 f. Ebd., S. 72.

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Intentionalität des Leibes

demonstrieren, so stellt Plessner der symbolischen Form und damit dem kulturellen Element die ›physische Organisation‹ an die Seite. Beide Momente des Verhältnisses resultieren aus der ursprünglichen Verbindung; sie ist die naturphilosophisch-hermeneutisch aufweisbare Basis, die sich nachträglich an den kulturellen Leistungen des Menschen ablesen lässt. Kultur und Natur bilden auch hier eine synthetische Einheit, die allererst die an bestimmte Stoffe und Formen gebundenen Verschmelzungs- oder Verbindungsweisen und ebenso die Möglichkeit der Objektivität aus sich hervorgehen lässt. In seiner ästhesiologischen Systematik der möglichen Verschmelzungen von Sinnlichkeit und Geistigkeit (re)konstruiert Plessner eine Architektonik des Bewusstseins, der Haltungen des Leibes und der kulturellen Leistungen. Heinz Paetzold spricht diesbezüglich mit Bezug auf Cassirer und dem Hinweis auf Merleau-Ponty von »Leibessynthesen« 15 , die, ebenso wie Plessners Synthesisbegriff, zur kantischen Synthesiskonzeption analog seien. Solche Leibessynthesen lassen sich ästhesiologisch in zwei Dimensionen beschreiben – als Konkordanzen und als Akkordanzen zwischen Materie, Form und Haltung, die für die sinnlichen Modalitäten je unterschiedliche Verbindungen und damit die dem Menschen mögliche Objektivität zustande bringen, allerdings nur im Vollzug, nicht aus einer vermeintlich objektiven Beobachterposition heraus, die das zu Vollziehende vorweg bereits trennt. Mit dieser Terminologie nutzt Plessner einmal mehr ein (archi-)tektonisches Bild. Konkordant meint ›übereinstimmend‹ und bedeutet in der Geologie die gleichlaufende Lagerung mehrerer Gesteinsschichten übereinander. Das lässt sich zeichnerisch darstellen. Eine vergleichbar geschichtete Übersicht über die korrelierenden ›Ebenen‹ im Aufbau der Person gibt Plessner in seiner Tafel der Konkordanz 16 . Akkordant meint ›sich an vorhandene Strukturen anpassend‹, in der Geologie die Anpassung bestimmter Gesteine an die geologische Struktur, die sie umgibt und trägt, in den Modi der Verkörperung die Anpassung der leiblichen Haltung an das akustische und optische Ma-

Heinz Paetzold: Ernst Cassirer und die Idee einer transformierten Transzendentalphilosophie. In: Wolfgang Kuhlmann, Dietrich Böhler (Hg.): Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 1982, S. 124–156, hier S. 144. 16 Vgl. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 220. 15

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Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen

terial, schließlich auch an das des zuständlichen Modus, der sich im Folgenden als dualer Modus herausstellen wird. Wie das Bewusstsein, Husserl zufolge, immer schon intentional ist – Bewusstsein von … – und nicht etwa eine für sich stehende Region, die man dann noch auf die Region des Mundanen beziehen müsste, so ist doch gerade der Leib immer schon gerichtet auf … ; er ist intentional in Bezug auf etwas in der konkreten Umwelt Begegnendes, und er ist, in Haltung, Schwerpunktsetzung, Zuständlichkeit etc., dahingehend eingestimmt bzw. er stimmt sich selbst ein auf das, was ihm begegnet und zu erwarten ist. Diese Struktur hat Plessner, zusammen mit Buytendijk, als »Umweltintentionalität des Leibes« 17 bezeichnet; in Merleau- Pontys Ausdrucksweise ist es das ›Zur-Welt-Sein‹ des Leibes. Es variiert je nach sinnlicher und deutender, anschauender und auffassender Priorität, d. h. je nach Einsatz der Modalität bzw. des Verkörperungsmodus sowie deren syn- und kinästhetischer Mixtur. Die Intentionalität des Leibes ist also sinnesorganspezifisch und aktionsrelativ. Dabei kann der Leib als Ganzes gar nicht anders, als sich in allen seinen Aktionen und im pathischen Erleben, in seinem je unterschiedlichen umweltintentionalen Verhalten und gestützt auf den dabei jeweils präferierten sinnlichen Modus, zu verkörpern; und umgekehrt wird sich der Körper verleiblichen, wenn, was zuvor bloß Sinnlichkeit war, Sinn erhält – wie es der Schauspieler stellvertretend für den Menschen überhaupt zeigt. Körper und Leib sind so ineinander verschränkt, dass symbolischer Sinn möglich wird.

Die mitvollziehbare Haltung ermöglicht die Leibsymbolik Plessner hatte bereits in seiner Einheit der Sinne die entscheidende Frage nach dem Rätsel der Synthesis als Frage nach der Möglichkeit von Leibessynthesen formuliert, und zwar ganz konkret mit Bezug auf die Deutung von Gefühlsausdrücken und Kunstwerken: »Wie ist es möglich, dem anderen anzusehen, dass er zornig, hinterhältig, charaktervoll ist? Wie ist es möglich, den bestimmten Ausdruckswillen eines Kunstwerks in der Symbolik seiner Formen treffend zu erPlessner, zusammen mit F. J. J. Buytendijk: Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs (1925), VII, S. 67–129, hier S. 121.

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Die mitvollziehbare Haltung ermöglicht die Leibsymbolik

leben?« 18 Wie also ist es möglich, dass das sinnliche Material deutbar ist, dass der Körper mit dem, was er der Wahrnehmung darbietet, Zeichen gibt, die Sinn tragen? Hier wird das Rätsel der Synthesis in das der Symbolik des Leibes überführt. Transzendental gestellte Fragen dieser Art müssen umformuliert werden, um ein Verfahren zu ihrer Beantwortung zu finden. Plessner verwandelt die Frage nach der Möglichkeit von Leibessynthesen, d. h. des Körperleibs als deutbares Symbol, in die Frage danach, wie das Verstehen im zwischenmenschlichen Kontakt theoretisch garantiert wird bzw. präzis bestimmbar ist 19 . Sie sei nicht empirisch oder durch Beobachtung zu beantworten. Denn sie zielt ja auf die Bedingungen, die den internen Zusammenhang ermöglichen zwischen dem Wahrnehmbaren, in welchem sich eine Intention verkörpert, einerseits, und dem Auffassen des Wahrgenommenen einschließlich der in es eingegangenen Intention durch den Wahrnehmenden andererseits. Dieser Zusammenhang kann nur darin liegen, dass etwas Darstellbares und tatsächlich in Haltung und Bewegung Gezeigtes mitvollzogen wird, und zwar so, dass es nicht bloß wie ein gegenüber stehender Gegenstand wahrnehmbar bleibt, sondern in eine korrespondierende Haltung eingeht, deren Bewegtheit zugleich all das in sich birgt, was als artikulierte Sinngebung, d. h. als eine rhythmisch, räumlich, zeitlich und richtungsweisend gegliederte Einheit, das Dargestellte und Aufgefasste erlebnismäßig-affektiv gestaltet und erlebnisfähig macht. 20 Was Plessner hier in transzendentalkritischer Verfahrensweise ästhesiologisch erschließt und als Konkordanz zwischen Anschauung, Auffassung und Haltung bezeichnet 21 (welche eben die Verschmelzung von ›Körper‹ und ›Geist‹, Versinnlichung des Sinns ermöglicht), ist Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 288. Vgl. ebd. 20 Vgl. Plessner transzendentale Formulierung ebd., S. 288 f.: Die Frage »[…] betrifft die Möglichkeitsgrundlage der Verleiblichung einer Intention und der sinngemäßen Korrespondenz im Auffassen von seiten des anderen Menschen. Die Antwort lautet: jene gesuchte Garantie ist die mitvollziehbare Haltung, die wir zwar gegenständlich gebunden wahrnehmen, aber dank der Mitvollziehbarkeit aus dieser oft bildhaften, auf jeden Fall körpergegenständlichen Bindung freimachen und dadurch in Bewegungen umsetzen können. In Bewegungen umgesetzt, bestimmen sie den seelischen Habitus, Gefühlslage, Affektivität, Willensrichtung, Gedankenbildung und erhalten dadurch ihren seelischen Untergrund, ihre spezielle Motiviertheit, ihren bestimmten Sinn.« (Hervorheb. v. R. B.) 21 Vgl. ebd., S. 220. 18 19

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Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen

neuerdings von der Forschungsgruppe um Michael Tomasello im Vergleich zwischen der Entwicklung von Schimpansen und Menschenkindern bestätigt worden. Bedeutungen, Intentionen, Handlungsziele, Absichten, Zwecksetzungen und Gefühle, die auf Kooperation zielen bzw. diese anzeigen, lernen Kinder, im Unterschied zu Primaten, aus dem möglichen Mitvollzug und der Nachahmung gerichteter Bewegungen der Erwachsenen kennen und verstehen 22 . Der Ausdruck in Mimik und Gestik, in Bewegung und Haltung (was darstellbar ist), enthält Sinn und Bedeutung, weil er am eigenen Leib erspürt, mitvollzogen und nachgeahmt werden kann, und es liegt auf der Hand, dass dieser Prozess sinnlich verankert sein muss. Die Möglichkeiten des Verstehens von Sinn in seinen je nach Anschauungs- und Auffassungsgehalt verschiedenen Formen (des Andeutens, Bedeutens oder Erklärens) 23 resultieren jeweils aus einem der drei Modi der sinnlich fundierten Anschauung. Diese drei Modi sind, zusammen mit dem jeweils zugehörigen Material, konform bzw. konkordant zu einer je korrelativen Auffassungsform, deren Zusammenspiel jeweils eine bestimmte Haltung (drei an der Zahl: Handeln, Zeichenkundgabe, Ausdrücken und Gestalten) mit einer spezifischen kulturellen Leistung (drei an der Zahl: Wissenschaft, Sprache, Kunst) ermöglicht. 24 Dabei lassen sich reine Formen beschreiben, die die menschliche Kultur auf dieser leibessynthetischen Basis des Konformitätssystems von Versinnlichung und Vergeistigung, anders gesagt: der strukturellen Möglichkeiten von Verkörperung und Verleiblichung, Entkörperung und Entleiblichung, wieder anders: der Symbolik des Leibes in ihren natürlichen und künstlichen Formen, hervorgebracht hat.

Vgl. Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a. M. 2002; ders.: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a. M. 2009; ders.: Die kulturelle Anpassung des Menschen. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie Bd. 5, 2011/1, S. 41–68; Tomasello unterscheidet das Nachahmungslernen sehr genau vom »Emulationslernen«, das auf Nacheifern aufgrund einer »Affordanz« (d. i. ein mit Mitteln der Artgenossen wandelbarer »Angebotscharakter von Gegenständen«) beruht (ebd., S. 55). Vgl. auch Claessens: Das Konkrete und das Abstrakte, 1980, S. 117. 23 Vgl. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 154, S. 189 ff. 24 Vgl. ebd., S. 189, die Tabelle zur Architektonik des sinngebenden Bewusstseins. 22

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Die Modi der Verkörperung bzw. der Leibsymbolik

Die Modi der Verkörperung bzw. der Leibsymbolik Das Ausdrucksverstehen bezeichnet Plessner, in Abhebung vom Schema des Handelns und Syntagma der Zeichenkundgabe, als thematisch. Wie der Schematismus (in der reinen Geometrie) und anders als der Tagmatismus (dessen Material, auf den ersten Blick jedenfalls, keine genaue Entsprechung zu einer geistigen Leistung zulässt) kennt der Thematismus eine reine Form der Zuordnung des Materials zu einer Sinngebung. In reinster Form verwirklicht sich die Möglichkeit des thematischen Verschmelzens eines Stoffs mit der verstehenden Auffassung in der Musik, sichtbar werdend im Tanzen als Bewegtheit durch die Töne. Das heißt, dass eine Antwort auf die obige Frage nach der Verbindung zwischen dem sinnlich sich Darbietenden und dem Sinnverstehen des Dargebotenen bezüglich der reinen Form des Auffassens eines Stoffes, wie sie im Hören von Musik erfolgt, gegeben werden kann: Verstehen von Musik und musikalische Sinngebung sind deshalb möglich, weil der akustische Stoff zu einer körperleiblichen Haltung akkordant zu sein vermag. Da das akustisch wahrnehmbare Material räumlich strukturiert ist und Bewegungsabfolgen zeitigt 25 , werden solche (mit)vollziehbaren Leibeshaltungen als Bewegungen allererst möglich und geradezu erzwungen. Das Material des Schalls hat Höhe, Tiefe und Breite (im Volumen) sowie eine Zeitdauer, die als Kürze, Länge, Wiederholung, Rhythmus subjektiv erlebbar ist. So kann sich der Leib räumlich wie zeitlich, aus- und Raum greifend wie rhythmisierend und taktgebend in die Konfiguration des akustischen Stoffes, d. h. der Tonelemente, ›einschmiegen‹, wie es der Tänzer und der Dirigent in der Tat variantenreich vorführen. Zugleich werden Körperbewegungen als Gesten und Tonfolgen als Melodien, Harmonien und Rhythmen thematisch, d. h. sinnvoll. 26 »Die Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung […] ist ganz eigentlich die Bedingung der Möglichkeit der Musik schlechthin.« 27 Mit anderen Worten: Wir sind musikalisch, weil wir tanzen können. Wir entdecken und stiften Sinn in der akustischen Welt, weil wir beweglich sind und uns gestisch ausdrücken und mitteilen können. In der besonderen Verschmelzung von Sinn und Sinngebung, wie sie im thematischen Ausdruck und seinem 25 26 27

Vgl. Claessens: Das Konkrete und das Abstrakte, 1980, S. 117. Vgl. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 240. Ebd. A

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Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen

Verstehen vorliegt, wird also das Schema der Zeit, das in Kants naturwissenschaftlich orientierter Systematik die alleinige transzendentale Bedingung der Verknüpfung von Anschauung und Begriff war, abgelöst durch die Zeit als Dauer (was thematisch relevant wird) und ergänzt durch den Raum bzw. den »Wesenszug der Räumigkeit« 28 ; beide zusammen machen den Thematismus der Kunst, im speziellen der Musik und des Gehörs aus. Kant hat darauf hingewiesen, dass der »Schematismus unseres Verstandes […] eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele [ist], deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden.« 29 Die Verbindung blieb ein Rätsel, das immerhin jedoch dem inneren Sinn zugeordnet werden konnte, d. h. den Zeitbestimmungen der Erzeugung, Erfülltheit, Leere, Beharrlichkeit, Folge, des Zugleichseins, Nacheinanders, von bestimmter Zeit und jederzeit. Kant fasst sie zusammen als Zeitreihe, Zeitinhalt, Zeitordnung und Zeitinbegriff 30 . Durch diese Zuordnung wird das Rätsel jedoch nicht in ein Problem transformiert, das sich den Verfahren der Diskursivität und Beweisbarkeit unterwerfen ließe, aber es wird erörterbar in einer Weise, die das Unbestimmte der Verknüpfungen so weit bestimmbar macht, dass über ihren Sinn oder Unsinn, ihre Richtigkeit oder Falschheit, über das Verstehen oder Missverstehen entschieden werden kann. Diesem Verfahren der Entschlüsselung des Rätsels folgt Plessner weiter in die Verästelungen des Konformitätssystems von Sinnlichkeit und Sinngebung hinein.

Konkordanz und Akkordanz der Verkörperungsmodi Plessner spricht angesichts des Thematismus – des Verstehens von Sinn im Hören von Tönen, im Vernehmen von Lauten in der Dichtung oder auch im verständigen Sehen von Farben und Formen in Malerei, Bildhauerei und Architektur – zwar nicht (wie Kant) von Verborgenheit, aber von dem »Rätsel der thematischen Formung«, das er, die Fragen hinsichtlich des offensichtlichen Wirkungszusammenhangs variierend, in die Frage fasst: »wie kann gegenständliche Form (und das 28 29 30

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Ebd., S. 239. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 141, B 180 f. (Werkausgabe Bd. III, S. 190). Vgl. ebd., A 145, B 184 f. (Werkausgabe Bd. III, S. 192 f.).

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Konkordanz und Akkordanz der Verkörperungsmodi

ist jede Tonlinie) einen so bezwingenden Einfluß auf Haltung und Bewegung des Leibes ausüben, dass er an die Gründe der Seele rührt und aus dieser Erregung seine plastische Kraft zieht?« 31 Die mit dem Begriff der Akkordanz gegebene Antwort zielt auf die phänomenologisch aufweisbare »Zusammenstimmung auf Grund einer Gleichförmigkeit zwischen Stoff und Form«. Die thematische Synthesis verdankt sich also dem, was dem menschlichen Körperleib und der gegenständlichen Welt gemeinsam ist, was also den Leib zum Symbol der Welt machen kann und die Welt zu einem deutbaren Leib. 32 Konkret thematisch: die Passgenauigkeit zwischen Stoff und Form garantiere die »Einfügbarkeit der körperlichen Haltung in die Formen der Musik, die Eingepasstheit der Töne, Klänge und Klangverbindungen in die körperliche Haltung durch die mit Voluminosität und Lagewert angedeutete Förmigkeit des akustischen Stoffs« 33 . Eine Voraussetzung dafür, dass das Verbinden aber tatsächlich im Vollzug (des Tanzens, Dirigierens usw.) gelingt, ist das Erleben dieser zu den Formen akkordanten Materialität mit und in dem eigenen Leib durch die Zustandssinne. Genau darin liegt deren Funktion, der Plessner nun aber keine Akkordanz zwischen Stoff und Form – also zwischen dem wahrnehmbaren körperlich-sinnlichen Material und der diesem präzise entsprechenden, in Haltung und Bewegung mitvollziehbaren Form – zuweisen mag, sondern lediglich eine Konkordanz, wie sie allgemein als Übereinstimmung zwischen den Reihen der Anschauung, Auffassung und Haltung besteht 34 , so dass er zeigen kann, dass die Funktion der Zustandssinne im Selbsterleben der Person liegt, als der Bedingung, um die schematischen und thematischen Synthesen zur Einheit der Person zu verbinden, d. h. die Synthesen überhaupt zu ermöglichen dadurch, dass es diese Person mit diesem Leib ist, die die Akkordanzen (Gleichförmigkeiten zwischen Stoff und Form) verspürt und die entsprechenden Verbindungen vollzieht (analog der Bedingung der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption in der Systematik Kants – »Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können« 35 ). Das Rätsel der Synthesis verschiebt sich also

31 32 33 34 35

Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 228. So lässt sich mit gutem Recht von der »Lesbarkeit der Welt« (Blumenberg) sprechen. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 236. Vgl. ebd., S. 220. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 131 (Werkausgabe Bd. III, S. 132). A

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Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen

auf den Kreis der Zustandssinne, und Plessner meint, des »Rätsels Lösung« 36 in diesem Aufweis des Ersatzes der fehlenden Akkordanz durch die allgemeine Konkordanz gefunden zu haben. Dann jedoch lässt er die Stelle frei, die eine bestimmte kulturelle Leistung einnehmen müsste, wie sie mit der Wissenschaft im Schematismus (in reiner Form die Geometrie) und der Kunst im Thematismus (in reiner Form die Musik) ausgefüllt wird. Zwar ordnet er dem Syntagma die Kundgabe durch Zeichen, i. e. S. Sprache und Schrift zu, meint aber keine präzise Entsprechung zwischen Stoff und Form im Hinblick auf die Zustandssinne ausmachen zu können. Es gebe keine Sinngebung, kein Verstehen dessen, was das Material der zuständlichen Modi dem sinnauffassenden Verstehen in reiner Zuordnung liefern könnte. Allerdings gibt er in seiner Schrift von 1980 zu verstehen, dass es auch anders sein könnte und macht Andeutungen zu einer weitergehenden Analyse. Er schreibt: »Wir kennen solche Fälle, die für Auge und Ohr aufschlussreich sind. Für die übrigen ›niederen‹ Modi dagegen scheint das hermeneutische Prinzip zu versagen, weil sich in ihnen kein Sinngehalt auf spezifische Weise verkörpert.« Dieser Sinngehalt müsse nun aber nicht bloß im Bereich der »Verkörperung eines ›geistigen‹ Elements« gesucht werden, sondern könne sich auch auf die »körperliche Existenz des Menschen« überhaupt beziehen, wenn man eben die »Funktion der Verkörperung weiter« und allgemein als das »Verhalten des Menschen zu sich als Körper und zu seinem Körper« 37 fasst. Dann geraten noch ganz andere »Konkretisierungsmodi der Verleiblichung unseres eigenen Körpers« 38 in den Blick, von welchen Plessner einige aufzählt: schauspielerische, tänzerische, verhüllend-enthüllende (wie Kleidung und Schmuck), Essen und Trinken, Techniken der Selbstbeherrschung und Entkörperung, Spiel und Sport. 39 Zu diesen Konkretisierungsmodi muss noch der bereits erörterte Modus der Entleiblichung, wie er im Schamausdruck konkretisiert wird, hinzugefügt werden; denn in ihm kann das Leibselbst jegliche Bedeutung und damit sich selbst verlieren, zugleich aber die fragile Möglichkeit gewinnen, den ab- oder unterbrochenen Vollzug neu aufzunehmen.

36 37 38 39

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Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 270. Plessner: Anthropologie der Sinne, III, S. 382. Ebd., S. 383. Vgl. ebd., S. 383 f.

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Das Rätsel der Akkordanz im Kreis der Zustandssinne oder der Verleiblichung

Das Rätsel der Akkordanz im Kreis der Zustandssinne oder der Verleiblichung Plessners Weg zur Lösung des Rätsels der Synthesis war dasselbe indirekte Frageverfahren wie dasjenige Kants. Wie dieser an der Naturwissenschaft (Mathematik und Physik) angesetzt hatte, um herauszufinden, was diese möglich macht und dann die Analogie zur Metaphysik zu ziehen, »so musste der Theoretiker der Sinnesqualität an den Leistungen einsetzen, welche auf Grund einer und nur einer Qualität (Modalität) möglich sind.« 40 Das zeigt sich, wie gesagt, für den optischen Sinn in der Geometrie, für den akustischen in der Musik. Solche Resultate muss der Theoretiker nicht konstruieren, sondern der Mensch selbst hat in der Geschichte Zeit und Kraft genug entwickelt, um das herauszuarbeiten, was aufgrund einer bestimmten Sinnesleistung und in ihrer Koordination mit je anderen Sinnen kulturell überhaupt möglich ist. 41 Zu diesen Resultaten gehören nun aber auch – neben den von Plessner erörterten Kulturgebieten Geometrie und Wissenschaft überhaupt, Musik und Kunst überhaupt, Sprache bzw. Schrift und Kundgabe durch Zeichen überhaupt – Religion und Philosophie. 42 Die Vermutung liegt nahe, dass diese beiden kulturellen Leistungen ihren Ermöglichungsgrund in einer präzisen Zuordnung – das meint, um es zu wiederholen, die Akkordanz als Übereinstimmung durch die Gleichförmigkeit zwischen Stoff und Form, sinnlichem Material und leiblicher Haltung, Wahrnehmen und Verstehen – zu einer Modalität finden, und zwar zu dem Kreis der Zustandssinne. Dieser zuständliche Modus muss lediglich etwas anders, aus seiner Genese heraus, gefasst werden, um einsehen zu können, dass sich eine solche Zuordnung aufgrund des spezifischen Materials und der aus dessen formaler Gestaltbarkeit notwendig werdenden Haltung nicht bloß ergibt, sondern dass Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 295. Vgl. ebd.: »Das Geheimnis des indirekten Frageverfahrens besteht also darin, die Arbeit der Isolierung einer Empfindungsqualität nicht künstlich den Gelehrten besorgen, sondern sie von der menschlichen Kultur durchführen zu lassen und sich die Resultate dieser Isolierung anzusehen.« 42 Es wäre eine eigene Aufgabe zu untersuchen, wie Cassirers Auflistung bestimmter symbolischer Formen zu den konkordanten und akkordanten Relationen steht; immerhin hat er Mythos und Religion thematisiert, und er hat (im Nachlass) nach dem Ort der Philosophie in dieser Systematik gefragt. (Vgl. dazu ausführlicher Breun: Verkörperung von Moral, Frankfurt a. M. 2003, bes. S. 153 ff. und 394 ff.) 40 41

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Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen

sie erzwungen wird wie die Musik von der akustischen und die Geometrie von der optischen Form. Plessner selbst gibt Hinweise darauf, wie dieser Modus zu fassen ist und adäquat dazu die kulturelle (symbolische) Form, ohne zu sehen, dass doch hier eine Akkordanz vorliegt, die in ihrer Reinheit der optischen und akustischen in nichts nachsteht. Er schreibt: »Dem Sinngehalt der syntagmatischen Bedeutung entspricht hier der Anschauungsgehalt der seelischen Wirklichkeit, deren wir in der Eigen- und Fremdbeachtung innewerden.« 43 Die ›seelische Wirklichkeit‹ aber, die fungierende und erlebende Lebendigkeit also, ist das, was den Leib im Unterschied zur Dinghaftigkeit des Körpers auszeichnet und ihn expressiv und darstellend tätig werden lässt, und konsequenterweise spricht Plessner in der Anthropologie der Sinne von der »Ästhesiologie des propriozeptiven Systems: Der Leib« 44 , wenn es um die Zuständlichkeit, die »Empfindung des eigenen Leibes« 45 geht. Der zuständliche Modus ist zum einen derjenige des Geschmacks, zu welchem das gustatorisch-olfaktorische und in seiner Wirkung das haptisch-taktile Element zu zählen sind, zum anderen ist es derjenige der Atmosphäre, 46 die mit dem ganzen Leib als sensorium communis aufgenommen, erfasst, widergespiegelt und seinerseits von ihm ausgestrahlt wird. So ist es kein bloßer Einfall, sondern von dem Sachverhalt, um den es hier geht, motiviert, dass Plessner am Ende seiner Anthropologie der Sinne auf jene Untersuchung hinweist, die gleichsam eine Ästhesiologie der Zustandssinne liefert und den Modus der Zuständlichkeit als dualen Modus identifiziert. 47 Es handelt sich um das Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 270. Plessner: Anthropologie der Sinne, III, S. 367. 45 Ebd., S. 361 f. 46 Vgl. philosophisch-phänomenologisch zum Komplex der Atmosphären Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995; Michael Hauskeller: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin 1995; das philosophische System von Hermann Schmitz baut wesentlich auf der Interpretation der Gefühle als Atmosphären auf, vgl. zusammenfassend ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 19952 . Vgl. zum ganzen Komplex bereits Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 19958 ; Bollnow erörtert das »Verhältnis von Stimmung und Haltung« (S. 159), um schließlich, im Anschluss an Proust, auch auf die mögliche »Anschauung der Ewigkeit« (S. 209) durch Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart im Erinnern eingehen zu können. Auf die Bedeutung der Zeit bei Scham und Würde wird zurückzukommen sein. 47 In einer kurzen Betrachtung zu Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes als kritisch-methodologischer Rahmen der Sinnespsychologie bemerkt Max Herzog (Hel43 44

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Das Rätsel der Akkordanz im Kreis der Zustandssinne oder der Verleiblichung

Buch von Hubert Tellenbach mit dem Titel »Geschmack und Atmosphäre« und dem Untertitel »Medien des menschlichen Elementarkontaktes« 48 . Die Bezeichnung als dualer Modus für den Bereich der Zustandssinne ist deshalb gerechtfertigt, weil das Innewerden beim Aufmerken auf sich selbst und andere, wie inzwischen Forschungen aus der Psychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Pädagogik usw. nachdrücklich gezeigt haben, vermittelt ist über das Moment des affektiven und kognitiven Austauschs, wie ihn bereits Piaget 49 und neuerdings Tomasello als Basis des möglichen Sinnverstehens festgestellt haben. Schärfer noch kann man mit Merleau-Ponty hier eher von einer Zwischenleiblichkeit sprechen 50 als von einem bloßen Austausch. An einer Vielfalt von eindrücklichen Beispielen gerade auch des Misslingens zeigt Tellenbach, dass der Sinn des dualen Verkörperungsmodus für den Menschen offensichtlich darin liegt, einen Bezug zu sich selbst herzustellen zu können, auf der Basis einer Resonanz, ohne die er orientierungslos bliebe. Der duale Modus verschafft ihm »die Möglichkeit der Konstituierung eines Selbstverhältnisses […]« 51 . Mit Tellenbachs muth Plessners Ästhesiologie des Geistes als kritisch- methodologischer Rahmen der Sinnespsychologie, in: Jürgen Friedrich, Bernd Westermann (Hg.): Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, Frankfurt a. M. 1995, S. 150–155) ebenfalls das Fehlen einer Akkordanz der Zustandssinne und fragt: »Was spricht dagegen, hier in Weiterführung von Plessner durch Tellenbach von dem besonderen ontogenetischen Modus der Mutter-Kind-Beziehung auszugehen und als seine Akkordanz die Zuwendung zu bestimmen, die in späteren Lebensjahren erhalten bleibt? Es ist doch merkwürdig, dass Plessners ästhesiologische Systematik keinen besonderen Modus der Dualität etwa im Sinne Binswangers kennt.« Herzog schlägt den »[…] Einbezug der Akkordanz eines speziellen dualen Modus in die Ästhesiologie (vielleicht als sogenannte ›Liebesgestalt‹) […]« (ebd., S. 154) vor. Der Vorschlag geht in die richtige Richtung, identifiziert aber vorschnell den fraglichen Modus mit der speziellen Zuwendung der Liebe. Richtig ist, dass das Augenmerk auf das Duale des Modus gelegt wird. Zugleich aber darf nicht seine Funktion als einer der Verkörperungsmodi der Sinne übersehen werden. Mit dem Begriff eines ›dualen Modus‹ beziehen sich Tellenbach wie Herzog auf Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. München, Basel 19644 ; dieser unterscheidet den dualen Modus (Ich-Du) vom pluralen (IchEr/Sie) und singularen (Ich-Ich). 48 Hubert Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg 1968. 49 Vgl. Jean Piaget: Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1995. 50 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Hg. v. Claude Lefort, übers. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München 19942 , S. 185. 51 Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre, 1968, S. 54. A

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Konkordanzen und Akkordanzen in den Leibessynthesen

Beschreibung der wechselseitigen Resonanz zwischen den Personen wird es möglich, Plessners Reihe der Auffassung eine weitere Form des Verstehens hinzuzufügen, nämlich diejenige, die uns zu ergründen hilft, »wie wir uns selbst verstehen« 52 , wie wir unsere Position einnehmen und erfassen und dabei auf den Anderen angewiesen sind, ja von ihm zehren: »Die Vergegenwärtigung dieses allerfeinsten Spiels [der Resonanz, R. B.] offenbart uns, wie wir unser Selbst immerzu vom anderen zurückgewinnen«. 53 Je nach dem theoretischen Kontext wird das Austauschmedium bzw. das ›Zwischen‹, auf das die Selbstkonstitution angewiesen ist, mal als Intersubjektivität, mal als das Dialogische oder als Mitwelt bezeichnet. Jedenfalls aber ist es jenes Element, das mit dem ursprünglichen Ausdruckserleben anhebt 54 , den leiblichen Ausdruck selbst zum Symbol des Ganzen des Leibes und der Person, von Mensch und Welt, werden lässt und schließlich so etwas wie einen Grundgeschmack vermittelt, mit dem das Selbst sich und die Welt atmosphärisch erfasst – wobei das Attribut ›atmosphärisch‹ zugleich das Räumliche der so sich vollziehenden Synthesis meint und in Hinsicht sowohl auf Mimik, Gestik, Haltung des Selbst als auch auf die erscheinende Welt gebraucht und verstanden werden kann. 55

Die Funktion des dualen Modus und die Bedeutung des Numinosen Der duale Modus realisiert gerade deshalb, weil er kein eigenes Material hat, seine besondere Aufgabe. Er braucht dafür den Anderen, besser: im dualen Modus verkörpert sich die unhintergehbare Wechselseitigkeit zwischen Selbst und Anderem, ihre, trotz aller Verschiedenheit, mitweltliche Einheit. Er prägt auf der Realität dieser Beziehung (die im ›Material‹ der Atmosphäre spürbar wird) das ganze System von Grund Ebd., S. 55. Ebd. 54 Vgl. dazu wiederum Cassirers Begriff der Du- oder Ausdruckswahrnehmung, die dem Mythos zugrundeliegt, im Unterschied zur Es- oder Dingwahrnehmung, woraus letztlich die objektivierenden Wissenschaften hervorgehen: Zur Logik der Kulturwissenschaften, Hamburg 2011, hier die zweite Studie: Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, S. 37–59. 55 Vgl. Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000. 52 53

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Die Funktion des dualen Modus und die Bedeutung des Numinosen

aus, und das heißt: atmosphärisch. Merleau-Pontys phänomenologische Beschreibung dieses Verhältnisses gipfelt in Worten, die sich Plessner zu eigen macht: »Zwischen meinem Bewusstsein und meinem Leib, so wie ich ihn erlebe, zwischen diesem meinem phänomenalen Leib und dem des Anderen, so wie ich ihn von außen sehe, herrscht ein inneres Verhältnis, welches den Anderen als die Vollendung des Systems erscheinen lässt.« 56 Das ist es auch, was zu den Hauptmotiven der Religion und letztlich auch der Philosophie führt; es verkörpert sich in den ›großen‹ Gefühlen des mystischen Einsseins, des ›Ozeanischen‹ (Romain Rolland), des Numinosen 57 und schließlich in den Konzepten des Göttlichen und des Einen Gottes; philosophisch findet es sich, entweder wortmächtig in gleichsam biblischer Sprache oder im schwachen Abglanz diskursiver Rede, in den Denkfiguren des Dialogischen und Intersubjektiven. Der nicht bloß zeitliche, sondern auch räumliche Charakter der obersten Synthese, jener expressiven Verkörperung, die den Leib zum Symbol der Welt und die Philosophie zur Darstellung des Ganzen als der Atmosphäre von Leib und Welt sowie zur Selbstdarstellung der Person überhaupt macht, zeigt sich an den Metaphern, die für diesen Zusammenhang in Anspruch genommen werden müssen: Architektonik 58 der Philosophie, Reihen der Haltung, Akkordanz, Konkordanz, Atmosphäre, auch Phantasie als Voraussetzung der raum-zeitlichen Wahrnehmung 59 , und nicht zuletzt die Ur-Teilung des Raums durch die Absonderung des Numinos-Sakralen als eines ausgezeichneten, abMerleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1974, S. 403 f., Hervorheb. v. R. B.; vgl. Plessner: Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), VII, S. 389–398, hier S. 393. 57 Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1991. 58 Kant führt in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft die Architektonik der reinen Vernunft als »Kunst der Systeme« (A 832, B 860, Werkausgabe Bd. IV, S. 695) ein. 59 Vgl. Melchior Palagyi, Theorie der Phantasie. In: ders., Wahrnehmungslehre, Leipzig 1925, S. 69–105. Palagyi sieht in der Einbildung die Voraussetzung auch der Wahrnehmung, der Bestimmung eines Ortes im Gesichts- oder Tastfeld (S. 95): »[…] nur weil Empfindungen und Gefühle auch die Einbildung anregen, vermag das Leben in die räumlich-zeitliche Ferne zu schweifen, während es mechanisch an einem Standort weilt. […] was sich z. B. zwei Meter weit von unserem Leibe abspielt, kann offenbar nur durch die Einbildung in dieser bestimmten Distanz wahrgenommen werden. Eine Wahrnehmungstätigkeit ist ohne Einbildung nicht möglich.« Es ist ähnlich wie bei anderen Vollzügen, etwa dem Schlafen: Wir bilden uns ein einzuschlafen und spielen den Schlafen56

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getrennten Raums vom pro fanum (was auch eine zeitliche Entsprechung hat in der Absonderung der sakralen Festzeit von der Zeit des profanen Alltags). 60 Dieser Zusammenhang kann nur systematisch verstanden werden, da er anders gar nicht ins Bild rücken könnte. Der Anschluss Plessners an die kantische Systematik kann bis zu der Stelle nachvollzogen werden, an der sich eine Lücke darin offenbart, die nicht zufällig entsteht, sondern einem blinden Fleck geschuldet ist. Der blinde Fleck entsteht dadurch, dass Plessner zwar von vornherein den Konnex zwischen Philosophie und Würde beansprucht, um seine eigene Systematik zu entwickeln, diesen Konnex aber seinerseits nicht in die ästhesiologische Lehre, in die Systematik der Verkörperungen, einbindet. Er übersieht nämlich die bereits bei Kant erörterte Möglichkeit, die »Idee des absoluten Ganzen« 61 zu versinnlichen bzw. darzustellen. Kant sieht diese Versinnlichung ins Gefühl des Erhabenen eingehen, das mit dem ›schlechthin Großen‹ 62 korrespondiert. Damit wird die vollständige Integration von Selbst und Welt angezeigt, wie sie in Philosophie und Würde, wenngleich gebrochen, zum Ausdruck kommt. Da Plessner trotz der Subtilität seiner Kant-Interpretation diesen spezifischen Konnex übersieht, entgeht ihm auch, dass dieser sich auf den als dual auszuzeichnenden Modus der Verkörperung bezieht. 63 Diese Dualität macht sich primär darin geltend, dass mir die Aufmerksamkeit im Blick des Anderen auf mich bewusst wird; aus der Fremdbeachtung resultiert die Eigenbeachtung im Durchgang durch den Blick des Anderen. Das ist nicht nur die Wurzel der möglichen und angestrebten Haltung der Würde (als Inbegriff von Ganzheit und Integrität aller Teile), sondern auch des Gegenparts, der Schamhaftigkeit, Beschämbarkeit und wirklichen Möglichkeit des akuten Schamaffekts (räumlich sich zeigend als der Affekt, im Boden versinken zu wollen), zugleich der mögliche Anfang des Selbstbewusstseins, der sich aufden, wir ›fingieren‹ den Schlaf, um dann tatsächlich einzuschlafen (vgl. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1974, S. 106). 60 Vgl. dazu Cassirer, PsF II, sowie die Schriften der Religionsphänomenologen Rudolf Otto (1991), Mircea Eliade (Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1990) und Gustav Mensching (Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze, Stuttgart 1959). 61 Kant: Kritik der Urteilskraft, A 100, B 101 (Werkausgabe, Bd. X, S. 183). 62 Vgl. ebd., A 79, B 80 (S. 169). 63 Vgl. zu dieser Lücke bei Plessner ausführlich Breun: Verkörperung von Moral, 2003, S. 133–144; zur Ergänzung der Lücke bes. S. 155 ff.

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Die Funktion des dualen Modus und die Bedeutung des Numinosen

grund dieser prekären Struktur als Krisis vollzieht, welche sich unter bestimmten Bedingungen auch zu einer irreparablen Erschütterung und Nichtigung des Selbst ausweiten kann. So ist es kein Zufall, dass das Gefühl gleichzeitiger Anziehung und Abstoßung (im mysterium fascinosum et tremendum, dem fundierenden Motiv für Religion und in verwandter Form auch für das Staunen der Philosophie), das mit dem Gefühl des Erhabenen verwandt ist und den Menschen in einem numinosen Erlebnis befällt 64 , mit einer existenziellen Schamhaftigkeit verbunden ist (zeitlich-prospektiv sich zeigend als Scheu), auch wenn sie in der Regel verdeckt ist, im Verborgenen gehalten oder nicht zugelassen wird; einer Scheu und zuweilen tiefen Scham darüber, dass die Selbstzuschreibung eigener Bedeutung und Wichtigkeit in Nichts zerfällt angesichts des überwältigend Großen, was immer dies sei und wodurch immer es sich zeigt oder symbolisiert – in der unermesslichen Weite des Alls oder der tiefen Dunkelheit eines Waldes, in der Majestät eines gewaltigen Bergmassivs oder der sakralen Atmosphäre einer Kathedrale, in einer außergewöhnlichen menschlichen Leistung, zumal wenn sie moralisch beurteilbar ist, oder, und nicht zuletzt, in der unbezwingbaren Macht des Todes, seiner nicht reduzierbaren (d. h. nicht in etwas anderes überführbaren) »›Quodditas‹« 65 . Und umgekehrt: das fragile Selbst, das seine Nichtigkeit ahnt, kann leicht und nachhaltig beschämt – erniedrigt und entwürdigt – werden, durch geschicktes Ausnutzen der Krisis, die dem Selbstbewusstsein von Grund auf und in seinen Anfängen eignet 66 ; und ausnahmslos gilt: nicht der Täter, der mit seiner Untat nicht nur seine absolute Verfügungsmacht über den anderen, sondern auch sein Selbstsein zu ›beweisen‹ glaubt, schämt sich, sondern das Opfer. Während aber jener seinen Anspruch auf GelVgl. Rudolf Otto: Das Heilige, 1991; ders.: Aufsätze, das Numinose betreffend, Stuttgart, Gotha 1923. 65 Vladimir Jankélévitch: Der Tod, Frankfurt a. M. 2005, S. 173. Zu der Scham bzw. Scheu (la honte) angesichts des Todes vgl. ebd., S. 171 f. 66 Vgl. Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Wien 1990, S. 69 ff.: Die Scham. Hier stellt sich Levi die Frage: »Kommt deine Scham daher, daß du an Stelle eines anderen lebst?« (S. 81) Zwar drängt sich ihm die Frage aufgrund des Erlebens der Extremsituation im Konzentrationslager auf, aber sie trifft das Bewusstsein des Menschen, das er von sich hat, und das leicht zur Selbstgenügsamkeit ausschlägt, ins Mark: »Es ist nur eine Vermutung, ja eigentlich nur der Schatten eines Verdachts: daß jeder der Kain seines Bruders ist, daß jeder von uns (und dieses Mal gebrauche ich das Wort ›uns‹ in einem sehr umfassenden, geradezu universalen Sinn) seinen Nächsten verdrängt hat und an seiner Statt lebt« (S. 81). 64

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tung seines Selbstseins mit Gewalt einzulösen vermeint und ihn gerade deshalb, von ihm unbemerkt, verwirkt, kann dieses gegen die drohende Nichtigung in der Scham und Beschämung den Geltungsanspruch auf Würde setzen. Denn diese zeigt sich beim Menschen paradoxerweise gerade nicht in der Allmacht eines Herrn über Leben und Tod – da sehen wir die prätendierte Würde der bewussten Selbstdarstellung in Zeichen und Insignien der Macht –, sondern in erlittenen Akten der Abwertung und Aberkennung, im pathischen Erleben, in welchem der Mensch in absoluter Schwäche nichts mehr einzusetzen hat außer dem stummen Entsetzen und machtlosen Ertragen. So ist es kein Zufall, dass angesichts der Selbstverunsicherung des modernen Menschen, zumal nach den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts, die Bedeutung von Scham als Anzeige eines Bewusstseins von der eigenen Nichtigkeit oder Minderwertigkeit und Nichtswürdigkeit des Schamsubjekts sowohl in der erzählenden als auch in der zahlreichen neueren wissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen und philosophischen Literatur hervorgehoben wird. 67 Psychologisch bzw. psychoanalytisch: Günter H. Seidler: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham, Stuttgart, 1995; ders.: Scham als Mittlerin zwischen Innen und Außen. Von der Objektbeziehungstheorie zur Alteritätstheorie, in: Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze (Hg.): Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven, Opladen 1997, S. 127–143; Léon Wurmser: Identität, Scham und Schuld. In: Kühn u. a. (Hg.), 1997, S. 11–24; ders.: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin, Heidelberg, New York 19983 . Soziologisch: Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt, New York 1991. Philosophisch: Hilge Landweer: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999; Anna Blume: Scham und Selbstbewusstsein. Zur Phänomenologie konkreter Subjektivität bei Hermann Schmitz, Freiburg, München 2003; Christoph Demmerling, Hilge Landweer (Hg.): Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart, Weimar 2007, Artikel ›Scham und Schuldgefühl‹ : S. 219–244. Außerdem: Michaela Bauks, Martin Meyer (Hg.): Zur Kulturgeschichte der Scham (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft), Hamburg 2010; Anja Lietzmann: Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum, Hamburg, 2007; Hans Lipps: Das Schamgefühl. In: ders.: Die menschliche Natur. Werke II, Frankfurt a. M. 19772 , S. 29–43; Alfred Schäfer, Christiane Thompson (Hg.): Scham, Paderborn 2009; Matthias Schloßberger: Philosophie der Scham. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48/2000, 5, S. 807–829; Claudia Schmölders: Das Gesicht verlieren. Über Physiognomik und Scham, in: Klaus Herding, Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin, New York 2004, S. 467– 485; Ingrid Vendrell Ferran: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin 2008; hier: Scham, S. 238–245. Die neueste Publikation dazu arbeitet die

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Akkordanz der Schamhaftigkeit Die Konkordanz zwischen gegenständlich gebundener Anschauung, sinngebender Auffassung und leiblicher Haltung führt zwingend zu solchen Prozessen der Verkörperung bzw. Verleiblichung, welche das Selbst wie die Welt einbeziehen: die gegenständliche Welt wird auch Fleisch (›chair‹ im Sinne des von ›viande‹, Körper, zu unterscheidenden Leibes 68 ) wie das leibliche Selbst auch gegenständlich welthaft wird. Darin drückt sich nicht bloß eine Analogie, eine Parallelisierung oder eine Ähnlichkeitsbeziehung aus, sondern die in vielerlei Beispielen anschauliche Synthese, die beiden Momenten der Einheit – im Selbst wiederum repräsentiert als Leib und Körper, in der Welt als Kosmos (›Weltseele‹) und nackte Materie – vorausliegt. Diese Synthesis geht ein in den Mythos, der alles verlebendigt und zugleich verdinglicht, und in den Animismus des kleinen Kindes, für das alles ein ansprechbares Du ist und zugleich ein zu inspizierender Gegenstand. Nach und nach differenzieren sich die Momente in der geschichtlichen Entwicklung von Wissenschaft und Technik bis hin zu ihrem Auseinanderfallen in den Pathologien des Welt- oder Selbstverlusts in manchen religiösen Ideologien und rituellen Praktiken (man denke etwa an die russische Sekte der sich entmannenden Skopzen) wie auch in einseitig zugespitzten philosophischen Denkformen (des Szientismus, Naturalismus, Materialismus, Spiritualismus u. a.), die dann nicht zufällig nach Erreichen eines vermeintlichen Höhepunkts, der eher einer Sackgasse gleichkommt, dialektisch umschlagen. Wie steht es mit der Akkordanz? Es gibt in der ursprünglichen Synthese von Körper und Leib liegende Anzeichen dafür, dass die konstitutive Rolle der Scham, die eben nicht mit Ängstlichkeit zu verwechseln ist, für die Moral heraus: Maria-Sybilla Lotter: Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral, Frankfurt a. M. 2012. Vgl. auch aus Sicht einer interkulturell orientierten Philosophie, die die Leibgebundenheit und die Form der Scham bei aller inhaltlichen Verschiedenheit bestätigen kann, Guido Rappe: Die Scham im Kulturvergleich. Antike Konzepte des moralischen Schamgefühls in Griechenland und China, Bochum, Freiburg 2009. 68 Vgl. dazu Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, hg. v. Claude Lefort, übers. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München 19942 , S. 116: »Fleisch der Welt« sowie S. 187 und S. 189, wo von der »Reversibilität« des Fleisches die Rede ist; da es hier auf die Struktur der Reversibilität im Rahmen der psycho-physischen Neutralität ankommt, wird von weiteren Bedeutungsschattierungen und -varianten, die ›la chair‹ für Merleau-Ponty selbst hatte und die viel diskutiert werden, abgesehen. A

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Scham – genauer: die den Möglichkeiten akuter Scham, retrospektiver Beschämung mit der Tendenz zur Reue und prospektiver Scheu zugrundeliegende Schamhaftigkeit überhaupt 69 – unter umgekehrten Vorzeichen dem entspricht, was in der medizinischen Anthropologie unter dem Stichwort des Phantomglieds bekannt ist; und so wie die Realität eines Phantomglieds von jedem Menschen erlebbar ist, der die Situation der Amputation erleidet, so ist auch die Realität der Schamhaftigkeit von jedem erlebbar, wenn sie aus ihrer Verborgenheit an die Oberfläche drängt und konkret wird. Patienten, die z. B. einen Unterarm verloren haben, sind überzeugt, dass dort, wo er amputiert wurde, das fehlende Gliedmaß immer noch da ist, auch wenn ihnen ›bewiesen‹ wird, dass es da kein Körperteil gibt. 70 Sie erleben leiblich die Realität des Gliedes und müssen sich zugleich der Realität stellen, dass es körperlich nicht vorhanden, sondern bloß ein Stumpf da ist; sie leben also »in zwei Realitäten zugleich« 71 . Diese Doppelung aber ist die Situation nicht bloß des an einer Amputation Leidenden, sondern auch des davon nicht betroffenen Menschen, mit dem Unterschied, dass es den Betroffenen im Falle der Konfrontation mit diesem Paradox in eine akute Bedrängnis, in »Ratlosigkeit« 72 und Verwirrung bringt – formal die gleiche Ratlosigkeit und Verwirrung, die den akut sich Schämenden befällt. 73 Das lässt sich auch daraus ersehen, dass beide, der mit der Realität des Stumpfes konfrontierte Amputierte und der von der Scham Betroffene, plötzlich wütend werden können. Die Tatsache, dass der Patient etwas leiblich erlebt, was körperlich offensichtlich nicht da ist, wirft ein grelles Licht auf die Grundsituation des Menschen: dass seine Einheit ihm nur als Bruch gewahr und im Bruch, in Situationen der Störung und Spaltung, bewusst wird, als Hiatus, dem er durch ständiges Tun (in den sensomotorischen Verhaltens-Dimensionen des Handelns, Sprechens, Gestaltens) begegnen Vgl. zur Unterscheidung von Scham(haftigkeit) und Schamgefühl neben Scheler auch Lipps: Das Schamgefühl, 19772 , S. 31. 70 Vgl. die Erörterungen zum Phantomglied u. a. bei Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1974, S. 100 ff.; Herbert Plügge: Über die Verschränkung von menschlicher Leiblichkeit und Körperlichkeit, in ders.: Der Mensch und sein Leib, Tübingen 1967, S. 57–68. 71 Plügge: Verschränkung, 1967, S. 59. 72 Ebd. 73 Auf dieses Merkmal des akuten Schamaffekts und die daraus resultierenden konfusen Verhaltensweisen hat, wie schon erwähnt, bereits Darwin (1872, Neuausgabe 2000, S. 359 ff.) hingewiesen. 69

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muss, um seine Einheit zu wahren; das tatsächliche Erleben beider Realitäten beleuchtet die Möglichkeiten, die sich aus der Kluft zwischen Leib und Körper, Selbst und Welt, die zugleich eine synthetische Einheit bilden, notwendig ergeben. An der Stelle des körperlich Fehlenden macht sich das ihm entsprechende leibliche ›Äquivalent‹ geltend. Umgekehrt aber, einem Kipp- oder Vexierbild gleich, verhält es sich genauso: an die Stelle dessen, was leiblich fehlt, drängt sich das körperliche Äquivalent nach vorne. So werden Mängel des leiblichen Erlebens, d. h. dessen, was den fungierenden Leib in seiner Spontaneität auszeichnet und ihn zum Selbst macht – das ja eben nicht bloß körperlich, als factum brutum, existiert –, durch körperliche ›Ersatz‹-Leistungen zu kompensieren versucht, in welchen zwar der Leib fungiert, so aber, dass, etwa in asketischen Übungen, der Körper sich geradezu in den Vordergrund spielt statt die unreflektierte Bindung an ihn zu lockern oder aufzulösen (das war Siddharta Gautamas Erfahrung, aus welcher er die Einsicht des mittleren Weges gewonnen hat, die ihn zur Buddhaschaft geführt hat). Andererseits ist die Fremdheit, mit welcher sich der Körper durch sein unangenehmes in den Vordergrund Drängen bemerkbar macht, gerade die Bedingung, dass das Eigene der leiblichen Verfasstheit (das Selbst) sich deutlich abhebt von dem bloß Körperlichen (Welthaft-Dinglichen), welch letzteres aber andererseits doch wieder jenes als Form nicht erscheinende Selbst mit materiellen Mitteln zur Erscheinung bringt und dazu beiträgt, dass die Körperübung das Fundament der geistigen Übung und die Bedingung der Möglichkeit ihres Gelingens sein kann. Wie im Phantomglied-Beispiel sind darin »zwei eigentlich unvereinbare Sachverhalte […] vereinigt« 74 – und das ist das Verhexte und schwer zu Beschreibende der Plügge: Verschränkung, 1967, S. 68. Plügge macht auf die Schwierigkeit aufmerksam, dieses oben bereits ausführlich diskutierte synthetische Verhältnis begrifflich genau zu fassen. Er verweist auf unzureichende Bezeichnungen wie ›Zweideutigkeit‹ und ›Ambivalenz‹ für das ›Widersprüchliche‹ und den ›Doppelcharakter‹ des Körperleibs, und er bevorzugt eher Plessners Begriff des »›conjunctum‹« (ebd., S. 67) oder noch mehr Merleau-Pontys Begriff der »Ambigu¿té« (ebd., S. 66; vgl. Merleau-Ponty:Phänomenologie der Wahrnehmung, 1974, S. 107), denn es gehe nicht um Deutungen, sondern um die »Struktur des Einen im Andern« (Plügge: Verschränkung, 1967, S. 67; vgl. ders.: Vom Spielraum des Leibes. Klinisch-phänomenologische Erwägungen über ›Körperschema‹ und ›Phantomglied‹, Salzburg 1970, S. 57): »Unser Leib gehört faktisch beiden zugleich an: meinem Ich und meiner Welt« (ebd., S. 65). Plügge (Über das Verhältnis des Ichs zum eigenen Leib, in ders.: Der Mensch und sein Leib, 1967, S. 69–94) zeigt unter der Überschrift »Die plötzliche Vernichtung« (ebd., S. 85–89), wie das Eine (Leibselbst, Ich,

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synthetischen Verbindung des nichtgegenständlichen Selbst mit seinem welthaft-dinglichen Erscheinungsgrund, das »Paradox […] des Zur-Welt-Seins überhaupt« 75 , das Merleau-Ponty in den Begriff der Ambiguität (Zweideutigkeit) 76 , Plessner in den des Conjunctums zu fassen versucht haben. 77 Gerade die »Erfahrung des Gegenständlichwerdens« 78 – als Krisis des Selbstbewusstseins in seinem Anfang – führt über die darin liegende Selbstdistanz – ausgedrückt in dem Satz: ich schäme mich über mich – notwendigerweise zur Erfahrung dessen, was man selbst ist, nämlich fungierender, spontan auslösender Leib, und dass der Körper, den man ineins damit zugleich hat, dem körperleiblich erscheinenden Sein der Person dient, um sie zu ihrem Selbstseinkönnen zu bringen (in der Formel Plessners: sie zu dem zu machen, was sie immer schon ist). Das ›Material‹ 79 der Scham ist der objektive chemisch-somatischphysiologische Ablauf, dem in seiner reflexhaften Plötzlichkeit das Selbst, eigentlich doch »Subjekt des Habens« 80 , vollständig unterworfen ist; die zu diesem ›Material‹ akkordante Form ist die Negation des Selbst, wie sie durch die totale Präsenz des Körpers im Leib, des Gegenständlichen im Zustand, des Objekts im Subjekt, des Dings im Selbst und damit des Fremden im Eigenen – das jeweils erste füllt das zweite ›chair‹) zum Andern (Körperding, Materie, ›viande‹) werden kann. Er zeigt das an einigen Beispielen, vor allem, mit Bezug auf Jean Améry, an der Tortur, übersieht aber, dass zu den Formen des ›psychischen‹ Folterns die gezielte Beschämung zählt, die das Individuum zum bloßen Körper entleiblichen, d. h. entwürdigen soll, indem es auf seine physiologischen Abläufe oder Nacktheit reduziert wird; allerdings gibt er einen Hinweis auf den Zusammenhang zwischen dem Verlust des leiblichen Selbst und der Scham, wenn er Simone de Beauvoirs Deutung des Sterbens ihrer Mutter wiedergibt, die sich am Ende, beim »Übergang vom Sein zum Nichts« (ebd., S. 81) nicht mehr ihrer »Tierhaftigkeit« (ebd., S. 82) schämte, sondern diese gelassen und resignierend hinnahm. 75 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1974, S. 107. 76 Z. B. ebd., S. 200, in Bezug auf das Schamgefühl, das die »Zweideutigkeit des Leibes überhaupt« anzeige. 77 Plessner selbst verweist auf die Schwierigkeit, dafür die treffenden Worte zu finden, in: Zur Frage der Vergleichbarkeit tierischen und menschlichen Verhaltens (1961), VIII, S. 285–293, hier S. 291. 78 Plügge: Verschränkung, 1967, S. 63. 79 Falls man hier von einem Material sprechen darf, denn der duale Modus, dem die Akkordanz der Scham zuzurechnen ist, hat eigentlich kein eigenes Material, wie oben festgestellt wurde, umfasst aber all das, was atmosphärisch und geschmacklich wirksam werden kann (vgl. Breun: Verkörperung von Moral, 2003, S. 173). 80 Plessner: Stufen, IV, S. 304.

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so vollständig aus, dass sich das Selbst nicht mehr hat, sondern verliert – in der Weise offenbar wird, dass es sich zu einem wahrhaft existenziellen und in der Tendenz existenzbedrohenden Erlebnis auswächst. In dieser Hinsicht lassen sich, ohne ein zu großes spekulatives Wagnis einzugehen, die obigen Formulierungen ergänzen: es ist die totale Präsenz des Todes im Lebendigen. Von der Todesnähe der Scham legt bereits der Talmud Zeugnis ab, wo es unter den Titeln »Wer beschämt, der mordet« und »Lieber sterben als beschämen« heißt: »Jeder, der das Gesicht seines Gefährten vor den Vielen erbleichen lässt, ist, als ob er Blut vergieße.« 81 Und: »Es ist einem Menschen dienlicher, sich selbst in einen feurigen Brennofen fallen zu lassen, als das Gesicht seines Gefährten vor den Vielen erbleichen zu lassen.« 82 Um die Nähe der Scham zum Tod wissend schreibt Nietzsche: »Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will. / Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen. / Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? – Sich nicht mehr vor sich selber schämen.« 83 Kafka schließlich pointiert die Stellung der Scham im Verhältnis zu Leben und Tod noch schärfer, wenn er am Ende seines Romans Der Prozeß schildert, wie Josef K. an seiner Scham zugrunde geht: »Wie ein Hund« wird er behandelt; der Roman endet mit dem Satz: »[…] es war, als sollte die Scham ihn überleben«. 84 In dieser Form der Negation durch die Scham erscheint das Leibselbst als bloßer Körper, der die Führung übernimmt. In der Scham wird das körperliche Dasein, das Objektsein real erlebt, paradoxerweise dadurch aber auch das Selbst, aber im Modus des Selbstverlusts, des »Selbstentzugs« 85 , d. h. in seiner Nichtigkeit – als Phantom, das dennoch seine Ansprüche anmeldet: das Selbst wird sich durch das Erleben Bawa mezia 58 b, in: Der Talmud. Ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, München 1999, S. 508. 82 Bawa mezia 59 a, ebd., S. 509. 83 Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, Nr. 273, 274, 275. In ders.: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München 1977, Bd. 2, S. 160. 84 Franz Kafka: Der Prozeß, Frankfurt a. M. 1990 (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 312. 85 Thomas Fuchs: Psychopathologie der Hyperreflexivität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 59, 2011, H. 4, S. 565–576, hier S. 568; Tugendhat bestimmt die Scham als »Gefühl des Selbstverlustes in den Augen der (möglichen) anderen« (Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, S. 57). 81

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seiner Dinglichkeit seiner selbst bewusst 86 und ruft sich zur Freiheit des Anfangs auf. Es entwirft sich neu – oder scheitert. Es wird (wieder) lebendig – oder es stirbt (im Suizid oder suizidähnlichen Verhaltensweisen). Scham ist für das Selbst und sein Bewusstsein der Ausdruck für die Krisis des Anfangs. Die Akkordanz der Zustandssinne, d. h. des dualen Modus, macht sich in reiner Ausprägung recht eigentlich darin geltend, dass auf der einen Seite das Gegenständliche im Zuständlichen sich durchsetzt; dass der Zustand vollends vergegenständlicht und damit der duale Modus letztendlich ausgeschaltet wird – eine Tendenz übrigens, die sich allgemein verstärken würde, wenn die Neurowissenschaften mit der Materialisierung des sogenannten Geistigen die anthropologische Beschreibung des Menschen dominierten. Und auf der anderen Seite schafft die Akkordanz des Tagmatismus die Bedingungen für die Möglichkeit, dass der Zustand jegliche Vergegenständlichung ausschließt. Damit ist die Paradoxie so sehr auf die Spitze getrieben, dass in der akuten Scham immer ein Umschlagspunkt angezeigt wird, sei es, dass das Selbst sich aufgibt und sich, mit inneren Schmerzen und unguten Gefühlen, allen Facetten seiner Objektivierung überlässt, sei es, dass es revoltiert und seiner Lebendigkeit (wieder) Raum und Zeit verschafft – gegen die Versuche, sie den Mechanismen äußerer Abläufe einzugliedern, zum Werkzeug fremder Absichten herabzuwürdigen oder zweckrationalen Verfahren zu unterwerfen, die mit allem rechnen, bloß nicht mit den Unwägbarkeiten des Lebens; dessen ›reiner Affekt‹ 87 , der Zustand also, der von der Lebendigkeit selbst ausgeht und nicht von irgendeiner anderen, fremden, äußeren An- oder Zumutung, ist eben die ursprüngliche Schamhaftigkeit oder Scheu, die zwar das Licht der Öffentlichkeit ›scheut‹ und schon von ihrem Wesen her im Verborgenen blüht, aber in so vielen Nuancen, zumal solchen des Sich-Versteckens durch Maskierung oder Übertreibung, konkret werden kann, dass die Vielfalt und der Grund ihrer Erscheinung zur Rätselfrage wird, ein Rätsel, wie es doch am Ende die Existenz selbst ist. Wenn die Scham die Krise des Anfangs ausmacht und anzeigt soVgl. Lipps: Das Schamgefühl, 19772 , S. 31 und 43; mit Bezug auf Lipps vgl. Käte Meyer-Drawe: Am Ursprung des Selbstbewusstseins: Scham. In: Alfred Schäfer, Christiane Thompson (Hg.): Scham, Paderborn 2009, S. 37–49. 87 Diese Bezeichnung stammt im Anschluss an Michel Henry von Rolf Kühn, in: Michael Titze, Rolf Kühn: Lachen zwischen Freude und Scham. Eine psychologisch-phänomenologische Analyse der Gelotophobie, Würzburg 2010, S. 141. 86

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wie am Anfang der Krise des Selbstbewusstseins steht, dann muss mit dem Begründer der Radikalen Lebensphänomenologie, Michel Henry, der Schluss gezogen werden: Die Scham »[…] ist der Grund einer jeden erdenklichen Existenz, ihre innere Ermöglichung […]. In der Scham erfährt der Mensch seine Differenz mit dem äußeren und fremden Sein und wird sich dessen bewusst […].« 88 Der reine Affekt der Schamhaftigkeit zeigt die Nicht-Objektivierbarkeit des lebendigen Selbst an: entgegen diesem aus dem Leben selbst stammenden und sein Erscheinen (in Hüllen, Masken, Rollen u. v. m.) ermöglichenden Schutzmechanismus wird es doch objektiviert – im Blick, in bestimmten Handlungen und verfügenden Verfahren. 89 Es gibt viele Mittel, den glimmenden Funken der Lebendigkeit auszutreten. Genau dann aber, als Reaktion auf die Verletzung oder Zerstörung ihres zerbrechlichen Kerns und unabhängig davon, ob sie nun (in der Beschämung) durch andere oder (im schändlichen Tun) durch einen selbst beigefügt wurde, stellt sich der akute Affekt der Scham ein. Gerade mit seiner körperlichen Manifestation verweist er auf das Unantastbare der das leibliche Fungieren beherrschenden Lebendigkeit. Da er aus ihr kommt, ist er plastisch wie diese. Man kann sich wegen einer Normverletzung schämen, eines Mangels an Tischsitten, seines Äußeren oder seiner Existenz überhaupt – aber nur dann, wenn der Blick aus der Distanz (der von anderen oder mir selbst kommen kann) an die Tiefen der Existenz, die Wurzel der Lebendigkeit, rührt, dort, wo die Scheu untrennbar mit ihr verbunden ist. Erwin Straus verweist darauf, »daß die Scham zur ursprünglichen Existenz des Menschen gehört, daß die Scham primär, die Schamlosigkeit ein erworbenes Verhalten ist« 90 . Präziser muss man hier die fundamentale Struktur der Schamhaftigkeit vom Schamgefühl und Schamausdruck unterscheiden. Straus kennt zwei wichtige Formen der Scham. Die behütende Scham (französisch la honte, griechisch aidos, in etwa die Scheu) schütze den Menschen in seinem ›unmittelbaren Werden‹ vor den beobachtenden Blicken der ›Öffentlichkeit‹, die verbergende Scham (französisch la pudeur, griechisch aischyne) sei norMichel Henry: L’essence de la manifestation [Das Wesen der Erscheinung], Paris 1963, S. 480, dt. zit. in Titze, Kühn: Lachen, 2010, S. 142. 89 Vgl. Titze, Kühn: Lachen, 2010, S. 145. 90 Erwin Straus: Die Scham als historiologisches Problem, in ders.: Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1960, S. 179–186, hier S. 186. 88

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mativ und lässt das vermeiden (oder eben verbergen), was als Schande bezeichnet werden und der sozialen Geltung schaden könnte. 91 Die gezielte Beschämung verletzt das Lebendige an der Wurzel, der Scheu. Wie in die akute Scham geht die Scheu auch in die vorzüglichsten Erscheinungen des Lebendigen, nämlich die des Anmutigen und Würdevollen, notwendig ein. Fehlt sie in der konkreten Ausführung (der Bewegung, Mimik, Gestik, Handlung), dann wirkt das, was anmutig oder würdevoll sein soll, mechanisch statt lebendig, künstlich gemacht statt natürlich gewirkt, konstruiert statt gewachsen, erzwungen statt ungezwungen, beabsichtigt statt absichtslos. 92 Insofern zeigen Würde und Scham die Grenzverläufe an, die sich von der Scheu her öffnen. Sie sind so aufeinander bezogen, dass sich das Selbstseinkönnen zwischen ihnen als den beiden Enden der anthropologischen Struktur und den ab- wie aufschließenden Grenzen des menschlichen Raums aufspannt. Und von der Würde kann das Gleiche gesagt werden wie von der Scham: »Scham ist sehr schwer zu bestimmen und gleicht einem Rätsel, das seine Wirkungen entfaltet, obwohl es kaum zu lösen ist.« 93 Wie jedes Rätsel hat aber auch dieses einen Sinn, der ihm in der Tat, wenn überhaupt, nur unter äußersten Mühen zu entlocken ist. Der Sinn von Mensch und Welt ist in der paradoxen anthropologischen Struktur zwischen Scham und Würde versteckt, und ob oder wie er enträtselt werden kann, hängt davon ab, welchen Zugang man wählt zu dem Labyrinth, welchem diese Struktur auf den ersten Blick gleicht, und welchen Weg man hindurchfindet, um zum Ausgang zu gelangen – an dem man den Sinn versteht oder zumindest ahnt.

Vgl. zu dieser Unterscheidung, die mit den französischen Bezeichnungen an René Descartes (Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1984, frz. Les Passions de l’Ame, 1649) anknüpft, Titze, Kühn: Lachen, 2010, S. 52. In der griechischen Antike geht die ursprüngliche Bedeutung von aidos als Schamangst, d. h. Furcht vor der Schande, die man durch eine Untat auf sich geladen hat, auf den Begriff aischyne über, und aidos wird, vor allem in der Stoa, zur Bezeichnung für die Tugend der ehrfürchtigen Scheu zur Wahrung der Würde des anderen und meiner selbst (dem kommt heute die Rede vom Taktgefühl nahe); vgl. dazu Philipp Steger: Die Scham in der griechisch-römischen Antike. Eine philosophie-historische Bestandsaufnahme von Homer bis zum Neuen Testament, in: Kühn, Raub, Titze (Hg.): Scham, 1997, S. 57–73. 92 Darin liegt die Tendenz zur Lächerlichkeit (vgl. die Unterscheidung zwischen Mechanischem und Lebendigem in der Bewegung als Bedingung des Lächerlichen bei Henri Bergson: Das Lachen, Hamburg 2011). 93 Meyer-Drawe: Scham, 2009, S. 37. 91

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Der Ort der Scham in der Architektonik der menschlichen Person

Der Ort der Scham in der Architektonik der menschlichen Person Wie schwierig es ist, der Scham in der Architektonik der menschlichen Person ihren rechtmäßigen Platz zuzuweisen, zeigen die Versuche von Thomas Fuchs und Plessner selbst. Fuchs weist detailliert die Gleichförmigkeit (Isomorphie) von anatomischem Körper und erlebtem Leib auf, ebenso deren Gleichsinnigkeit (Analogie). 94 Die erste, Plessners Begriff der Konkordanz vergleichbar, ist z. B. in der dynamischen Gestalt, etwa der Entsprechung von leiblicher und physiologischer Enge oder Weite, zu finden; 95 die zweite, Plessners Begriff der Akkordanz vergleichbar, zeigt sich z. B. darin, dass der Körper der leiblich intendierten Bewegungsgestalt folgt. Was aber entspricht der Nichtigung in der Entleiblichung der Scham? Mit Lévinas sieht Fuchs im Gesicht »das Sinnbild der Unantastbarkeit der Person« und fährt fort: »In der Bedrohung durch den Blick des Anderen betont nun die Röte der Scham diese Unantastbarkeit, gerade indem sie das Gesicht heraushebt. Sie setzt der drohenden Verletzung der Intimität die nochmalige Entblößung als letzten Schutz entgegen.« 96 Das ist richtig. Aber die Schamröte hat ja noch viele andere Facetten, z. B. zeigt sie an, dass man sich bewusst ist, eine anerkannte Norm übertreten oder moralisch versagt zu haben. Leiblich findet sich in dieser Situation der Selbsterkenntnis zunächst keine gelungene Aktion, die Lage ist ausweglos, der Körper verselbstständigt sich und zeigt mit seiner eigenen Distanzierung vom Selbst zugleich dessen Ratlosigkeit und Nichtigkeit an. Die Akkordanz besteht hier, wie gezeigt, in der Entsprechung zwischen der Negativität des Leibes (das Leibselbst ist überwältigt, hat sich desavouiert, es fällt als Darsteller und Regisseur der Darstellung aus) und seiner Vertretung durch den Körper. Der Körper steht ungefragt für den Leib ein, stellt diesen im Blickfeld der anderen dar und zeigt damit unweigerlich eine Bedeutung an, gibt ihm einen Sinn, eben den, dass das Leibselbst sich selber in einem solchen Maß entäußert und vergegenständlicht hat, dass nur noch das Dinghafte in ihm, der rein vegetative Reflex, es als Ganzes vertreten kann. Thomas Fuchs: Raum, Leib, Person, 2000, S. 140 ff. Hier folgt Fuchs den Beschreibungen der leiblichen Kommunikation bei Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, 19952 , S. 122 f. 96 Ebd., S. 289. 94 95

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Plessner reiht das Sichschämen ein in Situationen »des Entsetzens, der Angst, des Widerwillens und Ekels, der Verlegenheit und Erregtheit überhaupt«, die verbunden sind mit »Erröten, Erbleichen, Schweißsekretion, Erbrechen, Husten, Niesen« 97 . Diesen Vorgängen ist der fehlende Antwortcharakter gemeinsam, wie er noch dem Lachen und Weinen zugesprochen werden muss, in welchen die Person zwar auch ihre Beherrschung verliert, aber Person bleibt, »indem der Körper gewissermaßen für sie die Antwort übernimmt« 98 . Dennoch ist die Scham in dieser Reihe fehl am Platz. Ihre Normativität und mögliche Moralität verweisen darauf, dass sie eine Symbolik aus eigenem Recht ist, die allerdings noch tiefer reicht als Konvention und Moral. Darauf verweist Plessner selbst am Ende der Stufen, wenn er sagt, dass die Nichtigkeit der menschlichen Existenz, die »Ersetzbarkeit und Vertretbarkeit« des einzelnen Menschen, der »Grund […] seiner Schamhaftigkeit« 99 sei. Die Akkordanz zwischen Stoff und Form liegt eben in dieser Negativität, die sich im symbolischen Versagen des Leibes und des daraufhin eintretenden physiologischen Reflexes zeigt, der die Tätigkeit des symbolischen Formens übernimmt und seinerseits zum Symbol wird. Der Effekt ist dann, dass sich Vorder- und Hintergrund wieder vertauschen, Figur und Grund wechselseitig die je andere Position einnehmen 100 : der Körper allein repräsentiert (als Figur) das Bewusstseinsganze, so dass das Selbst (als Grund) gerade wegen dieser paradoxen Selbstdarstellung durch vollständige Vergegenständlichung (jetzt wieder als Figur) in den Vordergrund rückt: es sieht sich selbst als das, was es eigentlich nicht ist – ungeformter Stoff –, aber aufgrund seiner Materialität, derer es sich normalerweise bedient, doch ist. Das ist die Voraussetzung, wieder zu dem werden zu können, was es ist: fungierend, spontan, selbstbestimmt. In diesem Zustand der Entkörperung 101 oder, hier genauer und treffender, der Entleiblichung. zeigt sich die tiefste Krise des Selbstbewusstseins. Es kann gestärkt aus ihr hervorgehen oder daran zerbrePlessner: Lachen und Weinen, VIII, S. 237. Ebd. 99 Plessner: Stufen, IV, S. 422. 100 Mit Figur und Grund wird in der Gestalttheorie die fundamentale Differenz der Gestaltbildung und ihrer Wahrnehmung bezeichnet. 101 Vgl. Plessner: Die Frage nach der Conditio humana (1961). VIII, S. 136–217, hier S. 209 ff. Da Körper und Leib, wie Merleau-Ponty und Plügge richtig sehen, das jeweils Eine im Anderen sind, viande als chair und umgekehrt, können die Begriffe Entkörpe97 98

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Die Verschränktheit des Körperleibs im Bild der Scham

chen, hervorgehen in einem Akt der Befreiung, letzten Endes zerbrechen im Tod, dem genuinen Zustand der Entkörperung. So konnte auch Hegel das Werden des Selbstbewusstseins als Anerkennungsprozess im Kampf der Subjekte auf Leben und Tod beschreiben 102 .

Die Verschränktheit des Körperleibs im Bild der Scham – Verkörperung und Entkörperung Wie fruchtbar für die Bestimmung der synthetischen Einheit das Unternehmen einer Fortsetzung und Überwindung des kantischen Kritizismus sowie der Mitvollzug dieses Prozesses sind, wird in einem abschließenden Blick auf Cassirer und Plessner deutlich. Cassirer selbst hat hinsichtlich seiner Methode auf die wechselseitige Ergänzung von konstruktiv-progressiven und kritisch-regressiven Verfahren hingewiesen. Das Vorwärtsgehen hin zu einer Vollendung 103 aller Objektivationen, zu welchen das symbolische Tun fähig ist, zumal wenn es sich seiner Vermögen philosophisch voll bewusst wird, ist die eine Richtung. Die andere ist der kritische Rückgang auf die Bedingungen, die eine bestimmte Leistung und die entsprechende Objektivation ermöglichen 104 ; dabei sieht Cassirer in der Bewusstseinstätigkeit die Grundbedingung aller geschichtlichen Objektivationen, und die symbolische Prägnanz ist das Analogon zur kantischen Synthesis von Anschauung und Begriff im Urteil. So wie diese Urteilssynthesis mit ihren beiden sich widersprechenden Momenten von Anschauung und Begriff von der transzendentalen Einheit der Apperzeption garantiert wird, so wird die symbolische Prägnanz mit ihren beiden sich widersprechenden Momenten von Sinnlichkeit und Sinn von der lebendigen Einheit des Selbst garantiert. Jene kantische Einheit ist ebenso wie diese Einheit eine solche von Verschiedenen, deren beider Polarität in einen produktiven Prozess mündet, bei Kant in den Schematismus der Einbildungskraft 105 , der das sinnlich Wahrgenommene schematisch, rung und Entleiblichung gleichwertig verwendet werden; die je verschiedene Schwerpunktsetzung ergibt sich aus dem Blickwinkel auf das zu beschreibende ›Kippbild‹. 102 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, 19773 , S. 145 ff. 103 Vgl. Cassirer, PsF I, S. 51. 104 Vgl. ebd., S. 41. 105 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 180, A 141 (Werkausgabe Bd. III, S. 189): das »Schema« ist »die Regel der Synthesis der Einbildungskraft«. A

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als »figürliche Synthesis« 106 , so konturiert, dass die zugehörige Kategorie gleichfalls schematisch angewandt werden kann; bei Cassirer in die Artikulation der Einbildungskraft 107 , die das Wahrnehmungserlebnis symbolisch so prägnant macht, dass der ›geistige‹ Sinn zum Ausdruck kommen und verstanden werden kann: das Wahrgenommene wird zum ausdrucksvollen Sinn-Bild. Diese bereits dem Wahrnehmungsakt zugehörige Artikuliertheit – das gegliederte Gefüge, die innere Differenziertheit, die ›figürliche Synthesis‹ – resultiert aber, wie gezeigt, aus der Verschränkung von Körper (Ding) und Leib (Zentrum), in deren Verschiedenheit sich die synthetische Einheit des Selbst und seiner Lebendigkeit auslegt 108 . In der symbolischen Prägnanz der Schamröte stellt sich der Körperleib in seiner Verschränktheit eigens bildhaft dar, weil hier der Körper mit seinen unwillkürlichen Zeichen den Leib und dessen Schema der Willkür verdrängt und ersetzt, damit aber auch auf ihn und seine Bedeutung aufmerksam macht. Mit dieser Möglichkeit erhält zugleich das artikulierte Sinngefüge von (a) zu verdeckender Nichtigkeit und (b) hervorzukehrender Bedeutung des Selbst Konturen. So sind die Konflikte für das Selbstbewusstsein existenzielle Krisen in den Grenzen von Verkörperung und Entkörperung – oder zwischen Anerkennung und Erniedrigung, Achtung und Entwürdigung, wenn man es ›intersubjektiv‹, d. h. ethisch betrachtet. Die anthropologischen Bestimmungen Plessners und Cassirers ergänzen sich: Der Mensch erweist sich nicht bloß in der Theorie, sondern in der Praxis der Selbstdarstellung (a) als homo absconditus wie 106 Ebd., B 151 (S. 148). In der Davoser Disputation mit Heidegger sagt Cassirer, dass Kants Begriff der »synthesis speciosa« (oder ›figürlichen Synthesis‹), d. h. »[…] dieses Speziesproblem […] in den Kern des Bildbegriffes, des Symbolbegriffes [führt]« (in: Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 19734 , Anhang, S. 248). Denn in der figürlichen Synthesis der produktiven Einbildungskraft wird das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung zu einem sinnvollen Bild geordnet; diese je nach kategorialer Einteilung (Kant), verschiedenem Sinneskreis (Plessner) oder symbolischer Form (Cassirer) unterschiedlich gefassten spezifischen Ordnungen und deren Einheit wurden oben in einigen Abschnitten erörtert. 107 Cassirer analogisiert den in der Wahrnehmung stattfindenden und symbolische Prägnanz konstituierenden »Akt ›symbolischer Ideation‹« mit »jener ›produktiven Einbildungskraft‹, die Kant als ›ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst‹ bezeichnet« (PsF III, S. 155), und benennt diesen Vorgang im selben Zusammenhang als Artikulation (ebd., S. 235). 108 Analog dazu entfaltet sich die Einheit des transzendentalen Subjekts bei Kant in den verschiedenen, anschaulichen wie begrifflichen, Vorstellungen.

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auch und zugleich (b) als animal symbolicum 109 . Im Korrespondenzverhältnis von Selbst und Welt liegt die zweite Seite des Symbolisierungsprozesses darin, »dass der Mensch sich die Welt beseitigt, um die Welt an sich zu ziehen« 110 , d. h. (a) in der Nichtigung der Welt durch (b) ›Vergeistigung‹ bzw. Sinndurchdringung. Das ist das Thema der Kulturphilosophie Cassirers, und er verliert die Konflikte im Prozess der Befreiung von der zunächst undurchschauten Bindung an Gegenstand und Bild nicht aus den Augen, zumal sie die Symbolisierung vorantreiben. Die symbolische Darstellung der Welt geht im Extremfall bis zum (religiösen) Bilderverbot, zum leeren Bild oder zur Bildabstinenz (in der Kunst), zum Formalismus in der (philosophischen) Sprache und zum Schweigen (in der Mystik oder im Theater). Die symbolische Selbstdarstellung geht im Extremfall so weit, dass sich das Subjekt, als angeschautes Objekt verwirrt sich betrachtend, in der Einstellung einer Totalen fixiert sieht und es ratlos zulassen muss, wie es sich im Schamausdruck offenbart. Gerade hier zeigt es sich als körperliches Geistwesen, das noch im Verlust der Form sich mit etwas bekleidet, das der Form analog ist und ihr Fehlen bemänteln soll, und sei es mit dem bloß Vegetativen, im Grunde Sinn- und Geistlosen des Errötens oder Erbleichens. So macht die symbolische Prägnanz der Schamröte die anthropologische Grundstruktur der Verkörperung sichtbar, die sich aus der Körper-Leib-Verschränkung ableitet. Strukturlogisch ergeben sich daraus weit reichende Folgerungen, die bisher nur am Rande gestreift wurden; sie führen in die Tiefen des menschlichen Selbstverständnisses und seiner kulturell-geschichtlich je verschiedenen, aber formal vergleichbaren symbolischen Gestalten. Denn ineins mit seiner natürlichen Symbolik indiziert der akute 109 Vgl. Ernst Wolfgang Orth: Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, in: Frithjof Rodi (Hg.): Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Bd. 7/1990– 1991, Göttingen 1991, S. 250–274; er parallelisiert (S. 273) die beiden Begriffe, was eben nur deshalb geht, weil, wie gezeigt, die Nichtigkeit des Selbst es ist, die zugleich seine Bedeutung mitliefert. Auch setzt er die Verkörperung und die Symbolisierung gleich (vgl. ebd., S. 271). In beiden Analogien ist die Vergleichshinsicht, dass das so gekennzeichnete Lebewesen seine Bestimmungen selbst hervorzubringen in der Lage ist. – Auch Hans-Peter Krüger stellt seinen Vergleich zwischen Cassirer und Plessner unter diese beiden Begriffe in: Philosophische Anthropologie als Lebenspolitik. Deutsch-jüdische und pragmatische Moderne-Kritik, Berlin 2009, S. 208–239. 110 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, 1995, S. 36.

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Schamausdruck den Gegenzug der Verkörperung – die Entkörperung bzw. Entleiblichung. Mit gutem Grund kann deshalb von der Scham behauptet werden, dass in ihr das von Plessner am Phänomen des Numinosen aufgezeigte »Ineinander von Verkörperung und Entkörperung« 111 , das der menschlichen »Grundverfassung« 112 ihr Gepräge gibt und ansonsten kaum der Anschauung zugänglich ist, zur Erscheinung kommt. Das ist nur möglich, weil, wie Plessner mit Blick nicht nur auf archaische Riten sagen kann, beim Menschen »Todeserfahrung und Lebenserfahrung […] von allem Anfang an eine Einheit [bilden]« 113 , aus welcher die unzähligen, kulturell vielfältigen und in der Regel mit moralischer Bedeutung aufgeladenen Rituale, Mythen und religiösen Ideen resultieren, die das mysteriöse Verhältnis von Leben und Tod anschaulich in Bewegung und Bilder transformieren, in Personifikationen modellieren, in magisch-kausale Narrationen übersetzen und in metaphorisch-begriffliche Denkgebäude fassen. Lebens- und Todeserfahrung können deshalb eine Einheit bilden, weil der Bedingungszusammenhang, das Konformitätssystem, von Sinnlichkeit und Sinngebung dies zwingend erforderlich macht; denn der Akt des Bedeutens ist mit dem des Nichtens unweigerlich intern verknüpft. Ohne dieses Konformitätssystem wären die oben genannten Extreme der Darstellung von Welt und Selbst in ihrem genau proportionierten Verhältnis zu ihrer Nichtigung nicht möglich, das Sichineinanderverhaken von Lebendigkeit und Nichtigkeit, Leben und Tod würde nicht genau diejenigen spezifischen Erscheinungen der menschlichen Lebensform hervorbringen, die wir kennen (das Numinose, die Scham, das Mimetische, die Gewalt u. v. m.) und in denen es im Kern – mehr oder weniger verborgen, vollständig oder unzulänglich kaschiert – um Leben und Tod geht, und sei es in Abwandlungen, in welchen diese Dynamik nur mehr in kaum noch oder gar nicht wahrnehmbaren Abschattungen, gleichsam augenzwinkernd, zum Tragen kommt: im Element des Spielerischen fairer Wettkämpfe, im gesellschaftlichen Rollenspiel, in politischen Kooperationen und Kollisionen. Die Entschärfung von agon und polemos, auch der als Kampf und Spiel organisierten Unterhaltungsszenarien (wie der Gladiatorenkämpfe), zu Formen schonenderen und ›zivilisierteren‹ oder ›kultivierteren‹ Um111 112 113

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Plessner: Die Frage nach der Conditio humana, VIII, S. 213. Ebd., S. 214. Ebd., S. 210.

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gangs war und ist nur möglich vor dem Hintergrund des Sachverhalts, dass die spontane, den Augenblick beherrschende Lebendigkeit ihrer drohenden Nichtigkeit, d. h. dem Tod und seiner entgegenwärtigenden Macht, abgerungen werden muss. Deshalb können auch heute noch Auseinandersetzungen jedweder Art in tödliche Gewalt umschlagen, wenn sie nicht eigens mit belastbaren Spielregeln der Fairness, des Taktes, des befriedenden Ausgleichs unterfüttert werden; belastbar heißt: die Regeln müssen eine Organisation ermöglichen, die spielerische Leichtigkeit vor dem Hintergrund des Ernstes zulässt, dürfen aber das Spiel mit einem Übermaß an Regulation weder sterbenslangweilig machen noch den Tod ersehnen lassen, der sich gegenüber eines zur Erstarrung gelangten Lebens, dessen man müde wird, als kleineres Übel anbietet. Auch diese beiden Möglichkeiten der tödlichen Langeweile und des Lebensüberdrusses, die nicht selten Wirklichkeit werden, verweisen auf die unauflösliche Verschränkung von Leben und Tod. Die Verschränkung, deren tiefster Grund hier, in der absoluten Kluft, im Abgrund zwischen Leben und Tod, erreicht wird, organisiert alle Dimensionen der menschlichen Lebendigkeit hiatusgesetzlich, so auch die äußerst fragilen, flüchtigen und dennoch das Alltagsleben durchdringenden Formen, in welchen sich die Lebendigkeit zu artikulieren versucht. In ihrer Eigenart oft erst auf den zweiten Blick sichtbar, manifestiert sich in solchen im Kern selbstwidersprüchlichen Formen, in welchen sich die Lebendigkeit zu organisieren sucht, eine Sphäre, die der Realität des Lebens und Überlebens in der Welt, des Kampfes um Selbstbehauptung und Macht die Irrealität eines Scheins entgegenhält, der die Realität in ein milderes Licht taucht und von der man zuweilen glaubt, sie an deren Stelle setzen zu können. Allerdings liegt darin auch die starke (und naheliegende) Tendenz, die Realität zu verbrämen und zu vertuschen, um das Machtstreben mit dem Schimmer von Verbindlichkeit und Höflichkeit zu übertünchen. Interessanterweise zeigt sich hier erneut das in sich verschränkte Kippbild von Figur (figürlich gestaltete Irrealität, Schein bzw. Geltung des Selbst) und Grund (fundierende Realität, Sein des Körpers). Sie können, wiederum der Hiatusgesetzlichkeit folgend, ihre Positionen schneller wechseln, als man anzunehmen bereit ist; und was, weil man sich daran gewöhnt hat, als real erscheint, nämlich die eigentlich irreale Sphäre der prätendierten Geltung, wird sogleich von ihrer Irrealität eingeholt, wenn sich die Realität der um Selbstbehauptung kämpfenden Macht zeigt, die zuvor irrealisiert, ins Reich der Phantasie verlegt A

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worden ist – etwa in Geschichten, im Kino oder durch Verlagerung in eine historische oder kulturelle Ferne, die man sich nicht mehr vorstellen möchte, obwohl sie fasziniert. Die Phantasie aber braucht man für das, was man sich aneignet, um Geltung zu erlangen. Oder ist Phantasie nötig, um sich vorzustellen, was geschieht, wenn Geltungsansprüche mit nackter Gewalt durchgesetzt und symbolische Bedeutungen von Macht überlagert werden? In sich verschränkt, werden die Begriffe von Realität und Irrealität fraglich, obwohl sie die Sphäre der menschlichen Lebendigkeit prägen. Gerade deshalb ist es so naheliegend, dass der einzelne Mensch oft nicht mehr weiß, was real ist und was nicht, dass ihm die Maßstäbe verrücken, weil sie selber auf schwankendem Boden stehen, und dass er verrückt wird. Es kann aber auch sein, dass die Welt verrückt spielt, und der vermeintlich Verrückte die richtige Perspektive hat. Die Philosophie kämpft mit dieser Frage 114 , und die Literatur erzählt davon.

Die irreale Geltungssphäre und die Funktion des ästhetischen Scheins Das menschliche Leben hat mit dem Risiko des Verrücktwerdens umzugehen. Es changiert zwischen Festlegung und Nichtfestlegbarkeit, Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Es findet sich in der Sphäre der Ambiguität, der Zweideutigkeit wieder. Diese Sphäre hat mitunter, wie beschrieben, etwas Zwielichtiges, kann aber auch von einer Klarheit sein, wie sie ein Bergsee trotz der Wasserspiegelungen und Lichtbrechungen, unter Ausnutzung dieser Effekte, zeigt. Eine solche Klarheit sucht sich das menschliche Selbst zu verschaffen. Darin liegt die wesentliche Funktion der Verdoppelung seiner Lebendigkeit. In den Verkörperungen (im Handeln, Sprechen, Gestalten) und Verleiblichungen (in Ess- und Trinksitten, Mode und Schmuck)115 findet das menschliche Individuum Möglichkeiten, sich mit der Unbestimmtheit zu arrangieren und dennoch zu bestimmen. In seinen körperleiblichen Haltungen zeigt sich das Individuum und gibt es sich Sicherheit, oder es verliert sie. Es findet sich in der Realität zurecht 114 Vgl. dazu im indischen Kontext Kiran Desai-Breun: Zwischen Askese und Erotik. Eine kleine apologia der Philosophie, Würzburg 2012, bes. S. 114 ff. 115 Vgl. Plessner: Anthropologie der Sinne, III, S. 382 ff.

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und gestaltet sie, oder es fällt gleichsam aus ihr heraus und verfehlt sie. Es findet den richtigen Zugriff, und ein Begriff von der Realität baut sich sukzessive auf; oder der Zugriff misslingt, und der rechte Begriff stellt sich nicht ein. Aus der körperleiblich verankerten Reflexivität der menschlichen Lebendigkeit resultiert die Möglichkeit, von einem ›Misslingen‹ oder ›Gelingen‹ menschlichen Lebens zu sprechen, davon, dass jemand ›nicht mit dem Leben zurechtgekommen‹ ist, dass er sich nicht ›auf den Boden der Realität‹ stellen konnte. In der diffus beleuchteten Sphäre zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit ist das Individuum zur Reflexion gezwungen. Sie vollzieht sich nicht etwa bloß in Gedanken und Begriffen, sondern leiblichszenisch, in Mimik, Gestik, Sprache. In den Verkörperungen und Verleiblichungen liegt die anschauliche Materialisierung, das sinnliche Korrelat der Reflexion des Menschen über sich selbst, der ein Prinzip fehlt 116 : als Verkörperung meiner selbst lege ich mich fest, und ich bin offen. Ich bin die Maske (Rolle etc.) und bin nicht die Maske (also ›ich selbst‹, was heute in dem Wort ›authentisch‹ ausgedrückt wird). Dieser Vorgang verläuft (zunächst) mimetisch. Die lebendige leibliche Reflexion des Individuums braucht dazu den konkreten Spiegel. Auf ihn treffen ihre Strahlen, von ihm werden sie abgelenkt, vermittelt über das Medium des Blicks oder eines Analogons zu ihm (wie etwa das Tasten). Es kennzeichnet die Struktur der Mitwelt, dass nur andere Individuen oder das, was einem wie ein lebendiges Individuum erscheint, den Spiegel vorhalten können: das Individuum offenbart sich, um sich mit Hilfe der Anderen, ihres Blicks, ihrer Beurteilung und Einschätzung zu bestimmen und als jemand zu gelten. Dann aber wird es mit dieser Festlegung nicht fertig 117 , es erträgt sie nicht, weil es doch auch anders sein kann als diese Fixierung sagt und nicht bloß das ist, was der Spiegel zeigt; darin erschöpft sich seine Wirklichkeit nicht, es hat Möglichkeiten und immer andere Möglichkeiten – das zeigen ja die 116 Führt man die Analogie zu Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft (vgl. Kritik der Urteilskraft, A XXXV, B XXXVII; Werkausgabe Bd. X, S. 95) hier weiter, heißt das letztlich: der Mensch, in dem sich Pflicht und Neigung, Geist und Körper harmonisch vereinigen, ist nicht so sehr autonom als vielmehr heautonom, ähnlich wie Schiller die Heautonomie in die (schönen) Dinge verlegt statt bloß in das reflektierende Subjekt (vgl. Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde. Hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 1971; in diesem Band: Kallias, S. 3–65, hier S. 43, 47; Über Anmut und Würde, S. 67–136, hier S. 111). 117 Vgl. Simmel: Das individuelle Gesetz, 1987, S. 181.

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Anderen! –, und es hätte gar ein Anderer werden können 118 . Um der Wahrung seiner Wirklichkeit als Möglichkeiten willen verhüllt es sich, hält sich zurück, bedeckt sich, gibt nicht zuviel preis, entzieht sich der Mimesis, wendet sich gegen sie. Der Einzelne will auffallen (als jemand) und nicht auffallen (wie jeder). Das zeigt sich exemplarisch in der Mode 119 (als dem Inbegriff von Mimesis und Antimimesis zugleich), die das »antagonistische Spiel« 120 von Sich-Exponieren und Nachahmen, Unterschied und Konformität, Sich-Abheben und Egalisierung, Individualisierung und Verallgemeinerung, Zeigen und Verbergen, ›Sichoffenbaren‹ und ›Sichzurückhalten‹, gar ›Sichverschweigen‹ 121 , sinnfällig macht. Beide auseinander strebenden Richtungen heben sich nicht auf, sie verschränken sich, so dass – je nach Situation und Disposition – einmal Scham und Scheu zur Zurückhaltung zwingen, ein andermal deren affektive Widerparts, Stolz und Eitelkeit, Geltung heischen, zumeist aber beide ineinander verknotet sind und so die Grundhaltung der Schüchternheit 122 bestimmen können. Die Ambiguität verlangt nach Formen, in denen sie bewältigt werden kann. Eine dieser Formen, die Mode, ist das schlagende Beispiel dafür, dass sich der individuelle Mensch mangels seiner klaren Bestimmbarkeit eine Geltungssphäre eigens künstlich zu schaffen hat: er muss sich in Masken, Rollen, habituellen Formen darstellen, symbolisieren, ja geradezu in eine theatralische Künstlichkeit hinein steigern, so dass man hier mit Plessner 123 von einem Irrealisierungsvorgang sprechen kann. Die Irrealisierung hebt sich ab von der Realität der körperlichen Gegenwart, die sich durch Schwere, bloßes Dasein, stoffliche Undurchdringlichkeit und Dinghaftigkeit, aber auch Unbestimmtheit in den räumlich und zeitlich strukturierten Bewegungen kennzeichnen lässt, und sie erhebt sich über diese Realität, um der Plastizität KonVgl. ebd., S. 212 f. Vgl. Simmel: Zur Psychologie der Mode. Soziologische Studie, in ders.; Schriften zur Soziologie, 1992, S. 131–139, hier S. 137; ders.: Die Mode, in ders.: Philosophie der Kultur, GA 14, 1996, S. 186–218, hier S. 206 f. 120 Simmel: Die Mode, GA 14, 1996, S. 206. 121 Vgl. Simmel: Psychologie der Diskretion. In ders.: Schriften zur Soziologie 1992, S. 151–158, hier S. 112 f. 122 Vgl. Darwin: Ausdruck der Gemütsbewegungen, 2000, S. 367. 123 Vgl. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, V, S. 67, 76, 83, 90, 94; vgl. dazu Kai Haucke: Das liberale Ethos der Würde. Eine systematisch orientierte Problemgeschichte zu Helmuth Plessners Begriff menschlicher Würde in den Grenzen der Gemeinschaft, Würzburg 2003, S. 129. 118 119

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turen, d. h. Bestimmbarkeit zu verschaffen; insofern entspricht dieser Irrealisierungsvorgang dem, was sich aus Cassirers Sicht im Vorgang des symbolischen Vorzeichnens kumuliert – bis hin zum Beseitigen der Welt, um sie, symbolisch-sinnhaft durchdrungen, an sich zu ziehen. Es formiert sich eine artifizielle Sphäre, die den Spielraum menschlichen Verhaltens allererst eröffnet 124 , eine sublime Sphäre – ›sublimis‹ heißt ja zunächst nichts anderes als ›in die Höhe gehoben‹, ›erhaben‹, ›schwebend‹ –, der man mit Schiller »ästhetischen Schein« 125 zubilligen darf. Dieser ist weder Verstellung noch Falschheit, auch vertritt er nicht die Realität 126 , sondern ermöglicht deren Gestaltung durch das, was man traditionell das Geistige nennt: dessen Kern ist Gewinnung von Abstand, um über die Distanz hinweg auch das zu ›kulturalisieren‹ und zu kultivieren, was Schiller »Nothdurft« nennt. Von deren »Fesseln« 127 sucht sich der Mensch durch den Übergang in die irreale, artifizielle Sphäre zu befreien. Diese ruht dem Körper und seinem Bedarf an Verhüllung und Enthüllung, an Diminuieren und Betonen, an sinnlicher Geschmacksbefriedigung und sinngebender Verkünstlichung durch Schmücken, Schminken, Tätowieren, Verstümmeln, Verkleinern, Vergrößern, Frisieren und Bemalen aber nicht bloß auf, sondern tut seinem inneren, der Zweideutigkeit geschuldeten Zug zur Verleiblichung, zu ›vergeistigter‹ Darstellung Genüge. Die Geltungssphäre materialisiert sich in den ›künstlichen‹ Verkörperungen und Verleiblichungen. Nicht zufällig werden Phänomene des Ansehens und der Geltung, nämlich Nimbus und Prestige, mit Ausdrücken bezeichnet, deren ursprüngliche Bedeutungen – Schein (›Heiligenschein‹) und Blenden (›Blendwerk‹) – die Zweideutigkeit mitliefern 128 . Und Nimbus Vgl. Haucke 2003, S. 107. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, S. 108. 126 Vgl. ebd., 112. 127 Ebd., 118. 128 Vgl. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, V, S. 84 und 88. Es war und ist eine der hinterhältigsten und in ihrem Sinne wirkungsvollsten Maßnahmen der SS und anderer Gruppen, die sich durch Erniedrigung Anderer ihres eigenen Werts versichern müssen, die Körper zur Eindeutigkeit zu reduzieren: auf Nacktheit und Notdurft, lächerlich wirkende Uniformierung und Auslieferung an Wind und Wetter. Die psychohygienisch notwendige und heilsame Wirkung ästhetischen Scheins wird nicht mehr zugelassen. Der Mensch soll entmenschlicht werden. Gerade dies gelingt aber nicht. Die Wut der Täter, die immer wieder in bestialischen Gewaltakten zum Ausbruch kommt, zeigt das Misslingen der Versuche an, die Opfer ihrer Gattungszugehörigkeit berauben zu wol124 125

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und Prestige hängen davon ab, wie sich deren Träger zeigt, weniger davon, was er tut. Das von Sartre (und Heidegger) gesuchte Selbstsein wird gerade durch seine, unter den Bedingungen des Alteritätsbezugs zu vollziehende, Objektivierung in den künstlichen Formen, mit welchen sich das Selbst präsentable und variable Konturen verleiht, nicht zuletzt auch in den geschaffenen Werken, allererst und mittelbar ermöglicht – vermittelt durch Zeichen, Symbole, vielerlei Ausdrucks- und Darstellungsformen. Aus dieser Perspektive ist Objektivierung eine Bedingung der Möglichkeit sowohl der Erniedrigung als auch des Selbstseins, der Demütigung des Menschen wie seiner Sublimierung (in der Idee der Würde), seiner Beschämbarkeit wie seines Ansehens. So oszilliert das menschliche Sich-Äußern zwischen Höhenflug und Absturz, Stolz und Scham, und sucht dabei nach der ausgewogenen Proportion. Das Mittel dazu ist eben die Objektivierung – als Maskierung. »Im Kleid steckt die ganze Anthropologie« 129 , so hat der Religionsphänomenologe Gerardus van der Leeuw die anthropologische Pointe formuliert.

Stil, Haltung, Ethos In der öffentlich gezeigten Maske »verallgemeinert und objektiviert« 130 sich der Einzelne, um auf Kredit, manchmal auf Kosten des Allgemeinen und Verbindlichen, Raum zu schaffen für seine Besonderheit. In den Grenzen der Zweideutigkeit, d. h. in den Grenzen von Ansehen und Ansehensverlust, gestaltet sich das Verhältnis zu sich selbst, vermittelt über das Verhältnis zum Anderen und durch ihn hindurch. Es habitualisiert sich zwischen den Extremen von Schüchternheit (im Allgemeinen aufgehen, aber aus verheimlichter Geltungsbedürftigkeit) und Eitelkeit (etwas Besonderes sein wollen, aber aus verheimlen; vgl. Robert Antelme: Das Menschengeschlecht. Als Deportierter in Deutschland, München 1990 [frz. Original: Paris 1957], bes. S. 307 ff.; die Passage endet mit den Worten: Der Henker »[…] kann zwar einen Menschen töten, aber er kann ihn nicht in etwas anderes verwandeln« (S. 309). 129 Gerardus van der Leeuw: Der Mensch und die Religion, Basel 1941, S. 23; vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, VII, S. 399–418, hier S. 413. 130 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, V, S. 82; vgl. dazu Fischer: Panzer oder Maske, 2002, S. 80–102.

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lichtem Zugehörigkeitsgefühl), die sich zudem ineinander verkeilen: ein persönlicher Verhaltens-Stil, eine Legierung zwischen Allgemeinem, Typischem und Besonderem, Originalem bildet sich heraus, in der die Zweideutigkeit nicht überwunden, aber in Lebendigkeit und Lebensweisen übersetzt wird. Im Stil finden Individuelles und Allgemeines zusammen. Simmel zufolge zeigt sich auch in ihm eine »ganz feine Scham« 131 . Stil entlaste und verhülle das Persönliche, und es kann zugleich eine eigene Note erhalten. Nicht zufällig spricht Simmel von Stil und Grundgeste einer individuellen Persönlichkeit, wenn er deren begrifflich nicht fixierbare Totalität (ihr ›Sollensganzes‹) veranschaulichen will. 132 Auch die Rede von einer moralischen Scham liegt hier begründet; diese kann mit dem Verfehlen jener Normen hervorbrechen, durch welche intersubjektiv das Gutsein einer Person überhaupt definiert ist, wenn die Person ihr moralisches Selbst damit identifiziert 133 , so ihren Stil prägt und darin ihre Grundgesten verankert. Dabei erhält die Intersubjektivität des Kriteriums für ›gut‹ ihren eigenen Ausdruck: sie zeichnet sich an der Empörung der Anderen ab. Deshalb kann Sartre im Selbst zurecht das »vereinigende Erfassen dreier Dimensionen« 134 sehen – in G. H. Meads Sprache: von ›I‹, ›Me‹, ›generalized other‹ 135 . Diese Einheit wird anlässlich akuter Scham sinnfällig und in dem Satz versprachlicht: »Ich schäme mich über mich vor Anderen« 136 bzw. vor mir selbst. Damit wird die ursprünglich mitweltlich verankerte Synthesis anschaulich und in einen sprachlichen Ausdruck gefasst. 131 Simmel: Das Problem des Stils. In ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. II (GA 8), Frankfurt a. M. 1993, S. 374–384, hier S. 382. 132 Simmel: Das individuelle Gesetz, 1987, S. 229. 133 Vgl. Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 19942 , S. 57 f.; wie der Versuch, eine solche Identifikation zu umgehen, in einen performativen Selbstwiderspruch münden muss, zeigt Platon im Dialog Gorgias, in: Sämtliche Dialoge, Bd. I, hg. v. Otto Apelt, Hamburg 1993, 16. Kap. (S. 461 f.) u. 49. Kap. (S. 494 f.); vgl. die Einleitung von Apelt zu Gorgias, ebd., S. 4. 134 Sartre: Das Sein und das Nichts, 1993, S. 518; vgl. Seidler: Der Blick des Anderen, 1995, S. 60; in der Psychoanalyse spricht man deshalb vom ›triangulären Binnenraum‹. 135 Vgl. Mead 1998. 136 Sartre: Das Sein und das Nichts, 1993, S. 518 (frz. 1943, S. 350: »J’ai honte de moi devant autrui«). Sartre spricht hier von der »Einheit der Bewußtseine« von Ich und Anderem als einer »Seinseinheit« (S. 473), Scheler vom »Selbst überhaupt« (Scham und Schamgefühl, 19572 , S. 81), Schmitz von der Identität von Subjekt und Objekt« (als Richter und zugleich Gerichteter) in der »Simultanscham« (Hermann Schmitz: System der Philosophie, 1. Bd.: Die Gegenwart, Bonn 19812 , S. 5; vgl. ebd., S. 248, 393 f.).

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Die Scham ist jener Affekt, der dem Sturz ins Bodenlose, ins Nichts und in die absolute Leere am prägnantesten Ausdruck verleiht. Der interne Bruch der Einheit selbst – ihre Zweideutigkeit – wird exemplarisch in der Scham sichtbar und vollzogen 137 . Die bekannten Scham-Phänomene machen die Zweideutigkeit sichtbar, gerade weil sie sich der Selbstkontrolle und bewussten Selbstdarstellung des Individuums als den Ermöglichungsbedingungen formgebender Verkörperung entziehen. Solche unkontrollierten Ausdrucksformen entlang den Bruchlinien des Selbst und all das, was getan wird, um sie zu vermeiden, zeigen die Zweideutigkeit statt sie zu überspielen (etwa in der vermeintlichen Statussicherheit oder vollständigen Rollenidentifikation) oder mit ihr zu spielen (z. B. in der Koketterie oder Selbstironie). Hier ist zu sehen und geradezu mit Händen zu greifen, wie der tödliche Ernst das Spiel würzt und die Brechungswirkung des ästhetischen Scheins ermöglicht. Denn hinter dem Schein, der sich in der Metapher der Maske verdichtet, die verhüllt und, wie die Mode, zugleich enthüllt, lauert der Kampf um Anerkennung und Sicherung der Würde. Seine Sublimierung in der Sphäre des ästhetischen Scheins bedeutet nicht, dass es nicht doch ein Kampf auf Leben und Tod ist 138 . Beschämt und bloßgestellt, gilt der Kampf als verloren. Deshalb kann man mit der Psychoanalyse in der tiefsten Schicht der Scham-Angst die Überzeugung von der eigenen Wertlosigkeit und Nichtswürdigkeit, vom eigenen Liebesunwert 139 sehen; und die Angst kann sich so sehr steigern, dass am Ende der Freitod droht. Entkörperung tritt ein, wo die Verkörperung an jene Grenzen stößt, die das Nichts und die Leere als Hintergrund sichtbar machen, vor dem das »Realitätsbild« 140 bzw. dessen irreale Übermalung sich abhebt, so in Erfahrungen des Geltungsverlusts, vor allem aber des Todes, die einen Umgang mit ihm erzwingen, wie er in den Ritualen und Mythen der Völker seinen Niederschlag gefunden hat. Die wirk137 Vgl. Simmel: Das individuelle Gesetz, 1987, S. 228; ders.: Die Koketterie, GA 14, 1996, S. 256–277, hier S. 274. 138 Vgl. auch in der Bibel die Geschichte von Kain und Abel (Genesis, 1 Mose 4, 4–8). 139 Vgl. Wurmser: Die Maske der Scham, 19983 , S. 150 ff. Auch für Norbert Elias (Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische Untersuchungen. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft – Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a. M. 1997) ist das Schamgefühl eine »Art von Angst« (S. 408), das Individuum fürchtet »Verlust der Liebe oder Achtung von Anderen« (S. 409). 140 Plessner: Die Frage nach der Conditio humana, VIII, S. 136–217, hier S. 210.

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liche Möglichkeit der Entkörperung und Nichtigung lauert hinter dem Spiel der Masken als zu bewältigender Ernst. 141 Da es der Bezug zum Anderen ist, der das Selbstsein ermöglicht und durch die der eigene Blick aufgrund der ›Passage durch die Aneignung des Blicks der Anderen‹ 142 selbstbewusst wird, kann ein Defizit oder Verlust dieser Bezugnahme zum Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit führen – die im Hintergrund gähnende Leere schiebt sich vor das kommunikativ erzeugte Realitätsbild, das nun seinerseits im Hintergrund verschwindet und nichtig wird, und die Irrealisierungssphäre, der ästhetische Schein löst sich auf –, letztlich zu dem Wunsch, lieber nicht zu sein als ein Nichts zu sein. Um dem zu entgehen, beansprucht der Mensch Geltung in der irrealen Sphäre, die ihm zur realen wird. Deren Schutz ist lebensnotwendig 143 . In der Sicherung dieser Sphäre liegt eine der wesentlichen Aufgaben der Ethik; und es ist das Ziel von Erniedrigung und Folter, den Zugang zu dieser Sphäre zu versperren. Exemplarisch ist darin wie in einem Brennglas eingefangen, dass es in den mitweltlich bzw. intersubjektiv konstituierten und die Sphäre der Mitwelt belebenden Artikulationsformen der menschlichen Lebendigkeit, auch wenn man es so nicht will und es in keiner Weise wahrhaben will, letzten Endes um Leben und Tod geht, was zugleich heißt, dass das Gestalten und Formen aus den Quellen der menschlichen Lebendigkeit heraus eine moralische Aufgabe ist. Sie erfüllt sich nicht primär im Moralisieren, sei es das der Argumentationen und Kalkulationen utilitaristischer oder anderweitiger Provenienz auf der Suche nach ethisch hieb- und stichfest begründbaren Entscheidungen oder das der Appelle mit oder ohne er141 Zum tödlichen Ernst hinter dem vermeintlich bloßen Spiel mit bestimmten Rollen vgl. die von Fjodor M. Dostojewski in dem Roman Die Dämonen (übers. v. E. K. Rahsin, Frankfurt a. M. 1992) geschaffene Figur des Nikolai Stawrogin, der ein Leben führt, in dem sein demütigender Spott und der entsprechende rücksichtslose Umgang mit den Menschen, die ihm unterlegen sind, u. a. den Tod eines jungen Mädchens bewirkt. Stawrogin versucht dann, sich von dieser Lebensweise und Haltung zu lösen, verwickelt sich aber weiter ungewollt in tödliche Verstrickungen, ausgelöst nicht zuletzt durch den Einfluss, den er mit seiner Machtdemonstration auf andere ausgeübt hat. – Der Ernst bietet die Möglichkeit des Abstands im Spiel zum Spiel, das Spiel den Abstand zum Ernst, beide Distanzierungen als Ausdruck der Freiheit in der Richtung auf eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck (Heautonomie). Damit ist das Wechselverhältnis von Schein und Wirklichkeit, Spiel und Ernst als gesteigerte Zweideutigkeit möglich. 142 Vgl. Seidler: Scham, in: Kühn, Raub, Titze (Hg.): Scham, 1997, S. 127–143, hier S. 140. 143 Vgl. Haucke: Ethos der Würde, 2003, S. 232 ff.

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hobenen Zeigefinger, sondern in Artikulationen einer Haltung und eines Ethos, wie sie einem Umgang voller Takt, Großmut und recht verstandener Nachsicht zugrunde liegen. Es ist eine Haltung, die, um die bloß vorübergehend abwesende und verdeckte Anwesenheit des Todes im Leben wissend, das Leben noch in den Tod hinein verlängert – als ob der Tod keine absolute Gewalt über das Leben habe und nicht die uneingeschränkte Macht, es zu beenden, sondern sogar der Tote noch lebendig und das heißt verletzlich und des Schutzes bedürftig sei. Erst diese Haltung ermöglicht es, der Verschränkung von Leben und Tod nicht bloß Tribut zollen zu müssen, sondern ihr lebendige und lebenswerte Formen abzuringen; nur mit diesem Ethos ist der Mensch der Hiatusgesetzlichkeit nicht bloß blind unterworfen, sondern verschafft ihr einen positiven, seiner Selbstbestimmbarkeit entsprechenden Ausdruck, indem er dokumentiert, dass die Verschränkung nicht einseitig, dass nicht nur der Tod im Leben ist, sondern auch das Leben im Tod. Da die Verschränkungen innerhalb der anthropologischen Struktur eine leiblich-reflexive Form haben, tendieren sie aber auch dazu, den Schwerpunkt im Ineinandergreifen zweier Größen einseitig zu verlagern, je nachdem, welche Position auf der oszillierenden Verbindung zwischen den polaren Größen eingenommen wird. Genau das wird mit dem Wort Haltung angezeigt. Die Haltung, die nicht nur einer der Seiten zuneigt und mit der der Mensch sich nicht bloß in der Tat einseitig, partikular und eindimensional wahrnimmt, sondern die dem Ganzen der menschlichen Lebendigkeit angemessen ist und sowohl deren Konkordanz mit der Welt als auch deren Akkordanz zu Geschmack und Atmosphäre im Selbst- und Weltbezug voll Rechnung trägt, indem sie das durch die Körperreaktion vermittelte Selbstgefühl der Scham bzw. Scheu und die durch die leibhaftige Mitweltlichkeit jedes Menschen vermittelte Selbstgeltungsoption der Würde aneinander bindet, ist die mit den obigen, vergleichsweise dürren Worten wiedergegebene des Taktes. 144 Dürr sind diese Worte im Vergleich zu den in Umfang und Inhalt kaum noch überschaubaren Erörterungen mora144 Vgl. dazu Breun: Takt (Auf den Begriff gebracht). In: Ethik & Unterricht 4/07, S. 52. Vgl. grundsätzlich zu einem Begriff der Moral außerhalb der festgefahrenen Gleise einer einseitig rationalistischen Sichtweise das Buch von Maria-Sybilla Lotter: Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral, Frankfurt a. M. 2012; angesichts der individuellen Verletzlichkeit benötigten wir ein »Alltagsvertrauen auf den Takt der Anderen« (S. 87); vgl. auch ebd. (S. 112) zu der Bedeutung des Taktes

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lischer, ethischer und metaethischer Fragen in der moralphilosophischen Literatur, dürr auch in Relation zu den gewaltigen Problemen und Fragen, die der technische und medizinische Fortschritt auch in ethischer Hinsicht mit sich gebracht haben. Dennoch: auch der Umgang damit muss sich immer daran messen lassen, von welcher Haltung er geprägt ist. Wo das Leben im Tod und damit eine religiös oder philosophisch gefärbte, aber nicht theoretisierend verabsolutierende, sondern ethisch-praktisch wirksame Orientierung am Transzendenten nicht irgendwie in den Blick kommt oder atmosphärisch wird und den moralischen Geschmack prägt, wo hauptsächlich die Fixierung auf den Tod im Leben die Atmosphäre durchwirkt, da spürt oder ahnt man zumindest einen Mangel, der sich zwar nur unter großen Mühen versprachlichen und zumal kaum in Diskurse überführen, aber doch nicht leichthin übertünchen lässt.

im Zusammenhang mit der jederzeit möglichen Demütigung und dem Lächerlichmachen. A

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VI. Die Leibessynthese von Leben und Tod

Das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung Das Paradigma der Entkörperung bzw. Entleiblichung ist der Tod. Wie der Leib den Körper braucht das Leben den Tod zum Widerlager. Und wie das Leibselbst aus der Sinngebung hervorgeht, das der Leib dem Körperstoff abringt, so erwächst die Lebendigkeit (des Selbst) aus den sinngebenden Akten, die den Widerstand des Todes überwinden, ohne ihn hinter sich lassen zu können, genauso wie auch das Selbst, auch wenn es sich noch so sehr ›vergeistigt‹, den Körper nicht beiseite legen kann. Der Leib nutzt das Material, das der Körper ihm liefert und dem er Bedeutung beilegt. Die Lebendigkeit nutzt das bloß Dinghafte, auf das der Tod alles, gerade auch das Selbst, reduziert, und legt ihm Bedeutung bei. Niemand ist lebendig, wenn er nicht zugleich ein Ding ist. Woraus sonst soll sich seine Lebendigkeit speisen, und wovon soll sie sich zugleich abheben? Was ist die Schwerelosigkeit der Tänzerin ohne die Schwere ihres bloßen Körpers, dem sie die Leichtigkeit der Bewegung, und d. h. ihre Lebendigkeit, entgegensetzt, indem sie ihn in der Bearbeitung zugleich überwindet? Was ist die kindlich-unschuldige Anmut ohne die Beschwernis des leidvollen Lebens, der sie ein lebendiges Gegenbild bietet, welches gerade aufgrund des scharfen Kontrastes zu Tränen zu rühren vermag? 1 Was ist die zeitvergessene Gestalt der lebendigen Hingabe an den Augenblick ohne die Vergänglichkeit, die in der Todesdrohung liegt (so dass man versucht, das supponierte ewige Leben nach dem irdischen Leben als Sieg über den Tod zu deuten); und umgekehrt dann auch:

Zu der Relation zwischen Schwere und Leichtigkeit vgl. Nietzsche, etwa das Fragment: »Indem ich emporstrebe wider meine Last, verjüngte ich mich: und gerade als ich härter wurde in mir, lernte ich auch noch die Anmuth« (Nachgelassene Fragmente 1882–1884. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 19882 , Bd. 10, Fragment 13 [3], S. 448).

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was sind Zeit und Vergänglichkeit ohne den Hintergrund der Ewigkeit des nunc stans, mit dessen Vorstellungsbild, um nicht zu sagen seiner Verankerung im Gemüt, wir das Werden und Vergehen allererst in ihrer Folgenschwere wahrnehmen können? 2 Was ist der echte Humor, der dem Tod seinen Stachel nimmt, ohne den Hintergrund des tiefen Ernstes, den die Unausweichlichkeit des Todes dem Leben verleiht? Was ist die symbolische Prägnanz aller Objektivationen des Lebens mit deren historisch gewachsenen und kulturell variabel gestalteten Lebendigkeit ohne das Gegenstück des Todes, der niemals symbolisch prägnant werden kann, 3 weil er weder als solcher wahrnehmbar noch darstellbar ist (es sei denn indirekt in unzulänglichen Analogien und symbolistischen Kunstwerken), der keine Geschichte hat, weil er sich nicht objektiviert (die kursierenden Geschichten des Todes sind Geschichten vom Umgang mit den Toten, von den Riten und mythischen oder religiösen Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod)? Denn der Körper, aus dem das Leben entwichen ist und der nicht wieder lebendig wird (jedenfalls nicht für unsere Anschauung), ist ja nicht der Tod selbst, sondern bloß die Materie, die sich nicht mehr sinnvoll artikuliert, so dass wir ihr keine Bedeutung mehr geben können (außer, in Erinnerung an den Lebenden, dass kein Leben mehr in ihr ist) und die ihrerseits, anders als im Bild der Scham, nicht mehr die Stelle des entleiblichten Selbst einnehmen kann. Andererseits, und dies dementierend: Gerade im Leichnam, und selbst in dem eines zu Lebzeiten verdorbenen und mit Ansehensverlust gestraften Menschen, sehen wir in der Regel eine Würde, die nicht angetastet werden darf. 4 Das Schänden 5 von Leichnamen gilt als Sakrileg und als eines der verächtlichsten Vergehen; die Unumgänglichkeit dieser Perspektive ist eine Konsequenz aus der Hiatusgesetzlichkeit. Diese hat zwar nicht den Status Zu dieser Relation vgl. Plessner: Über die Beziehung der Zeit zum Tode (1952), IX, S. 224–262, bes. S. 258 u. 262. 3 Vgl. Jankélévitch: Der Tod, 2005, S. 271: »Die gewisse Scham, die der Tod uns empfinden läßt, rührt größtenteils vom undenkbaren und unerzählbaren Charakter des letalen Augenblicks her.« 4 Vgl. dazu: Julia Glahn: Ob tot oder lebendig! Ein interaktionaler Menschenwürdebegriff, in: Dominik Groß, Julia Glahn, Brigitte Tag (Hg.): Die Leiche als Memento mori. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Tod und totem Körper, Frankfurt, New York 2010, S. 45–78, hier bes. S. 60 ff. 5 In dieser Bezeichnung steckt nicht zufällig das Wort ›Schande‹ (aidos bzw. aischyne). 2

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eines Naturgesetzes, aber es kommt ihr eine Präsenz zu wie der Luft beim Atmen und der Schwerkraft beim Stehen und Gehen. Man kann die Luft zeitweilig anhalten, ohne der Atmung ihre lebensnotwendige Bedeutung nehmen, der Schwerkraft mit technischen Mitteln entfliehen, ohne sie unwirksam machen zu können, und so auch im obigen Fall die Hiatusgesetzlichkeit aushebeln, aber nicht ohne ein entsprechendes Urteil und eine weitere, ablehnende oder verabscheuende, Reaktion notwendig herauszufordern, die das gestörte Gleichgewicht in der Verschränkung wieder herstellen und den Toten vor Übergriffen schützen möchte. Die Verschränkung strukturiert die Lebendigkeit, in ihr ist das Eine im Anderen, und das wird anschaulich darin, dass – zumindest beim Menschen – der Körper im Leib ist und umgekehrt, das Ding im Selbst und umgekehrt; so auch der Tod im Leben selbst und – hier zögert man zwar und ergänzt nicht ohne Weiteres: das Leben im Tod. Denn davon haben wir keine Anschauung, und auch die Anschauung vom Tod im Leben drängt sich nicht unmittelbar in den Vordergrund. Doch haben wir jene Anschauung zumindest indirekt, in einer abgeschatteten Form, 6 in der Scheu vor dem Leichnam, den wir nicht als Ding betrachten können, im Gefühl seiner Unantastbarkeit, und die Anschauung vom Tod im Leben näherungsweise im Phänomen der Scham. In ihm kommt die zumeist verborgene Aufeinanderbezogenheit von Verkörperung und Entkörperung zur Erscheinung. Eine solche Erscheinung, in welcher sich die Einheit von Todes- und Lebenserfahrung bekundet, ist nicht alltäglich und kann es nicht sein, da sie zum einen nur in den Extremformen der Scham offenbar wird und hier überdies zumeist bloß dem Kundigen (dem Psychiater, Forscher, Dichter); zum anderen ist es das Ereignis des Numinosen, in dem jene Relation von Leben und Tod, Geltung und Nichtigung, Macht und Ohnmacht mit Vehemenz zur Erscheinung kommt. Die plötzlich hereinbrechende Gewalt des Todes (der Plötzlichkeit und Augenblicklichkeit akuter Scham vergleichbar) hat alle Anzeichen des NuminoWie diese Abschattung funktioniert und wovon es eine Abschattung ist, das ist schwer zu ergründen, aber gerade das Thema der Religionen, insofern sie als Antwort auf die Sinnfrage ein Leben nach dem Tod vorstellig machen. Es ist letzten Endes auch das Thema der Philosophie, selbst wenn sie davon schweigt; und das Schweigen ist nicht die schlechteste Art und Weise, über das zu reden, wovon keine theoretische Erkenntnis möglich ist, obwohl es sich als Frage aufdrängt. Allerdings muss der Philosoph um dieses Schweigen wissen, sonst ist es das Zeichen bornierter Ignoranz.

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sen; denn sie ist – wie jede Macht oder unvergleichliche Größe, die uns als nichtig erscheinen lässt – abstoßend, schreckenerregend, ein tremendum, und wir suchen ihre Nähe, sie ist anziehend, ein fascinosum, d. h. »[…] der Tod [ist] fern und nah zugleich« 7 . Das Numinose zwingt beide Pole, aus deren Verschränkung sich jede mögliche Geltung im Verhältnis zum Risiko der Nichtigung speist, so zusammen, dass darin »äußerste Ferne und unvermittelte Nähe« 8 , in gewissem Sinne absolutes Fremdsein (gegenüber der überwältigenden Macht, deren der Mensch nicht habhaft werden kann) und absolute Identifikation (mit dieser Macht), eingeschlossen sind; daraus speist sich jenes ambivalente Gefühl der Fernnähe, das der exzentrischen Position des Menschen wesentlich eigen ist – der Position des Menschen in und gegenüber der Welt, zu den anderen und zu sich selbst, wie sie auch inmitten seines Selbstverhältnisses zum Tragen kommen muss: als der, etwa in der Krankheit, fremd gewordene eigene Körper, der einem zugleich so nahe treten kann, dass er Selbstekel auszulösen imstande ist 9 ; oder als das in der Scham fremd gewordene eigene Selbst, das einem, gerade weil es durch den Körper expressiv vertreten wird, so nahe kommt, dass man sich wieder mit ihm identifiziert und seine Konsistenz zu retten versucht, und sei es mit paradoxen Interventionen schamloser Art. Das Erlebnis des Numinosen ist gekennzeichnet durch das Zugleich von Abstoßung und Anziehung, einen wohligen Schauer des Schreckens und der Faszination, eine Mixtur, die allem zukommen kann, das nicht objektiv fassbar ist und sich dennoch mit unwiderstehlicher Macht in die Sinne und ins Bewusstsein drängt, so wie es die großen religiösen Protagonisten der Menschheitsgeschichte als Macht des Göttlichen erfahren haben, um davon zu künden, merkwürdigerweise aber auch so, wie es in bestimmten Empfindungen den morbidJankélévitch: Der Tod, 2005, S. 15; vgl. ebd.: der Tod ist »widernatürliche Natürlichkeit«. 8 Plessner: Die Frage nach der Conditio humana. VIII, S. 213. 9 Diese Position des Menschen wird von Plessner (Macht und menschliche Natur, V, S. 135–234) so beschrieben: »Physisch ist er sich ebenso nah – und fern, wie seine einheimischen Regionen der Lebendigkeit ihm nah – und fern sind. Er ist auch das, worin er sich nicht selbst ist […].« In die »Sphäre der dem Leben einheimischen Bedeutungen«, also des leiblichen Selbst, das sich vom Körper abhebt und ihm entgegensteht, ragt immer auch die »Identifikation seines Wesens mit dem Körper (als einem Anderen seiner selbst)« (S. 226); Macht und Ohnmacht, Selbst und Ding verschränken sich im Ineinander von Verkörperung und Entkörperung. 7

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prickelnden Eindruck von ekelhafter Abstoßung und ungewollter Anziehung hervorrufen kann. Aufgesucht werden, wie man etwas aufsucht – ein Ding, einen Ort, einen Menschen –, kann dies nicht, auch wenn die Gestaltung heiliger Räume, die liturgische Feier und das gemeinschaftliche Besinnen in Gebet und Gesang – und heute bestimmte Inszenierungen filmischer oder anderweitig künstlerischer Art, auch solche, die mit der zweifelhaften Anziehungskraft des Ekels 10 spielen – diese Wirkung entfalten sollen. Es stößt einem zu, es widerfährt, und gerade dann, wenn man gar nicht darauf eingestellt ist. 11 Für Cassirer war dies – in Gestalt des ursprünglichen Staunens – der grundlegende Affekt für den Anfang von Mythos und Religion, für die »Ur-Teilung« 12 in Heiliges und Profanes in Raum und Zeit, woraus sich alle weiteren Teilungen und Urteile bis hin zu den wissenschaftlichen ergeben. Auch dem Affekt der Scham muss dies formal zugesprochen werden: er widerfährt einem, er bringt das Selbst im VerhältVgl. dazu Aurel Kolnai: Der Ekel. In ders.: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindseliger Gefühle, Frankfurt a. M. 2007, S. 7–65, hier S. 52 f.: Die »›Anfechtung‹« des Ekelhaften ist »Einladung und Abschreckung, Lockung und Drohung zugleich«, und der entsprechende Gegenstand bedeutet »für das Subjekt zugleich Leben und Tod«. Das Angeregtwerden bei gleichzeitigem Angeekeltsein »beruht auf der Verwandtschaft des fühlenden Menschen selbst mit jenem todhaften Leben«. 11 Die Sinnstruktur solcher Widerfahrnisse ist in den letzten Jahren, insbesondere auch im Zusammenhang mit Fragen der Psychiatrie und Psychotherapie, in den Blick phänomenologischer Forschungen gerückt. Vgl. dazu Gondek, Klass, Tengelyi (Hg.): Phänomenologie der Sinnereignisse, 2011. Hier werden, in der Hauptsache von Husserl ausgehend (vgl. Husserliana, Bd. XI: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungsund Forschungsmanuskripten, 1918–1926, hg. v. Margot Fleischer, Den Haag 1966), im Unterschied zu aktiven, Sinn erzeugenden Synthesen solche Widerfahrnisse erörtert, die Sinn konstituieren. Damit wird der Begriff von Erfahrung von seiner Verengung auf empirische Daten und messbare Größen befreit (vgl. im selben Band Bernhard Waldenfels: Radikalisierte Erfahrung, S. 19–36). Über die phänomenologische Beschreibung hinaus gilt es, in kritisch-systematischem Zugriff wirkliche und mögliche Erfahrungen wie die der Scham in ihrer Relation zum Selbst- und Weltbewusstsein nachzuvollziehen, damit ihre mögliche konstitutive Rolle und ihren Ort in der anthropologischen Struktur wie umgekehrt diese selbst zu bestimmen. – Gernot Böhme (Ethik leiblicher Existenz. Frankfurt a. M. 2008) entwickelt, ausgehend von der Bestimmung des Leibes als »die Natur, die wir selbst sind« (S. 237, im Orig. kursiv) und die sich Widerfahrnissen ausgesetzt sieht, eine »Ethik des Pathischen« (188 ff.), die auf das rechte Verständnis und den souveränen (nicht: autonomen) Umgang mit Schmerz, Krankheit und Leid abzielt (vgl. auch Farideh Akashi-Böhme, ders.: Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen, München 2005). 12 Cassirer, PsF II, S. 90; zur Fernnähe des mysterium tremendum et fascinosum mit Bezug auf Rudolf Otto vgl. ebd., S. 99. 10

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Erlebte Verschränkung

nis zu sich in eine äußerste Ferne (weil das Fremde des bloßen Körpers sich ausbreitet, Macht über ›mich‹ gewinnt) und zugleich unvermittelte Nähe (weil ›ich‹ ›mir‹ gerade wegen dieser Entfremdung nahe komme wie sonst kaum jemals und mich aus der Ohnmacht heraus meiner selbst wieder bemächtigen kann). Insofern erfährt sich das Selbst, und zwar das von Scheler gemeinte individuelle Selbst überhaupt, das sich aber nur im lebendigen Selbst konkretisiert, als etwas Numinoses, Unergründliches. Denn wo es sich entzieht, ist es zugleich da und wird, einem Phantomglied gleich, schmerzlich gespürt.

Erlebte Verschränkung Die so erlebte Verschränkung ist ein Ineinander von gestaltender Formung und gestaltloser Nichtung, was die menschliche Lebendigkeit zu einer schwer zu lösenden Aufgabe macht, zu Vollzügen höchsten Risikos zwingt und an mannigfaltigen Gefährdungen entlang führt, die die körperleiblichen, seelischen und geistigen Dimensionen bedrohen können. Denn diese Verschränkung lässt auch den Tod als das, was das Leben nicht ist, ins Lebendige in einer Weise hineinragen, dass dieses in Gefahr kommt oder gar damit liebäugelt, sich ihm zu unterwerfen (in vielfältigen Modi der Monotonie und Depression), auszuliefern (in mangelndem eigenem Antrieb zur Überwindung des Widerlagers, das er ist), zu ergeben (im Suizid), seine Drohung zu verlagern und, um diese von sich selbst abzulenken, (in Gewalt, Folter und Tötungsdelikten) auf andere zu richten oder schlicht zu verschieben (in dauerberieselnder Unterhaltung, unablässiger Beschleunigung, allerlei Formen der Besinnungslosigkeit u. a. m.). Dass die gestaltlose Nichtheit des Todes im lebendigen Selbst ist und nur insofern überhaupt ist (wie die gegenständliche Form des wahrgenommenen Dings auch nur unter dieser Bedingung der Wahrnehmung ›ist‹) 13 , die Entkörperung in der Verkörperung also, verleiht dem Menschen in seiner Lebendigkeit ein hervorstechendes Merkmal: es geht ihm nicht immer und überall, koste es, was es wolle, ums Überleben, sondern er kann den Tod als Beendigung des Lebens (oder etwas dazu Äquivalentes wie den weitgehenden Rückzug aus dem sozialen Leben) bevorzugen, und zwar dann, wenn im Weiterleben die Konturen 13

Vgl. zu dieser Fassung der Hiatusgesetzlichkeit Plessner: Stufen, IV, S. 208. A

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des Leibselbst aus dessen (zumeist affektiv unterfütterten) Perspektive unwiederbringlich verwischen oder ausradiert werden. Das menschliche Individuum kann in einer Weise bloßgestellt werden, dass ihm keine Selbstdarstellung mehr möglich ist. Angesichts dieser verheerenden Krise für sein Selbst und Selbstverständnis kann es den Tod suchen. Das kann der eigene sein, aber auch der des anderen. 14 Denn in dieser Situation ist es eine psychologisch zwar naheliegende, aber hilflose und moralisch nicht akzeptierte Option, im Rahmen der Möglichkeiten, die aus der Mitwelt als der zu je gleicher Zeit zwischen Identifikation und scharfer Abgrenzung aufgespannten Sphäre der Reziprozität resultieren, die Konturierung des eigenen Selbst und das Selbstwertgefühl aus der Bloßstellung, Herabwürdigung oder Tötung anderer beziehen zu wollen, wenn man keine Alternativen für die Darstellung und Entwicklung des eigenen Selbst sieht oder wahrzunehmen in der Lage ist. Aus der unaufhebbaren Interdependenz zwischen Entkörperung und Verkörperung wird auch verständlich, dass wir im Toten doch mehr sehen als den anorganischen Körper, der bloß noch Materie ist – nämlich ein Bild der Würde und nicht nur der Dinglichkeit. Die bloße Sinnenhaftigkeit in der Erscheinung des toten Menschen zwingt dem Anblickenden doch eine Sinngebung auf; der Leichnam ist symbolisch prägnant: er zeigt im toten Körper die Würde des individuellen Selbst überhaupt. Gerade im Verlust konturiert sich der für Identifikationen offene Resonanzraum, den die Mitwelt für die wechselseitige Zueignung von Würde bietet. Die Reduktion auf den nicht mehr fungierenden und aktivierbaren Stoff macht anschaulich, was mit dem Wort von der Würde gemeint ist: das leiblich von Anfang an auf den Anderen angewiesene Bemühen um eine Vollständigkeit in und trotz der Gebrochenheit, eine vollkommene Ganzheit, die von der synthetischen Einheit des Körperleibs nahegelegt und zugleich unmöglich gemacht wird, so dass nur der ständige Vollzug im Zusammenspiel von Körper und Leib unter der Prämisse des Aufeinandereinspielens der Leiber – der Vollzug, der ja nur zu ›haben‹ ist im Szenischen 15 und Momentanen des Tuns, Erlebens und Erleidens, darin aber zugleich gerade nicht ›gehabt‹ werden kann, sondern eben performativ geleistet sein will – etwas entVgl. dazu Elias Canetti: Macht und Überleben. In ders.: Das Gewissen der Worte. Essays, Frankfurt a. M. 1989, S. 25–41. 15 Vgl. dazu Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. 14

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Realität (Sein) und Irrealisierung (Geltung)

halten kann, das die Rede von der Vollständigkeit, Ganzheit, Einheit zu legitimieren vermag, aber sogleich wieder verschwindet: jenes Gefühl des Einsseins von Selbst und Welt, das wir von der Mystik kennen, das (von Romain Rolland affirmativ, von Freud ironisierend) ›ozeanisch‹ genannt wurde und das den Kern des numinosen Erlebnisses ausmacht, auch den der ›Erleuchtung‹, ›Erlösung‹ und in glücklichen Momenten wie selbstverständlich daherkommenden ›Leichtigkeit des Seins‹, die ja deshalb ›unerträglich‹ sein mag 16 , weil in ihr die Schwere als Widerlager konstitutiv mit enthalten ist und vor allem dann in den Vordergrund drängt, wenn das Leichte organisiert werden soll. Der Tote symbolisiert die Unaufhebbarkeit der Gebrochenheit und zugleich das unendliche Bemühen um ihre Aufhebung in einer in sich ruhenden Einheit, ein Bemühen, das hier doch irgendwie an ein Ende zwar gebracht wurde, in das aber die Dauer als Ruhe einzugehen scheint, und nicht aus eigener Kraft, sondern nur unter der entscheidenden Einwirkung äußerer Gewalt, denn der Eintritt des Todes wird nicht vom Lebendigen, auch nicht im Suizid, hervorgebracht.

Realität (Sein) und Irrealisierung (Geltung) Das Organisationsprinzip des Numinosen ist folgenreich. Es fungiert bis hin zum Vorgang der Irrealisierung, deren Sphäre sich von der des Realen abhebt und in sie hinein verschränkt, so dass die Frage nach dem, was wirklich ist, offen bleibt. Das Ver-rückte spielt immer mit. Dennoch lässt sich von einer symbolischen Ordnung sprechen, die in einer Relation zum Realen steht. Wie Raum und Zeit folgt die Ordnung der Zahlen und Gegenstände zunächst der Differenz von Heiligem und Profanem, ja die spezifische Kennzeichnung eines Wahrgenommenen und Wahrzunehmenden als …, als etwas oder als dieses 17 erfolgt unter dem Banner dieser Differenz. Im Vorgang der symbolischen Prägnanz ist dies die allererste Unterscheidung, aus der heraus das Wahrgenommene sogleich Bedeutung erlangt. Die Dialektik zwischen Bild und Sinn verzweigt sich, wie bereits erörtert, in bestimmten Richtungen weiter und legt sich so aus, dass sich einerseits Realität entfalten, andererseits eine irrealisierte Geltungssphäre davon 16 17

Vgl. Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt a. M. 1987. Vgl. Plessner: Die Einheit der Sinne, III, S. 206. A

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ablösen kann, um sich in einer Weise in jene hinein zu drehen, dass daraus die Skulptur menschlichen Verhaltens zwischen Verkörperung und Entkörperung geformt wird. Das kann exemplarisch an Sprache, Mathematik, Kunst, Religion und Philosophie sowie Scham und Würde gezeigt werden. In der Sprache wird das magische Wort zum reinen Zeichen; in der Religion verwandeln sich Totem, Tabu, magisches Ritual zum einen Gott, zum Gebot und zur liturgischen Symbolik; in der Kunst gewinnt, umgekehrt, das Bild eine Autonomie gegenüber der Sinndeutung; in der Wissenschaft arbeitet die Mathematik mit reinen Symbolen. Immer handelt es sich um eine Ausdifferenzierung des ursprünglich Gleichgesetzten, Identischen, hin zu einer Synthesis des Verschiedenen, einer Verbindung von geradezu Widersprüchlichem, einer Identität im absoluten Anderssein. Diese Identität hat sich als Einheit von Setzung und Nichtung herausgestellt, eine Formung, die einer Irrealisierung in Gestalt bloßer, vom realen Dasein der Dinge, Gegenstände, Wahrnehmungsobjekte allmählich abgelöster Geltungen den Weg bahnt, jedoch zugleich damit den Zugang zum Realen ermöglicht, zu einer Wirklichkeit, aus welcher allerdings je nach der Dimension des Symbolischen ein je anderer Aspekt herausgehoben und offenbar wird. Das Symbol der Mathematik hat nichts mehr zu tun mit einem realen Gegenstand, und dennoch wird es von der Physik als der Lehre von den Körpern genutzt, um die Verhältnisse und kausalen Beziehungen zwischen den Körpern quantitativ zu bestimmen. Auch hat in der Kunst das Bild nichts mehr zu tun mit der Abbildung der Realität, und dennoch gewinnt der Betrachter Zugänge zur Wirklichkeit, die ihm außerhalb der Kunst verwehrt bleiben. Das gilt auch für die Sprachkunst. Die höchste sprachliche Verdichtung in der Poesie hat nichts mehr zu tun mit solchen sprachlichen Äußerungen, denen es auf möglichst exakte Wiedergabe des Realen ankommt – Feststellungen, Behauptungen, Aussagen –, und dennoch ermöglicht gerade die Poesie die Einsicht in realitätserschließende Wahrheiten, die der wissenschaftlichen wie der Alltagssprache verborgen bleiben. 18 Das Symbol der Religion versagt geradezu kläglich vor der AufSo kann ein Gedicht über ein Naturphänomen dessen Wirklichkeit ganz anders und in anderen Dimensionen erschließen als seine empirische Beobachtung und naturwissenschaftliche Beschreibung; das eine ist im Vergleich zum anderen nicht unwahr, auch

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gabe, die absolute Wirklichkeit fassbar zu machen – und kann deshalb so leicht lächerlich gemacht werden –, auf die es immerhin hinweist (die Macht der Götter, das Göttliche, das hinter dem Schleier der Maja verborgene Eine, oder Gott). Dennoch setzt es den Betrachter (den Gläubigen) in den Stand, mit dem atmosphärisch, rituell und sprachlich zwar unzulänglich symbolisierten Numinosen trotz dieses darstellerischen Defizits in Kontakt zu treten und seine Lebens- und Sterbenspraxis in einer Weise davon bestimmen zu lassen, dass er darin Sinn finden kann. Das Symbol der Philosophie hat sich vom realen Dasein so weit entfernt, dass die Alltagsuntauglichkeit und drohende Lächerlichkeit des Denkers geradezu sprichwörtlich geworden sind. Dennoch ist es gerade die Philosophie in ihren stärksten (systematischen, logischen, aphoristischen, metaphorischen u. a.) Ausprägungen, die das Sein des Wirklichen durchsichtig machen und den Blick auf das Ganze freilegen kann, wenngleich sich dieses auch dem Philosophen nur in perspektivischen Verzerrungen und in einem Reichtum von Aspekten darbietet, die allererst miteinander verknüpft werden müssen. Die Symbolik beider, von Religion wie Philosophie, richtet sich, mit je unterschiedlichen Mitteln und unter je anderen Voraussetzungen, auf das Ganze der Wirklichkeit, die Einheit des Seins und die Vollständigkeit in dem möglichen Verständnis und der intendierten Bestimmung des menschlichen Lebens. Im reflexiven Selbstbezug erhält dieses Ganze, Einheitliche, Vollständige seinen Index als numinoses Ereignis und Erleben, affektiv-moralisch prägt es den Selbstbezug und die mögliche Hermeneutik des Selbst zum einen in den vielfältigen Facetten von Scham und Scheu, zum anderen in Würde und Unantastbarkeit. Daran orientieren sich, je anders, sowohl Religion (auf der Basis von Demut und Glauben) als auch Philosophie (auf der Basis von Unabhängigkeitsstreben und Selbstbegründung), selbst wenn sie es nicht explizit thematisch werden lassen. Das skizzierte Verhältnis zwischen Sein und Geltung findet in Scham und Würde ihrerseits einen Widerhall. Im Leben des körperleiblich gebundenen Selbst wird die Symbolik der Scham zum reinen Zeichen des Selbstverlusts (in absoluter Ferne), aus dem der Selbstgewinn (in absoluter Nähe) hervorgehen kann – die Gewinnung einer

wenn dieses beweisbar und jenes ›nur‹ hermeneutisch nachvollziehbar ist. Vgl. dazu auch Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, GA 14, 1996, S. 38. A

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Wahrheit, die ohne die Möglichkeit der Scham nicht einmal geahnt werden könnte. Als Symbol des Selbst und seines Bewusstseins von sich hat die akute Scham nichts mehr zu tun mit etwas Realem; im Gegenteil verweist es auf die irreale Sphäre der Geltung (in der die Würde ihren Platz hat) bzw. des Mangels an Geltung, den das Schamsubjekt selbst spürt (»bitte trete mir nicht zu nahe« oder »ich bin nichts wert«) und gerade deshalb Würde beansprucht. Das Symbol der Scham ist ein Zeichen des Nichts, in dem das Selbst steht, weil es nur Geltung erlangt durch seine Darstellung vor sich und den Anderen, diese aber in der Scham akut getilgt ist. Dennoch erschließt sich dem Schamsubjekt gerade in dieser plötzlichen Nichtigung und Entleiblichung sein reales Sein – entweder wie es in seiner Schutzbedürftigkeit in Gefahr steht oder wie es von ihm verfehlt worden ist und wiedergewonnen werden kann. Zwar können auch hier Selbsttäuschungen vorkommen, aber das ist eben immer das Risiko, wenn ein sich selbst zugleich nahes und fernes Wesen agiert und erleidet.

Maske und Scham, Darstellung und Bloßstellung Ein Satz von Hans-Thies Lehmann trifft den expressiven Charakter der anthropologischen Struktur in der Spannung zwischen Sein und Geltung, Realisierung und Irrealisierung; er wird mit den Zwillingsbegriffen animal symbolicum und homo absconditus symbolisch prägnant: »Nicht viel fehlt, und die Maske könnte als Synonym der Scham gelten.« 19 Hierin liegt die paradoxe Pointe, die zu Ausdrucksformen zwingt, in welchen das Ineinander von Verkörperung und Entkörperung zur Deutlichkeit kommt: zu den vielfältigen Maskierungen, den Selbstdarstellungen in Rollen- und Maskenspielen, die man aus der Kultur- und Sozialgeschichte der Menschheit kennt, und zu den ebenso variantenreichen Schamanlässen und Beschämungsrisiken wie auch Schamvermeidungspraktiken und hybriden Schamlosigkeiten, welche letztlich allesamt der möglichen Bloßstellung entgegenwirken wollen. In dem Zugleichsein von Scham und Maske, homo absconditus und animal symbolicum, ist die Rätselfrage performativ zugespitzt und damit auch die mögliche Antwort nahegelegt. Sie muss mit der

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Lehmann: Das Welttheater der Scham, 1991, S. 824.

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Maske und Scham, Darstellung und Bloßstellung

Unhintergehbarkeit der Ausdrücklichkeit zusammenhängen, die doch zugleich der Hiatusgesetzlichkeit unterstellt ist. Die Frage nach dem Sinn von Selbst und Welt, der ursprünglichen Synthesis und ihrem Vollzug, zielt auf die Bedingungen dafür, dass Bloßstellung schlimmer sein kann als der Tod; dass die menschliche Selbstdarstellung als Ausdruck der Lebendigkeit, ob in Selbstbescheidung, Gelassenheit, Übertreibung oder Überheblichkeit, den gleichen oder einen höheren Grad an Notwendigkeit hat wie andere Bedürfnisse, sie gleichzeitig so schwierig ist und er sich selbst damit bloßstellen kann, zumal dann, wenn es ihm nicht gelingt zu verhehlen, wie wichtig ihm diese Darstellung ist; dass der Mensch in absichtsloser Ausdrücklichkeit seine Entkörperung erleben kann – und in absichtsvoll gestalteter Ausdrücklichkeit seine Verkörperung: im Schauspieler und als Schauspieler; dass sich ihm Lebenserfahrung und Todeserfahrung ineinander verknäueln; zuweilen führt das zu extremen Gemütszuständen und Verhaltensweisen, etwa, dass besonders empfindsame Gemüter lieber sterben möchten als sich auf einer Bühne zu präsentieren, andere wiederum die Nähe des Todes suchen, sei es des eigenen oder den anderer, um sich lebendig, ja unsterblich fühlen zu können. 20 Anhand einiger Beispiele und mit Bezug auf einige Gedanken Nietzsches lässt sich zeigen, wie animal symbolicum und homo absconditus miteinander verschmolzen sind, erstens unter dem leitenden Aspekt der Verkörperung, zweitens unter dem der Entkörperung. Erstens: Die Maske ist das Paradigma für die Verkörperung, nichts steht für den Akt des Verkörperns mehr als das Kenntlichmachen der symbolischen Relation des Körperleibs, zumal des Gesichts als seiner exponiertesten, das Selbst und seine Reflexivität zeigenden Form, durch Verdoppelung in der Maske. Sie zeigt (verkörpert) das Wesentliche des Menschen als animal symbolicum; zugleich verbirgt sie ihn (entkörpert ihn in seinem Selbstsein) und charakterisiert ihn so als homo absconditus. Nietzsches Denken kreist um die Frage nach der Relation zwischen dem, was sich zeigt, und dem, was sich verbirgt, bzw. zwischen dem, was durch Zeigen verborgen werden soll, und dem, was durch Verbergen, beabsichtigt oder unwillentlich, gezeigt wird: »Alles, was tief ist, liebt die Maske […]. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr Vgl. zu diesem Motiv des Tötens Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1996, bes. S. 267 ff.

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noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske […].« 21 Auch wenn sich über die Bedeutung von ›Tiefe‹ bei Nietzsche streiten lässt, steht seine Philosophie geradezu im Zeichen der Maske 22 und der Scham 23 als einer Form der Maskierung eines Lebewesens, das sich zurückhalten muss, um nicht Fehldeutungen und Missverständnissen ausgeliefert zu sein. Konsequenterweise hat er Dionysos zu seinem Leitstern gewählt. Das dionysische Fest stand im Zeichen der Maske; Bäume in den Wäldern, die Ort des Geschehens waren, wurden mit Masken geschmückt. In Dionysos war das Ekstatisch-Rauschhafte, das zur Unmittelbarkeit des Erlebens führt, ebenso verkörpert wie das Verhaltene: der Drang, mittels einer ›zweiten‹ und ›dritten Haut‹ das Unauslotbare des eigenen Daseins zu schützen, um es nicht durch äußerliche Fixierungen berechenbar zu machen und zu depotenzieren 24 . Mit der Hinwendung zur Figur des Dionysos und ihrer Maske als einer Oberfläche, auf der die Tiefe durchschimmert, wandte sich Nietzsche gegen die Oberflächlichkeit des üblich Gewordenen, die geheuchelte Moral des erhobenen Zeigefingers, die Flachheit bildungsbürgerlicher Ignoranz und positivistischer Wissenschaft. Nietzsche bezieht seine aphoristischen Reflexionen über die Vielschichtigkeit des Maskierens aber nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf die Philosophie. »Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Werke II, hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 19696 , Nr. 40, S. 603 f. 22 Vgl. Walter Kaufmann: Nietzsches Philosophie der Masken, in: Nietzsche-Studien Bd. 10/11, 1981/82, S. 111–129; Tobias Nikolaus Klass: Von Peitschen und Masken. Nietzsches Suche nach Strategien der Selbst-Anrührung, in: Alfred Schäfer, Michael Wimmer (Hg.): Masken und Maskierungen, Opladen 2000, S. 251–279. 23 Vgl. Marcus Planckh: Scham als Thema im Denken Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche-Studien, Bd. 27, 1998, S. 215–241. 24 Die »Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe«, heißt es bei Nietzsche (Nietzsche contra Wagner, Epilog. In: Werke II, hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 19696 , S. 1061); derselbe Satz findet sich im dritten Abschnitt der Vorrede zu: Die fröhliche Wissenschaft, ebd. S. 15. Vgl. zum Thema überhaupt Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Werke I, S. 7–134; Nietzsche bezeichnet hier das Dionysische als »Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur« (S. 28), also die Wiedergewinnung des Unmittelbaren, die sich in Musik, Rausch und Fest vollzieht. Nietzsche konnte an die Forschungen seines Freundes Erwin Rohde anschließen: Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Darmstadt, Wien 1991 (Reprogr. Nachdruck der 2. Aufl. 1898), zu Dionysos: Bd. 2, S. 1– 102. 21

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auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.« 25 Die Maske als Verdoppelung und wesentliches Merkmal des Gesichts, in dem sich das Selbst verdichtet – »Die beste Maske, die wir tragen, ist unser Gesicht« 26 –, wie auch der menschlichen Lebendigkeit in ihrer Selbstdarstellung entspricht der Verdoppelung des Lebens im philosophischen System. Dionysos ist der Gott, der durch Zerstückelung getötet und wiedergeboren wird: daraus geht die Idee von der ewigen Wiederkunft des Gleichen als Inbegriff der Lebensbejahung und Allegorie für das Leben im Tod hervor. Er kehrt aus der Unterwelt immer neu zurück, ist Symbol des Untergangs (repräsentiert im Tieropfer) wie des Aufgangs (dargestellt in der Phallusprozession) 27 : hier schließt der Gedanke vom Menschen als Todgeweihtem sowie als Brücke und Übergang zum Übermenschen an. Maske und Maskentanz zeigen sowohl die Todesstarre wie den ekstatischen Taumel spontaner und unzerstörbarer Lebendigkeit (den ›Enthusiasmus‹) 28 – das Ineinander von Leben und Tod bei absoluter Verschiedenheit. Dionysos ist verwandlungsfähig: mal Gott, mal Mensch, mal Tier, und doch immer derselbe 29 . Im Ritual der Frauen, das sie an der Maske vollziehen 30 , entsteht Dionysos jeweils

Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Werke II, Nr. 289, S. 752. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1882–1884 (Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 19882 , Bd. 10), Fragment 13 [3], S. 448. 27 Vgl. Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, Stuttgart 1994, S. 128–131, 175. Vgl. Heraklit, Fragment 15: »Denn wenn es nicht Dionysos wäre, dem sie die Prozession veranstalten und das Lied singen für das Schamglied (Phallos), so wär’s ein ganz schamloses Treiben. Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie da toben und ihr Lenaienfest feiern!« (Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Walther Kranz, 1. Bd., Zürich, Hildesheim 198918 , S. 154 f.). Dazu Kerényi: Dionysos, 1994, S. 150 f.: »Für Heraklit war diese Identität ein entscheidender Tatbestand, auf den er sich berufen konnte, da ihn alle kannten. Er stützte mit ihm seine eigene Philosophie von der Identität der Gegensätze.« 28 Griech. zoé, im Unterschied zu bios, der endlichen Lebendigkeit eines individuellen Lebewesens, vgl. Kerényi: Dionysos, 1994, S. 11–15. Der thiasos war die vor allem weibliche Gefolgschaft des Dionysos, in die der Gott des Weines rauschhaft hineinfuhr (enthousias-mos) und in deren Bewusstsein er sich ›implantierte‹ (vgl. Weihe 2004, S. 111 f.). 29 Vgl. Kerényi: Dionysos, 1994, S. 148: das Tieropfer war »[…] ein stellvertretendes Opfer, in jenem Zeichen der Identität von Gott, Mensch und Tier, das für die Dionysosreligion charakteristisch ist.« 30 Die Frauen sind die Ammen, die Dionysos dem Mythos zufolge umhegen, zugleich aber auch Mänaden, die den Bock an seiner Statt zerreißen. 25 26

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ein zweites Mal, »neu belebt«, »als Wiederholung seiner Selbst«. 31 Das Verfahren der Verdoppelung ist hier ein protophilosophisches 32 : es ist weder erkannt noch begrifflich gefasst, aber im kultischen Ritual gegenwärtig. Was hier an der Oberfläche gezeigt wird, ist die Selbstreflexion des Menschen in actu, ohne Begriff, aber im Erleben selbst 33 . Nietzsche überführt dieses Erleben in literarisch durchkomponierte philosophische Reflexion. Seine Tendenz führt aber zu einer vorschnellen Lösung des Rätsels im Gedanken des Übermenschen. Es ist nicht klar, wie hier der Tod irgendwie überwunden oder aufgehoben ist, um zur absoluten Bejahung des Lebens zu führen, auch nicht, wie gerade das Immergleiche dem Lebendigen zuträglich sein soll. Der Hiatus zwischen Ding und Selbst, Tod und Leben wird einfach übersprungen, seinem Ernst wird kaum Rechnung getragen. Die »Leere«, die zwischen ihnen »klafft« 34 , wird gefüllt, aber womit eigentlich? Lediglich mit den Ingredienzen bildhafter und erzählerischer Phantasie. Was aber mythisch und mythologisch, auch religiös, noch angehen mag, gilt nicht in gleicher Weise für die denkerische Selbstbesinnung und die Philosophie. Dennoch bleibt festzuhalten: der Sachverhalt, dass der Mensch wie ein Ding zerstückelt werden kann, hat nicht nur die griechischen Menschen umgetrieben. Das Gespür, dass der Körper einerseits seine Dinghaftigkeit gegenüber dem leiblichen Selbstsein behauptet und darunter auch leidet, andererseits für dieses in bestimmten Situationen eintritt und es gleichsam zu neuem Leben erweckt, veranschaulicht sich in der Geschichte, die man sich in vielen Varianten von Dionysos erzählt. Überdies zeigt sich hier der Mensch als das, was er ist, wenn er sich ein gestaltbares Verhalten gegenüber den Verhältnissen zu geben Kerényi: Dionysos, 1994, S. 180. Vgl. ebd., S. 149 f.: »Der Dionysosmythos sprach die Wirklichkeit der zoé aus, ihre Unzerstörbarkeit, die von der Seele als Realität empfunden wurde, und ihre eigentümliche, dialektische Verbundenheit mit dem Tode.« 32 Kerényi: Dionysos, 1994, S. 150, spricht von einer »vor-philosophischen Anschauung« im Hinblick auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und die Moralphilosophie. 33 Vgl. dazu ebd., S. 11: »Der Mensch war schon der Bearbeiter seiner Erfahrungen, ehe er ein Denker war.« Das universale Vorkommen der Maske ist das Paradigma für diesen Vorgang: zuerst anschauliche und symbolische Darstellung, dann Versprachlichung und Begrifflichkeit der (Selbst-)Erfahrung. Vgl. ebd., S. 215: »Man erfuhr Dionysos in sich […]«. – Vgl. zum ganzen Komplex der Artikulation von Selbsterfahrung in Kult und Mythos Walter F. Otto: Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt a. M. 19895 . 34 Plessner: Macht und menschliche Natur, V, S. 225. 31

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Maske und Scham, Darstellung und Bloßstellung

sucht, in denen er sich vorfindet: persona, d. h. Maske, Schauspieler, Rolle und eben Person35 – ein Selbst, das sich nur in seinen Rollen hat, wie hier, wenn es in die Rolle der mythischen Gestalt schlüpft oder in dem festlichen Geschehen mitspielt. Als Schauspieler verkörpert der Mensch sich selbst 36 , und so ist das Theater tatsächlich die Bühne der Welt, auf der das Rätsel des Menschlichen szenisch-spielerisch dargeboten wird. Zweitens: Die Scham ist das Paradigma für die Entkörperung, nichts steht mehr für das pathische Erleben des Entkörperns als der Affekt des Nicht-mehr-da-sein-Wollens oder am liebsten SterbenWollens in der akuten Scham. Sie zeigt das Wesentliche des Menschen als homo absconditus; zugleich verrät sie ihn in einer unwillentlichen Selbstoffenbarung und verkörpert ihn so als animal symbolicum. Einerseits ermöglicht die Scham das menschliche Leben in seiner Individualität, andererseits rückt sie es nahe an den Tod; sie ist mitunter schlimmer und stärker als dieser, da sie dem Individuum seine Selbstdarstellung aus der Hand nimmt, für die sie zugleich allererst den Raum schafft. Die Wesenseinheit von animal symbolicum und homo absconditus wird wiederum von Nietzsche in Worte gefasst: »Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durchs Leben rollte: die Freiheit seiner Scham will es so. […] Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mitteilung, will es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herumwandelt, und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehen, dass es trotzdem dort eine Maske von ihm gibt, – und dass es gut so ist.« 37 Weder kann der Mensch, solange er da ist, der Symbolträchtigkeit seiner Äußerungen, und sei es des Verschweigens durch Reden, entgehen noch der Scham, die ihn zwingt, sich zurückzuhalten Die Begriffe der persona und der Person sollen in diesem Zusammenhang nicht weiter erörtert werden, da dies zu umfangreich ausfallen müsste. Vgl. dazu neben Weihe 2004 auch Breun: Mensch, Maske, Moral – Bausteine für eine performative Ethik-Didaktik. In: Ethik & Unterricht 2/06, S. 23–38. 36 Vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, VII, S. 399–418. 37 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Werke II, hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 19696 , Nr. 40, S. 603 f. 35

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und nicht alles preiszugeben, selbst wenn er es wollte oder so tut, als ob er es wolle, und die ihn deshalb frei macht für eine Kunst der Expression, in der er seine Maske nicht vollständig imitierend übernimmt, sondern, in mimetischen Prozessen der Neuschöpfung, selbst gestaltet, um sich zu dem zu machen, was er ist: ein Wesen, das sinnstiftend wirkt – weil ihm als Folge seiner (scheuen, schamhaften) Distanz schaffenden Selbstzurücknahme eine Welt gegenübertritt. Sinnstiftend ›zieht er sie an sich‹ – sie kann ihn aber auch in einer Weise überwältigen, dass ihm alle Sinne vergehen und damit der Sinn.

Äußerung und Entäußerung in Gesicht und Sprache Im Schamaffekt ist der ganze Mensch in die selbstkritische Frage und in eine absolute Selbstreflexion hineingezogen, inmitten der Polarität von Subjekt-Objekt, Macht-Ohnmacht, Selbst-Anderer, IndividuellesAllgemeines, Befreiung-Verdinglichung, Selbstfindung-Entfremdung stehend. Der tiefe Fall in die Kluft zwischen den antagonistisch aufgespannten Feldern wird im akuten Schamaffekt sichtbar, und die Nichtigkeit und Bodenlosigkeit der menschlichen Position 38 , aus der letztendlich ihre Gestaltungsfreiheit erwächst, findet einen sinnlichen Ausdruck. Gerade weil man aus tiefer Scham am liebsten sterben möchte, wird mit ihr die Form der menschlichen Lebendigkeit, die im Hiatus zwischen Leben und Tod steht, in Erinnerung gerufen. Als Antwort auf das gestellte Rätsel muss sich der Mensch, sowohl der einzelne als auch der Mensch überhaupt, 39 ausdrücklich maVgl. dazu Plessner: Stufen, IV, S. 391: »Ortlos, zeitlos, ins Nichts gestellt schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden.« 39 Die philosophische Rede von »überhaupt«, zumal vom »Menschen überhaupt« gilt immer als verdächtig, weil dahinter unzulässige Verallgemeinerungen gewittert werden. Es bleibt aber eine Tatsache, dass der einzelne Mensch, gerade wenn man ihm eine unvergleichliche Individualität zugesteht, immer auch als ein Exemplar und Exempel des Menschen gesehen wird. Wir deuten eine Person vor dem Hintergrund unserer Vorstellung davon, was es heißt, ein Mensch zu sein und wie ein Mensch zu leben. Tötet man eine Fliege, gilt das nicht als Schaden für die »Fliegenheit«; tötet man aber einen Menschen, lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass man der Menschheit zu nahe getreten ist und sie irgendwie beschädigt hat. Und umgekehrt: wie sich die Menschheit präsentiert und als was sie zu gelten hat, hängt von der Darstellung jedes einzelnen Menschen ab. Auf diesen Zusammenhang wird im Hinblick auf den Tod noch einmal zurückzukommen sein. 38

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chen. Der unerbittlich fragenden Sphinx gegenüber 40 muss er sich stellen, er kommt nicht umhin zu antworten, d. h. er muss sich jederzeit künstlich-symbolisch prägnant machen in dem, was er ist. Er ist aber nur, insofern er als jemand gilt. Versagt er darin oder wird ihm die Geltung vorenthalten, zeigt sich auch noch das Nichts in der natürlichsymbolischen Prägnanz der Scham. Dieses Nichts ist aber auch Voraussetzung möglicher Freiheit in der Gewinnung und Gestaltung des ästhetischen Scheins, der die Sphäre des menschlichen Selbstseinkönnens umreißt. Dem Menschen muss es möglich und gestattet sein, sich zu maskieren, um selbst sein zu können. Das Selbst ist nicht das Ergebnis einer – vermeintlich klaren – Entschlossenheit, sondern der Prozess eines – vermeintlich vagen – nie endgültigen Ringens um die angemessene Darstellung. Für die Frage nach der Struktur des Menschseins muss in Rechnung gestellt werden, dass sie doppelbödig und zweideutig ist, gefährdet vor allem durch ein Verlangen nach Eindeutigkeit, sei sie technischer, ökonomischer oder ideologischer Art. Die Selbstdarstellung des Menschen ist nicht eitler Tand, auch wenn ihr Missbrauch als Selbstzweck nahe liegt und in der medialen Krise um sich greift, sondern notwendig für sein alltägliches Leben wie auch für das sakrale. Sie prägt die Kulturen von Grund auf und je verschieden, und sie muss gelernt werden. Im Zuge der Selbstdarstellung exponiert sich besonders das Gesicht. Da es zugleich zeigt und verbirgt, schützt und Kontakt aufnimmt – da es bestimmt, um im Unbestimmten zu lassen; unbestimmt bleibt, um bestimmen zu können –, muss es als Maske auftreten und, wiederum zugleich, die Maskierung als Enthüllung tarnen, aber umgekehrt kann gerade die Maskierung enthüllend wirken. Die Darstellungsfläche für die Maskierung und die Brechungsfläche für Affekte wie die Scham ist primär das Gesicht, worin die Individualität erscheint und sich ausprägt 41 ; so ist es das Zentrum der eigenen und fremden AufWer die Rätselfrage stellt, wissen wir nicht. Es genügt zu wissen, dass die Dinge so liegen, wie sie sich unserer Auffassung darbieten; ein Verstehen und Selbstverstehen ist nur möglich, wenn man das im Dunkel Liegende und der an naturwissenschaftlichen Methoden orientierten Forschung Unzugängliche als solche Rätselfrage fasst. Insofern ist es der Mensch selbst, der sich die Frage vorlegt. 41 Vgl. Simmel: Psychologie der Scham, 1992, S. 146; zur Bedeutung des Gesichts vgl. auch Plessner: Lachen und Weinen, VII, S. 250; ders.: Die Frage nach der Conditio humana (1961), VIII, S. 136–217, hier S. 180. 40

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merksamkeit 42 : es offenbart die individuelle Persönlichkeit und verhüllt sie zugleich mit den Mitteln des kontrollierten Ausdrucks. Außerdem ist das Gesicht der Ort des Blickkontakts, der das Sehen und Gesehenwerden vermittelt 43 . Das ist deshalb so wichtig, weil ich ja selbst mein eigenes Gesicht (und meinen Kopf) nicht sehe, sondern mit meinem Blick reziprok den Blick des Anderen zurückgebe, der seinerseits meinen Blick widerspiegelt. 44 All das mögen Ursachen für das mögliche Erröten gerade dieses Körperteils sein, der sich mir entzieht, obwohl er mich zugleich preisgibt, und der mich selbst präsentiert, ohne dass ich ihn vollständig der visuellen Kontrolle unterwerfen kann. Hier wird die Angewiesenheit auf den Anderen augenfällig. Es mag sein, dass es dem Menschen (zeitweise) gelingt, seine Maske(n) ohne Schaden in der Liebe abzulegen. Jedenfalls ist er ohne Maske schutzlos und verletzlich. Unter ihrem Schutz wird er zur öffentlich vorzeigbaren Figur mit klaren und gestaltbaren Konturen. Damit zieht er eine flexible Grenze mitten durch die Sphäre seiner Zweideutigkeit, zum einen um sich zu schützen und der Gefahr des Beschämtwerdens zu begegnen, zum andern, um, im Gegenzug und in Abhängigkeit von der Qualität dieses Schutzes, mit der zugleich die Qualität der ersehnten Anerkennung durch Andere steht und fällt, Selbst sein zu können dadurch, dass er sich Möglichkeiten offen halten kann, die er ohne Maske nicht mehr hätte: die Differenz zwischen Selbst und Rollendarstellung wäre dann eingeebnet. Die Maske des Gesichts, als Positiv der Darstellung und Geltung, hat ihre Hohlform in der Scham, als Negativ der Bloßstellung und Nichtigung. Irrealität (der Geltung) und Nichts (der Bodenlosigkeit) sind die zwei Seiten der Medaille, aus welchen sich das – jederzeit vernichtbare – Bild der Realität ergibt. Das Gesicht hat, paradoxerweise, beide Seiten der Unterscheidung an sich zu tragen: erstens das verkörpernde Moment der Maske in ihrer formbaren Plastizität (repräsentiert in der kontrollierten Mimik); zweitens das entkörpernde Moment der Kehrseite, die Scham in ihrer nicht gestaltbaren Formlosigkeit (repräsentiert im unkontrollierbaren Erröten oder Erbleichen). Im Gesicht

Vgl. Darwin: Ausdruck der Gemütsbewegungen, 2000, S. 364 f. Vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 19962 , S. 36. 44 Zu dieser »Reziprozität der Blickpunkte der Perspektive« vgl. Plessner: Zur Frage der Vergleichbarkeit tierischen und menschlichen Verhaltens (1956), VIII, S. 288. 42 43

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Äußerung und Entäußerung in Gesicht und Sprache

sind Maske und Scham, Verkörperung und Entkörperung, gar Leben (in lebhafter Mimik mit wachen Augen) und Tod (im erstarrten Antlitz mit erloschenem Blick), ohne sich endgültig aufheben zu können, dialektisch vereint (auch das kann sichtbar werden, z. B. in Formen der Blickvermeidung, Abwendung, Schüchternheit, Eitelkeit usw.), und zwar in der Regel so, dass sie sich abwechseln, zuweilen aber auch die Scham zur Maske werden kann, die sich vor die abgründige Verzweiflung über die eigene Nichtigkeit schiebt. Die Analogie in den jeweiligen Verhältnissen der Verdoppelung von Gesicht und Maske, Leben und System 45 lässt sich nun folgendermaßen formulieren. In ›seiner‹ Maske ist das Gesicht aufgehoben – insofern ist es formbar, ausdrucksstark, offen für vielerlei Darstellungen, anschmiegsam zumal hinsichtlich des momentan Erforderlichen –, aber gerade dadurch gewinnt es Konturen und macht sich zu dem, was es ist: Ausdruck der Individualität seines Trägers unter dem Aspekt des Präsentierens – für andere und für sich, d. h. in einer Rolle; und umgekehrt: das Individuum, sich exponierend im Gesicht, findet nur dann eine Bestätigung in seinem Rechtsanspruch auf Geltung im Dasein, wenn es sich in einer Verdoppelung darstellt. Es liegt auf der Hand, dass dies zu Missgriffen mit Schamanlässen, falschem Schein und Täuschung führen kann. In der Rolle muss das individuelle Selbst, die Person, durchscheinen können. Analog gilt: Im philosophischen System ist das Leben aufgehoben, aber gerade dadurch gewinnt es Konturen und macht sich zu dem, was es ist: Ausdruck einer tatsächlich unauslotbaren Tiefe, Realisierung von Sinn im Verkörpern; und umgekehrt: das philosophische System findet nur dann eine Bestätigung in seinem Rechtsanspruch auf das Gültige und Zutreffende seiner Auffassungen, wenn es in der Verdoppelung dem Selbstverstehen des Lebens dient sowohl bis in Einzelheiten hinein als auch in seiner so schwierig zu fassenden Ganzheit und Sinneinheit. Es liegt auch hier auf der Hand, dass dies zu Missgriffen, falschem Schein und Täuschung führen kann. In der Philosophie muss das Leben durchscheinen können. Die Missgriffe könnten zur Scham veranlassen, wenn man ›fähig‹ wäre, sich der Unzulänglichkeit der

Der Einfachheit halber ist im Folgenden von System als Gegenbegriff zu Leben die Rede, auch wenn damit der oben entwickelte Begriff der Systematik gemeint ist.

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Sprache zu schämen, mit der man versucht, dem Leben in seiner Lebendigkeit gerecht zu werden. Denn es ist ja gerade die Expressivität, und besonders wenn sie sich in die Formen der Sprache und des Sprechens kleidet, die von der Dialektik zwischen Sichtbarmachen und Erniedrigung durchzogen ist. Ein interessanter Beleg dafür findet sich bei Johann Georg Hamann, obgleich bei ihm eine vorgängige Körper-Geist-Spaltung vorausgesetzt ist, wenn er in einem Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. 8. 1759 schreibt: »Zwischen einer Idee unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht wird, ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde. Was für ein unbegreiflich Band verknüpft gleichwol diese so von einander entfernte[n] Dinge? Ist es nicht eine Erniedrigung unserer Gedanken, daß sie nicht anders gleichsam sichtbar werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen?« 46 Die Möglichkeit der Erniedrigung liegt, wie Hamann unterstellt, tatsächlich in jeder Äußerung überhaupt. Die (Selbst-)Darstellung bricht sich im leiblichen Medium des Ausdrucks: in Mimik, Gestik, Sprache. Auch hier macht sich die unaufhebbare antagonistische Dynamik geltend. Sie durchdringt die Sphäre des Selbst und bewirkt, dass jede Selbst-Entäußerung letztlich inadäquat und ungenügend ist. Wir gehen die Risiken der Beschämbarkeit, Peinlichkeit und Demütigung ein, gerade dann, wenn wir uns zeigen wollen, wie wir ›sind‹. Insbesondere mimisch und gestisch zeigen wir zuviel oder zuwenig oder beides zugleich. Und wie mit dem nichtsprachlichen Ausdruck können wir auch mit dem Wort scheitern. Der Ausdruck, das Wort geht ins Leere, findet sein Ziel nicht oder schießt über es hinaus, weil die Gewichte zwischen Geltungsdrang und Zurückhaltung falsch verlagert worden sind. Das macht uns beschämbar und, als Habitus, schüchtern. Der gelungene, Maß und Mitte findende Ausdruck verschafft uns Geltung. Das Gefühl des Stolzes, habitualisiert in der Eitelkeit, kann sich einstellen. Die Suche nach Maß und Mitte läuft auf die aktuelle Krise des dualen Modus zu.

Johann Georg Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel, Wiesbaden 1955, S. 393, Z. 31–37.

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Die Krise des dualen Modus als moralische Krise

Die Krise des dualen Modus als moralische Krise André Jolles hat darauf hingewiesen, dass die einfache Form des Rätsels immer auf den Agon um Leben und Tod verweist: »Ein aufgegebenes Rätsel nicht lösen können, heißt Untergang – ein Rätsel aufgeben, das keiner rät, heißt Leben. Gerade weil Tod und Leben hier von der Lösung des Rätsels abhängen, hat man diese Gruppen Halsrätsel oder Halslösungsrätsel genannt. Im Grunde aber sind alle Rätsel Halsrätsel, insoweit sie den Zwang in sich tragen, geraten zu werden. Es heißt, dass auf Hawai ehemals diejenigen, die ein Rätsel nicht lösten, in die Kochgrube geworfen und ihre Knochen als Siegestrophäen aufbewahrt wurden. […] Ob Examensrätsel, ob Gerichtsrätsel – wo das Rätsel seine tiefste Bedeutung erreicht, geht es an das Leben: sind unsre Knochen unser Einsatz.« 47 Das Rätsel, das mit dem menschlichen Leben in der Welt, der Reflexivität des individuellen Selbst und der Unermesslichkeit der Welt, ihrer Ambivalenz zwischen Diffusität und Ungreifbarkeit einerseits, Geordnetheit und Einheitlichkeit andererseits, gestellt ist, hat keine einfache Lösung. Aber wie jedes Rätsel enthält es eine Form der Antwort je nach der Art, in der es gestellt wird. Als Rätsel der Synthesis verlangt es eine der Form der Synthesis entsprechende Antwort, und das heißt eine die Verbindung stetig vollziehende Tätigkeit. Das ist mit dem Wort von der Lebendigkeit gemeint; der Mensch kann seine Lebendigkeit nicht ohne Reflexion vollziehen, die, zumindest latent, philosophisch-systematisch ist. Und wie jedes echte Rätsel ist es ein Halsrätsel, in dem, auch in der Philosophie, um der Lebendigkeit willen das Leben selbst eingesetzt werden muss, um nicht wehrlos dem Tod zu verfallen. Diese Konstellation macht den Menschen moralisch prägnant. 48 Denn seine expressive Fähigkeit und Performanz hängen entJolles: Einfache Formen,1999, S. 133. Christian Bermes (»Das Ausdrucksproblem greift tief in das Gebiet der Ethik ein …« Expressivität und Personalität bei Cassirer, in: Reto Luzius Fetz, Sebastian Ulrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«, Hamburg 2008, S. 117–133, hier S. 129) entwickelt (ebd.) den Begriff einer »ethischen Prägnanz« aus der Frage heraus: »Wer bin ich, der ich handeln kann?« und versucht, dieser Frage nachzugehen, indem er die »Philosophie der symbolischen Formen als eine Ethik« (ebd.) kennzeichnet. Insofern ist bei ihm, im Anschluss an Cassirer, von einer »expressiven Ethik« oder »Ethik der Selbst-Artikulation« (ebd.) die Rede. – Der Begriff der moralischen Prägnanz hebt darauf ab, dass es sich um eine Lebensform der Moral handelt, im Unterschied zu partikularen Formen ethi-

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wicklungs-, sozialpsychologisch und kulturhistorisch ab sowohl von der Resonanz der Anderen als auch vom angesammelten, verfügbaren kulturellen Kapital, auch wenn das dem Einzelnen um seiner Eigenständigkeit und Originalität willen nicht passt. Außerdem setzt er als ein Wesen, das sich gegenüber seinesgleichen ausdrücken und darstellen muss, um zu sein, ob bewusst oder unbewusst, ob berechnend oder ohne sie in Anspruch nehmen zu wollen, auf die Nachsicht und Großzügigkeit, mit welchen seine Expressionen aufgenommen, im Verstehensakt widergespiegelt und im kommunikativen Akt beantwortet werden. Seine Äußerungen leben vom Takt, der expressive Räume öffnet, oder sie versiegen ob des Mangels daran. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Bereits vorsprachlich (zwischenleiblich) und erst recht sprachlich (syntaktisch, semantisch) setzt die gemeinschaftliche symbolische Tätigkeit Normen und Maßstäbe zum einen sittlicher Art, zum anderen was die intersubjektive Kommunikation und ihre leiblich wie sprachlich vermittelte hierarchische Ordnung betrifft. So lässt es sich nicht vermeiden, dass sie mit Macht ausgestattet ist. Mit Inhalt und Form des Ausdrucks, der Zeichen, der Darstellung und Selbstdarstellung hat der Mensch Einfluss auf andere, sowohl in Sprachspielen des Befehlens, Gebietens und Verbietens als auch in solchen des Überredens, Einschmeichelns, Vorspiegelns u. v. m. Susanne K. Langer hat das thematisiert; dem Menschen gelinge es »[…] nicht nur, die Handlungen des andern einzuschränken, sondern auch solche herbeizuführen; nicht nur Einhalt zu tun, sondern auch positiv zu etwas zu zwingen. Das veranlasst den Schwächeren nicht bloß zum schüchternen Respektieren des Starken, sondern macht ihn zu seinem Diener.« 49 Das heißt aber auch, dass diese expressive Grundsituation den Menschen eben nicht bloß wie jedes Ding symbolisch, sondern moralisch prägnant macht. Denn der Einfluss und die Macht der Symbole lassen sich nicht lediglich mechanistisch-kausal, sondern scher Organisation eines kulturell je verschieden gestalteten Zusammenlebens unter der Führung bestimmter Institutionen. Die moralische Prägnanz resultiert aus der anthropologischen Grundstruktur und ist universal, die ethischen kulturellen Ordnungen sind relativ. Vgl. dazu den aufschlussreichen, aus der Struktur der exzentrischen Positionalität abgeleiteten Entwurf einer Moralphilosophie bei Anke Thyen: Moral und Anthropologie. Untersuchungen zur Lebensform ›Moral‹, Weilerswist 2007, bes. S. 20 ff. u. 327 ff. 49 Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. M., 1992, S. 281 f.

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nur moralisch, als wechselseitige Einwirkung von Personen, begreifen. Wenn es aber so ist, dann unterliegt der Gebrauch der Symbole nicht der instrumentellen und kausal wirkenden Verfügung Einzelner, sondern der freien Verfügung aller 50 – mit zwei Einschränkungen, die für die Freiheit typisch sind. Erstens kann sich auch der souveräne, flexible und gestaltende Umgang mit den symbolischen Formen nicht den Notwendigkeiten entziehen, die sich der Beschränkung unserer körperlich-sinnlichen Ausstattung schulden; statt dieser und den an sie gefesselten Symbolen die Herrschaft zu überlassen, kommt es allerdings darauf an, sich ihrer als das widerständige Material zu bedienen, mit dessen Widerspiel sich jedoch der Spielraum der Freiheit erweitert. Zweitens ist dieser Spielraum sowohl begrenzt als auch gestaltbar durch die Widerständigkeit der symbolischen Tätigkeit anderer. Jedes symbolische Tun bedeutet, dass jeder Einzelne nicht nur den Spielraum nutzt und mitgestaltet, sondern sich die Einzelnen jeweils aufeinander einspielen. Die Äußerung bricht sich nicht nur am Material der Zeichen, sondern auch an der Resonanz der anderen. Symbolische Formen sind ihrer Möglichkeit nach nicht subjektiver, sondern intersubjektiver Natur, auch wenn sie nur individualisiert, im Gespräch des Einzelnen mit sich selbst, verwendet werden. Insofern wird an dieser Stelle auch der Freiheitsbegriff symbolisch und moralisch prägnant. Kant hat es dabei belassen, die Freiheit als Rätsel stehen zu lassen und nicht weiter zu problematisieren, denn sein Ausgang von der Gesetzmäßigkeit lässt ein weiteres Zurückfragen hinter die Möglichkeit der Freiheit nicht zu. 51 Die Freiheit bleibt ebenso unbegreiflich wie die Lebendigkeit; immerhin begreifen wir ihre Unbegreiflichkeit, wenn wir bis zu dem Punkt gehen, an dem ihre Bestimmbarkeit nicht in der technischen, sondern in der moralischen Praxis einsichtig wird. Davon zeugt auch die Praxis des Herangehens an die Frage. Vgl. ebd., S. 284: »Die Gelegenheit zur Führung eines natürlichen, impulsiven, intelligenten Lebens, zur Verwirklichung von Plänen, die Möglichkeit, Ideen im Handeln oder in symbolischer Formulierung zum Ausdruck zu bringen, alles was uns begegnet zu sehen, zu hören und zu deuten ohne Angst vor Verwirrung, unsere Interessen und ihren Ausdruck in Einklang zu bringen – das ist die ›Freiheit‹, nach der die Menschheit strebt.« Negativ formuliert: »Jedes Fehlschlagen des symbolischen Prozesses beeinträchtigt unsere menschliche Freiheit« (ebd., S. 285). 51 Vgl. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 120 ff. (Werkausgabe Bd. VII, S. 96 ff.). 50

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Menschliche Lebendigkeit und Moralität sind unauflösbar aneinander gebunden. Als Problem lässt sich die Lebendigkeit nicht einmal in den Blick bekommen, geschweige denn verstehen. Problematisiert und in ihre Einzelteile zerlegt, stellt sich die Frage nach ihrer Einheit und Ganzheit, ihrem Sinn, gar nicht mehr. Chemische, physiologische, molekularbiologische und andere Bestandteile des Lebens mögen erforscht und kausal verknüpft werden können. Aber die Lebendigkeit und das Selbstverstehen werden dadurch nicht tangiert. Dennoch zeigt sich in jeder Tätigkeit und in jedem Leiden, mehr oder weniger deutlich, wie man sich selbst versteht und, mehr oder weniger überzeugend, die Rätselfrage zu beantworten sucht. Als Rätsel gestellt, wird eine Antwort erzwungen. Auch die Verweigerung, sich auf das Rätsel einzulassen, ist eine Antwort, und sie drückt sich aus in der Haltung dessen, der der Rätselfrage aus dem Weg geht. Die Behandlung philosophischer Fragen ausschließlich als analytisch zu bearbeitende und methodisch zu organisierende Forschungsfragen, gar noch in vorweg geplanten Projekten, ist ihrerseits eine Antwort auf das Rätsel der Synthesis und des Sinns, gerade auch, weil dieses Rätsel dann aus dem Horizont der legitimen Fragen ausgegliedert und an wiederkehrende mythische und okkulte Formen delegiert wird. Auch der um sich greifende Selbstdarstellungszwang, die Präsentation seiner selbst vor anderen um der Präsentation willen, ohne Bezug auf das gemeinsame Interesse an einer Sache, ist eine Antwort, immerhin eine solche, in der es im Kern um den Inhalt der Rätselfrage geht und um die Krise, in die sie jeden Befragten führt. Denn das Rätsel verlangt als Antwort irgendeine Äußerung und Darstellung. Mit der in sich und um sich selbst kreisenden Selbstdarstellung glaubt man das Rätsel gelöst zu haben. Die symbolische Prägnanz des schöpferischen Individuums wird mit der Symbolik von vermeintlich nachahmenswerten Typen verwechselt, die moralische Prägnanz mit dem medial prägnanten Auftritt. Die von Cassirer erörterten historischen Krisen und Anfänge in der kulturellen Tätigkeit des symbolischen Formens müssen ergänzt werden um die Krise des dualen Modus. Sie lässt sich aktuell an einigen Entwicklungen ablesen, die den Alltag und die Wissenschaft betreffen. Es ist offensichtlich, dass das Alltagsleben inzwischen von einer Medialität und Selbstdarstellung geprägt ist, die zum Selbstzweck geworden sind; das gilt aber auch, entgegen der propagierten Sachlichkeit des in Szene gesetzten prätendierten Forschungsethos, für einen nicht 188

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geringen Anteil des wissenschaftlichen Lebens mit der aus Marketingzwecken zur Übertreibung neigenden Darstellung von Forschungsvorhaben. Sachlich zeugt das Entstehen von Disziplinen wie der Medien-, Kommunikations- oder Bildwissenschaft vom Fraglichwerden des dualen Modus; das ist unter verschiedenen Titeln thematisch geworden. Das Wort vom iconic turn und die Rede von der Performativität drücken dieser Entwicklung lediglich einen Stempel auf. Auch die kaum noch überschaubare Anzahl von Veröffentlichungen und/oder Forschungsprojekten einerseits zum Begriff der Menschenwürde und ihrer möglichen (naturalistischen oder rechtsphilosophischen) Begründung, andererseits zur Thematik der Scham, ihrer transkulturellen Wurzel und/oder historischen Herkunft und Wandelbarkeit ist ein Indiz dafür, dass der sich um diese Krisis herum gruppierende Kreis von Fragen in den Mittelpunkt der (kultur-)wissenschaftlichen und philosophischen Selbstverständigung gelangt ist. Das Rätselhafte, das das Lebendigsein umgibt, ist damit selbst thematisch geworden. Die Krise des dualen Modus ist als Krise des Menschen und der Menschheit, im Sinne der Menschhaftigkeit (hominitas) wie der Menschlichkeit (humanitas), 52 eine moralische Krise. In ihr geht es um das Selbstverständnis des Menschen und die Grenzen wie Möglichkeiten der mit seinem Selbstbild korrelierenden Selbstbestimmung. Er kann sie nicht mehr bloß aus seinen Erfindungen, Eroberungen und technischen Fortschritten gewinnen; eine daraus abgeleitete Bestimmung des Menschen schränkt ihn auf das technisch Machbare ein und zeitigt entsprechende Folgen, die ex post ethischen Überlegungen und Abwägungen anheimgestellt werden, welche sich nicht selten wiederum den vorgängigen rationalen Kalkülen unterwerfen, was dann die Bestimmung des Menschen als technisch handhabbares Wesen bestätigt und verstärkt. Aber auch dieser Vorgang ist und bleibt moralisch beurteilbar und kann sich der Kritik, die sich aus anderen Quellen als der instrumentellen Rationalität speist, nicht entziehen. Auch ein technisch-praktisches Selbstverständnis hat moralische Bedeutung und muss sich der Kritik nach ethischen Maßstäben stellen; umgekehrt gilt das nicht. Daraus ergibt sich zwingend, dass Selbstbestimmung dem Vgl. zu dieser Unterscheidung Plessners Lexikon-Artikel: Anthropologie, philosophisch. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 19573 , Bd. 1, Sp. 410– 414; und in ders.: Politik – Anthropologie – Geschichte. Aufsätze und Vorträge, hg. von Salvatore Giammusso u. Hans-Ulrich Lessing, München 2001, S. 184–189.

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Menschen niemals technisch-praktisch, sondern immer nur moralischpraktisch möglich ist. Darin kommt seine unhintergehbare Rätselhaftigkeit zum Ausdruck. Je mehr der Mensch sich selbst zu bestimmen sucht, indem er sich und seine Welt zu einem grundsätzlich lösbaren technisch-praktischen Problem macht, um so mehr offenbart sich sein Rätselcharakter und verdunkelt sich das Rätsel.

Die Funktion des Philosophierens unter Einsatz des Lebens Das Rätsel, in dem die lebendige Existenz selbst thematisch wird, zwingt uns dazu, mehr noch als in den von Jolles erwähnten Rätselformen (in welchen es bei näherer Betrachtung aber auch um die Existenz geht), »unsere Knochen« hinzuhalten. Und so kann Plessner davon sprechen, dass ein Philosophieren, das sich den alten Rätselfragen nicht verweigert und diese nicht in methodisch handhabbare Probleme überführt, so dass sie zu ganz anders gearteten Fragen der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen werden, nur unter Einsatz des Lebens möglich ist 53 – und eben nicht bloß unter Gebrauch der Intelligenz oder der pragmatischen Fähigkeiten oder des wissenschaftlichen Denkens usw. In diesem Sinne schließt die Philosophie wie andere kulturelle Formen an agon und polemos an. Wenngleich Philosophie nach der Wahrheit sucht, d. h. um die ›richtige Bedeutung‹ und den ›wahren Sinn‹ kämpft, sind agon und polemos, aus denen ihre Formen hervorgehen und die sie weiterhin nicht verleugnen kann, zunächst einmal die Inbegriffe eines Kampfes auf Leben und Tod, der kulturell nach und nach zwar in nichtletale Formen sublimiert wird, ohne aber seinen Todesbezug ganz außer Kraft zu setzen. Jede Art von lebendiger Artikulation, gerade auch die des Ringens um Wahrheit, hat den Hiatus zwischen LeVgl. Plessner: Die Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang, I, S. 304 f.; ders.: Macht und menscliche Natur, V, S. 220, Anm. 21. Vgl. dazu auch ders.: Gibt es einen Fortschritt in der Philosophie? (1947), IX, S. 169–191, hier heißt es S. 175, dass die Philosophie dem vergleichbar sei, wie Menschen Erfahrungen machen. Das führe zur »Paradoxie einer Wissenschaft, die stets wieder beginnt und scheitert«. Sie entspringe den Spannungen, die die »durch nichts zu ersetzenden Begegnungen mit Menschen und Dingen, Traditionen und Ereignissen in der immer gleichen und doch stets neuen Situation eines Daseins im Angesicht des Todes […] liefern«. Gerade deshalb strebe das Denken, sich der Vergeblichkeit und Ausweglosigkeit entgegen stemmend, danach, »die Grenzen der ihm zugefallenen Situation in der Richtung auf das Ganze der Welt zu überwinden«.

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ben und Tod zu überwinden und damit ihrerseits das Risiko der Nichtigung in entkörpernden bzw. entleiblichenden Vorgängen zu tragen; und das bedeutet auch, dass sie sich in eine Sphäre der Geltung hineinrettet, die die Sphäre des Seins überlagert, einen Raum der Irrealisierung schafft, der in den der Realität hinein verschränkt ist wie auch umgekehrt. Der Kampf verlagert sich in den Streit um Geltungen, sei es der Argumente oder des Prestiges. Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, dass jede noch so subtile zivilisierte Auseinandersetzung wieder in Gewalt umschlagen kann, gerade dann, wenn der agonale Hintergrund nicht mit in Betracht gezogen und aufgrund der Blindheit gegenüber seiner unterschwelligen Dynamik nicht in bewusster Kultivierung in Rechnung gestellt, d. h. in eine ethisch reflektierte Haltung übernommen wird. 54 Davon lässt sich auch die wissenschaftliche Kultur nicht dispensieren, zumal sie ihre Leistungen nicht außerhalb des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens erbringt. Ein solches Umschlagen hat sich z. B. anfangs der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland ereignet, als die wissenschaftliche Auseinandersetzung in einen letalen Kampf übergegangen und von vielen ihrer Protagonisten für einen propagierten Kampf um die Selbstbehauptung ›deutschen Geistes‹ gegen das ›Undeutsche‹ (sprich: ›Jüdische‹) umgewidmet worden ist. Auch wenn dieses Motiv nur vorgeschoben sein mochte, ging es doch um den nackten Kampf auf Leben und Tod – um lukrative Positionen auf der einen, Exil, Lagerhaft und Vernichtung auf der anderen Seite. »Die Wissenschaft einschließlich der Philosophie ist ihrer Wesensart nach polemisch, und das Polemische ist vom Agonalen nicht zu scheiden. In Epochen, in denen große neue Dinge aufkommen, tritt der agonale Faktor meistens stark in den Vordergrund.« 55 Die »großen neuen Dinge« sind heute weltweit im Gange. Davon zeugt die Rede Byung-Chul Han (Typologie der Gewalt, Berlin 2011) weist die Gewaltförmigkeit in vielen Entwicklungen des modernen Lebens auf, die insbesondere mit dessen Medialität zu tun haben. Das Freund-Feind-Schema Schmitt’scher Prägung möchte er nicht durch eine Politik der Toleranz (die eine Politik der Identität sei), sondern durch eine Politik der Freundlichkeit (als »Ja zum So«) ersetzt wissen, in deren Bezugsraum der Andere rekonstruiert werden kann, statt diffus im Narzissmus des Leistungssubjekts aufzugehen. Das ist eine Möglichkeit der Kultivierung, bei der allerdings auch niemals das Gewaltrisiko vergessen werden darf. 55 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S. 172. 54

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von der Globalisierung, die mittlerweile, im Zeichen eines vielgestaltigen Kampfes um Ressourcen, auch zu einer geistigen Auseinandersetzung geworden ist, in der es wieder, mal mehr, mal weniger verborgen, um Leben und Tod geht. Leider ist das wörtlich zu nehmen, der Kampf hat sich keineswegs in nichtletale Medien verlagert; und es ist bezeichnend, dass zum einen um Formen der Darstellung des Menschen und der Selbstdarstellung des Individuums, seiner Präsentation vor anderen, seiner Identifikation mit bestimmten Typen und seiner Nachahmung von Idolen und Ikonen, von vermeintlich allgemein gültigen Menschenbildern, ›bis aufs Messer‹ gestritten wird, und dass zum anderen das quantitativ verstandene Gesehen- und Sichtbarwerden um jeden Preis, auch um den des Selbst- und Sinnverlusts, nicht nur in der Realität des gesellschaftlichen Lebens, sondern in der des virtuellen Raums, der zunehmend an die Stelle des ersteren tritt, das individuelle Selbstverständnis weithin zu bestimmen scheint. 56 Das wechselseitige Hineinragen von Verkörperung und Entkörperung ins Feld des jeweils anderen – die Einheit von Todes- und Lebenserfahrung von Beginn an –, gerade auch dann, wenn es um das je eigene Selbstverständnis geht, ist der letzte Grund dafür, dass es im Agon, dem zwischen Spiel und Ernst wogenden Wettkampf, nach Heraklit das Lebenselixier überhaupt, ursprünglich um Leben und Tod ging und weiterhin geht. Das archaische Paradigma überbordernder Lebendigkeit, in dem sich Leben und Tod so verschränken, dass es zum Erlebnis werden kann, und das in modernen Formen des Paroxysmus 57 immer wieder neu erprobt wird, ist das Fest des Dionysos, des Gottes, der ausschweifend lebt, sein Leben orgiastisch feiert, in grausamer Weise stirbt und doch wiedergeboren wird. Als Urbild der Verdoppelung der Lebendigkeit (in Maske und Transformation) hat es nicht zufällig weitere Kulturleistungen wie die Tragödie, den Chor, das Theater und am Ende auch die Philosophie motiviert. Die philosophischen Formen, die historisch vorzufinden sind – Sophistik, Dialog, Disputation bis hin zur wissenschaftlichen Polemik –, lassen sich im Anschluss an den Spielcharakter des kulturellen

56 Man zählt die followers im Internet, ›stellt seine Bilder ins Netz‹, sucht den schrillen Auftritt in den Massenmedien und prätendiert, als jemand zu gelten, der man ›in Wahrheit‹ nicht ist, oder etwas zu können, dem man nicht gewachsen ist. 57 Vgl. dazu Roger Caillois: Der Mensch und das Heilige, München, Wien 1988, bes. S. 217–220.

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Lebens mit agonalem Zuschnitt beschreiben. Die Philosophie, heißt es bei Huizinga, gehe »in ferner Vorzeit vom heiligen Rätselspiel und Redekampf aus, die dabei doch gleichzeitig die Funktion der Festbelustigung erfüllen. Nach der Seite des Geweihten entspringt hieraus die tiefe Theosophie und Philosophie der Upanishaden und der Vorsokratiker, nach der des Spielhaften der Betrieb der Sophisten. Vollkommen geschieden sind die beiden Sphären nicht.« 58 Huizinga stellt den Sophisten in eine Reihe mit anderen Figuren des kulturellen Lebens, die man nicht nur aus archaischer Zeit kennt, sondern die in leicht verwandelter Form immer wieder in unterschiedlichen Kulturkreisen, gerade auch in so genannten aufgeklärten, dem Rationalismus huldigenden Kulturen, in variantenreicher Maskierung auftauchen: Propheten, Schamanen, Seher, Wundertäter und Dichter. 59 Die allgemeine Bezeichnung, die Huizinga für alle diese Gestalten übernimmt, für die »Zentralfigur« 60 , die in mannigfaltiger Verkleidung wiederkehrt, lautet Vates. 61 Diese altgermanische und altrömische Figur ist »ein Besessener, ein von Gott Erfüllter, ein Rasender« 62 ; wiederum hat Dionysos dafür als Exempel zu gelten, dessen Kult um die Themen der Entkörperung und neuerlichen Verkörperung kreist: Tod, Wiedergeburt, Unsterblichkeit, Ekstase, Selbstverlust, Selbsttranszendenz. Was der Sophist mit der Figur des Vates gemeinsam hat, ist die »[…] Sucht, eine Aufführung zum besten zu geben, und die, einen Rivalen in offenem Kampf zu schlagen.« 63 Huizinga zufolge sind Inszenierung und Agon die »zwei großen Triebfedern des sozialen Spiels«; sie »liegen in der Funktion des Sophisten sichtbar an der OberHuizinga: Homo ludens, 1956, S. 166. Dass die beiden Sphären von Weihe und Betrieb nicht geschieden sind, gilt auch heute noch: die Sakralisierung hat sich in den akademischen Betrieb selbst hinein verlagert, der Aufstieg ist, wie in anderen Berufen zwar auch, mit Weihen verbunden, hier aber ist die höchste Position potenziell unangreifbar und genießt allerhöchste Reputation, ja einen Nimbus qua Profession, hierin dem Vates gleich. 59 Vgl. ebd., S. 161. 60 Ebd. 61 Das lateinische Wort vates ist verwandt mit irisch faith, Dichter; got. wods, wütend, besessen; ahd. wuot, Wut; es bedeutet 1. Weissager, Prophet, Seher und Seherin, 2. metaphorisch (der gottbegeisterte) Sänger, Dichter (vgl. Stowassers Lateinisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, Wien, Leipzig 19164 , S. 795, sowie Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 5, München 1979, Sp. 1146 f.). 62 Huizinga: Homo ludens, 1956, S. 134. 63 Ebd., S. 168. 58

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fläche.« 64 Sie lassen sich heute im extensiven Gebrauch von Argumenten wiederfinden, zumal dann, wenn nicht mehr oder nur noch Spezialisten nachvollziehbar ist, wozu und in welchem Sinne argumentiert wird; da geht es um die Aufführung und das Auskosten der Rivalität im Schärfen und Zücken der Schwerter, wenngleich das todbringende Metall durch die Schärfe des Arguments ersetzt wird. 65 Dieser Vorgang hat sich in der Geschichte des philosophischen Denkens mehrfach wiederholt und prägt die zeitgenössische Philosophie mit dem Sieg des Analytischen und Formal-Logischen. Huizinga findet ihn exemplarisch im antiken Griechenland: »Es ist nicht das einzige Mal gewesen, daß eine Epoche, die den Sinn der Dinge sucht, von einer anderen abgelöst wurde, die sich mit dem Wort und der Formel begnügte.« 66 Der Einsatz des Lebens für die Suche nach Wahrheit und Sinn 67 wird zum Einsatz des Intellekts im Streit um das logisch subtilste und formal stichhaltigste Argument, unangesehen der Sinnrichtung, die ursprünglich angezielt war. »In gewissem Sinn ist schon die agonale Absicht an sich, insofern sie auf Kosten des Wahrheitssinnes die Zügel schießen läßt, falsch.« 68 Sie ist genauso falsch wie die agonale Absicht im Hinblick auf die Selbstdarstellung. Die Krise des dualen Modus erweist sich in der Philosophie als Krise der Denkform, und auch dies ist eine moralische Krise. Sie zeigt sich in der Subtilität, mit welcher ethisch argumentiert und dabei der Boden der moralischen Haltung verlassen, die ursprüngliche Sinnrichtung verfehlt wird. Die Suche danach, was in einer bestimmten Situation und Konstellation dem Sinn der Moralität Ebd. Heute hat sich der Kampf der Philosophen akademisch zwar an der Oberfläche ins Argumentieren verlagert, aber er tobt sich recht eigentlich in der Gegnerschaft und Bekämpfung von unter der Oberfläche wirkenden Gruppen Gleichgesinnter aus sowie intern in diesen selbst, wenn es darum geht, Linientreue und Gefolgschaft auf der Basis der gemeinsamen Ideologie zu demonstrieren oder abzusprechen (auch wenn man die Rede von einer Ideologie empört von sich weisen würde, weil man sich auf dem tugendhaften Pfad der wissenschaftlichen Beweisbarkeit und logischen Stringenz wandeln sieht – ohne zu sehen, dass die Vorentscheidung für die unterschiedslose Anwendung naturwissenschaftlicher Verfahren auf alle Fragen auch von einer Ideologie bestimmt ist). 66 Huizinga: Homo ludens, 1956, S. 167. 67 Wohlgemerkt: Es geht bei diesem Einsatz nicht um Töten oder Getötetwerden, sondern darum, der Verschränkung von Leben und Tod den Sinn abzuringen, auf den die Rätselfrage nach der Synthesis zielt. 68 Ebd., S. 168. 64 65

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entspricht, wird überlagert von der Suche nach dem formal-logisch stringentesten Argument, auch wenn dieses dem moralischen Sinn widerspricht. (So z. B., wenn zur Erprobung der logischen Form moralisch-praktischer Urteile hieb- und stichfeste Gründe beigebracht werden, ein kleines Kind in einem Teich nicht vor dem Ertrinken retten zu müssen, weil dafür Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen wären. Die Flucht in Ausreden wird damit philosophisch legitimiert.) Der Sinn des Lebensrätsels erschließt sich aber nicht aus kalkulatorischen Übungen und Spiegelfechtereien, sondern kann, wenn überhaupt, nur in der Relation zum Tod und in einer aus dem Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Sinngebung resultierenden Auffassung dieses Verhältnisses schärfere Konturen bekommen; 69 der Sinn liegt in einer an ihrer moralischen Prägnanz stetig arbeitenden Lebendigkeit als Gegengewicht zu der Unausweichlichkeit, mit der die Gewalt des Todes hereinbricht (was immer er sonst noch sein mag). Und wo statt einer moralischen Haltung im oben erläuterten Sinne bloß das argumentative Können verfeinert wird, da schleicht sich der Tod ins Leben und verdunkelt es mit dem Grauton der Leblosigkeit, er hinterlässt seine Spuren u. a. in intellektueller Arroganz, Ausdruckslosigkeit, Berechnung, Verrechenbarkeit, Indolenz, gravitätischer Schwere und Humorlosigkeit, nicht zuletzt auch Langeweile.

Sinn und Zeit – die Dauer der Würde Der Mitvollzug und die Erweiterung der an die ursprüngliche Synthesis anschließenden philosophischen Systematik führen, ohne dass dies beabsichtigt oder vorhersehbar war, zu Bergsons Auffassung der Zeit als Dauer, die für das Lebendigsein wesentlich ist. Dieser Gedanke wird im Folgenden variiert und im Zuge des erkenntniskritisch-synthetischen Verfahrens in den moralisch-praktischen Rahmen der menschlichen Lebendigkeit gestellt – gleichsam als Nukleus des dualen Modus der Verkörperung bzw. Entkörperung.

Ein herausragendes Beispiel für eine Untersuchung, die, in klarer Unterscheidung von objektivistischen, naturwissenschaftlich gerichteten Methoden, solche Konturen herausarbeitet, ist die von Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin, Göttingen, Heidelberg 19562 .

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Die moralisch reflektierte Lebendigkeit ist getragen von einer Konkordanz zwischen Anschauung, Auffassung und Haltung, die aufgrund der Fundierungsleistung des dualen Modus die sinnlich-modal je verschiedenen kulturellen Aktivitäten und Passionen prägt; und die entsprechende moralische, im Leib zum Ausdruck kommende und das Bewusstseinsganze repräsentierende Haltung ist in einer Weise akkordant zum ›Stoff‹ des dualen Modus, dass sie dem, was diesen Stoff sinnlich spürbar werden lässt, nämlich dem leiblich präsenten Geschmack und der weltlich präsenten Atmosphäre, Textur und Tönung verleiht. Die intentionale Richtung sowohl des Leibes wie des Bewusstseins geht dahin, die ursprünglich-synthetische Einheit des Selbst in Korrelation zu seiner Welt lebendig zu machen, d. h. zu verkörpern und zu verleiblichen – in Expressionen, die es wert sind, nachgeahmt zu werden. Das kann u. a. ein Gedicht, ein Musikstück, ein Gemälde, eine Tat, ein Tanz oder eine Haltung sein. Darin liegt der Sinn von Kultur, denn das, was in dieser Hinsicht nicht nachahmenswert ist, geht zwar nicht sogleich verloren, etwa wenn es vorübergehend dem Machterwerb oder der Besitzmehrung dient, fällt aber langfristig dem Vergessen anheim, weil es weder zum Tradieren noch zum Erinnern taugt, und was bloß nachgeäfft worden war, hat keine Dauer. Sinn ist auf Dauer angelegt. Wir haben die Einheit, das Ganze unserer selbst und unserer Welt aber nicht auf Dauer. Aus der Perspektive des Habens bleibt es Fragment – bruchstückhaft und zerbrechlich. So ist auch das Selbstbewusstsein nicht das absolute Sein, denn das Bild menschlicher Ganzheit sowohl im Leben als auch in der Philosophie vollendet sich nicht im Absoluten. Stattdessen tritt dafür aus kritischer Sicht das Äquivalent der Moral im Zeichen der Würde ein. Darin manifestiert sich eine Art von Abschattung des Ganzen in der perspektivischen Krümmung, die der anthropologischen Struktur und der menschlichen Fassbarkeit eigen sind; nicht zuletzt resultiert daraus das Auseinanderbrechen des Ganzen in die Sphären des Realen (des Lebens und seiner Bedürftigkeit) und der Irrealisierung (in der normativ besetzten Sphäre künstlicher Formen und ihres Geltungsanspruchs). Die Denkfiguren des Deutschen Idealismus waren wesentlich von der Suche nach der rechten Auffassung des Selbstbewusstseins bestimmt. Einer seiner Initiatoren, Hölderlin, hat die Differenz zwischen Selbstbewusstsein und absolutem Sein klar gesehen. Das Selbstbewusstsein basiere auf dem »Urtheil« als der »Ur-Theilung« (»daß ich mich mir selbst entgegensetze«), das absolute Sein dagegen sei die 196

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»Vereinigung des Objects und Subjects […] schlechthin« 70 und als solche Inhalt der intellektuellen Anschauung. Diese aber haben wir nicht, es sei denn, man bezeichnet, wie Schelling, die Form des Anschauens, die der Kunst eigen ist, als solche. 71 Wiederum ist hier aus kritischer Sicht 72 eine Einschränkung zu machen: das absolute Sein kann uns bloß annähernd im Erlebnis des Numinosen gegenwärtig sein, so aber, dass das »Objekt« der Wahrnehmung das »Subjekt« (ähnlich wie beim Schamaffekt) überwältigt, das sich darin verlieren kann. Was ist der Sinn dieses Vorgangs, der so häufig in religiösen Schriften geschildert wird und der der Philosophie, der es ja eigentlich um das Ganze von Mensch und Welt geht, zu schaffen macht, so dass sie sich lieber auf eine analytisch ausgerichtete Wissenschaft reduziert, um den Schwierigkeiten der perspektivischen Krümmung aus dem Weg zu gehen? Das Subjekt erhascht im Überwältigtwerden durch das Numinose einen Zipfel des Transzendenten, das jenseits seiner Erkenntniskraft und praktischen Macht liegt – als etwas ihm völlig Fernes und Fremdes, an dessen überlegener Macht es teilhaben möchte. Das Numinose ist der Inbegriff für die Vorstellung und Anschauung vom Ganzen, von dem wir theoretisch nicht wissen, was es ist. Es kann, je nach dem gewählten Aspekt und der eingenommenen Perspektive, mit religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Bezeichnungen versehen werden: Gott, Universum, Kosmos, Welt, absolutes Sein … Ihm gegenüber haben wir Scheu, und gleichzeitig wollen wir mit ihm zu tun haben, sei es in anbetender Nähe, schauderndem Entzücken oder in distanznehmender Schau. In letzterem Fall wird es zum Logos, dessen wir uns, um unseres Selbstbewusstseins willen, zu bemächtigen suchen. Der Panlogismus stößt aber an die Grenzen des Unverfügbaren, das sich unseren Bemächtigungsversuchen in irgendeiner Form entgegenstellt. Das Numinose meldet sich in seinem Eigensinn zurück – in allerlei Widerfahrnissen, außerordentlichen Ereignissen, völlig Fremdem und Unverständlichem, dem Sinn sich Verweigerndem Friedrich Hölderlin: Urtheil und Seyn. In: Manfred Frank, Gerhard Kurz (Hg.): Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, Frankfurt a. M. 1975, S. 108 f. (im Orig. steht »Urtheil« kursiv). 71 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus, Hamburg 1957, bes. S. 281 ff. 72 Die kritische Sicht ist auch die Rudolf Ottos, der in Analogie zu Kant die religiösen Kategorien des Numinosen und Heiligen transzendentalkritisch zu bestimmen sucht, vgl. Otto: Das Heilige, 2004, bes. S. 137 ff. 70

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oder vermeintlich Sinnwidrigem, so dass es uns, statt Formen der Verkörperung zuzulassen, zu solchen der Entkörperung zwingt. So entsteht Raum für solche symbolische Formen, die dem Verhältnis des Menschen zum Numinosen auf indirekte – bildhafte, analogische und symbolische – Weise Ausdruck verschaffen möchten und sein Selbstbewusstsein auch inhaltlich prägen; symbolische Formen, die das thematisch machen, was eigentlich syntagmatisch aus dem dualen Modus hervorgeht und dessen ureigene Manifestation (spürbar insbesondere in Atmosphären) mit Gehalten füllt: vor allem Ritus, Religion, Theater, Kunst, Poesie, Philosophie. Sie sind die kulturellen Entsprechungen der Modi des Entkörperns und, insofern sie in Tätigkeiten übergehen, Verkörperungen der Entkörperung, Akte des Gestaltens im Umgang mit dem Numinosen, das sich in besonderer Weise abzeichnet in dem, was sich dem Leben als solchem entzieht: im Tod und im Über- oder Außerzeitlichen. Und werden wir nicht, wie im Augenblick des Todes, auch im akuten Schamaffekt aus der Zeit und aus der eigenen Lebendigkeit herauskatapultiert, wenn in der Plötzlichkeit absoluter Gegenwärtigkeit zugleich das uns in diesem Moment als zeitlos Geltende ins Bewusstsein dringt, das innerzeitlich versäumt oder verfehlt worden ist und das von unserer Seite aus nicht auf Dauer angelegt war? In diesem Augenblick scheint die Zeit stillzustehen und zu beharren, keine Bewegung hilft uns da heraus, weder Mimik noch Gestik stehen zur Verfügung, es ist, als ob das Überzeitliche, gekennzeichnet von stetig Bleibendem, in unser Empfinden einfließt, dem momentan alles Vergängliche außerhalb ist. Das Versäumte sitzt als Stachel im Fleisch so fest, dass er sich nicht mehr herausziehen lässt, das Verfehlte meldet sich, obwohl vergangen, in die Gegenwart zurück. Das, woran es mangelt – was dauerhaft sein soll, weil es ohne Dauer gar nicht sein kann – und wofür man sich nicht schämen muss, das Großartige, das uns Scheu empfinden lässt, drängt sich von sich aus und gegen unsere Absicht ins Bewusstsein und füllt es aus, obgleich dessen ansonsten unaufhaltsamer Strom wie eingefroren feststeckt. Es ist ein erstaunlicher Vorgang: das auf Dauer Ausgerichtete meldet seine Ansprüche an, indem es im Pathischen der tiefsten Scham den Lebens- oder Bewusstseinsstrom gleichsam aufstaut und, da es nur in einem fortwährenden Anderswerden und schöpferischen Tätigsein von Dauer sein kann – andernfalls wäre es eben dem gleich, was sich dem lebendigen Werden starrsinnig verweigert und dieses zu fixieren sucht –, sich selbst gegen diesen Stillstand wieder ins Spiel bringt. 198

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Auf die Sphäre der verkörperten Entkörperung richten sich Religion und Philosophie, selbst wenn letztere nicht (mehr) davon spricht, und gerade auch dann, wenn es um ein tieferes Verständnis von Werden und Vergehen, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit geht. 73 Religion und Philosophie sind die beiden kulturellen Leistungen, die aus den Konkordanzen und Akkordanzen des dualen Modus und der dieser Verkörperungsweise zugrundeliegenden Ausdruckswahrnehmung resultieren. Sie objektivieren das Atmosphärische und das Lebensgefühl (den Geschmack am Leben), von denen der Mensch in seiner Stellung in und gegenüber der Welt ergriffen wird, ohne sie vollständig im Gegenständlichen aufzulösen. Diese Leistung macht eine Sprache erforderlich, die nicht in der Funktion wissenschaftlichen, logischen und technologischen Sprechens aufgeht. So sieht sich jeder Anfang des Philosophierens (und je anders der religiösen Rede) der Schwierigkeit ausgesetzt, nicht nur die richtige Frage zu stellen und die Aufgabe zu formulieren, die dem Rätsel des Menschen und der Welt gerecht werden, sondern die dafür angemessene Sprache zu finden. In den historischen Anfängen hatte die Philosophie nicht selten, mit einer Nähe zu Theater und Inszenierung, die Form des Dialogs (Platon), des Lehrgedichts (Parmenides), des Gesprächs (Konfuzius) oder der Rede (Buddha), und so manches Mal hat sich das philosophische Denken in die Nische der Poesie gerettet (Hölderlin). Die verschiedenen Kunstformen haben eine je andere Nähe zu den verschiedenen Verkörperungsmodi (des Sehens, Hörens, der Zustandssinne). Die Kunstform, die dem dualen Modus wesentlich entspricht, ist das Theater; und der Schauspieler macht den Menschen als Menschen symbolisch prägnant, weil er, unter bewusstem und geübtem Man denke hier, wiederum, an Philosophen wie Dilthey und Bergson. Für Dilthey (vgl. Aufbau, 1981, S. 186 f.) ist eine der wesentlichen Kategorien der zwar zeitlich bestimmte, aber beharrende und in den kulturellen Produkten objektiv werdende Wirkungszusammenhang. Das Denken Bergsons ist von der rechten Anschauung und Auffassung der durée in einer Weise bestimmt, dass sich die philosophische Sprache dem anzuschmiegen hatte, wofür er 1927 den Literaturnobelpreis erhielt (vgl. Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Zürich 1967; dt. Erstauflage Jena 1912, übers. v. Gertrud Kantorowicz; vgl. ders.: Die philosophische Intuition (1911), in ders.: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Friedrich Kottje, Hamburg 2008, S. 126–148, wo es S. 148 heißt: Wenn wir es in der philosophischen Intuition schaffen, »alle Dinge sub specie durationis zu sehen«, wird »das Tote wieder lebendig werden in einer gleichsam galvanisierten Wahrnehmung«). 73

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Einsatz des Körpers und der Sprache, die Person in Rollen, das Selbst in seinen Masken verkörpert und so sehen lässt. 74 So ist es kein Zufall, dass das Theater zum einen aus dem heiligen Ritus als der ersten Stufe der Objektivierung der Ausdruckswahrnehmung entsteht (das lässt sich in ganz unterschiedlichen Kulturen wie etwa der griechischen, indischen, chinesischen oder japanischen zeigen 75 ); zum anderen fordert es, obwohl es doch um das Kenntlichmachen der Konturen eines Selbst geht, ebenso wie der Ritus und das rituelle Schauspiel die Identifikation mit dem Anderen (der Rollenfigur) bzw. dem ganz Anderen (des Numinosen oder Heiligen) heraus, d. h. es ist ein mimetischer Prozess, der rituell und beabsichtigt bis hin zur Selbstaufgabe in der Trance 76 oder theatralisch und unbeabsichtigt bis hin zu einem das eigene Selbst überwältigenden Rollenspiel 77 gehen kann. Hier macht sich der Hiatus zwischen Eigenem und Fremdem als Voraussetzung des Selbstverstehens im Umweg über das Andere oder den Anderen geltend, ein Prozess, der merkwürdigerweise nicht ohne Rücksicht auf das mögliche Scheitern im Selbstverlust gelingen kann, wie es gerade auch in der basalen Struktur der Schamhaftigkeit dokumentiert wird. Die archaischen Rituale, die Religion, das Theater in seinem Ursprung, die Philosophie – sie alle sind kulturelle Formen, die über das hinausgehen, was man mit dem Wort vom »nackten Leben« bezeichnen kann. Das nackte Leben hat nichts Rätselhaftes. Es ist Gegenstand der Biologie, und was das Leben von Gruppen und Gesellschaften betrifft, der Soziologie. Dem Leben geht es um das Weiterleben und Vgl. zur Beschreibung des Schauspielers als Menschendarsteller Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), VII, S. 88–104. 75 Vgl. dazu Margot Berthold: Weltgeschichte des Theaters, Stuttgart 1968, bes. S. 29 ff., 51 ff., 68 ff., 93 ff. »Das Theater ist ein Kunstwerk der Gesellschaft, der Gemeinschaft« (S. 93), d. h. der duale Modus verlangt und bedingt gerade solche kulturelle Formen, die eine Gestaltung des Verhältnisses zwischen dem Selbst und dem Anderen ermöglichen; es ersetzt dadurch die nackte Gewalt des Opfers und der Tötung des Anderen, um sich selbst als Selbst zu retten. Vgl. außerdem Verner Arpe: Bildgeschichte des Theaters. Köln 1962, bes. S. 9 ff., 40 ff., 47 ff., 60 ff. 76 Vgl. dazu Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt a. M., 1974: Schamanismus sei die »Technik der Ekstase« (S. 14) und »das klassische Mittel« dazu »der Tanz« (S. 421); vgl. auch ders.: Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit, Frankfurt a. M. 1985. 77 Vgl. exemplarisch Rainer Maria Rilke: Malte Laurids Brigge. In ders.: Lyrik und Prosa, Frankfurt a. M., Gütersloh o. J., S. 297–440, hier die Episode mit der Maske, S. 355– 358. 74

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Überleben. 78 Genügte das dem menschlichen Leben, dann hätten sich weder Rituale und Theater mit Gesang und Tanz noch Religion und Philosophie entwickelt. Sie stehen für jenen inneren Zug des Lebendigen, das es zu einem analytisch-wissenschaftlich unauflösbaren, ja unverständlichen Rätsel macht: es drängt hin zu einem Ganzwerden, das mehr ist als die Summe seiner Teile, einer Einheit, die anderes ist als das Ausmerzen der Vielheit oder die Vereinheitlichung von Verschiedenem. Plessner hatte das in Bezug auf die kritisch zu konstruierende philosophische Architektonik die »Synthesis hinsichtlich der Synthesis« 79 genannt, die nichts anderes zur Darstellung zu bringen sucht als die theoretisch unfassbare Lebendigkeit des Selbst. Deren Vollzug kann sich dem Hiatus zwischen Leben und Tod nicht entwinden; auch wenn dieser Hiatus sich als Verschränkung auf jeder Ebene des lebendigen Gestaltens je anders manifestiert, gelingt es nicht, ihn als Hintergrund, der sich immer wieder in den Vordergrund schiebt, vollständig auszublenden. Aus dieser Sachlage heraus sind die Riten und das Theater ursprünglich eng mit dem Totenkult verknüpft, von dem sie sich zwar emanzipiert haben, dem sie aber ihre lebendige Dynamik verdanken. Wie in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie 80 die vom Verurteilten zu beherzigende Norm mit Nadeln immer tiefer in den Körper eingeritzt wird, bis diese Folter tödlich endet, so zeichnet sich jener Hiatus in den Körperleib ein, als Bruchlinie zwischen Körper und Leib, die doch dasselbe sind und deshalb den Riss durch sich als Einheit hindurchgehen lassen müssen. Als Einheit in sich gebrochen, ist die menschliche Lebendigkeit, das lebendige Selbst, krisenhaft und wird immer wieder an den Anfang zurückgeworfen, um zuletzt doch tödlich zu enden. Was kann für ein solches Selbst und seine Welt von Dauer sein? Aus der Perspektive des Individuums ist der akute Schamaffekt das Zeichen der Krise und des Anfangs; er selbst ist der mögliche Anfang zum Vollziehen der Synthesis, zur Selbsterzeugung des Selbst als etwas einheitlich Ganzem, er fordert, im Durchgang durch den SelbstVgl. Burkhard Liebsch: Leben und Überleben. Hypervitalität und ästhetische Negativität bei Elias Canetti, Fernando Pessoa und Karl Heinz Bohrer, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 5/2011, H. 2, S. 424–443. 79 Plessner: Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (1918), I, S. 143–310, hier S. 234. 80 Franz Kafka: In der Strafkolonie, Frankfurt a. M. 1994 (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 151–177. 78

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entzug, zu Selbstbesinnung und Selbsterwerb auf. Er verweist zugleich darauf, worum es geht: die Lebendigkeit des Lebens dem Widerlager des Todes abzuringen, die Dauer der Vergänglichkeit. Andernfalls droht der Zerfall des Ganzen in seine Teile, ohne Verbindung, ohne Lebendigkeit, bloß noch mechanische Verknüpfung. Aus historischkultureller Perspektive sind es die Katastrophen, 81 vor allem die selbsterzeugten, 82 die eine existenzielle, letal gefärbte Krise anzeigen und einen Anfang erforderlich machen. Das ist der Haupteingang für das Philosophieren. Insofern ist Philosophie die Form der Besinnung auf das Selbst überhaupt angesichts seiner Entkörperung bzw. Entleiblichung in Scham und Tod. Wie sich das Leibselbst gerade im Selbstentzug des Sichschämens wiedergewinnen kann, so ist die tiefstliegende Quelle des Philosophierens (wie auch der religiösen Praxis) der Verlust des Leibselbst im Tod. Erfahren wird der Tod nicht aus der Perspektive der ersten Person, auch nicht in der der dritten Person, wo vom Tod dieses und jenes Menschen, den man vielleicht flüchtig gekannt oder von dem man gehört hat, die Rede ist. Aber jeder kann den Tod in der Perspektive der zweiten Person, am Verlust des nächsten, vertrauten Mitmenschen erfahren. 83 Denn der sterbende Mitmensch ist nicht das Man, sein Leichnam nicht irgendwer, »er ist ›Jedermann‹«. 84 Die symbolische Prägnanz des Mitmenschen in Sterben und Tod zeigt an, dass er »alle Anderen« 85 verkörpert. Deutlicher noch als im bloßen Leben repräsentiert der Einzelne, der stirbt und tot da liegt, die Menschheit, er steht für alle Glieder der Mitwelt. Wir identifizieren uns mit ihm. Gerade der Leichnam bietet eine Identifikationsfläche, auch im Sinne der Abgrenzung im Gedanken des Davongekommenseins (»Gottseidank hat es mich nicht erwischt« – als ob der andere an meiner Statt gestorben wäre). Eine den atmosphärisch sich ausbreitenden Raum der Mitwelt erschließende Wahrnehmung macht jeder, der sich seinen Sinnen Man denke hier etwa an eine Naturkatastrophe wie das Erdbeben von Lissabon, das im 18. Jahrhundert philosophisch debattiert worden ist. 82 Hier vor allem die mit dem Stichwort Auschwitz verknüpfte Shoah und die darauf folgende, auch philosophisch geführte Debatte. 83 Vgl. zu dieser perspektivischen Einteilung Jankélévitch: Der Tod, 2005, S. 34 ff. 84 Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes, Frankfurt a. M. 1973 (Neuausgabe des erstmals in Luzern 1937 erschienen Buches), S. 27. Vgl. die Rezeption des Buches bei Plessner: Über die Beziehung der Zeit zum Tode (1952), IX, S. 225–262. 85 Landsberg: Erfahrung des Todes, 1973, S. 27. 81

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nicht verweigert und dem entweder ›das Herz bricht‹ oder der ›zurückscheut‹ angesichts des aktuellen Abbruchs lebendigen Vollzugs – oder der sich gar als Überlebender fühlt und dabei seiner Macht gewärtig ist; denn gerade in diesem, Canetti zufolge häufigsten, nämlich allgemein menschlichen Fall gilt, dass die einzelnen Toten »für die ganze Menschheit« 86 stehen. Diese Repräsentation ist auf den ersten Blick merkwürdig, da doch das Reziprozitätsverhältnis zu dem augenscheinlich nicht mehr lebenden Menschen zu einem schroffen Ende gekommen zu sein scheint; sie resultiert aber aus der symbolischen Ordnung87 , die dem menschlichen Leben in seiner Verschränkung mit dem Tod eigen ist. Sie zeigt also an, wie das Leben doch in den Tod hinein verschränkt und im Tod ist, und wie nicht bloß umgekehrt der dem Bewusstsein zugänglichere (und philosophisch oft traktierte) Sachverhalt des Todes im Leben 88 als Konsequenz der Hiatusgesetzlichkeit und der Verschränkung in Betracht gezogen werden muss. Anders wäre diese Wahrnehmung des Toten nicht möglich, die ihn symbolisch prägnant macht als einen Teil, der das Ganze der Menschheit individuell repräsentiert. 89 Das gilt auch für die eigene prospektive Wahrnehmung als eines künftig Toten. »Der Tod, der mir vor Augen stand, war schrecklich. Aber viel schrecklicher als der Tod war die Furcht, als Toter verkannt erinnert zu werden.« 90 Das Bild, das die anderen von mir haben und das ich von mir selbst zeichne, wird als dauerhaft vorgestellt, und zwar so, dass es kein schiefes ist, sondern ein repräsentatives, eines, das nachgezeichnet werden kann und nicht (moralisch) verworfen werden muss. Wie der sich Schämende im Selbstentzug das Selbst repräsentiert, Elias Canetti: Macht und Überleben, 1989, S. 37. Auch Landsberg (Erfahrung des Todes, 1973, S. 27) spricht von »symbolischer Ordnung«, um die »innere Einheit von Notwendigkeit und Allgemeinheit« der Todeserfahrung spezifisch zu kennzeichnen. 88 Vgl. Jankélévitch: Der Tod, 2005, I. Kapitel des ersten Teils: Der Tod im Leben, S. 54 ff. 89 Dem Schauspieler kommt diese Repräsentationsleistung zu, weil er das durch den Hiatus sich öffnende Feld betritt, in dem sich Körper und Leib so voneinander trennen, dass er sich selbst zum Werkzeug seiner Darstellungskunst macht, ohne zugleich die Einheit des Körperleibs und damit sich selbst zu verlieren. 90 Charles Dickens: Große Erwartungen, übers. v. Melanie Walz, München 2011, S. 601. Das Zitierte ist ein Gedanke Pips, des Protagonisten der Romanerzählung, als er hilflos gefesselt die Ankündigung seiner kurz bevorstehenden, dann aber abgewendeten Ermordung entgegennehmen muss. 86 87

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und zwar in ganz konkreter Weise das Selbst überhaupt, so symbolisiert der Einzelne im Leben und im Tod ganz konkret die Menschheit, und zwar gerade dann, wenn er sich der Menschheit in seiner Person (Kant) zu entziehen versucht oder Maßnahmen im Gange sind, sie ihm zu entziehen. Deshalb kann eine äußerste Betroffenheit ausgelöst werden, zum einen, wenn man mit den Tätern moralisch verwerflicher ›Untaten‹ konfrontiert ist, etwa, um ein neueres Beispiel zu nehmen, dem norwegischen Massenmörder oder, ein in Qualität und Quantität hervorstechendes Beispiel, den Schergen der Judenverfolgung und Ermordung in Deutschland, zum anderen, wenn Menschen erniedrigt, gedemütigt und gefoltert werden. Sowohl der grausam und unmenschlich Agierende, der »Böse«, als auch der unschuldig Leidende, das »Opfer«, repräsentieren die Menschheit, ähnlich wie der Tote, paradoxerweise in klareren Konturen als andere Menschen, weil in ihnen, auf dem Hintergrund eines Verlusts an menschlicher Lebendigkeit, sprich: verloren gegangener oder abgesprochener Menschlichkeit, der Sinn des Menschen zur Deutlichkeit kommt – ganz analog zum Hervorbrechen des Sinns der menschlichen Lebendigkeit im Selbstverlust der Scham oder im Un-Sinn des Todes. Unter diesem Aspekt ist es bezeichnend und nicht verwunderlich, dass man gerade beim ›guten‹ Menschen nach Fehlern sucht. Das Wort vom ›Gutmenschen‹ ist zur Karikatur und zum Schimpfwort geworden, wohl deshalb, weil man, auch aus Erfahrung, der (vermeintlichen oder zur Schau gestellten) Vollkommenheit in der Darstellung der moralisch motivierten Ganzheit nicht traut. Die Fehlleistung oder Fehlform dagegen verweist in ihrer deutlich wahrnehmbaren Konturiertheit auf die mögliche und notwendige sinnvolle Ergänzung, so wie ein Gegenstand häufig erst als bestimmter in seinem funktionalen Sinn wahrgenommen wird, wenn ihm etwas fehlt, das ihn zu diesem Gegenstand macht; und wie dem Gegenstand dann seine Zweckhaftigkeit und Zweckdienlichkeit abhanden kommen, so kommt sowohl beim Täter als auch beim Opfer ein Defizit an Sinn zum Vorschein. Gerade aber aufgrund des Mangels liegt der Sinn vor Augen: beide, Täter und Opfer, verfehlen ihre Bestimmung, der eine aus eigener Schuld, das andere schuldlos. Der Täter ist seiner Menschheit nicht würdig, dem Opfer sollte die Würde entzogen werden. Aber sogar der Täter kann sein Opfer nicht außerhalb der Menschheit stellen, und es gelingt uns auch nicht mit dem Täter; noch die mögliche und historisch nicht seltene Schändung seines Leichnams zeugt, gerade weil sie abstoßend wirkt, von der Würde des Toten, andernfalls läge 204

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lediglich der Tatbestand einer Sachbeschädigung vor. Das folgt unmittelbar aus der Unhintergehbarkeit der moralischen Prägnanz. Sie impliziert notwendig das, »wozu sich der Mensch erst machen muss«: die Wahrnehmung einer Würde, die niemals bloß zeitlich begrenzt sein kann, sondern, als das, »was immer schon ist«, auf Dauer angelegt ist: das zeigt sich gerade dann, wenn sie in Wort oder Tat dementiert wird; in einem solchen Fall gelingt es kaum noch, ihren kontinuierlichen Sinn zu ignorieren, der sich in jeder Situation auf je andere Weise geltend machen kann. Allerdings braucht die Würde aufgrund ihrer Gefährdung durch die selbstbeschränkte menschliche Wahrnehmung einen Anwalt, der ihr auf dem spezialistisch ausdifferenzierten Feld der kulturellen Wertsphären und angesichts der Macht der Wissenschaften, der Technik und der Ökonomie einen Platz verschafft. Das ist die Aufgabe der Philosophie. Ihr kommt es zu, zur Verwirklichung des moralischen Sinns – in der doppelten Bedeutung des Wahrnehmenkönnens und der Sinngebung – beizutragen, indem sie das Selbstverständnis des Menschen vertieft und den Spielraum seines Verhaltens zwischen Scheu, Scham und Würde auslotet. Durch Symbolisierung und Verleiblichung löst sie das noch nicht Verstandene in seinem bloßen Dass auf. Sie hält das Denken und damit das Dasein in lebendiger Bewegung, holt es aus der drohenden Erstarrung heraus und artikuliert das, was der Lebendigkeit trotz aller Vergänglichkeit Dauer verleiht bis über das Leben hinaus bzw. in den Tod (das Gelebthaben oder Gestorbensein) hinein – wohlverstanden nicht in theoretischer, aber in praktischer Hinsicht. Denn die moralische Prägnanz wirkt nicht bloß in der je aktuellen Wahrnehmung, auch nicht bloß in einer projektierten Zukunft (sprachlich ausgedrückt im Futur des Präsensstamms – »ich werde dies und das tun«), sondern in einer bemerkenswerten zeitlichen Verquickung, die man als prospektive Retrospektivität (oder phänomenologisch als protentionale Retention mit potenziell endlos verschiebbaren Sinnhorizonten) bezeichnen kann (sprachlich ausgedrückt im Perfektstamm als Futur I Passiv – z. B.: »ich werde belehrt, geachtet, geliebt worden sein« – oder als Futur II Aktiv – z. B.: »ich werde gewesen sein, gearbeitet haben«) und in der die Zeitlichkeit des Lebens zumindest sprachlich als Dauer aufgefasst wird, die praktisch wirksam wird. Das ist ein für den Akt der Sinngebung entscheidendes, aber häufig übersehenes Moment der Wahrnehmungsprägnanz im dualen Verkörperungsmodus. Die Vorstellung davon, was zukünftig, auch in einer Zukunft ohne ›mich‹, zurückbleiben wird A

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von dem, was war, jetzt gerade ist oder sein wird, ist im philosophischen Denken marginalisiert; 91 das mag vor allem daran liegen, dass es sich inzwischen im Netz empiristischer, positivistischer und wissenschaftsmethodologischer Kategorien zu sehr verstrickt hat, um dazu Distanz nehmen und sich auf seine, von den Einzelwissenschaften unterschiedene, Aufgabe besinnen zu können. 92 Für die Selbstdeutung aber spielt jene Vorstellung eine nicht unbedeutende Rolle und geht wesentlich in die moralisch prägnante Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung ein. Auch wenn der Tote nicht mehr da ist, geht er mit dem, was ihn moralisch prägnant macht, und sei es als Molekül des Lebendigen noch so winzig, in das Leben der Menschheit ein. Das gilt für alle Toten. Die Menschheit stellt die Summe all dessen dar, was in ihren einzelnen Vertretern moralisch sinnvoll war, ist und sein wird, oder was im Vergleich damit fehlgeht. Das lässt sich zwar nicht bis ins letzte Detail mentalitäts- und sozialhistorisch sowie sozialpsychologisch nachweisen, durchtönt aber die je verschieden wahrnehmbaren individuellen, familiären, gruppenspezifischen, gesellschaftlichen und kulturellen Mentalitäten, das entsprechende Sozialverhalten und die moralische Einstellung. 93 Und was ist, wenn alle tot sein werden und keine Menschheit mehr ist? Hier stößt das Denken an die Grenze des menschlichen Erfahrungshorizonts. Spätestens an dieser Stelle ist die Neigung stark, die Sinnlosigkeit den Sinn, der mit der Wahrnehmung – und gerade Eine der Ausnahmen ist z. B. die von dem Bezug der Moral auf Temporalität ausgehende und in Vorlesungsmitschriften erhaltene Moralphilosophie von Vladimir Janekélévitch: Vorlesung über Moralphilosophie. Mitschriften aus den Jahren 1962–1963 an der Freien Universität zu Brüssel, hg. v. Françoise Schwab (aus dem Französischen von Jürgen Brakel), Wien 2006. 92 In genau dieser Hinsicht sagt Bergson (Schöpferische Entwicklung, 1967, S. 356): »Der Philosoph muß weiter gehen als der Forscher.« Er »wird sich so dazu bereiten, die reale Dauer dort aufzufinden, wo sie zu finden noch tiefer not tut: im Reich des Lebens und des Bewußtseins.« 93 Ein extremes mentalitäts- und sozialpsychologisches Beispiel erzählt der Film »Camp 14« von Marc Wiese (2012). Ein Nordkoreaner, der in einem der Straflager der Diktatur, die Sippenhaft praktiziert, geboren und aufgewachsen ist, kann als junger Mann fliehen und gelangt nach Südkorea. Trotz der furchtbaren und kaum fassbaren Erlebnisse (ein Lehrer tötet ein Mädchen, das fünf Weizenkörner an sich genommen hat, er selbst tötete schwangere Frauen, die er vergewaltigt hatte), sagt er am Ende: »›Ich möchte wieder zurückkehren nach Nordkorea. In meine Heimat. In ein Arbeitslager für Gefangene. Ich möchte dort in meiner Heimat leben, wo ich geboren wurde.‹« (vgl. Jan Knobloch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 262, 09. 11. 2012, S. 34). 91

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auch in der des Widersinns und Unsinns – aufscheint, verdrängen zu lassen. Aber man muss auch hier konsequent im Rahmen des Konformitätssystems von Sinnlichkeit und Sinngebung bleiben. So wie der Sehstrahl die Geometrie und ihre Ordnung in Naturwissenschaft und Technik vorzeichnet, die Töne die Musik und ihre Ordnung in Bewegung und Tanz konturieren, so durchwirkt das Atmosphärische die religiöse oder philosophische Selbstauffassung und ihre Ordnung im Ganzen von Mensch und Welt, und dieses Atmosphärische hat gerade dann, wenn man bis an die Grenzen geht, bis hin zum Unerkennbaren und Unvordenklichen, die Merkmale des Numinosen und Erhabenen. Es senkt sich auf das Antlitz selbst noch des toten Schurken und zeigt sich in der perspektivischen Brechung der Würde, und auf Gesicht und Leib des Lebenden, der sich verfehlt hat (oder verfehlt zu haben glaubt), legt es sich in der Brechung der Scham, und beide Brechungen verweisen auf die Unantastbarkeit des menschlich Lebendigen, das in einer Relation zum Numinosen steht, sich darin aber oft genug selbst missversteht. Das kontinuierliche Wirken für eine philosophische Atmosphäre in diesem Sinne ist eine wesentliche Voraussetzung für die kulturelle Sublimierung von Gewalt und Töten um der Vergewisserung der eigenen Lebendigkeit willen in produktiven und die individuellen Fähigkeiten fördernden Formen der Machtausübung und der Selbstgewinnung. Dennoch lässt sich die Bindung an den Körper nicht aufheben, und damit auch nicht Leid, Elend und Tod. Auf seinem Weg hat der Mensch durch seine eigene Hand Leichenberge hinterlassen, und er produziert unablässig weitere. Das ist das stärkste Zeichen für die Anwesenheit des Todes im Leben und die selbstverschuldete Beschränkung der menschlichen Lebendigkeit. Doch im menschlichen Leben geht es auf andere Weise um Leben und Tod als sonst in der Natur. Tiere kämpfen ums Überleben, der Stärkere behauptet sich; dafür setzen sie im Kampf ihr Leben aufs Spiel und müssen nicht selten als Individuen sterben, damit die Gattung fortlebt. Der Mensch setzt sich zwar auch für das Weiterleben ein, aber nicht um des nackten Lebens willen. 94 Er schafft sich kulturelle Äquivalente der Lebendigkeit, nicht um diese zu verdinglichen, sondern um sie zu meistern. Agon, polemos und Theater, auf einer anderen Ebene Religion und Philosophie, sind Formen des Umgangs mit dem Widerlager von Dunkelheit und Un94

Vgl. Liebsch: Leben und Überleben, 2011, S. 424 f. A

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durchsichtigkeit, an dem sich das menschliche Leben abzuarbeiten hat, um lebendig werden zu können, als was es sich selbst zunächst in Kampf und Streit, dann in Spiel und Schauspiel, Gesang und Tanz, schließlich auch im Sprechen und Denken erlebt, allerdings nicht im berechnenden und zweckrationalen Räsonnieren. Der Mensch wagt den Einsatz des Lebens für die Suche nach Wahrheit und Sinn, im Dienste der auf Dauer angelegten Aufgabe der Verkörperung seiner selbst: sich zu dem zu machen, was er immer schon ist, um damit als Einzelner die Menschheit zu repräsentieren – als der eine Mensch zu gelten, der jeder ist. So ändern agon und polemos nach und nach ihre Richtung. Kampf und Streit zielen dann nicht mehr auf Rivalität und Sieg über einen Konkurrenten, sondern auf Entdeckung der Wahrheit und Vertiefung des Sinns, der uns im Tod des Anderen zwar nicht optisch oder akustisch, aber gemäß den Konstellationen des dualen Modus atmosphärisch zugänglich ist, im Bild der Würde, das selbst noch der Leichnam darbietet und so, immer noch im Konformitätssystem von Sinnlichkeit und Sinngebung verbleibend, auf eine Dauer inmitten der Vergänglichkeit verweist, eine Dauer des »Immer schon« ohne Anfang und Ende, denn die Würde kennt keinen Zeitpunkt, an dem sie da, noch nicht da oder nicht mehr da ist. Auch und gerade wenn sie abgesprochen oder geleugnet wird, lässt sie sich in ihrer Wirksamkeit zeitlich nicht begrenzen und leitet die moralisch prägnante Wahrnehmung selbst desjenigen, der absichtlich versucht, die Würde mit Füßen zu treten; dieser kann sich seines ›Erfolgs‹ nur dann vermeintlich triumphal versichern, wenn er weiterhin zugleich die verletzte Würde wahrnimmt. Ebenso übrigens kann die Zeit selbst vergeudet und totgeschlagen, aber in ihrer Wirkung nicht aufgehoben werden und leitet unanfechtbar die sensomotorische Ordnung. Bergson hatte zurecht darauf hingewiesen, dass die Zeit gerade nicht quantitativ und vergegenständlichend in Analogie zum Raum verstanden werden darf, wenn man ihr auf die Spur kommen möchte, sondern als Dauer gefasst werden muss, die sich für die menschliche Wahrnehmung im Werden dokumentiert. 95 Ins Werden geht die Zeit als Dauer perspektivisch ein. So ist es auch mit der Würde. Sie lässt sich nicht vergegenständlichen oder quantifizieren, sondern ist die Dauer im Werden des Menschen (»was er immer schon ist«) zum Menschen Vgl. Bergson: Schöpferische Entwicklung, 1967, S. 313: »Wer sich im Werden niederläßt, dem erscheint die Dauer als das eigene Leben der Dinge, als die Grund-Realität.«

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(»wozu er sich erst machen muss«). Sie gibt ihm ein Rückgrat. Unanfechtbar und unantastbar wie die Dauer der Zeit, verleiht die Würde dem Werden des Menschen Stetigkeit, weil sie es stabilisiert, indem sie sich über die geschichtlichen Zeiten hinweg und die kulturellen Räume übergreifend mit einer hartnäckigen Festigkeit gegen die dinghafte und tödlich verletzbare Körperlichkeit wendet, sich gegen dieses Widerlager stemmt, das sie braucht, um sich gerade zu halten, und den vielen Risiken begegnet, denen sich seine von internen Brüchen und von allerlei Verschränkungen durchzogene Existenz ausgesetzt sieht. 96 Der Mensch hat seiner Gebrochenheit kaum mehr entgegenzusetzen als seine Würde, mit der er seine Körperlichkeit adelt, und seinen theoretischen Erkenntnisgrenzen nicht weniger als eine verständige Praxis, mit der er sich von falschen, insbesondere intellektuell fehlerhaft gestrickten Bindungen zu befreien sucht. Die anthropologische Struktur der Verschränkung und Hiatusgesetzlichkeit wirklich ernst nehmen, heißt, nicht nur der Wahrnehmung für den Tod im Leben Geltung zu verschaffen, sondern die Wahrnehmung für das Leben im Tod zu schulen und in die leibliche Haltung eingehen zu lassen. Denn nehmen wir, das anschauliche Phänomen leugnend, den Toten als Ding wahr, das kaputt gegangen ist und weggeworfen wird, dann wäre in der Tat – entgegen der Auffassung in moralischer Prägnanz – kein Platz für die Wahrnehmung des Lebens im Tod; und unter einem solchen Primat könnte das organische Körperding, das der Mensch auch ist, nicht als lebendig-schöpferisch, als, wenngleich in den Tod verschränktes, so doch sich seiner selbst bewusstes und stetig sich entwickelndes Leben wahrgenommen werden, sondern nur als das nackte Leben, das übrigbleibt, wenn es dem Tod immer schon ein Übergewicht einräumt und sich ihm von vornherein geschlagen gibt. Letzteres ist zwar in einer von naturwissenschaftlichen Methoden geleiteten und deshalb schwer angreifbaren theoretisierenden Einstellung nicht nur möglich, sondern auch nahe liegend und weit verbreitet, wird aber der Sache nicht gerecht. 97 Denn das Ganze des sich seiner selbst bewussten Lebens lässt sich, im Unterschied zur bloDazu passt die Vermutung, dass sich im Deutschen die Bezeichnung ›Würde‹ etymologisch von ›wert‹ und ›werden‹ im Sinne von ›gegen etwas wenden‹ ableiten lässt, etwas, an dem sich eben das Werden entzündet und abarbeitet. 97 Ein Beispiel ist die Hirntoddebatte wie die dazugehörige Forderung und theoretische Begründung der Organentnahme, vgl. dazu Gernot Böhme: Ethik leiblicher Existenz, Frankfurt a. M. 2008, S. 249 f. 96

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ßen Tatsache des Lebens, nicht in eine Theorie pressen; in ihr geht mit der Würde seine Dauer verloren, und es bleibt ein Rest von künstlich zusammengesetzten Mosaiksteinen, der einer auf Sinnhaftigkeit und Moralität angelegten Lebenspraxis Hohn sprechen muss. Das im anhaltenden Werden des Menschen und in seiner Würde gebrochene Ganze, das auch noch den Tod umgreift und mit jeder Wahrnehmung eines Lebensmoments und einer Lebensphase – zumal dann, wenn diese als sinnlos erscheinen – unabwendbar die unterschwellig lauernde Frage nach dem Sinn prägnant werden lässt, ist der Leitfaden einer philosophisch über sich selbst aufgeklärten Praxis der Lebensauffassung und -gestaltung. Die Scham meldet sich, wenn dieser seidene Faden aus den Händen zu gleiten und das Ganze durch eine selbst verschuldete Wahrnehmungsstörung, mit der eine dramatische und häufig genug tragische Horizontverengung einhergeht, aus dem Blick zu geraten droht. Es ist das immer wieder aufgeführte Drama des missglückten menschlichen Selbstverstehens; und die Scham ist so groß und reicht so tief, dass sie nicht zu ertragen ist; aus diesem Grund wird sie nicht selten kaschiert mit einer Schamlosigkeit, die in die Paroxysmen von Korruption und Gewalt münden kann, Ausbrüche von Entmenschlichung in fortgesetzter Täuschung, Folter und Mord; es sind die tragischen Bilder, die den Hintergrund der Bühne liefern, auf der das menschliche Dasein sich abspielt, Bilder des Verlusts, Verfehlens oder Verweigerns von Sinn. 98

Angesichts einer solchen Lage gilt für den Philosophen, ja für jeden Menschen das Gleiche, was Elias Canetti (Der Beruf des Dichters. Münchner Rede, Januar 1976, in ders.: Das Gewissen der Worte. Essays, Frankfurt a. M. 1989, S. 279–290, hier S. 290) dem Dichter zuspricht: »Es kann nicht die Sache des Dichters sein, die Menschheit dem Tode auszuliefern. Mit Bestürzung wird er, der sich niemandem verschließt, die wachsende Macht des Todes in Vielen erfahren. Selbst wenn es allen als vergebliches Unterfangen erschiene, er wird daran rütteln und nie, unter keinen Umständen, kapitulieren. Sein Stolz wird es sein, den Abgesandten des Nichts […] zu widerstehen und sie mit anderen als ihren Mitteln zu bekämpfen. Er wird nach einem Gesetze leben, das sein eigenes ist, aber nicht für ihn selber zugeschnitten, es lautet: Daß man niemand ins Nichts verstößt, der gern dort wäre. Daß man das Nichts nur aufsucht, um den Weg aus ihm zu finden, und den Weg für jeden bezeichnet. Daß man in der Trauer und in der Verzweiflung ausharrt, um zu lernen, wie man andere aus ihnen herausholt, aber nicht aus Verachtung des Glücks, das den Geschöpfen gebührt, obwohl sie einander entstellen und zerreißen.«

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Was es heißt, von der möglichen Lebenserfahrung überhaupt auszugehen, statt sich von vornherein auf eine naturwissenschaftlich oder sonstwie festgelegte Erfahrung zu beschränken, zeigt sich, wenn man die Antithetik, auf die man dann unweigerlich stößt, weiter verfolgt und sukzessive nachvollzieht, wie sie sich in den Synthesen auflöst, die den Erscheinungen der menschlichen Lebendigkeit zugrundeliegen. Die beiden sich widersprechenden Hinsichten, die sich zunächst im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Sinngebung gezeigt haben, um sich dann schärfstens im Widerspruch von Leben und Tod zu manifestieren, lassen sich zusammenfassend in mehreren Aspekten des Lebens feststellen. Es handelt sich vornehmlich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) um Antinomien der (1) Körperleiblichkeit, (2) Raumhaftigkeit, (3) Zeitlichkeit, (4) Dinglichkeit, (5) Natürlichkeit, (6) Vorstellungsvermögen bzw. sinnlich-geistigen Verfasstheit, (7) Selbstdarstellung des Menschen, schließlich (8) um die Antinomie von Leben und Tod. Alle acht Antinomien verweisen auf die Struktur der Scham; in ihr manifestiert sich die Voraussetzung der spezifisch menschlichen Verlebendigung – die Rückwendung des Lebens auf sich, das dadurch, sich seiner selbst inne und von falschen Bindungen frei werdend, zu einem seiner Körperlichkeit gewachsenen und gestaltenden Selbst wird, welches die Scham (in Gestalt der selbstbezogenen Scham mit der Neigung zur Schamangst) zu überwinden sucht und Würde beansprucht (unter Wahrung der behütenden Scham, die sich situativ als Körperscham zeigen kann, aber dauerhaft wie ein Sedimentgestein, als ein die Haltung stabilisierender Rückstand der Schamangst, in scheuer Zurückhaltung sich ab- und festsetzt). Das Paradoxe der Scham: in ihr bricht etwas in ›mich‹ ein, was ich nicht selbst bin, und doch zeigt es mich. Ich habe mich nicht (mehr) in der Hand. Von außen gesehen bin ich es aber, der sich schämt. Denn man sieht es mir ja an. Und ich selber spüre die Scham, weil mein Körper sie anzeigt, und ich identifiziere mich mit ihr. Der Körper ist es, der mich überwältigt. Zwar A

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habe ich ihn, aber ich befehlige ihn nicht. So hat er mich. Was bin ich aber dann in meinem Verhältnis zu ihm, wenn man mich mit ihm gleichsetzt, ich aber (noch) etwas anderes bin als er? Denn nicht ich selbst bin es ja, der das Erröten den Anderen absichtlich ›vorführt‹. Aber es gehört als notwendige Möglichkeit zu meinem Selbst. Die Antithetik des menschlichen Lebens, die sich in der Scham präsentiert, ist genauso paradox wie die Antithetik des sinnlich verfassten Vernunftwesens Mensch bei Kant. Wie in der »Achtung für eine bloße Idee«, nämlich für »die Würde der Menschheit als vernünftiger Natur« 1 als einzig gültigem Motiv des guten Willens, die paradoxe Lage des Menschen zwischen der Naturnotwendigkeit sinnlichen Begehrens und seiner Befreiung von diesem mit der Orientierung am vernünftigen ›Begehren‹ (am guten Willen) zum Ausdruck kommt, so ist das Prägnantwerden des Menschen in der Scham, sei es in ihrer konkreten Erscheinung oder im Habitus zarter Scheu, das Zeichen seiner paradoxen Lage zwischen dem Unterworfensein unter das Diktat des Körpers und der Loslösung davon in der freien, selbstbestimmten Unverfügbarkeit des gestalterisch tätigen Leibselbst – in höchstem Maße paradox, weil beide doch, Körper und Leib, überdies identisch sind, genauso wie der Mensch, der sich um seiner Existenz willen sinnlich affizieren lassen muss, derselbe ist wie der Mensch, der sich in seiner Willensbestimmung unabhängig macht von allen sinnlichen Triebfedern. Die Analogie kann noch weiter verfolgt werden. Die »Erhabenheit« 2 der moralischen Bestimmung der menschlichen Existenz wäre nämlich ohne seine Bindung an die sinnliche Natur genauso wenig zur Deutlichkeit gebracht, um letztlich der entscheidende Faktor für die moralische Motivation sein zu können, wie das leibliche Selbst ohne die Kette, mit der es an den Körper geschmiedet ist, sich nicht daraus entwickeln und frei werden könnte für die Plastizität und Vielfalt seiner expressiven Möglichkeiten, mit welchen es seine erscheinende Existenz mit Leben zu füllen sucht, und zwar so, dass der Keim der Würde aus dem Humus der zunächst kindlichen, vorbewussten Anmut herauswächst, indem er durch die Selbstreflexion hindurchgeht, die ein solches Entwickeln und Bilden mit den Mitteln der symbolischen For-

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Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 84 f. (Werkausgabe, Bd. VII, S. 73). Ebd., BA 85 (S. 73).

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men unweigerlich mit sich bringt; er wird freigelegt und kommt, wenngleich nur in petites perceptions und in atmosphärischer Feinzeichnung wahrnehmbar, mit zur Erscheinung, um die Prägung jener spezifischen Lebendigkeit mit dem Stempel des Unantastbaren zwar in eher angedeuteten, aber zunehmend kräftiger sich abzeichnenden Konturen hervortreten zu lassen, so dass, paradoxerweise, die Erscheinungsweisen des menschlichen Daseins, denen man die geringste bzw. gar keine Lebendigkeit zuspricht, das Alter und der Tote, diese Markierung, mit appellativen Zügen versehen, zugleich am deutlichsten zum Ausdruck zu bringen scheinen. Die Antithetik bzw. paradoxe Struktur macht sich mindestens achtfach geltend und verweist auf den je verschieden nuancierten und formulierbaren, aber einheitlichen Sinn im Widerspiel der Gegensätze. (1) Körperleib: die Antinomie der menschlichen Lebendigkeit überhaupt, die sich als Differenz (absolute Verschiedenheit) in der Einheit von Körper und Leib realisiert; diese in sich unterschiedene Einheit enthält notwendig die Möglichkeit der Scham und Beschämung, denn die Verschränkung der beiden polaren Momente gelingt nur in einem krisenanfälligen Vollzug, der auf Sinn zielend dafür zugleich das (sinnfreie) Material in Anspruch nimmt – und umgekehrt: das Material kann sich verselbstständigen, wenn der sinnhafte Vollzug aus irgendeinem Grund misslingt oder unterbrochen wird, es setzt sich an die Stelle der Form; so verdrängt z. B. die Röte im Gesicht den gestalteten Ausdruck und übernimmt dessen Funktion, Sinn anzuzeigen. Der Sinn liegt in der Verlebendigung des Körperleibs, deren Dauer und Stabilität sich in einer moralischen Haltung niederschlägt. (2) Räumlich: die Antinomie zwischen ausgedehnter Vielheit und absoluter Punktualität der menschlichen Mitwelt; in der Scham wird der Blick der ganzen Menschheit gespürt, aus der man sich ausgeschlossen fühlt, obwohl man dazugehört. Der Sinn liegt in der Individuation zu einem würdigen Repräsentanten der Menschheit, der Ausbildung einer Individualität, in der die Würde als Maßstab stets präsent ist. (3) Zeitlich: der ›Zwang‹ des Menschen, sich zu dem, was er immer schon ist, erst machen zu müssen (in einem Prozess der Selbstgestaltung zum Menschen zu werden); die mögliche Scham steht am Beginn A

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dieses Prozesses, indem sie Selbstreflexion erzwingt und die Umkehr ermöglicht. Der Sinn liegt in der unabschließbaren Bildung eines moralisch reflektierten Selbst. (4) Dinglich: wie ein (äußeres) Ding Eigenschaften zu haben, zugleich aber als (inneres) Selbst nicht auf die Summe solcher Eigenschaften festgelegt werden zu können; in der Scham sieht sich das Subjekt, wie es als Objekt erscheint, was von ihm nicht akzeptiert werden kann und woraus es sich zu befreien sucht. Die Beschämbarkeit ist wechselseitig, d. h. die Befreiung des Individuums zum Subjekt oder Selbst ist eine reziproke Angelegenheit zwischen den möglichen Subjekten und kann deshalb nicht bloß dadurch erfolgen, dass das eine Subjekt den anderen zuvorkommt und sie zum Objekt macht. Der Sinn liegt in der Reziprozität der Perspektiven, die sich im Blick offenbart und Wohlwollen wie auch Einverständnis ermöglicht mit dem Ziel der wechselseitig zu fördernden Befähigung zu freier Ausübung der Expressivität in geübter Übernahme der eigenen Instrumentalität. (5) Natürlich: der Mensch als dem Gesetz der Kausalität unterworfenes Naturwesen, das zugleich nicht anders als spontan, d. h. unter dem Bewusstsein der Freiheit handeln kann; Voraussetzung des spontanen Anfangens, dessen Motivation nicht mehr bloß physisch-kausal erklärt werden kann, ist die Möglichkeit krisenhafter Erfahrung der Entkörperung bzw. Entleiblichung (des Erlebens der eigenen Nichtigkeit), wie sie sich in der Scham ausdrückt. Der Sinn liegt in der Befreiung vom Joch der Verdinglichung, das auch der selbstverfügenden und aufgabenorientierten Instrumentalisierung hinderlich ist; denn wo sich das Selbst als Ding in den Vordergrund schiebt, wird der aktive Vollzug gestört. (6) Vorstellungsvermögen: die sinnliche Wahrnehmung ist mit Sinngebung, Anschauung von etwas mit Auffassung als etwas, hyle mit morphé unterlegt, und diese ist auf jene angewiesen; das betrifft auch die Wahrnehmung des individuellen Selbst, und die Verwechslung der Perspektiven bzw. deren absichtliche Vertauschung (sinnhafte Form als bloßen Körper zu sehen oder etwas sinnfrei Körperliches, z. B. eine

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groß geratene Nase, mit Bedeutung aufzuladen) ist mit Scham bzw. Beschämung verbunden. Der Sinn liegt in der Ausbildung von Zurückhaltung im Sinne von Takt und Diskretion, von Humor und Selbstironie, sowie der Selbstwerdung »durch den Körper hindurch«. (7) Selbstdarstellung: die zwischen Willentlichkeit und Kontrolle einerseits und Unwillkürlichkeit und Kontrollverlust andererseits changierende Erscheinung des Menschen als potenziell sich schämendes und damit als in seinem Wesen zu sich kommendes, sich seiner selbst bewusst werdendes Selbst; diese Bedingungen für seine Selbstdarstellung als Person (persona) machen die Symbolik der Masken, Rollen, Zeremonien und Rituale notwendig. Der Sinn liegt in der selbstbeherrschten und freien Verwendung symbolischer Formen und dem Schutz des unerschöpflichen, aber fragilen Selbst durch seine äußere Entlastung als öffentlich vorzeigbare Figur mit einer Plastizität in den Grenzen der Verkörperungsmodi. (8) Leben und Tod: die mit moralischen Indizes versehene menschliche Lebendigkeit tritt der Macht des Todes im Leben entgegen, und sie versieht sogar noch den Tod, zumindest in seiner Erscheinung im toten Menschen, mit ihren Insignien: der Unantastbarkeit und dem Anspruch auf Würde. Andernfalls überdauert die Schande den Menschen. Der Sinn liegt in der Schulung der Wahrnehmung für das Leben im Tod, für das, was einen moralischen Kontrapunkt zur Quodditas des Todes setzt und mit dem Erinnern der Menschen und der Menschheit die Ausprägung einer moralischen Haltung motiviert und stützt – im Unterschied zu dem, was man zu vergessen und zu verdrängen sucht, weil es demotivierend und demoralisierend wirkt, auch wenn, andererseits, das, woran man sich nicht erinnern möchte, ins Bewusstsein drängt oder zum Bezugspunkt stillen Gedenkens wird, wiederum jedoch unter dem Leitgedanken der Wahrung bzw. Wiederherstellung der Würde in Ausdrucksformen, die diesem Anspruch angemessen sind. Die unausweichliche und theoretisch unbeantwortbare Frage nach dem Sinn ist ein Symptom der gebrochenen menschlichen Existenz, deren Anfang wir mit der Geburt bzw. der Zeugung und deren Ende wir mit dem Sterben bzw. dem Tod zu erfassen und zu kennen glauben, obwohl wir weder den eigenen Anfang noch das Ende bewusst erleben und sie A

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nur vermittelt über die, wiederum gebrochene, Perspektive der dritten Person zu Momenten unserer Erfahrung werden lassen können. Wir können aber atmosphärisch-geschmacklich den Eindruck haben, schon im Leben gestorben oder wieder neu geboren worden zu sein, und das zumindest in bildhafte Sprache fassen. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die integrierte Einheit, das Ganze menschlicher Lebendigkeit, das mit dem Namen der Würde bezeichnet wird, in seiner Dauer von anderen Faktoren abhängt als von den zufälligen Zeitpunkten, den Eintrittsdaten der Geburt oder des Todes, die gleichsam den Brechungswinkel angeben, unter dem das Ganze in die Perspektive der Sichtbarkeit oder des Verschwindens tritt. Jene Faktoren sind Funktionen des stetigen, unvordenklichen und unabschließbaren Werdens, das weder Anfang noch Ende kennt. Könnten wir es theoretisch fassen, dann hätte moralische Praxis nicht die existenzielle Wucht, mit der sie über das Zeitliche hinauszielt, wenn etwa das Gewicht von Schuld und Scham für die Lebendigkeit so schwer wird, dass es durch keine innerzeitliche Maßnahme leichter werden kann, 3 oder wenn eine großmütige Geste unvergesslich bleibt und dauerhaft Wirkung entfaltet. Und wäre die moralische Praxis nur im Vergänglichen des nackten Lebens verankert, dann ließe sie sich vollständig theoretisch bestimmen, ohne auf die Lebendigkeit des Menschen hier und jetzt in der unvorhersehbaren Situation angewiesen zu sein. So ist es diese Lebendigkeit selbst, die über das Vergängliche hinaus in Richtung der Transzendenz weist. Der Tod ist keine theoretische Größe und für die Zwecke des Erkennens bestimmbar, sondern erzwingt Aufmerksamkeit für das praktische Maß, das der moralischen Sinngebung zukommt; und die rätselhafte Verschränkung zwischen Leben und Tod lässt aus sich den Prozess des menschlichen Lebens und seiner Verlebendigung als moralische Aufgabe hervorgehen. An dieser Stelle mündet die anthropologische Reflexion in eine Ethik am Leitfaden der Würde gebrochener Existenzen und in eine Metaphysik auf dem Boden synthetischer Philosophie.

Vgl. dazu wiederum einen Text von Vladimir Jankélévitch: Verzeihen? [Pardonner? (1971)]. In ders.: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, hg. v. Ralf Konersmann, Frankfurt a. M. 2003, S. 243–282.

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